Die medizinische Fakultät der Universität Rostock: 600 Jahre im Dienst der Menschen (1419–2019) [1 ed.] 9783412513535, 9783412511449


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German Pages [445] Year 2019

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Die medizinische Fakultät der Universität Rostock: 600 Jahre im Dienst der Menschen (1419–2019) [1 ed.]
 9783412513535, 9783412511449

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1419 2019 Emiӏ C. Reisinger Kathӏeen Haack (Hg.)

Die Medizinische Fakuӏtät der Universität Rostock 600 Jahre im Dienst der Menschen (1419–2019)







Emil C. Reisinger Kathleen Haack (Hg.)

Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock 600 Jahre im Dienst der Menschen (1419 – 2019)

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

© 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildungen: Großes Bild: Institut für Anatomie der Universitätsmedizin Rostock im Jahr 2019. Das Gebäude wurde 1878 als „Neues Medicinisches Institut“ in der Getrudenstraße 9 eingeweiht. Es bot den Instituten für Anatomie, Physiologie, Pathologie und Pharmakologie großzügige Räumlichkeiten und eine hervorragende Ausstattung. Quelle: UMR . Kleine Bilder von links nach rechts: In der Milchküche der Universitätskinderklinik in der Rembrandtstraße (ca. 1960); Haupteingang der Chirurgischen Universitätsklinik um 1950, heute auf dem „Campus Schillingallee“; Studenten und Dozenten des Dritten Studienjahr Medizin im Jahr 1970 vor dem Gebäude des Anatomisches Instituts; Operateur mit roboterassistiertem Chirurgiesystem „Da Vinci“ in der Urologischen Klinik. Quelle: alle UAR . Satz und Layout: büro mn, Bielefeld

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51353-5

Inhaltsverzeichnis Grußwort des Rektors  Wolfgang Schareck   .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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Vorwort  Emil C. Reisinger   .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  11 Einleitung: Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock. Traditionen, Brüche, Innovationen  Kathleen Haack   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15

Die Universität Rostock und die Medizinische Fakultät: Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789 Von der Gründung der Bürgeruniversität zur mecklenburgischen Hochschule. Die Medizinische Fakultät 1419 – 1789  Kathleen Haack   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  25 Die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock  Susi-­H ilde Michael   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  35 Die Promotion zum Doktor der Medizin an der ­mittelalterlichen Universität Rostock  Susi-­H ilde Michael   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  48 Die Rostocker Mondino-­Ausgabe im europäischen Kontext  Hans-­U we Lammel . . .  61 „Gedoppeltes Amt“ und ­„unverdiente Verurtheilung“. Pflichten, Rechte und Probleme des Rostocker Stadtphysikus vom 16. bis zum 19. Jahrhundert  Ernst Münch   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  73 Exkurs: Zwischen Stagnation und Neubeginn. Die Spaltung der Universität und deren Auswirkung auf die Medizinische(n) Fakultät(en) (1760 – 1789)  Kathleen Haack   . . . . . . . . . . . . .  89

Spezialisierung und ­Fächerdifferenzierung: Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert Spezialisierung, Disziplinenbildung und Subdisziplinierung als ­Grundpfeiler der modernen Medizin  Kathleen Haack   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  95 Architektur des Rostocker Stadtkrankenhauses. Vom Stadtkrankenhaus zum ­Großherzoglichen Universitäts-­Krankenhaus  Anastasia Imberh und Bernd Joachim Krause   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99 „Man könne nicht allen Wünschen entsprechen“. Von den Schwierigkeiten, in Rostock eine Klinik zu gründen  Sophie Grosse   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  109

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Inhaltsverzeichnis



Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock. Entwicklung der Spezialdisziplinen im 19. und frühen 20. Jahrhundert  Kathleen Haack   . . . . .  129 „Einen Lehrauftrag für ­Neurologie hat Herr C. ja nicht“. Die schwierige Disziplingenese der Neurologie zwischen Innerer Medizin und Psychiatrie  Ekkehardt Kumbier und Axel Karenberg   . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  145

Rostocker Medizin in der Welt – die Welt in Rostock Wissensaneignung zwischen Naturerfahrung und kultureller Hegemonie  Kathleen Haack   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  161 Von Seekühen, Sammlungen und der Physiologie an der Universität Rostock im 19. Jahrhundert. Friedrich Hermann Stannius (1808 – 1883) und das Zootomisch-­Physiologische Institut  Kerstin Julia Kühner   .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .  165 Ein Rundgang durch die ­Ethnographische Sammlung des Instituts für Anatomie der ­Universitätsmedizin Rostock  Beatrice Tamm   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  173 Der Rostocker Absolvent Max Girschner (1861 – 1927) als ­Kaiserlicher ­Regierungsarzt auf der Karolineninsel Pohnpei  Marcus Rudolph   . . . . . . . . . . . . . .  185 Exkurs: Die medizinischen Sammlungen an der ­Universität Rostock Ein Überblick  Kathleen Haack   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  201

Fakultät in Umbruchzeiten: Die Rostocker ­Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert Die Rostocker ­Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert  Kathleen Haack   . . . . . . .  209

Zwischen Kaiserreich und NS-Zeit Ernst Schwalbe als Pathologe in Rostock und die Ursprünge einer pluralistischen Medizin  Livia Prüll   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  215 Fakultät im Kriegszustand? Die Rostocker Universitätsmedizin im Ersten Weltkrieg  Hauke Schulz   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  228 Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock  Gisela Boeck und Tim Peppel   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  244 Vom engagierten Sozialhygieniker zum Parteigänger des Nationalsozialismus. Hans Reiters Rostocker Jahre, 1919 – 1933  Hans-­W alter Schmuhl   . . . . . . . . . . . . . .  262

Medizin unterm Hakenkreuz Die Existenz der Universität in Gefahr? Die Abwicklung des Pharmazie­ studiengangs an der Universität Rostock 1938  Florian Detjens   .. . . . . . . . . . . . . . .  285

Inhaltsverzeichnis

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Uni unterm Hakenkreuz. Die Studierenden an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock im „Dritten Reich“  Juliane Deinert   . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  301 Die Institutionalisierung der Rassenhygiene an der Universität Rostock  Robert Martin Hackbarth   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  319 Zwangssterilisationen und „Euthanasie“. Zur Beteiligung von Ärzten der Psychiatrischen und Nervenklinik Rostock an den Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten  Kathleen Haack   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  332 Veränderung des Blickwinkels. Opfer von Zwangssterilisationen und „Euthanasie“ an der Universität Rostock  Kathleen Haack   .. . . . . . . . . . . . . . . .  346

Medizin in der DDR Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958. Notwendige Fächerdifferenzierung oder politisches Kalkül?  Ekkehardt Kumbier   .. . . . . . . . . . . . . . . . .  357 Verweigerung und Widerstand gegen das SED-Regime durch Studenten der Medizin in Rostock im Spiegel der MfS-Überlieferung  Christian Halbrock   .. . . .  369 Ethische und rechtliche Grundlagen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln in den beiden deutschen Staaten in den 1980er-­Jahren. Ein Überblick  Emil C. Reisinger, Andreas Büttner und Sebastian Klammt   . . . . . . . . . . . . . . . .  385

Zahnmedizin in Rostock: Eine lange und beinah gebrochene Tradition Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Universität. Von den Anfängen bis zur Gegenwart  Heinrich von Schwanewede   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  393

Aktuelle Einblicke Die Medizinische Fakultät Rostock 2018  Emil C. Reisinger, Attila Altiner, Bernd J. Krause, Robert Mlynski, Wiebke Schlensog, Katrin Borowski, Annett Müller, Harald Jeguschke   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  415

Anhänge Dekane der Medizinischen Fakultät   . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autorenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

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Grußwort des Rektors Liebe Leserin, lieber Leser, in der Aula unseres Hauptgebäudes wurde unter der Decke ein umlaufender Fries gestaltet, auf dem 16 Porträts der berühmtesten Professoren unserer Universität zum Zeitpunkt der Eröffnung 1870 zu sehen sind. Die Auswahl, so wird berichtet, fiel dermaßen schwer, dass schließlich jede Gründungsfakultät vier Persönlichkeiten benennen durfte. So können Sie Janus Cornarius, der neben Griechisch und Latein die Galenische Säftelehre unterrichtete, an der Seite von Simon Pauli, dem Leibarzt der dänischen Könige Christian  IV . und Friedrich  III ., der sowohl Anatom – und damit ebenfalls chirurgisch kundig – als auch Botaniker war, sehen. In direkter Nachbarschaft folgen Samuel Vogel, der in Heiligendamm mit der Balneologie gewissermaßen der Vater der Rehabilitationsmedizin wurde, und Karl Georg Lucas Christian Bergmann, der 1865 verstorbene Anatom und Physiologe sowie Mitglied der Leopoldina. Zudem erkennen wir unter den Portraits der Facultas artium Joachim Jungius, der als Mathematiker und Physiker in Padua und in Rostock Medizin studiert hat und unter dem Motto „Per inductionem et experimentum omnia!“ 1622 die erste deutsche naturwissenschaftliche Gesellschaft gegründet hat. Mit den Terracotta-Fayencen an der Fassade wird die Medizin durch den in Antwerpen geborenen Jacob Bording repräsentiert, der nach seinem Studium in Löwen, Paris und Montpellier in Bologna promoviert worden war. In Antwerpen nahm er 1541 seine ärztliche Tätigkeit auf, floh als Mitglied der reformatorischen Bewegung vor der Inquisition, war fünf Jahre in Hamburg tätig und bekleidete ab 1549 als Leibarzt des mecklenburgischen Herzogs eine Professur an der Universität Rostock. 1557 wurde er Leibarzt des Königs Christian III . von Dänemark und Norwegen und ging nach Kopenhagen, wo er an der dortigen Universität eine Professur und das Amt des Rektors innehatte, bis er 1560 starb. Es gab nicht nur seit 1419 eine Medizinische Fakultät, ihre Professoren waren berühmte und weitgereiste Vertreter ihres Faches, war das Studium der Medizin bis 1419 doch nur im Ausland, so etwa in Frankreich oder Italien möglich. Ab 1470 verfügte die Universität über einen medizinischen Hörsaal („Domus medicorum“), die erste Lehrsektion in Rostock erfolgte 1513. Getreu dem hippokratischen Eid, nicht zu schaden und das Wohl des Patienten zum Maßstab allen Handelns zu erklären, hat die medizinische Kunst den Wandel der Zeit besonders deutlich erfahren. Sichtbar wird das nicht zuletzt durch verbesserte Versorgungsstrukturen mit eigenständigen Kliniken, eine differenziertere Diagnostik mit immer neuen Methoden und die individuell beste Therapie, ob operativ oder konservativ. Der Wohlstand der Hanse- und Hafenstadt zeigte sich auch in der guten Gesundheitsfürsorge und Versorgung, in zeitgemäßer Lehre und Forschung. Zu nennen wären der Rostocker Stadtphysikus Wilhelm Lauremberg, Heinrich Brucäus, Georg und Georg Christoph Detharding, der Vorreiter der Transplantation und plastischen Chirurgie Johann Friedrich Dieffenbach, der Chirurg Karl Strempel, der Anatom und Physiologe Hermann

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Grußwort des Rektors



Stannius, Albert und Theodor Thierfelder, die Augenärzte Albert Peters und Rudolf Berlin, der Kinderarzt Hermann Brüning, der Chirurg Friedrich Trendelenburg, der Internist und Blutspezialist Viktor Schilling, der Internist Hans Curschmann, der Gynäkologe Robert Schröder, der Pathologe Walther Fischer, der Pharmakologe und Biochemiker Peter Holtz, der Mikrobiologe und Hygieniker Johannes Kathe sowie Dietrich Barfurth, Direktor der Anatomischen Anstalt und dann ebenfalls Rektor. Unter Otto Körner wurde im Jahr 1901 das erste Ordinariat für Hals-­Nasen-­Ohrenheilkunde Deutschlands in Rostock eingerichtet. Das Ordinariat für Pharmakologie war das zweite seiner Art, auch der Lehrstuhl für Hygiene gehört zu den ältesten im Lande. Die erste Zahnklinik Deutschlands wurde 1938 in Rostock in Betrieb genommen. Mit Hans Spemann und Karl von Frisch lehrten zwei Nobelpreisträger in Rostock, Albert Einstein und Max Planck erhielten 1919 die Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät in Rostock anlässlich des 500-jährigen Jubiläums. Ein Rostocker „Jung“ war Albrecht Kossel, der sich mit Zellorganellen und Proteinen befasste und die Nukleinsäuren für die Vererbung verantwortlich machte. 1853 in Rostock geboren, nahm er das Studium zunächst in Straßburg auf, um in Rostock 1878 zu promovieren und sich 1881 zu habilitieren. Sein weiterer Weg führte über Marburg und Berlin schließlich nach Heidelberg, 1910 erhielt er den Nobelpreis und gehört so zu den ganz großen Rostockern. Doctrina multiplex, veritas una steht über unserem Hauptportal, das heute wohl Vielfalt und Forschung heißen würde. Verbunden mit Traditio et Innovatio ist die Strategie der internationalen und interdisziplinären Forschung, fokussiert in einer gut vernetzten Vielfalt der Weg, wie das Salus aegroti suprema lex heute und in Zukunft umgesetzt wird, seit 1419. Ihr Wolfgang Schareck Gefäß- und Transplantationschirurg und Rektor

Grußwort des Rektors

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Vorwort Emil C. Reisinger Dass das 600-jährige Jubiläum der Universität Rostock und damit auch das der Universitätsmedizin als eine ihrer Gründungsfakultäten ein großes, ja herausragendes Ereignis ist, steht außer Zweifel. Es ist diese Beständigkeit, die uns freudig, stolz, teilweise kritisch und in der historischen Reflexion manchmal auch verwundert zurückschauen lässt ob der langen Tradition unserer Alma Mater Rostochiensis. Unsere Studierenden erlernen seit Jahrhunderten im sicheren Hafen unserer Universität ihr Handwerk der Heilkunst und der Medizinischen Wissenschaften. Frei nach Goethes Faust („Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin [u]nd leider auch Theologie [d]urchaus studiert […]“) waren es die Studenten und Professoren, die den damaligen wie heutigen Zeitgeist vorantrieben. Im November 1419 wurde die Universität Rostock mit der päpstlichen Bulle und dem Segen von Papst Martin V. mit den drei Gründungsfakultäten, der juristischen, medizinischen und artistischen, feierlich eröffnet; 1432 war es dann auch die Theologie, die sich hinzugesellte. Neben dem Staat war die Kirche ein einflussreicher Machtfaktor, die säkulare Ethik war verpönt. Die Wissenschaft, die Freiheit von Forschung und Lehre, die Suche nach der Wahrheit war die dritte Säule im Staate, ein Gegengewicht zu kirchlichen Dogmen und staatlichen Normen. Sie stellte reproduzierbare Thesen in den Mittelpunkt. „Doctrinam multiplex, veritas una“ steht am Hauptportal der Universität Rostock – „Es gibt viele Hypothesen, aber nur eine Wahrheit“. Das Werkzeug zur Aufklärung und Beweisführung der Wahrheit sind die Tugenden, die als „Traditio“ verstanden werden dürfen. Wer waren die eigentlichen Gründer bzw. Schirmherren der Alma Mater; die in der Stiftungsbulle genannten mecklenburgischen Herzöge Albrecht V. und Johann  IV . oder die Stadt Rostock mit ihren Ratsherren und Bürgern, die ganz allein die Sicherung der materiellen Grundlagen der neu etablierten Universität übernommen hatten? Diese Frage der universitären Hoheit und damit einhergehender Rechte und Zuständigkeiten gegenüber der Hochschule, ihren Gelehrten und Studenten ließ die Universität Rostock schon sehr bald in Zerwürfnisse und existenziell bedrohliche Machtproben hineingeraten. Mehr als einmal sollte sie weichen, u. a. in das benachbarte Greifswald, wo 1456, also 37 Jahre nach der Gründung der Rostocker Universität eine eigene Hohe Schule etabliert wurde. Auch die Eskalation zwischen den Landesherren und der Stadt, in deren Folge das kleine Mecklenburg-­Schwerin für 29 Jahre über zwei Universitäten, fortan auch in Bützow, verfügte, konnte 1789 zu Gunsten Rostocks entschieden werden. Dem großen deutschen Universitätssterben an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert trotzte unsere Alma Mater ebenso wie ihrer Beinaheschließung während der Zeit des Nationalsozialismus. Der in der Stiftungsurkunde 1419 formulierte Wunsch, dass hier „die Ungebildeten mit offenen Sinnen zu Disziplin und Weisheit erzogen werden, dass […] das Urteilsvermögen wachse und der Verstand sich […] öffne“ 1, hat bis heute seine Bedeutung nicht verloren

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Vorwort



(Abb. 1). Der Frage, wie und in welchem Maße dies in den letzten 600 Jahren gelungen ist, möchten die Herausgeber und Autoren mit dem nun vorliegenden Band nachgehen. Zweifelsohne kann es sich hierbei immer nur um eine Annäherung an die Geschichte handeln. Denn die Universitätsgeschichte gibt es nicht, allenfalls einzelne Universitätsgeschichten. Je nach Quellenlage, wissenschaftshistorischer Ausrichtung der Autorinnen und Autoren oder der Distanz zum Geschehenen analysieren wir die Dimensionen des Vergangenen unterschiedlich und dennoch in dem Bestreben, sich möglichst nah der historischen Realität anzunähern. So gestaltet es sich etwa besonders schwierig, über die Frühzeit der Medizinischen Fakultät Rostock gesicherte Aussagen zu machen, da die ältesten Fakultätsakten 1677 mit dem großen Stadtbrand vernichtet worden sind. Die wenigen erhaltenen alten Fakultätsbücher sind aus dem 17. Jahrhundert und erst ab 1789, nach dem „Bützowschen Exil“, kann von einer kontinuierlichen Überlieferung gesprochen werden. Dazu kommt, dass Mediziner und auch Medizinhistoriker sich gern mit dem 18. und 19. Jahrhundert beschäftigen, dem Beginn der sogenannten modernen Medizin. Auch wenn die Medizinische Fakultät der Universität Rostock von Beginn an die wichtige Funktion der Ausbildung von Stadtphysici und Hofmedizinern innehatte, war sie zu Beginn die kleinste Fakultät mit ein bis zwei Professoren und nur wenigen Studenten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts avancierte sie zum größten und wichtigsten Bereich innerhalb der Universität, ein Aufschwung, der der wachsenden Bedeutung der medizinischen Versorgung im Übergang zur modernen bürgerlichen Gesellschaft geschuldet war. Dementsprechend nimmt der Prozess der Ausdifferenzierungen der medizinischen Fachdisziplinen einen wichtigen Platz im vorliegenden Werk ein, ohne jedoch auf die Beschreibung der im Vorfeld nicht immer einfach zu beschreitenden Wege mit zahlreichen Herausforderungen und Hindernissen zu verzichten. Und natürlich soll die Fakultät, ihre Mitglieder und die Studierenden auch in den Umbruchzeiten und Systemwechseln des 20. Jahrhunderts, geprägt durch Kriege und Diktaturen, nachgezeichnet und Irrwege medizinischer Forschung und Lehre aufgezeigt werden. Die vorliegende Publikation reißt die historische Forschung zur DDR lediglich an und umgeht gar das schwierige Kapitel der unmittelbaren Nachwendezeit. Die Aufarbeitung der Zeit um und nach der Wende bedarf im geschichtlichen Kontext einer zeitlichen Schonfrist, die Bewertung ist dann vorzunehmen, wenn handelnde Personen nicht mehr tangiert werden. Aus diesem Grund haben wir uns dazu entschieden, die Beiträge auf bestimmte Kernbereiche zu fokussieren und so einen abrissartigen Überblick der Fakultätsgeschichte von 1419 bis 1989 zu gewähren. Die inhaltliche Auswahl hat sich zumeist an den Ergebnissen aktueller Forschungsprojekte orientiert. Der nun vorliegende Jubiläumsband reiht sich in die lange Tradition der Universitätsgeschichtsschreibung ein, die in Rostock bereits im frühen 16. Jahrhundert mit Nicolaus Marschalk (um 1470 – 1525) begann, sich zunächst im Rahmen der akademischen Jubiläumskultur etablierte und mit Otto Krabbe (1805 – 1873), dem Nestor der Rostocker Universitätsgeschichtsschreibung, seither zu einem wichtigen Bestandteil wissenschaftshistorischer Selbstreflexion wurde. Die Herausgeber und Autoren geben innerhalb dieser Tradition ihrer Hoffnung Ausdruck, zu neuen Erkenntnissen des Rostocker Forschungsund Lehrbetriebs im Kontext der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte als integralem Bestandteil der Gesellschaftsentwicklung beigetragen zu haben. Das Leben ist der Weg und das Ziel ist die Wahrheit.

Emil C. Reisinger

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Abb. 1  Stiftungsurkunde der Universität Rostock von 1419.

Anmerkungen 1

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Vgl. die älteste Rechtsquelle der Rostocker Universität, die bulla fundationis, in der es heißt: „ut inibi huiusmodi disciplinae sapientiaeque poris apertis erudiantur simplices, aequitate servata Iudicii concrescat ratio et puritatis expansis radiis universorum clarius patescant intellectus“. Das Original befindet sich im Landeshauptarchiv Schwerin.

Vorwort

Emil C. Reisinger

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Einleitung: Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock Traditionen, Brüche, Innovationen Kathleen Haack 600 Jahre Universität Rostock. Das sind zugleich 600 Jahre Medizin an der Universität Rostock und zweifelsohne ein Grund zu feiern. Wir erinnern, blicken zurück, reflektieren und würdigen die lange Tradition unserer, in Anlehnung an den Rostocker Stadtchronisten Peter Lindenberg (1562 – 1596), gern als „Leuchte des Nordens“ (Vandaliae lumen) bezeichneten Alma Mater. Warum aber bedarf es des Jubiläums, um Rückschau zu halten? Eigentlich wissen wir doch um das „Leben“ einer Institution in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zumal einer gern als altehrwürdig bezeichneten. Dass freilich im Alltag der an einer medizinischen Fakultät Tätigen (abgesehen vom Bereich Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin) die Historie vordergründig eine untergeordnete Rolle spielt, ist durchaus nachvollziehbar. Und dies nicht nur wegen der erforderlichen praktischen Kompetenzen innerhalb der medizinischen Professionen. Auch in Hinsicht auf eine moderne, der notwendigen Internationalisierung („ECTS “) Rechnung tragenden und häufig utilitär ausgerichteten wissenschaftlichen Bildung scheint wenig Raum für historische Reflexionen zu sein. Doch vergessen wir dabei häufig, dass Wissen, natürlich auch medizinisches, zeitbedingt und veränderbar ist, genauso wie unsere Vorstellungen über Krankheiten, Körperbilder und die Bewertung und den Umgang mit dem Kranksein in Wechselwirkung mit den jeweils herrschenden sozialen, ökonomischen und politischen Gegebenheiten und Interessen. Rückblicke also können unsere Perspektive, in denen die eigene Zeit als die eigentliche wahrgenommen wird, ein wenig verrücken, können dazu beitragen, reflektierter zu agieren, und nicht zuletzt können sie sensibilisieren, sensibilisieren für die Funktionalisierung und Funktionalisierbarkeit von Lehre und Wissenschaft. Kurzum: In der historischen Rückschau steckt auch eine große Chance. Einen Teil dieser möchten wir mit dem vorliegenden Band zum 600-jährigen Jubiläum der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock nutzen. Dabei kann und soll keine allumfassende Gesamtdarstellung von den Anfängen bis in die unmittelbare Vergangenheit gegeben werden. Vielmehr geht es darum, Einblicke in die Fakultätsgeschichte zu einem bestimmten historischen Moment zu gewähren und so einen Aus-, im besten Fall Querschnitt der mehrere Jahrhunderte fortbestehenden und sich entwickelnden Medizin in Rostock aufzuzeigen. Verbindende Elemente der einzelnen, weitgehend chronologisch angeordneten Beiträge sind der Standort – trotz kurzzeitigen Auszügen der Universität nach Greifswald, Wismar, Lübeck und Bützow eine Jahrhunderte währende Konstante –, das Handlungsfeld Medizin mit den daraus erwachsenen und sich stetig wandelnden sozialen, berufsbezogenen und individuellen Problemstellungen sowie die Fakultät als Institution und den sowohl in ihr handelnden, als auch von außen Einfluss nehmenden

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Einleitung: Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock



Abb. 1  Die Universität Rostock mit dem Auditorium magnum (rechts) auf dem Hopfenmarkt (1585), Rekonstruktion aus dem 19. ­Jahrhundert.

Akteuren: Wissenschaftler, Lehrende, Lernende, Patienten sowie Verwaltungsbeamte, Landesfürsten, Geistliche oder gar Päpste. Schließlich bedurfte die Gründung einer Hohen Schule im 15. Jahrhundert nicht nur der Genehmigung des Papstes, sondern auch der der mecklenburgischen Landesfürsten, da Rostock weder eine freie noch Reichsstadt war und somit nicht über die entsprechenden Privilegien und Selbstverwaltungsrechte verfügte, um eigenständig ein solches Unterfangen umsetzen zu können. Der anfangs demonstrierte und zweifelsohne für die Konstituierung der Universität notwendige Konsens zwischen den Landesfürsten Johann  IV . (1370 – 1422) und Albrecht V. (1397 – 1423), den Rostocker Würdenträgern und der Bürgerschaft sowie dem Bischof von Schwerin, Heinrich II . von Nauen (†1418), führte im Laufe der Zeit immer wieder zu Streitigkeiten und Machtkämpfen zwischen der Stadt Rostock, der Universität und den Herzögen, von denen auch die Medizinische Fakultät noch bis ins 20. Jahrhundert hinein betroffen war. Nicht selten kam es zu Verzögerungen, Standortverschiebungen und zum Verschleppen notwendiger Reformen und wichtiger Bauvorhaben wie bei der Errichtung des Stadtkrankenhauses und einzelner sich daraus etablierender eigenständiger Kliniken, etwa der Augenklinik. Neuerungen wurde häufig genug skeptisch begegnet. Und so verwundert es nicht, dass die Rostocker Universität die letzte im Deutschen Reich war, in der sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert endlich auch Frauen für ein Studium einschreiben konnten. Andererseits, und natürlich soll auch davon die Rede sein, nahmen Angehörige der Fakultät eine Vorreiterrolle innerhalb der medizinischen Entwicklung ein. So schuf etwa

Kathleen Haack

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der Humanist und Universalgelehrte Nicolaus Marschalk (um 1470 – 1525) an der Schwelle zur frühen Neuzeit mit der Rezeption eines anatomischen Textes einen wichtigen Baustein für die Rostocker anatomisch-­physiologische Tradition, die in der zweiten Hälfte des 16. und in der ersten des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand. Marschalk war zugleich einer der ersten Chronisten der Universität Rostock. In dieser „Goldenen Ära“ der Universität (Abb. 1) übte die Fakultät eine Strahlkraft in den europäischen und internationalen Raum aus. Über wissenschaftliche Verflechtungen, namentlich mit der niederländischen, aber auch französischen und skandinavischen Medizin, wurde sowohl Wissen nach Rostock transferiert und in den medizinischen Kanon integriert als auch im Gegenzug weit über deren Grenzen hinaus exportiert; stellvertretend seien die Namen Jacob Bording (1511 – 1560), Heinrich Brucaeus (1530 – 1593), Peter Lauremberg (1585 – 1639) sowie Simon Pauli (1604 – 1680) genannt, die als Anerkennung und Ausdruck ihres wissenschaftlichen Wirkens achtbare Berufungen an namhafte europäische Universitäten erhielten oder gefragte Leibärzte an königlichen Höfen wurden. Diese Internationalität schwand seit dem 18. Jahrhundert immer mehr. Die Rostocker Alma Mater schrumpfte von der durch die Hanse hervorgebrachten wichtig(st)en Universität des Ostseeraumes und darüber hinaus zu einer kleinen und wenig bedeutenden Landesuniversität mit geringer Studentenzahl. Von einer zielgerichteten Universitätsoder gar Wissenschaftspolitik war man in Rostock fortan weit entfernt, zumal, und dies ist ein in der Forschung konstant gebrauchtes und bisher nicht widerlegtes (und möglicherweise nicht widerlegbares) Narrativ, jedwede Veränderungen oder gar Reformbestrebungen durch die permanenten Auseinandersetzungen zwischen den Landesfürsten, der „widerspenstigen“ Stadt Rostock und der Universität häufig schon im Keim erstickt wurden. Raum für Innovationen war kaum mehr vorhanden. Sichtbares Zeichen war die den Universitätsbetrieb lähmende, eigentlich sogar zum Erliegen bringende Abspaltung der Bützower Universität zwischen 1760 und 1789, in deren Folge sich beide Standorte weitgehend neutralisierten. Die Universität war zu einer rein territorialen Institution mit einer verfestigten, häufig familiär abgekoppelten Sozialstruktur abgefallen. Noch beinahe 100 Jahre sollte es dauern, ehe mit der Herausbildung der modernen Medizin und den damit einhergehenden Prozessen der sukzessiven Spezialisierung, Professionalisierung und schließlich Verselbstständigung einzelner medizinischer Fachgebiete und der assoziierten Etablierung eigenständiger Spezialkliniken der universelle Ausbau des Gesundheitswesens erfolgte und damit auch der Aufstieg der Medizinischen Fakultät. In Rostock steht für diesen Differenzierungsprozess – quasi als Aushängeschild und trotz oder gerade wegen der Verzögerungen in anderen Bereichen – vor allem die 1899 gegründete erste HNO -Fachklinik an einer deutschen Universität unter Otto Körner (1858 – 1935), der 1901 auch das erste Ordinariat für Otologie erhielt. Später ist es der vor genau 100 Jahren etablierte erste Lehrstuhl für Zahnheilkunde in Deutschland. Und auch die Augenheilkunde mit ihrem ersten Ordinarius Wilhelm von Zehender (ab 1869) kann eine lange Tradition vorweisen, auch wenn sein jahrelanger Kampf um eine eigenständige Klinik, ganz ähnlich wie in anderen Fachbereichen, wegen fehlender finanzieller Mittel vorerst keinen positiven Ausgang genommen hatte. Und dennoch: Im Zuge dieser Ausdifferenzierungen entwickelte sich die Medizinische Fakultät von der seit den Anfängen der Universität Rostock kleinsten und mit den wenigsten Konzilsmitgliedern ausgestatteten – lediglich zwei (herzogliche) Professoren der Medizin gegenüber acht der philosophischen (Artisten-) und jeweils vier der Theologischen und Juristischen Fakultät gehörten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dem Lehrkörper an – zum größten und stetig wachsenden Fachbereich; ein Fakt, der sich auch in der Anzahl der Medizinstudierenden niederschlug. War die Universität ursprünglich vor allem als

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„Kaderschmiede“ für (hanse)städtische und fürstliche Verwaltungen konzipiert worden, in der neben der Theologischen vor allem die Juristische Fakultät von großer Bedeutung war, lief ihr ihr medizinisches Pendant im Verlauf des 19. Jahrhunderts den Rang ab. Im weiteren Verlauf glich sie bis etwa Mitte der 1930er-­Jahre und nochmals unterstützt durch den generell starken Zustrom von Studenten und Studentinnen an Hochschulen im Zuge der Weltwirtschaftskrise in der Weimarer Republik, eher einer medizinischen Hochschule als einer „universitas litterarum“ im Humboldt’schen Sinne.1 Bewirkt hatten diese Veränderungen zum einen die im Zuge neuhumanistischer Ideen einsetzenden universitären Reformbestrebungen, bei denen die forschungsorientierte Lehre innerhalb einer Institution, akademische Freiheiten und damit einhergehende Kreativität und Originalität neue Werte darstellten und schließlich den Wechsel von einer Familienuniversität mit über Generationen tätigen und bedeutenden Gelehrtenfamilien – an der Medizinischen Fakultät Rostock würden dafür etwa die Familien Bording-­Bacmeister, Lauremberg oder Detharding stehen –, zu einer Leistungsuniversität mit spezialisierter Forschung beförderten. Auch die Einführung einer Altersgrenze im Jahr 1905 unterstützte eine solche Entwicklung. Zum anderen, und dies spielte in der Medizin eine tragende und besonders wirkmächtige Rolle, war durch den zunehmenden Einfluss naturwissenschaftlicher Konzepte und den auf exakten Beweisen beruhenden neuen Erkenntnissen das Wissen enorm expandiert. Der Aufstieg der naturwissenschaftlichen Medizin war nach 1860 auch an der Rostocker Universität nicht mehr aufzuhalten und führte zur erwähnten und folgerichtigen, aber auch langfristigen Umformung der Fakultätenhierarchie. War die Universität seit dem 18. Jahrhundert, spätestens aber mit dem Zweiten Rostocker Erbvertrag (1788 und dem erneuten Vergleich von 1827), zu einer landeshoheitlichen, auf den Staatsdienst vorbereitenden und überregional wenig lukrativen Bildungseinrichtung deklassiert worden, war es nun die Medizinische Fakultät, die frische Impulse setzen konnte. Die Entstehung neuer Kliniken, Laboratorien, Institute und Lehrstühle und der damit verbundenen verbesserten und vor allem fachspezifischen Lehre führten zu wachsenden Studierendenzahlen. Und auch die Größe des medizinischen Lehrkörpers stieg seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert stetig an. Ausländische Wissenschaftler konsultierten einzelne Einrichtungen, wie etwa aus dem Besucherbuch der HNO -Klinik nach 1899 hervorgeht.2 Insgesamt war die Aufbruchsstimmung im Kontext einer auf naturwissenschaftlichem Denken basierenden und vom rein „Spekulativen“ befreiten Medizin eine Triebfeder, die beinahe grenzenlose Fortschritte bei der Genese, Therapie und schließlich der Bekämpfung oder gar Eliminierung von Krankheiten versprach. Sowohl die Etablierung theoretischer Grundlagenfächer, wie etwa die ab 1865 in Rostock eigenständige, von der Anatomie abgekoppelte Physiologie, die Hygiene, die ab 1881 ein eigenes Institut aufweisen konnte oder auch die Pharmakologie und Physiologische Chemie, als auch die klinischen Disziplinen Gynäkologie, Ophthalmologie, Pädiatrie, HNO , Haut- und Geschlechtskrankheiten, Psychiatrie u. a. m. deuten auf ein verbessertes quantitatives und qualitativ-­spezialisiertes medizinisches Leistungsangebot hin. Dieser Entwicklung zuträglich war zudem die mit der Einführung des Krankenversicherungsgesetzes ab den 1880er-­Jahren einhergehende Entstehung eines zunehmend auch breitere Schichten erfassenden Gesundheitsmarktes. Immer mehr Menschen konnten es sich leisten ein Krankenhaus aufzusuchen. Die Nachfrage nach Ärzten und Bettenkapazitäten stieg rasch an. Hinzu kam die seit 1893 vollzogene Einrichtung von Medizinalbehörden in Mecklenburg-­Schwerin und der damit verbundenen erweiterten Zuständigkeit universitärer Einrichtungen und Kliniken bei der medizinischen Versorgung, auch über das Einzugsgebiet Rostocks hinaus. Doch ungetrübt war die Stimmung auch in dieser Aufbruchszeit keineswegs. Die finanzielle Förderung der Universität seitens des noch immer ständisch-­monarchisch

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organisierten mecklenburgischen Staates lag im nationalen Vergleich auf einem sehr niedrigen Niveau, sodass Lehrende der Universität, unter ihnen auch die der Medizinischen Fakultät, die Wissenschaftspolitik des Herzogshauses mehrfach in den ersten beiden Dezennien des 20. Jahrhunderts sowohl intern als auch extern kritisiert hatten.3 Sie fürchteten zu Recht, Rostock könne als ohnehin kleinere Universität im Deutschen Reich in der Bedeutungslosigkeit versinken oder ganz und gar verschwinden. Im Zuge des Ersten Weltkriegs spitzte sich die angespannte finanzielle Situation weiter zu. Sichtbare Zeichen waren die nun zum Erliegen gekommenen Neubauten der Chirurgischen Klinik und der Pathologie, die mit deutlicher Verzögerung, jeweils erst 1930, eröffnet werden konnten. Auch die Etablierung weiterer Ordinariate oder Extraordinariate stockte, wie etwa das Beispiel der Neurologie an der Rostocker Universität ab 1913 zeigt. Hierbei spielten jedoch nicht nur pekuniäre Gründe oder fehlender, im Krieg anderweitig benötigter Ressourcen eine Rolle. Mit der Herausbildung, letztendlich auch Abspaltung neuer medizinischer Disziplinen gingen häufig Kompetenzrangeleien einher, wurden Befindlichkeiten scheinbar missachtet, vermeintliche Nachteile erwartet und – nur allzu menschlich – die eigene (fachliche) Kompetenz als ausreichend angesehen. Doch hierin zeigt sich ebenso der Drang der Ärzte und Forscher, das Wissensfundament zu erweitern, die Kenntnisse über Krankheiten und deren Entstehung zu vertiefen und darüber hinaus neue Tätigkeitsfelder zu suchen und zu erschließen. Der Erste Weltkrieg, der alle gesellschaftlichen Kräfte und wirtschaftlichen Ressourcen band und wie kaum ein Ereignis zuvor einen tiefen weltpolitischen Einschnitt bedeutete, stellte auch für die Universität und die Fakultät eine enorme Herausforderung dar. Viele Angestellte und Studenten kämpften im Felde oder leisteten Dienst in Lazaretten. Nicht wenige von ihnen verloren ihr Leben, wie aus dem im Universitätsarchiv verwahrten Gedenkband der zwischen 1914 und 1919 Gefallenen hervorgeht.4 Der Mangel an Personal und Material erlaubte den verbliebenen Fakultätsangehörigen nur eine eingeschränkte Aufrechterhaltung des Lehr-, Forschungs- und Klinikbetriebs. Getragen vom „Dienst an der nationalen Sache“ galten die wenigen, überhaupt noch möglichen wissenschaftlichen Bemühungen den verwundeten Soldaten, insbesondere der Untersuchung typischer Kriegsverletzungen und deren möglicher Heilung sowie der Herstellung von Impfstoffen.5 So fußte etwa das berühmte Werk des Neuropsychiaters Karl Kleist (1879 – 1960) zur Gehirnpathologie auf der Untersuchung von Soldaten, die er u. a. im Gehlsheimer Nervenlazarett exploriert hatte. Letztendlich war das Ziel die unbedingte Aufrechterhaltung der Wehrkraft und somit der Kriegsmaschinerie, die zu einer zunehmenden Militarisierung der Medizin auch in Rostock führte. Die Aufzeichnungen des Anatomen und Rektors Dietrich Barfurth (1849 – 1927) geben einen ersten, künftig zu vertiefenden Einblick der starken Berührungen des Politischen mit dem Wissenschaftlichen.6 Trotz des Forschungsdesiderats, das gerade in Hinblick auf die Medizinische Fakultät Rostock während des Ersten Weltkriegs besteht, können erste, hier gezeigte Einblicke in die sowohl fachspezifischen als auch gesellschaftspolitischen Ausführungen u. a. des Pathologen Ernst Schwalbe (1871 – 1920), des Zahnmediziners Johannes Albert Reinmöller (1877 – 1955) oder des Augenarztes Albert Peters (1862 – 1938) sowohl die wissenschaftlichen Aktivitäten nachzeichnen als auch die von einem flammenden Patriotismus getragene Atmosphäre an der Universität ein Stück weit abbilden. Die ideologische Überhöhung des Krieges, wie sie besonders bei den konservativ-­bürgerlichen Bildungseliten – im Übrigen nicht nur im Deutschen Reich – zu Tage trat, zeigt die geistige Mobilmachung, die in einer Zementierung nationaler Klischees und Feindbilder gipfelte und noch weit in die so ungeliebte erste deutsche Republik hineinragen sollte. Der Pathologe Ernst Schwalbe verlor im Gefolge der Novemberrevolution gar sein Leben.

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Und die Entwicklung innerhalb der Medizin? Sie war durch stark verengte Handlungsspielräume im Zuge des kaum mehr vorhandenen Wirtschaftswachstums nach dem Ersten Weltkrieg bestimmt. Und dennoch gibt es auch Positives zu berichten: So hatte etwa die Kritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts Früchte getragen, sodass im 500-jährigen Jubiläumsjahr der Universität 1919 die Extraordinariate für Dermatologie, Kinderheilkunde sowie für Mund- und Zahnkrankheiten in ordentliche Lehrstühle umgewandelt wurden. Damit verfügte die Medizinische Fakultät der Universität Rostock über den ersten Lehrstuhl der Zahnmedizin in Deutschland. In der Folge konnte ab 1920 das Promotionsrecht für Zahnärzte von der Philosophischen zur Medizinischen Fakultät übergehen. Zudem wurde die Universität im nationalen Vergleich unter Studierenden immer beliebter, da im Gegensatz zu größeren Hochschulen weniger Wechsel bei den Lehrenden stattfanden und wohl auch entsprechende Kapazitäten vorhanden waren. An der Medizinischen Fakultät verdoppelte sich die Anzahl der Studierenden auf beinahe 2.000 im Sommersemester 1919 gegenüber dem Vorjahr.7 Und schließlich konnten selbst in den finanziell überaus angespannten Zeiten die Neubauten der Chirurgischen Klinik, noch heute das Herzstück des „Campus Schillingallee“, sowie das Pathologische Institut in der Strempelstraße fertiggestellt werden. Doch eine Konstante blieb während der gesamten Zeit von Weimar: „Die akademische Welt einer ‚gekränkten Nation‘ […] grollte der Republik“ 8. Die Bildungseliten standen der parlamentarischen Demokratie skeptisch, gar feindselig gegenüber. Unter dem Bedingungsrahmen von Hyperinflation und schließlich Weltwirtschaftskrise und den damit verbundenen massiven, auch persönlichen Einschränkungen war ihre Akzeptanz nahezu aussichtslos. Der zunehmende Konkurrenzdruck ließ Ressentiments wieder stärker in den Vordergrund treten, vor allem gegen jüdische Kollegen, wie das Beispiel von Hans Moral (1885 – 1933) zeigt. Die zumindest rechtlich unstrittige gesellschaftliche und kulturelle Gleichstellung der jüdischen Ärzte in der Weimarer Republik führte zu ökonomischen und sozialen Abschottungsbestrebungen, zu einem Klima der Verunsicherung und damit verbunden zu einer politischen Radikalisierung gerade junger deutscher Ärzte. Und auch innerhalb der Studentenschaft blieb die materielle und damit soziale Deklassierung für die politische Haltung nicht folgenlos. In dieser schwierigen Zeit schienen sich insbesondere Mediziner berufen zu fühlen, offensichtlich bestehende gesellschaftliche Probleme, die im Zuge des verlorenen Ersten Weltkriegs verstärkt an die Oberfläche getreten waren, durch rationale und wissenschaftliche Methoden bewältigen zu wollen. Die Sozialhygiene, in Rostock vertreten durch den Bakteriologen und späteren Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes, Hans Reiter (1881 – 1969), versprach durch sozialmedizinische und eugenische Maßnahmen die Leistungsfähigkeit des deutschen Volkes zu stärken, und dies jenseits des vermeintlich kontraselektorischen und auf dem individuellen Recht auf Fürsorge und körperliche Unversehrtheit fußenden Gesundheitswesens von Weimar. Reiter war um diese Zeit der einzige innerhalb des Rostocker medizinischen Lehrkörpers, der bereits vor 1933 Mitglied der NSDAP war.9 Dies sollte sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten radikal ändern.10 Und auch das Medizinstudium sollte systematisch umstrukturiert werden. Ziel war die Zusammenführung spezieller klinischer Fächer unter der Prämisse ihrer erbbiologischen Ausrichtung als medizinische Leitidee. In der Praxis war das jedoch ein eher schleppendes Unterfangen, wie sich gerade am Beispiel des Lehrstuhls und des Instituts für Erbbiologie und Rassenkunde an der Rostocker Alma Mater zeigt. Trotz verschiedener Anläufe und unterschiedlicher Protagonisten – neben Reiter versuchten es Hermann Alois Boehm (1884 – 1962), Leiter des erbbiologischen Forschungsinstituts an der „Führerschule der

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deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse, sowie der Internist und Rassenhygieniker Hans Grebe (1913 – 1999) – gelang eine feste Etablierung an der Universität nur bedingt, obwohl Rassenhygiene ab 1936 Prüfungsfach und durch die Studienreform von 1939 zum Pflichtfach für Medizinstudenten geworden war. Dabei war um diese Zeit gar nicht absehbar, ob die mehr als ein halbes Jahrtausend alte Universität Rostock auch weiterhin den Studienbetrieb aufrecht erhalten durfte. Die schon während der Weimarer Republik immer wieder erwogene Schließung war im Zuge der „Verreichlichung“ der deutschen Hochschulen mit dem Ziel, Wissenschaft angesichts knapper öffentlicher Mittel zentral zu lenken und zu planen, erneut thematisiert und mit der Einstellung des an der Medizinischen Fakultät angesiedelten Pharmaziestudiengangs akut geworden. Nicht unwahrscheinlich ist es, dass durch die Hintanstellung einer auch die Hochschulen tangierenden umfassenden Reichsreform zugunsten der Kriegsvorbereitungen die endgültige Schließung der Mecklenburgischen Landesuniversität abgewendet wurde. Für die praktische Umsetzung der NS -Gesundheitspolitik hatte der Zweite Weltkrieg immense Folgen für Patientinnen und Patienten, auch innerhalb der Einrichtungen der Universität Rostock. War es bereits im Zuge des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) ab 1934 zu massenhaften Zwangssterilisationen gekommen, an denen neben Ärzten der Psychiatrischen und Nervenklinik Gehlsheim insbesondere Gynäkologen und Chirurgen der Universitätskliniken beteiligt waren, schlug der Ausschluss aus der Fortpflanzungsgemeinschaft nun in die Aussonderung aus der Lebensgemeinschaft um. Die als unwert und „Ballastexistenzen“ deklassierten Menschen hatten entsprechend der Wertehierarchie der Nationalsozialisten nunmehr keine Berechtigung zur Teilhabe an den immer knapper werdenden Ressourcen und wurden im Zuge der sogenannten Euthanasiemaßnahmen ermordet. Unter ihnen waren ab 1941 auch Menschen mit psychischen und neurologischen Erkrankungen der Psychiatrischen Klinik Rostock-­Gehlsheim. Zudem ist davon auszugehen, dass auch Ärzte der Universitäts-­Kinderklinik an den Verbrechen an Kindern und Jugendlichen während der Zeit des Nationalsozialismus beteiligt waren.11 Hier besteht nach wie vor Forschungsbedarf, ebenso in Hinblick auf das Engagement von Mitarbeitern einzelner Kliniken und Institute an möglichen kriegswichtigen wissenschaftlichen Untersuchungen. Zweifelsohne gehörten Mediziner zu den führenden Köpfen innerhalb der Universität Rostock während der NS -Zeit. Zwischen 1936 und 1945 waren alle Rektoren Mitglieder der Medizinischen Fakultät,12 ebenso die Führer der Dozentenschaft sowie die Gaudozentenbundführer des NSDDB .13 Im Miteinander von Wissenschaft und Politik stützen sie das Regime maßgeblich, nicht zuletzt durch die Veränderungen von Gestalt und Inhalt der Lehre und Forschung und in letzter Konsequenz bei der praktischen Umsetzung der NS -Gesundheits- und Rassenpolitik als wichtige Säule des politischen Systems. Dies erklärt auch, warum die Medizinische Fakultät nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und der kurzzeitigen Unterbrechung des Lehrbetriebs an der Universität als letzte der Fakultäten im Herbst 1946 wiedereröffnet werden konnte. An einem kurzfristigen Austausch des Personals war mangels Alternativen nicht zu denken, und so konnte die Mehrzahl der als belastet eingestuften Mediziner nach temporären Brüchen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen. Der Mangel an Dozenten innerhalb der medizinischen Fakultäten in der DDR blieb bis in die 1960er-­Jahre ein akutes Problem, sodass man genötigt war, immer wieder auf die alten Bildungseliten, auch aus Westdeutschland, zurückzugreifen. In der Praxis erschwerte dies die politische Einflussnahme der SED auf Lehre und Wissenschaft. Probleme mit staatlichen Stellen, SED -Funktionären und vor allem den Verantwortlichen im Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen in Berlin waren vorprogrammiert.

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Kompromisse seitens der Regierung, bei denen nicht selten im Spannungsfeld zwischen Ideologie und Pragmatismus agiert wurde, führten zu einer schwankenden Politik zwischen Privilegierung und Disziplinierung. Der Protest von 52 Rostocker Hochschullehrern, unter ihnen viele Angehörige der Medizinischen Fakultät unter der Leitung des Dekans Robert Mark (1898 – 1981), gegen die Maßnahmen der Zweiten Hochschulreform im Frühjahr 1952 zeigt eindrücklich die Skepsis oder gar Ablehnung gegenüber der angestrebten zentralistischen Steuerung des Hochschulwesens seitens des SED -Staates. Auch wenn dieser Einspruch letztendlich erfolglos blieb, erregte er großes Aufsehen. In der Konsequenz verließen viele Wissenschaftler, die sich den gesellschafts- und wissenschaftspolitischen Doktrinen der DDR verweigerten, die Universität. Ein eindrückliches Beispiel dieser „Zuckerbrot-­und-­Peitsche-­Politik“ veranschaulichen die Maßnahmen gegen die Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Neurologie, Hans Heygster (1905 – 1961) und Franz Günther von Stockert (1899 – 1967), zwischen 1946 und 1958. In der Konsequenz hatten die Auseinandersetzungen gar Auswirkungen auf die Fächerdifferenzierung innerhalb der Medizin, führten zur Abspaltung der Neurologie und dem ersten eigenständigen Lehrstuhl für Kinderneuropsychiatrie in der DDR ; politisch gewollt und durchgesetzt, wissenschaftlich und organisatorisch jedoch kaum umsetzbar. Als Rückzugsort gelebter Bürgerlichkeit und einem unterstellten oder tatsächlich vorhandenen eingeschränkten Bekenntnis zum sozialistischen Staat, standen sowohl der Lehrkörper als auch die Studierenden der Medizinischen Fakultät unter der Kontrolle des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Auch wenn politisch abweichendes Verhalten die Ausnahme blieb, Unangepasstheit und versteckter Widerstand flammten spätestens mit der Gründung der DDR und verstärkt im Zuge der Zweiten Hochschulreform 1951/52 immer wieder auf. Aber natürlich gab es auch Akzeptanz und Anpassung an gesellschaftliche Denk- und Gefühlsmuster in der DDR , aus Überzeugung, Opportunismus oder beidem. Der vorliegende Band reißt das schwierige Kapitel  DDR lediglich an, umschifft gar die (Nach)Wendezeit. Dies ist u. a. der häufig noch Sperrfristen unterlegenen Quellensituation geschuldet. Es wird zukünftig notwendig sein, über die Medizin an der Universität Rostock in den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts und insbesondere in der DDR verstärkt zu reflektieren. Im nun vorliegenden Band soll der Bogen von den Anfängen im frühen 15. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts gespannt werden. Es wird um Erfolgsgeschichten medizinischer Arbeit und Forschung gehen, um Institutionen, Gebäude, Lehrende, Lernende, Patientinnen und Patienten, schließlich um Menschen- und Gesellschaftsbilder in der Medizin innerhalb ihrer zeitbedingten Varianten; und damit auch um die Schattenseiten medizinischer Versorgung und Forschung, wie sie vor allem während der Zeit des Nationalsozialismus zu Tage traten. Es ist der Versuch, die Gratwanderung zwischen Feiern, Erinnern, Reflektieren und auch In-­sich-­Gehen zu ermöglichen; dabei auch ein wenig altes „Gebaren“ der Medizinhistoriografie an den Tag zu legen, nämlich Forscher- und Lebensleistungen zu würdigen und somit ärztliches Bewusstsein im Sinne der Identitätsund Traditionsstiftung zu lancieren. Darüber hinaus werden weniger isolierte Ansätze eine Rolle spielen, die die Medizin und die in ihr Handelnden in sozialen Kontextualisierungen betrachten und somit den Blickwinkel auf Prozesse der gesellschaftlichen „Medikalisierung“, der Jahrhunderte währenden Professionalisierung, der Politisierung von Medizin oder gar der Stigmatisierung erweitern. Eingeleitet werden die Kapitel von einem Text, der versucht, die historische Klammer als Dialog zwischen den Einzelbeiträgen herzustellen. Eingeschobene Exkurse erweitern das Spektrum. Nicht zuletzt soll der vorliegende Jubiläumsband als Anregung für weitere notwendige Forschungen zur Universitätsgeschichte dienen.

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Anmerkungen 1

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So waren etwa Mitte der 1930-Jahre fast 1.500 Studierende der Medizin eingeschrieben und gerade einmal ein Drittel davon in der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Vgl. die statistischen Zusammenfassungen in den jeweiligen Jahrgängen der Vorlesungs- und Personalverzeichnisse unter http:// rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­ PuV/ (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Vgl. Körner 1920, S. 115. Vgl. Forschungsgruppe Universitätsgeschichte, Bd. 1, S. 93. UAR R15 A1/2. Vgl. Strahl 2007, S. 64. Vgl. Barfurth 1917. Vgl. Forschungsgruppe Universitätsgeschichte, Bd. 1, S. 224 f. sowie Titze 1987, S. 497. Kuhn 1966, S. 16; zit. auch in Heiber, 1991, Teil 1, S. 36.

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Auch der spätere stellvertretende Reichsärzteführer Kurt Blome (1884 – 1969), der zwischen 1922 und 1924 an der Dermatologischen Klinik in Rostock tätig war, war bereits seit 1922 Mitglied der NSDAP. Wegen seiner politischen Betätigung wurde er 1924 von der Universität Rostock entlassen. Vgl. Lilla 2004, S. 45 f. 10 Hierbei ist zu beachten, dass der historiografische Blick mehr darauf zu richten sein wird, was die einzelnen Protagonisten taten, weniger darauf, was sie waren, nämlich Mitglieder der NSDAP. Für die Universität Rostock steht eine solche Analyse weitgehend aus. Dieses Forschungsdesiderat ist unbedingt auszuräumen, da die führenden Entscheidungsträger an der Universität spätestens ab 1936 fast ausschließlich der Medizinischen Fakultät

angehörten. Eine eingehende Analyse verspricht demzufolge einen ungemeinen Erkenntnisgewinn hinsichtlich struktureller, personeller, forschungsrelevanter und weiterer Veränderungen sowohl an der Medizinischen Fakultät als auch an der Universität insgesamt. Neue Erkenntnisse verspricht das Dissertationsprojekt von Florian Detjens „Wissenschaft und Diktatur. Die Universität Rostock im Nationalsozialismus (1932/33 – 1945)“. 11 Vgl. Pelz 2009. 12 Rektoren der Universität Rostock 1419 – 2019 unter http://cpr.uni-­ rostock.de/site/rektoren (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 13 Vgl. Forschungsgruppe Universitätsgeschichte, 1969, Bd. 1, S. 247.

Literaturverzeichnis Quellen UAR R15 A1/2

Literatur Barfurth, Dietrich: Die Arbeit der Universität im Weltkriege. Ansprache beim Antritt des Rektorats der Universität Rostock am 1. Juli 1917. Warkentiens Buchhandlung, Rostock 1917. Forschungsgruppe Universitätsgeschichte: Geschichte der Universität Rostock 1419 – 1969, Bd. 1: Die Universität von 1419 – 1945, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1969. Heiber, Helmut: Universität unterm Hakenkreuz. Teil 1: Der Professor im Dritten Reich. Bilder aus der akademischen Provinz. Saur, München 1991. Körner, Otto: Erinnerungen eines deutschen Arztes und ­Hochschullehrers 1858 – 1914. Bergmann, München/­ Wiesbaden 1920. Kuhn, Helmut (Hrsg.): Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vortragsreihe der Universität München, München 1966.

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Lilla, Joachim: Statisten in Uniform – Die Mitglieder des Reichstags 1933 – 1945. Droste, Düsseldorf 2004. Pelz, Lothar: Mecklenburgische Kinderärzte und NS -„Kindereuthanasie“, in: Kumbier, Ekkehardt/Teipel, Stefan J./ Herpertz, Sabine C. (Hrsg.): Ethik und Erinnerung. Zur Verantwortung der Psychiatrie in Vergangenheit und Gegenwart. Pabst, Lengerich 2009, S. 59 – 69. Strahl, Antje: Rostock im Ersten Weltkrieg, Bildung, Kultur und Alltag in einer Seestadt zwischen 1914 und 1918. Lit-­Verlag, Münster 2007. Titze, Hartmut: Datenhandbuch zur deutschen Bildungsgeschichte, Bd. I, 2. Teil, Tab. 23.1, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1987.

Onlinenachweise Rektoren der Universität Rostock 1419 – 2019 unter http://cpr. uni-­rostock.de/site/rektoren (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Vorlesungs- und Personalverzeichnisse unter http://rosdok. uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ (letzter Aufruf am 13. 4. 2019).

Einleitung: Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock

Die Universität Rostock und die Medizinische Fakultät: Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der Universität Bützow 1760 bis 1789

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Von der Gründung der Bürgeruniversität zur mecklenburgischen Hochschule Die Medizinische Fakultät 1419 – 1789 Kathleen Haack Die Universität Rostock ist die älteste im Ostsee- und Hanseraum. 1419 gegründet, war sie das Ergebnis eines Interessenausgleichs, bei der unterschiedliche Partner ganz ähnliche Ziele verfolgten. Da waren zum einen die Hanse und die über mehrere Jahrhunderte eng mit ihr verbundene Stadt Rostock. Deren Etablierung als wichtiges Handelszentrum im Ostseeraum ist ohne dieses bedeutende Bündnis niederdeutscher Kaufleute kaum vorstellbar. Und eben dieses Bürgertum der wendischen Hansestädte war es, die im Zuge der Entwicklung von einer „Kaufmanns“- zu einer „Städtehanse“ seit dem 14. Jahrhundert neben wirtschaftlichen Interessen auch kulturelle und wissenschaftspolitische Entscheidungen vorantrieben. So war die Gründung der Universität einerseits ein sichtbares Zeichen der Bedeutung von Rostock im Norden Europas und innerhalb der Hanse, andererseits war die Stadt Teil des herzoglichen Mecklenburgs. Sie verfügte nicht über Selbstverwaltungsrechte und bedurfte für die Etablierung einer Hohen Schule – neben der obligaten Genehmigung des Papstes – der Zustimmung der Landesfürsten. Auch sie hatten die Zeichen der Zeit erkannt. Zur Festigung ihrer Herrschaft bedurften sie, genau wie die Territorialstädte, zunehmend gut geschulter Juristen, Mediziner und Theologen zur Bewerkstelligung der wachsenden Aufgaben in den fürstlichen und städtischen Verwaltungen, in der Gerichtsbarkeit sowie der gesundheitlichen Versorgung der (städtischen) Bevölkerung sowie des Adels. Und so unternahmen die mecklenburgischen Herzöge Albrecht V. und Johann IV . gemeinsam mit den Verantwortlichen der Stadt Rostock sowie dem Bischof von Schwerin, Heinrich II . von Nauen, seit September 1418 erste Schritte zur Gründung einer Universität. Schon wenige Monate später, im Februar 1419, bewilligte Papst Martin V. die Einrichtung eines Studium generale in Rostock mit der Artistenfakultät sowie den „höheren Fakultäten“ der Jurisprudenz und Medizin (Abb. 1). Die Theologische Fakultät wurde zunächst ausgenommen, da häretische Bestrebungen in Norddeutschland und im Ostseeraum nachgewiesen waren;1 sie sollte 1432/33 folgen. Am 29. Juli 1419 stimmte die Rostocker Bürgerschaft der Gründung zu, zwei Monate später gab der Rat der Stadt anstelle der mecklenburgischen Herzöge die vom Papst verlangte schriftliche Erklärung, die Verantwortung und damit auch die materielle Ausstattung für die Universität zu übernehmen. Die feierliche Eröffnung konnte so am 12. November 1419 in der Marienkirche zu Rostock mit den der Universität zugesicherten Privilegien und Dotationen stattfinden. Diese Konstellation jedoch, bei der die Herzöge formal ihre

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Von der Gründung der Bürgeruniversität zur mecklenburgischen Hochschule

Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

Abb. 1  Hauptportal des Universitätshauptgebäudes Rostock mit der Inschrift „Doctrinam multiplex, veritas una“ (Es gibt viele Hypothesen, aber nur eine Wahrheit). Über dem Eingang Papst Martin V. sowie rechts und links die beiden „Gründungsherzöge“ Albrecht V. und Johann IV.

Zustimmung erteilt hatten, aufgrund fehlender finanzieller Mittel hingegen die Stadt und deren Bürger als die eigentliche Patronage der Universität gelten kann, führte in der Folge immer wieder zu Anfeindungen und Kompetenzgerangel. Auch im Bereich der Medizin gab es von Beginn an Spannungen. Einerseits versprach sich die Stadt durch die Ausbildung universitär geschulter Mediziner eine qualitativ hochwertige Besetzung der so wichtigen Position der Stadtphysici an der Schnittstelle der Gesundheitsvorsorge der Bevölkerung, der Hygiene sowie der Aufsicht über die Apotheken, Hebammen und anderer heilkundlicher Berufe. Andererseits war es für die wenigen an der Universität ausgebildeten Mediziner – die Generalstatuten von 1419 sahen an der Rostocker Universität zwei Professorenstellen für Medizin 2 vor, die zumeist ebenso wenige Studenten unterrichteten – wesentlich lukrativer, eine Stelle als Leibarzt an königlichen oder herzoglichen Höfen anzunehmen. Solche Ämter waren sowohl vom Renommee als auch finanzieller Art erstrebenswert. Hinzu kam eine um diese Zeit generell übliche Fluktuation. So kennen wir nur wenige Namen von Medizinern in dieser frühen Gründungs- und Etablierungsphase der Universität: etwa einen Reginarus (Reimar) Sweder, welcher bereits 1420 unter dem Rektorat von Wernerus Brekewoldt (Werner Brekewolt: 1400 – zwischen 1434 und 1440) tätig war. Des Weiteren Bernhard Bodecker, Nicolaus Ramzow, Albert Schroter sowie Arnold von Tricht, der erste Mediziner, der Rektor der Universität war 3, allerdings der Artistenfakultät angehörte. Helmold Lideren von Uelzen (?–1482) verdanken wir schließlich ein Dokument aus dem Jahr 1430, in welchem er darüber berichtet, dass an der Universität noch kein Domus Medicorum als eigenes Kolleggebäude existierte.4 Dementsprechend fanden die medizinischen Vorlesungen zunächst im Collegium Philosophicum statt. Zudem war es in allen Fächern üblich, dass Professoren zu Hause unterrichteten. Ab 1470 verfügte die Medizinische Fakultät in der Breiten Straße schließlich über ein eigenes Fakultätshaus (Domus Medicorum), dessen Eigentümer sie für etwa 250 Jahre blieb.5 Die inhaltliche Ausrichtung des medizinischen Unterrichts orientierte sich, wie allgemein üblich in der mittelalterlichen Universitätsmedizin Europas, am hippokratischen und galenischen Schrifttum. Hinzu kamen arabisch geschriebene Übersetzungen, Kommentare und Abhandlungen, die sich auf klassische und neuplatonische griechische Texte bezogen. Neben der Strukturierung und Übersetzung der Werke Galens durch Rhazes (um 865 – 925) stellt insbesondere der Canon Medicinae des Avicenna (um 980 – 1037) eine starke Kompilation medizinischen Wissens dar und nahm bis in die frühe Neuzeit eine im europäischen Lehrbetrieb unangefochtene Stellung bei der medizinischen Ausbildung ein.6 Nicht unerwähnt bleiben darf zudem die Articella, ein Kanon medizinischer

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Schriften, der im 11. Jahrhundert an der Medizinschule von Salerno entstanden war. Sie gilt als das „erste universitäre Lehrbuch der Medizin“ 7 und stellte somit ein wichtiges Fundament europäisch-­medizinischer Bildung dar. In Rostock hatte zudem der Rechtsprofessor Nicolaus Marschalk (um 1460 – 1525, Abb. 2) in seiner eigenen Druckerei einen erstmals 1316 von Mondino dei Liuzzi vorgetragenen Basistext mittelalterlicher Anatomie, die „Anatomia“, verlegt. Auch scheint es so, dass es schon vor dem 16. Jahrhundert anatomische Sektionen in Rostock gegeben hat, da die ersten Fakultätsstatuten für eine solche Unterrichtsform bereits Aussagen machen.8 Insgesamt bestand die Beschaffenheit der universitär vermittelten Medizin primär aus Erkenntnissen, die aus dem Studium, der Erörterung und Disputation autoritativer Texte gewonnen wurden. Dieses theoretische Fundament unterschied die akademisch gebildeten Ärzte ganz wesentlich von den anderen Heilberufen und verschaffte ihnen soziale und finanzielle Reputation. Hingegen war es gerade dieser Mangel an der empirischen Überprüfbarkeit der theoretisch-­medizinischen Konzepte, der bald zur Kritik der universitären Ausbildung, beruhend auf einem stark dogmatischen Textverständnis, führte. In der Folge kam es zu einer Überprüfung und Neubewertung der lateinischen und griechischen Originalschriften. Diese sich von der mittelalterlichen Scholastik abgrenzende Bewegung des Humanismus brachte auch in Rostock eine Gruppe „protophilologischer Mediziner“ hervor, die etwa 100 Jahre nach der Gründung der Universität und Fakultät neue Impulse setzen konnte. Innerhalb der Medizin fand ein Übergang von der indirekten (arabistischen) zur direkten Rezeption der Antike statt.9 Janus Cornarius (1500 – 1558, Abb. 3), ein Wegbegleiter Melanchthons, ist ein Beispiel eines solchen philologischen Erneuerers der Medizin. Mit seinen Übersetzungen und Kommentaren zu Schriften von Hippokrates und Galen, aber auch anderen griechischen Autoren wie Pedanios Dioskurides (1. Jahrhundert), Aëtios von Amida (502 – 575) oder Paulos von Aigina (ca. 625 – 690) brachte er einen veränderten texteditorischen Ansatz in die Medizin ein, trug das medizinische Wissen seiner Zeit zusammen und machte es für die Ausbildung nutzbar. An der Universität Rostock lehrte Cornarius allerdings nur eineinhalb Jahre Medizin, zwischen Februar 1526 und September 1527. Er las dort vor allem Hippokrates zur Verbreitung der griechischen Sprache, war aber in Tradition der arabischen Medizin auch an astrologischen Wissensinhalten interessiert. Sein wenn auch kurzes Wirken an der Universität brach der endgültigen Verbreitung der hippokratischen Medizin Bahn.10 Einen grundlegenden Wandel für Universität und Medizinische Fakultät brachte die Formula Concordiae (siehe Kasten) aus dem Jahr 1563. Im Zuge der Reorganisation der Hochschule nach der Reformation – 1542 war die Rostocker Alma Mater evangelisch geworden – kam es erneut zur Frage nach der Standortbestimmung der Universität zwischen Stadt einerseits und erstarkter Landeshoheit andererseits. Der Kompromiss sah fürstliche und rätliche Professorenkollegien vor, die durch das Konzil vereint bleiben sollten.11 Die Finanzierung übernahmen jeweils die Landesherren als Patron der Universität bzw. der Rat der Stadt Rostock als deren Kompatron. Die Universität erhielt eine völlig neue Rechts- und Finanzierungsgrundlage. In der Folgezeit begann ihr sogenanntes „Goldenes Zeitalter“, eingeleitet durch Statutenreform und Reorganisation der Regentien.12

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Abb. 2  Nicolaus Marschalk war 1510 an die Universität Rostock gekommen, nachdem er in Wittenberg auf starke Widerstände gestoßen war. Neben juristischen und philologischen Vorlesungen und Schriften trat er auch als Historiograph und Chronist mecklenburgischer Geschichte auf.

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Abb. 3  Porträt von Janus Cornarius in der Aula der Universität Rostock (Hauptgebäude). Janus Cornarius, 1500 in Zwickau geboren, war in vielen Wissensgebieten bewandert. Seine hervorragenden Kenntnisse der lateinischen und griechischen Sprache ermöglichten einen verbesserten Zugang zu altgriechischen medizinischen Originaltexten, die er ins Lateinische übertrug. Er gehört zu den bedeutendsten Vertretern der philologischen Heilkunde und hatte einen großen Einfluss auf die medizinische Ausbildung seiner Zeit. Trotz seines nur kurzen Aufenthalts an der Medizinischen Fakultät Rostock war sein Wirken hier nachhaltig und beförderte die hippokratische Tradition an der Fakultät für Jahrhunderte.

Auch die Medizinische Fakultät erhielt 1568 eine Revision der Statuten, die maßgeblich von einem der wohl berühmtesten Rostocker Mediziner entworfen worden war: Jacob Bording dem Älteren (1511 – 1560. Abb. 4). Bording, gebürtiger Niederländer, hatte in Montpellier und Bologna, beides Zentren der anatomischen Forschung, Medizin studiert. Als Anhänger der Reformation war er in seiner Heimat Verfolgungen ausgesetzt und gelangte über Hamburg schließlich nach Rostock, wo in Ermangelung eigenen qualifizierten Nachwuchses Gelehrte äußerst willkommen waren. Mit Bording begann eine Tradition der Aufnahme niederländischer Gelehrter an die Rostocker Alma Mater, von denen die Mediziner Levinus Battus (1545 – 1591), Heinrich Brucaeus (1530 – 1593) sowie Petrus Memmius (1531 – 1587) genannt sein sollen. Als Richtschnur des medizinischen Unterrichts galten nach wie vor die Texte Galens, nun in neuer Übersetzung, während man den iatrochemischen Ansätzen des Paracelsus (1493 – 1541) zurückhaltend gegenüberstand; vor allem wegen dessen ablehnender Haltung gegenüber der lutherschen Reformation.13 Zudem sollten botanische Exkursionen „nach der Vorschrift des Dioskurides“ 14 dreimal jährlich in das Rostocker Umland stattfinden, medizinischen Promotionen gingen nun Prüfungen voraus. Eine der wichtigsten Neuerungen war die Aufstockung von zwei auf drei Medizinprofessuren. Mit der rätlichen war zugleich das Amt des Stadtphysicus verbunden, dem Primarius der herzoglichen Professur kam die Aufgabe des Leibarztes zu. Diesem oblagen zudem die Vorlesungen der Höheren Mathematik. Der zweite herzogliche Professor hatte keinen Sitz im insgesamt 18 Professoren umfassenden Konzil der Universität.

Formula Concordiae 1563 Die Formula Concordiae von 1563 stellt einen Kompromiss der an der Universität Rostock beteiligten und interessierten Mächte dar: das waren die Herzöge Johann Albrecht I. und Ulrich III., die Stadt Rostock (Rat und Bürgerschaft) sowie die Universität (Professoren des Rates und der Fürsten). Mit der Formula Concordiae begann eine Blütezeit der Universität Rostock. Sie war nun eine evangelisch-­lutherische Universität mit dem umfassenden Auftrag, Pastoren und weltliche Amtsträger professionell auszubilden, die dann im Dienst des frühmodernen Staates stehen sollten, dessen Bereich öffentlicher Aufgaben sich im 16. Jahrhundert erheblich erweiterte. Die Universität Rostock erhielt mit der Bewilligung von 500 Gulden jährlich durch den Rat und 3.000 Gulden jährlich durch die Herzöge eine Vervielfachung ihrer Einkünfte und konnte ihr Ausbildungsangebot entsprechend erweitern. Unabhängig von der ungleichen Verteilung in der Finanzierung begründete die Formula Concordiae im Wege des Kompatronats die

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gleichgewichtige Teilhabe der Landesherren sowie der Stadt Rostock an der Gestaltung der Universität. Die Funktionen der akademischen Selbstverwaltung wurden gleichberechtigt an die Professoren des Rates und der Landesherren vergeben. Die Regelungen der Gerichtsbarkeit wahrten die Ansprüche auf Herrschaft sowohl der Landesherren, wie der Stadt Rostock und der Universität. Die Formula Concordiae machte die Universität Rostock groß und attraktiv. Ihre Blüte dauerte bis in den Dreißigjährigen Krieg hinein, bis die allgemeine Finanzkrise auch die Universität erreichte. Das Kompatronat wurde im 18. Jahrhundert durch Gründung der herzoglichen Universität Bützow (1760 – 1789) außer Kraft gesetzt, 1827 vertraglich endgültig aufgelöst. Seitdem untersteht die Universität Rostock allein dem Land Mecklenburg. Kersten Krüger, 22. November 2005 (https:// www.uni-­rostock.de/fileadmin/uni-­rostock/ UniHome/Geschichte/FormulaConcordiae/ formula.htm, letzter Aufruf am 8. 4. 2019).

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Die folgenden Jahrzehnte stellten für die Rostocker Medizin einen ersten Höhepunkt dar. Nachdem die medizinische Ausbildung durch Bording deutlich gehoben worden war, sah man nun zunehmend die Notwendigkeit anatomischer Studien. Der Vesalschüler Heinrich Brucaeus führte nachweislich zwischen 1567 und 1582 öffentliche Sektionen durch, deren Notwendigkeit vom Rektor und Konzil öffentlich unterstrichen worden war.15 Ein Schüler von Brucaeus, Peter Pauw (1564 – 1617), promovierte in Rostock, hielt hier medizinische Vorlesungen und gründete 1597 schließlich das erste Anatomische Theater nördlich der Alpen in Leiden. Überhaupt lässt sich im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts eine zunehmende Strahlkraft der Rostocker Medizin erkennen, die eine Einbindung bedeutender Mediziner an europäische Universitäten und Königshäuser, vor allem im skandinavischen Raum, zur Folge hatte, ein Prozess, bei dem umgekehrt Wissen nach Rostock transferiert wurde. Neben den bereits Erwähnten sei vor allem auf Jacob Fabricius (1576 – 1652) verwiesen, der in Deutschland, den Niederlanden, England und der Schweiz tätig war, erfolgreich Wallenstein behandelt hatte sowie eine Zeitlang Famulus des bedeutenden Astronomen Tycho de Brahe (1546 – 1601) war, der bekanntermaßen in Rostock bei einem Duell einen großen Teil seiner Nase eingebüßt hatte. Als Leibarzt des dänischen Königs bemühte Fabricius sich, in Kopenhagen ein Anatomisches Institut einzurichten. Dies vermochte jedoch erst sein ebenfalls in Rostock tätiger Schwiegersohn, Simon Pauli (1603 – 1680, Abb. 5), der in Leiden und Paris an den führenden medizinischen Ausbildungsstätten studiert hatte, ab 1634 an der Rostocker Medizinischen Fakultät tätig war und sich hier vor allem der Anatomie sowie der Botanik widmete, bevor er schließlich 1640 von Christian  IV . von Dänemark (1577 – 1648) einen Ruf als Professor der Anatomie, Chirurgie und Botanik an die Universität Kopenhagen erhielt. Hier wurde Pauli Leiter des neu errichteten anatomischen Lehrgebäudes. Seine medizinischen Ansichten sind zwischen hippokratisch-­galenischer Lehrmeinung und der iatrochemischen Schule des Paracelsus verortet.16 Auch wenn er bei seinen Studien selbst keine neuen anatomischen Erkenntnisse gewonnen hatte, lieferten seine Editionen und Sammlungen, insbesondere sein deutschsprachig kommentierter anatomischer Atlas 17, bis ins 18. Jahrhundert hinein eine wichtige Grundlage für die medizinisch-­anatomische Ausbildung angehender Mediziner in Rostock und darüber hinaus (Abb. 6). Im Gegensatz zu seinem Kollegen Peter Lauremberg (1585 – 1639) lehnte Pauli die Blutkreislauflehre Harveys (1578 – 1657) lange Zeit ab. Lauremberg hingegen, ebenso wie Pauli an bedeutenden Universitäten Europas ausgebildet, hatte schon frühzeitig – acht Jahre nach der Beschreibung durch Harvey 1628 – die Bedeutung dieser Entdeckung für die Medizin und insbesondere Physiologie erkannt. In seiner 1636 erschienenen Schrift „Collegium Anatomicum“ unterstützte der Sohn des Rostocker Medizinprofessors Wilhelm Lauremberg (1547 – 1612) die Harvey’sche Kreislauftheorie. Dies war eine durchaus mutige Entscheidung, brach sie doch mit der 1.500 Jahre gängigen Lehrmeinung des Galenismus.18 Dieser Blüte der Medizin an der Universität Rostock, die durch den Dreißigjährigen Krieg nur bedingt unterbrochen wurde, folgte alsbald ein tiefer Fall. Nach dem Tod von

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Abb. 4  Büstenmedaillon von Jacob Bording (Hauptgebäude der Universität Rostock). Jacob Bording d. Ä., 1511 in Antwerpen geboren, gehört zu den bedeutendsten Medizinern der Rostocker Universität. Aufgrund seines evangelischen Glaubens von Karl V. (1500 – 1558) in seiner Heimat verfolgt, nahm er 1549 einen Ruf an die Hochschule an der Warnow an und wurde zugleich Leibarzt von Herzog Heinrich V. von Mecklenburg-Schwerin. Bording gilt als Erneuerer der Universität nach Vorbild der Wittenberger Alma Mater. Zudem machte er sich um die Wiederbelebung der medizinischen Studien auf der Grundlage der Lehren Galens in Rostock verdient. Mit Bording begann die Tradition niederländischer Gelehrter in Rostock. Außerdem begründete er hier eine Gelehrtendynastie, die neben Medizinern wie seinem Enkel, Johann Bacmeister d. Ä. (1563 – 1631), eine Reihe bedeutender Politiker und Theologen hervorbrachte.

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Abb. 5  Porträt von Simon Pauli in der Aula der Universität Rostock (Hauptgebäude). Simon Pauli, 1603 in Rostock geboren, zeigte schon als Student besonderes Interesse an der Anatomie. Seine Studien führten ihn folgerichtig an wichtige Zentren der anatomischen Forschung in Europa, u. a. nach Leiden und Paris. Er praktizierte und lehrte von 1634 bis 1639 in Rostock, bevor er einem Ruf für Anatomie, Chirurgie und Botanik an die Universität Kopenhagen folgte. Neben der Anatomie galt sein wissenschaftliches Interesse der Botanik als pharmakologische Hilfswissenschaft.

Stephan Schultetus (1602 – 1654) „starb die Fakultät schon zum zweiten Male [das erste Mal 156819] aus“ 20. Die medizinischen Lehrstühle waren verwaist. Erst mit Johann Bacmeister d. J. (1624 – 1686) fanden wieder Vorlesungen über Anatomie, Chirurgie und medizinische Praxis statt. In diese ohnehin schwierige Phase der Stagnation nach dem Dreißigjährigen Krieg und dem endgültigen Untergang der Hanse, fiel der große Stadtbrand von 1677. Fast die gesamte Altstadt wurde zerstört, Rostock avancierte langfristig von der reichen Bürgerstadt zu einer mecklenburgischen Landstadt, die zunehmend isoliert war. Dieser zerstörerische Großbrand scheint ein Menetekel gewesen zu sein. Bacmeister hatte seine umfangreiche medizinische Bibliothek und seine kostbare anatomische Sammlung von „Curiosa“ verloren. Sehr viel schlimmer aber war der Verlust der gesamten Unterlagen der Medizinischen Fakultät. Die Universität entwickelte sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu einer relativ unbedeutenden Landesuniversität mit geringen Studentenzahlen, deren Tiefpunkt die Abspaltung der Bützower Universität zwischen 1760 und 1789 darstellte. Medizinische Neuerungen, etwa die Erkenntnisse der Mikroskopischen Anatomie, die durch Marcello Malpighi (1628 – 1694) ermöglicht worden waren, oder auch die stärkere Betonung der praktischen Ziele der Medizin durch Thomas Sydenham (1624 – 1689) sowie Herman Boerhaave (1668 – 1738) und damit einhergehende neue Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit flossen vorerst nicht in die akademische Ausbildung ein. Ein Beispiel einer solch rückständig, gar rückwärtsgewandten Medizin ist das Werk „Nova Medicina Spirituum“ 21 des zwischen 1655 und 1687 an der Universität tätigen herzoglichen Professors der Medizin, Sebastian Würdig (1613 – 1687). In diesem versuchte er die Ätiopathogenese durch zornige, rachsüchtige Geister in der Luft und im Firmament zu erklären.22 Weitaus schwerwiegender waren die neuen Herausforderungen an die Medizin seit dem 17. und 18. Jahrhundert, die mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozessen verbunden waren. Die Gesundheits- und Armenfürsorge wurde Aufgabe des frühmodernen Territorialstaates, deren Vertreter das Potential des gesunden Untertanen für sich erkannt hatten. Das zog zwangsläufig die staatlich gestützte Errichtung von Kranken- und Armeninstituten nach sich und einen zunehmenden Bedarf an medizinisch besser geschultem Personal. Dieses sollte „bisherige Mißbräuche, Unordnungen und Fehler abstellen [und] zur Erhaltung oder Ersetzung der Gesundheit der Einwohner Unsrer Landen“ 23 beitragen, so die Anweisung des Herzogs Christian Ludewig (1683 – 1756) in der von Georg Christoph Detharding (1699 – 1784) und Gustav Christian von Handtwig (1712 – 1767) entworfenen mecklenburgischen Medizinal- und Taxordnung aus dem Jahr 1751. Die neu zu strukturierende medizinische Versorgungslandschaft zog eine beginnende Differenzierung in der Medizin nach sich sowie eine deutlich praxisorientiertere Ausbildung. Neben der vermehrten Beschäftigung mit der Chirurgie und Geburtshilfe – letztere wurde ab 1765 nachweislich an der Universität gelehrt –, rückten auch andere Spezifizierungen bald ins Blickfeld: Schon 1721 hatte Johann Ernst Schaper (1668 – 1721) über Frauenkrankheiten gelesen,24 zudem sind Kollegs über Pädiatrie, Gerichtsmedizin

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Abb. 6  Der Anatom Simon Pauli (Mitte) auf der von ihm herausgegebenen deutschen Ausgabe der Anatomischen Tafeln von Julius Casserius (1552 – 1616), gemeinsam mit Jean Riolan (1580 – 1657), Casserius, Thomas Bartholin (1616 – 1680) sowie Johann Vesling (1598 – 1648). Das Werk wurde 1656 in Frankfurt/M. gedruckt.

und Osteologie im ausgehenden 18. Jahrhundert nachweisbar.25 Insgesamt jedoch blieb die medizinische Ausbildung, auch die anatomische, während dieser Zeit eher bescheiden. Zwischen 1753 und 1790 wurden keine öffentlichen Leichensektionen durchgeführt. Klinischer Unterricht am Krankenbett fand mangels einer allgemeinen Krankenanstalt nicht statt. Erst mit der „Wiedervereinigung“ mit der Bützower Universität und der endgültigen Verlagerung aller Kapazitäten nach Rostock sollte es mit der medizinischen Ausbildung an der Universität wieder aufwärtsgehen. Die folgenden spezifischen Ausführungen gewähren einen Einblick in die Frühzeit der Medizinischen Fakultät Rostock. Dies ist, der schlechten Quellenlage wegen, ein häufig

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sehr schwieriges Unterfangen. Umso wichtiger erscheint es, den wenigen Zeugnissen ihre nicht immer leicht zu entlockenden Geheimnisse abzuringen. So untersucht Susi-­Hilde Michael die nach jetzigem Kenntnisstand älteste Niederschrift der ersten Statuten der Rostocker Medizinischen Fakultät. Sie geht der Frage der genauen Datierung dieser frühen Kodifikationen nach, die neben zwei Zeugnisformularen die einzigen Testimonien des 15. Jahrhunderts der Rostocker Mediziner-­Fakultät darstellen. In Auseinandersetzung mit früheren Rezeptionen kann sie überzeugend nachweisen, dass deren Ausarbeitung und Verabschiedung ein nicht nur langwieriger, sondern auch langjähriger Vorgang war. Neben den Fragen zur Entstehungsgeschichte der ältesten Medizinerstatuten geht Michael auch auf die Inhalte und damit Regeln und Verordnungen ein, denen ein Studium der Medizin in Rostock im späten Mittelalter unterlag: die Wahl der Lektüre des vorwiegend anatomisch ausgerichteten Lehrstoffes, die erforderliche Anzahl der Disputationen sowie die Notwendigkeit der praktisch-­medizinischen Unterweisung u. a. m. Zudem wird auf die durch die Doktoranden einzuhaltenden Vorschriften verwiesen. Da Spezifika zum mittelalterlichen Promotionswesen in Rostock bisher ein Forschungsdesiderat darstellen, greift Michael in einem weiteren Beitrag dieses Thema im Kontext des Graduierungswesens auch an anderen Universitäten noch einmal separat auf. Anhand der Rostocker Medizinerstatuten – Belege aus der Promotionspraxis fehlen – gewährt sie Einsicht in Berufungsverfahren, den Ablauf der Zeremonien mit entsprechenden Kleidungsstücken und anderen Utensilien, notwendigen Schenkungen, festlichen Mahlen, Örtlichkeiten und weiteren Notwendigkeiten. Neben alltagsgeschichtlichen Aspekten werden somit interessante sozialgeschichtliche Erkenntnisse zu Genese und Tradition gelehrter Gruppen am Vorabend der frühen Neuzeit gewonnen. In die frühe Neuzeit nimmt uns Hans-­Uwe Lammel mit. Anhand eines in der Universitätsbibliothek Rostock verwahrten anatomischen Druckes aus dem Jahr 1514 gibt er Einblicke in die Situation der Rostocker Universitätsmedizin am Beginn des 16. Jahrhunderts. Der Autor verweist darauf, dass auch an der Medizinischen Fakultät Rostock die anatomischen Texte des berühmten Medizinlehrers Mondino dei Liuzzi in Neudrucken weit verbreitet waren. Doch nicht nur das. Lammel zeigt, dass der durch den Rechtsprofessor Nicolaus Marschalk publizierten Abfassung eigene Abbildungen hinzugefügt worden sind. Damit entstand auch in Rostock eine neue humanistische Anatomietradition an der Schwelle vom Mittelalter zur frühen Neuzeit. Sie sollte das Fundament für die bedeutende anatomisch-­physiologische Tradition in der zweiten Hälfte des 16. und den ersten Dekaden des 17. Jahrhunderts legen, die mit so berühmten Medizinern wie Jacob Bording, Levinus Battus oder Simon Pauli verknüpft ist. Schließlich geht Ernst Münch den Pflichten, Rechten und Problemen der Rostocker Stadtphysici vom 16. bis zum 19. Jahrhundert nach. Er beschreibt diese so wichtige ärztliche Funktion im Kontext der Entwicklung der Stadt einerseits, andererseits in Beziehung zur Universität. Das „gedoppelte Amt“, welches zugleich Aufgabe des rätlichen Medizinprofessors an der Universität Rostock war, verlangte den Inhabern viele Verpflichtungen ab. Ihre Aufgabe galt der Gesundheit, Hygiene sowie der Aufsicht über Apotheken und Hebammen innerhalb der Stadt und darüber hinaus auch dem Widerstand gegen das Wirken von Scharlatanen, Okkultisten und anderen nicht akademisch gebildeten „Heilkundigen“. Münch zeigt, dass im Zuge der zunehmend wichtiger werdenden allgemeinen Gesundheitsfürsorge im Verlauf des 18. Jahrhunderts das Amt des Stadtphysikus nicht mehr adäquat war. Das Festhalten am Herkömmlichen konnte den neuen medizinischen Notwendigkeiten nicht gerecht werden. Spezialisierte Amtsärzte traten an die Stelle der Stadtphysici.

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Abgeschlossen wird der die ersten Jahrhunderte umfassende Abschnitt der Entwicklung der Medizinischen Fakultät Rostock von einem Exkurs, in dem über den Auszug großer Teile der Universität und ihres herzoglichen Lehrkörpers nach Bützow reflektiert wird. In diesem lediglich 29 Jahre umfassenden Zeitabschnitt wurde der Universitätsbetrieb an beiden Standorten weitgehend lahmgelegt. Die Studentenzahlen waren rückläufig. Innovationen, die noch im 16. und 17. Jahrhundert von der Universität und Medizinischen Fakultät ausgegangen waren, blieben aus. Die geteilte Alma Mater war zu einer rein territorialen Institution mit einer verfestigten, häufig familiär abgekoppelten Sozialstruktur abgefallen. In der Rückschau erscheint es so, als wenn die Existenz zweier Universitäten und damit auch medizinischen Fakultäten in Mecklenburg dazu geführt hat, die unzulänglichen Kapazitäten zu bündeln und den für Lehrkörper und Studenten unbefriedigenden Zustand zu beenden. Nach 1789 verbesserte sich die Situation der Fakultät – nun wieder allein in Rostock ansässig – stetig. Mit Verspätung sollte nun auch die Rostocker Medizin und ihre Fakultät die ersten notwendigen Schritte in die Moderne vollziehen.

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Vgl. Krabbe 1854, S. 23 ff. Dies war eine durchaus gängige Zahl von Medizinprofessoren an Universitäten im 15. und 16. Jahrhundert. Vgl. Krabbe 1854, S. 69. Vgl. ebd.; zudem sei zu Leben und Wirken von Lideren und dessen Einflussnahme beim Auszug der Universität Rostock nach Greifswald sowie deren Rückkehr auf Wagner 2006 verwiesen. Vgl. Mulsow 2005, S. 60. Vgl. Siraisi 1987; zudem Tott 1855, S. 7. Vgl. Michael: „Die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock“ in diesem Band. Keil: 2005, S. 103. Vgl. Michael: „Die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock“ in diesem Band. Vgl. Schäfer 2010 unter http:// ieg-­ego.eu/de/threads/ modelle-­und-­stereotypen/ modell-­antike/rezeption-­der-­ griechisch-­roemischen-­medizin/

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daniel-­schaefer-­die-­rolle-­der-­ medizinischen-­humanisten-­im-­ kulturtransfer-­antike-­renaissance (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Vgl. Tott 1855, S. 10. Vgl. Krabbe 1854, S. 584 ff. Vgl. Asche 2010, S. 56 – 63. Vgl. Külz 1994, S. 175. Ausführlich zu den Inhalten der medizinischen Vorlesungen um diese Zeit vgl. Krabbe 1854, S. 601 ff. Krabbe 1854, S. 602. Vgl. ebd., S. 703. Zur Geschichte der Anatomie vgl. zudem Schumacher 1968. Die erste nachweisliche Sektion soll 1513 im Rostocker Franziskanerkloster St. Katharinen unter Leitung von Rhembertus Giltzheim (?–1532) stattgefunden haben. Vgl. Fleischhauer 1995, S. 136. Pauli 1648 sowie auch 1683. Vgl. Teichmann 1995. Seit den 1520er-­Jahren war die Universität in eine existenzbedrohende Krise geraten. Im Zuge der Reforma-

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tion hatten viele Hochschullehrer die Rostocker Wirkungsstätte verlassen, Studenten kamen nicht nach. Die verbliebenen Professoren hielten am alten Glauben fest. Erst mit der Formula Concordiae wurde 1563 eine neue Rechts- und Finanzgrundlage geschaffen, die innerhalb der Medizinischen Fakultät erst nach 1568 zur Erneuerung und Wiederbesetzung der vakanten Professorenstellen ­führte. Tott 1855, S. 228. Vgl. Würdig 1673. Vgl. Tott 1855, S. 233. Zit. nach Masius 1811, S. 7. Vgl. Series Lectionum Publicarum et Privatarum unter http://rosdok. uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF/1721_IL.pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse der Zeit unter http://rosdok.uni-­rostock. de/data/Preview-­PuV/ (letzter Aufruf am 8. 4. 2019).

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Die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock Susi-­H ilde Michael In der Abbildung sieht man ein Pergamentblatt, das mit einer schwarzen und roten Schreibflüssigkeit beschrieben wurde. Bei dem Pergament handelt es sich um das folium 34r 1 des im Rostocker Universitätsarchiv aufbewahrten Statutenbuches der Universität.2 Das Pergament zeigt den Textbeginn der nach jetzigem Kenntnisstand ältesten Niederschrift der ersten Statuten der Rostocker Medizinischen Fakultät.3 Diese statuta sind neben zwei Zeugnisformularen die einzigen Testimonien aus der Geschichte der Rostocker Mediziner-­ Fakultät des 15. Jahrhunderts.4 Sie werfen die Fragen auf, wann diese Festlegungen im Statutenbuch der Rostocker Hohen Schule schriftlich niedergelegt worden sind, wie man (die ersten) Fakultätsgesetze zu beschließen hatte und was die ersten Fakultätsstatuten festlegten. Abb. 1  Liber statutorum universitatis studii Rostochiensis, fol. 34r. Die Forschungen an den (ältesten) normativen Rechtsquellen der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock waren durch die Finanzierung des Prodekanats für Forschung und Wissenschaftsentwicklung der Rostocker Universitätsmedizin möglich. Dafür sei Prof. Rudolf F. Guthoff ausdrücklich gedankt.

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Die Entstehungszeit der ältesten Niederschrift der ersten Statuten der Medizinischen Fakultät Dem Pergament ist nicht zu entnehmen, wann die ersten Fakultätsstatuten der Mediziner entstanden und niedergeschrieben worden sind. Auch die anderen hier nicht abgebildeten, weitere Mediziner-­Statuten beinhaltenden Blätter geben diesbezüglich keine Auskunft. Um dennoch eine Datierung zu ermitteln, ist eine kritische Auseinandersetzung mit der Entstehungs- und Niederschriftszeit der ältesten allgemeinen Rostocker Universitätsstatuten – sie gehen im Statutenbuch der Universität den Mediziner-­Festlegungen unmittelbar voran 5 – und der ältesten Bestimmungen der Artistenfakultät, die nach den Mediziner-­ Festlegungen im Statutenbuch zu finden sind,6 notwendig. Den ersten bekannten Versuch der Statutendatierung nahm der Theologe und Universitätshistoriker Otto Karsten Krabbe (1805 – 1873)7 vor.8 Krabbe führt an, dass das Statutenkorpus der ältesten Rostocker Universitätsgesetze nicht vor dem Jahr 1432 vorgelegen hat 9, wobei er von der Einrichtung der Theologischen Fakultät im Jahr 1432 ausgeht. Auch der Universitätsbibliothekar Adolph Hofmeister (1849 – 1904)10 befasste sich mit den Statuten. Er nahm ihre Abfassung „nach 1424, wahrscheinlich um 1432“ 11 an. Ferner setzten sich die ehemalige Universitätsarchivarin Elisabeth Schnitzler (1912 – 2003)12 und der Mediävist Wolfgang Eric Wagner (geb. 1966)13 mit dem Problem der Statutenabfassung auseinander. Schnitzler gab als Abfassungszeit Herbst/Winter 1421 an.14 Als Beleg führte sie den Brief des Heinrich von Geismar (gest. 1431)15 an den Lübecker Pronotar und Bakkalar der Rechte Johannes Voss 16 vom 7. Mai 1420 an.17 In diesem Schreiben beklagt Geismar unter anderem die der Absicht der Statuten entgegenstehenden Disziplinverstöße von Rostocker Studenten und kündigt an, dass er persönlich dafür sorgen wolle, dass die „concepta statuta“ 18 an der Rostocker Universität eingehalten werden. Der Inhalt des Briefes bewog Schnitzler zu der Annahme, dass „die Konzepte“ 19 der Statuten bereits 1420 vorlagen. Weiterhin zieht Schnitzler als Beleg für ihre frühe Datierung der Statutenabfassung den Eintrag des Rektors Hermann Hamme (gest. 1439 oder 1440)20 in die Rostocker Matrikel vom 27. Januar 1422 heran.21 Diesem Eintrag zufolge mussten alle nach dem 27. Januar 1422 in die Matrikel der Rostocker Universität eingeschriebenen Personen, vor deren Namen ein Kreuz erscheint, entsprechend dem „noviter“,22 also dem vor Kurzem erlassenen Statut, einen Eid über das Verlassen der Stadt ablegen. Indem sich Rektor Hamme auf ein kürzlich erlassenes Statut in seinem Eintrag bezog, stand für Schnitzler erneut die Existenz der Universitätsstatuten im Herbst/Winter des Jahres 1421 fest.23 Wagner führt an, dass es sich bei dem von Hermann Hamme angesprochenen Statut um die statuta IV , 2 und IV , 3 handeln muss. In diesen wurde verfügt, dass nicht aus Rostock Kommende, um Immatrikulation an der Universität nachsuchende, „junge und leichtfertige Personen“ 24 neben dem Immatrikulationseid noch einen weiteren Eid zu leisten hatten, wenn es der Rektor für notwendig hielt. Mit diesem Eid verpflichteten sie sich im Falle eines ihnen zur Last gelegten Vergehens, Rostock innerhalb einer bestimmten Frist zu verlassen und die Stadt nicht vor Ablauf des ihnen vorgeschriebenen Termins wieder zu betreten.25 Die Namen derjenigen, die diesen Eid geleistet hatten, waren in der Matrikel mit einem Zeichen zu versehen.26 Wagner, der Schnitzlers Belege zur Abfassungszeit der Statuten für „plausibel“ 27 hält, geht selbst davon aus, dass das Korpus der ältesten Rostocker Universitätsstatuten im Herbst/Winter des Jahres 1421 vorlag.28 Um seine und Schnitzlers Sicht zu untermauern, führt er folgenden Beleg an: Er nennt eine handschriftliche Notiz des Hermann Jode,29 die belegen soll, dass dieser am 13. Februar 1425 an der Universität Rostock zum Bakkalar 30 des kanonischen Rechts promoviert wurde und seit dem 6. Dezember 1424 mehr als drei

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Jahre an der Universität Rostock war, wie es das Universitätsstatut verlangte.31 Wagner weist darauf hin, dass Jode sich in seiner Notiz auf Statut XIV , 2 bezog, das eine Studienzeit von drei Jahren vorschreibt, um die Promotion zum Bakkalar des Kirchenrechts zu erlangen.32 Außerdem führt er an, dass Jode am 15. April 1421 immatrikuliert wurde und seinen eigenen Angaben zufolge erst am 6. Dezember 1421 das Rechtsstudium aufnahm.33 Wagner geht davon aus, dass das Statut XIV , 2 spätestens zum Studienbeginn von Hermann Jode vorgelegen haben muss, damit das Studium möglich war.34 Die angeführten Belege für eine so frühe Abfassung der ältesten Universitätsstatuten verleiten beinahe dazu, sich Schnitzlers und Wagners Meinung anzuschließen. Indes müssen beim genauen Blick ins Statutenkorpus Zweifel aufkommen. In Statut I, 6 wird darauf hingewiesen, dass die Universität zur Verwahrung von Wertgegenständen einen mit fünf Schlössern versehenen Fiskus haben musste.35 Im Statutentext heißt es weiter: „Einen Schlüssel hat der Rektor, die anderen vier die Dekane der vier Fakultäten.“ 36 Das eben angeführte Zitat macht unmissverständlich deutlich, dass es zur Zeit des Beschlusses von Statut I, 6 vier Dekane und vier Fakultäten, und zwar eine Theologische, eine Juristische, eine Medizinische Fakultät sowie eine Artistenfakultät an der Universität Rostock gab bzw. geben durfte. Weiterhin ist eine Textpassage aus Statut VII , 4 anzuführen, in der es heißt: „Unter den Mitgliedern der verschiedenen Fakultäten ist diese Ordnung einzuhalten. Die Theologische Fakultät nimmt den höchsten und obersten Rang ein.“ 37 Dieses Zitat zeigt deutlich, dass die Theologische Fakultät bei der Ordnung der Fakultäten berücksichtigt wurde. Die Statuten I, 6 und VII , 4 konnten mit diesen eben angeführten Aussagen somit nicht vor 1433 Rechtskraft erlangt haben, da erst in diesem Jahr durch Papst Eugen  IV . (1383 – 1447) das Privileg zur Einrichtung einer Theologischen Fakultät an der Universität Rostock ausgestellt wurde.38 Das Verabschieden von Festlegungen, die Anweisungen für die Theologen-­Fakultät enthalten, wäre vor der Erteilung der Genehmigung zur Einrichtung dieser Fakultät „ohne Kraft und ohne Wirkung“ 39 gewesen und hätte einen Verstoß gegen die Verfassung der Universität, wie sie 1419 mit der Stiftungsbulle von Martin V. (1368 – 1431)40 gegeben wurde, bedeutet. Die Frage nach der Abfassung der ältesten Universitätsstatuten der Rostocker Universität sollte man also wie folgt beantworten: Schnitzlers und Wagners Belege haben gezeigt, dass bereits im Herbst/Winter des Jahres 1421 Universitätsstatuten vorlagen und wohl auch Anwendung fanden. Die Belege der Autorin zeigen jedoch, dass das Statutenkorpus Bestimmungen enthält, die erst nach der Vorlage des Privilegs zur Einrichtung der Theologischen Fakultät im Jahr 1433 Rechtskraft erlangen konnten. Das Ausarbeiten und Verabschieden von Universitätsstatuten hat somit gewiss bereits kurze Zeit nach der Universitätsgründung im Jahr 1419 begonnen, kam aber sicher erst nach der Bewilligung der Theologischen Fakultät im Jahr 1433 zum Abschluss. Betrachtet man das Schriftbild der im Statutenbuch der Universität niedergelegten Universitätsstatuten, fällt auf, dass diese – den Nachtrag zu Bestimmung VII , 8, die Neufassung der Universitätsgesetze X, 15 und X, 20, die Festlegung X, 21, die letzten zweieinhalb Zeilen von Statut XI , 3 und die nach Rubrik XII folgenden Ergänzungen ausgenommen – von einer Hand, fortlaufend und engzeilig geschrieben wurden.41 Das lässt den Schluss zu, dass die Eintragung der ältesten allgemeinen Universitätsgesetze ins Statutenbuch erst erfolgt sein kann, nachdem auch die nach der Bewilligung der Theologischen Fakultät verabschiedeten Statuten vorlagen. Die überlieferte Fassung des Statutenkorpus ist somit als eine Reinschrift anzusehen. Um klären zu können, wann die Mediziner-­Statuten entstanden sind und ins Statutenbuch eingetragen wurden, muss man sich fernerhin auch mit der Entstehung und Nie-

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derschrift der ersten Festlegungen der Artistenfakultät auseinandersetzen. Wagner geht davon aus, dass die Bestimmungen der Artistenfakultät vor dem Pfingstfest des Jahres 1425 ausgearbeitet und rechtskräftig waren.42 Als Beleg führt er einen zu den Statuten der Artisten gehörenden, in niederdeutscher Sprache verfassten Nachtrag an.43 Diesem zufolge wollte Magister Dietrich Zukov 44 zu Pfingsten nach Lübeck reisen. Dort sollte er beim Dominikanerorden einen Magister der Theologie für die Universität Rostock anwerben. Wagner datiert Zukovs Vorhaben auf das Jahr 1425 und gibt an, dass das Pfingstfest in diesem Jahr am 27. Mai stattfand.45 Er ist außerdem der Ansicht, dass die statuta der Artistenfakultät vor dem 27. Mai 1425 „eingetragen“ 46, also im Statutenbuch der Rostocker Universität niedergeschrieben waren. Bedenkt man jedoch, dass die Reinschrift der allgemeinen Universitätsstatuten, die auf den Pergamentblättern 1r bis 33v zu lesen ist, erst nach der Bewilligung der Theologischen Fakultät erfolgt sein kann, ist es eher unwahrscheinlich, dass die Festlegungen der Artisten, die im Statutenbuch der Universität auf den Blättern 36r bis 38r zu finden sind, bereits 1425 dort eingetragen wurden. Es ist deshalb von einer Niederschrift der Bestimmungen der Artistenfakultät nach der Privilegierung der Theologen-­Fakultät im Jahr 1433 auszugehen. Doch nun endlich zur Entstehungszeit und zur Datierung der Reinschrift der Statuten der Medizinischen Fakultät. Hierzu schreibt Wagner: Da die ältesten Statuten der Rostocker Medizinischen Fakultät zusammen mit den allgemeinen Universitätsstatuten und vor den Statuten der Artistenfakultät entstanden sind, ist ihre Entstehungszeit zwischen Herbst/Winter 1421 und Frühjahr 1425 anzusetzen.47

Diese Datierung der ältesten Mediziner-­Statuten wurde aufgrund von Wagners und Schnitzlers Theorien vorgenommen. Außerdem wird deutlich, dass er davon ausgeht, dass erst die Statuten der Universität und der Mediziner und danach die Festlegungen der Artisten entstanden sind. Diese Aussagen müssen jedoch Zweifel wecken. Die Universitätsstatuten – die wenigen oben angeführten statuta ausgenommen – und die ihnen im Statutenbuch auf den Pergamenten 34r bis 35v folgenden Statuten der Medizinischen Fakultät sind von ein und derselben Hand geschrieben worden. Weiterhin ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die Anfertigung der Reinschrift der ältesten Universitätsgesetze und der Statuten der Artisten nicht vor der Bewilligung der Theologischen Fakultät vorgenommen worden sein kann. Da die Statuten der Medizin genau zwischen den statuta universitatis und den Festlegungen der Artisten notiert wurden,48 muss man zu dem Schluss kommen, dass sie wohl nicht vor 1433 ins Statutenbuch der Rostocker Universität geschrieben wurden. Was das Ausarbeiten und Beschließen dieser Fakultätsgesetze angeht, ist es möglich, aber nicht beweisbar, dass einzelne oder aber auch alle Mediziner-­ Bestimmungen bereits in den 1420er-­Jahren vorlagen und Rechtskraft besaßen. Es ist aber auch in Betracht zu ziehen, dass die Beschlussphase dieser Statuten der Medizinischen Fakultät erst kurz vor der Anfertigung der vorliegenden Niederschrift zum Abschluss kam.

Das Ausarbeiten und Verabschieden der Statuten der Medizinischen Fakultät Nachdem gezeigt wurde, wann die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät ausgearbeitet, beschlossen und in der uns erhaltenen Reinschrift niedergeschrieben worden sind, stellt sich die Frage, nach welchen Vorschriften in der Frühzeit der Universität Rostock an der Mediziner-­Fakultät (die ersten) statuta auszuarbeiten und zu verabschieden ­waren.

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Weder die hier abgedruckten Festlegungen 0 bis 6 noch die übrigen Bestimmungen der facultatis medicinae liefern darüber Aufschluss. Schaut man jedoch ins Korpus der ältesten allgemeinen Universitätsstatuten, wird man fündig.49 Bevor man sich aber mit der Statutenausarbeitung befassen kann, ist eine Auseinandersetzung mit dem Fakultätskonzil der Mediziner notwendig. An der Medizinischen Fakultät musste es zwei Stipendiaten, also zwei berufene und besoldete Lehrkräfte geben.50 Einer von ihnen hatte jeweils für ein Semester der Fakultätsdekan zu sein.51 Diese zwei stipendiati waren berechtigt zu Fakultätskonzilssitzungen, das heißt zu Fakultätsversammlungen zusammenzukommen.52 Es ist davon auszugehen, dass nur der Dekan in seiner leitenden Funktion berechtigt war, Fakultätskonzilssitzungen einzuberufen. Wollte oder musste man nun an der Medizinischen Fakultät ein Fakultätsgesetz schaffen, war es erforderlich, dass die zwei besoldeten Lehrkräfte drei Mal zu einem Fakultätskonzil zusammenkamen, um einen Statutenentwurf auszuarbeiten. Zwischen jeder der drei Sitzungen hatten jeweils acht Tage zu liegen.53 Mit dieser Regelung versuchte man gewiss dafür zu sorgen, dass die Stipendiaten genügend Zeit erhielten, einen unmissverständlichen und von jeder Mehrdeutigkeit bereinigten Entwurf zu erarbeiten. Auch beabsichtigte man sicherlich damit, dass die Mediziner sich ausreichend mit bestehenden Universitäts- und Fakultätsstatuten auseinandersetzen konnten, um zu verhindern, dass ein Statutenentwurf erarbeitet wurde, dessen Inhalt gegen ein bereits bestehendes Statut verstieß und deshalb vom Universitätskonzil zurückgewiesen werden musste.54 Es ist davon auszugehen, dass die Stipendiaten der Medizinischen Fakultät wohl in der eben dargestellten Weise die Statutenentwürfe der sich rein auf Fakultätsbelange konzentrierenden Festlegungen erarbeiteten.55 Bei der Auseinandersetzung mit den Bestimmungen der Mediziner fallen einem jedoch ferner statuta ins Auge, deren Inhalt sowohl die Fakultät als auch die Universität allgemein betrifft.56 Man darf annehmen, dass diese vom Universitätskonzil entworfen werden mussten, da dieses verpflichtet war, Entwürfe für Universitätsgesetze zu erstellen und weil man die betreffenden Festlegungen sowohl als Fakultäts- als auch als Universitätsstatuten verstehen sollte.57 Es ist also notwendig aufzuzeigen, wie Universitätsstatutenentwürfe zu erarbeiten waren. Bevor auf die Erarbeitung von Entwürfen von Universitätsstatuten einzugehen ist, erscheint es sinnvoll, das consilium universitatis kurz vorzustellen. Das Konzil war ein vom Rektor, also von der höchsten Amtsperson der Universität schriftlich einzuberufendes und zu leitendes Gremium.58 Diesem gehörten die Lehrkräfte der Juristischen, Medizinischen sowie Artistenfakultät und ab 1433 der Theologischen Fakultät der Universität Rostock als stimmberechtigte Mitglieder an, sofern sie mindestens 30 Rheinische Gulden 59 pro Jahr an Besoldung erhielten.60 Gemäß dem in den ältesten Universitätsstatuten enthaltenen Stellen- und Besoldungsplan bekamen vor der Einrichtung der Theologischen Fakultät 12, danach 14 Stipendiaten jährlich mindestens 30 Gulden und waren somit Universitätskonzilsmitglieder.61 Darüber hinaus war es den Konzilsmitgliedern erlaubt, zusätzlich zwei, maximal drei weitere Stipendiaten, die weniger als 30 Gulden Jahresbesoldung erhalten sollten, aufzunehmen.62 Das Konzil konnte somit über maximal 17 Mitglieder verfügen.63 Doch nun zur Ausarbeitung der Universitätsstatutenentwürfe: Um ein Statut zu entwerfen, oblag es dem rectori universitatis, drei Mal eine Universitätskonzilssitzung einzuberufen und durchzuführen. Zwischen jeder dieser Zusammenkünfte mussten acht Tage vergehen.64 Für die Mitglieder des consilii universitatis galten also die gleichen Regeln für die Erarbeitung eines Entwurfs wie für die Mediziner. Wollten bzw. mussten die Universitätskonzilsmitglieder ein statutum entwerfen, dass zum einen ein Universitäts- und

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zum anderen ein Fakultätsstatut der facultatis medicinae werden sollte, hatten sie dafür, zumindest auf statutarischer Ebene, optimale Bedingungen. Alle membra consilii universitatis waren nämlich gleichermaßen in der Lage, die Interessen der Universität einzubringen, während die Mitglieder, die Lehrstuhlinhaber an der Medizinischen Fakultät waren, gleichzeitig für die Aufnahme ihrer Anliegen in den Entwurf sorgen konnten.65 Die Lektüre der ersten Mediziner-­Statuten zeigt aber auch zwei statuta, deren Inhalt sich sowohl auf die Fakultät als auch auf die Warnowstadt bezog.66 Wie und durch wen waren Statutenentwürfe dieser Art zu erarbeiten? Leider sind in den frühen normativen Rechtsquellen keinerlei Regelungen zu finden, die offenlegen, wie speziell an der Medizinischen Fakultät vorzugehen war. Dennoch sollte man folgende Eventualitäten in Betracht ziehen: Es ist möglich, dass die Statutenentwürfe von den Stipendiaten der Medizin zu erarbeiten waren und dass die Bürgermeister Rostocks über das Entstehen sowie über den Inhalt der angestrebten Gesetze informiert werden mussten. Dass man so eventuell auch an der Mediziner-­Fakultät zu verfahren hatte, ergibt sich aus statuto XX , 7 der allgemeinen Universitätsstatuten. Dort wird angewiesen, ein zu veränderndes oder neu zu verordnendes Universitätsgesetz, das auch die Stadt Rostock betrifft, nicht „ohne Wissen der Bürgermeister zu Rostock“ 67 zu erlassen.68 Eine zweite Möglichkeit wäre, dass die Statutenentwürfe von der Stadtobrigkeit auch für die Mediziner verfasst wurden und dass das Konzil der Universität diese anzunehmen und somit für rechtswirksam zu erklären hatte. Schließlich entwarf die Obrigkeit Rostocks allgemeine Universitätsstatuten, die sowohl die Stadt als auch die Universität betrafen und forderte das Universitätskonzil auf, diese anzuerkennen.69 Nachdem gezeigt wurde, wie und durch wen Statuten, die sich (auch) auf die Medizinische Fakultät beziehen sollten, (eventuell) zu entwerfen waren, ist anhand der normativen Rechtsquellen offenzulegen, wie die Statutenentwürfe Rechtswirksamkeit erlangen konnten oder mussten. Nur das Universitätskonzil durfte einen neuen Universitäts- und/ oder Fakultätsstatutenentwurf für rechtsgültig erklären.70 Um über die Annahme oder Ablehnung eines Entwurfs befinden zu können, mussten die Konzilsmitglieder diesen gut kennen. Bei Statutenentwürfen, die sich auf die Universität und die Medizinische Fakultät gleichermaßen bezogen und die wohl durch das Konzil der Universität erarbeitet wurden, war die Kenntnis sicherlich gegeben. Anders dürfte das bei den Gesetzesentwürfen ausgesehen haben, die es allein durch die Mediziner zu erstellen galt. Diese waren den Universitätskonzilsmitgliedern gewiss erst einmal zur gründlichen Lektüre und zum Verständnis vorzulegen. Es ist möglich, dass der Rektor der Universität dafür sorgte, indem er seinen schriftlichen Konzilseinladungen 71 eine Abschrift des Entwurfs beifügte. Eingehende inhaltliche Kenntnis reichte als Voraussetzung allerdings nicht aus, um über Annahme oder Zurückweisung eines Universitäts- und/oder Fakultätsstatutenentwurfs abstimmen zu dürfen. Jedes Universitätskonzilsmitglied hatte vor der Abstimmung zu versprechen, dass es über die Annahme oder Ablehnung eines Entwurfs gefühlsneutral, nach bestem Wissen und Gewissen, „für Nutzen, Ehre und Erhalt der Universität“ 72 entscheiden wollte. Es musste per iuramentum [eidlich] auch versichern, nur vereidigt ein neues statutum zu erlassen oder ein bereits Bestehendes zu ändern bzw. erneut auszulegen.73 Nach der Vereidigung konnte endlich die Abstimmung vorgenommen werden. Waren fünfzehn Mitglieder bei der Universitätskonzilssitzung anwesend und stimmten ab, dann galt ein Statut als angenommen und als sofort rechtswirksam, wenn zehn von ihnen für die Annahme stimmten.74 Wenn sechszehn oder siebzehn Mitglieder zugegen waren, dann bedurfte es zwölf Stimmen für eine Annahme.75 Kam die geforderte Stimmenmehrheit nicht zu Stande, war das angestrebte statutum novum abgelehnt und ohne Rechts-

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kraft.76 Dieses Abstimmungsmodell fand sicher Anwendung, wenn Universitäts- und/ oder Fakultätsstatuten von den Stipendiaten entworfen wurden. Sollten jedoch Statuten der Mediziner, die sich sowohl auf die Fakultät als auch auf die Stadt Rostock beziehen, von der Stadtobrigkeit ausgearbeitet worden sein, dürfte die Annahme eines Entwurfs wohl obligatorisch gewesen sein. Zu dieser Vermutung kommt man durch die Regelung für Universitätsstatuten, die sich inhaltlich zum einen auf die Bildungseinrichtung, zum anderen auf die Warnowstadt konzentrieren und die von der städtischen Obrigkeit entworfen wurden.77 Diese mussten von den Universitätskonzilsmitgliedern unbedingt und einstimmig angenommen werden.78

Der Inhalt der ersten Statuten der Medizinischen Fakultät Blickt man nach den Ausführungen zur Ausarbeitung und Verabschiedung der Festlegungen noch einmal auf das abgedruckte Pergament, sieht man zwei Überschriften, die arabischen Zahlen null bis sechs und den jeweils neben den Ziffern stehenden Statutentext.79 Diese Feststellungen müssen wieder die Frage nach dem Inhalt der ersten Mediziner-­Statuten aufkommen lassen. Nimmt man nun den Quellentext genauer unter die Lupe, erkennt man, dass er mit den Worten Statuta in facultate medicine et primo de promovendis 80 überschrieben worden ist. Auf diese Überschrift folgt statutum 0. Es regelt die Dauer des Bakkalarenstudiums der Medizin unter Beachtung bereits an anderen Fakultäten erworbener Grade.81 Das Statut weist auch den Studienstoff an. Man entnimmt also, dass Lehrtexte des Avicenna (937/980 – 1037),82 des Rhazes (gest. 925),83 des Gilles de Corbeil (1140 – 1224)84 und des Philaret 85 von den das Bakkalaureat anstrebenden Studenten in den Vorlesungen zu hören waren.86 Nach dieser Festlegung ist die Überschrift De licenciandis 87 zu lesen. Dieser folgt Bestimmung 1, in der gefordert wird, die Bakkalare, die an der Medizinischen Fakultät die Lizenziatenpromotion erlangen wollten, zum Halten von außerordentlichen Vorlesungen heranzuziehen.88 Die Bestimmung 1 legt außerdem die Texte fest, die einem angehenden Lizenziaten in den Vorlesungen zu vermitteln waren.89 Auch das statutum 2 gibt diesbezüglich Anweisungen.90 So oblag es den Studenten, Texte von Avicenna, Rhazes, Galen (130 – 200 n. Chr.)91 und Nicolaus 92 zu hören. In Festlegung 3 liest man, was ein Promovend vor der Bakkalaren-, Lizenziaten- und Doktorpromotion an der Mediziner-­Fakultät verpflichtet war, dem die Promotion durchführenden Doktor eidlich zu versprechen.93 Es ist anzumerken, dass das Statut keine Eidesformel im eigentlichen Sinne ist.94 Statut 4 weist an, dass es im Fach Medizin ohne die Zustimmung der Doktoren und Magister der Fakultät keine Graduierung zum Bakkalar, Lizenziaten oder Doktor geben durfte.95 Das statutum 5 schreibt vor, an wie vielen öffentlichen Disputationen ein Mediziner vor seiner Lizenziatenpromotion als Respondent teilzunehmen hatte.96 Außerdem fordert diese Bestimmung, dass jeder licenciandus zwei Sommer hindurch medizinische Praxiserfahrungen in der Nähe Rostocks sammeln musste.97 In der Festlegung 6 wird angewiesen, wie ein zum Doktor der Medizin zu Promovierender sich dem die Graduierung Durchführenden dafür erkenntlich zu zeigen hatte.98 Auch wird deutlich, dass der Doktorand zur Ausrichtung eines Festmahls verpflichtet war.99 Statut 7 enthält Anweisungen zur Graduiertenkleidung.100 So wird festgelegt, wie ein Doktor in Vorlesungen und zu universitären Akten 101 gekleidet sein sollte.102 Bestimmung 8 schreibt vor, dass es den Lehrkräften der Fakultät oblag, die Häufigkeit des öffentlichen Disputierens festzulegen.103 Das statutum 9 regelt die Hörergelder,104 die es seitens der ordentlichen Studenten der Medizin an die doctores

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regentes 105 zu entrichten galt.106 In der Bestimmung 10 werden Verhaltensanweisungen angeführt, die während einer praktischen Übung und außerhalb einer Vorlesung seitens der Fachstudenten zu beachten waren.107 Die Festlegung 11 zeigt, dass für angehende Lizenziaten die Teilnahme an mindestens einer Sektion 108 eines menschlichen Leichnams obligatorisch war, um zum Examen zugelassen zu werden.109 Auf dieses Fakultätsstatut folgt die Überschrift De anathomia quare debeat celebrari concessa in utilitatem facultatis medicine.110 Dieser schließen sich das Statut 12 und die mit der Zahl 13 versehene städtische Anordnung an, die anweisen, wann und wo eine Leichensektion zu Lehrzwecken durchzuführen war, wie mit dem toten Körper während der Sektion umzugehen war und wie sich die Studenten zu verhalten hatten.111 Außerdem entnimmt man, dass die Teilnehmer der Lehrsektion die Kosten für den Leichnam tragen mussten und wo und wie das Begräbnis nach Beendigung der anatomischen Übung stattzufinden hatte.112 Im Anschluss daran steht das Fakultätsgesetz, dem die Zahl 14 vorangeht. Es regelt die Bedingungen unter denen ein zum Bakkalar der Heilkunst Promovierter in Rostock praktizieren durfte oder nicht.113 Die Bestimmung 15 enthält eine Anordnung des Rostocker Stadtrates. Sie legt fest, dass bei einem ordentlich an der Medizinischen Fakultät berufenen Doktor oder Magister die Aufsicht über die Rostocker Apotheken und somit über die Erneuerung der Arzneien durch die jeweiligen Apotheker liegen musste.114 Nach diesem Statut folgt ein Beschluss der Stadtobrigkeit der Warnowstadt, dem die Überschrift De chirurgicis 115 vorangeht. Dieser weist an, welche Krankheiten oder Beschwerden wundärztlich zu behandeln waren und über welche Fachkenntnisse ein chirurgicus diesbezüglich zu verfügen hatte.116 Der Beschluss sagt auch aus, dass es den Stipendiaten der Medizinischen Fakultät oblag, die Kenntnisse der Wundärzte zu prüfen.117 Die dem Beschluss nachstehenden statuta 17 und 18 geben die Promotionsgebühren an, die ein angehender Bakkalar oder Lizenziat der Universität und der Mediziner-­Fakultät zu zahlen schuldig war.118 Die bislang vorgestellten Bestimmungen wurden alle in mittellateinischer Sprache niedergeschrieben.119 Das statutum ultimum der Mediziner wurde hingegen auf Niederdeutsch abgefasst.120 Es schreibt vor, dass die an der Universität berufenen Doktoren und Lizenziaten der Medizin in Rostock praktizieren durften.121

Ausblick Auf den vorangegangenen Seiten wurden die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät der Rostocker Universität vorgestellt. Dabei ist dargelegt worden, wann diese abgefasst und ins Statutenbuch der Universität Rostock eingetragen worden sind. Es wurde auch gezeigt, wie (die ersten) Mediziner-­Statuten auszuarbeiten und zu verabschieden waren und was die Statuta in facultate medicine [etc.] beinhalten. Die statuta prima sind, wie eingangs angeführt, beinahe die einzigen Testimonien aus der Geschichte der Medizinischen Fakultät der Rostocker Universität des 15. Jahrhunderts. Es ist gegenwärtig davon auszugehen, dass das Festgelegte wohl bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts Gültigkeit hatte.122 Trotz der bisherigen intensiven Auseinandersetzung mit den ersten Mediziner-­ Bestimmungen bleibt die Frage an die Forschung, ob und gegebenenfalls wie sie durch die Statuten der Mediziner-­Fakultäten der vor der Universität Rostock gegründeten Hohen Schulen sprachlich und/oder inhaltlich beeinflusst wurden. Eine komparatistische Studie, die zum Beispiel die normativen Rechtsquellen der facultatum medicinae der Universitäten Wien 123 (gegründet 1365)124 und Erfurt 125 (gegründet 1379)126 heranzieht, könnte zur Beantwortung dieser Frage beitragen.

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Anmerkungen 1 Das r steht für Vorderseite (recto), das v für Rückseite (verso). Blode/ Kühnle/Waßenhoven: http://www. historicum-­estudies.net/etutorials/ leitfaden-­mittelalter/kritische-­ editionen/haeufige-­abkuerzungen/ (letzter Aufruf am 13. 4. 2019); UAR RIA 1: Liber statutorum universitatis studii Rostochiensis, fol. 34r (nachstehend werden nur noch die Archivsignatur und die Folianten ­angegeben). 2 UAR RIA 1. 3 UAR RIA 1: fol. 34r–35v. 4 Wagner 2015, S. 50 – 59. 5 UAR RIA 1: fol. 1r–33v. 6 UAR RIA 1: fol. 36r–38r. 7 Eintrag im Catalogus Professorum Rostochiensium zu Otto Karsten Krabbe unter http://cpr.uni-­rostock. de/resolve/id/cpr_person_00001117 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 8 Krabbe 1854, Bd. 1, S. 75 f.; zu den Ausführungen in diesem Kapitel siehe auch Michael 2015, S. 295 – 306, hier S.  295 – 303. 9 Ebd.; Die Universität Rostock hatte von 1419 bis 1433 eine Juristische und eine Medizinische Fakultät sowie eine Artistenfakultät. Die Theologische Fakultät wurde erst im Jahr 1433 durch Papst Eugen IV. bewilligt. Sein Vorgänger Martin V. fürchtete, dass die Alma Mater Rostochiensis durch eine Theologische Fakultät zum Ausgangspunkt häretischer Lehren werden könnte. Pluns 2007, S. 495; zu Martin V. und Eugen IV. siehe ­Endnoten 38 und 40. 10 Deutsche Biographie zu Adolph Hofmeister: http://www.deutsche-­ biographie.de/pnd11695230X. html (letzter Aufruf am 13. 4. 2019); Matrikeleintrag zu Elisabeth Hofmeister unter http://matrikel. uni-­rostock.de/id/200010404 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 11 Hofmeister 1889, Bd. 1, S. VIII. 12 Matrikeleintrag zu Elisabeth Schnitzler unter http://matrikel.uni-­rostock. de/id/200024725 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 13 Eintrag im Catalogus Professorum Rostochiensium zu Wolfgang Eric Wagner unter http://cpr.uni-­rostock. de/resolve/id/cpr_person_00001656 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019).

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14 Schnitzler 1979, S. 35 – 120, hier S. 51 und 116. 15 Heinrich von Geismar: Bekannt ist, dass er Magister in artibus et in sacra theologya war, als Domherr in Hamburg wirkte, sich um die Gründung der Rostocker Universität verdient machte, 1419 an der Universität Rostock immatrikuliert wurde und dort lehrte. Matrikeleintrag zu Heinrich von Geismar unter http://matrikel. uni-­rostock.de/id/100002152 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 16 Johannes Voss: Geburts- und Sterbejahr sind derzeit unbekannt. Ermittelbar ist, dass er in Erfurt studierte, dort zum Magister artium und zum Bakkalar beider Rechte promoviert wurde, seit 1411 in Lübeck als Pronotar, also als Oberstadtschreiber tätig war und sich 1419 an der Universität Rostock immatrikulieren ließ. Matrikeleintrag zu Johannes Voss unter http://matrikel.uni-­rostock. de/id/100002187 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019); zur Bakkalarengraduierung siehe Endnote 31. 17 Mantzel/Burgmann 1740, Bd. 4, S. 129 – 132; Wagner 2014, S. 155; Wagner 2015, Bd. 2, S. 19; Schnitzer 1979, Bd. 20, S. 51. 18 Wagner 2014, S. 155; Wagner 2015, S. 19. 19 Schnitzler 1979, Bd. 20, S. 51; Wagner 2014, S. 155; Wagner 2015, S. 19 f. 20 Hermann Hamme: Es ist belegt, dass er seit der Gründung der Universität Rostock an der Artistenfakultät lehrte, mehrmals das Rektorenamt bekleidete und seit 1430 an St. Petri Kirchherr war. Matrikeleintrag zu Hermann Hamme unter http://matrikel.uni-­rostock.de/id/400050002?_ searcher=68bf54bb-9cce-480b-­a066eed8c098d05d&_hit=1 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 21 Hofmeister 1889, Bd. 1, S. 11b; Wagner 2014, S. 156; Schnitzler 1979, Bd. 20, S. 51 f. und 116; Wagner 2015, S. 20 f. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Michael 2013, Teil 2, S. 16 – 136, IV, 2 und 3 (nachstehend wird zitiert: UniSt). 25 Ebd. 26 Ebd.; Wagner 2014, S. 156; Wagner 2015, S. 20 f.

27 Ebd. 28 Wagner 2014, S. 157; Wagner 2015, S. 20 f. 29 Hermann Jode/Yode: Yode war ein livländischer Deutschordensbruder. Es sind derzeit keine Lebensdaten bekannt, Wagner 2014, S. 157; Wagner 2015, S. 22; Hofmeister 1889, Bd. 1, S. 8. 30 An jeder Fakultät einer mittelalterlichen Universität war die Bakkalarenpromotion die erste mögliche Graduierung nach dem Bakkalarenstudium und dem bestandenen Bakkalarenexamen. Kaufmann 1896, Bd. 2, S. 268 – 270. 31 Wagner 2014, S. 157 f.; Wagner 2015, S. 22. 32 Ebd. 33 Ebd.; Hofmeister 1889, Bd. 1, S. 8. 34 Ebd. 35 UniSt I, 6. 36 Ebd. 37 UniSt VII, 4. 38 Gründungsurkunde der Theologischen Fakultät unter https:// www.uni-­rostock.de/universitaet/ uni-­gestern-­und-­heute/geschichte/ materialien/quellen-­dokumente/ urkunde-­thf/ (letzter Aufruf am 13. 4. 2019); Eugen IV. hieß mit weltlichem Namen Gabriele Condulmer. Am 12. März 1431 wählte und krönte man ihn zum Papst. In der Forschung gilt das lange Pontifikat Eugens IV. als letzte große Krise des Papsttums vor der Reformation. Helmrath 1989, Bd. 4, Sp. 80 f. 39 Michael 2013, Teil 2, S. 5 – 15. 40 Papst Martin V. (weltlicher Name: Oddo/Oddone Colonna) war von 1417 bis 1431 pontifex maximus. Er gilt in der Kirchengeschichte als Erneuerer der westlichen Kirche. Grohe 1993, Bd. 6, Sp. 342 f. 41 UAR RIA 1: fol. 16v; 23r; 23v; 24v und 25v. 42 Wagner 2015, S. 24 f. 43 Ebd. 44 Dietrich Zukovs Geburts- und Sterbedaten sind gegenwärtig nicht bekannt. Zukov war seit 1414 in Lübeck als Ratssekretär tätig. 1419 ließ er sich an der Universität Rostock immatrikulieren und lehrte dort an der Juristischen Fakultät, da er neben der Graduierung zum Magister

Die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock

Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

artium auch zum Bakkalar in decretis promoviert war. Matrikeleintrag zu Dietrich Zukov unter http://matrikel.uni-­rostock.de/id/100002228?_​ searcher=c6bd90ec-13a6 – 40eb-9e​ 70 –​ 27a16f506971&_hit=0 (letzter ­Aufruf am 13. 4. 2019). 45 Es ist darauf hinzuweisen, dass der von Wagner angeführte Text keine Datumsangabe enthält. Wagner 2014, S. 159; Wagner 2015, S. 24. 46 Wagner 2015, S. 25. 47 Ebd. 48 Siehe Endnoten 3, 5 und 6. 49 UniSt I, 3; I, 6. 50 UniSt XIII, 3; Der Begriff stipendiatus bezeichnet einen Lehrenden, der ein stipendium zu erhalten hatte. Das Wort stipendium bedeutet hier Lohn oder Besoldung. Georges 2013, Bd. 2, Sp. 4503; Michael 2013, Teil 2, S. 142. 51 UniSt I, 2. 52 Ebd. 53 UniSt I, 5. 54 Siehe weiter unten. 55 Michael, in Bearbeitung: Statuta in facultate medicine et primo de promovendis 0 und 1 (nachstehend wird zitiert: MedSt). 56 MedSt 17 und 18. 57 UniSt I, 4. 58 UniSt I, 1; V, 2; V, 6 und 7. 59 Die Alma Mater Rostochiensis erhielt in den Anfangsjahren ihres Bestehens von der Rostocker Stadtobrigkeit jährlich 800 Rheinische Goldgulden zur Besoldung der berufenen Lehrkräfte. Florenus (Rhenensis)/(Rheinischer) (Gold)Gulden: Floren ist die deutsche Bezeichnung des Fiorino d’oro der Stadt Florenz, der als Goldmünze in hohen Stückzahlen seit 1252 geschlagen und bald in vielen europäischen Staaten nachgeahmt wurde. 1386 wurde von den Kurerzbischöfen Kuno von Trier (1320 – 1388), Friedrich von Köln (gest. 1414), Adolf von Mainz (1353 – 1390) und Ruprecht von der Pfalz (1352 – 1410) der Rheinische Münzverein gegründet, der den Rheinischen Goldgulden prägen ließ. Auch im Hanseraum war der Florenus Rhenensis im Umlauf. Für Rostock ist belegt, dass der Rheinische Goldgulden im Jahr 1584 ein Raugewicht oder Bruttogewicht von 3,248 g und einen Feingehalt des Edelmetalls von 2,504 g hatte. Frühere Angaben sind derzeit nicht fassbar. Verdenhalven 1968, S. 26; Klüßendorf 2015,

S. 87 – 89; Kunzel 2004, S. 103; Pluns 2007, S. 53; Michael 2013, Teil 1, S.  319 – 322. 60 UniSt II, 3; XIII, 1 – 6; Michael 2015, S. 49 – 67, hier S. 52 f. 61 Ebd. 62 UniSt II, 3. 63 UniSt I, 5. 64 Ebd. 65 UniSt II, 3; XIII, 1 – 6. 66 MedSt 14 und 19. 67 UniSt XX, 7. 68 Ebd. 69 UniSt XX (Einleitung). 70 UniSt I, 5. 71 UniSt V, 7. 72 UniSt I, 3. 73 Ebd. 74 UniSt I, 5. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 UniSt XX (Einleitung). 78 Ebd. 79 Abb. 1. 80 Michael 2015, S. 305; Dt.: „Die an der Medizinischen Fakultät [geltenden] Statuten und zuerst über die zu Promovierenden“. 81 MedSt 0; zu Aufbau und Inhalt der ersten Mediziner-­Statuten siehe Michael 2015, S. 303 – 306; zu den universitären Graden: An den Theologischen, Juristischen und Medizinischen Fakultäten sowie an den Fakultäten der Freien Künste erwarb man an mittelalterlichen Universitäten nach dem Bakkalarenstudium und dem bestandenen -examen den Grad des Bakkalars. Dieser berechtigte zum Lizenziatenstudium. Dieses konnte mit dem Lizenziaten­ examen abgeschlossen werden. Nach bestandenem Examen war die Lizenziatengraduierung möglich. Der Lizenziat konnte sich ohne weitere Studien oder Examina zum Doktor bzw. Magister promovieren oder graduieren lassen. Kaufmann 1896, Bd. 2, S. 268 – 270; siehe Endnote 30. 82 Abdullah ibn Sina bzw. Avicenna war ein persischer Arzt und Philosoph. Sein Hauptwerk ist der Canon Avicennae/Canon Medicinae/Al-­Qanun fi’t tibb. Dieser umfasst insgesamt fünf Bücher und stützt sich vor allem auf Galen, Hali (998 – 1068) und Rhazes. Es vereinen sich griechische, römische und persische medizinische Traditionen in diesem Werk. Teile des Canon Medicinae gehörten auch in

Susi-­Hilde Michael 

Rostock zur Studienlektüre. MedSt 0 – 2; Schipperges 2005, S.  1334 – 1336; Hau 2005, S. 1251; siehe Endnoten 81 und 88; Siraisi 1993, Bd. 1, S. 334 f. 83 Muhammad ibn Zakariya Ar-­Razi war ein persischer Arzt und Philosoph. Zu seinen Werken zählt der Liber ad Almansorem. Dieses dem Samaniden-­ Herrscher Abu Salib Mansur b. Ishaq gewidmete Werk umfasst zehn Bücher. Der Liber nonus bzw. De curatione aegritudinum, quae accidunt a capita usque ad pedes (Dt.: Über die Therapie der Krankheiten, die sich von Kopf bis Fuß ergeben) zählte auch in Rostock zum Studienstoff. MedSt 0 und 1; Schipperges 2005, S. 1217 – 1219, hier S. 1217; Siraisi 1993, Bd. 1, S. 334 f. 84 Gilles de Corbeil/Aegidius von Corbeil war Arzt, der in Salerno Medizin studierte. Er verfasste u. a. das Carmen de urinis (Dt.: Das Gedicht über den Urin). MedSt 0; Keil 2005, S. 8 f. 85 Philaretos war wohl ein byzantinischer Arzt des 9. Jahrhunderts. Er verfasste die Schrift De pulsibus (Dt.: Über den Puls), die auch in Rostock gelehrt wurde. MedSt 0; Haage/­Wegner 2005, S. 1150; Siraisi 1993, Bd. 1, S. 334 f. 86 Der Studienstoff wurde in ordentlichen und in außerordentlichen Vorlesungen abschnittweise von den Lehrkräften vorgelesen und erklärt. Die Schriften, die in den ordentlichen Vorlesungen behandelt wurden, waren examensrelevant. MedSt 0; Schwinges 1993, Bd. 1, S. 181 – 222, hier S. 214. 87 Dt.: Über die Lizenziaten. 88 MedSt 1. 89 Ebd. 90 MedSt 2. 91 Galenos von Pergamon gilt neben Hippokrates von Kos (circa 460 – 370 v. Chr.) als der einflussreichste und bedeutendste Arzt der Antike. Es sind zahlreiche anatomische und physiologische Werke sowie Schriften zur Krankheitslehre überliefert. Zu letzteren zählt das aus drei Büchern bestehende, in den Mediziner-­Statuten vorgeschriebene Werk Peri kriseos/De crisibus (Dt.: Über die Krisen). MedSt 1; Nickel 2005, S. 448 – 452, hier S. 449; Keil 2005, S. 597 f. 92 Es könnte sich um Nicolaus von ­Reggio (circa 1280 – 1350) handeln. Er erarbeitete die lateinische Über-

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setzung der Schrift De compsitione medicamentorum secundum locos (Dt.: Über die Zusammensetzung der Arzneimittel nach ihren lokalen Anwendungsmöglichkeiten). Es könnte sich aber auch um den Salerner Arzt Nicolaus/Nikolaus (12 Jh.) handeln, der das Antidotarium erstellte. Das Antidotarium ist eine der wichtigsten, wenn nicht die wichtigste Formelsammlung mittelalterlicher Pharmazie. Es fußt auf dem Antidotarius magnus (um 1060 vollendet). MedSt 2; Wagner 2015, S. 71; Keil 2005, S. 60; Keil 2005, S. 850 f. 93 MedSt 3. 94 Ebd. 95 MedSt 4. 96 Die öffentliche Disputation (disputatio publica vel ordinaria) fand unter der Leitung eines Doktors oder Magisters statt. Dieser stellte eine Frage (quaestio). Ein Student musste diese Frage als respondens beantworten. Andere Studenten hatten diesbezüglich dem Respondenten ihre Argumente und Zweifel entgegenzubringen. Man bezeichnet sie deshalb als Opponenten (opponentes). Das öffentliche Disputieren fand an den meisten Hohen Schulen ein bis zwei Mal im Semester in Anwesenheit aller an der Universität Immatrikulierter statt. Das Disputieren sollte allerdings in der nicht öffentlichen Disputation (disputatio privata) täglich am aktuellen Studienstoff geübt werden. MedSt 5; Michael 2013, Teil 2, S. 137, 140 und 142; Schwinges 1993, Bd. 1, S. 214; Hoye 2009, S. 19 – 47, hier S. 30 f.

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97 Ebd. 98 MedSt 6. 99 Ebd. 100 MedSt 7. 101 Universitäre Akte waren z. B. öffentlich stattfindende Doktorpromotionen. Verger 1993, Bd. 1, S. 139 – 157, hier S. 140. 102 MedSt 7. 103 MedSt 8. 104 Hörergelder waren von den Studenten für die Teilnahme an den Vorlesungen zu zahlen. Schwinges 1993, Bd. 1, S. 214. 105 Doctores regentes oder magistri regentes waren die ordentlich berufenen Lehrkräfte. Diesen standen die doctores vel magistri non regentes, die nur graduiert waren, gegenüber. Hautz 1862, Bd. 1, S. 77. 106 MedSt 9. 107 MedSt 10. 108 Die erste Lehrsektion einer menschlichen Leiche wurde 1300 in Bologna durchgeführt. Mit der Leichenzergliederung wollte man bestehende Lehrmeinungen z. B. des Galen nachvollziehen. Es wurden Verbrecher, Selbstmörder oder Opfer von Gewaltverbrechen seziert. Die Beschaffung der Leichen bei der Stadtobrigkeit lag beim Rektor der Universität oder beim die Sektion leitenden Doktor der Medizin. Über die Beschaffung bzw. Überlassung von menschlichen Leichen in Rostock gibt es für das 15. Jahrhundert weder im Universitäts- noch im Stadtarchiv Überlieferungen. Haage/Wegner 2005, S. 57 f.; Schütte 2017, S. 85. 109 MedSt 11.

110 Dt.: Über die [Leichen]sektion – Sie darf deshalb zum Nutzen der Medizinischen Fakultät durchgeführt werden, weil sie genehmigt worden ist. 111 MedSt 12 und 13. 112 Ebd. 113 MedSt 14. 114 In diesem die städtische Anordnung enthaltenden Statut sieht Carl Lüdtke (geb. 1912) die älteste Apothekerordnung Norddeutschlands und eine der ältesten deutschen Apothekerordnungen überhaupt. MedSt 15; Lüdtke 1958, S. 39. 115 Dt.: Über die Chirurgen. 116 MedSt 16. 117 Ebd.; Wundärzte oder chirurgici durchliefen meist eine handwerkliche Ausbildung. Der Wundarzt grenzte sich somit gegen den Leibarzt – ­dieser hatte fast immer an einer Universität studiert – ab. Keil 1986, Bd. 2, Sp. 1846 – 1857, hier Sp. 1846 und 1849. 118 MedSt 17 und 18. 119 MedSt 0 – 18. 120 MedSt 19. 121 Ebd. 122 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurden an der Medizinischen Fakultät neue Statuten erlassen. Siehe Michael, in Bearbeitung: Die neuen Statuten der Medizinischen Fakultät an der Rostocker Akademie. 123 Kink 1854, Bd. 2, S. 165 – 180. 124 Kaufmann 1896, S. III. 125 Weißenborn 1884, Bd. 2, S. 110 – 115. 126 Ebd.

Die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock

Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

Literaturverzeichnis Handschriftliche Quellen UAR RIA 1: Liber statutorum universitatis studii Rostochiensis.

Gedruckte und online publizierte Quellen Eintrag im Catalogus Professorum Rostochiensium zu Otto Karsten Krabbe, URL : http://cpr.uni-­rostock.de/resolve/id/ cpr_person_00001117 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Eintrag im Catalogus Professorum Rostochiensium zu Wolfgang Eric Wagner, URL : http://cpr.uni-­rostock.de/ resolve/id/cpr_person_00001656 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Eintrag in der Deutschen Biographie zu Adolph Hofmeister, URL : http://www.deutsche-­biographie.de/pnd11695230X. html (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Gründungsurkunde der Theologischen Fakultät, URL : https:// www.uni-­rostock.de/universitaet/uni-­gestern-­und-­heute/ geschichte/materialien/quellen-­dokumente/urkunde-­thf/ (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Hofmeister, Adolph (Hrsg.): Die Matrikel der Universität Rostock, Bd. 1. Nendeln 1889. Kink, Rudolf: Statuten der Medizinischen Facultät, in: Geschichte der kaiserlichen Universität zu Wien. Statutenbuch der Universität, Bd. 2. Wien 1854, S. 169 – 183. Mantzel, Ernst J. F.: Etwas von gelehrten Rostockschen Sachen, für gute Freunde, Bd. 4. Hrsg. von Christoph Burgmann. Rostock 1740. Matrikeleintrag zu Heinrich von Geismar, URL : http://matrikel. uni-­rostock.de/id/100002152 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Matrikeleintrag zu Hermann Hamme, URL : http://matrikel. uni-­rostock.de/id/400050002?_searcher=68bf5 4bb-9cce-480b-­a066-eed8c098d05d&_hit=1 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Matrikeleintrag zu Elisabeth Hofmeister, URL : http:// matrikel.uni-­rostock.de/id/200010404 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Matrikeleintrag zu Elisabeth Schnitzler, URL : http:// matrikel.uni-­rostock.de/id/200024725 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Matrikeleintrag zu Johannes Voss, URL : http://matrikel. uni-­rostock.de/id/100002187 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Matrikeleintrag zu Dietrich Zukov, URL : http://matrikel. uni-­rostock.de/id/100002228?_searcher=c6bd90ec13a6 – 40eb-9e70 – 27a16f506971&_hit=0 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Michael, Susi-­Hilde: Statuta prima Academiae Rostochiensis Anno 1419 [etc.], in: Recht und Verfassung der Universität Rostock im Spiegel wesentlicher Rechtsquellen 1419 – 1563. Teil 2: Quellen, in: Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte, Bd. 24. Hrsg. von Kersten Krüger. Rostock 2013, S. 16 – 137.

Susi-­Hilde Michael 

Michael, Susi-­Hilde: Bulla fundationis universitatis Rostochiensis, in: Recht und Verfassung der Universität Rostock im Spiegel wesentlicher Rechtsquellen 1419 – 1563. Teil 2: Quellen, In: Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte, Bd. 24, Hrsg. von Kersten Krüger. Rostock 2013, S. 5 – 15. Michael, Susi-­Hilde: Die neuen Statuten der Medizinischen Fakultät an der Rostocker Akademie, in: Die normativen Rechtsquellen der Medizinischen Fakultäten der Universität Rostock (1419–1799) und der Akademie zu Bützow (1760-1789). Edition, Übersetzung und Kommentar, in Bearbeitung. Michael, Susi-­Hilde: Statuta in facultate medicine et primo de promovendis, in: Die normativen Rechtsquellen der Medizinischen Fakultäten der Universität Rostock (1419 – 1799) und der Akademie zu Bützow (1760 – 1789). Edition, Übersetzung und Kommentar, in Bearbeitung. Wagner, Wolfgang E.: Die ältesten Statuten der Rostocker Medizinischen Fakultät nebst Zeugnisformularen für Lizentiaten und Bakkalare. Neues Etwas von Gelehrten Rostockschen Sachen, für gute Freunde. Quellen und Erläuterungen zur Geschichte des gelehrten Lebens in Rostock, Bd. 2. Hrsg. von Wolfgang E. Wagner. Dr. Kovac. Hamburg 2015. Weißenborn, Hermann J. Ch.: Aeltere Statuten der Medicinischen Facultet, in: Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete. Acten der Erfurter Universität, Bd. 2, Halle 1884.

Literatur Blode, Antje U./Kühnle, Nina/Waßenhoven, Dominik: Leitfaden für das Studium der mittelalterlichen Geschichte: Häufige lateinische Abkürzungen in MGH -Editionen, in: historicum-­estudies.net, URL : http://www.historicum-­ estudies.net/etutorials/leitfaden-­mittelalter/kritische-­ editionen/haeufige-­abkuerzungen/ (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Georges, Karl-­Ernst: Der Neue Georges. Ausführliches Lateinisch-­Deutsches Handwörterbuch aus den Quellen zusammengetragen und mit besonderer Bezugnahme auf Synonymik und Antiquitäten unter Berücksichtigung der Besten Hilfsmittel Ausgearbeitet von Karl-­Ernst Georges, Bd. 1: A–H, Bd. 2: I–Z. Hrsg. von Thomas Baier. Leipzig/ Stuttgart 2013. Gerabek, Werner E.: Nikolaus von Reggio, in: Enzyklopädie Medizingeschichte. Hrsg. von Werner E. Gerabek et al. Berlin/New York 2005, S. 1052. Grohe, Johannes: Martin V., in: Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von Norbert Angermann et al. München/Zürich 1993, Bd. 6, Sp. 342 f.

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Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

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Die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock

Die Promotion zum Doktor der Medizin an der ­mittelalterlichen Universität Rostock Susi-­H ilde Michael

Einleitung Obwohl Forschungsbeiträge vorliegen, die sich mit dem mittelalterlichen Promotionswesen auseinandersetzen,1 fehlt es an einer Darstellung, die sich mit der Promotion zum Doktor der Medizin an der mittelalterlichen Universität Rostock befasst. Für eine solche Studie stehen die ersten normativen Rechtsquellen der Medizinischen Fakultät und die ältesten allgemeinen Rostocker Universitätsstatuten – Belege aus der Promotionspraxis fehlen 2 – zur Verfügung.3 In den Mediziner-­Statuten – sie wurden nach Einrichtung der Theologischen Fakultät im Jahr 1433 ins Liber statutorum universitatis studii Rostochiensis eingetragen 4 – findet man auf den Pergamentblättern 34r und 34v u. a. das hier abgebildete statutum 6.5 Abb. 1  Liber statutorum universitatis studii Rostochiensis, fol. 34r.

Abb. 2  Liber statutorum universitatis studii Rostochiensis, fol. 34v.

Der schwer zu entziffernde lateinische Text der eben genannten Festlegung lautet: Item doctorandus debet honeste suum doctorem, promotorem cum mantello et capucio vario foderatis vestire vel promoventem contentare ac facere tale prandium, quod honorem cedat universitatis, suae facultatis atque doctoratus.

Dieser Quellentext ist wie folgt zu übersetzen: Ein zum Doktor zu Promovierender muss seinen Doktor, den Promotor, mit einem gefütterten Mantel und zwar mit einer mit Buntwerk gefütterten Kapuze ehrenhaft einkleiden bzw. den die Promotion Vornehmenden zufrieden stellen. [Er muss] auch die [Fest]mahlzeit, die seiner Fakultät und [seinem] Doktorat zur Ehre gereichen soll, ausrichten.6

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Man entnimmt dem Statutentext u. a., was ein zum Doktor der Medizin zu Graduierender vor der Promotion zu erledigen hatte. Die Lektüre der Bestimmung wirft aber auch Fragen auf: Wo war eine Doktorpromotion im mittelalterlichen Graduierungsmodell einzuordnen, warum wurde eine Promotion zum Doktor vorgenommen, und was geschah vor, während und nach der Promotion bzw. der Promotionszeremonie.

Das Graduierungsmodell mittelalterlicher Universitäten Wo ein Doktor bzw. eine Doktorpromotion im spätmittelalterlichen Graduierungsmodell einzuordnen ist, soll im Folgenden dargestellt werden. An der Universität Rostock wie auch an den anderen mittelalterlichen Universitäten konnten sich die Studenten der Theologie, des Rechts, der Medizin oder der Freien Künste nach dem Bakkalarenstudium und dem bestandenen Examen zum Bakkalar graduieren lassen.7 Diese Promotion berechtigte sie, sich dem Lizenziatenstudium zuzuwenden und nach Beendigung der Studien sich den Lizenziatenprüfungen zu unterziehen. Bestanden sie das Examen, wurden sie zum Lizenziaten promoviert und erhielten – in der Regel vom Kanzler der Universität 8 – die Lizenz, die ihnen die intellektuellen Voraussetzungen zur selbstständigen Lehre an einer Universität bescheinigte.9 Im Anschluss daran war es ihnen möglich, ohne weitere Studien und Examina die Promotion zum Doktor oder Magister zu erlangen.10 Zu dieser Graduierung kam es wegen der hohen damit verbundenen Kosten selten und oft erst geraume Zeit nach der Lizenziatengraduierung.11 In Rostock bezeichnete man den, der die höchste Graduierung an einer der oberen Fakultäten 12 erhalten hatte, als Doktor.13 Denjenigen, dem an der Artistenfakultät die letztmögliche Promotion zu Teil geworden war, nannte man hingegen Magister.14 So konsequent ging es an anderen Universitäten nicht zu. In Wien bezeichnete man beispielsweise Juristen und Mediziner entweder als Doktoren oder als Magister und die Artisten entweder als Magister oder als doctores.15 Es wird also deutlich, dass die Bezeichnungen Doktor und Magister im mittelalterlichen Graduierungswesen die gleiche Bedeutung hatten.16

Vor der Promotionszeremonie Liest man das statutum 6 der ersten Mediziner-­Statuten kommen Fragen nach den zu einer Doktorpromotion führenden Gründen und nach den für die Durchführung einer Promotionszeremonie seitens des doctorandi und anderer Universitätsmitglieder zu erfüllenden Voraussetzungen auf. Eine Promotion zum Doktor der Medizin wurde den statuta zufolge durchgeführt, wenn man an der Fakultät eine Stipendiatenstelle 17 mit einem Doktor neu besetzen musste und die Wahl im Berufungsverfahren auf einen Lizenziaten oder auf einen noch zu diesem Grad zu Graduierenden gefallen war.18 Wenn nachstehend von diesen Promotionen die Rede ist, wird von einer Bedarfspromotion gesprochen. Eine Graduierung zum höchsten Grad konnte es aber auch geben, weil ein (angehender) licentiatus sich ohne Aussicht auf eine besoldete Stelle dazu entschlossen hatte.19 Wendet man sich nun der zweiten der angeführten Fragen zu, erkennt man, dass es vor der Promotionszeremonie Vieles zu erledigen gab. An erster Stelle sei diesbezüglich die schriftliche Meldung des Promovenden durch den Fakultätsdekan beim Rektor genannt. Sie war sowohl vor der Bakkalaren- als auch vor der Lizenziaten- sowie vor der Doktorpro-

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motion erforderlich, wenn diese nicht unmittelbar auf die Lizenziatengraduierung folgen sollte. Dem Universitätsoberhaupt oblag es nämlich, zu prüfen, ob der zu Graduierende rechtmäßig eingeschrieben war und die geforderten Immatrikulationsgebühren gezahlt hatte.20 Damit der decanus facultatis den zu Graduierenden dem Rektor zur Überprüfung melden konnte, musste der promovendus mit ihm in Kontakt treten. Diese Immatrikulationsüberprüfung gab es nicht nur in Rostock. Sie war an mittelalterlichen Universitäten vor Promotionen allgemein üblich.21 Bevor es zu einer der drei möglichen Graduierungen kommen durfte, musste um die Zustimmung oder Ablehnung der an der Mediziner-­Fakultät ordentlich und außerordentlich lehrenden Doktoren und Magister ersucht werden.22 Ob die Birett-­Tragenden 23 nun ihr Placet zu einer Doktorpromotion gaben oder nicht, musste vor der Graduierung zum Lizenziat festgestellt werden, wenn diese unmittelbar nach der Lizenziatenpromotion erfolgen sollte. Die doctores und magistri hatten dabei die Studien-, die Examens-, die ersten Lehrleistungen sowie den Lebenswandel des Promovenden in ihre Entscheidungsfindung einzubeziehen.24 Sollte die Doktorgraduierung allerdings geraume Zeit nach der Lizenziatengraduierung stattfinden, dann war seitens der Doktoren und Magister der Mediziner-­Fakultät die Entscheidung gewiss nach dem Eindruck zu treffen, den der Promovend in der Lehre und in seiner Art der Lebensführung machte. Es ist also deutlich geworden, wer einem Promotionsvorhaben zu welchem Zeitpunkt unter Beachtung welcher Kriterien zustimmen durfte. Unklar bleibt jedoch, ob ein Promotionsvorhaben als befürwortet gelten und umgesetzt werden konnte, wenn alle doctores und magistri es bejahten oder ob es genügte, wenn die Mehrheit von ihnen ihre Zustimmung erteilte. Ferner kann nicht geklärt werden, wer die Meinung der Birett-­Tragenden erkunden musste. Es ist anzunehmen, aber nicht belegbar, dass diese Aufgabe beim Dekan in seiner Funktion als Fakultätsoberhaupt gelegen hat. Das Einholen der Zustimmung für eine Doktorpromotion war nicht nur in Rostock erforderlich, wie den Mediziner-­Statuten der Universität Wien von 1389 zu entnehmen ist.25 Für eine Doktorpromotion an der Medizinischen Fakultät brauchte jeder doctorandus dem Statut 6 der Mediziner-­Festlegungen zufolge eine die Graduierung vornehmende Person, also einen Promotor.26 Diesen bestimmte er selbst.27 Ein Promotor war nach den allgemeinen Universitätsstatuten auch schon für eine Bakkalaren- und eine Lizenziaten­ graduierung erforderlich.28 Der Promovierende konnte ein Doktor oder Magister sein, der in die Matrikel der Universität Rostock eingeschrieben war und der entweder zu den ordentlich Berufenen oder zu den außerordentlich Lehrenden gehörte. Ein suspendiertes Universitätsmitglied kam für die Promotoren-­Aufgabe nicht in Frage.29 Die eben angeführten Kriterien hatten sowohl der Promovend als auch die als promotores in Betracht kommenden Personen zu kennen und zu beachten.30 Vor einer Doktorpromotion galt es auch an anderen Universitäten, eine die Promotion durchführende Person zu bestimmen.31 In statuto 6 ist ferner zu lesen, dass der doctorandus seinen Promotor mit einem gefütterten Mantel, der eine mit Buntwerk gefütterte Kapuze haben sollte, einzukleiden und zufriedenzustellen hatte.32 Das heißt, der zu Graduierende durfte nicht einfach einen Mantel beschaffen, sondern musste sich nach den genannten Kriterien und nach den Wünschen und Vorstellungen seines Promotors richten. Dass Kleidungsstücke zu schenken waren, ist nichts Ungewöhnliches, denn in den Mediziner-­Statuten der Universität Erfurt findet man ebenfalls die Anweisung, dass ein promovendus dem Promovierenden einen Mantel zu schenken verpflichtet war.33 Die Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Wien fordern hingegen Handschuhe und Birett.34 In Heidelberg verlangte man an den höheren Fakultäten Mantel, Handschuhe und Schmuck.35 Alle die genannten Kleidungs-

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stücke gehörten zur Gelehrtenkleidung (vesticus scholasticus).36 Sie dienten den Doktoren und Magistern als Ausweis ihrer Zugehörigkeit zum Gelehrtenstand.37 Für promotores, die außerordentliche Lehrende waren und die an der Universität keine festgelegte Besoldung erhielten, dürften derartige Kleidergeschenke wohl nicht unwesentlich zum Erhalt ihrer sichtbaren Standesmerkmale in und außerhalb der Hohen Schule beigetragen haben.38 Studiert man die Rostocker Universitäts- und Fakultätsstatuten gründlich, erkennt man auch, dass das Kleidergeschenk an den Promotor nur für diejenigen Promovenden galt, die die höchste Graduierung aus eigenem Interesse anstrebten.39 Universitätsmitglieder, die (angehende) Lizenziaten der Medizin waren und zur Besetzung einer Stipendiaten­ stelle an der Fakultät zu promovieren waren, mussten stattdessen zehn Rheinische Gulden zahlen.40 An der Universität Rostock hatte ein zum Doktor promovierter Stipendiat 40 Rheinische Gulden an Jahresbesoldung zu bekommen. Die eben genannte Summe entsprach also einem Viertel seines Jahreseinkommens.41 Außer dem Kleidergeschenk oder dem eben genannten Geldbetrag sind auch noch die an die Universitäts- und Fakultätskasse zu entrichtenden Promotionsgebühren zu nennen. Ein aus Eigeninitiative die Doktorpromotion Wünschender musste diese Gebühren entrichten.42 Der aus Bedarfszwecken zu Graduierende war hingegen davon befreit, damit er die Promotion nicht wegen zu hoher finanzieller Belastungen ablehnte.43 Unklar ist, da keine Angaben in den Statuten gemacht worden sind, um welche Beträge es sich bei den Graduierungsgebühren handelte. Ebenfalls mangelt es an Anweisungen, an wen die Gebühren zu entrichten waren bzw. wer befugt war, sie entgegenzunehmen. Die der Universität zu zahlende Summe musste gewiss dem Rektor gegeben werden, da dieser die Einnahmen und Ausgaben der Universität zu verwalten hatte.44 Der an die Fakultät zu entrichtende Betrag war wohl an den Dekan zu zahlen, weil die Vermögensverwaltung der Mediziner-­Fakultät in dessen Zuständigkeitsbereich fiel.45 Die Erhebung von Promotionsgebühren ist nichts Spezifisches für die Rostocker Universität. Derartige Gebührenforderungen – Promotionsgebühren trugen wesentlich zum Erhalt von Universitäten bei – sind auch für andere Universitäten der Zeit bekannt.46 Außerdem hatte ein promovendus, der die Promotion selbst wünschte, für die Doktorinsignien 47 zu zahlen. Im Falle einer Bedarfspromotion entfielen diese Kosten. Die Statuten weisen an, dass die für die insignia doctoralia 48 anfallenden Gelder sowohl an die Universität als auch an die Medizinische Fakultät gezahlt werden mussten.49 Die Höhe der Beträge wird allerdings nicht genannt. Die statuta verschweigen auch, wer die Gelder einzunehmen hatte. Sicherlich sind wiederum der Universitätsrektor und der Fakultätsdekan dafür in Betracht zu ziehen.50 Schaut man in die allgemeinen Universitätsstatuten, erkennt man ferner, dass ein doctorandus vor der Promotionszeremonie einer Bedarfspromotion noch versichern musste, nach seiner Graduierung acht Jahre ohne Unterbrechungen an der Universität Rostock zu lehren.51 Diese Verpflichtung hatte er in einer Sitzung des Universitätskonzils einzugehen.52 Zudem hatte jeder wegen Bedarf zum Doktor zu Graduierende zu versprechen, nach erfolgter Doktorpromotion selbst als Promotor tätig zu werden, wenn man ihn darum ersucht.53 Möglicherweise war diese Versicherung ebenso vor dem Konzil der Universität zu leisten.54 Weiterhin liest man in den Festlegungen, dass vor der Promotion seitens des Doktoranden – ungeachtet dessen, ob er selbst die Promotion wünschte oder ob er zum Erhalt des Lehrkörpers zu graduieren war – zehn Ellen gefärbten Stoffs, mindestens eine Mark Rostocker Pfennigs je Elle wert, an jeden Pedell gegeben werden mussten.55 In den Rostocker Universitätsstatuten ist stets die Rede von Pedellen. Es wird an keiner Stelle zum Ausdruck gebracht, wie viel Pedelle es zu geben hatte.56 Der ständige Gebrauch

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des Plurals in den Festlegungen lässt jedoch darauf schließen, dass es mindestens zwei an der Rostocker Universität geben sollte.57 Pedelle bzw. cursores waren an der Rostocker Universität, aber auch anderswo, der lateinischen Sprache kundige Universitätsmitglieder, die Botengänge und Aufsichtssaufgaben übernahmen, dafür aber keine Besoldung erhielten, sondern Sporteln, also Gebühren und Geschenke bekamen.58 Was aber hatten sie nun vor oder bei Promotionen zu erledigen, dass diese Gaben rechtfertigte? Die Forschung gibt an, dass eine Doktorpromotion ein Ereignis war, zu dem die Teilnehmer in einer Prozession gingen.59 Bei Messen, Prozessionen und (öffentlichen) universitären Zusammenkünften galt es in Rostock, aber auch andernorts, eine Platzordnung unter den Teilnehmenden einzuhalten.60 Dass diese Bestimmung umgesetzt wurde, war Aufgabe der Universitätspedelle.61 Darüber hinaus sind den Rostocker Statuten keine weiteren Rechte und Pflichten zu entnehmen. Weitere munera waren aber dennoch nicht ausgeschlossen. So ist nämlich den Mediziner-­Statuten Wiens von 1389 zu entnehmen, dass bei Doktorgraduierungen ein Pedell dem zu Graduierenden den Promotionseid der Fakultät vorlesen musste.62 Auch an der Universität Rostock hatte ein doctorandus vor seiner Graduierung vor seinem Promotor einen Schwur abzulegen.63 Möglicherweise wurde ihm das zu Schwörende von einem Pedell vorgelesen. Doktorpromotionen waren ferner keineswegs Veranstaltungen, die man beiläufig abwickelte, sondern sie waren Ereignisse, denen außer den Lehrenden und Studierenden der Fakultät auch der rector universitatis und die Graduierten der anderen Fakultäten beiwohnten.64 In Rostock nahm vielleicht sogar noch die Stadtobrigkeit teil, denn schließlich richtete diese die Universität im Jahr 1419 auf ihre Kosten ein und besoldete in den ersten Jahren die ordentlich Berufenen.65 Es ist anzunehmen, anhand der überlieferten normativen Rechtsquellen aber nicht belegbar, dass der decanus facultatis schriftlich zu einer Doktorgraduierung seiner Fakultät in seiner Position als Fakultätsoberhaupt einlud und dass es in den Zuständigkeitsbereich der Pedelle fallen musste, für die Zustellung der Einladungen zu sorgen. In statuto 6 der Medizinischen Fakultät ist auch von einer festlichen Mahlzeit (prandium) die Rede, die der Doktorand so zu planen hatte, dass sie seinem Doktorat und der Fakultät zur Ehre gereichte.66 Das heißt, er sollte das Mahl derart organisieren, dass er nach seiner Promotion weder zu üppig auftischen ließ, noch die Geladenen mit zu wenig abspeiste. Die Planung eines solchen Mahls war statutengemäß nur für Promovenden obligatorisch, die aus Eigeninteresse das Doktorat anstrebten.67 Auch an anderen Universitäten war ein solches Essen vorzubereiten.68

Die Promotionszeremonie Nachdem vorgestellt wurde, was es vor der Graduierungszeremonie zu erledigen galt, ist sich nun dem Ablauf der Promotion bzw. der Promotionszeremonie zuzuwenden. Doch das statutum 6 der ersten Mediziner-­Festlegungen liefert diesbezüglich keine Informationen. Bei der Suche nach Antworten fällt der Blick auf folgendes Dokument: In Abbildung 3 sieht man ein Pergamentfolium, das die Statuten 17 bis 23 aus der rubrica XIII der insgesamt 20 Rubriken umfassenden ältesten allgemeinen Rostocker Universitätsstatuten zeigt. Diese statuta sind nach der Einrichtung der Theologischen Fakultät im Jahr 1433 ins Liber statutorum universitatis studii Rostochiensis geschrieben worden.69 Der im Bild zu erkennende Text wurde in mittelalterlichem Latein verfasst.70 Besonders ins Auge fällt die Festlegung 18. Sie wurde mittels eines Bildbearbeitungsprogramms besonders hervorgehoben. In statuto 18 ist zu lesen:

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Item licentiatus doctorandus, non tenens locum doctoralem, etiam cuiuscumque facultatis debet habere receptionem insignium doctoralium, solvere bursas, tam universitatis, quam suae facultatis.71

Dieser Quellentext ist folgendermaßen zu übersetzen: Ein zum Doktor zu promovierender Lizenziat, gleich welcher Fakultät, der keine [besoldete] Stelle als Doktor erhält, muss [ebenso] die Doktorinsignien empfangen [und] sowohl der Universität als auch seiner Fakultät die Gebühren dafür zahlen.72

Dementsprechend waren sowohl bei einer Bedarfspromotion als auch bei einer aus freien Stücken nachgesuchten Doktorgraduierung an jeder Fakultät, also auch an der Medizinischen, die insignia doctoralia zu empfangen. Man erkennt auch, dass, wenn es um keine Bedarfspromotion ging, der Universität und der Fakultät für die Doktorinsignien Gebühren zu zahlen waren. Auf die Insigniengebühren wurde bereits eingegangen. Der Quellentext wirft jedoch auch die Fragen auf, wo die Promotionszeremonie in Rostock stattzufinden hatte, was vor und was nach der Insignienübergabe bzw. -annahme in einer solchen Zeremonie geschehen musste, was man an der Universität Rostock zu den Doktorinsignien zählte und welche Bedeutungen ihnen zukamen. Wo die Doktorgraduierung stattzufinden hatte, geht aus den statuta nicht hervor. Es ist jedoch bekannt, dass Promotionsfeiern oft in Kirchen abgehalten wurden.73 Aus einer Aufzeichnung aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entnimmt man, dass man in Rostock Doktorpromotionen in der St.-Marien-­Kirche vornahm.74 Möglicherweise diente diese Kirche auch schon im 15. Jahrhundert als Ort für Graduierungen. Studiert man die normativen Rechtsquellen der Universität Rostock, um zu ermitteln, was vor der Insignienübergabe bzw. -annahme in der Promotionszeremonie stattfinden konnte oder musste, wird man auf statutum 3 der Mediziner-­Festlegungen aufmerksam. Ein doctorandus hatte demnach seinem Promotor einen Schwur zu leisten.75 Der Inhalt des eidlichen Versprechens war folgender: Der zu Graduierende musste schwören – möglicherweise wurde ihm das zu Schwörende von einem Pedell vorgelesen –, seinen Promotor zu ehren und zu achten.76 Er hatte auch zu versichern, „die Geheimnisse der Medizin zu verschweigen beziehungsweise nicht irgendwem gleichgültig ohne Grund zu offenbaren“.77 Er wurde also dazu angehalten, sich an die im hippokratischen Eid geforderte Schweigepflicht zu halten.78 Außerdem bedeutet es wohl, dass er darauf achten musste, medizinisches Fachwissen – sei es mündlich oder schriftlich – nicht an einen Laien weiterzugeben.

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Abb. 3  Liber statutorum universitatis studii Rostochiensis, fol. 28v.

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Ferner oblag es ihm, zu geloben, „das Wohl seiner Fakultät nach [bestem] Können und Wissen zu fördern“.79 Als Lehrender hatte er somit für den Erhalt und den guten Ruf der Fakultät zu sorgen, indem er den Statuten entsprechend ohne Nachlässigkeiten lehrte, Promotionen durchführte und sich innerhalb und außerhalb der Universität nicht negativ über die Mediziner-­Fakultät äußerte. Weiterhin musste er versichern, auf Magie zu verzichten – damit ist wohl die unerlaubte übernatürliche Magie (Magia supranaturalis)80 gemeint – und nur nach dem Kanon der Medizin, also nach dem Canon medicinae Avicennas (973/980 – 1037) zu praktizieren.81 Dieses eidliche Versprechen war vom Promotor sowohl von einem aus eigenem Interesse die Doktorpromotion Nachsuchenden als auch im Falle einer Bedarfspromotion zu fordern. Außer diesem Schwur sind den normativen Rechtsquellen des 15. Jahrhunderts keine weiteren Bestimmungen zu entnehmen, die Aufschluss geben, was sonst noch vor der Insignienübergabe bzw. -annahme in der Promotionszeremonie stattzufinden hatte. Aus den Statuten und Darstellungen zu Promotionen anderer mittelalterlicher Universitäten geht hervor, dass es vor der Insignienübertragung noch eine Disputation oder ein theoretisches Ausloten einer Fragestellung (determinatio) geben konnte.82 Eine Lobrede seitens des Promotors auf den zum Doktor zu Graduierenden war außerdem möglich.83 Leider fehlt es in Rostock neben Statutenregelungen auch an Berichten aus der Promotionspraxis. Es ist in Betracht zu ziehen, dass auch in Rostock in der Graduierungszeremonie vor der Promotion noch disputiert oder determiniert und eine Rede auf den zu Promovierenden gehalten werden musste. Doch nun zum Empfang der Insignien. Weder Statut XIII , 18 noch eine andere Festlegung der Universität oder der Medizinischen Fakultät zählt die insignia doctoralia im Einzelnen auf. Aus der Forschungsliteratur geht hervor, dass als Doktorinsignien Birett, Mantel, Schärpen, Handschuhe, Ring, Kette, Urkunde, ein geöffnetes und ein geschlossenes Buch sowie der Doktorkuss bekannt sind.84 Das birettum und die anderen Kleidungsstücke sowie Ring und Kette zählen zur Gelehrtenkleidung (vesticus scholasticus) und machten innerhalb und außerhalb der Universität die höchste Graduierung sichtbar.85 Die Urkunde gehörte wohl mit zu den Insignien, weil sie die vorgenommene Doktorpromotion aufgrund des durch Papst oder Kaiser eingeräumten Promotionsrechts schriftlich bescheinigte. Das geöffnete Buch war das Zeichen des Studiums, während das geschlossene Buch für die Gelahrtheit des Doktors stand.86 Der Doktorkuss galt als Friedenskuss und sollte symbolisieren, dass zwischen den Doktoren und dem zum Doktor zu Ernennenden keine Feindschaft bestand.87 In der Literatur wird aber auch darauf hingewiesen, dass der doctorandus vom Promotor nicht alle der aufgezählten Insignien bekam.88 Wie viele der eben genannten Doktorinsignien ein Mediziner in Rostock zu empfangen hatte, kann nicht festgestellt werden. Man darf jedoch annehmen, dass das Birett gegeben wurde. Im Mittelalter wurden magistri und doctores oft synonym als Birett-­Tragende (birettati) bezeichnet. Diese Bezeichnung findet sich auch in statuto 4 der Rostocker Mediziner-­Festlegungen.89 Wer die Insignien empfangen hatte, war ein rechtmäßig promovierter doctor medicinae, der selbst Promotionen durchführen durfte, zur selbstständigen Lehre an einer Universität berechtigt war und in universitären Veranstaltungen bei den Doktoren seiner Fakultät Platz nehmen durfte.90 Was in Rostock nach der Insignienannahme eines Mediziners in der Promotionszeremonie erfolgen konnte oder musste, regeln die statuta wiederum nicht. Aus den Mediziner-­Festlegungen Wiens von 1389 ist bekannt, dass ein doctor novellus eine Lobrede auf die Wissenschaft der Medizin zu halten hatte.91 Anschließend musste er z. B. ein Stück aus dem Kanon der Medizin Avicennas lesen und nach der Vorlesung mit einem Doktor der Heilkunst über den Vorlesungsinhalt disputieren, wodurch er seine

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fachlichen Fähigkeiten öffentlich unter Beweis stellte.92 Nach dieser Disputation oblag es ihm in einer Rede, seinem Promotor zu danken.93 Außer Statutenanweisungen mangelt es, wie gesagt, auch an Berichten aus der Promotionspraxis. Dennoch ist in Erwägung zu ziehen, dass auch in Rostock der frisch Promovierte eine Vorlesung hielt, über das Gelesene disputierte, die Medizin lobte und seinem Promotor dankte.

Nach der Promotionszeremonie Nachdem auf die Promotion und die Promotionszeremonie eingegangen wurde, ist in diesem Abschnitt noch einmal auf statutum 6 der Mediziner-­Festlegungen zurückzukommen. Dieses Statut forderte den angehenden Doktor u. a. auf, sich um die Organisation des nach der Promotion stattfindenden Festmahls zu kümmern. Ein prandium nach der Promotionszeremonie durchzuführen war für diejenigen obligatorisch, die aus eigenem Interesse die Doktorgraduierung anstrebten.94 Im Falle einer Bedarfspromotion wurden die Planung und die Veranstaltung dieses Essens nicht gefordert, aber immerhin eingeräumt.95 Festlegung XIII , 17 der allgemeinen Universitätsgesetze macht nämlich klar, dass ein zum Erhalt des Lehrkörpers zum Doktor zu Promovierender nach seiner Graduierung, aber noch am Tag seiner Promotion, ein prandium veranstalten konnte.96 Darüber hinaus ist die cena zu nennen, zu der er die gleichen Gäste einladen durfte.97 Aus dieser Gepflogenheit ergeben sich nun folgende Fragen: Um welche Uhrzeit hatte ein prandium stattzufinden und um wie viel Uhr stand die cena an? Wer wurde geladen, was wurde aufgetischt und welche Kosten kamen auf die frisch promovierten Doktoren zu? Antworten findet man diesbezüglich allerdings weder in den ersten Rostocker Mediziner-­Statuten noch in den ältesten allgemeinen Universitätsgesetzen. In Beiträgen zur mittelalterlichen Alltags- und Universitätsgeschichte stößt man allerdings auf Aufschlussgebendes. Weil das möglicherweise auch für Rostock zutreffend war, ist es nachstehend zu referieren. Das Wort prandium stammt aus der Römerzeit, wo es eine gegen 12 Uhr mittags eingenommene (Vor)Mahlzeit bezeichnete.98 Die cena kommt ebenfalls aus dem Altertum und galt als die zwischen 3 und 4 Uhr am Nachmittag durchgeführte Hauptmahlzeit der Römer.99 Im Mittelalter bezeichnete das prandium die erste Hauptmahlzeit des Tages, die man nach Abschluss der ersten Hälfte des Tagewerkes zwischen 11 Uhr am Vormittag und 1 Uhr am Nachmittag zu sich nahm.100 Die cena war die zweite Hauptmahlzeit, die nach Beendigung der täglichen Arbeit zwischen 4 Uhr nachmittags und 7 Uhr am Abend eingenommen wurde.101 Für die Promotion zum Doktor der Medizin heißt das, dass die Graduierungsfeier wohl am Vormittag vorgenommen wurde und dass das nach der Promotionszeremonie durchzuführende prandium in der Mittagszeit stattfand. Die cena konnte dann noch in die Nachmittags- oder schon in die Abendstunden des Promotionstages fallen. Will man die Frage nach den geladenen Gästen beantworten, findet man in Statut XIII , 17 lediglich die Anweisung, dass, wenn im Falle einer Bedarfspromotion der doctor novellus Festmahlzeiten veranstalte, er maximal 100 Gäste haben durfte.102 Für die Promotion, die auf Wunsch eines Universitätsmitgliedes stattfand, ist für das prandium keine Teilnehmerzahl festgelegt worden.103 Bezüglich der Teilnehmer an Festmählern anlässlich einer Doktorpromotion entnimmt man den vorliegenden Forschungsbeiträgen von Schwinges und Prahl, dass der Promotor, der Rektor, die Graduierten aller Fakultäten, die Pedelle und gegebenenfalls die geladenen Herren der Landes- oder Stadtobrigkeit sowie Angehörige und/oder Freunde des doctoris novelli üblicherweise geladen waren und teilnahmen.104

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Die Promotion zum Doktor der Medizin an der ­mittelalterlichen Universität Rostock

Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

Fragt man nach den Speisen und Getränken, die aus Anlass einer Doktorpromotion bei den festlichen Mahlzeiten aufgetragen wurden, findet man erste Hinweise in den Beschlüssen von 1694/95 der Mediziner-­Fakultät. Aus denen geht hervor, dass es reichlich gebratenes Fleisch und Wein zu geben hatte und dass man aber auf Kandiertes verzichten sollte.105 Für die Zeit des 15. Jahrhunderts ist auf Berichte oder Kostenauflistungen von Promotionsschmäusen aus Heidelberg und anderen Universitäten zurückzugreifen. Aus diesen ist bekannt, dass Karpfen, mit Zimt gewürzte Suppen, gebratenes Ochsenfleisch und/oder Wildbret, reichlich und teuer gewürzt,106 Brot, Kuchen und Obst verzehrt und Wein getrunken wurde.107 Diese Aufzählung führt nun zur letzten der oben gestellten Fragen, nämlich zu der nach den Kosten eines prandii oder einer cenae zum Anlass einer Doktorgraduierung. Schwinges führt an, dass im 15. Jahrhundert Kosten in Höhe von 200 Rheinischen Goldgulden für Promotionsschmäuse durchaus nicht selten waren.108 Von Prahl wissen wir, dass es vorkam, dass prandia und cenae auch von der Landesobrigkeit bezuschusst werden konnten.109 Somit wird deutlich, weshalb ein Doktor, der aus Bedarfsgründen der Fakultät in Rostock graduiert werden sollte, zur Veranstaltung von Festmahlzeiten per statutum nicht verpflichtet wurde. Gewiss fürchtete man, dass er die Promotion aus Kostengründen ablehnte.

Ausblick In diesem Beitrag wurde sich erstmals mit der Promotion zum Doktor der Medizin an der mittelalterlichen Universität Rostock auseinandergesetzt. Im Zentrum stand dabei die Beantwortung der Fragen, wo eine Doktorpromotion im mittelalterlichen Graduierungsmodell einzuordnen ist, warum eine Graduierung zum Doktor der Heilkunst in Rostock vorzunehmen war und was vor, während und nach der Graduierungszeremonie zu beachten war. Bei der Darstellung standen das statutum 6 der ersten Mediziner-­Statuten und die Festlegung XIII , 18 der ältesten allgemeinen Universitätsstatuten im Mittelpunkt, weil sie wesentliche Informationen enthalten, die zur Beantwortung der eben nochmals aufgezeigten Fragen beitrugen. Darüber hinaus mussten allerdings auch noch weitere Bestimmungen der Mediziner-­Fakultät und der Universität herangezogen werden. Ebenfalls war es notwendig, (normative) Quellen und Forschungsbeiträge zum Graduierungswesen anderer mittelalterlicher Universitäten heranzuziehen, um die damals in Rostock gültigen Bestimmungen (besser) verstehen und einordnen zu können. Die vorliegende Darstellung eröffnet erstmals die Möglichkeit, die Anweisungen zur Promotion zum Doktor der Medizin, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an der Rostocker Mediziner-­Fakultät getroffen worden sind, zu bewerten. Sie ist aber auch Anreiz sich mit den Doktorpromotionen – zumindest auf normativer Ebene – der Theologischen und der Juristischen Fakultät sowie der Artistenfakultät der Universität Rostock auseinanderzusetzen.

Susi-­Hilde Michael

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Anmerkungen 1

Siehe im Besonderen Kaufmann 1896, Bd. 2, S. 266 – 323; Verger 1986, Bd. 3, Sp. 1155; Verger 1993, Bd. 1, S. 138 – 142; Füssel 2010, S. 219 – 241. Die Autorin dieses Beitrags nahm zwar 2013 bereits erste allgemeine Ausführungen zum Rostocker Promotionswesen vor, konzentrierte sich aber weder auf die Medizinische noch auf eine andere Fakultät der Universität Rostock. Michael 2013, Teil 1, S. 284 – 308. 2 Belege aus der Promotionspraxis sind für die Medizinische Fakultät erst seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auffindbar. UAR 1.01.01: Liber statutorum, p. 43sqq. 3 Statuta in facultate medicine et primo de promovendis, in: Michael, in Bearbeitung (nachstehend: MedSt); Statuta prima Academiae Rostochiensis Anno 1419 [etc.], in: Michael 2013, Teil 2, S. 16 – 137 ­(nachstehend: UniSt). 4 Dt: Das Statutenbuch der Universität des Rostocker Studiums. Michael 2015, S. 295 – 306, hier S. 296 – 303. 5 UAR RIA 1: fol. 34r–34v. 6 Michael, in Bearbeitung. 7 Am verständlichsten dargestellt bei Kaufmann 1896, Bd. 2, S. 268 – 270. 8 Der Kanzler einer Universität war meist der Bischof der Diözese, in der sich die Universität befand. Die Alma Mater Rostochiensis gehörte zur Schweriner Diözese, sodass der Bischof von Schwerin dieses Amt bekleidete. Schmidt 2010, S. 115 – 140, hier S. 121. 9 Ebd. 10 Ebd.; Verger 1986, Bd. 3, Sp. 1155 f. 11 Verger 1993, Bd. 1, S. 140. 12 Die oberen Fakultäten waren die Theologische, die Juristische und die Medizinische Fakultät. Die Artistenfakultät galt als untere Fakultät. Siehe u. a. UniSt VII, 4 und X, 7 sowie Michael 2013, Teil 1, S. 284. 13 Michael 2013, Teil 1, S. 284 f. 14 Ebd. 15 Kink 1854, Bd. 2, S. 165 f.; Kaufmann 1896, Bd. 2, S. 274 f. 16 Verger 1986, Bd. 3, Sp. 1155 f. 17 Stipendiaten waren die Lehrenden, die ordentlich berufen wurden. Sie hatten eine besoldete Stelle, die man als Stipendiaten-­Stelle bezeichnete.

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Die außerordentlich Lehrenden waren im Gegensatz keine Berufenen. Das Wort stipendium bedeutet hier Lohn oder Besoldung. Michael 2013, Teil 2, S. 142. 18 UniSt XIII, 1 und 3; Michael 2013, Teil 1, S. 284. 19 Michael 2013, Teil 1, S. 284. 20 UniSt IV, 12. 21 Kaufmann 1896, Bd. 2, S. 312 f. 22 MedSt 4. 23 Magister und Doktoren wurden auch als Birett-­Tragende oder birettati bezeichnet. Siehe „Die Promotionszeremonie“. 24 UniSt VII, 7. 25 Kink 1854, Bd. 2, S. 165. 26 MedSt 6. 27 UniSt VII, 5. 28 Ebd.; Michael 2013, Teil 1, S. 285. 29 UniSt VII, 5. 30 Ebd. 31 Weißenborn 1884, Bd. 2, S. 110; Kink 1854, Bd. 2, S. 165. 32 MedSt 6; Buntwerk oder Feh bezeichnet den Pelz aus dem Fell einer heute in Sibirien lebenden Eichhörnchenart. Dieses grauweiße Fell diente zur Fütterung von Mänteln und Kapuzen. v. Hülsen-­Esch 2006, S. 165. 33 Weißenborn 1884, Bd. 2, S. 110. 34 Kink 1854, Bd. 2, S. 165; Birett (birettum) bezeichnet eine Kopfbedeckung. Vavra 1986, Bd. 2, Sp. 213; v. Hülsen-­Esch 2006, S. 178; siehe Endnote 23. 35 Prahl 1988, S. 105 – 115, hier S. 113. 36 Ebd.; siehe „Die Promotionszeremonie“. 37 Ebd. 38 v. Hülsen-­Esch 2006, S. 178 f. 39 UniSt XIII, 14; Michael 2013, Teil 1, S. 288. 40 Ebd. 41 UniSt XIII, 3; Florenus (Rhenensis)/ (Rheinischer) (Gold)Gulden: Floren ist die deutsche Bezeichnung des ­Fiorino d’oro der Stadt Florenz, der als Goldmünze in hohen Stückzahlen seit 1252 geschlagen und bald in vielen europäischen Staaten nachgeahmt wurde. 1386 wurde von den Kurerzbischöfen Kuno von Trier (1320 – 1388), Friedrich von Köln (gestorben 1414), Adolf von Mainz (1353 – 1390) und Ruprecht von der Pfalz (1352 – 1410) der Rheinische

Münzverein gegründet, der den Rheinischen Goldgulden prägen lies. Auch im Hanseraum war der Florenus Rhenensis im Umlauf. Für Rostock ist belegt, dass der Rheinische Goldgulden im Jahr 1584 ein Raugewicht oder Bruttogewicht von 3,248 g und einen Feingehalt des Edelmetalls von 2,504 g hatte. Frühere Angaben sind derzeit nicht fassbar. Verdenhalven 1968, S. 26; Klüßendorf 2015, S. 87 – 89; Kunzel 2004, S. 103. 42 UniSt XIII, 14. 43 Ebd. 44 UniSt I, 6 und III, 4. 45 UniSt I, 6. 46 Gieysztor 1993, Bd. 1, S. 109 – 138, hier S. 131 f. 47 UniSt XIII, 18. 48 Siehe „Die Promotionszeremonie“. 49 Ebd. 50 Siehe vorigen Absatz. 51 UniSt XIII, 15. 52 Ebd. 53 UniSt XIII, 23. 54 Das Konzil war ein vom Rektor einzuberufendes und zu leitendes Gremium. Diesem gehörten als stimmberechtigte Mitglieder die an die drei bzw. ab 1433 an die vier Fakultäten der Universität Rostock ordentlich berufenen Lehrenden an, die mindestens 30 Gulden pro Jahr an Besoldung zu erhalten hatten. Den Statuten gemäß mussten vor der Einrichtung der Theologischen Fakultät 12, danach 14 Stipendiaten mindestens 30 Gulden jährlich erhalten. Den Konzilsmitgliedern war es erlaubt, sich für die zusätzliche Aufnahme von zwei, maximal drei weiteren Stipendiaten, die weniger als 30 Gulden Jahresbesoldung erhalten sollten, als zusätzliche Mitglieder zu entscheiden. Das Konzil konnte somit maximal über 17 Mitglieder verfügen. Michael 2015, S. 49 – 67, hier S. 52 f. 55 UniSt XIII, 22. 56 Michael 2013, Teil 1, S. 127. 57 Ebd. 58 Ebd.; Kaufmann 1896, Bd. 2, S. 185 f. 59 Prahl 1988, S. 110 f.; Füssel 2010, S. 237 f. 60 UniSt VII, 4; Prahl 1988, S. 110. 61 UniSt VII, 4. 62 Kink 1854, Bd. 2, S. 165. 63 MedSt 3.

Die Promotion zum Doktor der Medizin an der ­mittelalterlichen Universität Rostock

Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

64 Prahl 1988, S. 110 f.; Füssel 2010, S. 237 f. 65 Die Universität erhielt von der Stadt Gebäude und in den Anfangsjahren ihres Bestehens jährlich 800 Rheinische Goldgulden zur Besoldung der ordentlich Berufenen. Pluns 2007, S. 53; Michael 2013, Teil 1, S. 319 – 322. 66 MedSt 6. 67 UniSt XIII, 17. 68 Prahl 1988, S. 114 f.; Schwinges 2008, S. 489 – 512, hier S. 510 f. 69 Michael 2015, S. 296 – 303. 70 UAR RIA 1: Liber statutorum universitatis studii Rostochiensis, fol. 28v; Dt: Das Statutenbuch der Universität des Rostocker Studiums. 71 UniSt. XIII, 18. 72 Neuübersetzung durch die Autorin dieses Aufsatzes. 73 Verger 1986, Bd. 3, Sp. 1155 f.; Füssel 2010, S. 232. 74 Die St.-Marien-­Kirche zu Rostock wurde in einer Urkunde 1232 erstmals erwähnt. Soffner-­Loibl 2010, S. 4; im Statutenbuch der Medizinischen Fakultät wird sie 1587 als Ort für Doktorpromotionen genannt. UAR 1.01.01: Liber statutorum, p. 43: Anno domini 1587 die XIII. […] Julii promoti sunt in doctores […] in templo divae Mariae. 75 MedSt 3. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Im hippokratischen Eid heißt es nach der Übersetzung von Axel W. Bauer aus dem Jahr 1993: „Über alles, was ich während oder außerhalb der Behandlung im Leben der Menschen sehe oder höre und was man nicht nach draußen tragen darf, werde ich schweigen und es geheim halten.“ Der hippokratische Eid entstand um 400 v. Chr. Der hippokratische Eid ist das wirkmächtigste Arztgelöbnis der abendländischen Medizingeschichte. Hippokrates ist wohl nicht der Ver-

fasser. Der Eidestext kommt seiner geistigen Haltung jedoch sehr nahe. https://www.umm.uni-­heidelberg. de/​ index.php?eID=tx_​nawsecuredl​&u=​ 0&g​=0&t=1556448114&hash=c48605e​ 17faa13b9415c7f7c645765653dd55d9f​ &file=fileadmin/medma/Lehrstuehle/ Bauer/bauer_hippokratischer_eid. pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019); Leven 2005, S. 598 – 600, hier S. 598. 79 Ebd. 80 Seit dem 13. Jahrhundert unterschied man zwischen der natürlichen Magie (Magia naturalis) und der übernatürlichen Magie (Magia supranaturalis). Die Magia naturalis galt als Auseinandersetzung mit den verborgenen Kräften der Natur und durfte als Zweig der mittelalterlichen Naturwissenschaft betrachtet werden. Die Magia supranaturalis galt hingegen als der von Gott abgewandte Teil der Religion, der bei bösen Geistern Hilfe für alle menschlichen Nöte sucht. auf der Horst 2005, S. 555 – 561, hier S. 556 f. 81 Ebd.; Der Canon Avicennae/Canon medicinae/Al-­Qanun fi’t tibb ist eine vom persischen Arzt und Philosophen Abdullah ibn Sina bzw. Avicenna verfasste Schrift. Der Canon oder Qanun umfasst insgesamt fünf Bücher und stützt sich vor allem auf Galen (130 – 200 n. Chr.), Hali (998 – 1068) und Rhazes (gestorben 925). Es vereinen sich griechische, römische und persische medizinische Traditionen in diesem Werk. Schipperges 2005, S. 1334 – 1336; Schipperges 2005, S. 1217 – 1219, hier S. 1217; Hau 2005, S. 1251; Nickel 2005, S. 448 – 452, hier S. 448. 82 Kink 1854, Bd. 2, S. 165; Prahl 1988, S. 111; Verger 1993, Bd. 1, S. 140; Füssel 2010, S. 232. 83 Kink 1854, Bd. 2, S. 165.

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84 Prahl 1988, S. 111; Verger 1993, Bd. 1, S. 140. 85 Ebd. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Ebd.; Füssel 2010, S. 232. 89 MedSt 4. 90 UniSt VII, 4; Verger 1993, Bd. 1, S. 140; Füssel 2010, S. 230. 91 Kink 1854, Bd. 2, S. 165. 92 Ebd. 93 Ebd. 94 UniSt XIII, 17 und 20; MedSt 6. 95 UniSt XIII, 17. 96 Ebd. 97 Ebd. 98 Georges 2013, Bd. 2, Sp. 3827. 99 Georges 2013, Bd. 1, Sp. 826. 100 Fossier 2008, S. 92. 101 Ebd. 102 UniSt XIII, 17. 103 UniSt XIII, 20; MedSt 6. 104 Prahl 1988, S. 112; Schwinges 2008, S. 512. 105 Acta Promotionis in Decanatu Schapiano, qui fuit Anno 1694 et 1695, VIII und XVI, in: Michael, in Bearbeitung. 106 Gewürze spielten in der mittelalterlichen Küche eine große Rolle. Einerseits sorgten sie für Geschmack, anderseits waren sie Ausdruck des „gesellschaftlichen Niveaus“. Nelken, Zimt, Muskat und Kardamon zählten zu den teuren Gewürzen, die die Wohlhabenden gebrauchten. Senf und Salz waren hingegen billig und zählten als Gewürze des einfachen Volkes. Fossier 2008, S. 96. 107 Schwinges 2008, S. 510; Prahl 1988, S. 114 f. 108 Schwinges 2008, S. 510. 109 Prahl belegt eine solche Bezuschussung für das Jahr 1486 für eine Promotion zum Doktor an der Heidelberger Juristenfakultät. Er geht aber nicht auf die Umstände ein, die belegen, wie es dazu kam. Prahl 1988, S. 114 f.

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Die Rostocker Mondino-­Ausgabe im europäischen Kontext Hans-­Uwe Lammel In der Rostocker Universitätsbibliothek haben sich unter der Signatur Nb-57.a3 sechs Blätter eines ursprünglich 39 Blatt umfassenden anatomischen Druckes mit dem Titel Mvndini, paduani, de omnibus corporis humani membris interioribus, anatomia, cum figuris faberrimis, non solum medicis, sed philosophantib[us] etia[m] omnibus utilissima erhalten, der 1514 in der Offizin des Rostocker Professors beider Rechte, Nikolaus Marschalk (um 1470 – 1525), hergestellt und auf den Markt gebracht worden war (Abb. 1).1 Der Text stellt keine genuine Leistung der Rostocker Universitätsmedizin dar. Dennoch haben wir eine Innovation vor uns, die zwar nicht unmittelbar aus der Medizinischen Fakultät erwuchs, indes einen aufschlussreichen Blick auf die Situation der Medizin in Rostock zu Beginn des 16. Jahrhunderts selbst zulässt.2 So lohnt es sich, im Rahmen dieses Aufsatzes den Weg des Textes nach Mecklenburg nachzuzeichnen und die beiden Fragen zu stellen und zu beantworten, was zu Beginn des 16. Jahrhunderts einen Rechtsprofessor bewegen konnte, einen medizinischen Text zu publizieren, und welchen Stellenwert diesem gelehrten Ereignis im europäischen Rahmen zukommt.

Die Herkunft der physiologisch-­anatomischen Abhandlung Auf der Suche nach Entstehungsort und Entstehungszeit des anatomischen Textes verweist die Historiographie auf Bologna zu Beginn des 14. Jahrhunderts. An dieser renommierten Universität hat um 1315 der Medizinlehrer Mondino dei Liuzzi (ca. 1270 – 1326) im Rahmen einer Anatomievorlesung den Text präsentiert. Die Tatsache, dass ein anatomischer Text zu diesem Zeitpunkt an einer europäischen Universität vorgetragen wurde, spricht zweierlei Zusammenhänge an. Zum einen steht diesem Hinweis auf eine mittelalterliche Anatomie zu Beginn des 14. Jahrhunderts das persistierende Vorurteil entgegen, dem zufolge im Mittelalter keine anatomische Unterweisung stattgefunden habe, bei der Leichen zergliedert worden sind. Dafür wird ein vermeintliches Verbot der Kirche, die Bulle Detestandae feritatis des Papstes Bonifaz VIII . vom 27. September 1299 verantwortlich gemacht. Demnach war eine solche Zerlegung von menschlichen Körpern untersagt, allerdings nicht aus religiösen, sondern aus ethischen Gründen.3 Bei der Umsetzung der kurialen Festlegung muss man allerdings die oberitalienische von der Situation nördlich der Alpen unterscheiden. Während die oberitalienische Situation sehr viel stärker das Erbe der Medizinschule von Salerno angetreten hatte, dabei eine invasiv-­schneidende Technik, wie sie die Chirurgie verlangte, nicht aus der Medizin entlassen worden war, somit eine Trennung der Chirurgie von der Medizin nicht vollzogen wurde, und der Einfluss

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Die Rostocker Mondino-­Ausgabe im europäischen Kontext

Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

Abb. 1  Titelblatt von Mvndini, paduani, de omnibus corporis humani membris interioribus, anatomia, cum figuris faberrimis, non solum medicis, sed philosophantib[us] etia[m] omnibus utilissima. Nikolaus Marschalk, Rostock 1514.

der Theologie auf den medizinischen Unterricht vergleichsweise unbedeutend war – das gilt im Übrigen auch für Montpellier –, haben wir in Paris als dem Modell für die nordeuropäischen Universitätsgründungen ein sehr viel stärker zu Buche schlagendes Gewicht der Theologischen Fakultät vor uns. Dies ging so weit, dass die Pariser Lehrer der Medizin niedere Kleriker waren und ihnen somit nicht nur das Vergießen von Blut und damit die gesamte Chirurgie zu lehren und auszuüben verboten war,4 sondern dies auch für das Auskochen und Zergliedern von Leichen gelten sollte. Auch für die Situation in Rostock um 1514 gilt die Anbindung der Universitätslehrer an das niedere Klerikertum. Während sich das Verbot des Auskochens primär auf die Praxis der Kreuzritter bezog, die, im Heiligen Land gefallen, oft genug den Wunsch hatten, ihre sterblichen Überreste im geweihten Boden der Heimat beisetzen zu lassen, hatte der Papst noch eine andere ethische Frage vor Augen, die er gern lösen wollte. Es ging um die christliche Gepflogenheit, die Zahl der Fürsprachen nach dem Tode zu erhöhen, indem der Leichnam in einzelne Teile zerlegt wurde – etwa das Herz und die Eingeweide vom übrigen Körper getrennt wurden –, um ihnen gesondert und an verschiedenen religiös bedeutenden Orten eine letzte Ruhe zu bieten. Wir haben es hier also mit einem Ausdruck gesteigerter Religiosität und einem Zeichen für eine Angst vor dem, was nach dem Tod kommt, zu tun, die Bonifaz mit seiner Bulle Detestandae feritatis regulieren wollte. Auszugehen ist indes davon, dass diese Forderung der Kurie Folgen für den anatomischen Unterricht und die Zergliederungspraxis genau dort hatte, wo das ausführende Personal diesen Forderungen unterstand. Und es gibt tatsächlich auch Hinweise auf eine Zurückhaltung gegenüber der anatomischen Sektion in Paris. Sie ist dort nicht vor 1478 das erste Mal durchgeführt worden. Wir wissen heute, dass die Mondino-­Rezeption in Italien besonders ausgeprägt gewesen ist. Nachweisen lässt sich im Verlauf des 15. Jahrhunderts und nach Erfindung des Buchdrucks eine Reihe von Drucken in lateinischer und italienischer Sprache, denen der bisher nur handschriftliche und auf zwei Sektionen zurückgehende Text des Mondino von 1315/16 zugrunde gelegt worden ist. Die erste Veröffentlichung kam 1476 in der Offizin des Petrus Maufer in Padua zustande. Von dieser einen Drucklegung bis zum Erscheinen der Rostocker Ausgabe des Mondino-­Textes werden zwei Überlieferungsstränge sichtbar. Den einen, älteren Strang kann man als eine Folge von Einzelveröffentlichungen des anatomischen Textes in Analogie zur Maufer-­Ausgabe von 1476 beschreiben, an deren Endpunkt eine venezianische Ausgabe aus dem Jahre 1580 stehen wird.5 Diese Ausgabenfolge trug, in zunehmender Weise begleitet von Kommentaren wie denen des Lehrers der Medizin

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und Chirurgie in Bologna, Berengario da Carpi, mit mehr als 500 Seiten aus dem Jahr 1521, dazu bei, dass bis zum Erscheinen von Andreas Vesals De corporis humani fabrica von 15436 der Text von Mondino der einflussreichste anatomische Text blieb. Warum das so war, darauf wird weiter unten eingegangen. In einem zweiten Überlieferungsstrang findet sich der anatomische Text des Mondino eingebettet in einen größeren textlichen Zusammenhang wieder. Diese zu Lehrzwecken hergestellte Sammlung von medizinischen Texten, zu der nun auch der Mondino-­Text gehörte, erschien das erste Mal unter dem Titel Fasciculus medicinae eines Autors mit dem Namen Johannes von Ketham, über den nichts weiter bekannt ist, in Venedig am Ende des 15. Jahrhunderts im Druck. Dieser medizinischen Textsammlung des 14. und 15. Jahrhunderts wurde nicht die Wirkung der Articella zuteil, heißt es in der Forschung.7 Diese Einschätzung ist zweifellos richtig, wenn man auf den medizinischen Lehrbetrieb an Universitäten schaut. Hat man aber die allgemeine Verbreitung anatomischen Wissens im Blick, dann wird man feststellen, dass interessanterweise zwei Ausgaben kurz hintereinander in Italien zum Druck gebracht worden sind. Einer lateinischen Ausgabe von 1491 in der venezianischen Offizin der Brüder Johannes und Gregorius de Gregoriis folgte schon zwei Jahre später eine von Sebastiano Manilio angefertigte landessprachliche italienische Version.8 Allen diesen frühen Drucken des Mondino-­Textes sind – allerdings in unterschiedlichem Maße – von Anfang an Abbildungen beigegeben worden, die allerdings von Ausgabe zu Ausgabe in Anzahl, Sujet und Qualität variierten. Eine immer wieder auftauchende, gleichsam zur Überlieferung dazugehörende Darstellung bildet die einer anatomischen Lehrunterweisung, wo der Professor von einer Kathedra, einer Lehrkanzel, herunter einen anatomischen Text vorträgt, während vor ihm unterschiedliche Personen, zum Teil aktiv, zum Teil passiv, an dieser akademischen Veranstaltung teilnehmen. Neben Studierenden und Vertretern des Lehrkörpers werden immer wieder neben dem lector ein ostensor abgebildet, der die vom lector aus einem Buch vorgetragenen anatomischen Sachverhalte in die Landessprache übersetzte, um den sector – den eigentlichen Zergliederer – zu instruieren, welche anatomischen Teile des Körpers er vorweisen soll. Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, dass die Stereotypie dieser Darstellungsweise auf ein akademisches Ritual verweist, das die Voraussetzung dieser anatomischen Unterweisung bildete, war man sich doch der ethischen Brisanz des Vorganges wohl bewusst.9 Klar machen muss man sich allerdings, dass es bei diesen Unterweisungen nicht um die Entdeckung von neuen Zusammenhängen am menschlichen Körper ging, war doch bekannt, dass Galen seinen Ausführungen Schweine- und Affenanatomie zugrunde gelegt hatte. Das Ziel der Magistri bestand vielmehr darin, einer neuen Generation von Ärzten Wissen weiterzugeben, das möglichst auf antike ärztliche Autoritäten zurückgeführt werden konnte, solide und unbestreitbar war.10 Die Frage nach einer kritischen Überwindung dieses Wissens wurde in diesem Kontext nicht gestellt.11 Unter den sechs in der Rostocker Universitätsbibliothek überlieferten Blättern des Rostocker Druckes ist diese Abbildung nur beschädigt überliefert. Ein Vergleich mit Mondino-­Ausgaben, die in Leipzig,12 Straßburg,13 Venedig 14 und Marburg 15 hergestellt worden sind, mit den italienischen Drucken und dem Rostocker Druck zeigt klar, dass sich der Rostocker Druck von seiner ikonographischen Anlage her in die in Oberitalien begründete Tradition stellen wollte, auch wenn gerade das Rostocker Titelblatt in der Forschung als „grotesque“ 16 oder „an entertaining and amazingly clumsy caricature of the beautiful figure in the 1493 Fasciculo“ 17 qualifiziert worden ist. Marschalk hatte nicht nur durch die Aufgabe der gotischen Schrift und den Gebrauch der Antiqua, sondern vor allem durch die Übernahme der Anatomieszene aus den italienischen Fasciculus-­ Ausgaben des späten 15. Jahrhunderts in seinen Rostocker Einzeldruck von Mondinos

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Abb. 2  Brust- und Bauchsitus, in: Mvndini, paduani, de omnibus corporis humani membris interioribus, anatomia, cum figuris faberrimis, non solum medicis, sed philosophantib[us] etia[m] omnibus utilissima. Nikolaus Marschalk, Rostock 1514, Bl. 7r.

anatomischer Schrift diesen wichtigen Schritt der Verknüpfung zweier Traditionen getan. Denn die anderen der eben aufgezählten, eben dieser italienischen Tradition nicht anhängenden Drucke arbeiten mit deutlich anderen Titelbildern, die auf eine eigene Bildtradition verweisen.18 Damit stellt Marschalk einerseits die kulturelle Zugehörigkeit und seine humanistische Intention in besonderer Weise heraus, andererseits gibt er durch die Verknüpfung der aus dem Fasciculus medicinae herausgelösten Abbildungsvorlage mit der Überlieferung des Mondino-­Textes als Einzelpublikation seiner Ausgabe ein ganz besonderes Gepräge. Ob nun Marschalk aus eigener Einfallslosigkeit die oberitalienische Anatomieszene einfach übernahm oder der Holzschneider auf die Schaffung einer eigenen Bildtradition verzichtet hat oder verzichten musste, bleiben zwar offene, aber nicht völlig unbeantwortbare Fragen. Denn in der Rostocker Ausgabe geschieht etwas Überraschendes. Marschalk belässt es nicht bei der Wiedergabe der bereits bekannten anatomischen Unterweisungsszene, sondern fügt weitere Abbildungen hinzu, die den Rostocker Mondino nicht nur illustrieren und innovativ werden lassen, sondern ihm auch eine prominente Stellung innerhalb der humanistischen Anatomietradition um 1500 zuweisen. Denn auch wenn die Übernahme der anatomischen Vorlesungssituation auf dem Titelblatt klar in die italienische Tradition gehört, so gibt es weitere Abbildungen im Rostocker Druck, die sich einer derartigen strikten Zuordnung verweigern. Hierbei lassen sich verschiedene Strategien unterscheiden. Zum einen macht Marschalk Anleihen bei anderen Texten und deren Abbildungen wie beispielsweise der Anthropologia des Magnus Hundt von 1501, die nur bedingt in einer anatomischen Tradition steht (Abb. 2);19 er lässt aber auch die Schaffung neuer Abbildungen für die Rostocker Textausgabe durch seinen Stecher zu. Dass eine unter den Abbildungen besonders deutlich auf die neu gewonnenen intellektuellen Freiheiten von Neugier und Selbstsehen (Autopsie), wie sie sich als Wissenschaftshaltungen an den oberitalienischen Universitäten mindestens 100 Jahre vor der Situation nördlich der Alpen herausgebildet haben, verweist, darauf habe ich schon an anderer Stelle ausführlich aufmerksam machen können.20 Das demonstrieren die beiden Figuren, die sich gegenseitig voller Freude die präparierten Muskelschichten ihrer eigenen Abdomina „vor Augen“ führen, besonders klar (Abb. 3),21 und die nichts anderes verdeutlichen sollen als die neugierig gewordenen Adam und Eva.22 Darüber hinaus sind weitere Abbildungen nur für den Rostocker Druck geschaffen worden, die auf sehr unterschiedliche Interessen Marschalks verweisen, über dessen Ausbildung und perigrinatio academica verhältnismäßig wenig bekannt ist.23

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Der Werdegang von Nikolaus Marschalk Nachweisbar ist er zunächst an der Universität von Erfurt, an der er studiert und den Zunamen Thuringus, aus Thüringen stammend, erhält. Dann ist seine Spur für einige weitere Jahre verwischt. Einige Biographen nehmen eine akademische Studienreise nach Löwen an. Greifbar wird er erst wieder in dem Moment, als er Erfurt in Richtung Norden verlässt. Sein Weg nach Rostock führt ihn über Wittenberg, wo er zu einem der Gründungsprofessoren der Universität wird, sich hier aber bald mit scholastischen Kollegen überwirft. In Erfurt, Löwen oder Wittenberg könnte er Drucke des Mondino-­Textes kennengelernt haben. In Mecklenburg angekommen avanciert er nicht gleich zum Professor der Universität. Zunächst erhält er eine Anstellung am Hof in Schwerin als herzoglicher Rat und als mecklenburgischer Gesandter in Hamburg, Lübeck und Dänemark. Später wird der herausgehobenen Position bei Hofe die des Hofhistoriographen hinzugefügt. Erst von dort aus setzt ihn der Herzog auf eine außerordentliche, von ihm finanzierte Professur beider Rechte. Geschichte wird – das sei zur systematischen Einordnung seiner Aufgaben gesagt – zu diesem historischen Moment im Rahmen der Ausbildung von Juristen gelehrt und ist noch kein selbstständiges akademisches Fach. Was den Herzog an diesem Gelehrten so imponierte, war seine damals moderne humanistische Gesinnung und Haltung, und man kann sich vorstellen, dass Marschalk den Verpflichtungen eines niederen Klerikers kaum mehr nachkommen musste. In diesem Rahmen muss festgehalten werden, dass Marschalk in Rostock nicht nur Vorlesungen – wie gerade erwähnt – zum Kanonischen und Zivilrecht als auch über das durch die ständische Struktur Mecklenburgs schon früh herausgebildete Lehnsrecht hielt, sondern heute als Wegbereiter der mecklenburgischen Geschichtsschreibung gilt. Ganz besonders hervorzuheben ist sein Engagement für die Altertumskunde – er bezog die griechische Sprache und Literatur in den akademischen Unterricht ein und widmete sich hebräischen Studien – und eben sein Interesse an dem anatomischen Text des Mondino aus dem Jahr 1315/16, das sich nur aus seinem humanistischen Anliegen heraus verstehen lässt. Matthias Asche nennt ihn einen „Bahnbrecher des Rostocker Humanismus“.24 Wie fließend die Grenzen der Fächer und Wissensbestände waren – weitab von allen modernen disziplinären Strukturen – zeigt

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Abb. 3  ‚Die neugierig gewordenen Adam und Eva‘, in: Mvndini, paduani, de omnibus corporis humani membris interioribus, anatomia, cum figuris faberrimis, non solum medicis, sed philosophantib[us] etia[m] omnibus utilissima. Nikolaus Marschalk, Rostock 1514, Bl. 4v.

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das Angebot des Herzogs vom Jahr 1522, gegen eine Erhöhung der Besoldung über das Neue Testament griechisch und hebräisch zu lesen,25 das aber aufgrund mangelnder finanzieller Voraussetzungen nicht zustande kam. Im Vorlesungsverzeichnis von 1520 offeriert er neben Collegia zum Zivilrecht auch naturkundliche Vorträge über die Fische und Wassertiere,26 wozu er im gleichen Jahr eine wiederum mit Abbildungen versehene Monographie vorgelegt hatte.27 Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang, wenn von seinen breiten Interessen und seiner stupenden Gelehrsamkeit die Rede ist, dass er mit seinen auf die Zeit um 1510 datierten Ausgrabungen von mecklenburgischen Megalithgräbern vermutlich die ersten archäologischen Grabungen Deutschlands durchführte, von denen der spätere schwedische Reformator Olav Petri als junger Student zu eigenen archäologischen Grabungen in Schweden angeregt wurde, während Marschalk die eigenen Funde zu Spekulationen über Sitten und Bräuche der Wenden in seinen Geschichtswerken führten.28 So lieferte er dem mecklenburgischen Herrscherhaus auf der Grundlage humanistisch-­ kritischer Methoden eine Genealogie mit einem Helden Antyrius als ältestem Ahnen, der angeblich ein Offizier von Alexander dem Großen gewesen war. Erfolgreich kann dieses „Kontinuitätsnarrativ“ gegenüber der Anschauung seines Rostocker Kollegen Albert Krantz genannt werden durch eine Verbindung von „Etymologien und Herkunftserzählungen mit dem Erfahrungshorizont und Lokalwissen des Lesers, eine alte Regel, um den Status einer jungen Nation zu legitimieren.“ 29

Der Text des Mondino Interessant ist nun, sich Aufbau und Inhalt der Rostocker Mondino-­Ausgabe genauer anzusehen, um dabei einerseits Einblicke in den Inhalt dieser Schrift zu erhalten, andererseits Unterschiede zu anderen Drucken wahrnehmen zu können. Zunächst gibt Mondino an, dass er mit der mittelalterlichen, auf der Analogie mit dem Tier basierenden Anatomie von Salerno und Bologna Schluss machen und Menschliche Anatomie betreiben wolle.30 Der venezianische Senat hatte 1308 Bologna die Erlaubnis für eine Sektion eines menschlichen Leichnams pro Jahr gegeben. Nachdem Mondino, Sohn eines Bologneser Apothekers, schon eine Zergliederung 1306 vorgenommen hatte, sind die ersten überlieferten öffentlichen Anatomien in diesem Rahmen diejenigen an zwei weiblichen Leichen von 1315.31 Nutton geht von einem hingerichteten Verbrecher aus.32 Mondino selbst spricht in seinem Text von den Körpern von geköpften und aufgehängten Personen, die ihm für seinen Unterricht gedient haben.33 Wenn er also in diesem Bereich mit der Forderung nach einer Untersuchung gerade des menschlichen Körpers anstrebte, ein Neuerer zu sein, ist die Frage zulässig, inwieweit er sich bei der Umsetzung des Unterfangens noch ganz in der medizinischen gelehrten Tradition des späten Mittelalters befangen fand. So ist seine Anatomie eine physiologische Anatomie, die neben dem Aufbau des Körpers und seiner Teile auch immer nach ihrer Funktion fragt und damit in ganz positiver Weise in galenischer Tradition steht und die seit Galen maßgebliche Tradition wiedergibt. Schaut man auf seinen Wissenshintergrund, so kommt Galens physiologisches Hauptwerk De usu partium, das allerdings zu dieser Zeit in einer sehr abgekürzten lateinischen Version als De juvamentis membrorum zugänglich war, wie sie als Übersetzung aus dem Arabischen des Hunain ibn Isḥāq (809 – 873) seit dem 12. Jahrhundert in Westeuropa zirkulierte,34 in Betracht. Diese den galenischen Text sehr vereinfachende Version blieb bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts von großer Bedeutung, und obgleich Niccolò da Reggio (um 1280–um 1350) eine komplette lateinische Version des – soweit rekonstruierbar – ursprünglichen

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galenischen Textes bereits 1317 abgeschlossen hatte,35 hatte der Inhalt von De juvamentis membrorum noch lange Bestand. Es ging hier ganz offenbar um Galens methodisches Vorgehen und Beispiel und nicht um seinen umfänglichen Text selbst, dessen Inhalt beispielgebend sein sollte.36 Ein Rahmen sollte bestimmt werden, innerhalb dessen die anatomische Exploration stattfinden konnte und der sich mit der Nennung der Namen und der Anzahl der Körperteile nicht mehr zufrieden geben wollte, wie sie noch bei Isidor von Sevilla (um 570 – 636), aber auch bei Avicenna (um 980 – 1037) selbst anzutreffen waren.37 Daneben basiert der Mondino-­Text auf dem ersten und vierten fen des Kanons der Medizin von Avicenna und auf anderen Werken Galens, auf Schriften von Hali Abbas, Averroes und weiteren Autoren. Ganz in galenischer Tradition ist für Mondino die Leber das wichtigste Organ. Zu ihr gelangen nach verschiedenen Reinigungsprozessen, die als Ausscheidungen über Darm und Blase beobachtet werden können, die feinsten Bestandteile der Nahrung, woraus der spiritus naturalis gebildet wird, der allen Lebewesen eigen ist und die Vorgänge der Ernährung und Reproduktion im Körper unterhält.38 Dieser spiritus naturalis wird dann mit dem Blut ins rechte Herz, von wo er im Körper verteilt wird, transportiert. Ein Teil des Blutes erreicht über nicht sichtbare Löcher in der Scheidewand zwischen rechtem und linkem Herz das linke Herz, wo aus dem spiritus naturalis in der Begegnung mit der Atemluft als Trägerin der göttlichen anima universalis, die durch die Luftröhre hinzugebracht wird, das Lebenspneuma, der spiritus vitalis, hervorgeht.39 Aufgrund dieser mit einer großen Wärmeentwicklung vorgestellten Verbindung von natürlichem Pneuma und Außenluft gilt das Herz als der wärmste Ort im Körper. Die Lunge hat lediglich die Aufgabe der Kühlung. Dieser zweite Spiritus wird durch das arterielle System im Körper verteilt, hält die Lebensprozesse aufrecht und vermittelt über einen hier gebildeten dritten spiritus im Kopf Denken und Empfinden.40 Wir haben es also ganz klar mit einem zweiteiligen, über das Herz verbundenen, zentrifugalen Blutbewegungssystem zu tun. Das venöse System transportiert den spiritus naturalis und das Blut in die Peripherie, während der arterielle Teil für die Verteilung des spiritus vitalis Sorge trägt. Mondino verweist auch auf das rete mirabile an der Hirnbasis,41 das seit Galen allerdings nur bei Kälbern beobachtet worden war. Bei der Beschreibung der Hirnanatomie unterscheidet er drei Ventrikel, deren Lage Marschalk in seiner Ausgabe sogar mit einer kleinen Zeichnung verdeutlicht, und gibt auch die Orte im Gehirn an, wo sich Erinnerungsvermögen, Phantasie, Einbildungsvermögen und Erkenntnis befinden sollen.42 Die Eierstöcke sind für ihn weibliche Hoden, und er hält sie für Sekretionsorgane,43 was besser nachvollziehbar wird, wenn man die aristotelische Tradition zugrunde legt, der zufolge beide Geschlechter Samen bilden.44 Der Uterus hat sieben Kammern.45 Man könnte den Eindruck haben, dass Mondinos Haltung zur galenischen Vorlage recht scholastisch-­unkritisch war. Das mag als Gesamteindruck stimmen, wenn es auch einige Hinweise auf Zweifel gibt. Einer soll hier Erwähnung finden. Oft werden in der medizinhistorischen Literatur die von Mondino erwähnten fünf Lappen der Leber aufgeführt, um auf eine solche unkritische Haltung aufmerksam zu machen.46 Schaut man indes genauer hin, stimmt das nicht ganz. Sicher, er spricht von den fünf Lappen, setzt aber hinzu, dass sie beim Menschen nicht immer deutlich voneinander getrennt sind, licet in homine non semp[er] sint ad inuicẽ separate. Andererseits hält er alle Hinweise für die arabische Überlieferung dieses Textes sichtbar, wenn er weiterhin für abdomen Mirach (auch: Myrach), für peritoneum Cyphach und für omentum Xirbus verwendet.47

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Das Verhältnis von Abbildung und Text in der Rostocker Ausgabe Die eben erwähnte kleine Abbildung zur Lage der Hirnventrikel bringt uns der Frage des Verhältnisses von Abbildung und Text näher. Neben sechs ganzseitigen Abbildungen, Titelund Schlussblatt nicht mitgezählt, enthält der Text 13 kleinere Skizzen zu Organen und deren Aufbau (Magen, Milz, Leber, Niere, Gebärmutter, Knochen des Brustkorbs, Herz, Lunge, Schädel, Hirnventrikel, Auge, Wirbelsäule). Dieses Bemühen Marschalks um Anschaulichkeit ist ein ganz besonderes Merkmal der Rostocker Mondino-­Ausgabe, das in späteren Ausgaben wie der schon erwähnten des Berengario da Carpi von 1521 und in der 1541 in Marburg von Johannes Dryander (1500 – 1560) besorgten Ausgabe weiter ausgebaut wird.48 Darüber hinaus versucht Marschalk, den Text selbst sowie seine Lesbarkeit zu verbessern. So fügt er seinem Mondino textliche Ergänzungen aus der gerade ein Jahr zuvor in Straßburg erschienenen Ausgabe von Johannes Adelphus hinzu,49 die er als Additio Adelphi kennzeichnet, während er den von Adelphus als Frontispiz abgebildeten Aderlassmann mit Tierkreiszeichen nicht übernimmt. Auch dieser Neuerung textlicher Hinzufügungen wird bei folgenden Ausgaben gefolgt. Dryander arbeitet 27 Jahre später bereits mit Fußnoten, um seine eigenen Erkenntnisse und Bemerkungen, bei denen es vor allem um die Korrektur ungenau zitierter Autoren wie Galen geht, von dem Mondino-­Text deutlich abzuheben. Darüber hinaus hat Marschalk dem Text eine Erschließungshilfe beigegeben durch das Aufführen wichtiger Begriffe am äußeren Rand der Seiten. Dabei kann sein Streben nach Innovation auch recht unerwartete Früchte tragen. So findet sich zu Beginn des Kapitels über den Arm und die Hand auf Bl. 36v die Abbildung einer Handinnenseite mit chiromantischen Zeichen.50 Abschließend noch eine Bemerkung zu dem akademischen Gebrauch des Textes in den Lehrveranstaltungen. Direkte Spuren dazu gibt es nicht. Aber es gibt Hinweise, die die Verwendung des Rostocker Mondino in der Lehre wahrscheinlich machen. Sicherlich, er taucht im Vorlesungsprogramm von 1520 nicht auf, aber Marschalk las – das wurde bereits oben erwähnt – jenseits seiner juristischen Vorlesungsverpflichtungen in diesem Jahr über naturkundliche Themen und stellte die Ergebnisse seiner Beschäftigung mit den Wassertieren vor, die im gleichen Jahr als Buch erschienen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, sich vorzustellen, dass er auch 1514, und vielleicht auch kurz davor und/oder kurz danach, jedenfalls in der Vorbereitungs- und Druckphase seiner Mondino-­Ausgabe auch vor den Rostocker Studenten über die Physiologie und Anatomie des Menschen gesprochen hat. Dazu gibt es zwei nicht ungewichtige Indizien. Das eine Indiz kann aus der Tatsache abgeleitet werden, dass sein Kollege in der Medizinischen Fakultät Rhembertus Giltzheim 51 selbst humanistische Projekte verfolgte, wie die Publikation der Hippokratischen Aphorismen im Jahr 1519 bei Ludwig Dietz zeigt.52 Auch davon ist in dem Vorlesungsprogramm von 1520 keine Rede. Das zweite Indiz wiegt noch stärker. Auf dem Titelblatt formuliert Marschalk, dass der Mondino-­Text nicht nur für die Ärzte (non solum medicis), sondern auch für alle diejenigen, die neben ihrer praktischen Arbeit in humanistischer Weise auch über die Zusammenhänge der Dinge nachdenken (sed philosophantib[us] etia[m] omnibus), gedacht ist und Gewinn verspricht. Ob er bei diesen recht wahrscheinlichen Vorlesungen des Mondino-­Textes selbst anatomische Unterweisungen an der Leiche, wie sie auf der Rückseite des Titelblattes auch der Rostocker Ausgabe suggeriert wird, durchgeführt hat oder durchführen ließ, dafür gibt es keinerlei Hinweise. Laut der ältesten Fakultätsstatuten gehörte die anatomische Unterweisung zu den Lehraufgaben der Medizinischen Fakultät von Anfang an.53

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Fazit Die durch den Rostocker Rechtsprofessor Nikolaus Marschalk hergestellte und veröffentlichte Fassung eines physiologisch-­anatomischen Textes am Beginn des 14. Jahrhunderts stellt eine ganz herausragende Leistung am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit dar. In humanistischer Tradition ergänzt Marschalk seinen Text sowohl durch Texte anderer Autoren als auch durch eine Vielzahl von Abbildungen mit dem Ziel, Wissen sinnvoll zu verbreiten. Dabei kann sein Umgang mit der Vorlage als durchaus zuverlässig bezeichnet werden: Auf der einen Seite bezeugt er dem Text seine Treue, auf der anderen Seite versucht er durch Schriftwahl, optische Gliederung des Textes in Kapitel sowie durch die Abbildungen dem Leser entgegenzukommen und das Textverständnis zu steigern. Diese Rostocker Rezeption eines oberitalienischen Textes zeigt eine deutliche Nord-­Süd-­Beziehung im europäischen Universitätswesen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, wohingegen bisher immer der Abhängigkeit der nördlich der Alpen entstandenen Hochschulen von der Pariser Universität betont wurde. Dazu passt auch der Hinweis auf die recht späte Aufnahme der anatomischen Tradition Oberitaliens an der Seine im Jahr 1532, als dort erstmalig der Mondino-­Text, allerdings in französischer Übersetzung und speziell für die Chirurgen, erscheint.54 Marschalk legt mit dieser kulturellen Leistung den Grundstein für eine Rostocker Tradition, die in der zweiten Hälfte des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihren anatomisch-­physiologischen Höhepunkt finden wird 55 und mit Namen wie Jacob Bording (1511 – 1560), Levinus Battus (1545 – 1591) und Simon Pauli (1604 – 1680) verbunden ist.56

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Ein vollständiges Exemplar des gesamten Textes konnte ich in der Königlichen Bibliothek von Kopenhagen ausfindig machen, die so freundlich war, mir eine Arbeitskopie der Ausgabe zu überlassen und mir diese Studie ermöglicht hat, und der ich an dieser Stelle noch einmal danken möchte. Schirrmeister 2009. Carlino 1999, S. 182 – 184. Wickersheimer 1910; Baader 1968. Haeser 1845, S. 233. Darüber hinaus ist eine Reihe von Handschriften des Textes aus den Jahren 1319, 1377, und 1484 bekannt, die für das Interesse an dem Gegenstand spricht. Baader 1982, S. 378. In Andreas Vesals De corporis humani fabrica waren in Auseinandersetzung mit dem inhaltlichen und methodischen Erbe Galens das erste Mal ausschließlich humananatomische Beobachtungen zusammengetragen worden. Vgl. Harig 1985. Baader 1982, S. 378. Carlino 1999, S. 10 – 14. ND Fasciculo de Medicina, Venedig 1494, hrsg. von Enzo Bottasso, Turin 1967. Carlino 1999. Ebd., S. 181. Agrimi/Crisciani 1988, S. 202 f. Anathomia Mūdini Emēdata p doctorē melerstat. Martin Landsberg, Leipzig [um 1493]. Mundinus De omnibus humani corporis interioribus menbris [sic] Anathomia, hrsg. von Johannes Adelphus. Martin Flach, [Straßburg] [1513].

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Anathomia Mondini 1507. Anatomia Mvndini, ad vestvstissimorum, ervndemque aliquot manu scriptorum, codicum fidem collata, iustoq̄; suo ordine restituta, hrsg. von Johannes Dryander (1500 – 1560). Christian Egenolph, Marburg 1541. Carlino 1999, S. 14. Singer 1925, S. 56 und 73. Lammel 2009, S. 258, wo neben der oberitalienischen an einer Leipziger und einer Lyoneser Bildtradition ­festgehalten wird. Hundt 1501. Lammel 2007. Mvndini, paduani, de omnibus […] 1514, Bl. 4r. Wiederabgedruckt bei Lammel 2009, S. 263. Diese Darstellung von Neugier hat eine lange, nicht nur anatomische Tradition und lässt sich bis zu Giambattista Della Porta: De humana physiognomia. Torquinius Longus (Neapel 1602, S. 40) weiterverfolgen. Weitere bibliographische Angaben zur Biographie Marschalks bei ­Lammel 2009, S. 269, Anm. 40. Asche 2010, S. 118. Marschalk begründet damit eine Tradition der Beschäftigung mit dem Hebräischen an der Universität Rostock. Lange 2014. Wagner 2011, S. 26. Marschalk 1520. Asche 2010, S. 118 f. Bollbuck 2012, S. 66; ders. 2010, S. 422 und Demurger 2017, S. 23. Mvndini, paduani, de omnibus […] 1514, Bl. 2r. Haeser 1845, S. 232.

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Nutton 2005, S. 177. Mvndini, paduani, de omnibus […] 1514, Bl. 2r. Carlino 1999, S. 10. Ebd., Anm. 10; Weiss 1982, S. 114 – 118. French 1979. Nutton 2005, S. 177. Mvndini, paduani, de omnibus […] 1514, Bl. 13r und 24r. Ebd., Bl. 24r. Ebd., Bl. 25r und 31v. Ebd., Bl. 33v. Ebd., Bl. 31v und 32v. Ebd., Bl. 16v und 19v. Lesky 1950, S. 1349 – 1369. Mvndini, paduani, de omnibus […] 1514, Bl. 17r. Haeser 1845, S. 233. Hyrtl 1879, S. 177, 179, 182 und 184; D’Anzi 2012. Dryander 1541. Mvndini, paduani, de omnibus […] 1514, Bl. 23r, 28r, 32r, 33v, 35v, 37v und passim. Kodera 2010, S. 251 – 273. Lisch 1838, S. 64 – 68. Lammel 2007, S. 25 – 28. Für diese Auskunft danke ich Frau Dr. Susi-­Hilde Michael (Rostock), die eine Publikation der ältesten Statuten der Rostocker Medizinischen Fakultät für den Druck vorbereitet, sehr herzlich. [Mondino dei Liuzzi] 1532: Cy est Lanathomie. Wegner 1917, S. 48 – 80. Nutton 2012, S. 37 f. und Lammel 2018.

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Die Rostocker Mondino-­Ausgabe im europäischen Kontext

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„Gedoppeltes Amt“ und ­„unverdiente Verurtheilung“ Pflichten, Rechte und Probleme des Rostocker Stadtphysikus vom 16. bis zum 19. Jahrhundert Ernst Münch

Wie die Medizinische Fakultät insgesamt, so nahm auch die Funktion des Rostocker Stadtphysikus 1 seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts deutlichere Konturen an. Beide partizipierten am universitären und städtischen Aufschwung und waren zugleich selbst dessen Bestandteil in der Blütezeit der Universität Rostock in jenem Zeitraum.2 Die Formula Concordiae 3 (Abb. 1) verpflichtete 1563 die Stadt expressis verbis zur Unterhaltung und Besoldung eines „Physicus“ oder „Medicus“, der danach spätestens seit 1568 mit Dr. Petrus Memmius nachweisbar ist.4 Für diesen rätlichen Professor der Medizin wurden in der Folgezeit die Konditionen seiner Bestallung durch Bürgermeister und Rat der Stadt Rostock konkretisiert und spätestens im Jahr 1581 anlässlich der Bestallung von Magister Wilhelm Lauremberg als Stadtphysikus und rätlicher Medizinprofessor in einen Text gebracht, der sowohl in seinem inhaltlichen als auch formalen Kerngehalt – wie sich im Verlaufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte herausstellen sollte – bis in das 19. Jahrhundert Bestand hatte.5 Analysiert man diesen Text und seine Veränderungen, zumeist bestehend aus Erweiterungen bzw. Präzisierungen im Laufe der Zeit, so lassen sie durchaus erwartungsgemäß den Charakter der Funktionen und Aufgaben des Stadtphysikus und zugleich rätlichen Medizinprofessors erkennen, der – wie die Amtsinhaber Dr. August Gottlob Weber und Dr. Carl Ernst Theodor Brandenburg in der Endphase des Untersuchungszeitraumes übereinstimmend formulierten – ein „gedoppeltes Amt“ auszuüben hatte.6 Wenn auch die Stadt Rostock in den Jahren 1573 und 1584 in zwei Erbverträgen sich als „erbuntertänig“ gegenüber den mecklenburgischen Herzögen als Landesherren erklären musste, hielten Bürgermeister und Rat gleichwohl hartnäckig an ihren verbliebenen Privilegien und Rechten fest. Das zeigt auch der Bestallungstext für den Stadtphysikus von 1581 mehr als deutlich. Rostock spricht hier ausdrücklich von „vnser Vniversitet“ – ein Anspruch, den die Herzöge ebenfalls erhoben. Erst 1789 – nach neuerlichen schweren und jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zwischen Landesherrschaft und Stadt – lautete die diesbezügliche städtische Formulierung deutlich zurückhaltender und neutraler „in der hiesigen Universitaet“.7 Die Bestallung für Dr. Heinrich Pauli im Jahre 1594 wurde noch mit dem Siegel der Stadt „SECRETUM SENATUS REI PUB [LICAE ] ROSTOCH [IENSIS ]“ 8 versehen: Rostocks Selbstverständnis als „res publica“ war den Herzögen durchaus nicht genehm.9

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Abb. 1  Eigentlicher Abdruck Formulæ Concordiæ, So Anno 1563. den 11. Maij zwischen I.I. F. F. Gn. Gn. denen Hertzogen zu Mecklenburg, &c. &c. Und Einem Ehrbahren Raht der Stadt Rostock wegen der Universität daselbst getroffen (Gedruckt durch Johann Weppling, Hoch-­Fürstl. und Acad. Buchdruckern, Anno M DCC VII).

Hierzu passt auch die Erweiterung bzw. Ergänzung, die 1604 nach dem Ausscheiden von Dr. Heinrich Pauli in der Bestallung für seinen Nachfolger Dr. Johannes Assverus (Abb. 2) vorgenommen wurde. Assverus gehörte übrigens zu einer ganzen Reihe von Professoren und Bürgern in Rostock, die damals aus den Niederlanden stammten. Das betraf u. a. auch die Medizinprofessoren Jacob Bording d. Ä., Peter Memmius – zeitweise ebenfalls Stadtphysikus –, Heinrich Brucaeus und Levin Battus, aber etwa auch den Ratsbarbier bzw. -chirurg Meister Hans Garling von Deventer.10 Bei der Textpassage über die Mitgliedschaft des Stadtphysikus im Konzil der Universität wurde 1604 ausdrücklich auf die Stadt als „Mitpatron“ der Universität abgehoben, verbunden mit der Forderung an den Stadtphysikus, die Rechte und Gerechtigkeiten der Stadt gegenüber der Universität nach Kräften durchzusetzen.11 Auch die in der Bestallung folgenden Aufgaben des Stadtphysikus betrafen ihn als Medizinprofessor an der Universität. War 1581 und 1594 noch relativ knapp von wöchentlich zu haltenden „lectiones“ und „disputiren“ die Rede, so bezog sich der Text seit 1604 auf die Generalvisitation der Universität unter Herzog Ulrich vom 24. März 1599, die offenbar Missstände besonders hinsichtlich der regelmäßigen Lehrtätigkeit der Professoren moniert hatte.12 Erst danach wendet sich der Bestallungstext sozusagen dem zweiten Amt des rätlichen Medizinprofessors, eben dem Stadtphysikat, zu. Als erste Aufgabe wird hier die Aufsicht über die städtische Apotheke – seit 1542 bis noch heute an der Westseite des Mittelmarktes gelegen 13 – thematisiert. Die 1581 und 1594 erhobene Forderung nach wöchentlicher Visitation der Apotheke war wohl etwas hoch gegriffen. Jedenfalls wurde seit 1604 nur noch die monatliche Kontrolle gefordert. Berichte hierüber sollten seitdem nicht nur an die Bürgermeister, sondern alternativ auch an die Weinherren als zuständige Ratsmitglieder gegeben werden. Der folgende Abschnitt des Bestallungstextes betraf die eigentliche ärztliche Versorgung der Bürger durch den Stadtphysikus. Diese sollte weder überteuert stattfinden, noch durch dessen Aufenthalte außerhalb der Stadt oder des Landes versäumt werden. 1604 hielten Bürgermeister und Rat es offenbar für angebracht, dass der Stadtphysikus im Falle seiner Abwesenheit für einen „erfahrenen Doctor“ als Vertreter zu sorgen hatte. Die zeitweilige auswärtige Tätigkeit als Arzt bedurfte zumal der Genehmigung durch den worthabenden Bürgermeister. Bei Unsicherheiten bezüglich der Krankheiten und ihrer Heilung sollte der Stadtphysikus die Hilfe anderer erfahrener Kollegen in Anspruch nehmen. Wenig schmeichelhaft war die Forderung an den Stadtphysikus, beim Einfall der „Pestilentz“ oder anderer „Seuche“ nicht aus der Stadt zu weichen. Immerhin hatten 1565 Dr. Johannes Tunnichäus und Teile seiner Familie ihr Leben durch die Pest verloren. Ebenso erging es ein Jahrhundert später dem Rostocker Stadtphysikus Dr. Johann Jacob Doebelius d. Ä. samt Ehefrau und einem Sohn im Jahre 1684.14 Eine Bestallung an einem anderen Orte war dem Stadtphysikus ohne Wissen und Willen der Stadtobrigkeit nicht erlaubt. 1604 wurde an dieser Stelle der Bestallungstext ergänzt durch die Festlegung, dass sowohl der Stadtphysikus als auch die Stadt einander eine mögliche Kündigung der Bestallung ein halbes Jahr zuvor anzukündigen hätten. Vermutlich war diese Präzisierung nicht zuletzt der damals aktuellen Tatsache geschuldet, dass Heinrich Pauli erst im September 1604 dem Rat mitteilte, dass er bereits zuvor den

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Ruf als Leib- und Hofmedikus durch die dänische Königin Sophia, damals „die reichste Frau Europas“ 15, angenommen hatte, die ihm „erliche und ansehnliche Besoldung“ zusicherte.16 Rostocker Medizinprofessoren waren in jenen Jahrzehnten übrigens geradezu abonniert auf die Leibarztposition am königlich-­dänischen Hofe, so auch später der Sohn von Heinrich Pauli, Simon Pauli der Jüngere, Jacob Fabricius oder Johann Jacob Doebelius. In den Texten der Jahre 1581 und 1594 hatte man die Bestallung zunächst befristet, für Wilhelm Lauremberg auf drei und für Heinrich Pauli lediglich auf ein Jahr. In Wirklichkeit waren beide Stadtphysiki jedoch mehrere Jahre in dieser Funktion tätig. Spätestens 1604 entfiel diese Befristung dann auch aus dem Bestallungstext. Dessen Schluss bildete die Festlegung der Besoldung für den Stadtphysikus. Sie war aus der Apotheke zu zahlen und belief sich 1581 auf 100, seit 1594 auf 200 Gulden jährlich, zahlbar quartalsweise zu 25 bzw. dann 50 Gulden à 24 Schilling lübisch. Hinzu kam eine freie Wohnung. Die Bestallung hatte der Stadtphysikus durch Eid zu beschwören. Rechtsnorm und Rechtsrealität sowie generell Ideal und Wirklichkeit waren und sind jedoch oft oder sogar in der Regel zweierlei. Das trifft auch auf die Situation des Rostocker Stadtphysikus zu. Fast alle oben angeführten Konditionen seiner Bestallung boten im Laufe der Zeit Anlass zu Problemen. Bevor wir uns der Fassung des Bestallungstextes am Ende des Untersuchungszeitraumes zuwenden, die solche Probleme zum Teil aufgriff oder direkt und indirekt widerspiegelte, seien aus dem dazwischenliegenden Zeitraum einige dieser Komplikationen thematisiert. Zunächst zu den Leistungen der Stadt für ihren Stadtphysikus. Freie Wohnung für ihn konnte offenbar nicht immer gewährleistet werden. So erhielten Dr. Joachim Stockmann, Dr. Bernhard Barnstorff und Dr. Wilhelm David Habermann nach dem Wortlaut ihrer Bestallungen von 1640, 1686 und 1706 anstelle einer freien Wohnung jährlich 100 Mark sundisch.17 Magister Wilhelm Lauremberg 18 musste 1582 das von ihm bewohnte Haus in der Steinstraße, die nach einem ehemaligen Eigentümer sogenannte Wampeney, an den Rat der Stadt abtreten, der es anderweitig verwenden wollte.19 Dieser Gebäudekomplex befand sich in exponierter und bester Wohnlage.20 Gleiches galt auch für das von Barnstorff zu Beginn des 18. Jahrhunderts bewohnte Haus ehemals des Buchdruckers Ludwig Dietz am Hopfenmarkt neben der alten Universitätsregentie Roter Löwe 21, das wenig später dem Bau des herzoglichen Palais weichen musste.22 Auf der anderen Seite des Hopfenmarktes neben der Kirche des Heilig-­Geist-­Hospitals besaß Heinrich Pauli Ende des 16. Jahrhunderts ein Wohnhaus, und das Nachbarhaus gehörte Ende des 18. Jahrhundert Christian Ehrenfried Eschenbach.23 Nur wenige Schritte davon entfernt wohnte einige Jahre Eschenbachs Nachfolger als Stadtphysikus, August Gottlob Weber, in der Eselföterstraße.24 Besonders exklusiv war die Wohnung von Johann Jacob Döbel in der Nähe des Rathauses am Mittelmarkt.25 Dort fand 1675 während des Rektorats von Doebelius übrigens jener Tumult statt, in dessen Verlauf eines der beiden großen Universitätszepter beschädigt wurde.26 Auch die Häuser der anderen Stadtphysiki lagen fast ausnahmslos 27 in von der Rostocker Oberschicht bevorzugten Wohngebieten, so bei der Marienkirche, in der Koßfelderstraße und der Großen Mönchenstraße (Abb. 3).28 Da der große Stadtbrand von August 1677 namentlich auch diese Bereiche erfasste, ereilte auch Dr. Johann Bacmeister d. J. mit seinem Haus in der Koßfelderstraße dieses Schicksal.29 Die alte domus medicorum, das Haus der Medizinischen Fakultät in der Breiten Straße 30, bewohnten zeit-

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Abb. 2  Johannes Assuerus Ampzing.

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Abb. 3  Wohnhäuser der Rostocker Stadtphysiki (16. bis 19. Jahrhundert).

weilig Wilhelm Lauremberg und später Johannes Assverus.31 Nach Wilhelm Lauremberg, dem ersten Vertreter seiner später berühmten Rostocker Gelehrtenfamilie, bekleideten noch etliche Angehörige derartiger bekannter Gelehrtenfamilien das Amt eines Rostocker Stadtphysikus, so der Familien Pauli, Bacmeister, Doebelius, Quistorp und Eschenbach. Neben der Behausung spielte selbstverständlich die Besoldung eine wichtige Rolle für die Position des Stadtphysikus, die Ulrike Lemke wohl nicht zu Unrecht als „recht hoch angesehen und auch finanziell einträglich“ bezeichnet hat.32 Die Besoldung des Stadtphysikus, 1581 mit 100 Gulden und ab 1594 mit 200 Gulden angegeben, wurde 1706 auf 150 Gulden und 1716 auf 91 Reichstaler 22 Schilling lübisch festgesetzt.33 Dr. Wilhelm David Habermann empfand sein Salarium 1710 als „wenig“ 34 und klagte – angesichts des sich auch auf Rostock auswirkenden Nordischen Krieges – mehrfach über die verspätete Auszahlung des Quartalbetrages, der seit 1706 nicht mehr aus der Apotheke, sondern aus der Alten Stadtkasse entrichtet wurde. 1762 erhielt Stadtphysikus Dr. Christian Ehrenfried Eschenbach 35 ein Gehalt, das zwischen dem Professor und dem Stadtphysikus unterschied: Für die Professur erhielt Eschenbach 100 Reichstaler in Quartalsraten zu je 25 Reichstaler, für das Physikat einmal jährlich an Johanni 16 Reichstaler.36 Diese 16 Reichstaler als Belohnung für den Stadtphysikus hatte bereits Eschenbachs Vorgänger Johann Bernhard Quistorp 1752 als „gar zu mäßig“ bezeichnet und um eine Erhöhung gebeten.37 Als Eschenbachs Kollege aus der Philosophischen Fakultät, Dr. Jacob Friedrich Rönnberg, 1765 über ein höheres Gehalt verfügte, bat Eschenbach um eine Gehaltserhöhung, verbunden mit dem Hinweis, dass auch die Stadtphysiki anderer mecklenburgischer Städte schon 100 Reichstaler erhielten. Selbst der Rostocker Ratschirurg käme auf

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25 Reichstaler.38 100 Reichstaler erhielt damals beispielsweise auch ein Landphysikus im Hannover’schen.39 Auch die Entschädigung für die „Besichtigungen“ durch den Stadtphysikus und den Stadtchirurgen erschien Eschenbach vier Jahr später in Rostock als so klein wie in keinem anderen Ort.40 1789 setzte dann die nunmehr in zwölf Abschnitte gegliederte Bestallung des neuen Stadtphysikus Dr. August Gottlob Weber (Abb. 4) dessen Gehalt auf 400 Reichstaler meckl. Valeur fest.41 Wenige Jahre später war Weber jedoch auch damit nicht mehr zufrieden. Nachdem der Rat eine von ihm erbetene Gehaltserhöhung zunächst abgelehnt hatte, erhielt Weber dann schließlich 1796 – u. a. durch Intervention von Herzog Friedrich Franz I. – eine Gehaltszulage von 100 Reichstalern.42 Auch Dr. Ludwig Christian Friedrich Wildberg schienen 400 Reichstaler im Jahre 1817 als eine zu geringe Besoldung, ging jedoch drei Jahre später auf diese Bedingung ein, als ihm das Leben in Berlin zu kostspielig geworden war.43 Doch nicht nur die Stadtphysiki kümmerten sich um ihre finanziellen Mittel. Auch die Stadt versuchte, diesbezügliche Probleme bereits im Vorfeld zu klären. So ließ man beispielsweise nach dem Tod von Weber im Jahre 1807 den Rostocker Kaufmann Susemiehl in Leipzig Erkundigungen über die familiäre und finanzielle Situation eines Bewerbers um das Stadtphysikat einholen. Das Ergebnis war aus städtischer Sicht mehr als ernüchternd: Der Bewerber hätte frisch geheiratet, mehrere Kinder und stecke in Schulden. Das rätliche Fazit lautete daher kurz und knapp: „Ergo Er wird zwar kommen, uns aber bald wieder auf die Tasche liegen.“ 44 Man entschied sich daher lieber für einen Kandidaten aus einer bekannten und betuchten Rostocker Familie 45, Dr. Carl Ernst Theodor Brandenburg. Auch im Falle von August Gottlob Weber war ein Rostocker Ratsherr, Dr. Michael Eberhard Prehn, im Vorfeld informiert worden, dass Weber ohne Vermögen sei.46 Angesichts seines wissenschaftlichen Rufes verhinderte dies jedoch nicht dessen Berufung als rätlicher Professor. Bürgermeister und Rat gingen bei der Auswahl des Stadtphysikus offenbar sorgfältig zu Werke, wenn sie aus dem durch die rätlichen Professoren unterbreiteten Dreiervorschlag – eine Ausnahme davon etwa für Bernhard Barnstorff im Jahre 1685 wurde ausdrücklich als solche und daher als ohne Konsequenzen bezeichnet 47 – einen Kandidaten bestimmten. Die Stadtobrigkeit hielt dann auch in der Regel zu ihrem Physikus. Zumeist endete seine Bestallung erst durch dessen Tod, wenn sich nicht für ihn eine andere lukrative Aufgabe fand, so etwa wie für Peter Memmius als herzoglicher Leibarzt oder Stadtphysikus in Lübeck, für Heinrich Pauli am dänischen Hof oder für Wilhelm Lauremberg und Johann Bacmeister den Jüngeren als herzogliche Professoren. Universität und Stadt wurden allerdings selbst im Sinne einer Kündigung aktiv, wenn es sich um konfessionelle Probleme handelte. So entließen sie schließlich Dr. Johannes

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Abb. 4  Silhouette von August Gottlob Weber (Bildunterschrift: Prof. Weber, Rostock).

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Assverus wegen des Kalvinismusvorwurfs.48 Letzterer wurde in jenen Jahren auch dem Rostocker Ratssekretärs und späteren Syndikus Dr. Johannes Albert Gryphius zum Verhängnis, dessen Berufung als Juraprofessor die Universität ebenfalls wegen seines kalvinistischen Glaubens vereitelte.49 Als 1785 ein übereifriger Bewerber sich selbst als möglicher Substitut für den alternden Christian Ehrenfried Eschenbach ins Spiel bringen wollte, bereits auf dessen Ableben spekulierte und auch Eschenbachs rätliche Professorenkollegen selbst ihn drei Jahre später als durch Krankheit geistig und körperlich unbrauchbar einschätzten,50 hielten Bürgermeister und Rat an ihm fest. Allerdings trat sein Tod dann auch bereits kurze Zeit später ein. Das sich hier aus Gründen des biologischen Alters andeutende Problem einer eingeschränkten Wirksamkeit des Stadtphysikus bezog sich – wenn auch aus durchaus anderen Gründen – wiederholt auch auf seine Tätigkeit als Hochschullehrer. Nicht von ungefähr hatte der Text der Bestallung von 1581 und 1594 ausdrücklich und schon am Anfang darauf hingewiesen, was die Fassung seit 1604 mit dem Verweis auf die Generalvisitation der Universität des Jahres 1599 noch verstärkte. Insbesondere die Zahl und Regelmäßigkeit der eigentlich wöchentlich abzuhaltenden Lehrveranstaltungen gab wiederholt Anlass zu Beschwerden. Mitunter lag dies jedoch nicht an den Lehrenden. Als 1765 die Universität Rostock stark unter der Konkurrenz in Bützow litt und ihr generell das Ende drohte, unterrichtete Eschenbach laut eigener Aussage mangels vorhandener Medizinstudenten Hebammen und angehende Chirurgen.51 Dreißig Jahre später – nach dem Ende der Bützower Universität – hatte sich die Situation verändert. Zwar war die Zahl der Medizinstudenten nach wie vor sehr überschaubar. Jedoch die damaligen sechs Studiosi medicinae – unter ihnen immerhin auch ein Rigenser – klagten 1795 beim Herzog über fehlende Medizinvorlesungen.52 Es stellte sich heraus, dass Stadtphysikus Weber in eine Art Streik getreten war, da ihm sein Gehalt als unzulänglich erschien. Der Herzog selbst wies ihn jedoch darauf hin, dass er Lehrveranstaltungen halten müsse, selbst wenn nur zwei Studierende anwesend wären. Ansonsten litten Ansehen und Ruf der Rostocker „Academie“ zu sehr.53 Immerhin setzte sich der Landesherr bei der Stadtobrigkeit für eine Gehaltszulage ein, die dann auch im Folgejahr bewilligt wurde.54 Weber hatte übrigens – nicht ungeschickt – auf seine verstärkte Publikationstätigkeit anstelle der Lehre aufmerksam gemacht, die nach seiner Meinung dem Ruf der „Academie“ nicht weniger zuträglich wäre als der „Kathederfleiß“.55 Diese Vorgänge um den rätlichen Professor und Rostocker Stadtphysikus Weber sind übrigens ein Indiz für das starke Interesse und offenbar auch den wachsenden Einfluss von Herzog Friedrich Franz I. bezüglich der Universität, die man damals – vermutlich nicht ohne Grund – gelegentlich mit seinem Namen als „Academia Friederico-­Francisca“ zierte.56 Aus heutiger Sicht ist es wahrscheinlich nicht zu bedauern, dass diese Namensgebung sich ebenso wenig durchsetzte wie die Wiederholung dieses Versuches durch Otto Krabbe anlässlich des Baus des Universitäts(haupt) gebäudes in den Jahren 1866 bis 1870.57 Um mangelhafte bzw. verweigerte Einkünfte ging es u. a. auch, als die Stadt im Jahre 1809 klagte, dass die Medizinische Fakultät Schwierigkeiten bereitete, den neuen Rostocker Stadtphysikus und Medizinprofessor Carl Ernst Theodor Brandenburg als ordentliches Mitglied aufzunehmen. Der Senior des Zweiten Quartiers des Hundertmännerkollegiums, der damaligen Vertretung der Rostocker Bürgerschaft, Peter Schomann, verband diese Klage mit einem Seitenhieb auf Hofrat Samuel Gottlieb Vogel, der seinen Sommer in Doberan zubringe, keinen Anteil an der Fakultätsarbeit nähme und auch im Winter noch verreise.58 Eine ähnliche Kritik äußerte damals auch Vogels Erzfeind Samuel Gottlieb Lange als rätlicher Theologieprofessor.59

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Professorengezänk gab es auch unter den Mitgliedern der Medizinischen Fakultät selbst und wurde mitunter öffentlich ausgetragen. So stritten sich 1794 August Gottlob Weber und sein Fakultätskollege Adolph Friedrich Nolde z. B. in Gestalt gedruckter öffentlicher Erklärungen über die Beurteilung und Behandlung eines Ellenbogenknochenbruches.60 Probleme gab es für den Stadtphysikus und rätlichen Medizinprofessor gelegentlich jedoch nicht nur innerhalb der Medizinischen Fakultät, sondern auch mit Personen, über die er eine Kontrollbefugnis besaß oder beanspruchte. Das betraf etwa die Ratschirurgen. 1791 beschwerte sich Stadtphysikus Weber über die Widerspenstigkeit des Ratschirurgen Mühlenbruch 61, den Vater des später berühmten Juraprofessors Christian Friedrich Simon Mühlenbruch.62 Der aus Halle nach Rostock berufene Weber, der sich selbst – bezogen auf Rostock – als „Ausländer“ bezeichnete,63 war sich schon bei Antritt seiner Rostocker Stelle darüber im Klaren, dass das doppelte Amt eines „Medici clinici et forensis“ einer unverdienten Verurteilung häufiger ausgesetzt sei als jede andere Klasse beamteter Gelehrter.64 Schon sein Vorvorgänger im Amt des Stadtphysikus, Johann Bernhard Quistorp, hatte konstatiert, dass das „officium des Stadt Physici“ bekanntlich mit „vieler Mühe und Beschwerde […] verbunden“ sei.65 In einem Brief an Bürgermeister und Rat von Rostock entwickelte Weber sehr ausführlich die Aufgaben, zugleich aber auch die Probleme eines rätlichen Medizinprofessors und Stadtphysikus. Er legte „das unverbrüchliche Gelübde“ ab, daß ich als Arzt, die Einsichten meiner Mitbürger nach Kräften verbessern, mich um die ächte Beschaffenheit der Arzneimittel bekümmern, die Ursachen der Krankheiten, hauptsächlich solcher, welche groß, allgemein und ansteckend sind, so viel ich kann, entfernen, Methoden und Heilmittel, wodurch das Leben vieler Menschen erhalten wird, anpreisen; gerichtliche Zeugnisse mit der strengsten Gewissenhaftigkeit ablegen; selbst und mit anhaltendem Fleiße das praktische Wohl meiner Kranken besorgen; gegen ihre Schwachheiten mich mit Nachsicht und klugem Eifer bewafnen; nie ohne Noth Krankheiten verlängern, außer dem Nothfalle, die sichersten und dabei thätigsten Mittel gebrauchen und nach der Gewohnheit, Lebensart, eigenen Beschaffenheit und dem Vermögen der Kranken einrichten; nie aus Gewinnsucht, Leidenschaft oder Vorurtheil einen Apotheker, Wundarzt oder eine Hebamme empfolen oder verachten; zwar mit billigem Eifer auf die Erfüllung ihrer Pflichten und meine Rechte dringen, aber auch ihre Feler nie mit Eigensinn oder Härte beurtheilen; als Lehrer und Erzieher der jungen Aerzte, die Theile der Medicin so viel möglich in ihrer natürlichen Ordnung meiner Vorlesungen vortragen, wo ich kann, gedruckte Schriften zum Grunde meiner Vorlesungen legen und ihre Güte vorzüglich aus ihrer Wahrheit, Ordnung, Kürze und Vollständigkeit beurtheilen, mit Genauigkeit und Treue eigene und fremde Beobachtungen anführen, die verführerische Liebe zu Hypothesen unterdrücken, die Meinungen anderer mit Billigkeit beurtheilen, und sorgfältig die Quellen ihrer Irrthümer entdecken, mein eigenes System oft und mit der äußersten Strenge prüfen, von der ältern und neuern Litteratur zum Nutzen meiner Zuhörer Gebrauch machen, meine Zuhörer lieben, mit Bereitwilligkeit ihre Zweifel auflösen und sie vor die Betten der Kranken führen werde.66

Christian Ehrenfried Eschenbach sorgte 1762 für einige Aufregung, als er gegen die Tätigkeit zweier Ärzte in Rostock vorging, die sich nicht der Medizinischen Fakultät unterstellen wollten.67 Er verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass bereits die ältesten Statuten der Fakultät aus den Anfangsjahren der Universität eine solche Tätigkeit ausdrücklich untersagten und zitierte das entsprechende, im Original niederdeutsche Statut 68 in vollem Wortlaut.69 Die Angelegenheit war angesichts der damaligen Zeitumstände heikel. Universität und Stadt Rostock litten nicht nur unter den Auswirkungen des noch nicht beendeten Siebenjährigen Krieges, sondern ebenso unter dem Zerwürfnis mit Herzog Friedrich dem Frommen, der 1760 seine eigene Universität in Bützow gegründet hatte. Während Eschenbach argumentierte, dass gerade unter diesen Bedingungen die Rechte und Privilegien der Universität Rostock zu bewahren seien, um einen völligen Niedergang

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zu vermeiden, wollte eine andere Partei in der Universität – neben persönlichen Animositäten gegenüber Eschenbach – eine Konfrontation vermeiden, zumal einer der beiden von Eschenbach beanstandeten Ärzte Hofrat und Vertrauter des Herzogs war. Noch rigoroser als gegen widerspenstige Stadtchirurgen und durch die Fakultät nicht anerkannte Ärzte suchten die Stadtphysiki gegen zumeist fremde Pfuscher, insbesondere „Oculisten“ und Starstecher, vorzugehen. Dass sie mit diesem Begehr nicht immer bis zur letzten Konsequenz erfolgreich waren, zeigt ein aufschlussreiches Beispiel aus dem Jahre 1711. Damals ersuchte 70 Stadtphysikus Dr. Wilhelm David Habermann bei Bürgermeister Johann Joachim Beselin um die Ausweisung des Johann Jacob Hutter, der sich selbst als „Oculist“ und „Ophthalmicus“ 71 bezeichnete, jedoch für Habermann aber nur ein „Marckschreyer“, „Landtbetrieger“ und Pfuscher war, dessen Umtriebe in Rostock seit einem Jahr für die rechtschaffenen Mediziner schädlich gewesen seien. Hutter würde nicht nur das Starstechen betreiben, sondern auch „innerliche Curen“ an den Patienten verrichten. Solche „Idioten“ wie Hutter hätten ihre Pfuscherei lediglich als ehemalige Diener von Bütteln bzw. Scharfrichtern oder in deren Gesellschaft „erlernt“. Die von ihnen durchgeführten Operationen und namentlich das Starstechen sollten eher von den Rostocker Chirurgen durchgeführt werden.72 Einige Tage später war die Haltung des Stadtphysikus gegenüber dem „Pfuscher“ Hutter schon etwas moderater. Nunmehr wünschte er nur noch, dem „Oculisten“, falls er Bürger in Rostock werden sollte, „innerliche Curen“ bei den Rostocker Bürgern und den Landleuten zu untersagen.73 Offenbar war die Stadt Rostock nach dem verheerenden Stadtbrand von 1677 und den Auswirkungen des Nordischen Krieges durchaus am Zuzug neuer Bewohner und nicht zuletzt ihrer Steuerkraft interessiert. Der Ratsbeschluss lautete daher auch auf Zulassung Hutters zum Bürgereid, verbunden mit der Zusicherung, den Medizinern und Chirurgen in ihrer Tätigkeit – und damit auch ihrem Einkommen – keinen Abbruch zu tun.74 Werfen wir zum Abschluss noch einen etwas genaueren Blick auf die nunmehr in zwölf Punkten gegliederten Festlegungen des Bestallungstextes seit 1789. Dieser Text blieb – mit einigen wenigen Veränderungen – noch mindestens bis zur Berufung von Johann Karl Friedrich Strempel im Jahre 1826 maßgebend.75 Aufschlussreich sind hierbei insbesondere die Präzisierungen gegenüber den Textfassungen von 1581, 1594 und 1604. Als vorlesungsfreie Zeit wurden nunmehr konkret die „ordentlichen Ferien“ benannt. Bezüglich der Arbeit in der Medizinischen Fakultät seitens des Stadtphysikus und rätlichen Medizinprofessors hob der Text ausdrücklich die Tätigkeit als Dekan sowie die Abnahme der Prüfungen für die Doktorkandidaten hervor. Der Wirkungskreis des Stadtphysikus bestand nicht nur aus dem Stadtgebiet im engeren Sinne. Auch die Rostocker Stadt- und Hospitalgüter gehörten hierzu; angesichts ihres nicht unerheblichen Umfanges sicherlich eine nicht geringe Verantwortung. Obwohl schon früher zum Aufgabenbereich des Stadtphysikus zählend, fanden seine gerichtsärztliche Tätigkeit sowie seine Aufsicht über die Hebammen erst im Text der Bestallung seit 1789 in den Punkten fünf und sechs explizite Erwähnung. Entsprechende „Besichtigungen“ der Körper von Lebenden und Toten bei „unglücklichen Fällen“, häufig Ertrunkenen,76 sollte er demzufolge unparteiisch durchführen und für die Ausbildung und Prüfung der Hebammen Sorge tragen. Die Aufsicht über die inzwischen mehr als eine Apotheke 77 hob dennoch insbesondere auf die Ratsapotheke ab. Neben tüchtigen Gesellen und guten Medikamenten war namentlich auch auf billige Preise zu achten. Noch immer hielten Bürgermeister und Rat es für geboten, dem Stadtphysikus bei bestimmten Krankheiten das Entweichen aus der Stadt zu untersagen. Sprach man im

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16. und 17. Jahrhundert diesbezüglich diffus von „Pestilentz“ und „Seuche“, so war nunmehr ebenso unbestimmt von ansteckenden und „contagieusen“ Krankheiten die Rede. Generell wurde eine Abwesenheit des Stadtphysikus aus der Stadt nicht einmal für eine Nacht gestattet, außer bei Substituierung eines anderen Arztes. Fassen wir zusammen: Kontinuität und Wandel, diese beiden Eckpfeiler historischer Entwicklung, einerseits Gegensätze, andererseits jedoch häufig miteinander verflochten, bestimmten auch die Geschichte der Bestallung des Rostocker Stadtphysikus vom Ende des 16. bis in die Anfänge des 19. Jahrhunderts. Traditio et Innovatio, heute bewusst gewählte Leitmotive des Wirkens an der Universität, prägten auch in jenem Zeitraum die Entwicklung. Im Vordergrund allerdings stand damals sicherlich das bewusste Festhalten am Herkömmlichen. Doch auf Dauer konnte man sich notwendigen Neuerungen bei Strafe des Bedeutungsverlustes oder gänzlichen Niederganges nicht verschließen. Das zeigte sich auch am Amt des Stadtphysikus. Nach jahrhundertelanger Existenz erlebte es seine Aufhebung im doppelten, dialektischen Sinne: Der traditionelle Stadtphysikus war Vergangenheit, spezialisierte Amtsärzte traten an seine Stelle.

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Anhang 1 Text der Bestallung des Stadtphysikus Dr. Johannes Assverus 1604 Wir Burgermeister vnnd Rath der Stadt Rostogk, Vrkunden vnnd bezeugen hiemit, daß wir den Ernvesten vnnd Hochgelarten Joannes Assverum von Ampsingen der Medicinae Doctorem fur vnsern Stadt Physicum auch Professorem vnnd Consiliarium in vnser Vniversitet alhie zue Rostogk bestellet vnnd angenommen haben, also vnnd dergestalt, daß ehr vnsernt wegen im Concilio vnsers medici stadt besitzen, vnnd neben den andern Consiliarien, inhalt des Eides, darin ehr vermuege der Formulae Concordiae genommen wirt, getrewlich verwalten, vnnd daselbst in votando sein dem Concilio geschwornes eidt dergestalt, daß dadurch vnser vnnd dieser Stadt rechtt vnnd gerechtigkeitt, so wir inn der Vniversitet alß mit Patroni haben, nicht geschwechet, gekrencket noch geschmelert werden muge, in fleißiger acht nehmen, In der Vniversitet die lectiones, so ihme von dem Ehrwurdigen Concilio iehrliches zu lesen aufferlegt werden, mit getreuwen Vleiß wochentlich auff die ihme zugeeignete stunden, der Jugendt proponiren, vnnd solches ohne merckliche nottwendige ehafften vnnd Verhinderungen nicht verseumen, oder sich davon abhalten laßen, vnnd so offt ihme die ordnung in anniversariis disputationibus erreichet, oder sonsten in den ordinariis Vermuege des den 24 Marti Anno [15]99 von Weilandt dem Durchleuchtigen Hochgebornen Fursten vnnd Hern, Hern Vlrichen, Herzogen zu Mecklenburgk, Fursten zue Wenden, Grafen zu Schwerin, der Lande Rostogk vnnd Stargardt Hern, Hoch Christmildiger gedechtnuße vnnd Vns als semptlichen Patronen der Vniversitet auffgerichteten general visitation abscheides, in dem Monatt, so ihme aufferlegt wirt disputando praesidiren vnnd andere actus exerciren, vnsere Apoteck alle Monatt vnnd zum Weinigsten einmahl visitiren, vnnd fleißige auffsicht haben, ob die materialia gutt sein oder nicht, Vnnd so daran einiger mangell, daruber man sich billig zu beclagen hette, befunden wurde, denselben den Hern Burgermeistern oder Weinhern in specie getreulich vermelden, vnsere Burger vnnd einem Jeden, von denen ehr in ihren Kranckheiten ersucht wirt, getrewlich vnnd fleißig, alß ehrß in seinem gewißen fur Gott, Vnß vnnd iedermenniglichen getrawet zu verandtworten, vmb ein billiges curiren, dieselben seiner praxeos halben, so ehr außerhalb dieser Stadtt oder auch landes haben, oder auch kunfftig vberkommen muchte, nicht verseumen, sondern auff solchen fall vnter des die Cur einem andern erfahrnen Doctori demandiren vnnd befehlen, vnnd ohne erlaubnuße vnsers pro tempore worthabenden Hern Burgermeisters, sich außerhalb dieser Stadt oder landes nicht gebrauchen laßen wolle, Vnnd da ehr bey sich befunden wurde, daß die morbi dermaßen geschaffen, daß dieselbe allein zu curiren ihme bedencklich, daß ehr alßdan andere in praxi peritos adhibiren, Vnnd wan Pestilentz oder andere seuche vnnd Kranckheiten, welches Gott der almechtige gnedig abwenden wolle, einfallen wurden, alß dan nicht furweichen, sondern gleich wie zu andern Zeitten bey vnß bleiben, vnnd durchauß dieser Stadtt, vnser vnnd vnserer Burger bestes bey jedermenniglichen wißen, vnnd seinem Verstande nach befurdern helffen, Vnnd sich in einige andere bestallunge ohne vnser Vorwißen vnnd Willen nicht einlaßen, sondern woferne ihme lenger bey vnß zu bleiben, vnnd seine profession vnnd dienst außzuewarten, oder vnß auch seine Persohn lenger zu behalten nicht gelegen sein wurde einer dem andern ein halb Jahr zuvor die loßkundigung thun solle vnnd wolle, Vber welchem allen ehr seinen besiegelten vnnd mit eigen Handen Vntergeschriebenen Revers vnß gegeben vnnd zuegestelt hatt. Dajegen haben wir ihme wiederumb versprochen vnnd zuegesagt, wie wir auch noch hiemit vnnd in krafft dieser Schrifft ihme versprechen vnnd zuesagen, daß ihme fur solche seine dienste vnnd ampt von vnserer Apotheken jehrlich zween hundert f. auff jedes

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quartall funfftzigk f. einen jeden zue 24 ß lüb. gerechnet, zur besoldunge entrichtet, vnnd dar zue mit einer freyen wohnung versorget, vnnd sonsten alle guete befurderung von vns bezeigt werden solle, Alleß getrewlich vnnd ohne gefhar, Daß zue Vrkund haben wir obberurte Burgermeister vnnd Rhadtt hirunten ahn vnserer Stadtinsiegell wißentlich drucken laßen, Geschehen vnnd gegeben in Rostogk den 29 Octob. 1604

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Anhang 2 Text der Bestallung des Stadtphysikus Dr. August Gottlob Weber 1789 Wir Bürgermeister und Rath der Stadt Rostock urkunden und bekennen mittels gegenwärtigen vor Uns und Unsern Successores in officio, daß Wir den Hochedelgebohrnen und Hochgelahrten Herrn Doctorem Medicinae, August Gottlob Weber, zu der erledigten Stelle Unsers Professoris Medicinae in der hiesigen Universitaet und zu Unserem Stadt-­ Physico bestellet und angenommen haben; Nehmen Ihn auch dazu in der Maaße an, daß Er 1. in dem Concilio Academico als Unser Profeßor Medicinae mit sitze, wobey er denn neben den übrigen Conciliaren in votando sich allemahl gewissenhaft zu erweisen und, daß Unsere, als Mit-­Patronen der Academie, Rechte und Befugnisse nicht gekränket, dagegen das Ansehen und die Ehre der Academie, auch dieser Stadt Wohlfarth nach Möglichkeit befördert werde, thunlichst sich zu verwenden hat. 2. Danechst hat Er die ihm in arte medica treffende und obliegende Vorlesungen mit gebührendem Fleis zu verrichten und sich von deren Haltung nichts als würkliche Ehehaften und sonstige vorfallende legale Behinderungen, und die ordentlichen Ferien abhalten [gestrichen: behindern] zu lassen. 3. Auch lieget ihm ob, ofte und fleißig zu disputiren, und in der Facultät, die ihm zugetheilte Ausarbeitungen nach seiner beßten Einsicht, und ohne Zeit Verlust zu beschaffen, auch alles das, was Ihm als Mitglied der Medicinschen Facultät, es sey bey Ausübung des Decanats oder sonst oblieget, zur Ehre der Academie und seiner Facultät auszurichten, insonderheit aber die Prüfungen der sich zur Doctor Würde meldenden Cadidaten mit gewissenhafter Treue zu beschaffen. 4. Das Ihm übertragene Physicat in der Stadt sowohl, als auf den Stadt[-] und Hospital-­ Gütern, betreffend; so hat Er sich in demselben überall gewissenhaft, treu und sorgfältig zu betragen, und alle dessenthalben an Ihn gelangende Aufträge ungesäumt und nach seinem beßten Wissen [gestrichen: Willen] ins Werk zu setzen. 5. Bey vorkommenden Verwundungen, Entleibungen, oder sonstigen unglücklichen Fällen, und derhalber verfügten und Ihm übertragenen Besichtigungen und Untersuchungen oder wo Er sonst zur Ertheilung eines Kunstverständigen Erachtens und Zeugnisses, durch Uns oder die Uns nachgeordnete Departements aufgefordert werden wird, lieget Ihm ob, die vorwaltenden Umstände wohl zu erwegen und genau zu prüfen, und keinen derselben, worauf es nach Beschaffenheit des Falls ankömt, aus Ansehen der Person oder aus Freundschaft, Feindschaft, oder sonstigen Beweg-­Gründen unbemerkt zu lassen, zurücke zu halten und zu verschweigen. 6. Auf die Heb-­Ammen der Stadt hat derselbe danächst ein vorzügliches Augenmerk zu nehmen, und nicht nur diejenigen Personen, welche die Hebammen Kunst zu erlernen sich an Ihn verwenden, wohl zu unterrichten, sondern auch bey der Ihm von Uns oder Unsern Gerichten übertragenen Prüfung derer angehenden Heb-­Ammen nur denen, welche die behörige Geschicklichkeit besitzen, ein Attestat zu geben, überhaupt aber darauf, daß die einmahl angestellte Heb-­Ammen ihre Pflicht thun, und bey Entbindungen oder sonst daran nichts ermangeln lassen, Aufsicht zu haben.

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7. Die Apothequen der Stadt, und insonderheit die Raths Apotheque muß Er fleißig besuchen, und Acht darauf haben, daß dieselben mit allem Zubehör wohl versehen, auf denselben tüchtige Gesellen gehalten, die Medicamente wohl verfertiget, und solche zu billigem Preise ausgegeben werden, dagegen die befundenen Mängel und Gebrechen baldigst anzuzeigen, und solche Selbst nach Vermögen abstellig zu machen bemühet seyn. 8. Sollte auch Gott diese Stadt oder deren und der Hospitalien Güter mit contagieusen und ansteckenden Krankheiten heimsuchen, darf Er darum nicht entweichen, noch es sodann an Aufsicht über die nach Erfordern der Umstände zu treffende besondern Veranstaltungen etwas ermangeln lassen, vielmehr E[inem] E[hrbaren] Rath darüber mit seinem Erachten an die Hand gehen. 9. Überhaupt aber wird derselbe ohne Vorwissen des Worthabenden Herrn Bürgermeisters keine Nacht aus der Stadt abwesend seyn, und in einem dergleichen Fall statt Seiner einen anderen Arzt substituiren, auch in allen hier nicht ausgedruckten Fällen alles das zu thun geflißen seyn, was einem rechtschaffenen Physico von Ehre und Rechts wegen zu thun geziemet. 10. Einen andern Ruf oder Bestallung soll und mag auch derselbe ohne Unser Vorwissen nicht annhemen, jedoch bleibet Ihm, so wie Uns, eine halbjährige Kündigung seines Dienstes frey und gestattet. 11. Zur Vergeltung der in vorstehender Maaße von Ihm als Professore Medicinae und Stadt Physico anzuwendender Bemühungen geloben Wir demselben hiemittelst eine jährliche Besoldung von vier Hundert R[eichs]th[a]ler mecklenburgisch Valeur, also, daß Ihm von diesem abgewichenen Ostern an jährlich aus Unserer Stadt-­Casse 400 R[eichs]t[haler] in quartal ratis gegen seine Quitung entrichtet werden sollen. Und ob zwar die einzelnen vorfallenden Physicat Arbeiten und Bemühungen Ihm nicht besonders remuneriret werden; so ist dennoch hievon der Fall ausgenommen, wenn die Personen, welche solche treffen, aus ihrem Vermögen, solche zu bestreiten vermögend seyn dürften. Gleich nun 12. über die Feststellung Vorstehendes derselbe Uns seinen besiegelten Reverß gegeben hat; so haben Wir Unsererseits diese Bestallung mit Unseres Protonotarii Unterschrift und durch Beydruckung des Stadt Innsiegels bestärken lassen. So geschehen Rostock den [gestrichen: May] 1789.

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Zu seinen Aufgaben allgemein Lemke 1998, S. 22 – 25; Wegener/Jügelt 2005, S. 69. Asche 2010, S. 56 – 63. Neuester Druck bei Michael 2013, S. 204. Wegener/Jügelt 2005, S. 69. Die Liste der Rostocker Stadtphysiki bei Lemke 1998, S. 31 – 34. Siehe auch Asche 2010, S. 611 f. (bis Ende des 18. Jahrhunderts). AHR 1.1.3.1.288: Bestallungsbuch des 16./17. Jahrhunderts, fol. 20a–21b: Bestallung des Magisters Wilhelm Lauremberg. Siehe auch für die folgenden Angaben und Zitate aus dem Bestallungstext von 1581. AHR 1.1.3.14.121: Rostock, 30. 5. 1789, Dr. August Gottlob Weber an Bürgermeister und Rat von Rostock. Ebd., Rostock, 16. 12. 1808, Bestallung von Dr. Carl Ernst Theodor Brandenburg. Ebd., Rostock, Mai 1789, Bestallung von Dr. August Gottlob Weber. Siehe auch den vollständigen Text am Ende dieses Beitrages in Anhang 2. AHR 1.1.3.14.120: Rostock, 22. 3. 1594, Bestallung von Dr. Heinrich Pauli. Der Text ist auch enthalten in AHR 1.1.3.1.288: Bestallungsbuch des 16./17. Jahrhunderts, fol. 56a–57b. Hierzu Schröder 2013, S. 400. Siehe Münch 2004, S. 85. AHR 1.1.314.120: Rostock, 6. 8. 1604, Bestallung von Dr. Johannes Assverus. Siehe auch für die folgenden Angaben und Zitate aus dem Bestallungstext von 1604 sowie den vollständigen Text in Anhang 1 dieses Beitrages. Der Text ist auch enthalten in AHR 1.1.3.1.288: Bestallungsbuch des 16./17. Jahrhunderts, fol. 142b–144b. Hierzu Asche 2010, S. 61 f. Hierzu zuletzt Rostocks Neuer Markt 2013, S. 45 f. Jügelt 2001, S. 48. Hill 1995, S. 199. AHR 1.1.3.14.120: Rostock, 12. 9. 1604, Dr. Heinrich Pauli an Bürgermeister und Rat von Rostock. Paulis Nachfolger Assverus war zeitweilig Hofund Leibmedicus bei dem zweiten Sohn Sophias, dem Administrator des Bistums Schwerin, Prinz Ulrich. Siehe dazu: AHR 1.1.3.14.16: Warin, 1. 4. 1613 Ulrich an Bürgermeister und Rat Rostock.

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17 Ebd., Rostock, 29. 9. 1640, Bestallung von Dr. Jacob Stockmann. Rostock, 8. 1. 1686, Bestallung von Dr. Bernhard Barnstorff. Rostock, 11. 1. 1706, Bestallung von Dr. Wilhelm David Habermann. 18 Teichmann 2000, S. 89. 19 AHR 1.1.3.14.121: Rostock, 27. 1. 1582. 20 Zur diesbezüglichen Typologie der Rostocker Straßen siehe Münch/­ Mulsow 2010, S. 7 – 17. 21 Münch 2010, S. 188 f. 22 Münch 1998, S. 30. 23 Ebd., S. 108 f. 24 AHR 1.1. 15. 2673: Kontribution 2. Fahne 1807, S. 52. 25 AHR 1.1. 15. 2625: Kopfgeld und ­Ingedoem 1674, S. 118. 26 Jügelt 2001, S. 48. 27 Weniger lukrativ lag lediglich die Wohnung von Wilhelm David Habermann in der Langen Straße. AHR 1.1. 15. 2636: Hausgelder 1714 – 1716. 28 Münch 1998, S. 349 (Dr. Christoph Martin Burchard), S. 352 (Dr. Johann Bernhard Quistorp), S. 357 und 374 (Dr. Johann Bacmeister d. J.), S. 383 (Dr. Carl Ernst Theodor Brandenburg) und S. 395 (Dr. Joachim Stockmann). 29 Lemke 1998, S. 37. 30 Münch 2010, S. 187 f. 31 AHR 1.1. 15. 1542: Schoß- und Wachtgeldregister 1595 (Dr. Wilhelm Lauremberg); Schubert 1994, S. 309 (Dr. Johannes Assverus). 32 Lemke 1998, S. 28. 33 AHR 1.1.3.14.120: Rostock, 11. 1. 1706, Bestallung von Dr. Wilhelm David Habermann; ebd., Rostock, 24. 3. 1716, Bestallung von Dr. Christoph Martin Burchard. 34 Ebd., Rostock, 10. 10. 1710, Dr. Wilhelm David Habermann an Bürgermeister Christian Michael Stever. 35 Teichmann 2000, S. 121. 36 Eschenbachs Bestallung ist fast vollständig abgedruckt bei Jügelt 2002, S. 53 f. 37 AHR 1.1.3.15.221: Rostock, 4. 1. 1752, Dr. Johann Bernhard Quistorp an Bürgermeister und Rat von Rostock. 38 AHR 1.1.3.14.121: Rostock, 10. 1. 1765, Dr. Christian Ehrenfried ­Eschenbach an Bürgermeister und Rat von ­Rostock.

39 Ebd., Boizenburg, 7. 6. 1788, Dr. ­Johann Heinrich Jugler an ­Bürgermeister und Rat von Rostock. 40 AHR 1.1.3.15.221: Rostock, 12. 6. 1769, Dr. Christian Ehrenfried ­Eschenbach an Bürgermeister und Rat von ­Rostock. 41 AHR 1.1.3.14.121: Rostock, 26. 6. 1789, Bestallung für Dr. August Gottlob Weber. 42 Ebd., Rostock, 3. 2. 1796. 43 AHR 1.1.3.14.122: Neustrelitz, 23. 9. 1817, Dr. Ludwig Christian Friedrich Wildberg an Bürgermeister und Rat von Rostock. Ebd., Berlin, 24. 12. 1820, Dr. Ludwig Christian Friedrich Wildberg an Bürgermeister und Rat von Rostock. 44 AHR 1.1.3.14.121: Rostock, 19. 10. 1808. 45 Die Brandenburgs gehören für die Zeit um 1800 zur „Rostocker Führungsgruppe“. Manke 2000, S. 180 f. 46 AHR 1.1.3.14.121: Halle, 4. 4. 1789, Nettelbladt an Ratsherrn Dr. Michael Eberhard Prehn. Über die Rolle Webers als radikaler Aufklärer hatte er offenbar nichts in Erfahrung gebracht. Siehe hierzu: Mühlpfordt 1995. 47 AHR 1.1.3.14.120: Rostock, 19. 12. 1685, Senior und andere Professores Senatorii an Bürgermeister und Rat von Rostock. 48 Lemke 1998, S. 32; UAR: Dr. Johannes Assverus. 49 Münch 2002, S. 243. 50 AHR 1.1.3.14.121: Schwerin, 5. 1. 1785, A. Evers an Bürgermeister und Rat von Rostock. Ebd., Rostock, 28. 2. 1788, Rätliche Professoren an Bürgermeister und Rat von Rostock. 51 AHR 1.1.3.14.120: Rostock, 10. 1. 1765, Dr. Christian Ehrenfried Eschenbach an Bürgermeister und Rat von Rostock. 52 AHR 1.1.3.14.121: Schwerin, 10. 11. 1795, Herzog Friedrich Franz an Bürgermeister und Rat von Rostock. 53 Ebd., Schwerin, 2.6.10. und 12. 11. 1795, Herzog Friedrich Franz an Dr. August Gottlob Weber. 54 Ebd., Schwerin, 19. 1. 1796, Herzog Friedrich Franz an Bürgermeister und Rat von Rostock. Rostock, 3. 2. 1796, Stellungnahme des 2. Quartiers des Hundertmännerkollegiums.

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55 Ebd., Rostock, 7. 11. 1795, Dr. August Gottlob Weber an Herzog Friedrich Franz. 56 AHR 1.1.3.14.122: Rostock, 1. 12. 1797, Statuten der Medizinischen Fakultät. 57 Münch 2013, S. 34 – 36; ders. 2016, S. 127. 58 AHR 1.1.3.14.122: Rostock, 23. 5. 1809. Noch zehn Jahre später wurde diese Kritik wiederholt, Rostock, 15. 2. 1819. 59 Münch 2011, S. 197 f. 60 Weber 1794. 61 AHR 1.1.3.14.121: Rostock, 28. 7. 1791, Dr. August Gottlob Weber an Bürgermeister und Rat von Rostock. 62 Über ihn zuletzt Hollack 2016, S. 212 f. 63 AHR 1.1.3.14.121: Halle, 10. 3. 1789, Dr. August Gottlob Weber an Bürgermeister und Rat von Rostock. 64 Ebd., Rostock, 30. 5. 1789, Dr. August Gottlob Weber an Bürgermeister und Rat von Rostock.

65 AHR 1.1.3.15.221: Rostock, 4. 1. 1752, Dr. Johann Bernhard Quistorp an Bürgermeister und Rat von Rostock. 66 AHR 1.1.3.14.121: Halle, 7. 4. 1789, Dr. August Gottlob Weber an ­Bürgermeister und Rat von Rostock. 67 Hierzu auch Jügelt 2002, S. 61 – 63. 68 Neuester Druck und hochdeutsche Übertragung durch Wagner 2015, S. 48 f. 69 AHR 1.1.3.14.120: Rostock, 14. 6. 1762, Dr. Christian Ehrenfried Eschenbach an Bürgermeister und Rat von Rostock. 70 AHR 1.1.3.15. 221: Rostock, 26. 6. 1711, Dr. Wilhelm David Habermann an Bürgermeister Johann Joachim ­Beselin. 71 Ebd., Rostock, 31. 7. 1711, Johann Urban Hutterus an Bürgermeister und Rat von Rostock.

72 Das sah generell auch das Rostocker Amt der Bader und Wundärzte so, siehe hierzu Münch 2004, S. 83. 73 AHR 1.1.3.15.221: Rostock, 10. 7. 1711, Dr. Wilhelm David Habermann an Bürgermeister Johann Joachim ­Beselin. 74 Ebd., Rostock, 5. 8. 1711. 75 AHR 1.1.3.14.122: Rostock, 18. 4. 1821, Bestallung für Dr. Ludwig Christian Friedrich Wildberg (mit Veränderungen für die spätere Bestallung von Johann Karl Friedrich Strempel). Bei Teichmann 1995, S. 296 und Teichmann 2000, S. 138 wird Strempels Funktion als Stadtphysikus nicht thematisiert. 76 Lemke 1998, S. 39 und 58 f. 77 Schümann o. J., S. 26 f. und 113.

Literaturverzeichnis Quellen

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Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

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Exkurs: Zwischen Stagnation und Neubeginn Die Spaltung der Universität und deren Auswirkung auf die Medizinische(n) Fakultät(en) (1760 – 1789) Kathleen Haack

Seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelte sich die Universität Rostock immer mehr zu einer kleinen und wenig einflussreichen Hochschule im Deutschen Reich und skandinavischen Raum. Ein wichtiger Grund war der Bedeutungsverlust Rostocks. War die Stadt an der Warnow während des Dreißigjährigen Krieges noch relativ glimpflich davongekommen, waren dessen Auswirkungen umso schwerwiegender. Der Hansebund hatte seine wichtige Vormachtstellung im Zuge des Erstarkens der landesherrlichen Territorialgewalten aufgegeben müssen, 1669 fand der letzte Lübecker Hansetag statt. Der verheerende Stadtbrand von 1677 tat ein Übriges. Die Einwohnerzahl Rostocks ging von 14.000 Ende des 16. Jahrhunderts auf sukzessive 5.0001 zurück. Der Große Nordische Krieg (1700 – 1721) führte zu weiteren Verschlechterungen der Handelsbeziehungen. Schließlich nutzten die mecklenburgischen Landesherren die Schwäche der Stadt aus, um in den Rostocker Erbverträgen von 1755 und 1788 deren verfassungsrechtliche und politische Sonderstellung zu untergraben und die landeshoheitliche Vormachtstellung auszubauen. Die Auswirkungen auf die Universität konnten nicht ausbleiben, zumal auch die Landeshoheit kaum über die entsprechenden finanziellen Kapazitäten verfügte, die Verluste auszugleichen.2 Die Besoldung der Professoren erfolgte nur sporadisch. Sie nahmen andere Tätigkeiten an, sodass Lehrveranstaltungen teilweise ausfielen. Vakante Stellen wurden nicht oder erst nach längerer Zeit nachbesetzt. Hinzu kamen immer wieder Auseinandersetzungen zwischen der Landeshoheit und den Stadtvertretern Rostocks. Schließlich eskalierte der Streit über die Besetzung eines theologischen Lehrstuhls mit dem Hallenser Pietisten Christian Albrecht Döderlein (1714 – 1789), den Herzog Friedrich zu Mecklenburg (1717 – 1785) nutzte, um eine „eigene“ Universität in Bützow zu gründen. Die folgenden 29 Jahre sollte das kleine Mecklenburg-­Schwerin, welches gerade einmal 160.000 Einwohner zählte, über zwei Hochschulen verfügen, eine rätliche in Rostock und eine herzogliche im unweit entfernten Bützow, genannt nach ihrem Gründer Fridericiana (Abb. 1). Der beschrittene Weg war ein teurer und bildungspolitisch wenig sinnvoller, musste man doch die ohnehin knappen Ressourcen – auch in personeller Hinsicht – aufteilen, denn die angestrebte Auflösung der Universität in Rostock hatte Herzog Friedrich nicht bewerkstelligen können. Auch sein Plan, „die Lehrer gut zu besolden, damit brauchbare Männer von weltbekanntem Ruf gewonnen würden; [da] schlecht besoldete […] sich aufs Handwerk [legten] und böten zur Schande der Universität ihre Gelehrsamkeit feil“ 3, konnte

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Exkurs: Zwischen Stagnation und Neubeginn

Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

Abb. 1  Stadtschloss in Bützow, zwischen 1760 und 1789 Hauptgebäude der Universität Bützow und zugleich Paedagogicum.

nicht umgesetzt werden. Unterm Strich blieben „Alle Versprechungen, ein Auditorium, Concilzimmer, Laboratorium, ein Theatrum anatomicum einzurichten, […] unerfüllt.“ 4 Die Immatrikulationszahlen waren an beiden Universitäten sehr niedrig, sie erreichten für alle Fakultäten kaum mehr als 30 Studenten pro Jahr.5 Es ist jedoch anzumerken, dass ein solcher Trend mit wenigen Ausnahmen für die gesamte deutsche Universitätslandschaft in dieser Zeit zu verzeichnen war. Glaubt man den wenig schmeichelhaften Ausführungen des Historikers Uvo Hölscher, so hatte die Medizinische Fakultät in Bützow ohnehin einen eher geringen Stellenwert für Herzog Friedrich.6 Entsprechend scheinen die Verhältnisse vor Ort gewesen zu sein: Von der medizinischen Facultät könnte ich ganz schweigen, wenn es mir nicht nothwendig erschiene, wenigstens die Namen der Professoren zu nennen. Denn außer der Ertheilung der zweifelhaften Doctorwürde an zahlreiche auswärtige Petenten, besonders Chirurgen in Hamburg und Dänemark, ist die Facultät niemals thätig geworden. Die Professoren beschäftigten sich lieber mit der gewinnbringenden Praxis als mit dem Lesen vor leeren Bänken. Die Durchschnittszahl der Medizin Studierenden war etwa drei.7

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Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

Dabei war es durchaus nachvollziehbar, dass sich die Mediziner auf die praktische statt Lehrtätigkeit verlegten, mussten sie doch ihr unregelmäßig eintreffendes Gehalt aufbessern. Bei der Gründung der neuen Universität Bützow hatte noch Optimismus vorgeherrscht. Georg Christoph Detharding (1699 – 1784) etwa hatte aus eigenen Mitteln eine Anatomie- und Präparierkammer sowie eine kleine medizinische Bibliothek zusammengestellt. Doch die Realität holte ihn schon bald ein. Durch die wenigen Medizinstudenten waren diese Lehrmittel kaum im Gebrauch. Detharding, ein sowohl erfahrener als auch wissenschaftlich aktiver Mediziner und Hochschullehrer, hatte die Geschicke der Medizinischen Fakultät Rostock seit 1733 in der Nachfolge seines Vaters Georg (1671 – 1747) mitbestimmt. Er war vielfach Dekan, zudem Rektor der Universität. Als Erster hatte er die Laryngotomie bei Erstickungsgefahr empfohlen.8 In seiner Bützower Zeit, auch hier war er als Dekan tätig, trat er kaum in Erscheinung. Sein Kollege August Schaarschmidt (1720 – 1791) lehrte Anatomie und Chirurgie. Auf sein Betreiben fand vor allem die Geburtshilfe seit 1764 Eingang in den Lehrbetrieb. Er eröffnete in Bützow die erste private Hebammenschule in Mecklenburg, die sechste im deutschsprachigen Raum (Abb. 2). Nach dem Tod Dethardings wurde 1784 Peter Benedict Christian Graumann (1752 – 1803) berufen. Seine Lehrtätigkeit in Bützow beschränkte sich nicht nur auf die Medizin. Er hielt auch naturhistorische und philosophische Vorlesungen, nicht zuletzt aus Mangel an einem medizinisch interessierten Publikum. In der medizinhistorischen Forschung ist bisher kaum über sein Wirken reflektiert worden. Dabei kann er als ein sehr früher Vertreter einer naturorientierten Gesundheitsauffassung 9 und öffentlichen Hygiene verstanden werden, ähnlich wie sein berühmter Kollege Johann Peter Frank (1745 – 1821). Schließlich sei noch auf Peter Ludolph Spangenberg (1740 – 1794) verwiesen, der die dritte medizinische Lehrstelle in Bützow übernommen hatte. Als Hochschullehrer trat er kaum hervor und kam primär seinen Pflichten als Leibarzt des Herzogs Friedrich, später von seiner Witwe Louise Friederike (1722 – 1791), nach. An der Universität Rostock gab es nur einen (rätlichen) Hochschullehrer, der die Medizin vertrat: Christian Ehrenfried Eschenbach (1712 – 1788). Er beschäftigte sich als erster in Mecklenburg systematisch mit der gerichtlichen Medizin 10 und separierte die sogenannte „medizinische Polizey“, also die Aufgaben der staatlichen Gesundheitsfürsorge, von rechtsmedizinischen Aspekten.11 Zudem kann Eschenbach als einer der ersten Vertreter einer von der Anatomie getrennten Chirurgie, die in Rostock erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts ihren festen Platz finden sollte, angesehen werden. Er knüpfte an die von Johann Ernst Schaper (1668 – 1721) eingeführten Vorlesungen zur Frauenheilkunde an und verfasste mit seinen „Grundlage(n) zum Unterricht einer Hebamme“ 1765 das erste Lehrbuch für Geburtshilfe in Mecklenburg, eine Fachrichtung, die im Zuge der sich verbessernden Gesundheitsfürsorge seit dem 17. Jahrhundert zunehmend in den Fokus des gesamtgesellschaftlichen Interesses rückte (Abb. 3). Eschenbach selbst gab an, mangels vorhandener Medizinstudenten Hebammen und angehende Chirurgen unterrichtet zu haben.12

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Exkurs: Zwischen Stagnation und Neubeginn

Abb. 2  Ausschnitt aus dem Vorlesungsverzeichnis der Bützower Universität des Wintersemesters 1776/77 mit dem Hinweis auf den Hebammenunterricht durch August Schaarschmidt.

Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

Abb. 3  Titelblatt der zweiten Auflage von Christian Ehrenfried Eschenbachs Lehrbuch „Grundlage zum Unterricht einer Hebamme“ aus dem Jahr 1767 mit dem Eigentumsvermerk von Georg Christoph Detharding.

So wichtig die genannten Neuerungen auch waren, so blieben sie doch der äußerst schlechten Rahmenbedingungen wegen in den Anfängen stecken oder wurden nicht konsequent weitergeführt. So wurde die endgültige Trennung der Chirurgie von der Anatomie an der Universität Rostock erst 1821 mit Carl Friedrich Quittenbaum (1793 – 1852) vollzogen, und die eigenständige Etablierung der Geburtshilfe fand erst fünf Jahre später statt. Als 1789 die für beide Standorte nachteilige und zudem kostspielige 13 Separation aufgegeben wurde, konnte die Situation der Fakultät nur besser werden. Erstmals lehrten vier Medizinprofessoren. Die sich längst abzeichnende und notwendige Spezialisierung innerhalb der europäischen Medizin konnte nun auch in Rostock personell und zukunftsorientiert begleitet werden. So fanden neben traditionellen medizinischen Ideen auch die aus dem wegweisenden Jahrhundert der Aufklärung stammenden neuen sozialen, anthropologischen, philosophischen, ästhetischen, evidenzbasierten, psychophysischen u. a. Vorstellungen langsam Eingang in den medizinischen Unterricht. Man beschäftigte sich mit den in schöpferischer Konkurrenz stehenden medizinischen Systemen Georg Ernst Stahls (1659 – 1734) und Friedrich Hoffmanns (1660 – 1742), zudem mit den vergleichenden Anatomiestudien Johann Friedrich Blumenbachs (1752 – 1840), mit Arbeiten William Blacks (1749 – 1829), einem der Begründer der evidenzbasierten Medizin. Die Chemie als Hilfswissenschaft der Medizin und speziell der Arzneimittellehre gewann an Bedeutung, was sich u. a. an der Auseinandersetzung mit den Schriften Carl Sundelins (1791 – 1834) zeigt.14 Auch die Struktur der (protestantischen) Familienuniversität verschwand im Zuge des sich immer mehr durchsetzenden Spezialistentums. Die Trennung zwischen konservativ und operativ tätigen Medizinern wurde zunehmend aufgegeben. An der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert hatte die Universität Rostock nicht nur der existenzbedrohenden Abspaltung durch die Bützower Universität getrotzt, sie war auch dem um diese Zeit großen „Universitätssterben“ entgangen. Mit Verspätung vollzog nun auch die Rostocker Medizin und ihre Fakultät an der Alma Mater Rostochiensis die ersten Schritte in die Moderne: die Umstrukturierung des Gesundheitswesens mit einer verbesserten Infrastruktur sowie die Zunahme akademisch und am Krankenbett ausgebildeter Ärzte mit einem praxisrelevanten Wissen. Dieser seit den 1820er-­Jahren langsam einsetzende Prozess sollte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts so rasant beschleunigen, dass die Medizinische Fakultät von der kleinsten zur größten und einflussreichsten avancierte.

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Von den Anfängen 1419 bis zur Abspaltung der ­Universität Bützow 1760 bis 1789

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9

Bei der Wieden/Schmidt 1996, S. 102. Vgl. zu den folgenden Angaben vor allem Asche 2010. Zit. nach Hölscher 1885, S. 14. Ebd., S. 39. Vgl. Asche 1995, S. 148. Hölscher 1885, S.65 – 66. Ebd., S. 66. Detharding, GC: De methodo subveniendi submersis per laryngotomiam. Rostock 1724. Vgl. Graumanns „Diätetisches Wochenblatt für alle Stände, oder gemeinnützige Abhandlungen und

Aufsätze zur Erhaltung der Gesundheit. Müllers Schriften, Bd. 1. Rostock 1781. 10 Vgl. sein erstmals 1746 erschienenes Werk „Medicina legalis brevissimus comprehensa thesibus“, zudem Wegener 2004. 11 Vgl. Krabbe 1854, S. 247. 12 Vgl. AHR 1.1.3.14.120: Rostock, 10. 1. 1765, Dr. Christian Ehrenfried Eschenbach an Bürgermeister und Rat von Rostock sowie den Aufsatz von Münch in diesem Band.

13 Der Unterhalt der Universität Bützow hatte dem Land etwa 250.000 Taler gekostet, eine enorme Summe um diese Zeit, und dies, obwohl der Lehrbetrieb und die Unterhaltung der Gebäude etc. in Prinzip auf Sparflamme gehalten worden war. Vgl. Hölscher 1885, S. 39. 14 Vgl. die Vorlesungsverzeichnisse der Medizinischen Fakultät seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert unter http://rosdok.uni-­rostock.de/data/ Preview-­PuV/ (letzter Aufruf am 13. 4. 2019).

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Exkurs: Zwischen Stagnation und Neubeginn

Spezialisierung und Fächerdifferenzierung: Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert

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Spezialisierung, Disziplinenbildung und Subdisziplinierung als Grundpfeiler der modernen Medizin Kathleen Haack Spezialisierung, Disziplinenbildung und Subdisziplinierung waren die Grundpfeiler bei der Herausbildung einer modernen Medizin. Der bis heute anhaltende Prozess war – wie es rückschauend erscheinen mag – keineswegs ein geradlinig vorgezeichneter. Ebenso war nicht zwingend absehbar, dass Ärzte die maßgebenden Sachverständigen innerhalb der heilkundlich Tätigen werden sollten. Schließlich spielten bis in das 19. Jahrhundert hinein neben akademisch ausgebildeten Ärzten handwerklich geschulte Wundärzte, Barbierchirurgen, Hebammen, weise Frauen, Bader, Zahnbrecher, „Empirici“ u. a. m. eine herausragende Rolle bei der medizinischen Behandlung. Zurecht wurde immer wieder auf die Funktion dieser Laienheiler als das eigentliche Rückgrat der medizinischen Grundversorgung noch bis ins 19. Jahrhundert hinein verwiesen.1 Sie waren es, die sich der Mehrzahl der Bevölkerung medizinisch annahmen und, je nach Bedarf, spezielle Hilfe anboten. Mit einem universitär geschulten und nicht selten theoretisch ausgerichteten Arzt kamen nur die allerwenigsten in Kontakt, schon gar nicht in ländlichen Regionen. Auch wenn die von Gustav Adolph (1633 – 1695), Herzog zu Mecklenburg, 1683 verordnete „Medicinal- und Apothekerordnung“ vorsah, dass „auch die Medici […] von selbsten und unaufgefordert die arme und unvermögende Patienten besuchen, und in ihre Krankheit inquirieren, zu dem Ende ihnen dann die Obrigkeit eines jeden Orths, die nöthige Fuhr zu verschaffen sich nicht wegern [sic] wird“ 2, blieb eine solche Anweisung wohl eher ein theoretisches Konstrukt. Dass sich die Struktur des allgemeinen Gesundheitswesens im Verlauf des 19. Jahrhunderts radikal ändern sollte und mit ihr die Aufgaben der akademisch ausgebildeten und bald auch über ein praxisrelevantes Spezialwissen verfügenden Ärzte, zeichnete sich spätestens seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ab. Hatten Universitätsprofessoren schon zuvor spezielle Verpflichtungen innerhalb der Stadt als Stadtphysici – in Rostock im Zuge des städtischen Aufschwungs seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar 3 – übernommen, suchten sie alsbald ihren Einfluss in zunehmend relevanten Fragen des gesundheitsökonomischen Sektors zu stärken. Hintergrund war die im Zuge der Aufklärung sich langsam durchsetzende Idee, die Gesundheit der Bevölkerung als ökonomische Notwendigkeit eines funktionierenden Staatsgefüges anzuerkennen. Das neuartige obrigkeitliche Interesse, welches sich neben der Gesundheits- auch in der Armenfürsorge widerspiegelt, machte u. a. eine breiter aufgestellte medizinische Versorgungslandschaft erforderlich.4 Auch universitär geschulte Ärzte waren interessiert, die sich neu strukturierende integrierende Versorgung mitzugestalten. So wies der mecklenburgische Herzog, Christian Ludwig (1683 – 1756), im Jahr 1751 an:

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Spezialisierung, Disziplinenbildung, Subdisziplinierung als Grundpfeiler moderner Medizin

Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert

[…] in Unsren Herzogtümern und Landen, besondere Kreis-­Physicos gnädigst zu ernennen, welche das Medicinal-­Wesen beobachten, dessen bisherige Mißbräuche, Unordnungen und Fehler abstellen, und überhaupt was zur Erhaltung oder Ersetzung der Gesundheit der Einwohner Unsrer Landen erfordert werden möchte, getreulich besorgen sollen.5

Zugleich verbot er 1753 „den Barbierern und Badern die innerlichen Curen [und] Verkaufung der Medicamentorum“ 6. 1788 erfolgte durch Friedrich Franz I. (1756 – 1837) die „Verordnung an die Beamte, daß Unterthanen nicht von Pfuschern und Afterärzten, sondern von examinirten und praktizirenden würklichen Doctoren curirt werden sollen“ 7. Anordnungen und Verbote waren eine Sache. Solange es keine Alternativen und entsprechende Kapazitäten, sowohl in personeller als auch räumlicher Hinsicht gab, waren deren Erfolgsaussichten eher gering. Die Notwendigkeit einer „medicinischen Polizey“ 8, einer alle Bevölkerungsschichten zugänglichen und umfassenden Gesundheitspflege sowie sozialen Fürsorge, stand im Raum und harrte der Umsetzung. Dieser sich erst allmählich entwickelnde Prozess war durch Spezialisierung und disziplinäre Differenzierung gekennzeichnet.9 Medizinische Experten konnten auf der Basis eines neuen und auf die aktuelle Forschung ausgerichteten Bereichs praktische Betätigungen auf der gleichen hierarchischen Ebene ausführen wie bereits etablierte Wissens- und Arbeitsbereiche. Dazu benötigten sie eine Verankerung innerhalb einer Institution (Krankenhaus, Klinik, Institut o. Ä.), die neben gesellschaftlicher Anerkennung und finanzieller Unterstützung eine Fortführung des spezialisierten Wissens durch Bestimmung von Ausbildungsinhalten und Gründung eigenständiger Fachgesellschaften und Publikationsorgane ermöglichten. Dabei war es, wie erwähnt, nicht selbstverständlich, dass akademisch gebildeten Medizinern die Primärversorgung auch der unteren und mittleren Schichten in praxi zukam. Auch dies vollzog sich erst allmählich mit der Herausbildung des Krankenhauses nach heutigem Verständnis und der sich damit ändernden Beziehung zwischen Ärzten und Patienten. Den schwierigen Weg der Gründung und Umsetzung eines solchen Krankenhausbaus in Rostock zeichnen im Folgenden Anastasia Imberh und Bernd J. Krause in ihrem Beitrag nach. Nach „Chaos“ und „unendlichen Verhandlungen“ – so das Empfinden der Zeitgenossen – hatten Herzoghaus, Universität und Stadt mehr als 50 Jahre gebraucht, um die finanziellen Mittel, einen Betreiber und passenden Standort sowie einen geeigneten architektonischen Entwurf zu finden. Die beiden Autoren analysieren den baugeschichtlichen Hintergrund im Kontext funktional-­sachlicher Gesichtspunkte, die für eine zweckorientierte Differenzierung der Krankenhausorganisation von zunehmender Bedeutung war: Die bauliche Gestaltung musste sich den medizinischen Erfordernissen anpassen. Schon bald nach Fertigstellung des „kleinen kompakten Hauses“ waren Erweiterungen notwendig. Entsprechend der zunehmenden Spezialisierung, so Imberh und Krause, mussten neue Abteilungen geschaffen werden. Zudem erforderte der verstärkt stattfindende Unterricht am Krankenbett durch Professoren der Universität weitere Kapazitäten. Am Ausgang des 19. Jahrhunderts war man dem funktionellen Krankenhaus mit Operationsräumen, Krankensälen, Isolierabteilungen sowie Ärzte-, Lehr- und Utensilienräumen, in dem – wie noch im Armeninstitut alten Typus – nun kein Platz mehr für chronisch Kranke oder arme Pfleglinge war, sehr nah gekommen. Symbolisch dafür steht der Übergang vom Stadt- zum Großherzoglichen Universitäts-­Krankenhaus um 1900, der zu einer Neuorganisation der medizinischen Versorgungslandschaft in Rostock führte. Damit einher ging der schwierige Weg der Institutionalisierung akademischer Fächer und der Gründung von Spezialkliniken. Hier setzt der Beitrag von Sophie Große an. Am Beispiel der Erbauung einer eigenständigen Augenklinik in Rostock zeichnet sie den steinigen Pfad bis zu deren Umsetzung

Kathleen Haack

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und Etablierung im Kontext mehrerer klinischer Bauvorhaben im ausgehenden 19. Jahrhundert nach. Dabei betrachtet sie die Prozesse, Schwierigkeiten und Dynamiken eines solchen Unterfangens in Konkurrenz zu anderen, sich ebenfalls etablierenden und auf Eigenständigkeit drängenden Spezialfächern. Im Mittelpunkt von Großes Ausführungen stehen die Bemühungen von Carl Wilhelm von Zehender, einem Graefe-­Schüler, der in Rostock eine lange Tradition aufgriff und schließlich hier 1869 zum ersten Ordinarius für Ophthalmologie ernannt wurde. Sie kann zugleich nachweisen, dass eine historische Betrachtung, die ausschließlich auf die Besetzung erster Ordinariate und die Entstehung von Klinikneubauten fokussiert, zu kurz greift. Dementsprechend zeichnet sie Entwicklungslinien der Augenheilkunde an der Medizinischen Fakultät Rostock seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nach. Dass der Neubau der Augenklinik schließlich nicht mehr unter der Direktion von Zehenders, der mit großem Engagement und persönlichem, auch finanziellem Einsatz mehrere Jahrzehnte daraufhin gearbeitet hatte, stattfand, zeigt, wie schwierig die Aushandlungsprozesse zwischen der Stadt Rostock, der Universität und dem Herzog auch in Bezug auf eine moderne medizinische Entwicklung in der Stadt an der Warnow und deren Universität waren. Einen Einblick in die Entwicklungen verschiedener Spezialdisziplinen im 19. Jahrhundert an der Medizinischen Fakultät Rostock gibt Kathleen Haack. Im Zuge der naturwissenschaftlich-­positivistischen Wende in der Medizin war es zu einem organisierten und differenzierten Medizinalwesen gekommen; ein dynamischer Prozess, bei der universitär ausgebildeten Ärzten und Hochschullehrern eine immer wichtigere Rolle zukam. So lassen sich erste wegweisende Spezialisierungstendenzen schon im ausgehenden 18. Jahrhundert nachweisen. Geburtshilfe und Gynäkologie waren ihrer Bedeutung wegen früh eigenständig geworden. Auch bei der Psychiatrie gibt es solche Tendenzen mit dem St. Katharinenstift in Rostock. Ein Sozialsystem spezialisierter wissenschaftlicher Forschung und Kommunikation bildete sich in Rostock, so Haack, aber erst seit den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts heraus. Dabei ist die Bedeutung des 1855 errichteten Stadtkrankenhauses nicht zu unterschätzen. Für den universitär ausgerichteten praktischen Unterricht stellte es den wichtigsten Raum dar. Hier konnten medizinische Sachverständige ihr Wissen schulen und ausdifferenzieren. Schließlich forderten sie neue spezialisierte Räumlichkeiten für sich ein und banden Nachwuchs an sich. Neben der Etablierung eigener Institute für die medizinischen Grundlagenfächer konnten neue Kliniken mit eigenen (Extra)Ordinariaten entstehen wie etwa die Augenheilkunde oder die erste Fachklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde an einer deutschen Universität und auch das erste Ordinariat für Ohren- und Kehlkopfheilkunde. Der schwierigen Disziplingenese der Neurologie gehen Kumbier und Karenberg nach. Ausgehend von der Entwicklung in Deutschland können sie zeigen, dass um die Mitte des 19. Jahrhunderts sich langsam ein relativ geschlossenes System der Hirnforschung herausbildete. Den historischen Anfang markiert Moritz Heinrich Rombergs „Lehrbuch der Nervenkrankheiten“. Angesiedelt zwischen Innerer Medizin und Psychiatrie war die Entstehungsphase der Neurologie von Konfrontation und Abgrenzung geprägt, ein dynamischer Prozess, der auch in Rostock, so die beiden Autoren, unterschiedliche Akteure auf diversen institutionellen und politischen Ebenen auf den Plan riefen. Sah es zunächst so aus, als würde an der Rostocker Universität noch vor dem Ersten Weltkrieg ein Extraordinariat für Neurologie, angesiedelt in der Inneren Medizin, entstehen, zerbrach diese Idee am Widerstand aus den psychiatrischen Reihen. Spätestens mit der Berufung des Neuro-­Psychiaters Karl Kleist 1916 war ein so starkes Gegengewicht gegeben, dass die Neuro-­Internisten, allen voran Hans Curschmann, die Idee der Eigenständigkeit ver-

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Spezialisierung, Disziplinenbildung, Subdisziplinierung als G ­ rundpfeiler moderner Medizin

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werfen mussten. Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts herrschte ein Status Quo; Vertreter beider Fachgebiete lehrten und forschten über neurologische Themen. 1958 konnte an der Universität Rostock ein eigener Lehrstuhl für Neurologie – der erste in der DDR  – etabliert werden. Die Vorzeichen waren dann allerdings eher politischer und weniger fachlicher Natur.

Anmerkungen 1 2 3 4 5

Zum Beispiel bei Tauchnitz 2004, S. 143. Zit. nach Masius 1811, S. 5. Vgl. Münch: „Gedoppeltes Amt“ in diesem Band. Foucault 1973; Sachße/Tennstedt 1998 sowie Frevert 1984. Zit. nach Masius 1811, S. 7.

6 7 8

Ebd., S. 22. Ebd., S. 41. Zu deren bekanntesten Vertretern gehörte der Jenaer Medizinprofessor Christian Rickmann (1741 – 1772), dessen Arbeiten und Ansätze wiederum Vorbild für Johann Peter Frank (1745 – 1821) waren. Frank, einer der

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bekanntesten, im heutigen Sinne Sozialmediziner, trat zeit seines Lebens für die Notwendigkeit einer staatlich zentralisierten Gesundheitsfürsorge ein. Vgl. Frank 1779 – 1819; zu Frank vgl. Piper 2003. Vgl. Stichweh 2013, hier vor allem S. 207 ff.

Literaturverzeichnis Literatur Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik: Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. Hanser, München 1973. Frevert, Ute: Krankheit als politisches Problem 1770 – 1880. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984. Masius, Georg Heinrich: Mecklenburg-­Schwerinische Medizinal-­Gesetze. Selbstverlag, Rostock 1811. Piper, Anke: Johann Peter Frank: Vom Arzt zum Gesundheitspolitiker. Dtsch Arztebl 2003; 100(28 – 29): A–1951 / B–1618 / C–1526.

Kathleen Haack

Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum 1. Weltkrieg. Kohlhammer, Stuttgart 1998. Stichweh, Rudolf: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen, 2. Aufl. transcript, Bielefeld 2013. Tauchnitz, Thomas: Die „organisierte“ Gesundheit: Entstehung und Funktionsweise des Netzwerks aus Krankenkassen und Ärzteorganisationen im ambulanten Sektor. DUV , Wiesbaden 2004.

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Architektur des Rostocker Stadtkrankenhauses Vom Stadtkrankenhaus zum ­Großherzoglichen Universitäts-­Krankenhaus Anastasia Imberh und Bernd Joachim Krause

Einleitung Die Gründungsphase des Rostocker Stadtkrankenhauses war ein langwieriger, mehr als 60 Jahre dauernder Prozess. Als es schließlich am 30. Juli 1855 eröffnet werden konnte, lagen hinter den beteiligten Akteuren der Herzoglichen Regierung in Schwerin, der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock und dem Magistrat der Stadt zähe, bis ins Jahr 1794 zurückreichende Verhandlungen. Auch wenn über die prinzipielle Notwendigkeit eines solchen Krankenhauses für die Versorgung der städtischen Kranken in Rostock kaum Zweifel bestanden hatten, war der Weg dorthin ein extrem steiniger. Die bereits vorhandenen öffentlichen wie auch privaten Einrichtungen zur Krankenversorgung waren im Allgemeinen zu klein oder befanden sich in einem unzureichenden und häufig unzweckmäßigen Zustand. Allenfalls konnten sie als Zwischenlösungen angesehen werden: Das sogenannte „Lazareth“ am Strande existierte bis ca. 1805,1 ein interimistisch betriebenes Krankenhaus von 1805 bis 1846.2 Dieses an der Grube liegende Haus stand unter der Leitung des Armeninstituts 3 und musste 1846 wegen Baufälligkeit abgerissen werden. Die von Heinrich Spitta (1799 – 1860) darin betriebene Poliklinik, die auch der studentischen Ausbildung diente, existierte von 1828 bis 1838. Die Chirurgische Klinik von Johann Wilhelm Josephi (1763 – 1845) musste 1804, nur drei Jahre nach ihrer Eröffnung, wieder schließen, da die Mittel aus dem privaten Vermögen Josephis stammten und nicht mehr ausreichten. Lediglich die Medizinisch-­Chirurgische Klinik von Johann Karl Friedrich Strempel (1800 – 1872), 1828 gegründet und ab 1846 die Aufgaben des Armenkrankenhauses vollständig übernehmend, existierte kontinuierlich bis zum Umzug 1855 in das neu errichtete Rostocker Stadtkrankenhaus. Strempel (Abb. 1) war es auch, der maßgeblich an den Verhandlungen für den Neubau beteiligt war und einen entscheidenden Durchbruch erwirken konnte: So stellte im Jahr 1838 die Großherzogliche Regierung dem Magistrat der Stadt Rostock das Vermögen der ehemaligen St. Johannis-­Kirche, die zum ehemaligen Dominikanerkloster gehört hatte, zum Bau eines Städtischen Krankenhauses zur Verfügung. Einer der wichtigsten Schritte war damit vollzogen. Und dennoch verzögerte sich die Umsetzung weiter. Neben Abstimmungsschwierigkeiten zwischen dem Armenkollegium, dem die Verwaltung des Krankenhauses oblag

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Architektur des Rostocker Stadtkrankenhauses

Abb. 1  Johann Karl Friedrich Strempel, Ölgemälde von Elisabeth Strempel, 1875.

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und der Fakultät, die in dem Krankenhaus die Ausbildung der Studenten realisieren sollte, waren die Unruhen von 1848 ein Grund für den fortwährenden Aufschub. 1852 war schließlich ein geeigneter Bauplatz für das Krankenhaus gefunden worden. Außerhalb der Stadt, gegenüber der Stadtmauer und in der Nähe des Kröpeliner Tors auf dem Gebiet des ehemaligen Armenkirchhofs der St. Gertrudenkapelle wurde das Rostocker Stadtkrankenhaus bis 1855 errichtet (Abb. 2).

Baugeschichtlicher Hintergrund des ­Krankenhausbaus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Die Entstehung des Stadtkrankenhauses Rostock fällt in eine allgemeine Entwicklung des zivilen Krankenhauswesens innerhalb Europas, bei der der Übergang von Fürsorge- und Verwahreinrichtungen auf städtischer Ebene in spezifisch medizinische Institutionen erfolgte. Vor dem Hintergrund der im Zuge der Aufklärung verstärkt geforderten und von staatlicher Seite auch geförderten Gesundheitsprävention kam es zu einer gesellschaftlichen Medikalisierung, bei der dem Problem der Armenfürsorge zunehmend unter medizinischem Blickwinkel begegnet wurde. Das Krankenhaus, so auch in Rostock, entwickelte sich von einer städtischen Anstalt zu einer zentralen Institution der städtischen Wohlfahrtspflege im Rahmen der Armenfürsorge. In dieser Phase des Umbruchs konnte und musste auf die Kompetenz der im akademischen Bereich angesiedelten und auf die Krankenbehandlung spezialisierten Einrichtungen zurückgegriffen werden: in Rostock etwa auf die oben bereits erwähnten privat getragenen klinischen Einrichtungen (Chirurgische Klinik von Johann Wilhelm Josephi,4 die Medizinische Klinik von Heinrich Spitta 5, die Medizinisch-­Chirurgische Klinik von Johann Karl Friedrich Strempel).6 Hinzu kam, dass die Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte und zunehmend eingesetzte Narkose zu einer Zunahme von operativen Eingriffen führte, die ihrerseits entsprechende Räumlichkeiten für Operationssäle und Instrumentarien voraussetzten. Das neue Stadtkrankenhaus Rostock repräsentierte ein Akademisches Krankenhaus, das knapp zwei Jahrzehnte dem Armen-­Kollegium unterstand und in dem neben der Krankenversorgung und -pflege auch Unterricht am Krankenbett für Studierende der Medizin abgehalten wurde. Es diente also zugleich als Klinische Anstalt der Universität und stellt ein Beispiel für ein kleineres kompaktes Haus mit 120 Betten dar. Der Grundriss wurde nach den Vorstellungen Strempels und des Stadtphysikus Johann Friedrich Wilhelm Lesenberg (1802 – 1857) angelegt. Der für diesen Neubau maßgebliche Stadtbaumeister Wilhelm Theodor Schwedler (1805 – 1851) entwickelte in seinem Entwurf an den Außenfassaden einen Mischstil mit spätklassizistischen und gotischen Elementen. Die hochgezogenen, an Renaissancevorbilder erinnernden Türme für die Wendeltreppe, die den Bau flankieren, gaben der Anstalt ein markantes Aussehen. Nach dem Tod des städtischen Baumeisters Schwedler wurde der Bau von seinem Nachfolger, Stadtbaumeister Ferdinand Klitzing (1805 – 1883), in deutlich geänderter Fassung des ursprünglichen Entwurfs realisiert. Hinsichtlich der Krankenhaushygiene wurden keine Neuerungen eingeführt. Zwischen den Krankenzimmern und zu den beiden Seiten der Haupttreppe lagen die wichtigsten Nebenräume. Im Gebäude selbst hatte man einige Räume für den akademischen Unterricht vorgesehen und zusätzlich noch ein kleines Haus für die Pathologie im Gartengelände eingerichtet.

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Abb. 2  Das Krankenhaus in Rostock um 1860. Bernhard Schmidt (1820 – 1870). Die Abbildung zeigt das Städtische Krankenhaus in Rostock am Gertrudenplatz. Im Vordergrund sieht man eine von dem Gartenarchitekten Wilken angelegte Parklandschaft auf dem Gelände des ehemaligen Gertruden- und Armenfriedhofs. Das Städtische Krankenhaus in Rostock stellt ein Beispiel des Krankenhausbildes des späten Biedermeiers (ca. 1848 – 1860) dar. Die vorher durch ausgewogene Harmonie im Bildaufbau

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gekennzeichneten Ansichten sind weniger anmutig und spielerisch. „Als Beispiel für eine künstlerisch weniger ausgewogene Ansicht, die aber durch die ihr innewohnende Romantik imponiert“, kann eine Zeichnung des Städtischen Krankenhauses in Rostock gelten. Gezeichnet ist das Bild von B. Schmidt. Es handelt sich wohl um den Landschaftsmaler und Architekturzeichner Bernhard Heinrich Gustav Theodor Schmidt, der am 20. März 1820 in Zettemin geboren wurde und am 4. Dezember 1870 in Niesky starb.

Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um einen Vorentwurf zu einer Lithographie oder zu einem Stahlstich. Der Maler hat dem Städtischen Krankenhaus Rostock „eine fast überbordende Baumkulisse vorgelagert. Die eingezeichneten Spaziergänger und die Kutsche muss der Betrachter erst mühsam mit dem Auge suchen. Dem landschaftlichen Rahmen wurde scheinbar mehr Bedeutung zugemessen als der Darstellung des Krankenhausgebäudes“. (Murken 1978, S. 31)

Architektur des Rostocker Stadtkrankenhauses

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Abb. 3  Architekturplan: Flügel an der Ostseite der Klinik – Ansicht vom Wall.

Osterweiterung (1863) Nachdem das Rostocker Stadtkrankenhaus 1855 eröffnet worden war, behandelten sowohl die Medizinische als auch die Chirurgische Klinik dort ihre Kranken. Im zuerst errichteten dreistöckigen Mittelbau des Krankenhauses, dessen Haupteingang nach Süden ausgerichtet und der von einem breiten Korridor durchzogen war 7, waren im unteren Geschoss die Abteilung für innere Kranke, im zweiten Geschoss die Chirurgische Abteilung und im dritten die Abteilung für Privatkranke untergebracht. Im unteren Geschoss befanden sich auf der linken Seite die Krankensäle der Medizinischen Klinik, in denen Frauen untergebracht waren und auf der rechten Seite lagen die der männlichen Kranken. Im zweiten Geschoss befand sich über dem Haupteingang der Operationssaal der Chirurgischen Klinik. In der gleichen Etage lagen die Krankensäle für Frauen und Kinder der Chirurgischen Abteilung. Die Räumlichkeiten des dritten Geschosses waren zuerst für die „Krätzigen und Syphilitischen“ bestimmt, bevor dort die neu eingerichtete Augenklinik untergebracht wurde.8 Sie verfügte über einen Operationssaal, welcher sich über dem der Chirurgischen Klinik befand und kleiner als dieser war, über sieben Krankenzimmer, ein Zimmer für Augenspiegel-­Untersuchungen sowie weitere Räumlichkeiten für das Personal.9 Bereits im Jahre 1863 erwies sich die mit 136 Betten angelegte Klinik als zu klein. Ein Grund dafür war auch die stetige Zunahme der Domanialkranken, die zur Behandlung in das Stadtkrankenhaus kamen. Dementsprechend wurde eine Erweiterung, der Bau eines Flügels an der Ostseite der Klinik beschlossen. In Anlehnung an die Ideen und Anregungen des Leiters der Einrichtung und Ordinarius für Innere Medizin, Theodor Thierfelder (1824 – 1904), sowie Gustav Simons (1824 – 1876), Professor der Chirurgie und Augenheilkunde, entwarf Ferdinand Klitzing entsprechende Pläne und setzte die Maßnahmen um (Abb. 3). Die Großherzogliche Regierung unterstütze den Bau mit 30.000 Talern.10

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Nach der Fertigstellung des neuen östlichen Flügelanbaus wurden für die Erweiterung der Abteilung für innere Kranke das untere Stockwerk und das zweite Stockwerk für die Erweiterung der Chirurgischen Abteilung genutzt. Die chirurgischen männlichen Kranken waren in vier größeren Krankensälen im zweiten Stock des östlichen Flügelanbaus untergebracht. In der dritten Etage des neuen Flügelanbaus wurde die Station für die Privatkranken eingerichtet, mit insgesamt 17 Krankenzimmern.11 Die Zimmer dieser Privatstation waren alle tapeziert. Die übrigen Krankensäle waren mit Ölfarbe gestrichen.12 Mit der Zeit nahm die Anzahl der im Krankenhaus Behandelten immer mehr zu, insbesondere in der Chirurgischen Abteilung. Dort wurden in den Jahren 1874/1875 375 Kranke behandelt, dagegen waren es in den Jahren 1884/1885 schon 715. In der Inneren Abteilung stieg die Anzahl der Erkrankten von 395 1877/1878 auf 541 Kranke in den Jahren 1886/1887. 1880/1881 standen der Inneren Abteilung 68 Betten zur Verfügung, davon waren durchschnittlich 59 fast immer belegt. Darunter befanden sich viele Kranke mit akuten Infektionskrankheiten. Trotz der Erweiterung des Krankenhauses durch den östlichen Flügelanbau und den damit verbundenen Umstrukturierungen der Abteilungen erwies sich in den nächsten Jahren die Anzahl der Betten wiederum als zu gering, obwohl im Jahr 1889 dem Krankenhaus insgesamt 211 Betten zur Versorgung von Erkrankten zur Verfügung standen.13

Unterrichtsflügel (1887 – 1889) Die Räumlichkeiten wurden neben der Krankenversorgung und -unterbringung auch für den klinischen Unterricht genutzt. Der klinische Unterricht der Medizinischen Klinik, die damalige Bezeichnung der Inneren Medizin, fand in der ersten Zeit nach der Eröffnung des Krankenhauses vorwiegend an den Krankenbetten statt. Im Gegensatz dazu wurde der klinische Unterricht der Chirurgischen Klinik teilweise im Operationssaal, teilweise am Krankenbett abgehalten. Die Zahl der Medizinstudenten stieg stetig, so dass es nötig wurde, für den Unterricht der Medizinischen Klinik einen der Krankensäle zu nutzen. Dazu entfernte man die Hälfte der Betten, und die Patienten mussten den Krankensaal für die Dauer des Unterrichtes verlassen. Doch auch diese Räumlichkeiten reichten bald nicht mehr aus. Ebenso konnte der Operationssaal nicht mehr ausreichend Platz bieten. Daraufhin fasste man den Beschluss, an der Westseite des Krankenhauses einen Flügel anzubauen, welcher ausschließlich für Unterrichtszwecke genutzt werden sollte. Die Baupläne wurden von den beiden Baumeistern August Gaster (1852 – 1920) und Hermann Schlosser (1832 – 1913) nach den Vorstellungen von Thierfelder und Otto Madelung (1846 – 1926), Professor für Chirurgie, entworfen. Die Kosten für den neuen Unterrichtsflügel wurden mit 180.000 Mark veranschlagt. Die Großherzogliche Regierung übernahm 60.000 Mark dieser Summe, die übrigen 120.000 Mark wurden vom Landtag gezahlt. Der Bauplatz wurde von der Stadt Rostock zur Verfügung gestellt. Auf dem Terrain des neu geplanten Flügels im westlichen Krankenhausgarten stand eine hölzerne Baracke, die für Kranke der Chirurgischen Abteilung mit unreinen Wunden bestimmt war.14 Diese Baracke sollte abgebaut und in den östlichen Teil des Krankenhausgartens verlegt werden.15 Im Jahre 1887 konnte mit dem Bau des Unterrichtsflügels begonnen werden. Im Dezember 1889 wurde der Flügel an der Westseite des Krankenhauses fertiggestellt.16 Der Haupteingang des Unterrichtsflügels lag zum Gertrudenplatz. Eine breite Doppeltreppe führte vom Keller bis in die erste Etage (Abb. 4). Die neuen Räume für den klinischen Unterricht der Medizinischen Klinik befanden sich im Unterrichtsflügel im Erdgeschoss. Dazu gehörte das Auditorium der Medizini-

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Architektur des Rostocker Stadtkrankenhauses

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Abb. 4  Architekturpläne: „Entwurf zu einer chirurgischen und medicinischen Klinik für die Universität Rostock“, 1887, Ansicht von der Gertrudenstraße.

schen Klinik, mehrere Räume für mikroskopische und chemische Untersuchungen, Zimmer für die Medizinische Poliklinik und das Wartezimmer für die ambulanten Kranken. Hinzu kamen Räume für die Direktoren der Klinik, Zimmer für Assistenten und eine Diakonissin sowie eines Protokollanten. In der ersten Etage lagen die Räume für den klinischen Unterricht der Chirurgischen Klinik. Neben dem großen Operationssaal, der Platz für 100 Studierende bot, gab es Nebenzimmer für die Aufbewahrung der Instrumente und für die erforderlichen Vorbereitungen vor Operationen. Des Weiteren standen ein Raum für Untersuchungen und Operationen für das Ambulatorium, ein Wartezimmer, Zimmer für mikroskopische und chemische Untersuchungen und ein Röntgenzimmer zur Verfügung. Das Kellergeschoss beherbergte Wohnräume des Hausdieners und des Hauswartes, eine Heizungsanlage und Räume für die Herstellung von Verbandsmaterial.17 Der neue Unterrichtsflügel des Krankenhauses bot genügend Platz für den klinischen Unterricht der Medizinischen und Chirurgischen Klinik, welcher nun unter besseren Bedingungen stattfinden konnte.

Pavillonbauten (1893) Die Bauweise von Krankenhäusern veränderte sich im Laufe der Zeit. Die bis dahin massiven Mehrgeschossbauten, welche alle Kliniken zentral in einem Komplex bündelten, wichen allmählich einem neuen Baustil. Diesem lag nicht mehr der zentrale Massivbau zugrunde, sondern eine dezentrale Bauweise, als dezentrales Pavillonsystem bezeichnet. Beim Pavillon-­ Krankenhaus bevorzugte man ein- bis zweigeschossige Bauten, die inmitten von Parkanlagen errichtet wurden. Das ehemalige Korridorkrankenhaus wurde in abgeteilte Stationseinheiten aufgetrennt. Bereits seit dem 18. Jahrhundert hatte man die Theorie, dass sich Wundfieber bei Kranken durch eine ständige Durchlüftung der Räume vermeiden ließ, indem man versuchte, eine „Luftinfektion“ zu verhindern. Mit der Errichtung von Pavillonbauten im Park brachte man die Patienten an die frische Luft. „Kennzeichnende Merkmale der Krankensäle waren hohe und breite Fensterbänke, Veranden, Terrassen und Liegewiesen.“ 18 Obwohl es neue Erkenntnisse auf dem Gebiet der Bakteriologie und der aseptischen Operations- und Verbandstechnik gab, wurde von 1871 bis 1918 das dezentrale Pavillonsystem als das günstigste angesehen. So entstanden in Deutschland viele Krankenanstalten, deren bauliche Maßnahmen darauf abzielten, „die Luftinfektion zu bekämpfen“ 19. Es gab sowohl die Bauweise eines massiv gebauten Pavillonkrankenhauses, als auch, im Gegensatz dazu, in Leichtbauweise errichtete Barackenkrankenhäuser, die nur über eine Etage verfügten. Auf dem Gelände des Rostocker Stadtkrankenhauses wurden 1893 im nordöstlichen Teil drei Isolierpavillons errichtet (Abb. 5). Der am nördlichsten gelegene Pavillon war für die Aufnahme von Diphtheriekranken bestimmt. Zudem enthielt er ein Operationszim-

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Abb. 5  Architekturplan des Diphtherie-­Pavillons; nördliche und östliche Ansicht.

mer für Tracheotomien. Die übrigen zwei Pavillons grenzten aneinander. Der nördliche dieser Pavillons war für Scharlachkranke bestimmt. Insgesamt konnten hier zehn Scharlachkranke untergebracht werden. Der südliche Pavillon bestand aus zwei Etagen. In der oberen Etage konnten zehn Masernkranke, in der unteren Etage bis zu zwölf Kranke mit Flecktyphus und anderen Infektionskrankheiten untergebracht werden. Geheizt wurde im Scharlach- und Diphtheriepavillon durch eine Niederdruck-­Dampfheizung, der südliche Pavillon wurde mit Kachelöfen beheizt.20 Zuvor wurde das sich bis dahin im nördlichen Teil des Krankenhausgartens befindliche Isolierhaus mit drei Etagen für die Unterbringung von Kranken genutzt, die an Diphtherie, Masern und Scharlach sowie an anderen ansteckenden Infektionen litten. Im Jahr 1894 wurden zudem im Süden des Krankenhausgartens zum Schröderplatz hin zwei hölzerne, an der nördlichen Längsseite offene Liegehallen mit je drei Betten errichtet, bestimmt für die Aufnahme von Lungenkranken. Das ehemalige Isolierhaus wurde 1897 zu einer Heilgymnastischen Abteilung umgebaut.21 Bereits im Jahre 1887 wurde auf dem Krankenhausgelände eine Desinfektionsanstalt eingerichtet. Das Gebäude befand sich im nördlichen Geländeteil neben dem Wasch- und Dampfkesselhaus. Es verfügte über einen getrennten Ein- und Ausgang. Desinfiziert wurde mittels eines großen Schimmel’schen Apparates 22 mit heißem Dampf. Alle baulichen Veränderungen, die mit der Errichtung dieser dezentralisierten Bauweise der Pavillons einhergingen, dienten dazu, die Ansteckungsgefahr für die übrigen Kranken zu senken und unter besseren hygienischen Bedingungen den Erkrankten die ihnen zustehende Pflege und Fürsorge zukommen lassen zu können (Abb. 6).

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Architektur des Rostocker Stadtkrankenhauses

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Abb. 6  Lageplan des Großherzoglichen Universitäts-­Krankenhauses (ca. 1900).

Lehre an der Medizinischen Fakultät Vor der Eröffnung des Rostocker Stadtkrankenhauses wurde die Lehre und praktische Unterweisung für die Studierenden in den chirurgischen Privatkliniken, die von Professoren geleitet wurden, abgehalten, so u. a. in den oben erwähnten Einrichtungen von Josephi, Spitta und Strempel. Nun konnte nicht nur eine Verbesserung der Krankenversorgung gewährleistet werden, sondern auch die der medizinischen Ausbildung. Die Anzahl der Studierenden der Universität Rostock und damit auch der Medizinstudenten war im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts rasant angestiegen. Zählte die Universität 1870 gerade einmal 139 Studenten, davon 27 der Medizin, waren es zum Sommersemester 1883 231 und 61 davon Studierende der Medizin.23 1892 waren es bereits 396; die Zahl der Medizinstudenten betrug 138.24 Bis zur Jahrhundertwende blieb die Anzahl der Medizinstudenten relativ konstant, ging sogar geringfügig zurück, während die Universität zum Wintersemester 1900/1901 insgesamt schon 526 Studierende zählte. In der Medizinischen Fakultät gab es 1883 acht ordentliche Professoren: neben den erwähnten Otto Madelung und Theodor Thierfelder dessen Bruder Albert Thierfelder

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(1842 – 1908), Professor für Pathologische Anatomie, Hermann Aubert (1826 – 1892), Professor für Physiologie, Karl Wilhelm von Zehender (1819 – 1916), Professor für Augenheilkunde, den Gynäkologen Friedrich Schatz (1841 – 1920; Dekan 1883), den Anatomen Friedrich Merkel (1845 – 1919) sowie Otto Nasse (1839 – 1903), Professor für Pharmakologie und Physiologische Chemie; daneben lehrten ein außerplanmäßiger Professor sowie vier Privatdozenten.25 Vorlesungen wurden abgehalten zu den Lehrfächern Enzyklopädie, Anatomie, Physiologie, Hygiene, Pharmakologie, Pathologie, Chirurgie, Ophthalmologie, Gynäkologie und Klinik. Darüber hinaus gab es Vorlesungen, deren Termine erst zu Beginn des Semesters bekanntgegeben wurden (darunter Übungen in Physiologie, Operationsübungen, experimentelle pathologisch-­anatomische und histologische Arbeiten, theoretisch-­praktischer Kurs der Hygiene, Übungen Embryologie, Pathologie und Histologie der Infektionskrankheiten (Tuberkulose, Syphilis, Lupus, Actinomykose).26

Übergang zum Großherzoglichen Universitäts-­Krankenhaus (1900) Bis zum Jahre 1873 unterstand das Krankenhaus dem Armen-­Kollegium. Am 24. März 1873 beschlossen Rath und Bürgerschaft, die Verwaltung des städtischen Krankenhauses einer städtischen Deputation zu übergeben und von der Verwaltung von derjenigen des Armenwesens völlig zu trennen. Am 1. Juli 1873 kam diese Aenderung in der Verwaltung zum Tragen.27

Die Entwicklung des Unterrichts und die Zunahme der Zahl der Studierenden an der Landesuniversität waren der Anlass für den Bau des Unterrichtsflügels mit Landesmitteln gewesen, der 189228 in Benutzung ging.29 Die Vertragsverhältnisse für das Krankenhaus zwischen Regierung und der Stadt Rostock waren 1888 mit einem Zusatzvertrag 1896 neu geregelt worden. Der Medizinischen und Chirurgischen Klinik standen von der Medizinischen Fakultät, durch den Großherzog ernannt, ständige Oberärzte vor. Aufgrund verschiedener Interessenlagen der Stadtverwaltung und der Medizinischen Fakultät der Universität wurde eine Neugestaltung des Gemeinschaftsverhältnisses mit der Stadt erforderlich. Anspruch war es auch, die Leitung des Krankenhauses in ärztliche Hände zu geben, ein Vorgang, der an mehreren deutschen Universitäten schon stattgefunden hatte. Dies mündete in dem Bestreben, die Kliniken des Stadtkrankenhauses in eine akademische Verwaltung zu überführen. Es kam in der Folge zu Verhandlungen mit der Stadt Rostock. Im Oktober 1900 wurde nach langandauernden Verhandlungen ein Vertrag abgeschlossen. Im Rahmen der vertraglichen Regelung ging das Stadtkrankenhaus unentgeltlich in den Besitz des Großherzogs und damit in großherzogliche und letztlich universitäre Verwaltung über. Die Medizinische und die Chirurgische Klinik ebenso wie die Augenklinik und Ohrenklinik wurden verpflichtet, die Kranken des Stadtbezirks entsprechend vorhandener Kapazitäten aufzunehmen und zu behandeln. Dafür verpflichtete sich die Stadt, Kranke in diesem und keinem anderen Krankenhaus versorgen zu lassen und musste für die Unterbringung und Behandlung nach vereinbarten Sätzen zahlen. Daneben musste die Stadt einen festen Zuschuss zum Betrieb des Krankenhauses bewilligen. Die Stadt verlor durch diesen Vertrag die Verfügung über das Krankenhaus und hatte aus dem Vertrag keinen Anspruch der unbegrenzten Versorgung von städtischen Kranken ebenso wenig wie für auswärtige Kranke. Insgesamt führte diese vertragliche Vereinbarung im Interesse der Universität und des Landes zu einer nahezu vollständigen Neuorganisation des Städtischen Krankenhauses zwischen der Regierung und der Stadt Rostock. Der Vertrag der Übernahme des Städtischen Krankenhauses Rostock in die Großherzogliche Verwaltung wurde als Landtags-­Drucksache am 15. 11. 1900 veröffentlicht.30

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Architektur des Rostocker Stadtkrankenhauses

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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17

Vgl. Madelung 1889, S. 137. Vgl. ebd., S. 138. Vgl. Amhausend 2003, S. 33 ff. Vgl. Amhausend 2003, S. 39 ff. Vgl. ebd., S. 48 ff. Vgl. ebd., S. 33 ff. Vgl. Madelung 1889, S. 143. Vgl. ebd., S. 144. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. ebd., S. 141. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. Thierfelder 1901, S. 352. Vgl. Madelung 1889, S. 152. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. ebd., S. 159 ff. Vgl. Landtag-­Drucksache 1900, S. 4 ff. Vgl. Madelung 1889, S. 159 ff.

18 19 20 21 22

Murken 1995, S. 141 f. Vgl. ebd., S. 141. Vgl. Thierfelder 1901, S. 354. Vgl. Landtag-­Drucksache 1900, S. 4. Der von dem Chemnitzer Maschinenfabrikanten Oscar Schimmel (1838 – 1896) in Zusammenarbeit mit dem Verwaltungsdirektor des Berliner Krankenhauses Moabit, Heinrich Merke (1843 – 1902), entwickelte Apparat wurde seit den 1880er-­Jahren vermehrt in Krankenhäusern zur Desinfektion und damit zur Seuchenbekämpfung eingesetzt. 23 Vgl. Landtag-­Drucksache 1900, ­Anlage  J. 24 Vgl. ebd.

25 Vgl. „Verzeichniss [sic] der Vorlesungen, welche an der Landes-­ Universität Rostock im Sommer-­ Semester 1883 vom 15. April bis 15. August gehalten werden.“ 26 Vgl. ebd. 27 Madelung 1889, S. 142. 28 Obwohl der Anbau bereits drei Jahre zuvor fertiggestellt worden war, wurde der Unterrichtsbetrieb erst 1892 aufgenommen. Die Gründe ­hierfür konnten bisher nicht ausreichend geklärt werden. 29 Vgl. Landtag-­Drucksache 1900. 30 Vgl. ebd.

Literaturverzeichnis Amhausend, Astrid: „Chaos“ und „unendliche Verhandlungen“. Die Gründungsphase des Rostocker Stadtkrankenhauses 1794 – 1865. Ingo Koch Verlag, Rostock 2003. Landtag-­Drucksache 1900: Höchstes Großherzöglich Mecklenburg-­Schwerinsches Reskript vom 15. November 1900 betreffend Uebernahme des städtischen Krankenhauses zu Rostock in die Landesherrliche Verwaltung. Carl Boldt’sche Hof-­Buchdruckerei, Rostock 1900. Madelung, Otto: Das Stadt-­Krankenhaus, in: Uffelmann, J. (Hrsg.): Hygienische Topographie der Stadt Rostock. Auf Veranlassung des „Rostocker Vereins für öffentliche Gesundheitspflege“. Werthers Verlag, Rostock 1889. Murken, Axel Hinrich: Das Bild des deutschen Krankenhauses im 19. Jahrhundert. Verlag Murken-­Altrogge/F. Coppenrath Verlag, Münster 1978.

Murken, Axel Hinrich: Vom Armenhospital zum Großklinikum. Die Geschichte des Krankenhauses vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. DuMont Buchverlag, Köln 1995. Pettke, Sabine (Hrsg.): Veröffentlichung der historischen Kommission für Mecklenburg, Reihe A: Biographisches Lexikon für Mecklenburg, Bd. 3. Verlag Schmidt-­Römhild, Rostock 2001. Thierfelder, Theodor: Das Großherzogliche Universitäts-­ Krankenhaus, in: Festschrift der XXVI . Versammlung des deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, gewidmet von der Stadt Rostock. Rostock 1901. Verzeichniss der Vorlesungen, welche an der Landes-­ Universität Rostock im Sommer-­Semester 1883 vom 15. April bis 15. August gehalten werden. Universitäts-­ Buchdruckerei von Adlers Erben, Rostock 1883.

Anastasia Imberh | Bernd Joachim Krause

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„Man könne nicht allen Wünschen entsprechen“ Von den Schwierigkeiten, in Rostock eine Klinik zu gründen Sophie Grosse „Man könne nicht allen Wünschen entsprechen.“ Mit diesen Worten äußerte Landrat Graf von Bernstorff zu Wedendorf in der Mecklenburger Landtagssitzung am 11. November 1885 seinen Unmut gegen den Bau einer vom Stadtkrankenhaus abgesonderten, eigenständigen Augenklinik in Rostock. „Im nahen Auslande seien derartige Anstalten, welche den Bedürfnissen der einheimischen studirenden Jugend genügen, und es sei nicht erforderlich, daß gerade auch im Inlande hierfür eine Abhülfe geschaffen wird. Wenn die [sic] Committe es als einen Ehrenpunkt hingestellt hat, daß in Rostock, wo eine solche Anstalt nicht besteht, diese Ausnahme aufhören soll, so könne er solches nicht anerkennen“, wird seine Aussage im Landtagsbericht in der Rostocker Zeitung weitergeführt.1 Angeregt wurde der Bau zum wiederholten Mal durch Wilhelm von Zehender (Abb. 1), welcher zu diesem Zeitpunkt bereits knapp zwanzig Jahre als Professor der Medizin in Rostock die Augenheilkunde vertrat. Um einen „Ehrenpunkt“, wie Bernstorff es formulierte, handelte es sich dabei jedoch mitnichten. Zum Bau der Augenklinik waren Zuschüsse bei den Ständen beantragt worden, und deren Bewilligung schmerzte die Landtagsabgeordneten weit mehr als das Manko einer fehlenden eigenständigen Augenklinik in den beiden mecklenburgischen Herzogtümern. Zwar konnte Bernstorff sich mit seiner Kritik 1885 nicht durchsetzen und der Landtag stimmte der Bereitstellung der Gelder unter bestimmten Bedingungen zu. Trotzdem dauerte es weitere sieben Jahre – 37 Jahre nach Gründung des Stadtkrankenhauses sowie 23 Jahre nach Einrichtung einer Professur für Augenheilkunde – bis 1892 tatsächlich eine eigenständige Augenklinik in Rostock eröffnet werden konnte. Der Weg dorthin war langwierig und schwierig. Seine Fertigstellung fiel in eine Zeit, in der in Rostock mehrere Klinikneubauten entstanden bzw. in Diskussion oder Planung waren.2 Von der ersten Anregung sowie dem Zeitpunkt der Einrichtung einer Professur für Ophthalmologie bis zur tatsächlichen Eröffnung der Augenklinik vergingen über zwei Jahrzehnte, in denen das Projekt mehr als einmal zu scheitern drohte. Zwar war die Augenheilkunde eines der ersten medizinischen Spezialfächer, welches sich von der Chirurgie löste und die universitäre Selbstständigkeit erlangte,3 die institutionelle Verselbstständigung erfolgte in Rostock jedoch vergleichsweise spät.4 Während in den meisten Städten von der Gründung einer eigenständigen Professur bis zum Bau eines neuen bzw. gesonderten Augenklinikums nur wenige Jahre vergingen, dauerte es nur in Bonn und Würzburg noch länger als in Rostock; in Gießen, Tübingen und München gab es zumindest Interimslösungen.5 Was die Gründung medizinischer Anstalten betrifft, war die Augenklinik nicht das erste problematische Bauvorhaben in Rostock. Bereits die Bestrebungen zur Gründung

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Abb. 1  Karl Wilhelm von Zehender.

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Abb. 2  Stadtkrankenhaus um 1858.

eines Stadtkrankenhauses von angemessener Größe, welches zum Ausgangspunkt für diverse weitere Klinikgründungen wurde, zogen sich bis zu ihrer Vollendung 1855 über mehr als ein halbes Jahrhundert hin (Abb. 2).6 Bietet die Rostocker Universitätsmedizin heute insgesamt 36 Kliniken und Polikliniken sowie 26 Instituten ein gemeinsames Dach,7 so ist dies das Ergebnis einer Spezialisierung und Differenzierung innerhalb der Medizin, die ihren Ursprung institutionell im 19. Jahrhundert hatte. Noch im Jahr der Eröffnung des neuen Rostocker Stadtkrankenhauses umfasste die Medizinische Fakultät gerade einmal sechs Professoren sowie drei Privatdozenten und lediglich vier Institute bzw. Kliniken (Anatomie und „antropotomisches Museum“, Institut für vergleichende Anatomie und Physiologie, „Medicinische und Chirurgische Klinik“ sowie „Geburtshülfliche Klinik“).8 Wie sich die Fächerdifferenzierung und der Bau von Spezialkliniken bedingten und welche Prozesse, Schwierigkeiten und Dynamiken eine Rolle spielen konnten, soll hier am Beispiel der Ende des 19. Jahrhunderts erfolgten Ausgliederung der Augenklinik aus dem Rostocker Stadtkrankenhaus beleuchtet werden.9 Ab etwa 1800 kam es im deutschsprachigen Raum zu einer Welle von Krankenhausgründungen, welche die bis dahin die medizinische Versorgung tragenden Hospitäler abzulösen begannen. Zumeist handelte es sich um Heilanstalten in städtischer Verwaltung, die eine zunehmend stärkere medizinische Differenzierung aufwiesen: Es gab nach Krankheiten unterteilte Krankenzimmer oder Stationen und zumindest die Chirurgie und die (Innere) Medizin wurden, wenngleich in demselben Gebäude befindlich, institutionell

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voneinander getrennt. An diese neuen Krankenanstalten „dockte“ die praktische medizinische Ausbildung an, welche sich bereits seit Mitte bis Ende des 18. Jahrhunderts vor allem in privaten oder von den Universitäten unterhaltenen kleineren Kliniken einzelner Medizinprofessoren etabliert hatte. Zuvor hatte die medizinische Ausbildung nur in sehr theoretischer Form an den Universitäten stattgefunden, praktischer Unterricht, der sogenannte Unterricht am Krankenbett, kam erst mit Gründung entsprechender Privatkliniken durch Universitätsprofessoren auf. Die an den neuen Krankenhäusern angestellten Medizinprofessoren nutzten diese Entwicklung, um in den zumeist wesentlich größeren städtischen Krankenanstalten auf eine entsprechend größere Menge an „Unterrichtsmaterial“ zugreifen und die praktische Ausbildung der Studierenden vorantreiben zu können 10 – dieser neue Unterricht am Kranken wurde vor allem von Seiten der nicht universitären Krankenhausverwaltung besonders zu Beginn kritisch gesehen. Während die frühen Krankenhausgründungen in die Jahre um 1800 datieren, so in Wien (1795), in Berlin mit dem Neubau der Charité (1800), in München (1815) oder Hamburg (1823), kam es in Rostock erst 1855 zur Eröffnung des allgemeinen Stadtkrankenhauses mit Beteiligung der Universität und der Integration der Medizinischen und Chirurgischen Kliniken zum praktischen Unterricht der Studierenden.11 Für voneinander getrennte Kliniken der Universität einerseits und einem Städtischen Krankenhaus andererseits fehlten in Rostock die Gelder. Erste Bestrebungen zur Gründung eines Stadtkrankenhauses und damit einer institutionellen Verstetigung der medizinischen Versorgung lassen sich zwar bereits seit 1794 mit entsprechenden Überlegungen sowie der ersten privaten Klinikgründung durch Johann Wilhelm Josephi 1801 nachweisen. Auch gab es nach der nur vier Jahre bestehenden Klinik Josephis noch weitere private wie auch städtische Klinik- und Krankenhausvorläufer von geringerer Größe und in baulich zumeist eher unzureichendem Zustand (sie waren zu klein, zu alt, umfunktioniert und den medizinischen Ansprüchen nicht genügend). Sie standen jedoch in Konkurrenz zueinander, hatten aus verschiedenen Gründen nur kurze Zeit Bestand und sahen sich regional spezifischen Schwierigkeiten ausgesetzt.12 Die für Rostock charakteristische Triade Stadt – Universität – Herzog war zumindest theoretisch mit dem Moment durchbrochen, als die Universität – zuvor zu gleichen Teilen städtischer wie herzoglicher Gewalt unterstellt – ganz in herzoglichen Besitz überging und zu einer reinen Landesuniversität wurde. Dafür trat ab 1803 mit dem reformierten Armenkollegium ein neuer Mitspieler auf den Plan, der im Stadtkrankenhaus vor allem ein Instrument der Armenfürsorge und Arbeitsmarktpolitik sah.13 Auch auf Seiten des Herzogs zeigte man sich bezüglich der Krankenhausgründung zunächst zurückhaltend, und so waren die ersten Klinikgründungen Rostocks rein private Initiativen einzelner Professoren vor dem Hintergrund der Verbesserung der medizinisch-­praktischen Ausbildung. Bedenken von Seiten der Stadt, „daß die Verbindung einer clinischen Anstalt mit dem Krankenhause rücksichtlich der Behandlungsweise der Kranken nicht empfehlbar sei“ 14, bestanden zwar, konnten allerdings laut Aussage des Armenkollegiums von 1827 durch den Erfolg von Professor Spittas Klinik (Bestand 1825 – 1838) ausgeräumt werden.15 Trotz der durchaus positiven Erfahrungen insbesondere mit Spittas Klinik sowie derjenigen Carl Strempels, welcher als Professor der Medizin nach Gründung des Stadtkrankenhauses auch seine Leitung übernahm, blieb der Einflussbereich der Professoren, die im Krankenhaus als Ärzte fungierten, auf die Behandlung der Kranken und die universitäre Lehre beschränkt. Hierüber hinausgehend hatten sie auch noch ein halbes Jahrhundert nach Gründung des Stadtkrankenhauses in jeglichen Verwaltungsaufgaben keine Weisungsbefugnis. Zwar hieß es in den Verträgen stets, auf die Wünsche und den Rat der Ärzte sei von der Verwaltung möglichst einzugehen. Rostock blieb am Ende des

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19. Jahrhunderts jedoch fast das einzige universitär genutzte Stadtkrankenhaus, welches nicht unter ärztlicher Leitung und Verwaltung stand.16 Nicht nur in verwaltungstechnischen Fragen wie etwa dem Wärterwesen 17 hatten die am Krankenhaus tätigen Ärzte keine offizielle Weisungsbefugnis.18 Auch die Mehrfunktionalität des Krankenhauses, welches gleichzeitig als Stadtkrankenhaus, als Klinik für die Medizinische Fakultät und auch als Landeskrankenhaus für Domanialangehörige 19 diente, bereitete in der Praxis Schwierigkeiten für den Fortbestand der Klinik. Insbesondere die Lehre und der Unterricht der an der Medizinischen Fakultät Studierenden waren dabei seit der Gründung und in der weiteren Ausgestaltung wichtige, aber wie bereits angeführt nicht unumstrittene Aspekte. Neben den generellen Bedenken, die der Unterricht bei Außenstehenden bisweilen hervorrief, waren es vor allem ganz praktische Probleme, die den Kliniken begegneten. Obwohl ins Stadtkrankenhaus integriert, stießen die beiden Kliniken schnell an ihre räumlichen Grenzen. 1887 erfolgte der Anbau eines Klinikflügels für Lehrzwecke, an dem sich die Stadt finanziell aufgrund der klaren Zweckzuweisung allerdings nicht beteiligte. Dies führte wiederum zu einer Verkomplizierung der bestehenden Verträge, da das gesamte Gebäude – rechtlich gesehen – nun unterschiedlichen Parteien zugeordnet war und keine Einheit mehr darstellte. Auch die zunehmende Differenzierung innerhalb der Lehre führte zu neuen Schwierigkeiten, insbesondere zur allgegenwärtigen Raumnot, wie die nachträglich im Stadtkrankenhaus mitintegrierte Augenklinik zeigt.

Die Anfänge der Ophthalmologie in Rostock und ihre fachliche und institutionelle Verselbstständigung Der Fokus auf die Institutionalisierung akademischer Fächer und die Gründung von Spezialkliniken in diesem Umfeld verkürzt die zumeist wesentlich längere Tradition der einzelnen Bereiche und reduziert sie oft auf die Zeit nach ihrer Verselbstständigung. Ein in der Literatur bisher wenig beachteter Aspekt ist derjenige des ophthalmologischen Unterrichts vor Einrichtung selbstständiger Professuren ab 1866.20 So wird für Rostock mehrfach Gustav Simons Verdienst gelobt, die Ophthalmologie von der Chirurgie getrennt zu haben, ohne dabei auf die lange Zeit der Einbindung der Augenheilkunde in die akademische Lehre und deren schrittweise Verselbstständigung einzugehen.21 Spätestens seit 1798 lassen sich in der Hansestadt, mit Ausnahme weniger Jahre, Kurse über Ophthalmologie und Augenkrankheiten nachweisen.22 Wilhelm von Zehender widmete sich dabei erst als elfter Fachvertreter diesem Feld, als er 1866 nach Rostock berufen und 1869 zum ersten Rostocker Ordinarius für Ophthalmologie ernannt wurde. Seit Ende des 18. Jahrhunderts begann die Augenheilkunde, sich als Teil der universitären Chirurgie langsam hin zur fachlichen Selbstständigkeit zu entwickeln. Um 1800 fanden sich bereits vereinzelt erste besondere Lehraufträge, 1802 erhielt Erfurt eine eigene Augenheilanstalt, 1852 wurde in Leipzig das erste Ordinariat für Augenheilkunde geschaffen.23 Vor den Befreiungskriegen war damit, so Hans Eulner, „wie auf anderen Gebieten […] ein Potenzial der Spezialisierung erreicht, wie es erst etwa 50 Jahre später wieder zur Ausgangsposition der weiteren Entwicklung wurde“.24 Auch in Rostock findet sich um 1800 die Ophthalmologie in der Lehre vertreten, zumeist noch in Verbindung mit der Chirurgie; Bestrebungen zur Selbstständigkeit des Faches wurden dagegen erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts laut. In den Vorlesungsverzeichnissen lässt sich die Lehre über Augenkrankheiten in Rostock seit 1798 nachweisen. Johann Wilhelm Josephi (1763 – 1845, in Rostock tätig 1789 – 1845)25

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war zunächst Prosektor am Anatomischen Theater in Göttingen und bei der dortigen Entbindungsanstalt beschäftigt. 1789 wurde er als außerordentlicher Professor (ab 1792 ordentlicher Professor) nach Rostock berufen und las hier bis 1803 u. a. viermal über Augenkrankheiten, die erstmals in eigenen Kursen vertreten wurden (Abb. 3). Seit wann und in welcher Regelmäßigkeit die Ophthalmologie zuvor in anderen medizinischen Vorlesungen mitvertreten war, lässt sich nicht feststellen. Josephi lehrte nach August Gottlieb Richters drittem Band „Von den Krankheiten der Augen“ des 1790 erschienenen, insgesamt siebenbändigen Werks „Anfangsgründe der Wundarzneykunst“. Unter Richter hatte sich Göttingen seit den 1770er-­Jahren zum Mittelpunkt der deutschen Ophthalmologie entwickelt, und so lassen sich auch unter den in Rostock Ophthalmologie Lehrenden zahlreiche Einflüsse aus Göttingen nachweisen. Josephi selbst wies noch keinen echten Schwerpunkt in Ophthalmologie auf und lehrte diese nur sporadisch als eines von vielen Gebieten; neben anatomischen Vorlesungen unterrichtete er Chirurgie, Geburtshilfe, Naturgeschichte, Hygiene, Militärarzneikunde, Pathologie und Physiologie.26 1801 eröffnete er eine private Klinik, in welcher er erstmalig in Rostock praktischen Unterricht am Krankenbett für angehende Wundärzte durchführte. Seine Klinik hatte jedoch nur bis 1805 Bestand.27 In den Jahren 1798/99 lehrte noch zu Josephis Zeiten Heinrich Christian Friedrich Krauel (1767 – 1808, in Rostock 1798 – 1808)28 als Privatdozent, im Sommer 1799 auch über Augenkrankheiten. Es folgte Carl Theodor Ernst Brandenburg (1772 – 1827, in Rostock als Mediziner tätig 1806 – 1827)29, an der Medizinischen Fakultät von 1809 bis 1815, der, wenn auch nicht regelmäßig, neben chronischen Krankheiten und Arzneikunde explizit auch über Augenkrankheiten las. Im Jahr 1816 las Johann Ernst Heinrich Alban (1791 – 1856, in Rostock als Mediziner 1814 – 1830)30 einmalig über Augenkrankheiten und Anatomie. Der gebürtige Neubrandenburger zog 1830 jedoch auf sein Gut Klein Wehnendorf bei Sanitz und gründete dort die erste Maschinenbauanstalt Mecklenburgs, arbeitete später als Erfinder auf dem Gebiet der Dampf- und Sämaschinen und erlangte 1850 den Grad eines Dr. phil. Für die frühe Lehre der Ophthalmologie in Rostock am bedeutendsten waren schließlich Josephis Nachfolger, Carl Friedrich Quittenbaum (1793 – 1852, in Rostock 1821 – 1852),31 und Johann Carl Friedrich Strempel (1800 – 1872, in Rostock 1825 – 1872).32 Unter ihnen verstetigte sich die Lehre der Ophthalmologie und wurde später sogar von bis zu drei Dozenten zeitgleich vertreten. Quittenbaum übernahm 1823 zunächst als außerordentlicher und ab 1831 als ordentlicher Professor der Medizin neben der Lehre der Osteologie und Syndesmologie (Lehre der Knochen und Bänder) sowie der Physiologie auch die Lehre der Ophthalmologie und las diese bis 1852 in jedem Sommersemester. Strempel las Arzneikunde und Pharmazie, die Lehre und Behandlung akuter und chronischer Krankheiten und forensische Medizin und gab bis 1861 chirurgische und ophthalmologische Operationskurse. Strempel war es auch, der sich im Zuge seiner eigenen Chirurgisch-­Medizinischen Klinik, die er seit 1827 betrieb, und im Rahmen der Gründung des Rostocker Stadtkrankenhauses sowie als dessen erster Leiter intensiv für die praktische Ausbildung der Medizinstudie-

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Abb. 3  Wilhelm Josephi (Bild, o. J.).

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renden am Krankenbett einsetzte und für die Verbesserung dieser kämpfte. Mit Eröffnung seiner eigenen Klinik begann er mit der Demonstration chirurgischer und ophthalmologischer Operationen und gab bald darauf auch Operationsübungen für Studierende an Leichen. Hierbei ist zu hinterfragen, wie oft diese Übungen tatsächlich durchgeführt werden konnten. Die Anzahl der der Anatomie zur Verfügung stehenden Leichen war in den mittleren Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sehr gering – ob dies in den Privatkliniken einzelner Professoren anders aussah, ist unklar, aber eher zu bezweifeln.33 Im Sommersemester 1829 lehrte einmalig statt Strempel Johann Friedrich Wilhelm Lesenberg (1802 – 1857, in Rostock 1827 – 1857)34 den Kurs über ophthalmologische Operationen, konzentrierte sich ab 1830 allerdings auf Enzyklopädie und Methodologie, Chirurgie und Akiurgie (Operative Chirurgie). Mit Heinrich Friedrich Carl Hanmann (1806 – 1846, in Rostock 1831 – 1846)35 findet sich für fünfzehn Jahre wieder ein Privatdozent in Rostock, bei welchem sich die Lehre näher nachvollziehen lässt. Hanmann studierte 1828 in Göttingen und hörte dort u. a. bei Karl Gustav Himly über Augen- und Ohrenkrankheiten.36 Himly wiederum war Schüler August Gottlieb Richters. Hanmann las Chirurgie nach Chelius und Augenheilkunde nach Beck. Es muss sich dabei um Maximilian Joseph Chelius’ „Handbuch der Chirurgie zum Gebrauche bei seinen Vorlesungen“ von 1822 handeln, welches 1830 bereits in der dritten, vermehrten und verbesserten Auflage erschien, sowie um Karl Joseph Becks „Handbuch der Augenheilkunde zum Gebrauche bei seinen Vorlesungen“ von 1823. Nachweislich las Hanmann hier aus der zweiten, ebenfalls verbesserten wie vermehrten Auflage von 1832. Arthur von Hippels Kritik, die Lehre der Augenheilkunde durch Vertreter der Chirurgie sei bisweilen voll veralteter Ansichten und mit Ignoranz für die Errungenschaften auf ophthalmologischem Gebiet vollzogen worden,37 traf damit zumindest für Rostock unter Hanmann nicht zu. Auffällig ist, dass in den Jahren 1829 bis 1835 die Lehre der Augenheilkunde allein von Hanmann bestritten wurde, während vor und nach dieser Zeit sowohl Quittenbaum als auch Strempel zusätzlich zu Hanmann in diesem Gebiet lehrten und in einigen Semestern sogar alle drei Ophthalmologie bzw. chirurgische und ophthalmologische Operationskurse anboten. Warum Hanmann die Ophthalmologie in dieser Zeit allein vertrat, ist nicht ersichtlich, zumal sowohl Strempel als auch Quittenbaum weiterhin in anderen Gebieten unterrichteten. Mit dem Tod Hanmanns entfielen ab 1847 auch Vorlesungen auf dem Gebiet der Augenheilkunde. Bis 1859 fanden nur noch chirurgische und ophthalmologische Operationskurse statt, jedoch keine Vorlesungen zur Ophthalmologie. Nach dem Ableben Quittenbaums 1852 wurden die Operationsübungen nur noch von Strempel durchgeführt. Im Sommersemester 1858 entfiel die Ophthalmologie dann komplett. In diesem Semester erteilte die Medizinische Fakultät Wilhelm von Zehender auf dessen Antrag hin die venia legendi, und er hätte Veranstaltungen in diesem Fach übernehmen sollen. Da er durch die Ernennung zum Assessor beim Mecklenburg-­Strelitzschen Medicinal-­Collegium schließlich doch nicht nach Rostock kam – zumindest vorerst nicht –, entfielen Veranstaltungen auf diesem Gebiet für ein Semester. Mit Georg August Classen (1835 – 1889, in Rostock 1857 – 1873)38 übernahm zwischen 1859 und 1860 ein Assistent von Strempel die Vorlesungen, bevor schließlich der Direktor der Chirurgischen Klinik am Stadtkrankenhaus und ordentliche Professor, Gustav Simon (1824 – 1876, in Rostock 1861 – 1868),39 ab Winter 1862 über Ophthalmologie referierte und wieder chirurgische und ophthalmologische Operationskurse anbot. Simon nahm zu Ostern 1868 einen Ruf nach Heidelberg an.40 In Rostock aber hatte er sich zuvor noch für die Verselbstständigung der Augenheilkunde und die Gründung einer eigenen Professur eingesetzt, die 1866 schließlich Wilhelm von Zehender übernehmen konnte.

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Die Augenheilkunde wurde damit vor Gründung einer eigenen Professur wechselnd von Vertretern der Chirurgie wie auch der Inneren Medizin gelesen.41 Es fällt auf, dass der überwiegende Teil der die Augenheilkunde mitvertretenden Dozenten in Rostock in Städten studierte und promovierte, in denen die Ophthalmologie früh eine wichtige Rolle spielte. Hanmann, Brandenburg, Quittenbaum und von Zehender kamen aus der Göttinger Schule, die mit August Gottlieb Richter in den 1770er-­Jahren zu einem Zentrum der deutschen Ophthalmologie geworden und um 1800 schließlich dank verschiedener privater Kliniken und Institute „weit über die unmittelbaren Bedürfnisse der kleinen Stadt hinaus“ ophthalmologisch versorgt war.42

Wilhelm von Zehender und die erste Professur für Ophthalmologie in Rostock Als Wilhelm von Zehender 1866 auf die neu gegründete Honorar-­Professur für Ophthalmologie berufen und 1869 zum ordentlichen Professor ernannt wurde, wies Rostock demnach bereits eine lange, mal mehr mal weniger umfangreich gelebte Tradition im ophthalmologischen Unterricht theoretischer wie praktischer Natur auf. Die Professur verstetigte diese Lehre lediglich und führte sie in einer Person zusammen, die sich ausschließlich auf die Augenheilkunde konzentrierte und nicht parallel weitere Felder lehrte. Damit wurde die Augenheilkunde nun auch an der Universität Rostock ein selbstständiges Fachgebiet innerhalb der Medizin. Praktisch war von Zehender zuvor durch die Leitung einer allgemeinmedizinischen Klinik in Neustrelitz in Erscheinung getreten. Er war bei seiner Berufung nicht ausschließlich als Ophthalmologe tätig, auch wenn die Augenheilkunde durchaus seine medizinische Passion war. Wie aber kam der aus einem Berner Adelsgeschlecht stammende von Zehender in den 1860er-­Jahren nach Rostock? Carl Wilhelm von Zehender (1819 – 1916)43 wurde in Bremen geboren, verbrachte den Großteil seiner Schulzeit im Kanton Bern und studierte anschließend Medizin in Göttingen, Jena und Kiel. 1845 promovierte er in Göttingen. Es folgte eine Zeit als praktischer Arzt im Oldenburgischen sowie die Teilnahme am Schleswig-­Holsteinischen Krieg als Militärarzt, nach der er sich – ausgestattet durch Mittel aus dem Berner Familienbesitz – auf eine Studienreise nach Paris, Prag und Wien begab. Während dieser lernte er bei den Ophthalmologen Louis-­Auguste Desmarres (1810 – 1882), Carl Ferdinand von Arlt (1812 – 1887) und in Wien bei Christoph Friedrich Jäger (1784 – 1871), dessen Assistent von Zehender wurde. Sein Weg führte ihn weiter nach Berlin zu dem heute als Vater der Augenheilkunde bekannten Albrecht von Graefe (1828 – 1870), bei dem er für Assistenten und Gäste Vorlesungen über Dioptrik hielt. Mit von Graefe verband ihn eine lebenslange Freundschaft.44 Von Graefe war es schließlich auch, der den entscheidenden Grundstein für von Zehenders berufliche Zukunft in Mecklenburg legte: Nachdem Erbgroßherzog Georg von Mecklenburg-­Strelitz in Berlin durch von Graefe wegen eines Augenleidens behandelt und im Frühjahr 1856 aus der Behandlung entlassen worden war, empfahl von Graefe ihm zur Weiterbehandlung seinen Schüler von Zehender. Der Empfehlung folgend wurde von Zehender nach Neustrelitz berufen und blieb dort auch nach Abschluss der Behandlung des Herzogs weiter als Arzt mit einer „bedeutenden aber nicht einträglichen“ Praxis, in der er bedürftige Kranke kostenlos behandelte. Der „Mangel an wissenschaftlichem Verkehr und an hinreichender Beschäftigung an diesem kleinen Ort“, so schrieb der Universitätsvizekanzler von Both im Februar 1858, hätten von Zehender schließlich jedoch veranlasst, „in eine größere und namentlich eine Universitätsstadt zu ziehen, und da ist seine Wahl

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auf Rostock gefallen“.45 Noch von Neustrelitz aus war er bemüht, wissenschaftlich zu arbeiten, auch wenn sich ihm vor Ort dazu nur wenig Möglichkeit bot. Neustrelitz war auf keiner Ebene mit von Zehenders früheren Wirkungsstätten Berlin oder Wien vergleichbar. Trotzdem gründete er dort 1860 im Namen des Großherzoglichen Medicinal-­Collegiums das Correspondenz-­Blatt für die Aerzte im Grossherzogthum Mecklenburg-­Strelitz, dessen Redaktion er nach nur einjährigem Bestehen jedoch wieder aufgab, da es „in den bisherigen engen Grenzen einen unverhältnismässigen Aufwand an Arbeit, an Zeit und an pekuniären Mitteln erfordert[e]“. Sein Versuch, das Blatt auf Mecklenburg-­Schwerin auszuweiten, scheiterte an mangelnder Beteiligung.46 So bewarb er sich keine zwei Jahre, nachdem er seinen Dienst für Herzog Georg begonnen hatte, unter Beireichung seiner Schrift Anleitung zum Studium der Dioptrik des menschlichen Auges 47 in Rostock um die venia legendi sowie die Zulassung zur Ausübung einer ärztlichen Praxis.48 Sein Ersuchen wurde dank der wohlwollenden Empfehlungen durch von Zehenders früheren Lehrern von Graefe und Jäger sowie dank der persönlichen Bekanntschaft von Zehenders mit Carl Strempel und seiner allgemeinen Qualifikation von der Medizinischen Fakultät bereitwillig und unter Verzicht auf anderenfalls notwendige Prüfungen gewährt. Seit dem Tod Hanmanns im Jahr 1847 wurden in Rostock keine ophthalmologischen Vorlesungen mehr abgehalten, sondern nur noch chirurgische und opthalmologische Operationen demonstriert, sodass von Zehender eine ebenso willkommene wie dringend benötigte Erweiterung des medizinischen Kollegs dargestellt hätte. Am 9. April 1858 erfolgte nach entsprechender Empfehlung durch die Medizinische Fakultät die Gestattung zur Habilitierung als Privatdozent für Wundarznei- und Augenheilkunde durch den Mecklenburg-­Schwerin’schen Herzog und die damit verbundene Erlaubnis zur Lehre in Rostock. Von Zehender lehnte diese am 6. Mai des Jahres allerdings mit Bedauern wieder ab. In der Zwischenzeit hatte er in Neustrelitz die Stelle eines Assessors am Medicinal-­Collegium erhalten und musste daher „aus Rücksicht auf den sicheren materiellen Vortheil“, aber auch „aus Dankbarkeit gegen einen Landesherrn, welcher [ihm] schon so viele Beweise seines persönlichen Wohlwollens gegeben [hatte]“, auf die Stelle in Rostock „gegenwärtig verzichten“.49 Auf lange Sicht blieben die Umstände seiner Arbeit in Neustrelitz jedoch wenig befriedigend, sodass er sich Anfang 1862 auf die neu einzurichtende Professur für Ophthalmiatrik und Otiatrik (Ohrenheilkunde) in seiner alten Heimat Bern bewarb.50 1834 war an der Berner Hochschule die Professur für allgemeine Pathologie und Therapie sowie für Materia medica neu geschaffen und schließlich an Wilhelm Rau mit Schwerpunkt auf der Lehre von Augen- und Kinderheilkunde vergeben worden. Raus Wirkungskreis als Ophthalmologe in Bern war zu Beginn aufgrund der dortigen Verhältnisse sehr begrenzt: Zwar bot er theoretische Vorlesungen in diesem Feld, die Behandlung der Augenkranken im Berner Inselspital erfolgte allerdings durch die dort angestellten Chirurgen. Nur aufgrund persönlicher Beziehungen wurden Rau die wenigen Augenkranken des Spitals zur Behandlung und zum praktischen Unterricht durch den Chirurgen Professor Fueter überlassen. 1841 wurden schließlich wöchentlich zwei Stunden für eine Augenpoliklinik unter der Leitung Raus angesetzt und auch auf Ohrenpatienten ausgedehnt. 1855 übernahm er auf Anfrage der Direktion zusätzlich die Lehre der Gerichtlichen Medizin und syphilitischen Krankheiten, nachdem sein Vorgänger die Leitung der Irrenanstalt Waldau übernommen hatte. Eine Spezialisierung der Kollegen, die sich auch entsprechend institutionell niederschlug, stand zu dieser Zeit noch aus. 1858 erfolgte dann die Ernennung Raus zum ordentlichen Professor in dem neu übernommenen Bereich. Drei Jahre später verstarb er an einem Nierenleiden. Rau hatte somit zum Ende eine Sammelprofessur für Ophthalmiatrik und Otiatrik, Kinderkrankheiten, Arzneimittellehre, Rezeptierkunst sowie allgemeine Pathologie besetzt.

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Diese in demselben Umfang wieder auszuschreiben, schien wenig sinnvoll, und so wurde nur eine außerordentliche Professur für Ophthalmologie und Otiatrie ausgeschrieben – auf welche sich am 21. Januar 1862 Wilhelm von Zehender aus Neustrelitz bewarb und welche er am 28. April 1862 von der Berner Regierung auch erhielt. Bereits im Zuge der Bestallung von Zehenders bemühte dieser sich um eine eigenständige Augenklinik, welche zu dem Zeitpunkt in Bern nach wie vor nicht vorhanden war. Als Antwort hieß es diesbezüglich: Was die Klinik anbelangt, welche Sie gewünscht haben, so anerkennt zwar der Regierungsrath deren Wünschbarkeit, ist jedoch einstweilen ausser Stande, eine solche zu errichten, und zwar wegen der eigentümlichen Verhältnisse, welche zwischen der Staatsbehörde und der Inseldirection als Corporationsbehörde obwalten. Dagegen glaube ich zuversichtlich, dass Sie, wenn Sie einmal in Bern sind, im Stande sein werden, viel zur Beseitigung der Hindernisse beizutragen, welche dermal der Einrichtung einer Klinik entgegentreten. Mit der gegenwärtigen Professur ist jedoch die Poliklinik im Inselspital verbunden.51

Diese Auskunft war unverhältnismäßig optimistisch und sollte sich für von Zehender trotz intensiver Bemühungen nicht bewahrheiten – weder in Bern noch in Rostock. In Bern erhielt er statt einer eigenen Klinik immerhin ein geräumiges Zimmer im Inselspital zur poliklinischen Behandlung der Augenkranken sowie ein Auditorium für die noch wenig besuchten Vorlesungen, auch konnte er in Gegenwart seiner Zuhörer in den allgemeinen Krankensälen operieren. Ein für Augenkranke bestimmtes Krankenzimmer gab es dagegen nicht. Seine Privatkranken waren im angrenzenden Diakonissenhaus untergebracht, dort aber unter der Prämisse, dass diese Patienten nicht für Unterrichtszwecke gebraucht würden. 1865 bemühte er sich nach einigen Personalwechseln noch einmal vergeblich um die Errichtung einer stationären Abteilung für Augenkranke. Als nun in Rostock 1866 eine Honorarprofessur für Augenheilkunde zu gründen war und die Wahl von Rostock aus auf von Zehender fiel, bat dieser schließlich um schnellstmögliche Entlassung in Bern, „teils aus Gesundheitsgründen“, wie er schrieb, „teils und hauptsächlich aber deswegen, weil die erste Vorbedingung der Möglichkeit eines klinischen Unterrichts – nämlich die Errichtung einer eigenen Abteilung für Augenkranke – noch immer nicht ins Werk gesetzt worden ist“.52 In Rostock hoffte er vorzufinden, was ihm in seinem vierjährigen Wirken in Bern nicht vergönnt war, und trat die Stelle hier in eben dieser Hoffnung trotz eines wesentlich geringeren Gehalts an. Die Bemühungen um die Verbesserung der Lehre und Lehrbedingungen in der Augenheilkunde – stets verknüpft mit einer selbstständigen Augenklinik oder zumindest einer ordentlichen ophthalmologischen Station innerhalb einer größeren Klinik wie in Bern – blieben Zeit seines Lebens das prägende Merkmal seines beruflichen Wirkens.53 1866 kehrte von Zehender nach Mecklenburg zurück und trat in Rostock am 27. November sein neues Amt als Honorarprofessor der Ophthalmologie an.54 Gegenstand seines neuen Amtes waren Vorlesungen über Ophthalmiatrik, Kurse in der Ophthalmoskopie (Augenspiegelung) und Operationsübungen am Phantom sowie die Leitung der Ophthalmologischen Klinik und Poliklinik im Stadtkrankenhaus. Von Zehender setzte mit der vertraglich festgeschriebenen Lehre zum Sommersemester 1867 ein.55 Zeitgleich wurde die frühere Privatstation im Stadtkrankenhaus zu einer kleinen Ophthalmologischen Station umgewandelt, die nach von Zehender von Beginn an nur als eine vorläufige Einrichtung hatte betrachtet werden sollen 56 und die bald an die Grenzen ihrer räumlichen Nutzbarkeit gelangt sein dürfte. Denn noch 1887 fällt die Zustandsbeschreibung der im Stadtkrankenhaus für die Augenheilanstalt zugedachten Räumlichkeiten bedrückend aus und macht den Notstand der Klinik deutlich, wie er noch zwei Jahrzehnte nach Einzug der Augenheilkunde ins Stadtkrankenhaus bestand:

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[…] die im Stadtkrankenhause der Augenklinik zugewiesenen Räume sind völlig ungenügend. Sie bestehen, abgesehen von der durch ihre Lage (im dritten Stock und mit den Fenstern nach Süden) ausgerichteten Krankenstuben, aus drei Zimmern. Eines derselben diente als Wohnstube des Assistenten, das zweite als Wohnstube der Wärterin. In dem dritten müssen die Klinik und die Poliklinik abgehalten, die Lehrmittel und die zur Untersuchung der Kranken und zu den Operationen notwendigen Apparate und Instrumente aufbewahrt und die Operationen vorgenommen werden. Dieses Zimmer ist überdies so klein, daß es die am Unterricht teilnehmenden Studenten kaum zu fassen vermag, so daß die Mehrzahl derselben den vorgestellten Kranken nicht sehen kann und der Professor von den Zuhörern in einer Weise umdrängt wird, die namentlich beim Operieren höchst störend und geradezu bedenklich ist. Ein Zimmer für den Director der Klinik und ein Wartezimmer für die poliklinischen Kranken fehlen gänzlich, und die letzteren müssen auch im Winter auf dem nicht heizbaren Corridor stehen.57

Von Zehenders größtes Anliegen blieb daher dasselbe wie in Bern: die Einrichtung einer selbstständigen, möglichst baulich unabhängigen Augenheilanstalt, in welcher nicht nur die Krankenversorgung, sondern vor allem auch der Unterricht der Studierenden angemessen durchgeführt werden konnte. Dieses Unterfangen stieß in Rostock jedoch auf ähnlich geringe Unterstützung. 1875 kaufte von Zehender mit für den Bau einer Augenheilanstalt gesammelten Geldern ein in der Friedrichstraße nahe des Stadtkrankenhauses gelegenes Grundstück an, welches nach baurätlicher Besichtigung im darauffolgenden Jahr käuflich von der Regierung für denselben Zweck übernommen wurde.58 Nachdem die Zahl der augenärztlich Behandelten bis 1874 stetig zugenommen hatte, nahm sie in den folgenden Jahren ebenso stetig wieder ab.59 Nach der Übernahme des Grundstücks für die zu errichtende Augenheilanstalt durch die Regierung geriet das Projekt damit ins Stocken, und der Widerstand von Seiten der Stadt Rostock gegen das geplante Projekt nahm zu. Die Differenzen mit der Stadt spitzten sich zu, sodass von Zehender bereits im darauffolgenden Jahr, im November 1876, erstmals ein Entlassungsgesuch beim Großherzoglichen Ministerium, Abteilung für Unterrichts-­Angelegenheiten einreichte, in welchem er klare Worte der Enttäuschung aussprach: Ich habe mich aber zu lange und eingehend mit dem Gedanken beschäftigt, für Unterricht und Krankenpflege an hiesiger Klinik bessere Verhältnisse herbeizuführen, als dass ich im Stande wäre, nun doch, nach dem alle Absicht erloschen, die Verwirklichung meiner Pläne zu erleben, die alten Verhältnisse länger zu ertragen. Die bisherigen unleidlichen Zustände im hiesigen Krankenhause sind mir nur in so weit und so lange ertragbar gewesen, als ich deren Endschaft vor Augen sah. Nunmehr aber bin ich genötigt, die Last dieser Zustände jüngeren, durch Enttäuschungen weniger rund gedrückten Schultern zu überlassen.60

Die Mitglieder der Medizinischen Fakultät wurden vor scheinbar vollendete Tatsachen gestellt und erfuhren erst nach Einreichung des Entlassungsgesuchs von seiner Entscheidung. Da „die Angelegenheit bisher nur zwischen dem Hohen Ministerium und dem Herrn Collegen von Zehender verhandelt worden“ sei, sahen sie sich außer Stande einzugreifen, bedauerten aber seinen Entschluss. Vizekanzler von Both, mit welchem von Zehender seit seiner Einstellung korrespondiert hatte, gelang es jedoch, ihn von seinem Vorhaben vorerst abzubringen.61 Von Zehender wollte nun zunächst von einem Neubau einer Augenklinik Abstand nehmen und stattdessen „dem weiteren Verfall der ophthalmiatrischen Klinik“ in anderer Weise entgegenwirken. Sein Vorschlag, das angekaufte, derweil brachliegende Grundstück wieder zu verkaufen, um die Gelder verzinslich anzulegen und für ein späteres Baupro-

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jekt, die Zinsen aber für die unentgeltliche Aufnahme unbemittelter Augenkranker zu verwenden, wurde von Seiten der Regierung abgelehnt. Das Grundstück blieb in herzoglichem Besitz und harrte bis auf Weiteres seiner ursprünglich angedachten Bestimmung.62 Von Zehender wartete in den nächsten Jahren vergebens auf Wiederaufnahme und Entscheidung des Projekts von einer der beteiligten Seiten. Zu dem anhaltenden Widerspruch der Stadt gesellte sich Zurückhaltung von Seiten der Regierung, von der es 1881 nur hieß, man habe nunmehr „Bedenken tragen zu müssen, bei der gegenwärtigen Lage der Sache auf die Ausführung des Projectes der Erbauung einer Augenheilanstalt in Rostock einzugehen.“ 63 Von Zehender war jedoch nicht nur seinem Anliegen, sondern auch einer Reihe von Finanziers verpflichtet, mit deren Geldern er damals das Grundstück in der Friedrichstraße zum Zweck einer zu errichtenden Augenheilanstalt angekauft hatte.64 Über den Verlauf der Verhandlungen berichtete er von 1881 bis 1887 in drei Druckschriften über Die projectirte Augenheil-­Anstalt in Rostock, fügte dabei auch ein rechtliches Gutachten, insbesondere die Opposition der Stadt betreffend, sowie Auszüge des Schriftverkehrs über den Bau der Augenheilanstalt an (Abb. 4). Auch trug er in den 1880er-­Jahren Informationen zu allen Neubauten von Augenheilanstalten Deutschlands zusammen und publizierte diese 1888, auch, um den geplanten Rostocker Neubau nach den Maßstäben der Zeit entwerfen zu können und diesen Entwurf entsprechend zu begründen.65 Wie auch schon beim Bau des Stadtkrankenhauses war der hauptsächliche Streitpunkt beim Bau einer eigenständigen Augenheilanstalt die Finanzierung. Die Stadt fürchtete durch den Abgang der an Augenleiden erkrankten Patienten einen finanziellen Verlust, da diese im Stadtkrankenhaus dieselben Beiträge zahlten wie die anderen Patienten, jedoch wesentlich weniger Kosten verursachen würden. Von Zehender entgegnete diesen Einwänden mit detaillierten Vorrechnungen auf Grundlage vorhergehender Jahresabrechnungen, konnte die Befürchtungen des Rats diesbezüglich jedoch nicht endgültig beseitigen. Man blieb überzeugt, finanzielle Verluste zu erleiden.66 Als zweites Argument gegen die Ausgliederung der Augenklinik aus dem Stadtkrankenhaus hieß es, dass eine solche die bestehenden Verträge und vertragsmäßigen Rechte der Stadt verletzen würde.67 Zwar umfasste der Vertrag 68 die gegenseitige Verpflichtung, dass im Stadtkrankenhaus klinischer Unterricht abgehalten werden durfte (dieser erstreckte sich potenziell auf alle aufgenommenen Kranken außer den Privatpatienten, § 8) und dass die von der Universität, i. e. der Landesherrschaft bestellten Professoren im Gegenzug alle, also auch die Stadtkranken behandelten (§§ 1 – 2). Zusätzlich wurden zwei (später drei) Assistenzärzte angestellt, einer von der Landesherrschaft, einer von der Stadt ausgewählt und bezahlt (§ 3). Ein „contractliches Recht der Stadt“ auf eine Augenklinik, so Consistorialrat Hugo Boehlau in einem Pro Memoria 1881, bestehe laut Vertrag jedoch nicht. Eine persönliche Modifikation räumte von Zehender 1866 zwar dieselbe Stellung zum Krankenhaus ein wie den mit der Chirurgischen und

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Abb. 4  Titelblatt der Druckschrift „Die projektierte Augenheil-­Anstalt in Rostock“ von 1881.

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Medizinischen Abteilung betrauten Professoren; es gab jedoch keine vertragliche gegenseitige Verpflichtung auf die ausschließliche Behandlung der Augenkranken im Stadtkrankenhaus. Und die Privatkranken der Augenklinik betreffend, bestehe schließlich auf Zuweisung derselben an das städtische Krankenhaus weder auf Grund des Contract-­Wortlautes noch auf Grund irgend welcher Billigkeit irgend welcher Anspruch der Stadt. Das Urtheil über das Beste seiner Patienten darf der durch das Vertrauen derselben verpflichtete Arzt sich der Natur der Sache nach durch keinerlei Nebenrücksicht beeinträchtigen lassen und ist über die Gründe seiner Entscheidung Niemand, als u. U. dem Patienten selbst Rechenschaft schuldig.69

Von Zehender schob das Projekt des Neubaus einer Augenklinik dementsprechend eigenständig und unabhängig vom Stadtkrankenhaus an, da gegen dieses theoretisch keine die Augenklinik betreffenden Rechte verbunden waren. Bereits 1874 erging vom Rat der Stadt jedoch die Aufforderung, von Zehender möge diesbezüglich vorstellig werden. Immerhin habe er bis dahin „niemals die Einführung wesentlicher Veränderungen in der, mit dem hiesigen Krankenhause verbundenen Augenheilanstalt [beim Rat, d. V.] beantragt oder dahin gerichtete Wünsche gegen [den Rat, d. V.] ausgesprochen“.70 Obwohl die Sachlage rechtlich gesehen zugunsten von Zehenders ausfiel, hatte der Rat doch genügend Möglichkeiten, dem Projekt einer eigenständigen Augenheilanstalt von Zehenders, die gleichzeitig als Klinik diente und auch Domanialkranken offenstand, erhebliche Steine in den Weg zu legen. Dies waren neben einer grundsätzlich trägen und wenig zeitnahen Verfolgung der Verhandlungen auch langwierige Auseinandersetzungen über den geeigneten Bauplatz sowie über die architektonische Ausgestaltung der Klinik. In aller Kürze lassen sich diese Auseinandersetzungen wie folgt zusammenfassen: 1. Das von von Zehender 1875 angekaufte Grundstück nahe dem Stadtkrankenhaus wurde, nachdem es ein Jahrzehnt brachgelegen hatte, schließlich gegen ein neben der Gynäkologischen Klinik auf dem Doberaner Berg gelegenes, wesentlich kleineres Grundstück getauscht. Die Gründe hierfür lagen einerseits in dem geplanten Bau der Lloydbahn, einer Fernverkehrszugstrecke, die das Grundstück geschnitten hätte, andererseits in hygienischen sowie baugrundtechnischen Bedenken, die am Ende gegen das Grundstück in der Friedrichstraße vorgebracht worden waren.71 Zwar war auch das Grundstück neben der Gynäkologischen Klinik nicht frei von Nachteilen (es war kleiner und von der Form her ungünstiger sowie weiter entfernt und auf einem Berg gelegen). 2. Um eine weitere Verzögerung und künstliche Verlängerung des nunmehr zwölf Jahre währenden Zustandes zu vermeiden, lenkte von Zehender 1886 zumindest aber soweit ein, dass er seinen Widerstand gegen den Tausch der Grundstücke aufgab.72 Im darauffolgenden Jahr äußerte er sich trotzdem noch einmal öffentlich über die Gründe der in seinen Augen geringeren Eignung des Grundstückes neben der Frauenklinik. 3. Eine weitere Schwierigkeit stellte der Umstand dar, dass die Verhandlungen um die Augenklinik zeitweilig an die Nachverhandlungen um den Fortbestand des Abkommens über die Nutzung des Stadtkrankenhauses angeschlossen waren.73 Der Vertrag über gemeinsame Nutzung des Stadtkrankenhauses durch Stadt und Universität von 1865 sah für die Stadt eine zunächst 20-jährige Kündigungssperre vor. Als diese ihrem Ende entgegenging, wurden zwar Nachverhandlungen über die Weiterführungen des Vertrages angesetzt. Diese konnten innerhalb der entsprechenden Frist aber zu keiner gütigen Einigung kommen, sodass der Vertrag offiziell aufgekündigt wurde. In der Praxis führte ein Neuvertrag vom 14. Mai 1888 den alten Vertrag beinahe wortgleich und inhaltlich nahezu unverändert fort.74 Erst 1901 ging das Stadtkrankenhaus vertraglich in Großherzogliches Eigentum über und wurde somit vollständig zum Universitäts-

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krankenhaus. Die Änderung betraf jedoch vor allem organisatorische und rechtliche Aspekte, in der Praxis diente das Krankenhaus auch weiterhin der städtischen Bevölkerung als Krankenhaus.75 Dass einer der Einigungspunkte in den Verhandlungen der 1880er-­Jahre die Ausgliederung der Augenklinik war, beschleunigte die Angelegenheit nicht und wurde letztlich auch wieder gesondert verhandelt. 4. Obwohl im Mai 1887 schließlich auch zwischen der Stadt Rostock und der Großherzoglichen Regierung per Vertrag festgehalten wurde, dass Rostock den Widerspruch gegen die geplante Augenklinik einstellt,76 entsponnen sich im Folgenden weitere Auseinandersetzungen um die Art und Weise, wie die Augenklinik architektonisch zu gestalten sei, dieses Mal zwischen von Zehender und dem regierungsseitig beauftragten Baumeister. Auch hier musste schließlich eine eigens eingesetzte Kommission vermitteln; von Zehenders Wünsche wurden am Ende in wesentlichen Gesichtspunkten nicht beachtet.77 Die Verhandlungen um den Neubau der Augenklinik scheinen bisweilen künstlich in die Länge gezogen worden zu sein. So dauerte es beispielsweise mehr als ein Jahr, bis von Zehender die Jahresrechnungen des Krankenhauses zugestellt bekam, an welchen er der Krankenhausverwaltung vorzurechnen beabsichtigte, dass ihre Befürchtungen eines finanziellen Verlustes durch den Abgang der Augenkranken aus dem Stadtkrankenhaus nicht der rechnerischen Realität entsprachen. Zu hinterfragen ist auch, ob die Verhandlungen schneller hätten beendet werden können, wenn die Medizinische Fakultät sich früher geschlossen und entschieden hinter das Projekt gestellt hätte.78 So wurde etwa auf dem eingangs zitierten Landtagsbeschluss festgelegt, man wolle erst ein Gutachten der Medizinischen Fakultät beantragen. Die Fakultät wartete bewusst auf die offizielle Anfrage, um sich erst dann allgemein für die tatsächliche Notwendigkeit einer neuen Augenklinik auszusprechen – fast zwanzig Jahre, nachdem von Zehender sein Amt in Rostock übernommen und begonnen hatte, sich um die Verselbstständigung der Augenklinik zu bemühen. In der Begründung wurden noch einmal die drei wichtigsten Gründe zum Neubau prominent gemacht: 1. der „allgemein anerkannte Grundsatz, daß Augenkranke – besonders aus hygienischen Gründen – nicht in allgemeinen Krankenhäusern untergebracht werden sollen“, um eine Ansteckung der ansonsten in der Regel gesunden Augenpatienten im allgemeinen Krankenhaus zu verhindern;79 es wurde erneut betont, dass Rostock hier eine (negative) Ausnahme innerhalb der deutschen Universitäten darstellte, 2. die oben geschilderten, völlig unzulänglichen Räumlichkeiten der ophthalmologischen Station innerhalb des Stadtkrankenhauses, sowie 3. die allgemeine Raumnot der Chirurgischen und Medizinischen Klinik, die das Freiwerden der Räumlichkeiten der Ophthalmologischen Station so bald als möglich nötig machte.80 Ein solches Gutachten der Medizinischen Fakultät zu einem so späten Zeitpunkt, an dem die Verhandlungen längst fortgeschritten waren (oder zumindest hätten sein können), scheint zeitlich deplatziert. Zu hinterfragen bleiben auch die Umstände, die dazu führten, dass über die bauliche Eignung des erstangekauften Grundstücks innerhalb weniger Jahre zwei grundverschiedene Gutachten erstellt werden konnten, das erste befürwortend, das zweite ablehnend und die Diskussion um dieses Grundstück letztlich zum Kippen bringend. Die Verhandlungen um die Gründung der Augenheilanstalt als eigenständige Klinik lesen sich insgesamt wie eine für die Zeitgenossen bedauerliche und die medizinische Entwicklung in Rostock hemmende, aus heutiger Sicht aber wenig überraschende Fortführung lang tradierter Gegensätze und Machtkämpfe zwischen der Stadt Rostock,

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der Universität und dem Herzog, unter der die Augenheilkunde in Rostock lange Zeit die „Leidtragende“ war. Der über zwei Jahrzehnte währende, scheinbar aussichtslose Kampf von Zehenders um eine räumliche und dem wissenschaftlichen Fortschritt angemessene Augenklinik ließ ihn schließlich kapitulieren und sich im Alter von 70 Jahren aus dem Universitätsleben zurückziehen. Im Mai 1889 reichte er sein zweites, diesmal endgültiges Entlassungsgesuch ein.81 Sein Nachfolger wurde Rudolf Berlin (1833 – 1897, in Rostock 1889 – 1897), der zuvor bereits in Wiesbaden, Tübingen und Stuttgart als Augenarzt tätig war (Abb. 5). Ihm wurde die Stelle in Rostock mit den Worten angeboten, zu der Professur gehöre ebenfalls die Leitung der Ophtalmiatrischen Klinik und Poliklinik, die „zeitweilig noch im städtischen Krankenhause unter recht ungünstigen Verhältnissen abzuhalten“ seien, es sei „aber die Errichtung einer selbstständigen Augenheilanstalt beschlossen, mit welcher nach Aquisition eines geeigneten Bauplatzes und Feststellung der Baupläne hoffentlich bald begonnen werden könne“.82 Ganz so, als wäre der vorhergehende Streit zwischen von Zehender und der Stadt gar nicht existent gewesen. Blickt man auf die zwei Jahrzehnte zurück, so mutet es beinahe wundersam an, dass Berlin tatsächlich am 16. Mai 1892 die neben der Gynäkologischen Klinik gelegene neue Augenklinik beziehen und deren Leitung übernehmen konnte.83 Abb. 5  Rudolf Berlin (Ölgemälde von Paul Moennich, 1898).

Anmerkungen 1

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UAR 2.04.1 – 0240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888, hier: Landtagsbericht in der Beilage zur Rostocker Zeitung Nr. 467, 20. 11. 1885. Bis 1885 entstanden dabei an acht deutschen Universitäten Neubauten für Augenheilkunde, die nur bedingt zum „nahen Ausland“ zu zählen waren: Göttingen 1873, Breslau 1876, Königsberg und Freiburg 1877, Heidelberg 1878, Berlin 1881, Halle 1884 und Marburg 1885. Bonin 1994, S. 171. So beantragte Dr. Uffelmann in derselben Landtagssitzung Zuschüsse zum Bau eines Kinderhospitals, 1896 wurde in Gehlsdorf die Nervenklinik Gehlsheim eröffnet. Zudem war 1878 das Studiengebäude der Medizinischen Fakultät fertiggestellt worden sowie 1887 das neue Gebäude der Frauenklinik. Auch wurde 1887 bis 1889 ein überwiegend aus Landesmitteln finanzierter und von städtischer Seite aus nicht bezuschusster

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Anbau am Stadtkrankenhaus zu Unterrichtszwecken getätigt. Zeitgleich zu den Bemühungen um eine Augenklinik wurden zudem erneut Verhandlungen über das Verhältnis von Stadt und Universität innerhalb des Rostocker Stadtkrankenhauses geführt. Auf diese anderen Bauprojekte wurde in der Argumentation um die Augenklinik jedoch nicht Bezug genommen. Bonin 1994, S. 3. Vgl. ebd., S. 171: Die Wartezeiten der Universitäten auf einen für das Fach geeigneten Neubau. Ein Überblick zur Geschichte der Ophthalmologie und der Augenklinik in Rostock bei Gottwald 1969; Guthoff 1999; Küchle 2005, S. 133 – 140 sowie Pietruschka 1973. Vgl. hierzu Amhausend 2003. Amhausend untersucht in ihrer Dissertation die Gründungsphase des Rostocker Stadtkrankenhauses sowie den Be-

ginn des praktisch-­klinischen Unterrichts in Rostock und fragt dabei über die eigentliche Baugeschichte hinaus nach dem Wirken der verschiedenen Kräftefelder in diesem Kontext. Anknüpfend an ihre Arbeit, welche den Zeitraum von 1794 bis 1865 umfasst, wird in diesem Artikel nach der weiteren Entwicklung des Rostocker Stadtkrankenhauses bis 1900 und der fachlichen und institutionellen Verselbstständigung der Augenheilkunde gefragt. Vgl. auch Amhausend 2002. 7 Stand 2018; vgl. https://www.med. uni-­rostock.de/kliniken-­institute-­ zentren (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 8 VLZ: Wintersemester 1855/56. 9 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Haack zur Entwicklung der Spezialdisziplinen im 19. Jahrhundert an der Universität Rostock in diesem Band. 10 Zusammenfassend bei Amhausend 2003, S.  33 – 39.

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11 Vgl. den Beitrag von Imberh und Krause in diesem Band. 12 Vgl. ausführlich Amhausend 2003, S.  33 – 72. 13 Ebd., S. 71. Zum Armeninstitut vgl. Straßenburg 2005. 14 AHR 1.1.3.15. – 285: Errichtung eines neuen Krankenhauses/Erweiterung des Krankenhauses in Verbindung mit einem Medizinisch-­Chirurgischen Institut, hier: gutachtliche Erklärung des Armencollegiums über die Einrichtung eines neuen Krankenhauses in Verbindung mit einer Medizinisch-­ Chirurgischen Klinik vom 28. 10. 1827. 15 Heinrich Helmrich Ludwig Spitta betrieb in den Jahren 1825 bis 1838 die erste Poliklinik für Medizinstudenten, nachdem bereits in den Jahren 1801 bis 1805 durch Johann Wilhelm Josephi ein Chirurgisch-­Medizinisches Klinikum zur praktischen Ausbildung angehender Wundärzte betrieben worden war. Vgl. Amhausend, S.  39 – 54. 16 Dies wurde von universitärer Seite aus bis zum Übergang in die herzogliche und damit letztlich universitäre Verwaltung wiederholt beklagt. Vgl. zuletzt AHR 1.1.3.15. – 289: Übernahme des Stadtkrankenhauses in landesherrliche Verwaltung (Handakte des Bürgermeisters Maßmann) 1900 – 1902, hier: Landtags-­Drucksache 1900: Höchstes Grossherzoglich Mecklenburg-­ Schwerinsches Reskript vom 15. November 1900 betreffend Uebernahme des städtischen Krankenhauses zu Rostock in Landesherrliche Verwaltung, S. 7 f. Dass die städtische Krankenversorgung nicht in erster Linie eine medizinische, sondern eine städtische Angelegenheit war, zeigt sich bereits daran, dass schon in der Armenordnung von 1803 für das Krankenhaus entsprechend die gesamte Entscheidungsbefugnis, die Verwaltung und auch medizinische Ausgestaltung betreffend, bei den zuständigen Administratoren der Armenordnung lag, wohingegen medizinisches Fachpersonal und deren Weisungsgewalt nicht einmal erwähnt wird. Diese Linie zieht sich weiter bis in die Verträge des Stadtkrankenhauses Mitte des 19. Jahrhunderts. Vgl. Entwurf zur Armen-­Ordnung für die Stadt Rostock (1803), § 20: Kranke, abgedruckt in:

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Straßenburg 2005, S. 526 – 544, hier S. 533. Über eine der Differenzen bezüglich des Wärterwesens berichtet Hugo ­Boehlau, in: von Zehender 1881, S. 17 f. Die Problematik ‚städtische Verwaltung versus ärztliche Leitung und entsprechende (fehlende) Befugnis der Ärzte‘ zeigt sich nicht nur am Stadtkrankenhaus. Zeitgleich tritt sie in der im ehemaligen Katharinenkloster ansässigen Irrenanstalt nach Übernahme der ärztlichen Leitung durch Johann Schröder auf. Dieser beschwert sich insbesondere über das noch aus Zuchthauszeiten stammende Wärterwesen der im selben Gebäudekomplex untergebrachten Irrenanstalt und des Zuchthauses, welches bis zu seiner Auflösung 1854 schließlich überwiegend sogenannte geisteskranke Insassen hatte. Zudem kam es zu erheblichen Differenzen zwischen Schröder als Arzt der Anstalt und Zuchthausinspektor ­Erichson, welchem die (nicht-­ ärztliche) Verwaltung oblag. Erichson wurde infolge dieser Auseinandersetzungen entlassen. Vgl. AHR 1.1.3.16. – 133/2: Verwaltung des Zuchtund Werkhauses und der Irrenanstalt St.  Katharinen 1843 – 1853. Mecklenburg war verwaltungsrechtlich dreigeteilt: in einen landesherrlichen Bereich – das sogenannte Domanium, in den städtischen Grundbesitz sowie in das Gebiet der Ritterschaft. Die im Eigentum des mecklenburgischen Landesherren befindlichen Landesteile wurden Domänen genannt, die in einzelne Ämter unterteilt waren. Die in diesen Teilen lebende Bevölkerung waren Domanialangehörigen, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts etwa zwei Fünftel der Gesamtbevölkerung Mecklenburg-­Schwerins umfassten. Vgl. Balck, CWA: Domaniale Verhältnisse in Mecklenburg-­Schwerin, Bd. 1, Wismar/Rostock/Ludwigslust 1864. Untersuchungen über die Gründung von Spezialkliniken, so auch diejenigen über die Rostocker Augenklinik, richten ihr Augenmerk selten auf den Aspekt des Unterrichts. Im Fokus stehen Baugeschichte, Leben und Wirken der Anstaltsärzte und deren medizinische Errungenschaften, weniger jedoch die Verbindung zur Fachdisziplin und die

Entwicklung der Lehre des Faches. Vgl. Gottwald 1969; Pietruschka 1973; auch Hornburg 2004 widmet dem ophthalmologischen Unterricht in Greifswald nur ein kurzes Kapitel zum Ende der Arbeit. 21 Etwa bei Pietruschka 1973, S. 143. 22 Vgl. im Nachfolgenden die Vorlesungsverzeichnisse der Jahre 1790 bis 1900 der Universität Rostock. 23 Bonin 1994, S. 15 und 165. 24 Eulner 1970, S. 323. 25 Willgeroth 1929, S. 247. 26 Külz 1994, S. 180. 27 Amhausend 2002, S. 39 – 48. 28 Willgeroth 1929, S. 248. 29 Ebd., S. 249 f. 30 Ebd., S. 250 f. 31 Willgeroth 1929, S. 251. 32 Ebd., S. 252. 33 So gab es etwa in den Jahren 1833 bis 1838 am Anatomischen Institut drei Jahre, in denen keine einzige Leiche verzeichnet wurde, sowie zwei Jahre mit nur einer Leiche. Ab 1839 stieg die Zahl auf bis zu dreizehn Leichen Mitte der 1840er-­Jahre. Wischhusen/Schumacher 1968, S. 54. 34 Willgeroth 1929, S. 253. 35 Ebd., S. 254 f. 36 UAR: Promotionsakte Carl Friedr. Hanmann und Christ. Heycken, 1830, hier: eigenhändiger Lebenslauf ­Hanmanns, undatiert. 37 von Hippel 1890, S. 105. 38 Willgeroth 1929, S. 262. 39 Ebd. 40 UAR: Personalakte Gustav Simon, 1861 – 1867, hier: Schreiben Simon an das Konzil der Professoren in Rostock vom 26. 10. 1867. 41 Der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass im Wintersemester 1786 auch an der Universität Bützow ein Vertreter der Medizinischen Fakultät über Augenkrankheiten las: Peter Benedikt Christian Graumann (1752 – 1803). Auch er studierte 1771 – 1774 in Göttingen. Willgeroth 1929, S. 22 f.; VLZ Bützow: WS 1786. 42 Eulner 1970, S. 334. 43 Biographisches im Folgenden aus Siegrist 1910, S. 16 – 36 sowie Axenfeld 1917, S.  128 – 142. 44 Vgl. hierzu Aus den Briefen … 1919. 45 UAR: Personalakte von Zehender, 1866 – 1889, hier: Missive XII: Ein von dem Herrn Vicekanzler von Both erfordertes Erachten über die Qualification des Dr. med. W. Zehender in

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Neustrelitz zur Privatdocentur und eventualiter zur ärztlichen Praxis hieselbst, darin: Schreiben von Both an die Medizinische Fakultät vom 11. 2. 1858. Correspondenzblatt, Nr. 10, 1860, Zitat auf S. 119. von Zehender 1856. Hierzu und im Folgenden UAR: Personalakte von Zehender, 1866 – 1889, Missive XII: Ein von dem Herrn Vicekanzler von Both erfordertes Erachten über die Qualification des Dr. med. W. Zehender in Neustrelitz zur Privatdocentur und eventualiter zur ärztlichen Praxis hieselbst, sowie auch UAR K052 – 0920: Lehrstuhl Augenheilkunde 1858 – 1901, Dokumente zur Berufung von ­Zehenders. UAR: Personalakte von Zehender, Missive XII: Ein von dem Herrn Vicekanzler von Both erfordertes Erachten über die Qualification des Dr. med. W. Zehender in Neustrelitz zur Privatdocentur und eventualiter zur ärztlichen Praxis hieselbst, darin: Schreiben von Zehender an den Staatsrath vom 6. 5. 1858. Hierzu und im Folgenden Siegrist 1910, S.  9 – 36. Zit. nach Siegrist 1910, S. 23 f. Zit. nach ebd., S. 25 f. Axenfeld 1917, S. 133 f. UAR Kurator K052 – 0920: Lehrstuhl Augenheilkunde 1858 – 1901, hier: Schreiben Buchka an Vicekanzler von Liebeherr vom 15. 6. 1889. Im folgenden Wintersemester kündigt er in Rostock einmalig ebenfalls eine öffentliche Vorlesung über Otiatrie an. von Zehender 1881, S. 3. UAR 2.04.1 – 0240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888, hier: Medizinische Fakultät, interne Stellungnahme vom 16. 7. 1887. von Zehender 1881, S. 8. Vgl. „Übersicht zur Krankenfrequenz auf der Augen-­Abtheilung“, in: von Zehender 1881, S. 4. Die Übersicht umfasst die Jahre 1869/70 bis 1879/80, in welchen die Gesamtanzahl der Behandelten jeweils knapp 100 betrug. 1874/75 war sie hingegen auf fast 150 angestiegen. UAR: Personalakte von ­Zehender, hier: Entlassungsgesuch von ­Zehender vom 16. 11. 1876.

Sophie Große

61 UAR: Personalakte von Zehender, folgende Schreiben, Zitat: 19te Missive betreffend die Mittheilung eines Entlassungsgesuches des Herrn Collegen von Zehender vom 19. 11. 1876. 62 von Zehender 1881, S. 9. 63 Zit. nach von Zehender 1885, S. 4. 64 Im Mai 1881 fand eine Versammlung mit einigen der Geldgeber statt, bei der beschlossen wurde, das Grundstück wieder zu veräußern und die Gelder verzinslich für selbigen Zweck anzulegen, die Zinsen aber zur Behandlung unbemittelter Augenkranker im Stadtkrankenhaus zu verwenden. Der Vorschlag wurde von Regierungsseite abgelehnt. von Zehender 1885, S. 3 f. 65 von Zehender 1888. Das Werk enthält am Ende auch einen kurzen Beitrag zur geplanten Augenheilanstalt in Rostock. 66 Siehe AHR 1.1.3.15. – 69: Verhandlungen über Abänderung der Verträge über die Beziehungen der Universitäts- und Domanialkranken zum Stadtkrankenhaus 1878 – 1888, hier: Rat an von Zehender vom 21. 7. 1883. Vgl. auch UAR 2.04.1 – 0240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888, hier: Missive XIV betr. ein zweites Promemoria des Herrn Collegen von Zehender über den Bau einer Augenklinik, darin: Zweites Pro Memoria von Zehenders an die Medizinische Fakultät betr. die projectirte Augenheil-­Anstalt vom 15. 12. 1885. 67 Gemeint ist damit der Vertrag über die Beziehungen der Universität Rostock und der Domanialverwaltung zum Stadtkrankenhaus vom 6./8. Mai 1865, enthalten in AHR 1.1.19.5. – 4: Patienten aus den mecklenburgischen Domanialämtern 1865 – 1871, hier: Ratification der zwischen Großherzoglichen Commissarius, Ministerial-­A ssessor Oldenburg, und dem Deputirten der Stadt Rostock, Senator Pries, über die gesammten Beziehungen der Universität und der Domanialverwaltung zu dem Stadtkrankenhause zu Rostock geschlossenen Vereinbarung vom 6./8. Mai 1865. 68 Sowie auch inhaltlich unverändert der Folgevertrag vom 4. Mai 1888, enthalten in AHR 1.1.3.15. – 71: Verträge mit der Landesregierung über das städtische Krankenhaus 1888 – 1900.

69 Hugo Boehlau: G. P. M., in: von ­Zehender 1881, S. 14 – 22, Zitat auf S. 22. 70 Zit. nach von Zehender 1881, S. 1. Zur Sachlage vgl. Boehlaus Ausführungen daselbst. 71 UAR 2.04.1 – 0240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888, hier: Missive XIV betr. ein zweites Promemoria des Herrn Collegen von Zehender über den Bau einer Augenklinik. 72 Ebd., hier: Missive VII betr. ein von Herrn Prof. von Zehender an den Herrn Vicekanzler von Liebeherr geschicktes Schreiben bezügl. Umtausches des bisher für die Augenklinik in Aussicht genommenen Platzes gegen den neben der neuen Geburtshilfl. Klinik gelegene Mühlengrundstück. Von Zehender spricht hier aber doch auch klare Worte der Frustration aus, wenn er schreibt: „Eine Erwägung ganz anderer Art veranlaßt mich inzwischen, auf längeres Festhalten des 10 Jahre lang fruchtlos conservirten Platzes zu verzichten. Herr Baumeister Daniel sagt in seinem Votum, daß der qu. Platz von allen außer von mir als ungünstig für eine Augenklinik betrachtet werde. Ist dies wirklich so dann will ich es nicht unternehmen, mich späteren möglichen Vorwürfen zu exponiren. Wenn z. B. – was im Krankenhause wiederholt vorgekommen ist – ein augenkrankes Kind in der neuen Anstalt an Diphterie erkrankt oder – was im Krankenhause auch vorgekommen ist – in Folge von Diphteritis sterben sollte – dann würde ich voraussichtlich fast wie der Mörder dieses Kindes angesehen werden, während es im allgemeinen Krankenhause sich gleichsam von selbst versteht, daß jeder, der sich in dasselbe aufnehmen läßt, sich freiwillig den Gefahren unterzieht, die der Aufenthalt in einem Krankenhause nothwendigerweise mit sich bringt. Das ist es ja gerade, was man vermeiden will, durch Anlage selbstständiger von den allgemeinen Krankenhäusern abgetrennter Augenheilanstalten, während hier in Rostock, durch den mehr als 12-jährigen Widerspruch der Stadt dieser unheilsvolle Zustand bis jetzt künstlich aufrecht erhalten worden ist.“ von Zehender an den Vicekanzler von Liebeherr am 4. 10. 1886.

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73 Siehe AHR 1.1.3.15. – 69: Verhandlungen über Abänderung der Verträge über die Beziehungen der Universitäts- und Domanialkranken zum Stadtkrankenhaus 1878 – 1888. 74 AHR 1.1.3.15. – 71: Verträge mit der Landesregierung über das Städtische Krankenhaus 1888 – 1900. 75 AHR 1.1.3.15. – 289: Übernahme des Stadtkrankenhauses in landesherrliche Verwaltung (Handakte des Bürgermeisters Maßmann) 1900 – 1902, hier: Vertrag betreffend den Uebergang des Stadtkrankenhauses zu Rostock in Großherzogliches Eigenthum und die Benutzung der Kliniken der Universität Rostock durch Kranke dieser Stadt vom 5. 10. 1900, § 9, die Übergabe des Stadtkrankenhauses in Großherzoglichen Besitz geschieht im Juni 1901. 76 UAR 2.04.1 – 0240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888, hier: Missive VII betr. ein von Herrn Prof. von Zehender an den Herrn Vicekanzler von Liebeherr geschicktes Schreiben bezügl. Umtausches des bisher für die Augenklinik in Aussicht genommenen Platzes gegen den neben der neuen Geburtshilfl. Klinik gelegene Mühlengrundstück. Vereinbarung zwischen Ministerium und Rat der Stadt Rostock vom 28. 5. 1887. 77 UAR 2.04.1 – 0240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888, Missive VII betr. ein von Herrn Prof. von Zehender an den Herrn Vicekanzler von Liebeherr geschicktes Schreiben bezügl. Umtausches des bisher für die Augenklinik in Aussicht genommenen

Platzes gegen den neben der neuen Geburtshilfl. Klinik gelegene Mühlengrundstück. 78 UAR 2.04.1 – 0240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888, Missive XIV betr. ein zweites Pro Memoria des Herrn Collegen von Zehender über den Bau einer Augenheilanstalt. Hier heißt es noch Ende 1885, nach der eingangs zitierten Landtagssitzung: auf von Zehenders Frage, „ob die Facultät zur Zeit in der Lage sei irgendwelche die Entwicklung der Augenheilanstalt: ‚Bau einer Augenheilanstalt in Rostock‘ beschleunigenden Schritte“ tun könne, man wolle vorerst die Reaktion der Stände abwarten, wolle sich aber zumindest vorab innerhalb der Fakultät schon einmal einigen. Die Einigung innerhalb der Fakultät gestaltete sich in einigen Aspekten ebenfalls als eher schwierig und damit auch zeitintensiv. Im Vergleich etwa zu den insgesamt ähnlichen Verhandlungen zum Bau einer neuen Augenklinik in Greifswald, wo die Medizinische Fakultät als eigentlicher Antragsteller (wenn auch im Namen des Ophthalmologen Rudolph ­Schirmers) fungierte und verhandlungsführend mit dem preußischen Ministerium war, hielt sich die Medizinische Fakultät Rostocks mehr oder weniger aus der Angelegenheit heraus. Albert Thierfelder äußerte sich bezüglich der Baukosten 1886 gegenüber seinen Kollegen deutlich: „möchte ich meiner Seits erklären, daß es mir nicht Sache der Facultät zu sein scheint, irgendwie darüber

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zu urtheilen, ob der Staat zu viel oder zu wenig für einen Institutsbau ausgiebt, oder ob und wo er sparen könne oder nicht. Ebenso wenig wie sich die Facultät irgendwie betheiligt hat an der Feststellung des Kostenanschlags für Bau und Einrichtung der Frauenklinik, – ebenso wenig scheint sie nun bei dem vorliegenden Bau zu einer solchen Einmischung Veranlaßung zu haben. Wenigstens entsprach es bisher unserer Gepflogenheit, es dem Fachmann, dem Institutsdirector zu überlassen, dasjenige bei der Regierung zu beantragen und herauszuschlagen an Geldmitteln, was er zur Erreichung seiner Zwecke, im Interesse seines Instituts für nothwendig hielt und was er glaubte vor sich und vor den Anderen verantworten zu können.“ Albert Thierfelder am 2. 1. 1886 in einer internen schriftlichen Fakultätsabstimmung. Vgl. zur Relevanz der Zeit Knapp 1866, S. 53. UAR 1.1.3.15. – 240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888, hier: Medizinische Fakultät, interne Stellungnahme vom 16. 7. 1887. UAR Kurator K052 – 0920: Lehrstuhl Augenheilkunde 1858 – 1901. UAR Kurator K052 – 0920: Lehrstuhl Augenheilkunde 1858 – 1901, hier: Vizekanzler von Liebeherr an ­Rudolph Berlin am 4. 9. 1889. Eine ausführliche Beschreibung von Bau und Funktion bei Crull 1894.

Literaturverzeichnis Quellen

AHR 1.1.3.15. – 289: Übernahme des Stadtkrankenhauses

AHR 1.1.3.16. – 133/2: Verwaltung des Zucht- und Werkhauses

und der Irrenanstalt St. Katharinen 1843 – 1853. AHR 1.1.3.15. – 285: Errichtung eines neuen Krankenhauses/

Erweiterung des Krankenhauses in Verbindung mit einem Medizinisch-­Chirurgischen Institut. AHR 1.1.3.15. – 69: Verhandlungen über Abänderung der Verträge über die Beziehungen der Universitäts- und Domanialkranken zum Stadtkrankenhaus 1878 – 1888. AHR 1.1.3.15. – 71: Verträge mit der Landesregierung über das Städtische Krankenhaus 1888 – 1900.

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in landesherrliche Verwaltung (Handakte des Bürgermeisters Maßmann) 1900 – 1902. AHR 1.1.19.5. – 4: Patienten aus den mecklenburgischen Domanialämtern 1865 – 1871. UAR : Promotionsakte Carl Friedr. Hanmann und Christ. Heycken, 1830. UAR : Personalakte von Zehender. UAR : Personalakte Gustav Simon, 1861 – 1867. UAR Kurator K052 – 0920: Lehrstuhl Augenheilkunde 1858 – 1901. UAR 1.1.3.15. – 240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888. UAR 2.04.1 – 0240: Bau der Augenklinik 1885 – 1888.

„Man könne nicht allen Wünschen entsprechen“

Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Literatur Amhausend, Astrid: Zwischen Privatklinik und städtischem Krankenhaus. Die klinische Ausbildung der Studenten an der Rostocker Medizinischen Fakultät im 19. Jahrhundert, in: Lammel, Hans-­Uwe (Hrsg.): Schweinsleder und japanisches Wachs. Geschichtliche Einblicke in die Medizinische Fakultät (Beiträge zur Geschichte der Universität Rostock, H. 25). Universität Rostock, Rostock 2002, S. 41 – 81. Amhausend, Astrid: „Chaos“ und „unendliche Verhandlungen“. Die Gründungsphase des Rostocker Stadtkrankenhauses 1794 – 1865. Ingo Koch, Rostock 2003. Aus den Briefen Albrecht von Graefes an Wilhelm von Zehender. Mitgeteilt v. A. Peters, in: Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde, 62 (1919), S. 111 – 117, 256 – 264 und 493 – 507. Axenfeld, Theodor: Wilhelm von Zehender (Nachruf), in: Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde, 58 (1917), S. 128 – 142. Balck, CWA .: Domaniale Verhältnisse in Mecklenburg-­ Schwerin, Bd. 1: Einleitung, Administrativbehörden, Grundbesitz und Landbevölkerung und Landwirthschaft. Hinstorff, Wismar/Rostock/Ludwigslust 1864. Bonin, Eva: Spezialkliniken im 19. Jahrhundert: Ausdruck der Suche nach einer eigenen Identität. Eine Studie am Beispiel von Augenheilanstalten zwischen 1850 und 1918. Murken-­Altrogge, Herzogenrath 1994. Correspondenz-­Blatt für die Aerzte im Grossherzogthum Mecklenburg-­Strelitz. Hrsg. von d. Grossherzoglichen Medicinal-­Collegium, 1 – 10 (1860). Crull, Paul: Die Grossherzogliche Universitäts-­Augenklinik zu Rostock. Diss. med., Universität Rostock 1894. Eulner, Hans-­Heinz: Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes. Ferdinand Enke, Stuttgart 1970. Gottwald, Helmut: Zur Geschichte der Universitäts-­ Augenklinik Rostock. Diss. med., Universität Rostock 1969. Guthoff, Rudolf/Vick, Hans-­Peter (Hrsg.): Wo einst die Langesche Mühle stand … Ein Almanach der Universitäts-­ Augenklinik Rostock. Hinstorff, Rostock 1999. von Hippel, Arthur: Über die Entwicklung des Unterrichts in der Augenheilkunde an den deutschen Universitäten, in: Klinisches Jahrbuch 2 (1890), S. 101 – 111.

Sophie Große

Hornburg, Silke: Die Geschichte der Universitäts-­Augenklinik Greifswald bis 1945. Diss. med., Universität Greifswald 2004. Knapp, J. H.: Ueber Krankenhäuser, besonders Augen-­ Kliniken. Bassermann, Heidelberg 1866. Küchle, Hans Joachim: Augenkliniken deutschsprachiger Hochschulen und ihre Lehrstuhlinhaber im 19. und 20. Jahrhundert. Biermann, Köln 2005. Külz, Jürgen (unter Mitarbeit von Gisela Teichmann und Werner Teichmann): Die Medizinische Fakultät, in: Mögen viele Lehrmeinungen um die eine Wahrheit ringen. 575 Jahre Universität Rostock. Hrsg. vom Rektor der Universität Rostock. Konrad Reich, Rostock 1994, S. 171 – 218. Pietruschka, Georg: Zum 80jährigen Bestehen der Universitäts-­Augenklinik Rostock, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, Mat.-Nat. Reihe, 22 (1973), S. 143 – 157. Siegrist, August: Geschichte der Augenheilkunde speziell der Augenklinik und deren Direktoren in Bern. Francke, Bern 1910. Straßenburg, Jan: Das Rostocker Armen-­Institut von 1803. Anspruch und Wirklichkeit. Diss. phil., Universität Rostock 2005. Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten Rostock und Bützow (VLZ ) der Jahre 1790 – 1900. URL : https:// www.ub.uni-­rostock.de/en/libraries-­facilities/ university-­archiveart-­collection/das-­universitaetsarchiv/ digitalisierte-­vorlesungsverzeichnisse/, letzter Aufruf am 13. 4. 2019. Willgeroth, Gustav: Die mecklenburgischen Aerzte von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart, ges. u. hrsg. von A. Blanck 1874, fortges. von A. Wilhelmi bis 1901, erg. u. fortgef. von G. Willgeroth. Verlag der Landesgeschäftsstelle des Meckl. Aerztevereinsbundes, Schwerin 1929. von Zehender, Wilhelm: Anleitung zum Studium der Dioptrik des menschlichen Auges. Ein Beitrag zur Physiologie und Pathologie des Gesichtssinnes. Erlangen 1856. von Zehender, Wilhelm: Die projectirte Augenheil-­Anstalt in Rostock. Rostock 1881. von Zehender, Wilhelm: Die projectirte Augenheil-­Anstalt in Rostock. Erstes und zweites Heftchen. Rostock 1885. von Zehender, Wilhelm: Die projectirte Augenheil-­Anstalt in Rostock. Drittes Heftchen. Rostock 1887. von Zehender, Wilhelm: Die neuen Universitäts-­Augenheil-­ Anstalten in Deutschland. Engelmann, Leipzig 1888.

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Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Abb. 1  Heilig-­Geist-­Kirche Rostock aus der Vicke Schorler Rolle. Blatt 4/9. Die Rolle, überschrieben mit dem Titel Wahrhaftige Abcontrafactur der hochloblichen und weitberuhmten alten Seeund Hensestadt Rostock – Heuptstadt im Lande zu Meckelnburgk, befindet sich im Stadtarchiv Rostock. Es handelt sich um eine kolorierte Federzeichnung mit einer Länge von 18,68 Metern und einer Höhe von 60 Zentimetern, die Rostock und die Umgebung der Stadt abbildet.

Vorläufer des Stadtkrankenhauses in Rostock Der Weg zur modernen Medizin führte über die Errichtung des Krankenhauses nach heutigem Verständnis. Dies geschah in Rostock mit der Etablierung des Stadtkrankenhauses 1855. Diente bis ins 18. Jahrhundert hinein das Hospital (lateinisch hospitalis = gastfreundlich) als Ort der Armenfürsorge, unterhalten durch christlich-­soziale Betreuung bzw. von der Armenverwaltung, so avancierte die neue Einrichtung zu einem Ort medizinischer Diagnostik und Therapie sowie zur Lehrund Ausbildungsstätte. Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts wurden Kranke und Gebrechliche in den Hospitälern zum Heiligen Geist (Abb. 1) sowie St. Georg versorgt. Während das erste über bedeutende Schenkungen verfügte und dort auch „reiche Witwen und alleinstehende Greise“ – soweit nicht in Familien- und Verwandtschaftsverbänden integriert – ihren Lebensabend verbrachten, diente das vor den Toren der Stadt gelegene St. Georg-­Hospital eher als Zufluchtsstätte für Arme, Altersschwache, Kranke und Sieche. Hier wurden auch ­sogenannte Aussätzige betreut. Im Zuge der Säkularisierung trat die Kirche die Aufgaben der Armen- und

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Krankenfürsorge zunehmend an den Staat ab, die an das Gemeinwesen übergingen. Wenngleich in der obrigkeitlichen Gesetzgebung verankert, beteiligten sich die Landesherren jedoch nur wenig an der Finanzierung. Armenfürsorgliche Leistungen mussten auf lokaler Ebene erbracht und umgesetzt werden. Es entstanden Armeninstitute und städtische Krankenhäuser, die in der Regel von der Armenverwaltung unterhalten wurden. In Rostock existierte ein solches „Stadtkrankenhauß“ zunächst auf dem alten Markt. Es konnte lediglich drei bis vier Kranke aufnehmen und befand sich am Ausgang des 18. Jahrhunderts in einem sehr schlechten Zustand.1 Der unzureichenden Versorgung sollte mit dem Umbau des Lazaretts, am Heringstor (am Strande) gelegen, begegnet werden. Diese Pläne scheiterten jedoch. Das schließlich 1805 eröffnete Krankenhaus an der Grube galt von vornherein als Interimslösung, hatte Platz für 16 Patienten, verfügte über beheizbare Zimmer, eine Totenkammer und weitere Räumlichkeiten. Es unterstand dem Armenkollegium der Stadt. Auch wenn von vornherein klar war, dass es viel zu klein und auch die bauliche

Substanz mangelhaft war, existierte es bis 1846 und war 1838 in den Besitz der Medizinischen Fakultät übergegangen.2 Die Ärzte arbeiteten unentgeltlich, unter ihnen die Medizinprofessoren Samuel Gottlieb Vogel (1750 – 1837), August Gottlob Weber (1762 – 1807), Johann Wilhelm Josephi (1763 – 1845) und Adolf Friedrich Nolde (1764 – 1813) sowie Heinrich Spitta (1799 – 1860), der darin eine Poliklinik für den studentischen Unterricht eingerichtet hatte. Mit Gründung des Stadtkrankenhauses 1855 verbesserte sich sowohl die medizinische Versorgung der Bevölkerung als auch die Ausbildung angehender Mediziner durch die praxisnahe Unterweisung am Krankenbett.

Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Samuel Gottlieb Vogel (1750 – 1837)

Abb. 2  Porträt von Samuel Gottlieb Vogel.

Als Vater des ersten deutschen Seebades gilt Samuel Gottlieb Vogel. Der Sohn des Göttinger Professors Rudolf Augustin Vogel (1724 – 1774) war als praktischer Arzt tätig, bevor er in die Dienste des Fürstentums Ratzeburg und Herzogtums Lauenburg trat. 1789 an die Universität Rostock berufen, gelang es ihm, den Plan zur Errichtung eines Seebades an der deutschen Ostseeküste in die Tat umzusetzen. Seine Vorbilder waren die südenglischen Seebadanstalten, die Vogel während einer Studienreise besichtigt hatte und von deren gesundheitlichem Wert er überzeugt war. Sein Kollege August Gottlob Weber (1762 – 1807) war mit dieser Idee kurz zuvor noch gescheitert. Vogels zahlreiche balneologischen Schriften weckten das Interesse Herzogs Friedrich Franz I. von Mecklenburg-­Schwerin. Mit dessen Unter-

stützung konnte 1793 am Heiligen Damm bei Doberan das erste deutsche Seebad gegründet werden. Als erster Gast eröffnete der mecklenburgische Herzog 1794 die „Weiße Stadt am Meer“, die alsbald zahlreiche Gäste des europäischen Adels anlockte. 1797 erhielt Vogel den Titel eines Leibarztes und die Stellung des Badearztes. Er trat jedoch nicht nur als Balneologe hervor. Sein medizinisches Verständnis war ein ganzheitliches. Krankheiten des einzelnen Patienten betrachtete er innerhalb der historisch-­sozialen Bedingtheit, ging also allen „Agentien, Medien und Faktoren, zu denen der Kranke in Beziehung stand“ nach. Er war einer der ersten deutschen medizinischen Hochschullehrer, die die Bedeutung der Auskultation nach René Laënnec (1781 – 1826) erkannten und in ihren Unterricht einfließen ließen.

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

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Nolde, Adolf Friedrich: Bemerkungen aus dem Gebiete der Heilkunde und Antropologie, in Rostock gesammelt. Henning’sche Buchhandlung, Erfurt 1807.

Vgl. Nolde 1807, S. 200. Vgl. die Arbeiten von Imberh und Krause sowie Große in diesem Band.

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Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock Entwicklung der Spezialdisziplinen im 19. und frühen 20. Jahrhundert Kathleen Haack Unsere, der Professoren, Aufgabe muß es also sein, daß jeder in seiner Sphäre fortwährend strebt, seinen Wirkungskreis so zu begränzen [sic], daß er für seine Spezialwissenschaft fördernd arbeiten kann […].1

Als Hermann Aubert (1826 – 1892), der erste Ordinarius, der getrennt von der Anatomie einen Lehrstuhl für Physiologie an der Universität Rostock vertrat, diese Worte anlässlich der Eröffnung des neu errichteten „Medicinischen Instituts“ formulierte, war der von ihm angedeutete Spezialisierungsprozess innerhalb der medizinischen Disziplinen längst in vollem Gang. Die Entwicklung der Medizin schritt, getragen durch die naturwissenschaftliche Wende seit dem 19. Jahrhundert, mit solch enormen Ausmaß und mit Schnelligkeit voran, dass Ärzte beinahe als moderne Zauberkünstler eines zunehmend durchorganisierten und differenzierten Medizinalwesens angesehen wurden. Fast vergessen schienen die nur wenige Jahrzehnte zuvor katastrophalen Zustände bei der Krankenversorgung der Bevölkerung in einer Universitätsstadt, die erst ab 1855 über ein Krankenhaus mit einer annähernd adäquaten medizinischen Infrastruktur verfügte. Der Weg dorthin war ein sehr schwieriger. Zur langsamen aber stetigen Verbesserung trugen in starkem Maß Rostocker Medizinprofessoren seit Beginn des 19. Jahrhunderts bei, häufig basierend auf Eigeninitiativen. Sie wollten eine spezialisierte professionelle und praxisorientierte Lehre, fußend auf einer ebensolchen Krankenbehandlung durchsetzen und nahmen die Dinge nicht selten selbst in die Hand.

Tendenzen früher Spezialisierungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Rostock An der Universität Rostock zeichneten sich erste Spezialisierungen mit der ersten privaten medizinisch-­chirurgischen Klinikgründung durch Johann Wilhelm Josephi (1763 – 1845) im Jahr 1801 ab.2 Seine Person und seine Aktivitäten exemplifizieren die beginnende Differenzierung innerhalb der Medizin. Neben dem von ihm angestrebten Unterricht am Krankenbett hatte sich Josephi bereits 1789, mit seinem Wechsel von der Universität Göttingen nach Rostock, um einen geordneten anatomischen Unterricht bemüht. Schon ein Jahr später konnte nach Umbauten das erste Anatomische Institut an der Universität am Alten Markt eröffnet werden (Abb. 1).3 In der 1793 in Rostock 4 gegründeten Hebam-

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Abb. 1  Theatrum Anatomicum am Alten Markt in Rostock (1790 bis 1844): eingeweiht wurde dieses durch eine Rede Josephis: Über den Nutzen der Anatomischen Lehranstalt (1790).

menschule unterwies er angehende Hebammen, nachdem bereits seit 1765 geburtshilflicher Unterricht durch Christian Ehrenfried Eschenbach (1712 – 1788) gelehrt worden war.5 Josephis 1797 erschienenes Lehrbuch für Hebammen galt als Standardwerk und musste für jede im „Amtsbezirke wohnende Hebamme als Inventarienstück aus der Amtscasse angeschafft“ 6 werden. Auch Heinrich Spitta (1799 – 1860), Carl Friedrich Quittenbaum (1793 – 1852) und Johann Karl Friedrich Strempel (1800 – 1872) vermittelten in den von ihnen gegründeten Polikliniken 7 bzw. der Medizinisch-­Chirurgischen Klinik 8 einen praxisnahen Unterricht für die Studenten. Zudem wird eine weitere Tendenz sichtbar: Die Chirurgie wurde aufgewertet und floss vor dem Hintergrund der als zunehmend künstlich betrachteten Trennung innerer und äußerer Krankheiten in viel stärkerem Maß in den universitären Unterricht ein.9 In der Folge kam es zur Trennung von Anatomie und Chirurgie. In Rostock gilt Quittenbaum als der letzte chirurgische Anatom. Mit Franz König (1832 – 1910) erhielt 1869 einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Chirurgie einen Lehrstuhl in Rostock. Neben der Behandlung der Gelenktuberkulose war es sein Verdienst, die Antiseptik in Rostock eingeführt zu haben. Sein Lehrbuch der Speziellen Chirurgie galt als eines der wichtigsten Standardwerke der Zeit. Ebenso wie bei Josephi zeigt sich auch bei den Chirurgen Strempel und später bei König beispielhaft das Bemühen um einen differenzierten medizinischen Unterricht und in der Folge um eine qualitativ verbesserte Gesundheitsfürsorge und Krankenbehandlung. 1836 konnte durch die Initiative Strempels das erste sogenannte Gebärlokal in Rostock, in abgetrennten Räumlichkeiten seiner Medizinisch-­Chirurgischen Klinik, eröffnet werden. Damit hatten Studierende und angehende Hebammen nun auch die Möglichkeit der praktischen Unterweisung.10 Die Leitung hatte der spätere Professor der Medizin und Geburtshilfe Christian Krauel (1800 – 1854) inne. Strempel war es auch, der sich trotz aller Schwierigkeiten und enormer Widerstände maßgeblich für den Bau des Stadtkrankenhauses eingesetzt hatte.11 Mit dessen Fertigstellung 1855 verfügte die Stadt nun endlich über eine „Medicinische und Chirurgisch-­ Ophthalmiatrische Klinik“ für die Medizinische Fakultät und den universitär ausgerichteten praktischen Unterricht. Damit hatte sich auch in Rostock eine neue Konstellation eingestellt: „aus einer Ordnung gesicherten Wissens für Zwecke der Lehre [wurde ein] Sozialsystem spezialisierter wissenschaftlicher Forschung und Kommunikation, [welche] in einer Infrastruktur akademisch-­wissenschaftlicher Berufe verankert“ 12 war. In der Folge koppelten sich immer mehr medizinische Sachverständige ab, die neue Lehrstühle gründen und etablieren konnten sowie den entsprechenden Raum zur Anwendung ihres praxisbezogenen Spezialwissens in Form von Klinikneubauten einforderten. Dass dies nicht ohne Differenzen, Auseinandersetzungen und Kompetenzgerangel vonstattenging, ist naheliegend und böte genügend Material für umfangreiche Untersuchungen, soll aber nicht Gegenstand der folgenden Ausführungen sein.

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Neben der Etablierung eigener Institute für die Grundlagenfächer (u. a. Anatomie, Physiologie, Hygiene, Pharmakologie, Physiologische Chemie) entstanden fortan eine Anzahl neuer Ordinariate und Kliniken an der Universität Rostock.

Das „Neue Medicinische Institut“ Mit der naturwissenschaftlich-­positivistischen Wende in der Medizin der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewann ein physikalistisches Krankheitskonzept an Bedeutung. Unter dem Einfluss der Virchow’schen Zellularpathologie und die an energetische Betrachtungsweisen angelehnte Physiologie von Hermann von Helmholtz (1821 – 1894) verlagerte sich die Ätiologie und Pathogenese auf anatomische, biochemische und physikalisch-­ energetische Prozesse. In der Folge gewannen die medizinischen Grundlagenfächer an Bedeutung. Die zunehmenden Aufgaben konnten in den an der Rostocker Universität weit auseinanderliegenden und häufig unzweckmäßigen Gebäuden nicht mehr adäquat bewerkstelligt werden, sodass die Idee eines mehrere Institute umfassenden medizinischen Studiengebäudes bald konkrete Form annahm. Nach langen Verhandlungen gelang schließlich eine Einigung. Im Oktober 1878 konnte das „Neue Medicinische Institut“ in der Gertrudenstraße eingeweiht werden (Abb. 2). Es bot den Instituten für Anatomie, Physiologie, Pathologie und Pharmakologie großzügige Räumlichkeiten und eine hervorragende Ausstattung. Hermann Aubert hob anlässlich der Einweihung des Gebäudes hervor, dass mit der Eröffnung „ein sehnlich gehegter Wunsch“ in Erfüllung ge-

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Abb. 2  Zeitgenössische Zeichnung des „Neuen Medicinischen Instituts“.

Abb. 3  Titelblatt der Rede des Ordinarius für Physiologie, Hermann Aubert, anlässlich der Einweihung des „Medicinischen Instituts“.

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Abb. 4  Albrecht Kossel in seiner Heidelberger Zeit (um 1910). Albrecht Kossel wurde 1853 in Rostock geboren. An der Medizinischen Fakultät seiner Heimatstadt Rostock wurde er 1878 mit einer biochemischen Arbeit promoviert und habilitierte drei Jahre später an der Universität Straßburg. Nach Zwischenstationen an den Universitäten Berlin und Marburg, übernahm er 1901 den Lehrstuhl für Physiologie an der Ruprecht-­Karls-­ Universität Heidelberg, wo er später bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1924 als Direktor arbeitete. Seine Arbeiten über die Chemie des Zellkerns dienten als wesentliche Voraussetzungen für die Entschlüsselung der Genstruktur. Kossel war einer der Ersten, der die Methoden der Organischen Chemie auf die Untersuchung biologischer Systeme anwandte. 1910 erhielt er den Nobelpreis für Medizin für seine Arbeiten über Proteine und insbesondere Nukleinsäuren.

gangen sei und die engen Beziehungen dieser Fächer die Möglichkeit bieten würde, „uns voneinander leicht Rath holen zu können.“  13 Durch seinen Nachfolger, Oskar Langendorff (1853 – 1908), dessen Namen das Institut heute trägt, wurde die Methode des durchströmten, isolierten Warmblüterherzen entwickelt.14 Hans Winterstein (1879 – 1963), bis 1927 in Rostock tätig, ab 1933 in der Emigration, war mit herausragenden Arbeiten zur Theorie der chemischen Regulation der Atmung sowie Grundlagen der Narkose hervorgetreten. Kurt Wachholder (1893 – 1961) schließlich beschäftigte sich mit Muskel- und Ernährungsphysiologie und der hormonalen und nervalen Regulation des weißen Blutbildes. 1940 war er Dekan, zwischen 1944 und 1946 Rektor der Universität. Der Bedeutung wegen sei auch auf die Entwicklung der Physiologischen Chemie und Immunologie an der Universität eingegangen. Bereits 1847 hatte ein Schüler des berühmten Justus von Liebig (1803 – 1873), der Chemiker Johann Georg Bernhard Sthamer (1817 – 1903), als erster ein pathologisch-­chemisches Labor in Strempels Klinik in der Pädagogienstraße eingerichtet, um chemische Untersuchungen an Körperflüssigkeiten von Patienten durchzuführen. Dieses Labor gilt als Keimzelle des später gegründeten Instituts für Pathologie. Später unterrichtete Karl Gaehtgens (1839 – 1915) Physiologische Chemie. Auf sein Betreiben wurde der spätere Nobelpreisträger, Albrecht Kossel (1853 – 1927, Abb. 4), als Assistent eingestellt. Unter Rudolf Kobert (1854 – 1918) erreichte die Einrichtung eine stärkere pharmakologische Ausrichtung. Erst im 20. Jahrhundert wurde ein Lehrstuhl (1939) und das Ordinariat (1946) für Physiologische Chemie eingerichtet.

Lehrstuhl- und Klinikgründungen in der zweiten Hälfte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts – Genese und Etablierung Mit der Entstehung des Stadtkrankenhauses 1855 war es zur deutlichen Verbesserung der medizinischen Versorgung auf den Gebieten der Inneren Medizin, der Chirurgie sowie der noch unter ihrem Dach ansässigen Augenheilkunde gekommen und damit zur Aufwertung des praktischen Unterrichts in diesen Fächern.

Innere Medizin und Chirurgie Schon bald nach der Eröffnung hatte Strempel die Leitung der Medizinischen Klinik mit 143 Betten, davon 39 für Infektionskranke und 10 für Kinder, Theodor Thierfelder (1824 – 1904) übergeben.15 Thierfelder führte einen streng physiologisch orientierten klinischen Unterricht ein sowie die konsequente Körpertemperaturmessung seiner Patienten. Nach der Abtrennung der neu eingerichteten Medizinischen Poliklinik 1891 übernahm Friedrich Martius (1850 – 1923) diese, bevor er nach Ausscheiden Thierfelders 1901 Direktor der Medizinischen Klinik wurde. Das damit frei gewordene Extraordinariat wurde für die Schaffung eines „ganz unentbehrlichen Lehrstuhles für Dermatologie“ 16 zur Verfügung gestellt. Zudem kam es unter dem Direktorat von Martius zur Herausbildung einer eigenen Kinderabteilung im Jahr 1905. Aus ihr ging 1918 eine eigene Kinderklinik hervor. Mit Hans Curschmann (1875 – 1950) übernahm ein neurologisch 17 interessierter Internist die Leitung der Polklinik und von 1921 bis 1940 der gesamten Medizinischen Klinik. Sein Lehrbuch der Differentialdiagnostik innerer Krankheiten 18 erfuhr bis 1950 dreizehn Auflagen und galt lange Zeit als eines der wichtigsten des Fachgebietes. 1941 übernahm der Tropenmediziner und Hämatologe Viktor Schilling (1883 – 1960) die Leitung der Klinik.

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Die Chirurgie hatte mit dem erwähnten Franz König einen Arzt von hohem Renommee gewinnen können. Auch seine Nachfolger Friedrich Trendelenburg (1844 – 1924) und Otto Wilhelm Madelung (1846 – 1926) genossen internationales Ansehen. Das „TrendelenburgZeichen“ aufgrund einer Schädigung des Musculus gluteus medius und minimus, die Trendelenburg’sche Operation bei Lungenembolie und die nach ihm benannte Lagerung des Beckens zeugen von seiner herausragenden Bedeutung. Dem Bauchchirurg Madelung ist das nach ihm benannte Zeichen einer Temperaturdifferenz zwischen Rektal- und Axillartemperatur als Hinweis auf intraabdominale Entzündung zu verdanken, zudem die Beschreibung der Madelung-­Deformität und Lipomatose. Sein Nachfolger, der Schweizer Carl Garré (1857 – 1928) war ab 1894 in Rostock. Er war auf die chirurgischen Behandlungen der Schilddrüse spezialisiert. Seine Einführung des „sterilen Fingers“ als sicherstes Instrument bei der Exploration von Stich- und Schusskanälen rettete vielen Kriegsverletzten im Ersten Weltkrieg das Leben.19 Garrés Lehrbuch der Chirurgie erlebte 19 Auflagen und mehrere Übersetzungen. 1911 wurde, um der großen Nachfrage nach chirurgischen Betten nachzukommen, begonnen, eine neue Klinik zu errichten. Diese wurde erst 1930 fertiggestellt. Es folgte eine zunehmende Differenzierung. Abb. 5  Gustav von Veit, um 1870.

Geburtshilfe und Gynäkologie an der Universität Auch die Vertreter der geburtshilflichen Fürsorge und Betreuung hatten mit der Eröffnung des Geburtshauses, wenn auch zunächst innerhalb der Medizinisch-­Chirurgischen Privatklinik Strempels, begonnen, eine gewisse Eigenständigkeit zu erproben. 1846 erfolgte die endgültige Abtrennung. Nach einer provisorischen Unterkunft in der Schnickmann-, später in der Wokrenterstraße, wurden Pläne für den Neubau einer Entbindungsanstalt entworfen. 1854 wurde der erst 30-jährige Gustav von Veit (1824 – 1903, Abb. 5) auf den ersten Lehrstuhl für Geburtshilfe in Rostock berufen. Er war zugleich Direktor der Geburtshilflichen Klinik sowie der allgemeinen Hebammenlehranstalt. 1858 konnte durch sein Engagement ein Neubau in der Buchbinderstraße mit „Hof und Garten, Wasserleitung mit Cloakenabfluss, Closetts in jeder Etage, ein zweites Badezimmer und ein Leichenzimmer“ 20 bezogen werden. Veit, einer der führenden Gynäkologen seiner Zeit, hatte mit seinem Beitrag über die „Krankheiten der weiblichen Geschlechtsorgane“ (1856) maßgeblich zur Ätiologie der Krebserkrankungen beigetragen. Angelehnt an die Zellularpathologie Virchows beschrieb er als erster den Gebärmutterhalskrebs als „entartete Zelle“ und „befreite“ die betroffenen Frauen damit vom Stigma des zügellosen Lebenswandels und sexueller Ausschweifungen.21 Veit nahm 1864 einen Ruf an die Universität Bonn an. Sein Nachfolger, Franz von Winckel (1837 – 1911), hatte sich vor allem die Bekämpfung der peripartalen Mortalität als oberstes Ziel gesetzt, denn Mecklenburg wies die höchste Müttersterblichkeit im Vergleich zu anderen deutschen Staaten auf.22 Sicherlich war die besondere Hinwendung zu diesem Thema von einem Ereignis im Schweriner Schloss geprägt, bei der die Großherzogin Anna nach der Geburt ihres ersten Kindes in Anwesenheit von Winckels sowie dem Leibarzt Carl von Mettenheimer (1824 – 1898) an einer Puerperalsepis verstorben war. In die Tradition der Bekämpfung der hohen Müttersterblichkeit lässt sich auch sein Nachfolger Friedrich Schatz (1841 – 1920) verorten. Als Credé 23-Schüler galt für ihn Hygiene als oberstes Gebot. Schatz gilt als einer der Hauptvertreter der physikalischen Periode seines Fachgebiets 24 und als einer der fruchtbarsten gynäkologischen Forscher des 19. Jahrhunderts.25 Für die Universität Rostock ist sein Wirken neben seiner reichen

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Abb. 6  Friedrich Schatz, 1870er-­Jahre.

Abb. 7 und 8  Universitätsfrauenklinik um 1910 sowie eine aktuelle Ansicht (heute Orthopädische Klinik und Poliklinik).

wissenschaftlichen Publikationstätigkeit 26 vor allem als Organisator des Klinikneubaus der Universitätsfrauenklinik von großem Interesse. Schatz (Abb. 6) hatte sich nur ein Jahr nach seiner Berufung im Jahr 1872 zum ordentlichen Professor und Direktor der Klinik für Geburtshilfe und Gynäkologie sowie der Landeshebammenanstalt in Rostock für den Neubau einer Anstalt für Frauenkrankheiten bei der Landesregierung eingesetzt. Doch nicht nur das. Er plante die Klinik bis in die kleinsten Details selbst. Seine Argumentation, die den Staat in die Pflicht nahm, für eine bestmögliche Ausbildung von Hebammen zu sorgen, ging von der fortschreitenden Entwicklung der Medizin, einer zunehmenden Spezialisierung und der damit verbundenen Notwendigkeit der Verknüpfung von Geburtshilfe und der Behandlung von Frauenkrankheiten aus.27 Nach längerem Hin und Her hatte der Mecklenburgische Landtag einem Neubau mit Mitteln aus dem Fond der französischen Kriegskontribution zugestimmt. Skeptisch war man allerdings bezüglich des Baugrundstücks in der Doberaner Chaussee gegenüber der noch heute sich dort befindenden Brauerei. Die 13 alternativen Grundstücke erwiesen sich aus unterschiedlichen Gründen als nicht zweckmäßig, sodass dieser (wohl einzig möglichen) Option 1883 endgültig von den Vertretern der Stände des Großherzogtums zugestimmt wurde. 1887 wurde die Klinik eingeweiht, zunächst ohne elektrische Beleuchtung – bei intensivem Lichtbedarf wurde ein Siemensbrenner eingesetzt –, ohne Zentralheizung und schalldämpfenden Terrazzoboden. Wichtiger erschienen Schatz, der begrenzten finanziellen Mittel wegen, die Einhaltung der hygienischen Standards: Die Wasserversorgung erfolgte über die städtischen Wasserleitungen, leicht zu öffnende Kippvorrichtungen der Fenster zur Belüftung waren vorhanden, die Wäsche konnte über zwei Wäscheschlote schnell entsorgt und desinfiziert werden, ein Schimmel’scher Desinfektionsapparat, der ein ganzes Bett oder Matratzen, ein Sofa und Lehnstühle fassen konnte, war vorhanden. Die Septische und Isolierstation waren in einem separaten Gebäude untergebracht worden.28 Die Frauenklinik stellte den ersten großen medizinischen Neubau nach Errichtung des Stadtkrankenhauses in Rostock dar (Abb. 7 und 8). Zugleich konnte Schatz sein Anliegen der Reorganisation des Hebammenwesens umsetzen (Abb. 9), sodass die Sterblichkeit im Kindbett fortan in Mecklenburg stark zurückging.29 Die Geburtshilfe verdankt Schatz das Verfahren der intrauterinen Druckmessung als Maß für die Wehenstärke.30

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Abb. 9  Teilnehmerinnen des 94. Hebammenlehrkurses im Jahr 1898.

Augenheilkunde an der Universität Der Errichtung der Frauenklinik folgte in unmittelbarer Nachbarschaft der Neubau der Augenklinik (Abb. 10 und 11), eingeweiht 1892. Bereits seit 1869 gab es eine ordentliche Professur für Ophthalmologie, besetzt mit Karl Wilhelm von Zehender (1819 – 1916). Den

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Abb. 10 und 11  Universitätsaugenklinik Rostock, 1893 sowie heutige Ansicht.

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äußerst schwierigen Weg bis zur endgültigen Umsetzung des Bauvorhabens zeichnet Sophie Große in ihrem Beitrag „Man könne nicht allen Wünschen entsprechen“ in diesem Band nach, weshalb an dieser Stelle nicht näher auf die Entwicklung der Ophthalmologie in Rostock eingegangen werden soll. Noch heute befindet sich die Augenklinik an ihrem ursprünglich angestammten Ort in der Doberaner Straße.

Psychiatrie in Rostock

Abb. 12 und 13  Hauptgebäude der Anstalt Gehlsheim um 1900 sowie aktuelle Ansicht der Klinik.

Eine Sonderstellung nimmt die Entwicklung der Psychiatrie an der Universität Rostock ein. Die 1896 eingeweihte Klinik war eine landeseigene (nicht universitäre), deren Direktor das Fach an der Universität mit vollem Lehrauftrag unterrichtete. Die Psychiatrie hatte sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in Abgrenzung zur Philosophie und der sich herausbildenden Psychologie als Teil der Medizin etabliert. Psychiater hatten selbstbewusst gefordert, nicht nur bei erkennbaren somatischen Ursachen psychischer Erkrankungen tätig zu werden, sondern auch dann, wenn keine offenkundigen organischen Gründe vorliegen würden.31 Hintergrund einer solchen Entwicklung bildete der sich zunehmend entfaltende „Erfahrungsraum“ der neu entstandenen psychiatrischen Anstalten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kam es verstärkt zum Bau solcher Einrichtungen. Der erste Neubau einer psychiatrischen Anstalt auf deutschem Boden war der „Schweriner Sachsenberg“; und dies in Mecklenburg, ein für diesen Landstrich eher unübliches Unterfangen, will man dem späteren Reichskanzler Otto von Bismarck Glauben schenken.32 In Rostock hingegen wurden die psychisch Kranken seit 1825 im Chor des ehemaligen Katharinenklosters untergebracht, noch immer in Verbindung mit dem Zucht-, Arbeits- und Waisenhaus der Stadt. Dies führte zu starken Differenzen zwischen dem ab 1835 als Leiter der „Heilanstalt für Gemüthskranke“ St. Katharinen eingesetzten ärztlichen Direktor, Johann Schröder (1799 – 1879), und dem Zuchthausinspektor F. W. Erichson.33 Spätestens ab 1828 sind Vorlesungen an der Universität Rostock zu Themen, die sich mit psychischen Abweichungen beschäftigten, nachzuweisen.34 Interessanterweise wurde die Lehrveranstaltung mit dem Titel „De animi motibus, affectionibus et morbis“ von dem Philosophen Carl Weinholtz angeboten und spiegelt zwei interessante Konstellationen der Zeit wider: Zum einen spielte die Lehre von den Affekten und Leidenschaften bei der Frage nach der Entstehung, Erkennung und Verortung psychischer Krankheiten

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eine enorm wichtige Rolle. Die Affekte als aktivierende und notwendige Bestandteile des (Seelen)Lebens erfuhren eine positive Aufwertung innerhalb dieses Diskurses. Die strikte Trennung der Erkenntnisfunktion des Verstandes und des Empfindungsvermögens wurde überwunden.35 Zum anderen ging es um die fachliche Kompetenz bei solchen somatisch nicht nachweisbaren psychischen Abweichungen, die sowohl die Philosophen als auch die Ärzte für sich beanspruchten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts zeigt sich jedoch, dass erst die in den Anstalten gemachten Erfahrungen der Ärzte das klinische Studium der Symptome von Geisteskrankheiten ermöglichte. Es kam zu einer Längsschnittbeobachtung psychisch Kranker und damit zu einem erweiterten Verständnis psychiatrischer Symptomatik, sodass Psychiater schließlich die Sachverständigen der „kranken Seele“ wurden. Zwei Jahre später, 1830, ist es der Arzt und Philosoph, Georg Friedrich Most (1794 – 1845), der Psychiatrie anhand der Theorien führender medizinischer Fachvertreter wie Jean Étienne Dominique Esquirol (1772 – 1840), Johann Christian August Heinroth (1773 – 1843) u. a.36 an der Universität Rostock lehrte. Mit dem Praktiker und Hofmedikus Johann Schröder 37 war es endgültig ein Arzt, der an der Universität zu psychiatrischen Themen („Morbos systematis nervosi“ und „Morbos psychicos“)38 sowohl theoretisch dozieren als auch praktische Unterweisungen für Studenten in St. Katharinen geben sollte.39 Zwischen 1835 und 1865 leitete Schröder die „Städtische Irren-, Heil- und Bewahr-­Anstalt“ im St.-Katharinen-­Kloster in Rostock und hielt – zumindest suggeriert es das Vorlesungsverzeichnis der Universität – bis zum Sommersemester 1868 regelmäßig Vorlesungen zur Pathologie und Therapie psychischer Erkrankungen.40 Andere Quellen hingegen verweisen auf eine gewisse Unzuverlässigkeit, sodass spätestens seit den 1860er-­Jahren genügend Veranlassung bestand, den Neubau einer Psychiatrischen Klinik in der Nähe von Rostock voranzutreiben und daran eine Professur für Psychiatrie an der Rostocker Universität zu knüpfen.41 Aufgrund des Preußisch-­ Österreichischen Krieges von 1866, bei dem das Großherzogtum Mecklenburg-­Schwerin auf der Seite Preußens kämpfte, wurde die Realisierung des Projekts zurückgestellt.42 In den folgenden Jahren gab man die Idee zugunsten des Ausbaus des Schweriner Sachsenbergs auf, da ein Neubau deutlich mehr Kosten verursacht hätte.43 Doch auch die vollzogenen Anbauten in der Schweriner Anstalt lösten das Problem der ständigen Überfüllung nur kurzzeitig. Erst als diese bei einer Überbelegung von mehr als 50 % zu „bersten drohte“, wurde der Neubau einer Psychiatrischen Anstalt erneut erwogen.44 Dass dieser in der Nähe Rostocks anzusiedeln war, war schon dem Umstand geschuldet, dass ab 1883 die Prüfungsvorschriften der Universität Medizinstudenten dazu verpflichteten, ihre Fähigkeiten zur Beurteilung psychisch Kranker nachweisen zu müssen.45 Die Wahl des Standortes fiel auf Gehlsdorf, ein wenig abgeschieden, preiswert beim Erwerb des Grundstücks und für die psychisch Kranken Ruhe versprechend. 1893 wurde nach langem Ringen mit den Mecklenburger Ständen mit dem Bau begonnen, 1896 wurde dieser fertiggestellt (Abb. 12 und 13). Damit verfügte die Rostocker Universität als eine der letzten im Deutschen Reich (neben Kiel und Königsberg) über eine Psychiatrische Klinik für den Unterricht. 1897 konnte eine Universitätspoliklinik für Nerven- und Gemütskranke im hinteren Teil des Universitätshauptgebäudes eingerichtet werden. 1895 war der psychiatrische Lehrstuhl mit dem ehemaligen Direktor des Sachsenberges, Fedor Schuchardt (1848 – 1913, Abb. 14), besetzt worden, eine eher pragmatische Lösung. Auch wenn er sich als Praktiker schon in der Schweriner Anstalt große Verdienste erworben hatte, ebenso in Vorbereitung der Errichtung der Gehlsheimer Klinik, war er wissenschaftlich kaum hervorgetreten. Es verwundert, dass seine in dieser Beziehung wesentlich aktiveren Mitbewerber, Max Köppen (1859 – 1916) von der Berliner Charité und Robert Wollenberg (1862 – 1942), Universitätsnervenklinik Halle, nicht in Erwägung gezogen wurden.46

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Abb. 14  Fedor Schuchardt, Ölzeichnung von Paul Mönnich 1904.

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Die Argumentation der Kommission, Schuchardt kenne sich mit der psychiatrischen Landschaft in Mecklenburg hervorragend aus,47 kann wenig überzeugen und deutet auf eine gewisse Ignoranz gegenüber der psychiatrisch-­wissenschaftlichen Forschung hin bzw. von deren Unkenntnis. Es wäre in dieser Zeit umso wichtiger gewesen, der Psychiatrie ein wissenschaftlich fundiertes (therapeutisches) Fundament zu bereiten, denn die Euphorie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie sie sich in der mythologischen Verklärung der „Befreiung der Irren von den Ketten“ 48 widerspiegelt, war längst vorbei. Die Kritik an einer verwahrenden Psychiatrie gipfelte im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend in deren Krise. Sie mündete in einer politisch breit ausgefächerten „Anti-­Psychiatrie Bewegung“ um 1900.49 Die wissenschaftlichen Defizite Schuchardts, und sicherlich auch die im Zuge einer Erkrankung schwindenden Kräfte, brachten die neurologisch forschenden Internisten in Rostock auf den Plan. Sie sahen gar die Chance einer Abspaltung der „Nervenpathologie“ unter ihrer Ägide.50 Ein weiteres Problem war der Umstand, dass die Psychiatrische Anstalt bis 1946 keine Universitätsklinik war, sondern eine Heil- und Pflegeanstalt, deren Verwaltung dem Kuratorium der Landeskrankenanstalten oblag.51 Entscheidende Beschlüsse hinsichtlich finanzieller Investitionen, Klinikneubauten oder Umstrukturierungen des Verwaltungsapparates waren dem Ministerium in Schwerin noch lange Zeit fast ausschließlich vorbehalten.52 Die insgesamt ungünstigen Voraussetzungen mögen ein Grund gewesen sein, warum die Nachfolger Schuchardts, so bedeutende Fachvertreter wie Oswald Bumke (1877 – 1950) und Karl Kleist (1879 – 1960), nach nur kurzer Zeit Rostock wieder verließen.

Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde an der Universität Wohl über kaum eine Institution ist innerhalb der Rostocker medizinhistorischen Forschung so ausführlich reflektiert worden, wie über die HNO -Klinik.53 Dies ist vor allem dem Umstand zu verdanken, dass es sich hierbei um die erste Fachklinik dieser Art an einer deutschen Universität handelt, und auch das erste Ordinariat für Ohren- und Kehlkopfheilkunde wurde hier eingerichtet und mit Otto Körner (1858 – 1935) im Jahr 1901 besetzt. Dass das Fachgebiet, dessen Aufschwung in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann, nicht von vornherein an ein homogenes war, ist naheliegend. Noch 1908, auf dem ersten Internationalen Laryngo-Rhinologen-Kongress in Wien, insistierten führende Fachvertreter: Dass die Otiatrie auf die Nase verzichten müsse. Es bildet vielmehr die Nase ein neutrales Gebiet, in welchem Laryngologie und Otiatrie zu arbeiten haben. Die Nase wird gleichzeitig von der ­Laryngologie und Otiatrie beansprucht.54

Die Otiatrie war primär in der Chirurgie angesiedelt, da operative Methoden als einzig erfolgversprechend galten, während die Laryngologie in den Medizinischen Kliniken (Innere Medizin) untergebracht war. Hier ging es vor allem um Krankheitsbilder wie Kehlkopftuberkulose oder Kehlkopflues.55 An vielen Universitäten im deutschsprachigen Raum wurden noch im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts Kehlkopferkrankungen und die des Ohrs von verschiedenen Fachvertretern behandelt. Insbesondere innerhalb der großen Universitäten stand man einem Zusammenschluss skeptisch gegenüber, da eine „Verwässerung der Wissenschaften“ befürchtet wurde.56 An kleineren Einrichtungen, wozu auch die Universität Rostock zählte, war dies, auch wegen der deutlich geringeren Anzahl an Professoren, weniger problematisch, da die Vertreter die einzelnen Disziplinen meist sowieso in Personalunion vertraten. Vorlesungen über Erkrankungen des Ohrs sind an der Universität Rostock erstmals im Wintersemester 1831 nachweisbar. Hier kündigte der praktische Arzt und Privatdo-

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zent, Carl Hanmann (1806 – 1846)57, an, „doctrinam de morbis aurium“ durchzuführen.58 Interessant ist, dass es sich hierbei  – wie so häufig bei den kleinen, nicht prüfungsrelevanten Fächern – nicht um ein einmaliges Angebot handelte, sondern eine gewisse Kontinuität bis einschließlich Wintersemester 1841 bestand, nun schon mit der positiven Konnotation der Ohrenheilkunde („iatreia“): „otiatriam ex schedis suis docebit“.59 Erst 1867/68 bot der Ophthalmologe, Karl Wilhelm von Zehender (1819 – 1916), wieder Vorlesungen in Otiatrie an.60 Die ersten Übungen zur (indirekten) Laryngoskopie wurden 1868 von dem Internisten und Pathologen Theodor Ackermann (1825 – 1896) durchgeführt.61 Im letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts stieg die Zahl der Spezialisten für Ohren- bzw. Kehlkopfheilkunde kontinuierlich an: 1878 lehrten an 14 von 20 Universitäten im Deutschen Reich acht außerordentliche Professoren und neun Privatdozenten entweder Otiatrie oder Laryngologie.62 Die Trennung der beiden Disziplinen überwand in Rostock der Internist und spätere außerplanmäßige Professor der Ohrenund Kehlkopfkrankheiten, Johann Christian Lemcke (1850 – 1894). Er richtete ab 1889 eine „Poliklinik für Kehlkopf- und Ohrenkranke mit besonderer Berücksichtigung der laryngologischen und otologischen Untersuchungsmethoden“ 63 ein. Sein früher Tod 1894 vereitelte mit hoher Wahrscheinlichkeit eine herausragende wissenschaftliche Karriere.64 Sein Nachfolger Otto Körner war von der Medizinischen Fakultät – entgegen der Satzung – als einziger Kandidat vorgeschlagen worden. So kam es, dass die vakante Stelle noch Ende Oktober 1894 wiederbesetzt werden konnte. Körner (Abb. 15 und 16) widmete sich intensiv Patienten innerhalb seiner klinischen Tätigkeit. Dazu durfte er die Räume der Medizinischen Poliklinik und die OP -Säle sowie die Betten der Chirurgischen Klinik nutzen. Körner gehörte zu den wenigen spezialisierten Ärzten, die Ohroperationen beherrschten.65 Der damit verbundene Patientenzuwachs führte zu einem hohen Bekanntheitsgrad, weit über Mecklenburg hinaus und bescherte ihm innerhalb eines Jahres (1895 bis 1896) Berufungen nach Breslau, Heidelberg und Leipzig. Körner lehnte ab. Stattdessen nutzte er sein Ansehen und die hohe Nachfrage nach seiner fachlichen und wissenschaftlichen Kompetenz,66 um beim Ministerium für Medizinal- und Unterrichtsangelegenheiten in Schwerin den Bau einer eigenständigen Klinik voranzutreiben. Und tatsächlich wurden 1897 die Mittel vom Landtag bewilligt, sodass 1899 die neue Klinik für Ohren- und Kehlkopfkrankheiten eingeweiht werden konnte (Abb. 17 und 18).67 Auf seinen Wunsch hin sollten „alle Ecken und Winkel dem vollen Tageslicht zugänglich“ 68 und spätere Erweiterungen ohne Betriebsstörung möglich sein.

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Abb. 15 und 16  Otto Körner bei der Untersuchung der Ohrtrompete mit Hilfe des „Tubenkatheters“ sowie Körner in Rektorenrobe im Jahr 1913/14.

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1901 wurde Körner zum ordentlichen Professor für Ohren- und Kehlkopfheilkunde ernannt. Die Universität Rostock verfügte somit über die erste eigenständige Klinik sowie das erste Ordinariat im Deutschen Reich in diesem Fachgebiet.69 Ärzte aus den skandinavischen und baltischen Ländern, aus Russland, Süd- und Mittelamerika sowie Japan hospitierten in Rostock.70 Bis 1920 konnten durch Erweiterungen 52 Betten geschaffen werden. Körners Klinik wurde sowohl national als auch international zum Muster für Klinikbauten auf diesem Fachgebiet. Der Prozess der Spezialisierung, Disziplinenbildung und Subdisziplinierung hatte da gerade einmal Fahrt aufgenommen. Viele Projekte waren angestoßen, konnten aber noch nicht verwirklicht werden. So gab es bereits seit 1881 Überlegungen durch den Hygieniker Julius Uffelmann (1837 – 1894) zur Errichtung einer eigenständigen Kinderklinik. Deren räumliche Verselbstständigung konnte erst 1918 in der Augustenstraße erfolgen, 20 Jahre später ein Neubau verwirklicht werden. Auch die Orthopädie stand mit dem 1899 gefassten Beschluss der Einrichtung einer „Krüppelanstalt“ in Rostock bereits in den Startlöchern. Die ein Jahr später eröffnete „Landeskrüppelanstalt Elisabeth Heim“ konnte erst 1946 als Orthopädische Klinik eingeweiht werden. Insgesamt sollten an der Medizinischen Fakultät Rostock im 20. Jahrhundert zahlreiche Ordinariate, Kliniken und Institute entstehen.

Abb. 17 und 18  Die Klinik für Ohrenund Kehlkopfkrankheiten zum Zeitpunkt ihrer Eröffnung 1899 sowie ein aktuelles Foto der heute nach ihrem Gründer benannten Klinik und Poliklinik für Hals­Nasen-­Ohrenheilkunde, Kopfund Halschirurgie „Otto Körner“ der Universitätsmedizin Rostock.

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Aubert 1878, S. 3. Vgl. auch die Beiträge von Imberh und Krause sowie Große in diesem Band sowie Straßenburg 2004, hier vor allem S. 272 – 280. 3 Vgl. Schumacher 1968, S. 7 – 9. Auch wenn Georg Detharding (1671 – 1747) 1724 eine kleine Anatomiekammer im Collegium Philosophicum eingerichtet hatte, die durch seinen Sohn Georg Christoph (1699 – 1784) sogar noch erweitert worden war, wurde sie in der Zeit der Spaltung der Universität zwischen 1760 und 1789 kaum mehr benutzt und verfiel. 4 Auch in Schwerin wurde eine solche im selben Jahr eingerichtet. Beide Schulen wurden auf Initiative des Großherzoges Friedrich Franz errichtet: „Deren unentgeldlicher Unterricht ist dem Sanitätsrath Hennemann zu Schwerin, und dem Professor Josephi zu Rostock aufgetragen, falls die Subjecte wegen Unvermögenheit nichts daran wenden können; und dieses soll sein Verbleiben bis dahin haben, daß wegen Anlegung einer Pflanzschule für Hebammen und Wundärzte in Mecklenburg etwas Vollständiges ausgeführet seyn wird.“ Zit. nach Masius 1811, S. 68. 5 Vgl. Eschenbach 1765. 6 Dornblüth 1840, S. 21. 7 Die Poliklinik Spittas befand sich in dem zwischen 1805 und 1846 interimistisch betriebenen Krankenhaus in der Nähe des Kuhtors, die von Quittenbaum bestand aus einigen Zimmern eines in der Kleinen Mönchenstraße gelegenen Wirts- und Bäckerhauses, zeitweise auch leerstehende Zimmer am Anatomischen Institut am Alten Markt. Die Medizinisch-­Chirurgische Klinik Strempels befand sich in der Pädagogienstraße. Vgl. Uffelmann 1889, S. 138. Lorenz hingegen erwähnt die Strempel’sche Klinik in der parallel verlaufenden Apostelstraße. Vgl. Lorenz 1919. 8 Strempel erhielt dabei die Unterstützung der Großherzoglichen Regierung. Ebd. 9 Vgl. Huerkamp 1985, S. 44 f. 10 Es wurden je zwei Studenten und acht Hebammenschülerinnen je vier

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Monate lang unterrichtet. Vgl. Brummerstaedt 1865. 11 Vgl. Imberh und Krause sowie Große in diesem Band. Da beide Beiträge auf die Gründung, den Bau und die Etablierung des Stadtkrankenhauses dezidiert eingehen, wird in dieser Arbeit nicht näher auf die für Rostock und seine Medizinische Fakultät so wichtige und notwendige Krankenanstalt eingegangen. 12 Stichweh 2013, S. 246. 13 Aubert 1878, S. 3 und 15. 14 Vgl. Teichmann 1992 sowie Zimmer 1998. 15 Vgl. Külz 1994, S. 182. 16 Zit. nach ebd., S. 183. 17 Vgl. den Beitrag von Kumbier und Karenberg in diesem Band. 18 Ab 1934 hatte Curschmann das ursprünglich von Max Matthes (1865 – 1930) herausgegebene Lehrbuch ab der 7. Auflage weitergeführt. 19 Vgl. Wissenschaftliche Zeitschrift 1974. 20 Brummerstaedt 1865, S. VI. 21 Vgl. Veit 1856 sowie Nolte 2002, S. 51. 22 Vgl. Kollhoff 1987, S. 34 f. 23 Carl Siegmund Franz Credé (1819 – 1892) führte als einer der ersten Ärzte die von Ignaz Semmelweis (1818 – 1865) propagierte Desinfektion der Hände mittels Chlorkalks zum Schutz vor Kindbettfieber ein. Die 1856 von ihm eingerichtete Frauenklinik an der Universität Leipzig galt als eine der modernsten. 24 Vgl. Klausch et al. 2013, S. 29 f. 25 Vgl. Ludwig 2006. 26 Ebd. 27 Schatz, zit. nach Kollhoff 1987, S. 44 f. Nachweislich hatte schon Johann Ernst Schaper (1668 – 1721) 1721 über Frauenkrankheiten an der Universität gelesen Vgl. Universität Rostock 1721 unter http://rosdok.uni-­rostock.de/ data/Preview-­PuV/PDF/1721_IL.pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 28 Alle Angaben bei Schatz 1889, S. 163 f. 29 Vgl. Kollhoff 1987, S. 67 – 71. 30 Vgl. Schatz 1872, 1873. 31 Vgl. Haack 2011, S. 94 – 101. 32 Mit dem angeblich von Otto von Bismarck stammenden Zitat „Wenn die Welt untergeht, so ziehe ich nach Mecklenburg, denn dort geschieht alles 50 Jahre später“ spielte dieser

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auf die Rückständigkeit des Landes im 19. Jahrhundert an, aber auch auf dessen Beständigkeit. Schließlich existiert der Landesteil Mecklenburg seit fast 1.000 Jahren in ähnlichen Grenzen. Und noch heute kokettiert der Mecklenburger gern mit seiner norddeutschen, langsamen, pragmatischen aber eben auch konstanten Identität. Vgl. AHR 1.1.3.16. – 133/2: Verwaltung des Zucht- und Werkhauses und der Irrenanstalt St. Katharinen 1843 – 1853. Vgl. Universität Rostock 1828 unter http://rosdok.uni-­rostock.de/data/ Preview-­PuV/PDF/1828_WS_IL.pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Für den deutschen Sprachraum ist der Halle’sche Pietismus hierbei von zentraler Bedeutung. In Reaktion auf die stark rationalistischen Strömungen der Zeit betonte man die subjektive innere Erfahrung, vermittelt durch ein tief empfundenes, inneres religiöses Bewusstsein. Das Gefühl als selbstständiger Bestandteil des geistigen Lebens wurde anerkannt. Vgl. Universität Rostock 1830 unter http://rosdok.uni-­rostock.de/data/ Preview-­PuV/PDF/1830_WS_IL.pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Bereits in seiner 1827 erschienen Dissertation beschäftigte sich Schröder mit psychiatrischen Themen. Vgl. Schröder 1827. Vgl. Universität Rostock 1835 unter http://rosdok.uni-­rostock.de/data/ Preview-­PuV/PDF/1835_WS_IL.pdf und Universität Rostock 1837 unter http://rosdok.uni-­rostock.de/data/ Preview-­PuV/PDF/1837_WS_IL.pdf (beide zuletzt aufgerufen am 13. 4. 2019). Vgl. Tott 1856, S. 266. Vgl. Universität Rostock 1868 unter http://rosdok.uni-­rostock.de/data/ Preview-­PuV/PDF/1868_SS_IL.pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). UAR: Bestand des Vizekanzleriats bzw. Kuratoriums der Universität Rostock 1789 – 1949, K5c, Nr. 314. So die Aussage des Staatsrates, Hermann von Buchka (1821 – 1896). Vgl. UAR: Bestand des Vizekanzleriats sowie Schuchardt 1898. Vgl. Miesch 1996, S. 17.

Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock

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44 Schuchardt 1898, S. 17. 45 Vgl. Miesch 1996, S. 17. 46 Max Köppen, seit 1894 außerordentlicher Professor an der Nervenklinik der Charité Berlin, litt wohl an einer spinalen Muskelatrophie, was seine Befähigung zur Leitung einer Psychiatrischen Anstalt in den Augen der Rostocker Verantwortlichen zumindest fraglich machte. Vgl. Max Köppen unter https://www.karger. com/Article/Pdf/190937 (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Robert Wollenberg wurde nach seiner Nichtberufung in Rostock zunächst Ordinarius in Tübingen, Straßburg, Marburg und schließlich Breslau. Vgl. Schäfer 2004. 47 Alle Angaben zu dem Berufungsverfahren vgl. UAR: Medizinische Fakultät, Akte Lehrstuhl für Psychiatrie. 48 Der „geste de Pinel“, der Mythos von der Befreiung der Geisteskranken von den Ketten, ist mittlerweile von der medizinhistorischen Forschung relativiert worden. Dennoch besteht kein Zweifel an der überragenden Bedeutung Philippe Pinels (1745 – 1826) für die Psychiatrie als medizinisches Fachgebiet. Vgl. Pichot 2002. 49 Vgl. Engstrom 2011. 50 Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Kumbier und Karenberg „Herausbildung der modernen Medizin – die schwierige Disziplingenese der Neurologie zwischen Innerer Medizin und Psychiatrie“ in diesem Band. 51 UAR: Kurator Poliklinik für Nervenund Gemütskranke, Vol. 2, 1922 – 45, K 056 – 0837, Bl. 222. 52 Miesch 1996, S. 22 – 24.

53 Insbesondere Professor Burkhard Kramp hat sich um die Anfänge der Otorhinolaryngologischen Fachklinik in Rostock verdient gemacht und zahlreiche wissenschaftshistorische Beiträge zum Thema geschrieben oder initiiert. An dieser Stelle sei nur auf eine Auswahl seiner Publikationen verwiesen: Kramp 1999/2001/2010 sowie Rektor der Universität 2001. Aus Anlass des 600-jährigen Jubiläums der Universität Rostock wird zudem eine Schrift mit dem Titel „120 Jahre HNO-Klinik Rostock – Einst und jetzt“ erscheinen. Vgl. Kramp/Mlynski 2019. 54 Grossmann 1909, S. 3. 55 Vgl. Vosteen 1996. 56 Vgl. Kindler 1956. 57 (Heinrich Friedrich) Carl Hanmann, Sohn des Chirurgen Christian Erdmann Hanmann, war von 1831 bis zu seinem Tod praktischer Arzt in Rostock, ab Ostern 1831 auch Privatdozent. Vgl. Blanck et al. 1929, S. 254 f. 58 Universität Rostock 1831 unter http:// rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­ PuV/PDF/1831_WS_IL.pdf und folgende Jahrgänge (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 59 Universität Rostock 1841 unter http:// rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­ PuV/PDF/1841_WS_IL.pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 60 Universität Rostock 1867 unter http:// rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­ PuV/PDF/1867_WS_IL.pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 61 Universität Rostock 1868 unter http:// rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­

PuV/PDF/1868_SS_IL.pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). 62 Körner 1900, S. 8. 63 Universität Rostock 1891 unter http://rosdok.uni-­rostock.de/data/ Preview-­PuV/PDF/1891_SS_VV.pdf (letzter Aufruf am 13. 4. 2019). Die von Fleischer und Naumann erwähnte 1881 gegründete Poliklinik für Ohrenkranke unter der Leitung von Adolf Barth (1852 – 1936) lässt sich anhand der Institutsverzeichnisse nicht nachweisen. Vgl. Deutsche Gesellschaft 1996, S. 263. 64 Zu Lemcke vgl. Neuman 2001. 65 Vgl. Vgl. Kramp/Mlynski 2019. 66 Neben den praktischen Fähigkeiten war Körner auch wissenschaftlich und in der Lehre überaus aktiv. Sein 1906 erstmals erschienenes Lehrbuch zur Ohrenheilkunde und ihrer Grenzgebiete wurde bis 1969 immer wieder aktualisiert herausgegeben. Körner war zudem ein sozial handelnder Mensch. Dies zeigt sich u. a. in dem Umstand, dass er Rechnungen für seine medizinischen Leistungen den finanziellen Möglichkeiten seiner Patienten anpasste. Vgl. ebd. 67 Vgl. UAR: Lehrstuhl für Ohren- und Kehlkopfheilkunde – Berufungen, Nr. 0254, 1901 und 1928. 68 Körner 1900, S. 21. 69 Solche Fachkliniken gab es mit dem Central Throat and Ear Hospital seit 1874 in London. 1896 war in Moskau an der Kaiserlichen Universität die Klinik für Hals-­Nasen-­Ohrenkranke eröffnet worden. Vgl. Kramp/Mlynski 2019. 70 Ebd.

Literaturverzeichnis Quellen

Literatur

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„Einen Lehrauftrag für ­Neurologie hat Herr C. ja nicht“ 1 Die schwierige Disziplingenese der Neurologie zwischen Innerer Medizin und Psychiatrie Ekkehardt Kumbier und Axel Karenberg

Kurz, unmissverständlich und ein wenig bissig (Abb. 1). Nicht anders ist diese Zurechtweisung des Internisten Hans Curschmann (1875 – 1950) durch den Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie an der Universität Rostock, Karl Kleist (1879 – 1960), zu verstehen. Und natürlich war dieser Satz aus dem Jahr 1917 auch als Mahnung vor Grenz- und Kompetenzüberschreitungen gegenüber den Kollegen aus der Inneren Medizin gemeint; ein Satz, wie er an nicht wenigen universitären Einrichtungen im Deutschen Reich und auch darüber hinaus spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert hätte geschrieben oder ausgesprochen werden können. Hintergrund war der Streit um die Verortung einer sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend verselbstständigenden medizinischen Fachrichtung, der Neurologie, angesiedelt zwischen Internistik und Psychiatrie. Ihre Entfaltung auf deutschem Boden hat Pantel in einer grundsätzlichen Studie als einen „fast 100 Jahre dauernden Streit zwischen Internisten, Psychiatern und Neurologen“ bezeichnet.2 So zutreffend diese Charakterisierung bis heute erscheint, so bleibt doch unberücksichtigt, dass die Auffächerung der gesamten Heilkunde in einzelne Fachbereiche wesentlich früher begann, weit über Deutschland hinausreichte, von Ort zu Ort starke Differenzen aufwies und von unterschiedlichen Akteuren auf diversen institutionellen Ebenen ausgehandelt wurde. Daher nähert sich der vorliegende Beitrag dem Phänomen der Ausdifferenzierung in drei Schritten: Zunächst umreißt er, wie die wissenschaftshistorische Forschung heute die zentralen Begriffe „Spezialisierung“, „Professionalisierung“ und „Fachkultur“ als Erklärungsmuster nutzt. Es folgt eine auf den Zeitabschnitt von 1860 bis 1920 fokussierte Übersicht, wie sich die Neurologie in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern entwickeln konnte bzw. was ihre Entfaltung behinderte. Vor diesem Hintergrund soll abschließend ausführlicher gezeigt werden, welche besondere Rolle der Neurologie im Kontext der Rostocker Universität im genannten Zeitraum zukam.

Spezialisierung, Professionalisierung, Fachkultur Die erfolgreiche Spezialisierung als fundamentales Kriterium moderner Medizin beginnt im ausgehenden 18. Jahrhundert und ist durch mindestens fünf wesentliche Merkmale gekennzeichnet: eine gemeinsam erworbene und von allen Beteiligten geteilte heilkund-

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Abb. 1  Beschwerdeschreiben von Karl Kleist vom 21. Oktober 1917 an den Dekan der Medizinischen Fakultät.

liche Wissensbasis, die der Spezialisierung vorangeht; die Einordnung eines neuen kognitiven Feldes und der damit verbundenen praktischen Betätigungen auf die gleiche hierarchische Stufe wie bereits etablierte Wissens- und Tätigkeitsbereiche – oder anders ausgedrückt: die Gleichwertigkeit eines neuen Bereiches der Berufsausübung und keinesfalls seine Klassifizierung „unterhalb“ bestehender Wissenssektoren; die Möglichkeit zu einer weiteren Subspezialisierung und damit einem weiteren Ausbau des Feldes; die freie Wahl, sich nach eigener Neigung und eigenen Fähigkeiten auf das ursprüngliche Gesamtfach oder die neue Spezialität zu konzentrieren; schließlich die Möglichkeit für Spezialisten, neben ihrem Expertentum unter Rückgriff auf das oben genannte theoretische Wissensfundament auch andere Kenntnisbereiche zu vertiefen bzw. sich andere Aktivitätsbereiche zu suchen.3 Gerade wegen ihrer immensen historischen Dynamik blieb die „Specialistenfrage“ allerdings zu allen Zeiten und in allen Bereichen der Medizin eine viel diskutierte. In den Jahrzehnten um 1900 ging es bei der Debatte vorrangig um praktische Probleme wie Statusfragen, ökonomische Anreize und Vorteile auf dem medizinischen Markt. Ebenso ging es um grundsätzliche Herausforderungen wie die Bewahrung einer

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allgemeinen Einsatzfähigkeit von Ärzten angesichts einer befürchteten Fragmentierung der medizinischen Versorgung. Eng verwoben mit der Spezialisierungstheorie ist das Konzept der Professionalisierung. Hierunter versteht man die Entwicklung einer Berufsgruppe, die durch ein mehr oder weniger homogenes Aufgabenfeld ausgewiesen ist, zu einer „Profession“ – d. h. zu einer Expertengruppe, die durch ein bestimmtes Maß an Autarkie in der Definition ihrer Arbeit und deren Standards charakterisiert ist. Dazu wiederum gehören die Bestimmung der Ausbildungsinhalte sowie die Macht, den Zugang zu einem relativ geschlossenen ökonomischen Markt zu kontrollieren.4 Hinsichtlich des Grades an Autonomie, den einzelne medizinische Fächer im Zuge ihrer Spezialisierung und Professionalisierung zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht haben, lassen sich spezifische Indikatoren angeben: etwa die Gründung eigenständiger Fachgesellschaften und Publikationsorgane (wie Lehrbücher und Zeitschriften); die Vertretung als Fachabteilungen an städtischen Krankenhäusern oder Universitätskliniken; und die Durchsetzung unabhängiger Ordinariate.5 Solche „Meilensteine der Unabhängigkeit“ 6 helfen einerseits beim Vergleich einzelner medizinischer Fächer miteinander. Gleichzeitig ermöglichen sie es, divergierende Disziplingenesen im internationalen Vergleich darzustellen.7 Während Spezialisierung und Professionalisierung die äußeren Strukturen bei der Entstehung einer Fachdisziplin beschreiben, zielt die Frage nach der Fachkultur auf die Entwicklung einer spezifischen, in der subjektiven Wahrnehmung und im Selbstverständnis von Ärzten verorteten Berufsidentität. Wie Studien zur Historiogenese der Urologie gezeigt haben, kann die Selbstwahrnehmung als Experten sich z. B. in berufspolitischen und berufsethischen Stellungnahmen ausdrücken, die sowohl für eine positionssichernde Profilbildung nach außen als auch für eine Identitätsversicherung nach innen nützlich sind.8 Auch in der Genese der Neurologie spielt die Suche nach der eigenen professionellen Identität früh eine wichtige Rolle: So lassen sich während ihres Entstehungszeitraumes zuerst Internisten und Psychiater mit neurologischen Partialidentitäten finden. Auf der nächsten historischen Stufe folgen Internisten-­Neurologen bzw. Psychiater und Neurologen mit etwa gleichrangig zwischen Mutter- und Tochterfach verteilten Interessen. Erst gegen Ende der Verselbstständigung treten in größerer Zahl „reine Neurologen“ auf, die durchaus in Abgrenzung zur Internistik und zur Psychiatrie eine spezifisch neurologische Fachkultur vertreten. Zu dieser gehören spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine ausgefeilte Untersuchungstechnik, ein topisch-­diagnostischer Denkstil, eine wachsende Zahl technischer Zusatzverfahren, aber zunächst und für längere Zeit auch eine starke Limitierung therapeutischer Optionen.9

Initialphase: Bindung der Neurologie an die Innere Medizin In seiner Antrittsrede anlässlich der Berufung zum Direktor der Medizinischen Poliklinik in Leipzig im Jahre 1880 forderte Wilhelm Erb (1840 – 1921), später einer der wichtigsten Befürworter einer unabhängigen Neurologie, „dass die eigentliche wissenschaftliche und möglichst fruchtbringende Bearbeitung der Nervenpathologie [d. h. Neurologie; d. V.] heutzutage nur noch eine specialistische sein kann“. Unmittelbar darauf fügt er hinzu: „Es unterliegt für mich keinem Zweifel, dass die Aufgabe, den angehenden Arzt mit der Pathologie und Therapie des Nervensystems bekannt zu machen, zunächst und in erster Linie der medicinischen Klinik zufällt“.10 Allerdings imponieren diese programmatischen Sätze im Rückblick keineswegs als Initialzündung der Entwicklung hin zu einer selbstständigen Disziplin „Neurologie“. Deren

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historischen Anfang markiert vielmehr das „Lehrbuch der Krankheiten des Nervensystems“, bereits 1840 bis 1846 publiziert von Moritz Heinrich Romberg (1795 – 1873). Diesem Berliner Professor für spezielle Pathologie und Therapie – wiederum einem Internisten also – gelang der erste echte Spezialisierungsschritt: Er fasste alle damals bekannten Störbilder des Nervensystems mit wissenschaftlicher Exaktheit zwischen zwei Buchdeckeln zusammen, konstruierte so einen spezifischen Wissensraum und steckte ein neues Feld ärztlicher Bemühungen ab. Die allgemein akzeptierte Einschätzung „Modern neurology begins with Romberg“ 11 würdigt diese Leistung in angemessener Weise. Obwohl der Berliner Internist keine „Schule“ gründete und somit keine direkten „Schüler“ ausbildete, legt sein literarisches und praktisches Lebenswerk den Beginn der Herausbildung der Neurologie in Deutschland fest. Ab etwa 1860 kam es zu einem zunehmenden Einfluss naturwissenschaftlicher Konzepte und Methoden, gleichsam zu einer „positivistischen Wende“: Anatomie, Pathologie, Physiologie und Chemie von Gehirn, Rückenmark und peripheren Nerven reiften zu je eigenen Wissensgebieten und wuchsen zu einem relativ geschlossenen System der Hirnforschung zusammen.12 Gleichzeitig übertrugen vorrangig neurologisch forschende Internisten die klinisch-­anatomische Methode, die bereits über ein halbes Jahrhundert lang erfolgreich bei Erkrankungen des Herzens und der Lunge erprobt worden war, auf das Nervensystem: Nicolas Friedreich (1825 – 1882) in Heidelberg, Ernst von Leyden (1832 – 1910) in Berlin, Heinrich Irenaeus Quincke (1842 – 1922) in Kiel, Heinrich Curschmann (1846 – 1910) und Adolf Strümpell (1853 – 1925) in Leipzig, Ludwig Lichtheim (1845 – 1928) in Königsberg, Friedrich Schultze (1848 – 1934) in Bonn – sie alle verbanden erstmals die am Patientenbett erhobenen Untersuchungsbefunde mit den am Sektionstisch oder unter dem Mikroskop ermittelten strukturellen Läsionen. Das neue klinische Arbeitsfeld blieb somit an sein internistisches Mutterfach gebunden. Über zahlreiche wissenschaftliche Ergebnisse hinaus bestand der wesentliche Beitrag dieser informellen Gemeinschaft zur Disziplingenese des Faches Neurologie in der Begründung der „Zeitschrift für Nervenheilkunde“ im Jahr 1891. Auch deshalb stilisierte Wilhelm Erb im Vorfeld der Gründung die Internistik als eigentliche Heimat des neuen Betätigungsfeldes: „Unter den zahlreichen Disziplinen, die sich vom gemeinsamen Stamm der Inneren Medizin als selbständige Spezialzweige abgetrennt haben, ist die Neurologie wohl die bedeutendste“. Sie dürfe „ihren eigentlichen Ursprungsort, die Innere Medizin“ 13, nicht verleugnen.

Konfrontationsphase: Abgrenzung der Neurologie von der Psychiatrie Doch befanden sich die Internisten-­Neurologen von Anfang an in einer Frontstellung gegen ein anderes mächtiges medizinisches Fach, das vehement Anspruch auf die Eingliederung der „Nervenpathologie“ in den eigenen Bereich erhob: die Psychiatrie. Wilhelm Griesinger (1817 – 1868), hinsichtlich seiner Herkunft eigentlich ein Internist, wurde 1865 Professor für Psychiatrie an der Berliner Charité. Dort gründete er innerhalb der Psychiatrischen Klinik eine „Nervenabteilung“ und vertrat das „unitarische Konzept“ einer Psychiatrie und Neurologie umfassenden Nervenheilkunde, „wo Alles eine Sprache spricht und von denselben Gesetzen regiert wird“.14 Solche Forderungen erfuhren in der Folgezeit auf drei verschiedenen Ebenen Unterstützung. Zum einen bestätigte die Forschungspraxis den Einheitsgedanken: Die Entdeckung des sensorischen Sprachzentrums und die histologische Differenzierung dementieller Syndrome durch die Psychiater Carl Wernicke

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(1848 – 1905) und Alois Alzheimer (1864 – 1915) ließen separate Forschungsressourcen für ein Spezialfach Neurologie überflüssig erscheinen. Zum zweiten sprach die Versorgungssituation eindeutig gegen die Notwendigkeit eines neuen Betätigungsfeldes. Die alten „Irrenkliniken“ waren seit der Mitte des 19. Jahrhunderts langsam, aber stetig zum neuen Typus der „Psychiatrischen und Nervenklinik“ mutiert;15 diese Institutionen versorgten – zumindest auf Hochschulebene – eine weitaus größere Zahl neurologischer Patienten als die wenigen Ambulatorien, Stationen und Abteilungen unter dem Dach internistischer Kliniken. Zum dritten zerschlugen sich die schüchternen Verselbstständigungstendenzen vollends, als die preußische Hochschulpolitik in Person des mächtigen Ministerialdirigenten Friedrich Althoff (1839 – 1908) Position bezog. Anstatt die seit Griesinger mit der Psychiatrie vereinigte „Nervenklinik“ an die Internisten zurückzugeben, wie die Berliner Medizinische Fakultät dies vorschlug, folgte Althoff 1890 einem Gutachten des bekannten Halle’schen Ordinarius und bekennenden Unitariers Eduard Hitzig (1838 – 1907), setzte die institutionelle Verbindung von Neurologie und Psychiatrie durch und meißelte somit die Unterordnung der Ersteren unter die Letztere quasi in Stein.16 Dieses auch kostengünstige preußische Modell markiert aus Sicht der Neurologie bis heute das Scheitern eines wichtigen Spezialisierungsschritts – ein Scheitern, das weit über Berlin hinaus für viele Orte in Deutschland bis weit ins 20. Jahrhundert von eminenter Bedeutung blieb. Um auch gegen den Widerstand der Psychiatrie und der Politik zumindest ein Minimum an disziplinärer Autonomie zu erreichen, nutzten neurologisch interessierte Ärzte um 1900 mehrere Strategien. Eine bestand in der Gründung zahlreicher Nerven-­Polikliniken, von denen allein in Berlin um 1900 mindestens fünf existierten.17 Wenn schon keine Lehrstühle und Kliniken für Neurologie in den Zentren der deutschen Medizin durchsetzbar waren, dann sollte Nervenkranken zumindest in außeruniversitären Institutionen ein Angebot zur Verfügung stehen. So traten allmählich neben die an Hochschulen angesiedelten Parteien der Neuro-­Internisten und der Neuro-­Psychiater als dritte Gruppe die in Praxis, Poliklinik oder gelegentlich als Oberärzte tätigen „reinen Neurologen“, die kaum mehr berufspolitische Interessen mit den anderen beiden Parteien teilten. In der historischen Rückschau ergibt sich somit ein in der deutschen Medizingeschichte seltenes Nebeneinander von ausgeprägter Fachkultur bei fehlender Spezialisierung im Bereich der Institutionen und ebenso schwach ausgeprägter Professionalisierung. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass es auch ein Kreis sich langsam etablierender „reiner Neurologen“ war, der die Disziplinbildung zumindest ein Stück weit voranbrachte – nämlich durch die Gründung einer Fachgesellschaft. Hermann Oppenheim (1857 – 1919) aus Berlin als treibende Kraft, Ludwig Bruns (1858 – 1916) aus Hannover, Alfred Sänger (1860 – 1921) aus Hamburg, Ludwig Edinger (1855 – 1918) aus Frankfurt am Main, Paul Julius Möbius (1853 – 1907) aus Leipzig, Lothar von Frankl-­Hochwart (1862 – 1914) aus Wien und Constantin von Monakow (1853 – 1930) aus Zürich verfassten 1906 einen Aufruf, der mit folgenden Worten begann: „Die Unterzeichneten glauben, dass es zweckmäßig wäre, eine Gesellschaft deutscher Nervenärzte (i. e. Neurologen) zu schaffen. Noch fehlt der Neurologie die Anerkennung der Selbständigkeit an Universitäten und Krankenhäusern, noch fehlt es auch an einem Zusammenschluss der deutschen Neurologen zu einheitlicher Vertretung nach aussen […] Nach Berathung im engeren Kreise haben sie sich entschlossen, die Anregung zur Gründung einer solchen Gesellschaft öffentlich zu geben“.18 Der Initiative war Erfolg beschieden. Ein Jahr später trat in Dresden die erste Jahresversammlung mit 139 Teilnehmern zusammen, ein weiteres Jahr später betrug die Mitgliederzahl 309; ihre Zahl stieg bis zum 25-jährigen Jubiläum 1932 auf 720 an. Die „Gesellschaft deutscher Nervenärzte“ war zur Speerspitze der Autonomie geworden.19

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Rundblick: Zur Entstehung der Neurologie in anderen Wissenschaftsnationen Ein Jahr nach der Gründung der Fachgesellschaft rechtfertigte deren Erster Vorsitzender, Wilhelm Erb, nochmals ihre Existenz und rückte sie gleichberechtigt neben die Vertretungen der beiden Mutterfächer der Neurologie: „Nun, ebenso wie die innere Medizin schon seit Jahrzehnten in ihrem großen Kongreß die Ärzte von ganz Deutschland um ihre Fahne schart, wie die Psychiatrie sich seit langem in dem ‚Deutschen Verein für Psychiatrie‘ einen großen Sammelpunkt geschaffen hat, soll jetzt neben diesen auch eine ganz Deutschland umfassende ‚Gesellschaft deutscher Nervenärzte‘ bestehen und wirken.“ Und er fuhr fort: „Sie hat ja in gewissem Sinne, wenn auch in anderer Organisation, Analoga und Vorbilder in den großen neurologischen Gesellschaften in New York, London und Paris“.20 Dieser von Erb angeführte Vergleich führt notwendigerweise zur Frage, ob die Herausbildung der Neurologie als selbstständiges Fach denn jenseits der deutschen Grenzen tatsächlich früher gelungen ist. Ein Blick auf die „Meilensteine der Unabhängigkeit“ zeigt, dass es beispielsweise in Großbritannien recht früh zur Trennung der Neurologie von der Psychiatrie kam. Im Jahr 1860 entstand in London mit dem überwiegend aus Stiftungsmitteln finanzierten „National Hospital for the Paralysed and Epileptic“ eine gesonderte Behandlungsstätte, was entscheidend zur Etablierung des Spezialfachs beitrug. In den Vereinigten Staaten ließ der Arzt und Gesundheitsminister William Alexander Hammond (1828 – 1900) 1863 während des „Civil War“ das „US Army Hospital for Diseases of the Nervous System“ errichten, das ebenfalls einen wichtigen Kristallisationspunkt darstellte. Und in Paris installierte Jean-­Martin Charcot (1825 – 1893) seit den 1860er-­Jahren eine Neurologische Klinik mit Pathologielabor, Fotowerkstatt und psychologischem Untersuchungszimmer im „Hôpital de la Salpêtrière“. Der für ihn 1882 eingerichtete rein neurologische Lehrstuhl avancierte zum Zentrum der französischen Schule. Dagegen verwirklichte auf deutschem Boden Max Nonne (1861 – 1959) erst 1896 eine formal selbstständige Abteilung im Krankenhaus Hamburg-­Eppendorf, die später als Klinikum mit seit 1925 bestehendem persönlichem Ordinariat firmierte.21 Etwas günstiger stellte sich die Situation bei den Periodika dar. Der 1891 gegründeten „Deutschen Zeitschrift für Neurologie“ war lediglich „Brain – A Journal of Neurology“ um 13 Jahre vorausgegangen. Erst 1893 erschien die erste Ausgabe der „Revue neurologique“. Hinsichtlich der Fachgesellschaften bildete Deutschland wiederum das Schlusslicht, denn solche existierten in den USA seit 1875, in Großbritannien seit 1886 und in Frankreich seit 1899. In der Tat hatte, wie Erb anmerkte, die deutsche Neurologie hier „Nachholbedarf “. Insgesamt ist als Fazit festzuhalten: Bei wichtigen Indikatoren der Disziplingenese hinkte die deutsche Entwicklung um etwa eine Generation hinterher, oder anders formuliert: Im internationalen Vergleich stellt sich die deutsche Neurologie um 1920 als ein „verspätetes Fach“ dar. Die Retardierung betraf – um es nochmals zu betonen – keineswegs das wissenschaftliche Standing oder die Fachkultur. Sie betraf nahezu ausschließlich – dies allerdings auf breiter Front – Tempo und Ausmaß der Spezialisierung und Professionalisierung.

Extraordinariat an der Universität Rostock: Das Ringen um die Neurologie Im Folgenden wird die schwierige Disziplingenese exemplarisch verdeutlicht, nämlich wie die Neurologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der lokalen Ebene von ihren Mutter-

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disziplinen beansprucht und in der „Konfrontationsphase“ von der Psychiatrie abgegrenzt und an die Innere Medizin gebunden werden sollte. In diesem Kontext ist das Bemühen der Medizinischen Klinik an der Universität Rostock zu verstehen, ein Extraordinariat „für innere Medizin und Neurologie unter Betonung des letzteren Faches“ zu beantragen.22 Im Jahre 1913 in Rostock einen solchen Schritt zu gehen, schien aus Sicht der Inneren Medizin vielversprechend. Den Widerstand der Psychiatrie musste man nach dem Tod des bisherigen Direktors der Heil- und Pflegeanstalt Rostock-­Gehlsheim, Fedor Schuchardt (1848 – 1913), nicht fürchten. Unmittelbar nach dessen Tod am 7. November 1913 beantragte noch im gleichen Monat der Direktor der Medizinischen Klinik, Friedrich Martius (1850 – 1913), beim Dekan der Medizinischen Fakultät die Einrichtung eines Extraordinariats in Verbindung mit einer Neurologischen Poliklinik (Abb. 2). Begründet wird dieser Schritt damit, dass Die Neurologie […] eine Sonderstellung insofern [einnehme], als sie von den einen als zur Psychiatrie gehörig, von den anderen als ein Teilgebiet der inneren Medizin angesehen wird, während eine dritte Richtung dahin geht, in ihr ein selbständiges Fach, wie etwa Pädiatrie oder Dermatologie zu sehen. Die Fakultät verkennt nicht den berechtigten Kern, der in allen drei Anschauungen steckt. Sie ist der Meinung, daß es sowohl dem inneren Kliniker wie dem Psychiater unbenommen bleiben muß, Fälle aus dem Grenzgebiet seiner Disziplin mit der Neurologie in seinem Unterricht einzubeziehen […] Daneben drängt jedoch die immer mehr spezialisierende Entwicklung der Medizin dahin, einen besonderen neurologischen Fachvertreter zu ernennen […] Da nun ein Ordinariat für Neurologie wenigstens für unsere Verhältnisse nicht in Frage kommen kann, uns auch keineswegs wünschenswert erscheint, so fragt es sich, ob ein zu erstrebendes Extraordinariat zweckmäßig mit der Psychiatrie oder mit der inneren Medizin in organische Verbindung zu setzen ist. Die bestehende „Poliklinik für Nerven- und Gemütskranke in der Universität“ ist ursprünglich als psychiatrische PoliKlinik [sic] gedacht und der Name nur gewählt, um das hilfesuchende Publikum durch die Bezeichnung „Poliklinik für Geisteskranke“ nicht abzuschrecken, dementsprechend läßt sich sagen, daß eine den modernen Anforderungen der Wissenschaft entsprechende neurologische Poliklinik hier nicht besteht. Für den neurologischen Unterricht ist sie jedenfalls völlig unfruchtbar geblieben. […] Die medizinische Fakultät ist der Ansicht, daß eine neu zu errichtende spezifisch neurologische Poliklinik der medizinischen Klinik anzugliedern sei, wie ja auch Dermatologie und Pädiatrie aus der inneren Medizin hervorgegangen sind. Es würde zweckmäßig erscheinen, einen neuzuberufenden Extraordinarius für Neurologie analog dem noch bestehenden Verhältnis des Pädiaters zur inneren Klinik zwar mit der Abhaltung der Poliklinik und spezieller Lehrkurse zu betrauen, ihn jedoch in verwaltungstechnischer Beziehung dem Direktor der medizinischen Klinik zu unterstellen […] Schließlich sei noch bemerkt, daß zurzeit auf Veranlassung des Direktors der medizinischen Klinik der Privatdozent für innere Medizin und Oberarzt der Klinik Dr. Queckenstedt einen speziell neurologischen Kursus für Studierende abhält.23

Bereits wenige Tage später griff der Dekan Wilhelm Müller (1855 – 1937) in einem Schreiben vom 28. November 1913 an die Abteilung für Unterrichtsangelegenheiten des Grossherzoglichen Ministeriums in Schwerin diese Argumente auf und beantragte die Schaffung eines Extraordinariats für Neurologie und Innere Medizin. In der Begründung heißt es, dass nach dem Tod des bisherigen Lehrstuhlinhabers für Psychiatrie der Lehrstuhl neu besetzt werden muss, und die Aufgaben des neuen Lehrstuhlinhabers im Wesentlichen auf dem Gebiet der Psychiatrie, der forensischen Psychiatrie, der Anstaltsverwaltung und dem klinischen Unterricht liegen werden. Daher wird eingeschätzt, dass […] diese Aufgaben bereits hohe Anforderungen an Zeit und Arbeitskraft eines Mannes stellen … Die moderne Neurologie, welche ja vielfach ein Grenzgebiet zwischen Psychiatrie und innerer Medizin darstellt, hat sich in den letzten 15 – 20 Jahren in einer Weise vervollkommnet, die dabei erforderlichen Untersuchungsmethoden haben sich zum Teil so kompliziert und zeitraubend gestaltet, dass ein besonderer Unterricht in diesem schwierigen Fach durch einen Fachmann zu den Bedürfnissen des modernen medizinischen Unterrichts gehört. Zwar muss ja auch der Psy-

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Abb. 2  Schreiben von Friedrich Martius vom 7. November 1913 an den Dekan der Medizinischen Fakultät.

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chiater – und es gibt deren manche, welche auch die Neurologie im heutigen Sinne mit beherrschen – sich tagtäglich mit der Behandlung von „nervösen Leiden“ befassen, er muss diese in den Bereich seiner Erörterungen im Unterricht ebenso oft ziehen wie der innere Mediziner. Die Fakultät muss es aber als eine sehr erstrebenswerte Verbesserung des medizinischen Unterrichts an der Rostocker Universität erachten, wenn auch die spezielle Neurologie, die an grösseren Universitäten durch besondere Fachmänner (Neurologen) vertreten ist, zu ihrem Recht käme … Die medizinische Fakultät glaubt dagegen einstimmig, dass den Lehraufgaben im vorher bezeichneten Sinne einigermassen genügt werden könnte durch Schaffung eines Extraordinariats und Berufung eines Dozenten, der die Grenzgebiete innerer Medizin und Neurologie, aber den Schwerpunkt auf die letztere Disziplin zu legen hätte […] Aus den angeführten Gründen hält die medizinische Fakultät den Zeitpunkt für gekommen und geeignet, die Lösung der Frage eines sachgemässen neurologischen Unterrichts näher zu treten. Sie schlägt deshalb antragsweise vor, baldigst ein Extraordinariat für innere Medizin und Neurologie unter Betonung des letzteren Faches zu errichten und dem Vertreter die Möglichkeit eines sachgemässen Unterrichts dadurch zu verschaffen, dass ihm die Abhaltung einer Ambulanz (Poliklinik) übertragen wird.24

Hier tritt das Problem der Verortung der Neurologie in Lehre und Klinik zwischen der Inneren Medizin und der Psychiatrie ganz offen zu Tage. Zur Schaffung eines solchen Extraordinariats kam es in den folgenden zwei Jahren jedoch nicht. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird dabei eine Rolle gespielt haben, befanden sich doch viele Akteure wie auch der namentlich genannte Oberarzt und Leiter der Poliklinik, Hans Queckenstedt, von Beginn an im Felde. Erst nachdem der neue Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Nachfolger Schuchardts, Oswald Bumke 25 (1877 – 1950), zum Ende des Jahres 1915 der Fakultät mitteilte, Rostock wieder zu verlassen, um einen Ruf nach Breslau anzunehmen,26 stellte die Medizinische Fakultät am 11. Januar 1916 erneut einen Antrag an das Großherzogliche Ministerium, wenngleich mit einer Änderung: Anfang Dezember 1913 hat die medizinische Fakultät anläßlich der Berufung des Nachfolgers des verstorbenen Geh. Medizinalrat Professor Dr. Schuchardt den Antrag gestellt, baldigst ein Extraordinariat für ‚innere Medizin und Neurologie unter Betonung des letzteren Faches’ zu errichten. Nach eingehender Beratung sieht sich die medizinische Fakultät einstimmig verpflichtet, diesen Antrag gehorsamst zu wiederholen, nur mit dem Unterschied, daß sie jetzt das Schwergewicht auf die innere Medizin glaubt legen zu müssen. Der alte, früher sehr lebhafte Streit, ob die Neurologie der inneren Medizin oder der Psychiatrie anzugliedern sei, hat jetzt wesentlich an Schärfe verloren und nur mehr historisches Interesse. Der neue Fachvertreter der Psychiatrie, der zur Zeit des vorigen Antrages noch nicht berufen war, steht ebenso, wie der Direktor der medizinischen Klinik und Poliklinik auf dem Standpunkte, daß die Neurologie ein Grenzgebiet darstellt, an dem beide Fächer, innere Medizin und Psychiatrie, in gleichem Maße beteiligt sind. Es erscheint für den Unterricht durchaus vorteilhaft, daß die Vertreter beider Disziplinen die Neurologie, jeder von seinem Standpunkt aus, behandeln und je nach Neigung und Vorbildung zum Gegenstand spezialisierter Forschung machen. Von diesem Standpunkt aus erscheint es wünschenswert, daß dem Fachvertreter der Psychiatrie zu seinem Lehrauftrag nachträglich das Recht zur Behandlung neurologischer Fragen erteilt wird, während es selbstverständlich ist, daß der innere Kliniker neurologische Fragen nicht vernachlässigt … Das bereits 1913 beantragte Extraordinariat würde daher das Schwergewicht auf die innere Medizin zu legen und die Neurologie nur so weit zu berücksichtigen haben, als das Krankenmaterial und der Unterrichtszweck es erfordern.27

Ihr Bemühen, die Neurologie innerhalb der Inneren Medizin zu verankern, nimmt die Medizinische Fakultät in diesem Antrag zumindest teilweise wieder zurück. Und das, obwohl Internisten wie Hans Queckenstedt (1876 – 1918) und Hans Curschmann weiterhin neurologische Themen in der Wissenschaft und im studentischen Unterricht vertraten. Nicht zuletzt untersuchten und behandelten sie Patienten mit neurologischen Erkrankungen. Zu vermuten ist, dass die geplante Neuberufung des Lehrstuhlinhabers für Psychiatrie

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und die damit in Zusammenhang stehenden Verhandlungen eine Rolle gespielt haben. Der neue Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie, Karl Kleist, zum 1. Oktober 1916 berufen, verstand sich als Neuro-­Psychiater, der die Neurologie auch in der Lehre vertreten wollte. Das machte er, wie oben dargestellt, auch seinen internistischen Kollegen gegenüber unmissverständlich deutlich. In einem vorausgegangenen Schreiben vom 9. Mai 1916 des Vizekanzellariats der Universität Rostock an den Dekan der Medizinischen Fakultät, Otto Körner (1858 – 1935), wird Folgendes konstatiert: Während die Fakultät in ihrem Vortrag vom Dezember 1913 ein Extraordinariat „für innere Medizin und unter Betonung des letzteren Faches“ erbeten hatte, soll nach dem Bericht vom 11. Januar d. Js. das Schwergewicht auf die innere Medizin gelegt werden. Demgemäß schlägt die Fakultät als Lehrauftrag für den Extraordinarius „medizinische Poliklinik und klinische Propädeutik“ vor und erbittet für den neuen Ordinarius der Psychiatrie die ausdrückliche Erstreckung des Lehrauftrags auf Neurologie.28

Daraufhin betonte schließlich auch der Dekan der Medizinischen Fakultät im Juni desselben Jahres, dass „die Neurologie anerkanntes Grenzgebiet zwischen Psychiatrie und Innerer Medizin“ sei und deshalb „von den Vertretern beider Fächer nicht nur gepflegt werden kann, sondern auch gepflegt werden muß.“ 29

Die Neuro-­Internisten in Rostock Abb. 3  Hans Queckenstedt

Damit befand sich die Neurologie in Rostock weiterhin zwischen zwei Stühlen, ohne eigenständig werden zu können. Wie eingangs beschrieben, finden sich zu diesem Zeitpunkt in der Entwicklung der Neurologie hin zu einem eigenständigen Fachgebiet die Internisten-­Neurologen bzw. Psychiater und Neurologen mit etwa gleichrangig zwischen Mutter- und Tochterfach verteilten Interessen. Zu diesen können in Rostock zu Beginn des 20. Jahrhunderts Hans Queckenstedt und Hans Curschmann gezählt werden, die als Internisten-­Neurologen im genannten Sinn durch ihre klinische und wissenschaftliche Ausrichtung, aber auch durch die Entwicklung neuer Untersuchungstechniken oder wegweisende Publikationen wichtige Wegmarken hinterließen. Beide wurden stark von den Internisten Erb und Romberg beeinflusst, die das Konzept einer internistischen Neurologie in Abgrenzung zur Psychiatrie vertraten und die Nervenkrankheiten als Teilgebiet der Inneren Medizin ansahen. Das eröffnete neurologisch orientierten Internisten wie Queckenstedt und Curschmann Karrieremöglichkeiten innerhalb der Inneren Medizin. Im Folgenden soll vor diesem Hintergrund exemplarisch auf deren beruflichen Werdegang und ihr Schaffen näher eingegangen werden. Hans Heinrich Georg Queckenstedt (Abb. 3), der am 15. August 1876 in Reudnitz bei Leipzig geboren wurde und an der Universität Leipzig Medizin studiert hatte, war zunächst als Assistenzarzt an der Medizinischen Poliklinik bei Wilhelm Erb in Heidelberg tätig, bevor er 1906 an die Medizinische Universitätsklinik Rostock wechselte.30 Hier wurde er nach erfolgreicher Habilitation im September 1912 Privatdozent. In seiner Habilitationsschrift hatte sich Queckenstedt mit „Untersuchungen über den Eisenstoffwechsel bei perniciöser Anaemie“ beschäftigt und im Rahmen seines Habilitationsverfahrens einen Probevortrag über das „Ergebnis der Lumbalpunktion bei chronischen Nervenkrankheiten“ gehalten. Queckenstedt war seit 1913 Oberarzt und Leiter der Poliklinik und behandelte auch Patienten mit neurologischen Erkrankungen. So war es nicht ungewöhnlich, sich auch für pathologische Veränderungen des Liquor cerebrospinalis zu interessieren, da er sich

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Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert

zuvor bereits intensiv mit Untersuchungen des Blutes beschäftigt hatte.31 Er untersuchte regelmäßig Patienten mit neurologischen Erkrankungen und nutzte dafür die 1891 von Quincke eingeführte transkutane Lumbalpunktion, die sich als Untersuchungsmethode rasch verbreitet hatte.32 Ebenso verbreitet war die Liquordruckmessung, die häufig mit der Steigrohrmessung nach Quincke vorgenommen wurde und die auch Queckenstedt regelmäßig anwandte.33 Generell hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Interesse an Untersuchungen des Liquor cerebrospinalis zugenommen. In Kenntnis dieser Arbeiten kritisierte Queckenstedt, dass „das mechanische Verhalten des Liquor cerebrospinalis verhältnismässig wenig Berücksichtigung gefunden“ habe.34 Diese Bemerkung bezog sich vor allem auf Arbeiten über Veränderungen des Liquor cerebrospinalis infolge spinaler Raumforderungen. Queckenstedt war während der Lumbalpunktionen und der von ihm durchgeführten Liquordruckmessungen nämlich aufgefallen, dass die Liquorsäule im Steigrohr beim Ein- und Ausatmen schwankte, und dass insbesondere beim Pressen und Husten ein deutlicher Druckanstieg zu beobachten war. Schließlich veröffentlichte er 1916 unter dem Titel „Zur Diagnose der Rückenmarkskompression“ seine Entdeckung, die später seinen Namen tragen sollte.35 Queckenstedt beschrieb verschiedene Fälle, in denen der Spinalkanal aufgrund krankhafter Veränderungen eingeengt war und erkannte den diagnostischen Wert seines Stauversuches,36 insbesondere für die Diagnostik von Raumforderungen. Durch die Übersetzung seiner Arbeit ins Englische wurde diese einem internationalen Fachpublikum zugänglich.37 Die später nach ihm benannte Untersuchungsmethode half fortan, spinale Raumforderungen aufgrund von Veränderungen des Liquordrucks zu erkennen.38 Mit Veränderungen des Liquor cerebrospinalis beschäftigte sich Queckenstedt auch weiterhin. Dabei konnte er auf eigene Erfahrungen bei der Beurteilung des Liquor cerebrospinalis verweisen, die er anhand von 42 Fällen mit Erkrankungen peripherer Nerven mitteilte.39 Sein früher Tod – Queckenstedt verstarb am 8. November 1918 nach einem Unfall 40 – beendete seine vielversprechende ärztliche und wissenschaftliche Karriere. Dennoch gilt Queckenstedt bis heute als Pionier der neurologischen Diagnostik.41 In Erinnerung an seine Verdienste wird seit 1999 von der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft (DMSG ) der Hans Heinrich Queckenstedt-­Preis für Arbeiten junger Wissenschaftler auf dem Gebiet der Multiple-­Sklerose-­Forschung verliehen. Der andere Neuro-­Internist, der wie Queckenstedt in Rostock neurologische Themen in Lehre und Wissenschaft vertrat und nicht zuletzt auch Patienten mit neurologischen Erkrankungen untersuchte und behandelte, war der am 14. August 1875 in Berlin geborene Hans Curschmann (Abb. 4).42 Wie schon Queckenstedt erhielt er seine fachliche Ausbildung vorwiegend bei neurologisch orientierten Internisten wie Erb und Romberg an den Medizinischen Kliniken in Heidelberg und Tübingen. Dort konnte er 1906 seine Habilitation zum Thema „Untersuchungen über Physiologie und Pathologie der kontralateralen Mitbewegungen“ abschließen und wurde Privatdozent für Innere Medizin.43 Darüber hinaus dürfte aber auch sein Vater Heinrich Curschmann, der wie erwähnt als Internist schon frühzeitig für die Disziplingenese des Faches Neurologie eine wichtige Rolle gespielt hatte, Einfluss auf die Ausbildung und fachliche Ausrichtung seines Sohnes genommen haben. Im Jahr 1916 wurde Hans Curschmann als außerordentlicher Professor und Leiter der Medizinischen Poliklinik nach Rostock berufen und war noch während des Ersten Weltkrieges u. a. als fachärztlicher Beirat für Nervenheilkunde für die Lazarette von Schleswig und Holstein tätig. In der Nachfolge von Martius erhielt Curschmann 1921 eine ordentliche Professur und übernahm als Direktor bis zu seiner Emeritierung am 1. April 1941 die Leitung der Medizinischen Klinik. Er verstarb am 10. März 1950 in Rostock.

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„Einen Lehrauftrag für ­Neurologie hat Herr C. ja nicht“ 

Abb. 4  Hans Curschmann.

Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Der Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Schaffens lag insbesondere zu Beginn seiner akademischen Karriere auf neurologischen Themen.44 Bekannt wurde er hier vor allem dadurch, dass er wesentliche Erkenntnisse zur Differenzierung der myotonen Dystrophie berichtete, die erstmals von Hans Steinert (1875 – 1911) als eigenständige Erkrankungsform beschrieben worden war.45 Zudem verfasste er Beiträge in Standardwerken der Neurologie und auch neurologische Lehrbücher.46 Curschmann war u. a. Mitglied des Vorstandes der Gesellschaft deutscher Nervenärzte und später auch deren 2. Vorsitzender.47

Widerstände und Kompetenzstreitigkeiten Doch der Neuro-­Internist Curschmann traf in Rostock auf den Neuro-­Psychiater Karl Kleist. Der neue Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie vertrat stärker als seine Vorgänger neurologische Themen und stand den internistischen Bestrebungen entgegen. Kleist wirkte zwischen 1916 und 1920 in Rostock und hatte die ordentliche Professur für Psychiatrie und die Leitung der Landesirrenanstalt Gehlsheim inne.48 Aus seinem Werdegang wird deutlich, dass er im heutigen Sinne vor allem neurologisch interessiert war. Wegweisend für ihn war einerseits seine neuropathologische Tätigkeit bei Alzheimer in München. Schon frühzeitig hatte er sich mit psychomotorischen Bewegungsstörungen bei Geisteskranken beschäftigt, worüber er sich auch habilitierte. Den größten Einfluss auf ihn hatte jedoch Carl Wernicke. Als sein Schüler vertrat Kleist wie kein anderer dessen Klassifikation der psychischen Erkrankungen und hat dessen hirnpathologische Vorstellungen und klinische Ideen auch bei endogenen Psychosen anzuwenden versucht. Er bemühte sich konsequent um die Weiterentwicklung der hirnlokalisatorisch begründeten Einteilung der Geisteskrankheiten.49 Aufgrund seiner im Krieg gewonnenen Erkenntnisse über Hirnverletzungen und der daraus folgenden Störungen erarbeitete Kleist eine detaillierte Hirnkarte über die Lokalisation der Funktionen der Großhirnrinde auf architektonischer Grundlage. Sein umfangreiches Werk „Gehirnpathologie“ war ein bedeutender Beitrag für die Lokalisationstheorie.50 Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht überraschend, dass die Vertretung neurologischer Themen an der Rostocker Universität in Klinik und Unterricht zwischen den beiden Mutterdisziplinen Psychiatrie und Innere Medizin während dieser Phase zur Konfrontation führte. So beschwerte sich Kleist in einem Schreiben vom 21. Oktober 1917 an den Dekan der Medizinischen Fakultät darüber, dass Curschmann in seiner Vorlesung von einer Behandlung in der Klinik Gehlsheim mit den Worten „nicht nach Gehlsheim bringen und ihn mit Hypnose und anderen Dingen quälen lassen“ abgeraten habe. Weiterhin habe Curschmann gesagt, „er sei gezwungen, in der medizinischen Poliklinik auch Nervenfälle vorzustellen, weil seine Vorlesung ‚Klinische Einführung in die Neurologie‘ nicht zustande gekommen“ sei und, dass „die Psychiatrie das ja nicht [kann], ihr stehen nicht so viele organische Nervenfälle zur Verfügung.“ Dazu fand der offensichtlich verärgerte Kleist klare Worte: Diese Bemerkung von Herrn C. ist m. E. ungehörig, da sie den Studenten gegenüber meine Lehrtätigkeit als minderwertig darstellt. Die Behauptung C.’s, dass mir nicht genügend organische Nervenfälle zur Verfügung stünden, ist tatsächlich unrichtig, und Herr C. ist gar nicht in der Lage, darüber ein Urteil abzugeben. Endlich muss die Ausdrucksweise, „der Psychiatrie“ stünden die Fälle nicht zur Verfügung, bei den Studenten den Anschein erwecken, als ob ich eigentlich nur Psychiatrie vorzutragen hätte, während Herr C. wohl weiss, dass mir auch der Lehrauftrag für Neurologie erteilt ist. Schliesslich ist m. E. die medizinische Poliklinik nicht dazu da, vorwiegend Nervenfälle vorzustellen, wenn ich auch Herrn C. keineswegs das Recht bestreiten will, unter anderen Krankheiten auch Nervenleiden den Studenten vorzuführen. Einen Lehrauftrag für Neurologie hat Herr C. ja nicht.51

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Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Nach dem Einlenken Curschmanns herrschte offensichtlich Waffenstillstand und die Neurologie wurde zumindest bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts in Rostock weiterhin sowohl von der Inneren Medizin als auch der Psychiatrie beansprucht und vertreten. Mit dem Nachfolger Kleists, Max Rosenfeld (1871 – 1956), scheint das gut funktioniert zu haben. Curschmann gibt in seinen Lebenserinnerungen an: M. Rosenfeld, der Psychiater der Gehlsheimer Anstalten, auch ein tüchtiger Neurologe und angesehener Kollege, stand gut mit mir, trotzdem ich ihm als Nervenarzt einige Konkurrenz machte und stets den Standpunkt vertrat, daß die organische Neurologie auch zum Fach der inneren Klinik gehörte.52

Nach 1945 verlief die Entwicklung der Neurologie hin zu einem eigenständigen Fachgebiet in beiden deutschen Staaten unterschiedlich. In den 1970er-­Jahren konnte sich die Neurologie auch in der DDR als Fachgebiet etablieren, erreichte hier jedoch nur in Ausnahmefällen akademische Eigenständigkeit. Eine Ausnahme bildete die Universität Rostock. Schon frühzeitig, 1958, wurde hier ein eigenständiger Lehrstuhl für Neurologie eingerichtet.53

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UAR: Personalakte Prof. Dr. Karl Kleist, Bl. 24 f. Pantel 1993, S. 144. Gelfand 1976, S. 518 – 520. Mieg 2005, S. 242 f. Guntau/Laitko 1985. Karenberg 2008b, S. 322. Döhler 1993; vgl. dazu auch Weisz 2006. Fangerau/Imhof 2015, S. 25. Karenberg 2008a, S. 74 f. Erb 1880, S. 20 f. und 23. Klawans 1982. Peiffer 2004. Zit. nach Thom 1982, S. 344. Zit. nach Pantel 1993, S. 145. Burghardt 1985. Das Gutachten ist publiziert bei Engstrom 2001. Holdorff 2001. Zit. nach Karenberg 2016a, S. 172. Karenberg 2007, S. 29. Zit. nach Karenberg 2016a, S. 179. Zit. nach Karenberg 2016b, S. 166 f. UAR Med. Fak.: Errichtung eines Extraordinariats für innere Medizin 1913 – 1916. UAR Med. Fak.: Errichtung eines Extraordinariats für innere Medizin 1913 – 1916, unpaginiert. UAR: Personalakte Hans Curschmann, geb. 14. 8. 1875. Medizin, Teil II, Bl. 2 – 5. Oswald Bumke setzte sich auch später weiterhin für eine dezidiert neurologisch ausgerichtete ­Psychiatrie

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ein (vgl. hinsichtlich seines Wirkens Bumke 1952 und Hippius/Möller/­ Müller/Neundörfer 2005). UAR: Personalakte Prof. Dr. Oswald Bumke, 1913 – 1928, Bl.  1 – 51. UAR Med. Fak.: Errichtung eines Extraordinariats für innere Medizin 1913 – 1916, unpaginiert. UAR Med. Fak.: Errichtung eines Extraordinariats für innere Medizin 1913 – 1916, unpaginiert. Ebd. UAR: Personalakte Dr. med. Hans Queckenstedt, geb. 15. 8. 1876. Innere Medizin, Bl.  1 – 45. Queckenstedt 1913a und 1913b. Olukoga et al. 1997. Vgl. zu Queckenstedts Wirken an der Universität Rostock auch Kumbier/ Zettl 2016. Queckenstedt 1916, S. 325. Queckenstedt 1916. Die vorübergehende Kompression der Jugularvenen am Hals verursacht einen venösen Rückstau, der zu einem Anstieg des intrakranialen Liquordruckes führt und sich auf den Spinalkanal überträgt. Ein positiver Versuch bedeutet, dass die Liquorsäule im Steigrohr prompt ansteigt und damit auf die Durchgängigkeit des Spinalkanals hinweist. Ein verzögerter oder fehlender Anstieg deutet auf eine Passagebehinderung hin und kann als indirekter Hinweis auf eine Raumforderung im Rücken-

37 38 39 40 41 42

43 44 45

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marksbereich gewertet werden. Vgl. auch Kumbier/Zettl 2016. Wilkins 1965. Pearce 2006. Queckenstedt 1917. UAR: Personalakte Dr. med. Hans Queckenstedt, geb. 15. 8. 1876. Innere Medizin, Bl. 32. Kumbier/Zettl 2016. Zu den biografischen Angaben vgl. UAR Rostock: Personalakte Hans Curschmann, geb. 14. 8. 1875. Medizin, Teil I, Bl. 1 – 54. Curschmann 1906a, S. 1 – 51. Curschmann 1905, 1906a, 1906b, 1912 und 1917. Curschmann 1912; zur Erstbeschreibung und Verwendung der verschiedenen Eponyme vgl. Steinberg/Wagner 2008. Curschmann 1909, 1924 und 1936. Nonne 1950. UAR: Personalakte Prof. Dr. Karl Kleist, Bl.  1 – 79. Neumärker/Bartsch 2003. Kleist 1934. UAR: Personalakte Prof. Dr. Karl Kleist, Bl. 24 f. UAR: Personalakte Hans Cursch­ mann, geb. 14. 8. 1875. Medizin, Bibliographie, Teil IV, Bl. 1 – 45. Vgl. hierzu den Beitrag von Kumbier „Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958: notwendige Fächerdifferenzierung oder politisches Kalkül?“ in diesem Band.

„Einen Lehrauftrag für ­Neurologie hat Herr C. ja nicht“ 

Die Herausbildung der modernen Medizin in Rostock im 19. und frühen 20. Jahrhundert

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Teil I, Bl. 1 – 54. UAR : Personalakte Hans Curschmann, geb. 14. 8. 1875. Medizin, Teil II , Bl. 1 – 102. UAR : Personalakte Hans Curschmann, geb. 14. 8. 1875. Medizin, Bibliographie, Teil IV , Bl. 1 – 45. UAR : Personalakte Prof. Dr. Karl Kleist, Bl. 1 – 79. UAR : Personalakte Dr. med. Hans Queckenstedt,

geb. 15. 8. 1876. Innere Medizin, Bl. 1 – 45. UAR : Personalakte Prof. Dr. Oswald Bumke, 1913 – 1928,

Bl. 1 – 51.

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„Einen Lehrauftrag für ­Neurologie hat Herr C. ja nicht“ 

Rostocker Medizin in der Welt – die Welt in Rostock

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Wissensaneignung zwischen Naturerfahrung und kultureller Hegemonie Kathleen Haack Sammeln als wissenschaftliche Praxis begegnet uns spätestens seit dem 16. Jahrhundert. Ziel war die Aneignung von Wissen über die Beschaffenheit, das Auftreten und schließlich auch die medizinische Anwendbarkeit von Objekten aus der Natur. Insofern verwundert es nicht, besonders viele Ärzte und Apotheker in den Reihen der „Sammler“ anzutreffen. In Rostock etwa legte der Mediziner und Naturforscher Peter Lauremberg (1585 – 1639) in der Langen Straße einen Mustergarten mit dem Ziel an, Arzneipflanzen, Heilkräuter u. a. Gewächse – unter ihnen viele nichteinheimische – für Studien- und Unterrichtszwecke zu sammeln und nutzbar zu machen.1 Hier zeigt sich bereits eine Tendenz, in der sich das Sammeln als individuelle Beschäftigung mit dem Ziel der Annäherung an die Natur zu einer wissenschaftlichen Praxis ausweiten sollte. Diese Entwicklung setzte sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert immer mehr durch. Als Aneignung von Wissen, im weiteren Sinne sogar als Form der Weltaneignung, galt das Anlegen von Sammlungen zunehmend als unverzichtbarer Bestandteil der universitären Lehre und Forschung. An der Medizinischen Fakultät Rostock ist das Einrichten einer ersten großen Sammlung eng mit dem Namen Hermann Friedrich Stannius (1808 – 1883) verbunden.2 Kerstin Julia Kühner zeigt in ihrem Beitrag, wie Stannius unter persönlichem Einsatz, auch privater finanzieller Mittel und dem – nach heutigen Maßstäben – erfolgreichen Einwerben von Drittmitteln, es vermochte, eine ansehnliche Sammlung mit Objekten aus aller Welt für den vergleichend-anatomischen (zootomischen 3) und physiologischen Unterricht sowie für Forschungen anzulegen. Mit der Unterbringung der Sammlung im Neuen Akademischen Museum ab 1844 ermöglichte Stannius die endgültige institutionelle Anbindung an die Universität und eröffnete damit neue Wissensräume für Studenten und Lehrende, denen es fortan möglich war, faszinierende Objekte aus beinahe allen Teilen der Welt zu studieren. Das Wissen über die Natur, weit jenseits des Bekannten, nahm Einzug in den medizinisch-universitären Studienalltag an der Universität Rostock. So wurde die Stannius’sche Sammlung, wie Kühner zeigt, ein wichtiger Ausgangspunkt für die Etablierung des Zootomisch-Physiologischen Instituts und der damit verbundenen Stärkung der medizinischen Lehre in den Fächern vergleichende Anatomie, Physiologie und Pathologie. Sie war aus dem universitären Wissenschafts- und Lehrbetrieb des 19. Jahrhunderts kaum wegzudenken. Als konstituierende Einrichtung, die einer hohen gesellschaftlichen Wertschätzung und Faszination unterlag, kann die Zootomisch-Anatomische Sammlung der Medizinischen Fakultät als Triebkraft einer wissenschaftlichen Dynamik angesehen werden, die den Weg für die disziplinäre Ausdifferenzierung ebnete und im Zuge der sogenannten laboratory revolution4 schließlich zur Verselbstständigung der medizinischen Grundlagenfächer Pathologie, Physiologie und Vergleichende Anatomie führte.

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Wissensaneignung zwischen Naturerfahrung und kultureller Hegemonie

Rostocker Medizin in der Welt – die Welt in Rostock

Die ganzheitliche, der Naturphilosophie seit dem 16. Jahrhundert entsprungene Tradition des Sammelns hatte mit der naturwissenschaftlichen Wende am Ende des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt überschritten. Insbesondere der Physiologie gelang durch die Zuwendung zu modernen naturwissenschaftlichen Inhalten und Arbeitstechniken mit Experimenten und biochemischen Untersuchungen eine praxisorientierte, dynamisch-­ naturwissenschaftliche Ausrichtung. Dass die Verschiebung vom Sammeln zum Experiment kein endgültiger Bruch mit dem Erstgenannten darstellte, kann Beatrice Tamm in ihrem Rundgang durch die Ethnographische Sammlung des Instituts für Anatomie der Universität Rostock nachweisen. Die auf den chirurgischen Anatomen Karl Friedrich Quittenbaum (1793 – 1852) zurückgehende Sammlung beherbergt seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert auch einen ethnographischen Teil. Diese um die völkerkundliche Dimension, quasi einem veränderten Blickwinkel, ergänzte Sammeltätigkeit hatte im Zuge der kolonialen Betätigung vieler europäischer Staaten Einzug in die (anatomischen) Lehrsammlungen genommen, bzw. sie erlebte einen enormen Aufschwung.5 Die Universität Rostock hatte 1872 mit Friedrich Sigmund Merkel (1845 – 1919) einen stark anthropologisch ausgerichteten Anatomen zum Institutsleiter und Ordinarius für Anatomie berufen. Er sollte, so Tamm, die Ära der ethnographischen anatomischen Sammlung einläuten, um so die Möglichkeit eines anthropologischen Unterrichts an der Universität zu schaffen. Bis ins 20. Jahrhundert wurde die Sammlung mit den aus heutiger Sicht sehr sensiblen Objekten aus Neuseeland, Afrika, Südamerika sowie aus archäologischen Ausgrabungen aus Italien und Ägypten ergänzt. Tamm beschreibt die aus unterschiedlichen Regionen der Erde stammenden Objekte und versucht, die menschlichen Überreste zuzuordnen. Neben dieser grundlegenden Beschäftigung und der damit verbundenen Frage nach der Bedeutung innerhalb der Wissenschaftsgeschichte gibt sie einen künftig zu vertiefenden Ausblick auf die ethischen Maßstäbe, unter denen dieser Teil der Sammlung zusammengetragen worden ist. Und so wirft Tamm die seit geraumer Zeit wieder im öffentlichen Diskurs stehende Frage nach der richtigen Handhabung mit menschlichen, meist aus dem außereuropäischen Raum stammenden Überresten („Human Remains“) in Museen und Sammlungen auf. Im Zuge der wachsenden Sensibilität im Umgang mit diesen „Human Remains“ gilt es, die Umstände des Todes, des Erwerbs und bei (Ritual)Gegenständen auch deren Entstehung sowohl rechtlich als auch ethisch zu bewerten.6 Tamm, die sich auch weiterhin mit den sensiblen Objekten der Rostocker Sammlung beschäftigen wird, stellt in Aussicht, dass auch diese entweder mit einem unproblematischen Erwerbskontext in ihrer Vitrine verbleiben und so dem Grundrecht der Menschenwürde Rechnung getragen werden kann oder sie den Weg in ihr ursprüngliches kulturelles Umfeld antreten werden. Ein ebenso sensibles und bis heute noch immer lückenhaft erforschtes medizinhistorisches Gebiet ist das des deutschen kolonialen Medizinalwesens.7 Unbestritten ist, dass Ärzten die Aufgabe der Lebenserhaltung von Kolonialbeamten, Missionaren, Soldaten u. a. Berufsgruppen zur Aufrechterhaltung der kolonialen deutschen Infrastruktur zukam. Im Dienst kolonialer „Menschenökonomie“ ordneten nicht wenige ihr ärztliches Engagement ganz der Ausbeutung der indigenen Völker unter.8 Die Medizin in den besetzten Gebieten wurde so zur sozialen Deutungsmacht unter der Annahme einer kulturellen Hegemonie. Dass ein solch einseitig negatives Bild – wie nicht selten – zu kurz greift, ist naheliegend. Es gibt sie, die andere Seite: Deutsche Ärzte versorgten die einheimische Bevölkerung, Krankenhäuser wurden errichtet, Impfungen durchgeführt, medizinische Kenntnisse weitergegeben. „Deutsche Medizin und deutsche medizinale Infrastrukturen wirkten auf ihre Weise innovativ in Afrika, China und im Pazifik und leisteten ihren Bei-

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trag zur Modernisierung der dortigen Gesellschaften“.9 Nicht immer ist es leicht, das Eine vom Anderen klar zu scheiden. Und dementsprechend begibt sich Marcus Rudolph in seinem Beitrag über den mecklenburgischen Arzt Max Girschner (1861 – 1927) in der Südsee auf schwieriges Terrain. Rudolph zeichnet die Spuren Girschners als Kolonialarzt, als Abenteuer suchender Mediziner, als Naturforscher, der der Faszination einer bakteriologisch erfolgreichen Nation im Dunstkreis Robert Kochs (1843 – 1910) unterlegen war im Kontext der aufstrebenden Tropenmedizin des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts nach. Ihm gelingt ein vielschichtiges Bild Girschners, dem als einzigem Arzt auf der Insel Pohnpei eine herausragende Stellung zukam. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit trat Girschner auch sprachwissenschaftlich und ethnographisch in Erscheinung und hatte so in mehrfacher Hinsicht engen Kontakt zu der einheimischen Bevölkerung. Ob er so etwas wie ein „idealer Kolonialbeamter“ war, wie Völker 10 konstatiert hat, lässt Rudolph offen. Schließlich fungierte Girschner als Kolonialarzt, zeitweise leitender Kolonialbeamter und militärischer Befehlshaber als verlängerter Arm der deutschen Kolonialmacht. Und dennoch scheint er ein freundliches Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung gehabt zu haben. Seine enge Berührung verschaffte ihm Zugang zu Informationen, die Reisende im Allgemeinen nicht erhielten: Girschner interessierte sich für die geistige und materielle Lebenswelt der Ponapeer, für deren Sprache und Kultur. Sein Hauptstreben diesbezüglich galt dem Sammeln und somit der Wissensaneignung über Lebenswelten weit entfernter Kulturkreise. So schließt sich der Kreis des wissenschaftlichen Forschungs- und Erkenntnisprozesses, denn auch Girschner war ein Sammler mit dem Ziel der Aneignung und Weitergabe von Wissen.

Anmerkungen 1 2

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Deya/Kuna 2012, S. 49 f. Bereits im 16. und 17. Jahrhundert hatte es in Rostock verschiedene Bemühungen gegeben, wissenschaftliche Sammlungen anzulegen und diese für den privaten Bereich oder den universitären Lehrbetrieb zugänglich zu machen. Die meisten Objekte sind wohl während des großen Rostocker Stadtbrandes von 1677 zerstört worden. Vgl. den Beitrag von Tamm in diesem Band.

3

4 5

Der Begriff Zootomie wurde von Stannius geprägt, ist in etwa gleichbedeutend mit dem Terminus anatomia comparata (Vergleichende Anatomie) von dem heute als Begründer der Neurologie geltenden Thomas Willis (1621 – 1675). Vgl. Cunningham/Williams 1992. Eine Ausnahme bildet die Ethnographische Lehrsammlung der Universität Göttingen, die bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert angelegt worden ist und die im Sinne der Aufklärung die Lebensverhältnisse „exotischer“ Völker widerspiegeln sollte. Vgl. Urban 2001.

6

Vgl. Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen unter https://www. museumsbund.de/publikationen/ empfehlungen-­zum-­umgang-­mit-­ menschlichen-­ueberresten-­in-­ museen-­und-­sammlungen (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 7 Vgl. die sehr gute Überblicksdarstellung von Eckart 1997. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 10. 10 Völker 2011, S. 7.

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Literaturverzeichnis Cunningham, Andrew/Williams, Perry (Eds.): The Laboratory Revolution in Medicine. Cambridge University Press, Cambridge 1992. Deya, Hannelore/Kuna, Edwin: Vom alten Mecklenburg und Pommern. Haff Verlag, Grambin 2012. Eckart, Wolfgang U.: Medizin und Kolonialimperialismus. Deutschland 1884 – 1945. Ferdinand Schöningh, Paderborn u. a. 1997.

Kathleen Haack

Urban, Manfred: Die Völkerkundliche Sammlung. Eine im Zeitalter der Aufklärung wurzelnde ethnographische Sammlung – ihre Entstehung und weitere Entwicklung, in: Hoffmann, Dietrich/Maack-­Rheinländer, Kathrin: „Ganz für das Studium angelegt“: die Museen, Sammlungen und Gärten der Universität Göttingen. Wallstein, Göttingen 2001, S. 91 – 99. Völker, Wolf: Max Girschner (1861 – 1927) – ein Leben in Freiheit und Einsamkeit. Vortrag auf der Tagung „Kolonialmedizin, Kolonialpädagogik, Kolonialgeschichte Deutschlands in der Südsee 1884 – 1914, URL : http://rosdok.uni-­rostock. de/file/rosdok_document_0000003445/rosdok_derivate_​ 0000014909/Vortrag_Voelker_2014.pdf (letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

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Von Seekühen, Sammlungen und der Physiologie an der Universität Rostock im 19. Jahrhundert Friedrich Hermann Stannius (1808 – 1883) und das Zootomisch-­Physiologische Institut 1 Kerstin Julia Kühner Eine Verbindung zwischen dem Schädel eines Flussmanatis und der Lehre der Physiologie an der Universität Rostock im 19. Jahrhundert erschließt sich auf den ersten Blick nur schwer. In der historischen Perspektive hingegen wirkt ein solcher Zusammenhang recht schlüssig und ist an der Rostocker Universität eng mit der Forschungs- und Lehrtätigkeit des Arztes Friedrich Hermann Stannius (1808 – 1883) verbunden. Stannius, 1837 als Nachfolger des heute noch als „Vater des deutschen Seebades“ bekannten Samuel Gottlieb von Vogel (1750 – 1837)2 an die Medizinische Fakultät der Universität Rostock berufen, gründete hier das Zootomisch 3-Physiologische Institut und legte über viele Jahre eine Forschungs- und Lehrsammlung an. Zu ihr zählte auch der in Abbildung 1 dargestellte Flussmanati-­Schädel 4. Als Teil der Medizinischen Fakultät fungierte das von Stannius gegründete Institut als Lehrstätte für die drei Fächer Vergleichende Anatomie (Zootomie), Physiologie und Pathologie. Im Zuge der zunehmenden Spezialisierung und Differenzierung innerhalb der Medizin im Verlauf des 19. Jahrhunderts gingen aus dem von Stannius initiierten und etablierten „Zootomischen Institut“ schließlich drei eigenständige hervor: das Pathologische, das Physiologische und das Institut für Vergleichende Anatomie. Die Geschichte des Instituts samt seiner Sammlung ist somit eng mit den Entwicklungen verschiedener Fachdisziplinen an der Universität Rostock verbunden. Besonders für die Physiologie sollen diese Entwicklungen im Folgenden genauer dargestellt werden.

Entwicklung der Physiologie zur ­eigenständigen Fachdisziplin im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert begann die Physiologie sich von anderen, insbesondere anatomischen Fachdisziplinen abzulösen und zu einer eigenständigen Disziplin zu entwickeln.5 Die vollständige Trennung mit der Einrichtung rein physiologischer Ordinariate

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Abb. 1  Schädel eines Flussmanatis (Trichechus inunguis), aus der Zoologischen Sammlung der Universität Rostock, Geschenk von Johann Natterer (1787 – 1843), österreichischer Naturforscher und Zoologe, an Friedrich Hermann Stannius.

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und mit eigenständigen Instituten lief an den einzelnen Universitäten unterschiedlich komplex ab, was sich auch darin widerspiegelt, dass mehrere Universitäten für sich in Anspruch nahmen, das erste eigenständige Physiologische Institut in Deutschland gegründet zu haben.6 An den meisten deutschen Universitäten fand die Abtrennung der physiologischen von den anatomischen Lehrstühlen in den 1850er- bis 1870er-­Jahren statt, zum Beispiel in Berlin 1858 oder in Leipzig 1865.7 Als letzte deutsche Universität trennte Gießen die beiden Fächer 1891 endgültig voneinander.8 An der Universität Rostock wurde zum ersten Mal 1837 eine Lehrstelle für Physiologie eingerichtet.9 Es handelte sich dabei aber nicht um einen rein physiologischen Lehrstuhl, sondern um ein gemeinsames Ordinariat für Physiologie, Vergleichende Anatomie und Pathologie.10

Einrichtung einer Lehrstelle für Physiologie, Pathologie und Vergleichende Anatomie an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock

Abb. 2  Hermann Stannius ­(Ölgemälde).

Die Physiologie als Lehrfach wurde ab den 1820er-­Jahren in Rostock vermehrt im universitären Lehrbetrieb behandelt. Im Sommersemester 1822 las zunächst der Anatom und Chirurg Karl Friedrich Quittenbaum (1793 – 1852)11 aus Adolph Friedrich Hempels „Einleitung in die Physiologie des menschlichen Organismus“, im Jahr darauf aus seiner „Physiologie“.12 Ab 1825 hielt der Rechtsmediziner und Seuchenkundler Heinrich Spitta (1799 – 1860)13 regelmäßig Vorlesungen über Physiologie, oftmals unter Berücksichtigung der Vergleichenden und Pathologischen Anatomie,14 bis im Jahr 1837 eine spezielle Lehrstelle für Physiologie, Vergleichende Anatomie und Pathologie geschaffen wurde. Die durch den Tod Samuel Gottlieb von Vogels freigewordene Professur sollte dazu genutzt werden, bisher wenig oder gar nicht im Lehrbetrieb berücksichtigte Fächer wie die Pathologische und Vergleichende Anatomie, die Physiologie, Pathologie sowie die Geschichte und Enzyklopädie der Medizin in den Unterricht aufzunehmen.15 Mit Friedrich Hermann Stannius 16 (Abb. 2) fiel die Wahl auf einen universell ausgebildeten und vielseitig forschenden Mediziner. Bis 1837 hatte er zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten auf den Gebieten der Medizin, Zootomie und Entomologie (Abb. 3) veröffentlicht.17

Gründung des Zootomisch-­Physiologischen Instituts und das Anlegen einer Sammlung In Rostock übernahm Stannius den Lehrauftrag für Physiologie, Vergleichende Anatomie, Allgemeine Pathologie, Anthropologie sowie Enzyklopädie und Geschichte der Medizin.18 Da die meisten dieser Fächer bis zu diesem Zeitpunkt allerdings kaum in der Lehre berücksichtigt worden waren, fehlte es zu Beginn seiner Lehrtätigkeit an Hilfsmitteln wie Büchern und Lehrobjekten.19 Eigeninitiative war gefragt. Und so kam es, dass Stannius die Idee verfolgte, eine als Lehrsammlung für den Unterricht und für Forschungszwecke gedachte Sammlung anzulegen und somit den Grundstein für das Zootomisch-­Physiologische Institut an der Universität Rostock zu legen: Die Ueberzeugung, dass der academische Unterricht in der vergleichenden Anatomie, der Physiologie und der allgemeinen Pathologie nur da gedeihen kann, wo dem Lernenden eigene Anschauung der Gegenstände gestattet ist, von welchen diese Wissenschaften handeln, rief vor 2 ½ Jahren das Institut ins Leben, […].20

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Abb. 3  Darstellung von Insekten aus Stannius’ Dissertation.

Die Objekte dieser Sammlung bestanden überwiegend aus Präparaten von Tieren, einige aus Teilen des menschlichen Körpers. Die zootomischen Präparate, also die für die Vergleichende Anatomie, machten den größten Teil der Sammlung aus. Den Grundstock bildeten die überwiegend durch Johann Karl Friedrich Strempel (1800 – 1872)21 gesammelten Präparate aus dem naturhistorischen Museum der Universität.22 Dieser Fundus bestand aus Schädeln und Skeletten von Wirbeltieren, in Weingeist aufbewahrten Präparaten sowie Embryonen und nicht näher beschriebenen pathologischen Präparaten.23 Durch die Hilfe des Großherzogs Paul Friedrich von Mecklenburg (1800 – 1842), der Landesregierung und anderer Personen sowie durch Geldgeschenke gelang es Stannius, innerhalb

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Abb. 4  Universitätshauptgebäude, auf der linken Seite (Vorderansicht, hinter dem Blücherdenkmal) befindet sich das 1844 nach Plänen von Georg Adolph Demmler (1804 – 1886) errichtete Neue Museum.

der ersten zweieinhalb Jahre den Grundbestand der Sammlung deutlich zu vergrößern.24 An pathologischen Präparaten waren „Misbildungen von Menschen und Thieren, einige krankhafte Geschwülste, einige Präparate von Venenkrankheiten u. s. w.“ 25 vorhanden. Für den physiologischen Unterricht wurden „normal gebildeter Theile des menschlichen Körpers“ angeschafft, darunter Präparate des „menschlichen Auges, des Gehörorganes, mehre [sic] feine Injectionen, besonders drüsiger Theile“ sowie Skelette und Schädel.26

Unterbringung der Sammlung und Bau eines Institutsgebäudes Das neu gegründete Institut wurde zusammen mit der Sammlung vorerst in einer Mietwohnung untergebracht,27 die Stannius auch selbst bewohnte. Durch sein stetiges Bestreben, die Sammlung zu vergrößern, reichte diese jedoch bald nicht mehr aus. 1840 kaufte die Universität ein dem Weißen Kolleg 28 benachbartes Grundstück an und begann mit der Errichtung des Neuen Akademischen Museums, in welchem die Sammlungen der Universität ab 1844 untergebracht wurden (Abb. 4).29 Das Institut selbst erhielt ein eigenes kleines Institutsgebäude hinter dem Weißen Kolleg, das Zootomie genannt wurde.30 Aus der Beschreibung des Gebäudes von Hermann Karsten (1809 – 1877)31 aus dem Jahr 1846 geht hervor, dass sich im Erdgeschoss eine Küche und mehrere Kammern zur Aufnahme von Vorräten und noch unvollendeten Präparaten befanden und dass neben dem Gebäude ein Stall existierte.32 Das Obergeschoss beherbergte ein größeres Präparierzimmer und ein kleineres Arbeitszimmer für den Institutsleiter.33 Die Angaben über die Räumlichkeiten des Instituts geben auch Hinweise über die Forschungen von Stannius. Er fertigte nicht nur Präparate an und arbeitete mit toten Tieren, sondern, wie die Ställe bereits vermuten lassen, führte er auch Versuche am lebenden Tier, sogenannte Vivisektionen, durch.34

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Nach der Aufteilung des Zootomisch-­Physiologischen Instituts verblieben wohl zunächst noch das Institut für Pathologie und das Institut für Vergleichende Anatomie in dem kleinen Gebäude. Später waren darin das Hygienische Institut und kleinere Nebensammlungen der Universität untergebracht.35 Im Jahre 2005 wurde das Gebäude abgerissen.36

Vergrößerung der Sammlung und die Tätigkeit Stannius’ an der Universität Rostock Friedrich Hermann Stannius blieb nach Gründung des Zootomisch-­Physiologischen Instituts noch mehr als zwanzig Jahre an der Universität tätig, bis er 1863 aus gesundheitlichen Gründen die Leitung aufgeben musste.37 In dieser Zeit gelang es ihm, durch Ankäufe, Geschenke, Spenden und Reisen seine Sammlung weiter auszubauen und für den Lehrbetrieb zur Verfügung zu stellen. Eines seiner wichtigsten wissenschaftlichen Werke war sein Lehrbuch der Vergleichenden Anatomie, das er 1846 zusammen mit Carl Theodor Ernst von Siebold (1804 – 1885) veröffentlichte.38 Zudem war Stannius Namensgeber für einige Insektenarten sowie für die „Stannius’schen Körperchen“, bei denen es sich um ein endokrines Organ bei Fischen handelt und für das „Stanniocalcin“, ein Protein, das an der Entstehung von Krebs beteiligt ist.39 Mit der Pathologie beschäftigte sich Stannius hauptsächlich in den 1830er-­Jahren. Durch seine Forschungen im Bereich der Physiologie konnte er unter anderem die Wiederbelebung soeben totenstarrer Muskeln durch erneute Durchblutung nachweisen 40 und fand heraus, dass das Erregungsbildungszentrum des Herzens im Herz selbst und nicht im Nervensystem lokalisiert ist („Stannius’sche Ligaturen“).41 Auch außerhalb des Zootomisch-­Physiologischen Instituts setzte sich Stannius für die Universität ein. 1843 versuchte er die Tierarzneischule in Schwerin an die Universität anzubinden, scheiterte jedoch bei seinem Vorhaben.42 Mehrfach war Stannius zudem Dekan der Medizinischen Fakultät und Rektor der Universität. Mit seiner Hilfe gelang es, die Umwandlung der Universität in eine landwirtschaftliche Schule, die die Landesregierung in den Jahren 1849 bis 1851 ernsthaft erwog, zu verhindern.43

Aufteilung des Zootomisch-­Physiologischen Instituts und Übergabe der Sammlung an die Zoologie Obwohl Stannius erst 1883 verstarb, verschlechterte sich sein Gesundheitszustand bereits in den 1850er-­Jahren zunehmend.44 1862 gab er zunächst die Vorlesungen über Physiologie ab,45 die daraufhin von dem Anatomen Carl Bergmann (1814 – 1865)46 übernommen wurden. Diesem wurden 1863 schließlich auch die Vorlesungen über Vergleichende Anatomie und die Leitung des Zootomisch-­Physiologischen Instituts mitsamt Sammlungen übertragen.47 Bergmann erkrankte allerdings bald darauf selbst, weswegen ab September 1863 die Vorlesungen für Physiologie vollständig ausfielen.48 Da im Januar 1865 Bergmann immer noch krank war, schlug der damalige Dekan der Medizinischen Fakultät, Theodor Thierfelder (1824 – 1904), vor, für die Physiologie einen neuen Professor zu berufen und die anatomischen Vorlesungen vorübergehend an Franz Eilhard Schulze (1840 – 1921)49 zu übertragen.50 Auf die Forderung, die Physiologie mit der Vergleichenden Anatomie in einer Professur zu vereinigen, antwortete Thierfelder im Februar 1865:

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Vor einigen Decennien glaubte man freilich diese beiden Fächer gehörten zusammen. Heutzutage aber sind Physik und Chemie die wichtigsten Hilfswissenschaften der Physiologie geworden, wogegen die Zootomie vorwiegend von den Anatomen und Zoologen gepflegt wird. Unter den 22 deutschen Universitäten, […], ist keine einzige auf der die Professur der vergleichenden Anatomie mit der der Physiologie […] vereinigt wäre.51

Thierfelder erkannte den Wandel, der sich in der Methodik der Physiologie im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzogen hatte. Betrieb Stannius noch Vivisektionen und arbeitete mit vorwiegend anatomischen Methoden, um physiologische Erkenntnisse zu gewinnen, wandte sich die Physiologie immer mehr chemischen und physikalischen Prozessen im Körper zu. Experimente, die mit Apparaten und Geräten durchgeführt wurden, rückten in den Vordergrund.52 Im Oktober 1865 wurde schließlich Hermann Aubert (1826 – 1892)53 als ordentlicher Professor der Medizin nach Rostock berufen. Er übernahm die Vorlesungen für Physiologie und die Leitung des Physiologischen Instituts.54 Die Vorlesungen für Vergleichende Anatomie sollte er „dem Befinden nach“ und nur „äußersten Falles“ „aushülflich“ halten,55 wodurch die Vergleichende Anatomie und die Physiologie voneinander getrennt und für das Physiologische Institut neue Räume angemietet wurden.56 Wie auch die physiologischen Vorlesungen konnte Stannius die Vorlesungen für Pathologie wegen seines Gesundheitszustandes nicht mehr halten. Im Jahre 1863 wurde daraufhin ein Institut für Pathologie gegründet, da auch die Pathologie sich in ihrem fachlichen Umfang deutlich vergrößert hatte und man der Auffassung war, diese nicht mehr in einer Professur mit der Physiologie vereinigen zu können.57 Die Leitung des neuen Instituts wurde Carl Theodor Ackermann (1825 – 1896)58, der seit August 1856 in Rostock als Privatdozent tätig war, übertragen.59 Bereits im Sommersemester 1857 war er mit pathologischen Vorlesungen im Vorlesungsverzeichnis vermerkt.60 Ackermann konnte zunächst im ehemaligen Gebäude des Zoologisch-­Physiologischen Instituts in die obere Etage ziehen, bis 1868 das Pathologische Institut in ein anderes Gebäude verlegt wurde.61 Da die Physiologie und die Pathologie sich mit eigenen Instituten abgetrennt hatten, wurde das ehemalige Zootomisch-­Physiologische Institut als Institut für Vergleichende Anatomie weitergeführt. Bereits unter der Leitung von Carl Bergmann wurde Franz Eilhard Schulze damit beauftragt, die Objekte des Zootomisch-­Physiologischen Instituts zu „revidieren“ und zu bestimmen.62 Nach dem Tode Bergmanns wurde Schulze im August 1865 zum außerordentlichen Professor für Vergleichende Anatomie ernannt und wurde neuer Direktor des gleichnamigen Instituts.63 Stannius’ Sammlung ging an das Institut für Vergleichende Anatomie über, einen Teil erhielt das Pathologische Institut.64 Schulze wurde 1871 schließlich zum ordentlichen Professor für Zoologie und Vergleichende Anatomie in der Philosophischen Fakultät ernannt und stellte im selben Jahr den Antrag, das Vergleichend-­Anatomische Institut einschließlich seiner Sammlung mit der Zoologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums zu vereinigen.65 Der Hauptteil der Sammlung, die Stannius einst am Zootomisch-­Physiologischen Institut der Medizinischen Fakultät angelegt hatte, ging damit an die Zoologie über und wechselte so zur Philosophischen Fakultät. Daher findet man auch heute noch sehr viele Stücke, darunter den Flussmanati-­Schädel, in der Zoologischen Sammlung des Instituts für Zoologie an der Universität Rostock.66

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Anmerkungen 1

Herrn Professor Ragnar Kinzelbach möchte ich für seinen fachlichen Rat und dem Zoologischen Institut der Universität Rostock für die Bereitstellung des Bildmaterials danken. 2 Samuel Gottlieb von Vogel (1750 – 1837) war von 1789 – 1837 Professor der Medizin in Rostock. Unter seiner Leitung wurde 1793 in Heiligendamm das erste deutsche Seebad gegründet. Vgl. Catalogus Professorum Rostochiensium. Sofern nicht anders ausgewiesen, stammen die folgenden biographischen Angaben zu den Rostocker Professoren aus dem Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://cpr. uni-­rostock.de/ (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 3 Zootomisch bedeutet vergleichend anatomisch, bezogen auf Tiere. 4 Vgl. auch Kinzelbach 2003, S. 73. 5 Rothschuh 1953, S. 93. 6 Eulner 1970, S. 48. In Eulners Buch sind die Entstehungen der physiologischen Lehrstühle und Institute an den einzelnen Universitäten ausführlich dargestellt. 7 Ebd., S. 61. 8 Ebd., S. 56. 9 LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892, Bestellung für den Doctor medicinae Stannius in Berlin als Professor der Medizin bei der Universität zu Rostock am 3. 10. 1837. 10 Ebd. 11 Karl Friedrich Quittenbaum war ab 1821 Professor für Chirurgie und Anatomie an der Universität Rostock; zum Professor ordinarius der „Arzneiund Wundarzneigelahrtheit“ wurde er 1831 ernannt. Darüber hinaus legte er eine anatomische Präparatesammlung an, die er der Universität schenkte. 12 Universitätsbibliothek Rostock (UBR): Indices Praelectionum, 1822 – 1828. Sofern nicht anders ausgewiesen, stammen die folgenden Angaben zu den Personal- und Vorlesungsverzeichnissen aus der Universitätsbibliothek Rostock unter: https://www.ub.uni-­ rostock.de/en/libraries-­facilities/ university-­archiveart-­collection/ das-­universitaetsarchiv/digitalisierte-­

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vorlesungsverzeichnisse/ (letzter Aufruf 15. 05. 2019). 13 Heinrich Spitta war ab 1825 ordentlicher Professor für Medizin an der Universität Rostock. 14 UBR: Indices Praelectionum, 1822 – 1828 und Indices Lectionum, 1828 – 1837. 15 LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892, Schreiben an den Großherzog vom 19. 5. 1837. 16 LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892, Bestellung für den Doctor medicinae Stannius in Berlin als Professor der Medizin bei der Universität zu Rostock am 3. 10. 1837. 17 LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892, Schreiben des Prof. Strempel vom 8. 4. 1837. 18 LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892, Bestellung für den Doctor medicinae Stannius in Berlin als Professor der Medizin bei der Universität zu Rostock am 3. 10. 1837. 19 Stieda 1929, S. 8. 20 Stannius 1840, S. 1. 21 Johann Karl Friedrich Strempel war von 1826 bis 1872 Professor der Medizin in Rostock und sorgte unter anderem für die Errichtung der „Medicinischen und Chirurgisch-­ Ophtalmiatrischen Klinik“ in Rostock. 22 Stannius 1840, S. 2. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 4. 25 Ebd. 26 Ebd., S. 2. 27 Karsten 1846, S. 5. 28 Das Weiße Kolleg wurde 1864 abgerissen und an derselben Stelle das heutige Universitätshauptgebäude errichtet. 29 Karsten 1846, S. 5. 30 Lorenz 1919, S. 66. 31 Hermann Karsten (1809 – 1877) war Professor für Mathematik, Physik und Mineralogie an der Universität Rostock. Er war zudem mehrfach Rektor der Universität. 32 Karsten 1846, S. 9. 33 Ebd. 34 Krause 1893, in: ADB, S. 447. 35 Lorenz 1919, S. 76. 36 Kinzelbach 2010, S. 58. 37 Braun 1891, S. 36.

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Stannius/von Siebold 1846. Kinzelbach 2010, S. 58. Stannius 1852. Burmeister 1993, S. 107. Stieda 1929, S. 12 f. Burmeister 1993, S. 105. Stieda 1929, S. 29. LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892, Schreiben des Vizekanzlers von Both vom 18. 6. 1862. Carl Bergmann (1814 – 1865) war zunächst als Privatdozent und später als Professor in Göttingen tätig. 1852 wurde er zum ordentlichen Professor für Anatomie an der Universität Rostock ernannt. LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892, Schreiben an Prof. Stannius vom 7. 7. 1863. UAR 2.04.1, 0305: Lehrstuhl für Physiologie, 1865 – 1933, Schreiben des Prof. Thierfelder vom 20. 1. 1865. Franz Eilhard Schulze (1840 – 1921) war nach seinem Medizinstudium und seiner Promotion ab 1864 als Privatdozent an der Universität Rostock tätig. Dort wurde er 1871 zum ordentlichen Professor der Zoologie und Vergleichenden Anatomie ernannt. UAR 2.04.1, 0305: Lehrstuhl für Physiologie, 1865 – 1933, Schreiben des Prof. Thierfelder vom 20. 1. 1865. UAR 2.04.1, 0305: Lehrstuhl für Physiologie, 1865 – 1933, Schreiben des Prof. Thierfelder vom Februar 1865. Rothschuh 1953, S. 91. Hermann Aubert (1826 – 1892), deutscher Physiologe, war ab 1865 ordentlicher Professor der Physiologie an der Universität Rostock. Er war zudem mehrfach Rektor der Universität. LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892, Schreiben vom 21. 7. 1865. LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892, Schreiben vom 10. 4. 1865. LHAS 5.12 – 7/1, 1810: die Verwaltung des Physiologischen Instituts, 1851 – 1908, Mietvertrag vom 31. 7. 1865. LHAS 5.12 – 7/1, 1512: Das Ordinariat für Pathologie und pathologische

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Rostocker Medizin in der Welt – die Welt in Rostock

Anatomie, 1855 – 1922, Schreiben vom 24. 9. 1863. 58 Carl Theodor Ackermann (1825 – 1896) war nach seinem Medizinstudium und seiner Promotion ab 1856 als Privatdozent in Rostock tätig. Im Jahre 1865 ernannte man ihn an der Universität Rostock zum ordentlichen Professor für Pathologische Anatomie und Pharmakologie.

59 LHAS 5.12 – 7/1, 1512: Das Ordinariat für Pathologie und pathologische Anatomie, 1855 – 1922, Schreiben vom 24. 9. 1863 und vom 9. 10. 1863. 60 UBR: Index Lectionum SS 1857. http://rosdok.uni-­rostock.de/data/ Preview-­PuV/PDF/1857_WS_IL.pdf (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 61 Braun 1891, S. 36 f. 62 Ebd., S. 36.

63 Ebd. 64 Krause 1893, S. 447. 65 UAR 1.02.0, R XI B 2.3: Akademisches Museum, Sammlungen, Institute, 1790 – 1891, Antrag des Prof. Schulze vom 19. 2. 1871. 66 Vgl. Kinzelbach 2003.

Literaturverzeichnis Quellen LHAS 5.12 – 7/1, 1520: Ordinariat für Physiologie, 1788 – 1892. LHAS 5.12 – 7/1, 1810: Die Verwaltung des Physiologischen

Instituts, 1851 – 1908. LHAS 5.12 – 7/1, 1512: Das Ordinariat für Pathologie und

pathologische Anatomie, 1855 – 1922. UAR 1.02.0, R XI B 2.3: Akademisches Museum, Sammlungen,

Institute, 1790 – 1891. UAR 2.04.1, 0305: Lehrstuhl für Physiologie, 1865 – 1933.

Primärliteratur Stannius, Friedrich Hermann: Erster Bericht von dem zootomisch-­physiologischen Institute der Universität Rostock. Rostock 1840. Stannius, Friedrich Hermann: Beiträge zur Kenntnis der amerikanischen Manati’s. Rostock 1845. Stannius, Friedrich Hermann: Untersuchung über Leistungsfähigkeit der Muskeln und Totenstarre, in: Archiv für physiologische Heilkunde, Jg. 11. Stuttgart 1852, S. 1 – 25. Stannius, Friedrich Hermann/von Siebold, Carl Theodor Ernst: Lehrbuch der vergleichenden Anatomie. Berlin 1846.

Sekundärliteratur Braun, Max: Zoologie, vergleichende Anatomie und die entsprechenden Sammlungen bei den Universitäten Bützow und Rostock seit 1775. Rostock 1891. Burmeister, Jürgen.: Friedrich Hermann Stannius (1808 – 1883), ein bedeutender Forscher und Hochschullehrer in den Fächern Physiologie, vergleichende Anatomie und Pathologie an der Rostocker Universität, in: Rostocker Medizinische Beiträge, H. 1. Rostock 1993, S. 105 – 111. Eulner, Hans-­Heinz: Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes. Stuttgart 1970.

Kerstin Julia Kühner

Heß, Wilhelm: Natterer, Johann, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 23. Leipzig 1886, S. 288. Karsten, Hermann: Zur Geschichte der naturwissenschaftlichen Institute der Universität Rostock. Rectorats-­ Programm, Rostock 1846. Kinzelbach, Ragnar: Hermann Friedrich Stannius (1808 – 1883) und die Amazonas-­Seekuh in der Zoologischen Sammlung der Universität, in: Stier und Greif: Blätter zur Kultur- und Landesgeschichte in Mecklenburg-­Vorpommern, Jg. 13. Schwerin 2003, S. 70 – 78. Kinzelbach, Ragnar: Hermann Friedrich Stannius: Stannius’sche Körperchen und Stanniocalcin, in: Biologie in unserer Zeit, H. 40, Weinheim 2010, S. 58. Krause, Karl Ernst Hermann: Stannius, Hermann, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 35. Leipzig 1893, S. 446 – 448. Lorenz, Adolf Friedrich: Die Universitätsgebäude zu Rostock und ihre Geschichte. Rostock 1919. Rothschuh, Karl Eduard: Geschichte der Physiologie. Berlin/ Göttingen/Heidelberg 1953. Stieda, Wilhelm: Hermann Stannius und die Universität Rostock 1837 – 1854, in: Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, Bd. 93 (1929), S. 1 – 36.

Onlinenachweise Catalogus Professorum Rostochiensium, URL : http://cpr.uni-­​ rostock.de/ (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Personal- und Vorlesungsverzeichnisse aus der Universitätsbibliothek Ros­tock, URL : https://www.ub.uni-rostock.de/ en/libraries-facilities/university-archiveart-collection/ das-universitaetsarchiv/digitalisierte-vorlesungsverzeichnisse/ (letzter Aufruf 14. 4. 2019).

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Ein Rundgang durch die ­Ethnographische Sammlung des Instituts für Anatomie der ­Universitätsmedizin Rostock Beatrice Tamm An der Ecke Gertrudenstraße und Patriotischer Weg steht ein imposantes Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert. Es lenkt den Blick der Passanten auf sich. Über dem Eingang sind die Worte: „Studiis medicinae Fridericus Franciscus  II has aedes dicavit“ („Den Studien der Medizin hat Friedrich Franz  II . diese Häuser geweiht“) zu lesen. In diesem und den anliegenden Gebäuden befinden sich heute das Institut für Anatomie und das Oscar Langendorff Institut für Physiologie. Die Räume über dem Eingang beheimaten die historische Anatomische Sammlung, welche man bereits von der Straße an den ausgestellten tierischen Skeletten und den alten, aus Holz und Glas bestehenden Schaukästen erkennt (Abb. 1). Mit dem Beginn der Renaissance kam es im 15. und 16. Jahrhundert zur Gründung Anatomischer Theater in Europa, die zum Ort des Lehrens und Forschens, aber vor allem auch des Sammelns wurden. Viele Befunde wurden präpariert und aufbewahrt, um bei Problemen mit der Leichenzufuhr oder in der sektionsfreien Zeit als Anschauungsobjekt zu dienen. Eine Vielzahl dieser Präparate bildete die Grundlage für bis heute vorhandene universitäre Sammlungen oder Museen.1

Zur (Vor-)Geschichte der Rostocker Sammlung Die Rostocker Sammlung beheimatet neben meist Feuchtpräparaten und Tierskeletten eine Vielzahl an Schädeln, die sowohl aus Rostock und der Umgebung, als auch aus weit entfernten Ländern stammen. Zwar hatte man bereits im 16. und 17. Jahrhundert mit dem Sammeln begonnen, doch wurden viele dieser Objekte beim großen Stadtbrand von Rostock 1677 zerstört. Die Folge war, dass es erst eineinhalb Jahrhunderte später mit Karl Friedrich Quittenbaum (1793 – 1852)2 wieder zu einer gezielten Sammlung von Präparaten und dem Beginn eines Anatomischen Museums kam.3 Wenn man den Sammlungsraum betritt, sieht man eine Vielzahl alter Vitrinen. Zwei Vitrinengruppen beschäftigen sich mit dem ethnographischen Teil der Anatomischen Sammlung. Es handelt sich hier um die Vitrinen an der linken Wand und um eine Vitrine im hinteren Teil des Raumes. Die Entstehung dieser Teilsammlung geht auf den Institutsleiter Friedrich Sigmund Merkel (1845 – 1919) zurück. Er wurde 1845 in Nürnberg

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Abb. 1  Anatomisches Institut Rostock, hinter den Glasscheiben lassen sich die Präparate erkennen.

geboren und studierte ab 1864 an den Universitäten in Erlangen, Greifswald und Göttingen Medizin. 1869 promovierte er in Erlangen mit der Dissertation „Über die Macula lutea des Menschen und die Ora serrata einiger Wirbeltiere“, seine Habilitation folgte ein Jahr später. 1872 erhielt er sowohl einen Ruf nach Basel als auch nach Rostock.4 Seiner Personalakte aus Rostock kann man entnehmen, dass er vor seiner medizinischen Laufbahn auch auf dem Feld der Geschichte und vor allem der Anthropologie veröffentlichte, wie zum Beispiel eine Untersuchung über Schädelfunde in Tannenwerder. Dies ist zum Inhalt seiner Berufung nach Rostock geworden: „Es steht ihm besonders empfehlend zur Seite, daß er sich sowohl auf dem dogmatischen wie auch auf dem historischen Gebiet als Forscher ausgewiesen hat.“ 5 Seine Berufung nach Rostock erhielt er 1872 und wurde 1881 und 1882 zum Rektor der Universität ernannt.6 In seine Zeit fällt der große Neubau des Anatomischen Instituts an der Gertrudenstraße 1876 – 1878, welches am 29. 10. 1878 eingeweiht und 1911 erweitert wurde.7 1883 bekam er einen Ruf nach Königsberg, dem er folgte und wo er die Methode der „Deutschen oder Frankfurter Horizontale“ (1884) einführte, welche der Vermessung und dem Vergleich von Schädeln eine Grundkonstante gab. 1885 kehrte er nach Göttingen zurück, wo er bis zu seinem Tod am 28. Mai 1919 blieb.8 Die am hinteren Ende des Raumes befindliche Vitrine enthält den größten Teil dieser Ethnographischen Sammlung. Sie wurde konzipiert und angelegt, um die Möglichkeit eines anthropologischen Unterrichts zu schaffen. Stücke, die man nicht im Original erwerben konnte, wurden durch Abgüsse aus der Göttinger Blumbach’schen Sammlung ergänzt.9

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Der Neuseeländer Im unteren Teil der Vitrine scheint ein Schädel sich von den anderen zu unterscheiden (Abb. 2).10 Wie die meisten anderen steht auch dieser scheinbar auf einem hölzernen Fuß, der mit schwarzem Lack bemalt wurde. Im vorderen Teil wurde eine Ecke wie bei einem Trapez abgeschrägt und mündet in einer gerade abfallenden Seitenwand. An dieser wurde eine Halterung befestigt, in der sich eine Pappkarte befindet. Auf dieser steht in ordentlicher Druckschrift die genaue Objektbeschreibung samt der Inventarnummer: „Cf 22 Neuseeländer, Männerkopf von Eingeborenen präpariert. Geschenk von Dr. Robert“. Im 17. und vor allem 18. Jahrhundert kam mit der nun zunehmend strukturierten Kolonialisierung der vermehrte Kontakt zu den damals als „Naturvölker“ bezeichneten, in den kolonialisierten Regionen ansässigen Völkern zustande und damit sowohl ein steigendes Interesse an kulturellen als auch an anthropologischen Gegenständen, was entweder in den sogenannten Völkerschauen im 19. Jahrhundert 11 als auch in Sammlungen mündete, die sich unter anderem mit dem Erfassen von Körperdaten beschäftigten. Diese entstanden bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts und erlebten mit dem Aufkeimen der ersten anthropologischen Gesellschaften im 19. Jahrhundert einen großen Aufschwung.12 Die ersten deutschen Kolonien wurden am Ende des 19. Jahrhunderts besetzt. So erwarb das Deutsche Reich zwischen 1884 und 1899 Kolonien in Afrika: Deutsch Südwestafrika (heute Namibia), Deutsch Ostafrika (heute Tansania, Ruanda und Burundi), Kamerun (heute Kamerun und Teile von Gabun, Kongo, Nigeria, Chad und der Zentralafrikanischen Republik) und Togo (heute Togo und östliche Teile Ghanas)13; Nordostchina: Kiautschou (heute ein Teil Chinas) und im Pazifik: Neuguinea (heute nördliche Teile von Papua-­ Neuguinea), Marshall-­Inseln, Karolinen, Palau und Marianeninsel (heute Mikronesien) und die Samoa-­Inseln (heute Westsamoa).14 Trotz des späten Anfangs wurde das Deutsche Reich nach Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden zum viertgrößten europäischen Kolonialreich.15 Sein Ende brachte der Erste Weltkrieg.16 Der Neuseeländer Schädel aus der Rostocker Sammlung ist noch vollständig von Haut bedeckt, er weist Zähne und eine volle Haarpracht auf. Die Haare bestehen aus braunen Locken und verbergen am Hinterkopf einen Strick, der am Schädel befestigt wurde und scheinbar zu dessen Aufhängung diente (Abb. 3).17 Auch die Ohren sowie die Augenlider sind noch vollständig erhalten, nur die Augenbrauen sowie Wimpern sind nicht mehr vorhanden. Auch Nasenlöcher sucht man vergebens, diese wurden durch eine feste Masse aufgefüllt. Der Mund ist scheinbar zu einem Lächeln geöffnet und gewährt den Blick auf makellose weiße Zähne. An der Art und Weise, wie dieser Schädel konserviert ist, kann man davon ausgehen, dass es sich hier um einen sogenannten Mokomokai handelt. Dies ist ein präparierter Kopf aus der Kultur der Maori. Es gab zwei Arten von Köpfen, die konserviert wurden, zum einen jene der Angehörigen zur Verehrung der Ahnen, die im Versammlungshaus aufbewahrt wurden, und zum anderen die von gefallenen Kriegern, die als Kriegstrophäe und zur Abschreckung benutzt wurden. Zur Konservierung entnahm man zuerst das Gehirn und die Augen. Die so entstandenen Öffnungen wurden durch Flachsfasern oder Gummiharz verschlossen. Anschließend wurde der Kopf gekocht und dann über einem Feuer geräuchert. Nach dem Trocknen, das mehrere Tage dauerte, wurde der Kopf zum Schluss mit Haifischöl eingerieben. Den Unterschied, ob es sich um eine Trophäe oder um einen Angehörigen handelte, konnte man anhand des Mundes erkennen. War dieser in der Mitte zugenäht, handelte es sich um eine Kriegstrophäe, waren die Mundwinkel

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Abb. 2  Stück Cf22 aus der Sammlung des Anatomischen Instituts.

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Abb. 3  Objekt Cf22 aus der Sammlung des Anatomischen Instituts, Neuseeländer, Männerkopf von Eingeborenen präpariert, Geschenk von Dr. Robert, rückwärtige Ansicht.

nach oben genäht, sollte dies den lächelnden Angehörigen darstellen. Leider lässt sich heute nicht mehr genau feststellen, ob es sich um einen ursprünglichen oder um einen später hergestellten Kopf handelt, denn mit der Kolonialisierung Neuseelands wurde der Mokomokai zum Handelsobjekt. Er diente den Maori als Tauschobjekt, das die Europäer gerne in die Heimat mitbrachten. Hierbei wurden jedoch weder Angehörige noch Krieger benutzt, stattdessen nahm man Sklaven, tätowierte und tötete sie anschließend.18 Besonders auffällig an dem Stück ist auch die Haut, sie weist eine gleichmäßige glatte Oberfläche und eine große Anzahl an Tätowierungen auf. Diese überziehen fast alle Regionen des Gesichtes bis auf die stark hervorstehenden Wangenknochen. An dieser Stelle des Gesichtes scheint die Haut wie gebleicht, denn sie ist heller und enthält kaum Farbe.

Die Kultur der Maori Die Kultur der Maori ist geprägt von dem Glauben an die Ahnen, der starken Verbindung mit dem Land und einem reichen Schatz an Mythen. Das große Problem für die Forschung

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Abb. 4  Objektständer von Object Cf22.

liegt in dem Faktum, dass die Maori lange Zeit ihre Mythen und Geschichten lediglich mündlich weitergegeben haben und dadurch viele von ihnen mit der Zeit verschwanden. Erst mit der Kolonialisierung kam es zu einer teilweisen Verschriftlichung ihrer Kultur und einiger Sagen,19 wie die Besiedlung „Aotearoas“ („Land der langen weißen Wolke“, der Name der Maori für Neuseeland)20 oder die Entstehung der Mokos, der auffälligen Tattoos, die auch an diesem Objekt klar zu erkennen sind. Das Moko wird von den Männern im Gesicht, auf den Oberschenkeln sowie auf dem Gesäß getragen. Das Moko im Gesicht ist dabei am prägnantesten, denn der Kopf gilt bei den Maori als wichtigster Körperteil. Die Frauen tragen nur auf dem Kinn ein Moko. Das Moko hat verschiedene Funktionen, so sollte es die Gesichtszüge des Trägers verstärken, Feinden Angst einflößen und eine Visitenkarte des Trägers darstellen. So durfte zum Beispiel nur ein hochrangiger Adliger oder Stammeshäuptling Ornamente auf der Stirn tragen, Zeichen auf der Mitte der Stirn waren Priestern vorbehalten. Außerdem konnte man anhand der Muster die Stammeszugehörigkeit des Trägers erkennen. Dieses Wissen ist heute jedoch zum größten Teil verloren gegangen. Tätowiert wurde mit einem spitzen Meißel, der die Haut aufschnitt, in die offenen Stellen wurde dann ein spezieller Pflanzensaft geträufelt, der für eine starke Schwellung aber auch für das Hinterlassen der einzelnen Formen und Farben sorgte.21 Bei dem Exemplar der Rostocker Sammlung scheint es sich um die Überreste eines Angehörigen zu handeln, da der Mund nicht in der Mitte zusammengenäht ist. Die Linien auf der Stirn (Tiwhana) deuten seine gehobene Stellung an, jedoch ist die Mitte leer, so dass wir nicht von einem Priester ausgehen können. Am Ende der Augenbrauen ist ein Kringel zu erkennen (Rewah), der die Person als Mitglied eines Rates kennzeichnete. Die Ornamente kurz vor dem Ohr (Putaringa) deuten die Herkunft der Eltern an sowie aus welcher Ehe der Verstorbene stammt. Die Spirale am Kiefer (Riparipa) zeigt, dass er bereits von Geburt an einen höheren Stand hatte. Die Muster auf seinem Nasenrücken (Poniania) zeigen seine Position im Unterstamm sowie seine Stellung als Erstgeborener. Die Spiralen links und rechts an den Nasenflügeln (Hupe) sind Zeichen eines Kriegers, wobei die Anzahl der Spitzen, die in Richtung der Nase deuten, einen Hinweis auf seinen Stamm sind. Die Strahlen, die die Nase mit dem Unterkiefer verbinden (Tapawaha), dienen als Verstärkung der Lachfalten. Die Zeichnung auf dem Kinn (Kawae) ist die persönliche Identifikation und somit der Rang des Trägers.22 Nimmt man nun den Schädel aus der Halterung, stellt man fest, dass dieser nicht einfach nur auf diesem Holzsockel liegt, sondern durch einen metallenen Stab, an dessen Spitze sich Kork befindet – dieser war einst wohl fest mit dem Hinterhauptsloch verbunden und bot dem Schädel einen stabilen Halt –, befestigt ist (Abb. 4).23 Noch ein anderes Detail tritt nun zu Tage, an den Stab gelehnt sieht man eine kleine Papiertüte. Diese ist am oberen Ende aufgerissen, was es unmöglich macht, den Hersteller zu entziffern. Da-

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runter findet sich jedoch klar zu erkennen der Ausdruck: „Mexiko“ mit dem Bild einer Person, die einen Sombrero und einen Poncho trägt. In der Hand hält sie einen Stab. Erst die Produktbeschreibung am unteren Rand der Packung gibt einen Aufschluss darüber, worum es sich handelt: „gegen Motten mit aromatischen Kräutern und Paradichlorbenzol Gebrauchsanweisung umseitig“. Die „Sammler“ hatten also großen Wert auf die Unversehrtheit des Objektes gelegt. Anhand des Bildes und des bereits vergilbten Papieres kann man davon ausgehen, dass es sich um eine sehr alte Papiertüte handelt. Eine genaue Datierung lässt sich anhand des Stückes jedoch nicht ableiten. Auch die Datierung des gesamten Objektes ist kaum möglich, zwar ist der Name der Person, die das Stück in die Sammlung gebracht hat, „Dr. Robert“, bekannt, doch lässt sich daraus auf keine zeitliche Einordnung schließen. Nähere Hinweise auf die Anschaffung anderer Stücke lassen sich in wenigen Fällen den Jahresberichten des Instituts für Anatomie aus den Jahren 1872/73 bis 1894/95 entnehmen, in denen sich immer ein Absatz mit der Anschaffung oder den Schenkungen ethnologischer Stücke beschäftigt. Im 20. Jahrhundert scheint der Ethnographischen Sammlung kein allzu großes Interesse von Seiten des Anatomischen Instituts mehr zugekommen zu sein. Es findet sich lediglich noch ein Eintrag 1943/44 darüber, dass „besondere und osteologische Stücke“ der Sammlung aus Angst vor Kriegsschäden in Schulen in der Nähe von Tessin ausgelagert wurden.24 Einen weiteren Hinweis bieten Fotos vom 550-jährigen Universitätsjubiläum 1969, bei dem einige der Schädel für eine Ausstellung im Institut für Anatomie präsentiert wurden.25

Schätze aus Afrika Schaut man sich weiter in der Vitrine um, stößt man noch auf weitere interessante Schädel, die bis auf wenige Stücke mit einem Pappschild ausgestattet sind. So finden sich hier Schädel aus Afrika, wie zum Beispiel: „Cd 35 Bergdamar Deutsch-­Süd-­West-­Afrika, ein Geschenk von Dr. Driksen Marienstabsarzt II . ddt. 1890“. Bei Bergdamar handelt es sich um ein Siedlungsgebiet im heutigen Namibia. Ungeklärt ist jedoch bisher, was die römische Ziffer bedeutet. Das „ddt.“ steht für das lateinische Wort „dedit“ (er hat gegeben). In diesem Zusammenhang könnte die römische Ziffer auf die Anzahl der geschenkten Stücke hindeuten. Auch der: „Cd20 Hottentott, Deutsch-­Südwest-­Afrika linkes Jochbein unten fehlt ganz, rechts teilweise“ stammt aus diesem ehemaligen deutschen Kolonialgebiet. Deutsch-­Südwestafrika wurde 1884 zum ersten Kolonialgebiet des Deutschen Reiches. Das Land war weitläufig und mit knapp 200.000 Einwohnern eher dünn besiedelt. Die Kolonialregierung konfiszierte 70 % des Landes, um sie deutschen Bauern zur Verfügung zu stellen, was dazu führte, dass bis zum Ersten Weltkrieg 14.000 europäische Siedler (12.000 davon aus dem Deutschen Reich) in dem Kolonialgebiet ansässig wurden. Das Land war jedoch karg und bot lediglich die Möglichkeit von Viehzucht. Erst 1907 entdeckte man den lukrativen Abbau von Kupfer und 1908 von Diamanten, wodurch das Kolonialgebiet zwar den höchsten Privatgewinn ausschüttete, die Regierung jedoch aufgrund von Eisenbahnbau und Kriegseinsätzen große Verluste einbüßte. Zu Beginn profitierte die neue Herrschaft von den Spannungen zwischen den Volksgruppen der Herero und Nama, die ihrerseits versuchten, die neue Regierung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Jedoch blieb es nicht bei der friedlichen Übernahme: Als es 1897 zu einer Rinderpest kam, infolge derer viele Herero ihre wirtschaftliche Grundlage verloren, wurden sie gegenüber den deutschen Siedlern abhängig, was immer wieder zu Aufständen bis hin zum Krieg zwischen 1904 und 1907 führte.26 Der Krieg endete in einer Dezimierung der Volksgrup-

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pen: Von ca. 80.000 Hereros gab es laut einer Volkszählung von 1911 noch 15.000 und die Gesellschaft der Nama verlor knapp die Hälfte ihrer Mitglieder (von 20.000 blieben knapp 10.000). Die Regierungstruppen hingegen hatten mit 1.500 Toten (von 14.000) nur minimale Verluste.27

Der südamerikanische Teil der Sammlung Nimmt man die Vitrine weiter in Augenschein, ist gut zu erkennen, dass ein Großteil der anderen Schädel aus Südamerika stammt. Ein Beispiel ist das Objekt: „Ce 32 Ureinwohner von Chile“. Wie dieser Schädel seinen Weg nach Rostock fand, konnte bisher noch nicht ermittelt werden. Die Besonderheit liegt im Vorhandensein von Hautstücken und Haaren, da dieser Aspekt den meisten Objekten der Sammlung fehlt. Eine weitere Auffälligkeit ist der Objektfuß. Hier handelt es sich nicht um einen hölzernen Fuß, sondern um eine schwarz lackierte Holzplatte, die auf vier Füßen steht; in der Mitte der Platte sieht man den Schädel, der mit Hilfe von Haken fest mit dem Untergrund verbunden ist, vor ihm wurde das Pappschild mit der Objektbeschreibung befestigt. Ob die unterschiedliche Aufbewahrungsart auf das Fehlen des Unterkiefers zurückzuführen ist oder einen anderen Grund hat, bleibt zu diskutieren. Neben Chile ist Peru besonders stark in der Sammlung vertreten. So sind zwei peruanische Schädel im Besitz des Anatomischen Instituts, die laut Inventarliste ein Geschenk vom Großherzog Friedrich Franz gewesen sein sollen. Da Friedrich Franz II . auch einige Stücke aus Ägypten, auf die später noch einmal eingegangen wird, beschafft hatte, liegt die Vermutung nahe, dass dieser auch die oben erwähnten Schädel in die Sammlung brachte. Zwei weitere Schädel sind ein Geschenk Dr. Beselins, bei ihnen ermöglichen uns die Jahresberichte des Anatomischen Instituts eine etwas genauere zeitliche Einordnung. In dem Bericht aus dem Jahre 1885/86 wird diese Schenkung erwähnt, beide Schädel sollen von einer Ausgrabung bei Tacna, einer Region ganz im Süden von Peru stammen. Auch die von Dr. Runkwitz übergebenen Schädel, die er auf dem Totenfeld von Ancon, nördlich von Lima, ausgegraben hatte, werden in den Jahresberichten 1887/88 und 1888/89 erwähnt.28 Macht man sich nun auf den Weg zu den drei großen Vitrinen, stößt man unterwegs auf eine weitere Besonderheit. In einem Glasschrank sieht man eine mumifizierte Gestalt, die in einer Ecke des Glaskastens zu kauern scheint. Hierbei handelt es sich um eine Hockmumie aus Peru. In einer Notiz des Chirurgen und Medizinhistorikers Walter von Brunn (1876 – 1952)29 an den Rostocker Anatom Curt Elze (1885 – 1972)30 aus dem Jahre 1936, die sich ebenfalls in dem Schrank findet, berichtet dieser über einen Brief von Sanitätsrat Dr. Carstens an seinen Vater Albert von Brunn (1849 – 1895)31. Aus Dankbarkeit gegenüber seinem Lehrer habe Carstens die Hockmumie für die Anatomische Sammlung an Albert von Brunn geschickt. Mumifizierung spielte besonders in den südamerikanischen Gebieten, vor der Eroberung durch die Spanier, eine große Rolle. Dies kann unter anderem an den, aufgrund der Landschaft natürlich guten Bedingungen für den Erhalt organischen Materials liegen. Hervorzuheben sind hier sowohl die Wüstenregionen am Pazifik als auch die Höhenkämme in den Anden. Die Kultur der Mumifizierung konnte sich dabei jedoch nur entwickeln, weil die Region für die Gründung von Hochkulturen sehr günstig war. Bis heute gibt es zwei Arten der Mumifizierung, die künstliche und die natürliche. So fand man zum Beispiel auf 4.000 Metern Höhe mehrere Körper, die keinerlei Hinweise auf eine künstliche Mumifizierung zeigten. Doch auch diese, ebenso wie die künstlich mumifizierten, tragen

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ein gemeinsames Kennzeichen. Bei beiden sind die Körper in einer zusammengekauerten Position, also in der Hocke, aufbewahrt. Die natürliche Mumifizierung entsteht etwa durch den Ausschluss von Sauerstoff oder durch Austrocknung. In beiden Fällen werden die im Körperinneren stattfindenden Fäulnisprozesse gestoppt. Bei der künstlichen Mumifizierung wurden zuerst alle inneren Organe entfernt und der Körper danach über einem Feuer konserviert. Er wurde dann in einer hockenden Position fixiert und meist mit zahlreichen Lagen aus unterschiedlichen Gewebearten umwickelt. Dabei unterscheiden sich sowohl die Menge und Qualität der verwendeten Stoffe sowie die Art der Grabbeigaben sehr stark und deuten meist auf die Stellung der Toten hin. Es bleibt bis heute umstritten, ob die ärmere Bevölkerung auch künstlich oder doch nur natürlich mumifiziert wurde.32

Die Vitrine am Eingang Erreicht man die Vitrinen am Eingang, fallen zwei Schädelgruppen ins Auge, zum einen sieben etruskische Schädel, deren Herkunft aus einem, der Inventarliste beigelegten Brief entnommen werden kann. Sie wurden zwischen 1881 und 1882 aus Gräbern in Corneto Tarquinia an der Westküste Italiens ausgegraben. Die Universität kaufte diese 1882 für ihre Sammlung. Diese Schädel wurden vermessen und die Ergebnisse 2004 unter dem Titel „The Etruscan skulls of the Rostock anatomical collection – How do they compare with the skeletal findings of the first thousand years B. C.?“ 33 veröffentlicht. Zum anderen sieht man ägyptische Mumienschädel sowie einen mumifizierten Fuß, welche der Großherzog Friedrich Franz II . von seiner Reise 1871/72 mitbrachte und der Sammlung schenkte. Die Herkunft dieser Schädel ist jedoch noch nicht vollständig aufgeklärt. In den Aufzeichnungen des Instituts findet sich die Angabe, dass diese Schädel aus der „Pyramide des Assarrif “ stammen sollen. Aufgrund der Recherche von Laura Hiepe, einer Mitarbeiterin des Instituts, kann man vermuten, dass es sich hier um einen Übertragungsfehler handeln könnte.34 Der Berliner Ägyptologe Heinrich Brugsch-­Pascha (1827 – 1894), der diese Reise organisiert und begleitet hatte, spricht jedoch in seinem 1855 erschienenen Werk „Reisebericht aus Ägypten“ von einem „Assasif-­Thal“, womit vielleicht Al Asasif, eine Nekropole in Theben gemeint sein könnte.35

Das Umdenken in der Sammlungsforschung Mit dem Verlassen der Sammlung stellt sich nun die Frage, ob es auch dazu kommen kann, dass die Objekte vielleicht einmal diesen Raum verlassen und in ihren angestammten Kulturkreis zurückkehren werden. Handelt es sich bei ihnen um fremde Objekte im bekannten Raum oder um bekannte Objekte im fremden Raum? In einigen Fällen ist der Erwerbskontext klar und somit auch der Umgang mit dem jeweiligen Objekt. Doch dies ist die Ausnahme. Die Begründung liegt darin, dass es weder vor noch nach der Kolonialzeit zu so einem immensen Zuwachs an Sammlungsgut in wenigen Jahrzehnten gekommen ist. Man geht heute davon aus, dass die Hälfte aller Bestände, die bis 1918 ihren Weg in deutsche Sammlungen fanden, einem kolonialen Kontext entstammte. Somit ist auch die Entstehung von Ethnographischen Museen meist an diese Güter geknüpft, wenn durchaus auch andere Museumstypen wie die Anatomischen Sammlungen, Naturkundemuseen oder Archäologischen Sammlungen vom Export profitierten. Aufgrund dieser enormen Menge an Objekten ist es nicht weiter verwunderlich,

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dass viele bis in die heutige Zeit unentdeckt in den Museumsdepots lagern und nun langsam zu Tage treten und erforscht werden müssen.36 Auch die Provenienzforschung 37 ist am Umdenken und muss sich jetzt nicht nur mit Objekten, sondern vor allem kritisch mit der europäischen Wissenschaftsgeschichte auseinandersetzen. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass im deutschsprachigen Raum Kriegsbeute und menschliche Überreste als sensible Objekte bezeichnet werden, da der Umstand ihres Erwerbs nicht geklärt ist.38 Aus dieser Problematik heraus hat sich eine neue Debatte geformt: die Frage um die „Human Remains“. 2013 entstand der erste Versuch des Deutschen Museumsbundes, eine Art Leitfaden mit „Empfehlungen zum Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen“ 39 zu erstellen. Sie stützten sich dabei auf die „Guidance for the Care of Human Remains in Museums“ 40 und die „Empfehlung zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen“, die 2003 von der Bundesärztekammer 41 herausgegeben wurde.42 Unter „Human Remains“ versteht man „[…] alle körperlichen Überreste, die der biologischen Art Homo sapiens zuzurechnen sind.“ 43 Hier wird nicht unterschieden, ob diese Stücke bearbeitet wurden oder nicht, ebenfalls konservierte Präparate fallen darunter. Auch zeremoniell genutzte Gegenstände, in die zum Beispiel Knochen eingearbeitet wurden, werden als „Human Remains“ gewertet. Nicht dazu gehört alles, was zwar einst mit dem Toten in Verbindung gebracht werden konnte wie Totenmasken, Fotographien oder Grabbeigaben, jedoch keine menschlichen Überreste enthalten.44 Damit verbunden ist der „Unrechtskontext“, der versucht zu klären, unter welchen Bedingungen der Erwerb stattfand und ob dieser rechtmäßig war. Dabei fällt die Erstellung einer genauen Richtlinie schwer, da zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Kulturen andere Wertvorstellungen vorherrschten.45 Die Debatte über die Zurückgabe ist nicht neu: Bereits 1970 gab es erste Rückgabeforderungen, und so ist es nicht verwunderlich, dass ehemalige Kolonien wie die USA , Kanada, Australien und Neuseeland, wo die Siedler bis heute Tür an Tür mit den Ureinwohnern leben, seit 1990 um Regelungen bemüht sind. Die USA verabschiedeten 1990 das sogenannte „Native American Graves Protection and Repatriation Act“, in dem festgelegt wurde, dass öffentlich finanzierte Museen und Sammlungen eine Bestandsliste veröffentlichen müssen, anhand derer die Ureinwohner sich entscheiden konnten, welche Stücke sie zurückfordern wollen. Bis heute gibt es außerdem den „traditional care“, die zum einen versucht, die Stücke gemäß der ehemaligen Traditionen auszustellen, und zum anderen die Möglichkeit bietet, dass Zeremonialobjekte für den zeitgenössischen Umgang in der Kultur ausgeliehen werden können.46 Auch in Bezug auf die Mokomokai ist bekannt, dass diese bis heute von den Maori als wichtige Relikte ihrer Ahnen betrachtet werden und es vermehrt zu Rückholaktionen kommt.47 Somit ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Stücke der Rostocker Sammlung entweder mit einem unproblematischen Erwerbskontext in ihrer Vitrine verbleiben oder ihren Weg in ihre kulturelle Heimat antreten werden.

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Deutscher Museumsbund 2013, S. 13. Karl Friedrich Quittenbaum im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00000501 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Wegner 1917, S. 11 und 122 – 124. Friedrich Merkel im Catalogus Professorum Rostochiensium, NDB 1994, unter http://purl.uni-­rostock. de/​cpr/00000588 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Entnommen aus der Personalakte von Friedrich Merkel aus dem UAR. Zimmermann 1994, S. 145 f. und online unter https://www.deutsche-­ biographie.de/gnd116892951. html#ndbcontent (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Schumacher/Wischhusen 1970, S.  205 – 207. Zimmermann 1994, S. 145 f. Wegner 1917, S. 145. Siehe Abb. 1. Deutscher Museumsbund 2013, S. 13 f. Hanke 2007, S. 13. Ehemalige Deutsche Kolonien in Afrika unter http://www.safrika.org/ colony_de.html (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Statistische Angaben zu den deutschen Kolonien unter https://www. dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/ aussenpolitik/statistische-­angaben-­ zu-­den-­deutschen-­kolonien.html (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Conrad 2016, S. 22. Ebd., S. 38. Siehe Abb. 2.

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Loth 2015, S. 55 und 77. Ebd., S. 4. Ebd., S.  12 – 15. Madeheim 2014, S. 5 f. Loth 2015, S. 42 f. Siehe Abb. 3. Siehe dazu Aktenbestände des Universitätsarchivs Rostock, 4.02.02: Jahresberichte 0567, 1852 – 1918 und 0568, 1930 – 1943. Die Fotos sind zu finden im UAR 8.03.2: Fotos Veranstaltungen 004732, 004734 – 36. Conrad 2016, S. 29 f. Ebd., S. 53. Siehe dazu Aktenbestände des Universitätsarchivs Rostock, 4.02.02: Jahresberichte 0567, 1852 – 1918. Eintrag von Walter von Brunn im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00003454 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Eintrag von Curt Elze im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock.de/ cpr/00000546 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Eintrag von Albert von Brunn im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00002495 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Tellenbach/Tellenbach 2015, S.  111 – 113. von Claasen/Wree 2004, S. 157 – 163. Die Informationen von Frau Hiepe sind in der Vitrine hinterlegt.

35 Vgl. Bissing, Friedrich Wilhelm Freiherr von: Brugsch-­Pascha, Heinrich in: NDB 2,1955, S. 667 f. und online unter https://www.deutsche-­ biographie.de/gnd118674676. html#ndbcontent (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 36 Förster 2016, S. 156 – 158. 37 Diese Forschung beschäftigt sich mit der Frage nach der Herkunft von Kulturgütern oder Kunstobjekten. 38 Förster 2016, S. 159. 39 Deutscher Museumsbund e. V. 2013. 40 Guidance for the Care of Human Remains in Museums unter http:// webarchive.nationalarchives.gov. uk/+/http://www.culture.gov.uk/ images/publications/GuidanceHumanRemains11Oct.pdf (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 41 Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen unter https://www.aerzteblatt. de/archiv/38021/Mitteilungen-­ Empfehlungen-­zum-­Umgang-­mit-­ Praeparaten-­aus-­menschlichem-­ Gewebe-­in-­Sammlungen-­Museen-­ und-­oeffentlichen-­Raeumen (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 42 Deutscher Museumsbund e. V. 2013, S. 6. 43 Ebd., S. 9, Z. 16 f. 44 Ebd., S. 9. 45 Ebd., S. 10 f. 46 Förster 2016, S. 161. 47 Schlott 2015, S. 133.

Ein Rundgang durch die ­Ethnographische Sammlung des Instituts für Anatomie

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Literaturverzeichnis Quellen

Onlinenachweise

UAR 4.02.02: Jahresberichte 0567, 1852 – 1918. UAR 4.02.02: Jahresberichte 0568, 1930 – 1943. UAR 8.03.02: Fotos Veranstaltungen 004732, 004734 – 36. UAR : Personalakte Friedrich Merkel.

Albert von Brunn im Catalogus Professorum Rostochiensium, URL : http://purl.uni-­rostock.de/cpr/00002495 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Bissing, Friedrich Wilhelm Freiherr von: Brugsch-­Pascha, Heinrich in: NDB 2,1955, S. 667 f. und online unter https://www.deutsche-­biographie.de/gnd118674676. html#ndbcontent (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Curt Elze im Catalogus Professorum Rostochiensium, URL : http://purl.uni-­rostock.de/cpr/00000546 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Friedrich Merkel im Catalogus Professorum Rostochiensium, URL : http://purl.uni-­rostock.de/cpr/00000588 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Karl Friedrich Quittenbaum im Catalogus Professorum Rostochiensium, URL : http://purl.uni-­rostock.de/ cpr/00000501 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Walter von Brunn im Catalogus Professorum Rostochiensium, URL : http://purl.uni-­rostock.de/cpr/00003454 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Zimmermann, Volker, Merkel, Friedrich in: NDB 17 (1994), S. 145 f., URL : https://www.deutsche-­biographie.de/gnd116892951. html#ndbcontent (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). „Ehemalige Deutsche Kolonien in Afrika“ unter http://www. safrika.org/colony_de.html (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). „Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen“ unter https://www.aerzteblatt. de/archiv/38021/Mitteilungen-­Empfehlungen-­zum-­ Umgang-­mit-­Praeparaten-­aus-­menschlichem-­Gewebe-­ in-­Sammlungen-­Museen-­und-­oeffentlichen-­Raeumen (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). „Guidance for the Care of Human Remains in Museums“ unter http://webarchive.nationalarchives.gov.uk/+/ http://www.culture.gov.uk/images/publications/ GuidanceHumanRemains11Oct.pdf (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). „Statistische Angaben zu den deutschen Kolonien“ unter https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/ aussenpolitik/statistische-­angaben-­zu-­den-­deutschen-­ kolonien.html (letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

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Der Rostocker Absolvent Max Girschner (1861 – 1927) als ­Kaiserlicher Regierungsarzt auf der Karolineninsel Pohnpei 1 Marcus Rudolph Ein Matrikelbuch gibt mit seinem Inhalt Zeugnis darüber ab, welche Frauen und Männer im Verlauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte an einer Universität studiert haben. Darunter finden sich in der Regel bedeutende und weniger bedeutende, prominente und weniger prominente Studierende. Der rot umrandete Abschnitt auf der hier wiedergegebenen Seite aus dem Matrikelbuch der Universität Rostock vom Wintersemester 1885 ist eines der wenigen Zeugnisse des Alumnus Max Girschner an seiner Almer Mater (Abb. 1). Auch wenn der zeitweilige Kaiserliche Regierungsarzt heute wohl nur noch wenigen bekannt sein dürfte, zeigt sein Werdegang beispielhaft jene Möglichkeiten, die sich ändernde politische Gegebenheiten – in seinem Falle der Erwerb von überseeischen Besitzungen durch das Zweite Deutsche Kaiserreich – mit sich bringen können: Auf diese Art und Weise wurde es einem mecklenburgischen Landarzt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert möglich, für mehr als eine Dekade beruflich und privat auf der Karolineninsel Pohnpei 2 im Pazifik Fuß zu fassen. Zudem steht Max Girschner mit seinen völkerkundlichen Beiträgen exemplarisch für die Möglichkeit, in einer sich theoretisch entwickelnden, jedoch noch am Beginn des eigentlichen Findungsprozesses stehenden Fachdisziplin auch ohne entsprechende akademische Ausbildung relevante Beiträge leisten zu können. Die Anstellung als Kaiserlicher Regierungsarzt zwischen 1899 und 1914 machte Girschner zu einem Vertreter der deutschen Tropenmedizin, einer damals noch neuen medizinischen Teildisziplin, die sich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer mehr als eigenständiges Fach etablierte. Dabei stellte die „bakteriologische […] Hygiene“ 3 Kochs u. a. einen entscheidenden wissenschaftlichen Ausgangspunkt dar. Zudem entwickelte sich in den 1880er- und frühen 1890er-­Jahren unter dem Einfluss der Deutschen Kolonialgesellschaft eine ideologisch aufgeladene und bald unzeitgemäß (und bisweilen auch unwissenschaftlich) wirkende „Akklimatisierungsforschung“ 4, die sich fast ausschließlich mit der Frage der Expansion der weißen Rasse in den Tropen befasste. Die Etablierung der Tropenmedizin geschah – wie die eigentliche koloniale Expansion – im Wettlauf mit anderen europäischen Mächten. Bis 1900 fehlte dem Kaiserreich jedoch eine zentrale tropenmedizinische Forschungs- und Ausbildungsstelle.5 Die wissenschaftlich tätigen Tropenmediziner, aber auch die vor Ort eingesetzten Schutztruppen- und Regierungsärzte unternahmen dennoch auch vor 1900 zahlreiche Anstrengungen, um in der kolonialen Peripherie eine zumindest rudimentäre medizinische Infrastruktur aufzu-

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Der Rostocker Absolvent Max Girschner als ­Kaiserlicher Regierungsarzt auf Pohnpei 

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Abb. 1  Eintrag von Max Girschner im Matrikelbuch der Universität Rostock vom 20. Oktober 1885.

bauen, von der in der deutschen Eigenwahrnehmung v. a. die einheimische Bevölkerung profitierte. Primär aber diente die Implementierung eines funktionsfähigen medizinischen Versorgungsnetzes den wirtschaftlichen Interessen des Kaiserreichs. Dabei trat ab 1907 mit der Gründung des Reichskolonialamtes unter Bernhard Dernburg die Erhaltung einheimischer Arbeitskraft ins Zentrum der Überlegungen, stellte diese doch einen „bedeutsame[n] Kapitalwert“ 6 dar. Die Tropenmedizin erlebte daher in den folgenden Jahren den Versuch einer zunehmenden Vereinnahmung bzw. einer Neuausrichtung aus den eigenen Reihen im Sinne kolonialökonomischer Interessen, wobei auch rassenhygienische Vorstellungen eine gewichtige Rolle spielten.7 Nach dem Ersten Weltkrieg rekurrierte man im Rahmen kolonialrevisionistischer Argumentation und Agitation nicht selten auf das in diesem Zusammenhang als ausschließlich positiv dargestellte Wirken der Kolonialverwaltung und der in ihrem Auftrag tätigen Mediziner. Dabei spielten die zum Teil auf tropenmedizinischen Forschungsergebnissen basierenden infrastrukturellen Maßnahmen in den ehemaligen deutschen Kolonien eine zentrale Rolle.8

Biografische Notizen 9 Wie dem Matrikelbuch zu entnehmen ist, wurde Max Girschner am 12. März 1861 in Kolberg in der damaligen preußischen Provinz Pommern geboren. 1883 beendete er mit 22 Jahren das Gymnasium in Belgard 10, trat jedoch nicht sofort das Studium an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock an. Erst zum Wintersemester 1885/86 immatrikulierte sich der inzwischen 24-Jährige.11 Auch wenn bisher eindeutige Zeugnisse für die annähernd zwei Jahre dazwischen fehlen, ist von einem Militärdienst auszugehen,

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denn obwohl Girschner während der Zeit seines späteren Kolonialdienstes nicht dem Militär angehörte (was vor allem für einen Großteil der in den auf dem afrikanischen Kontinent liegenden deutschen Schutzgebieten tätigen Ärzte die Regel war 12), stellte ein abgeleisteter Wehrdienst die Voraussetzung für eine Anstellung im Kolonialdienst dar. Sehr wahrscheinlich leistete er also in dieser Zeit einen Dienst als „Einjährig-­Freiwilliger“ ab, wie es in der preußischen Armee seit 1813 möglich war. Max Girschner war insgesamt ein durchschnittlicher Student.13 Dies zeigte sich bereits bei der „Ärztlichen Vorprüfung“, und auch in der das Studium abschließenden „Ärztlichen Prüfung“ erreichte er im Durchschnitt nur ein „genügend“. Er meldete sich erst nach und nach für die zu absolvierenden Einzelprüfungen an und legte diese über einen Gesamtzeitraum von mehr als zwei Jahren, zwischen Mai 1891 und Juni 1893, ab.14 Nach Erteilung der Approbation begann der Zeit Lebens nicht promovierte 15 Girschner seine Tätigkeit als „praktische[r] Arzt“ 16 in Schönberg 17 in der Praxis von Dr. Max Marung. Weniger als ein Jahr später ließ er sich „zu Neujahr 95“ in Schönberg als „prakt[isch] selbstständiger Arzt“ nieder.18 Bis Juli 1899 war Girschner als „prakt[ischer] Arzt, Wundarzt und Geburtshelfer“ 19 in Schönberg tätig und scheint sich in dieser Zeit eine gute Reputation erarbeitet zu haben. In der Ausgabe des „Schönberger Anzeigers“ vom 18. Juli 1899, in der die Aufgabe der Praxis durch Girschner und die Übernahme einer „Stelle als Regierungsarzt auf den Karolinen“ bekanntgeben wurde, wird er als „kluge[r] und gewissenhafte[r] Arzt“ beschrieben, der zudem ein „uneigennützige[r] und edle[r] Menschenfreund“ gewesen sei.20 Am 22. Juli 1899 verließ er Schönberg und reiste per Schiff zusammen mit Albert Hahl, zunächst Vize- und späterer Gouverneur 21 des Schutzgebietes Deutsch-­Neuguinea, und anderen Kolonialbeamten auf die Insel Pohnpei, wo sie am 11. Oktober 189922 eintrafen. Dort sollte Girschner, mit Unterbrechungen durch längere Heimaturlaube,23 bis 1914 als Regierungsarzt tätig sein. Was Girschner zu diesem Schritt veranlasste, ist schwer zu sagen, zumal Selbstzeugnisse wie Tagebücher o. Ä. fehlen. Möglicherweise kam er bereits während seiner Studienzeit an der Universität Rostock mit „Kolonialpropaganda“ in Kontakt, die damals ein „Gebiet professoraler Aktivität“ gewesen sei.24 In einem Nachruf aus dem „Schönberger Tageblatt“, der anlässlich Girschners Tod im Jahr 1927 erschien, wurde er als „eifriger Vorkämpfer des deutschen Kolonialgedankens“ 25 bezeichnet. Möglicherweise hatte er sich also bereits in seiner Schönberger Zeit entsprechend positioniert und blieb dementsprechend in Erinnerung. Vielleicht meldete er sich aber auch aus Abenteuerlust für den Kolonialdienst,26 auch wenn seine Aufnahme im Jahr 1899 den damals üblichen Gepflogenheiten widersprach, da Girschner zu diesem Zeitpunkt bereits 38 Jahre alt war und damit als zu alt für eine derartige Verwendung galt.27 Nicht zuletzt könnten auch finanzielle Erwägungen eine Rolle gespielt haben. Die Tätigkeit als Regierungsarzt wurde mit einem Jahresgehalt „zwischen 7.200 und 10.000 M[ark].“ 28 vergütet, während im Jahr 1900 im Zuständigkeitsbereich der Ärztekammer Brandenburg/Berlin weniger als 40 Prozent der Mitglieder mehr als 5.000 Mark im Jahr verdienten.29 Unklar ist bisher, ob und wo Girschner eine tropenmedizinische Ausbildung erhielt. Ab 1901 erfolgte die Vorbereitung für den Dienst als Regierungsarzt in den deutschen Schutzgebieten „am Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten in Hamburg, wo jährlich in der Regel zwei größere Tropenkurse für Ärzte“ 30 durchgeführt wurden. Das Institut, welches heute nach seinem ersten Leiter benannt ist („Bernhard-­Nocht-­Institut für Tropenmedizin“), nahm im Oktober 190031 seinen Betrieb auf. Zuvor sollen entsprechende Kurse am „Institut für Infektionskrankheiten“ (dem späteren Robert Koch-­Institut) und

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Abb. 2  Ehepaar Girschner.

am „Orientalischen Seminar“ in Berlin stattgefunden haben.32 Laut Eckart habe vor Gründung des Instituts für Schiffs- und Tropenkrankheiten „gegen Ende des [19.] Jahrhunderts, immerhin 15 Jahre nach dem Beginn deutscher Kolonialherrschaft in Afrika und im Pazifik, [noch] immer […] eine zentrale Koordinationsstelle für Fragen der tropenhygienischen Forschung und Ausbildung“ 33 gefehlt, während Frankreich, Großbritannien und die Niederlande teilweise bereits über mehrere tropenmedizinische Großforschungseinrichtungen verfügten und ihre diesbezügliche Infrastruktur um die Jahrhundertwende weiter ausbauten.34 Es bestehen aber noch einige andere Möglichkeiten, wo Girschner tropenmedizinisches Wissen erworben haben könnte. Möglicherweise ist Hüntelmanns Anmerkung, dass dem Kaiserlichen Gesundheitsamt mit der Gründung anderer Institutionen wie dem Institut für Schiffs- und Tropenkrankheiten „institutionelle Konkurrenz“ 35 erwachsen sei, so zu interpretieren, dass die tropenmedizinische Ausbildung zuvor in dessen Händen gelegen hat. Zudem besteht die Möglichkeit, dass derartige Unterweisungen zunächst durch die sich nach der Reichsgründung in einigen deutschen Ländern konstituierenden Ärztekammern 36 vorgenommen wurden, waren diese doch z. B. im Königreich Preußen für die „Erörterung aller Fragen und Angelegenheiten, welche den ärztlichen Beruf oder das Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege betreffen, oder auf die Wahrnehmung und Vertretung der ärztlichen Standesinteressen gerichtet sind“ 37, zuständig. Weiterhin könnten tropenmedizinische Einführungsveranstaltungen an der „Kaiser-­Wilhelms-­Akademie [sic] für das militärärztliche Bildungswesen“ stattgefunden haben, hatten die Ärzte der Schutztruppen seit 1884/85 doch einen Großteil der medizinischen Versorgung in den afrikanischen Schutzgebieten geleistet und auf diesem Wege entsprechende Expertise erworben. Möglicherweise wurden derartige Kenntnisse an oben genannter Einrichtung auch an Anwärter auf den Posten eines Kaiserlichen Regierungsarztes weitergegeben.38 Max Girschner kam zunächst allein nach Pohnpei. Seine Verlobte Auguste von Huth, die er beim Eislaufen auf dem zugefrorenen Rostocker Stadthafen kennengelernt hatte,39 folgte ihm erst zehn Monate später und erreichte die Insel zusammen mit Robert Koch, der hier Station im Verlauf einer seiner Malaria-­Expeditionen 40 machte. Girschner assistierte Koch bei seinen Forschungen vor Ort und auf der Insel Saipan,41 im Gegenzug war der spätere Nobelpreisträger Trauzeuge bei der Hochzeit des Regierungsarztes mit Auguste von Huth auf Pohnpei (Abb. 2). Später sollen Koch und Girschner einen Briefwechsel gepflegt haben, der bis dato aber noch nicht aufgefunden werden konnte.42 1902 und 1903 wurden schließlich die beiden Töchter Emma und Anna auf Pohnpei geboren.43 Bis zur nahezu kampflosen Übergabe der Insel an die Japaner im Oktober 1914 arbeitete Girschner hier als Regierungsarzt – eine ungewöhnlich lange Dienstzeit, da die meisten Mediziner eine zusammenhängende Dienstzeit von fünf Jahren nicht überschritten.44 Girschner erklärte sich sogar bereit, einige Monate unter der japanischen Verwaltung weiter auf der Insel zu arbeiten, ehe er 1915 zusammen mit seiner Familie nach Deutschland zurückkehrte.45 Hier übernahm er für einige Jahre die Leitung eines Lazaretts in seiner Heimatstadt Kolberg.46 Inwieweit seine berufliche und private Wiedereingliederung in den heimatlichen Alltag gelang, muss dahingestellt bleiben. Paul Staudinger, der sich 1928 nach Girschners Tod in einem Nachruf in den „Mitteilungen aus den Deutschen Schutz-

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gebieten“ insbesondere zu dessen im Abschnitt „Sprach- und völkerkundliche Studien“ noch näher zu besprechender „Ethnographie der Insel Ponape“ äußerte, unterstellt diesbezüglich gewisse Schwierigkeiten und gibt an, dass sich Girschner als „alte[r] Tropenmann“ der „ärztlichen Praxis“ in Deutschland nur unter „sehr schwierigen“ und „gänzlich veränderten“ Voraussetzungen habe widmen können.47 Im Anschluss an die Tätigkeit im Lazarett arbeitete er schließlich als praktischer Arzt in Stolzenburg 48, welches ca. 20 km südlich von Kolberg liegt. Auch hier war Girschner (wie auf Pohnpei) als einziger Arzt in einem größeren Einzugsgebiet tätig.49 Laut „Schönberger Tageblatt“ arbeitete er fünf Jahre als Arzt in Stolzenburg.50 Nachdem 1926 seine Frau Auguste gestorben war verstarb Max Girschner schließlich am 4. September 1927 im Alter von 66 Jahren in Kolberg. Lässt man Girschners berufliche Laufbahn Revue passieren, so fällt auf, dass er in der Regel in kleinen Orten mit wenigen Ärzten (in Schönberg war er einer von dreien) arbeitete oder lange Zeit sogar der einzige Mediziner vor Ort war (auf Pohnpei und in Stolzenburg). Nur wenige Jahre scheint er als Leiter des Kolberger Lazaretts in so etwas wie einer größeren Klinik tätig gewesen zu sein. Wolf Völker bezeichnet Girschner daher – vielleicht nicht ganz zu Unrecht – als „Eigenbrötler“ 51, der Zeit Lebens sowohl „unter dem fehlenden Doktorgrad als auch unter der fehlenden Anerkennung der Ethnologen 52 gelitten“ 53 habe. Ersteres könnte eine weitere mögliche Erklärung für seinen Schritt in die Schutzgebiete gewesen sein: Er habe der deutschen Gesellschaft zu entfliehen versucht und auf Pohnpei ideale Bedingungen vorgefunden. Zum einen war er einer der wenigen „Europäer“ 54 vor Ort, unter denen ihm als Vertreter der deutschen Kolonialadministration und einzigem Arzt zudem eine herausragende Stellung zukam. Zum anderen konnte er hier ungehindert seinem völkerkundlichen Interesse nachgehen, von dem später noch zu berichten sein wird.

Girschners medizinische Tätigkeit auf Pohnpei Max Girschners medizinische Aufgaben auf Pohnpei waren umfangreich. Als einziger Arzt vor Ort war er für das Wohlergehen der Einheimischen und „Europäer“ auf der Insel zuständig. Konsultiert wurde er vor allem in Bezug auf internistische, chirurgische, zahnärztliche und gelegentlich auch geburtshilfliche Fragen. Die Regierungs- und Schutztruppenärzte fassten ihre Tätigkeit in vierteljährlichen Berichten 55 zusammen. Da Girschners Berichte im Bundesarchiv vorliegen, lässt sich ein guter Überblick über seine Tätigkeit auf Pohnpei und deren Schwerpunkte gewinnen. Seine Berichte setzen mit dem 4. Quartal 1899 ein und liegen mit Unterbrechungen bis zum 4. Quartal 1913 vor.56 Für das Jahr 1914 sind keine Berichte überliefert. Möglicherweise sind sie in den Wirren des beginnenden Ersten Weltkriegs verloren gegangen. Trotz allem geben insgesamt 44 Vierteljahresberichte aus Girschners Feder einen guten Überblick über seine Tätigkeit und diverse Herausforderungen. Daneben erschien in den „Medizinal-­B erichten über die Deutschen Schutzgebiete“ 57 jeweils längere Jahresberichte, in denen die Tätigkeitsschwerpunkte der Regierungs- oder Schutztruppenärzte zusammengefasst wurden. Girschner untergliederte seine Berichte häufig (wenn auch nicht immer) in zwei Teile, wobei er im ersten auf aus seiner Sicht bemerkenswerte nichtmedizinische Aspekte zu sprechen kam. Dazu konnten z. B. klimatische Auffälligkeiten wie von den üblichen Werten abweichende Regenmengen,58 ein Erdbeben 59 oder einen Taifun 60 gehören. Den ersten Bericht (über das 4. Quartal 1899) nutze er zudem zu einer Art Bestandsaufnahme und

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informierte seine Vorgesetzten in Berlin sehr umfänglich über den Zustand des Insel-­ Krankenhauses und wies auf bestehende Mängel hin: Das von der spanischen Regierung erbaute Krankenhaus auf der Höhe der von dem Meeresarm aufsteigenden Terrasse gelegen würde auch für Europäer einen passenden Aufenthalt bieten, wenn einige sehr notwendige Reparaturen und Verbesserungen getroffen werden könnten. Die Bauart ist folgende: Auf einem massiven, mit Schießscharten versehenen steinernen Unterbau, erhebt sich der hölzerne mit Wellblech gedeckte Oberbau in Gestalt zweier regelmäßiger Achtecke, die durch einen schmalen Mittelgang verbunden sind. Jede Seite des Achtecks ist vier Meter lang. In jedem dieser achteckigen Räume befindet sich eine Thür, die übrigen sieben Seiten sind mit verschließbaren Luftklappen versehen und ermöglichen so jeder Windrichtung Durchzug. Im ganzen ist Raum gut für achtundzwanzig bis dreißig Betten. Die Mängel bestehen darin, daß das Dach an mehreren Stellen schadhaft ist und dem oft heftigen Regen Durchlaß gewährt. Ferner ist der Fußboden an mehreren Stellen verdächtig morsch. Ein weiterer Übelstand ist der, daß kein gesonderter Raum zur Untersuchung der Kranken, Vornahme von Operationen, Aufbewahrung von Medikamenten, Instrumenten und Gebrauchsgegenständen existiert. Die Spanier hatten einen solchen Anbau geplant, aber nicht ausgeführt, ein rohes Balkengerüst ist noch vorhanden. Aus Mangel an Rinnen wird ferner nur ein kleiner Teil des Daches zum Auffangen von Wasser benutzt; der eine vorhandene Wasserbehälter reicht deshalb für den Bedarf der Anstalt nie aus. Wünschenswert wäre die Herstellung von cementierten Abflußrinnen. Das kleine Kochhäuschen ist in sehr schlechter Verfassung, der Herd ganz unzureichend. Unbrauchbar sind die zwei vorhandenen Aborte, teils weil jede Sitzeinrichtung fehlt, teils weil keine Einrichtung besteht die Fäkalien wegzuschaffen oder wegzuspülen. Des unerträglichen Gestanks wegen habe ich deshalb angeordnet die Anstalt zu schließen. In einem kleinen Nebengebäude wohnt der Malaye welcher zum Dienst im Krankenhause sich in sehr guter Weise eignet. Das Häuschen dürfte nach Vornahme einiger kleiner Reparaturen nicht kostspieliger Art, noch fernerhin zu seinem Zwecke ausreichend sein. […] Über den Vorrath und den noch vorhandenen Bestand an Medikamenten und Verbandstoffen ist zu bemerken, daß dieser in keiner Weise ausreichend ist. Die Schwierigkeit neues Material zu beschaffen und das abgängig gewordene zu ergänzen legen mir die Verpflichtung auf der dringenden Bitte um Sendung einer reichhaltigeren Apotheke Ausdruck zu verleihen.61

Im regelhaft vorhandenen medizinischen Teil der Berichte kam Girschner auf die medizinischen Belange des jeweiligen Quartals zu sprechen. Gelegentlich untergliederte er dieses Kapitel noch in jeweils eigene Unterkapitel für die indigene Bevölkerung und die meist asiatischen Gastarbeiter auf der einen und die „Europäer“ auf der anderen Seite. Girschners Interesse galt zunächst den „epidemieartig“ 62 auftretenden Krankheiten. So herrschte zum Beispiel die Virusgrippe (Influenza 63) vor allem in den Wintermonaten fast jedes Jahr epidemisch auf Pohnpei und führte bei Risikopopulationen wie Kindern 64 gelegentlich auch zum Tod. Dagegen beobachtete Girschner das epidemische Auftreten von Keuchhusten (Pertussis 65) nur bei seiner Ankunft auf der Insel. Danach kam diese Epidemie zum Erliegen 66 und trat laut seinen Berichten nicht wieder auf. Die nicht-­epidemisch auftretenden Infektionskrankheiten unterteilte Girschner in häufige und seltene Krankheiten. Dabei mussten sich die Einwohner der Insel und ihr Arzt mit in europäischen Breiten bekannten Krankheiten, aber auch mit auf dem alten Kontinent nahezu unbekannten Leiden auseinandersetzen. Immer wieder trat auf der Insel z. B. die Syphilis auf. So hören wir bspw. im Bericht für das zweite Quartal 1900 von „4 ältere[n] Fälle[n] von Syphilis“ 67. Bei einem der Betroffenen habe die Krankheit zur „Zerstörung des Nasenbeins“ 68 geführt. Auch im zweiten Quartal 1906 berichtete Girschner von acht Fällen tertiärer Syphilis 69. Dieses Erkrankungsstadium tritt für gewöhnlich erst nach längerer Dauer auf. Daher ist davon auszugehen, dass es sich bei den in den Berichten genannten Kranken häufig um chronische Fälle handelte, die Girschner immer wieder behandelte. Dafür spricht auch die folgende Äußerung aus

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dem soeben zitierten Bericht: „Erstaunlicherweise sind frische Erkrankungen schon seit längerer Zeit nicht mehr vorgekommen.“ 70 Weniger häufig 71 traf man auf Pohnpei die sogenannte Frambösie 72 an. Wie die Syphilis gehört sie zur Gruppe der auf dem Boden schlechter hygienischer Bedingungen auftretenden tropischen Treponematosen 73, da sie von einem Erreger aus der gleichen Gruppe verursacht wird. Im Gegensatz zur Syphilis wird das zentrale Nervensystems jedoch in der Regel nicht befallen. Durch Schmierinfektion übertragen, sind v. a. Kinder betroffen. In der Regel waren die Erkrankten Einheimische oder stammten von benachbarten Inseln. Nur selten waren „Europäer“ betroffen.74 In Girschners Bericht aus dem 4. Quartal 1900 hören wir von „5 Fälle[n] [von] Frambösie“ 75. Und auch im letzten erhaltenen Bericht aus dem 4. Quartal 1913 berichtet Girschner noch immer von dieser Erkrankung, die er bei 101 Patienten diagnostiziert und behandelt hatte.76 Zu diesem Zeitpunkt stand mit dem 1909 von Paul Ehrlich und Hata Sahachirō entdeckten Salvarsan ein ursächlich wirksames Medikament gegen Treponomatosen zur Verfügung.77 Zuvor war nur eine symptomatische Behandlung, z. B. mit Calomel oder Jodkali, möglich gewesen.78 Einen weiteren Schwerpunkt der medizinischen Tätigkeit Girschners machten „mechanische Verletzungen“ 79 bzw. „chirurgische Krankheiten“ 80 aus – darunter insbesondere Knochen- und Weichteilverletzungen: „Außerordentlich zahlreich sind die größeren oder kleineren Verletzungen an Fuß und Unterschenkel bei der fast ausschließlich barfuß gehenden [einheimischen] Bevölkerung.“ 81 Handverletzungen waren hingegen weniger häufig.82 Aus den genannten Verletzungen entwickelten sich nicht selten tiefreichende Substanzdefekte der Haut, sogenannte Ulzerationen. Diese resultierten, wie Girschner beobachtet hatte, auch aus den unzureichenden Kenntnissen der Einheimischen in Hinblick auf die Wundversorgung: Sehr zahlreich waren ferner ulcerative Processe an den verschiedensten Körperteilen. Die Zerstörungen greifen oft nur langsam (Beingeschwüre von zwanzigjähriger Dauer bei mäßiger Ausdehnung), oft aber auch sehr schnell um sich; befallen wird zunächst das Unterhautbindegewebe, dann wird erst die Haut in großem oder geringerem Umfange befallen, und später das intermuskuläre Bindegewebe und die Fascien. Die Geschwüre sind deshalb oft von großer Tiefe; stets sind die Hautränder beträchtlich unterminiert. Durch die große Vernachlässigung oder vielmehr Unkenntnis in der Wundpflege gesellt sich oft häufiger Zerfall zu der Eiterung […].83

Zudem machten akut-­entzündliche Prozesse wie Abszesse, Furunkel und Karbunkel nicht selten ärztliches Eingreifen notwendig: Akut entzündliche Processe erforderten […] chirurgische Behandlung; es befanden sich einige Carbunkel darunter, die schon ganz bedeutende Zerstörungen der Weichteile (bei einer Frau an den Bauchdecken) angerichtet hatten.84

Weniger häufig waren hingegen größere Operationen. Girschners knappe Fallberichte erzeugen jedoch beim Leser häufig Staunen, wenn man bedenkt, in welcher Situation (begrenztes medizinisches Material, wenig ausreichend qualifiziertes Unterstützungspersonal) er die Eingriffe vorgenommen haben muss: Unter Narkose mußte ein Patient operiert werden, der vor zwei Jahren eine Schußwunde durch die Brust empfangen hatte. Das nachfolgende Empyem wurde durch Resektion eines Teils der 5. Rippe rechtsseitig geöffnet.85 Bei einer eingeborenen Frau im mittleren Lebensalter waren durch angeblich schon jahrzehntelang bestehende Verschwürungen [sic] beide Unterschenkel fast gänzlich zerstört; in den einen unerträglichen Verwesungsgeruch ausströmenden Geschwüren waren zahlreiche Fliegenlarven zu bemerken. Es blieb daher nichts anderes übrig, als beide Unterschenkel durch Exarti-

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kulation in den Kniegelenken zu entfernen. Auf der einen Seite mußte die Kniescheibe mit entfernt werden, um genügend Lappenmaterial zu schaffen. Die Kranke hatte die Operation gut bestanden und die Wunden machen einen zufriedenstellenden Eindruck.86

Regelmäßig musste Girschner zudem zahnärztlich tätig werden. Zahnextraktionen gehörten nahezu in jedem Vierteljahr zu den an ihn herangetragenen Aufgaben. So z. B. auch im 3. Quartal 1906: „Cariöse Zähne wurden zehn extrahiert.“ 87 Zuletzt sei noch kurz auf die Tätigkeit des Regierungsarztes als Geburtshelfer und Gynäkologe hingewiesen. Hin und wieder wurde Girschner zu Geburten hinzugezogen, jedoch meist bei „Europäerinnen“ oder den Frauen asiatischer Gastarbeiter. Einheimische Frauen nahmen seine Hilfe nur sehr selten – und wenn, dann in der Regel in Notfallsituationen – in Anspruch, wie der folgende kurze Ausschnitt aus dem Bericht für das erste Quartal 1906 zeigt: „Partus immaturus 88 mit starker Blutung bei einer Eingeborenen der Mortlokinseln.“ 89 Genauere Erläuterungen blieb Girschner an dieser Stelle allerdings schuldig.

Sprach- und völkerkundliche Studien Im Rahmen seiner Tätigkeit als Kaiserlicher Regierungsarzt kam Max Girschner schnell und regelmäßig mit zahlreichen Einwohnern der Insel Pohnpei in Kontakt, die ihre gesundheitlichen Fragen an ihn herantrugen (Abb. 3). Wie genau die Kommunikation zwischen den neuen Kolonialherren und den Einheimischen in den ersten Wochen und Monaten nach der Inbesitznahme der Insel durch die Deutschen ablief, ist unklar. Allerdings scheint das gegenseitige Verhältnis zunächst nicht belastet gewesen zu sein, was zum einen an Vizegouverneur Albert Hahl lag, dessen „fehlende Scheu vor den Einheimischen […] ihm schnell den Respekt vieler Ponapesen“ 90 einbrachte. Zum anderen erlernte Girschner offenbar recht schnell die Sprache der Einheimischen – und dies offenbar so gut, dass er bereits 1902 im Bericht über das 3. Quartal folgendes mitteilen konnte: Am 22ten September morgends [sic] angeblich zwischen 5 – 7 Uhr wurde im Süden der Insel in der Landschaft Kiti nach übereinstimmenden Aussagen von Weißen und Eingeborenen ein leichtes Erdbeben wahrgenommen. Kein Bewohner der Insel weiß sich eines ähnlichen Vorkommnisses zu erinnern und in der Sprache fehlt die Bezeichnung dafür.91

Girschner war offenbar ein sprachbegabter Mann, der die Pohnpei-­Sprache nicht nur rudimentär, sondern so gut beherrschte, dass er eine derartige Einschätzung treffen konnte. Zudem erleichterten ihm die Sprachkenntnisse den Kontakt zu seinen einheimischen Patienten. Seine Beobachtungen schrieb er nieder und veröffentlichte 1906 in der „Abteilung für Ostasiatische Studien“ der Schriftenreihe „Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen [an der Königlichen Friedrich-­Wilhelms-­Universität zu Berlin]“ eine Abhandlung über die „Grammatik der Ponapesprache“. Auf etwas mehr als 50 Seiten gab Girschner hier seine Erkenntnisse über Grammatik und Lexik der einheimischen Sprache wieder. Der Text ist in drei Teile untergliedert: In der Einleitung äußerte sich Girschner zunächst zur Verbreitung, zu Dialekten und Lauten der Sprache.92 Der Hauptteil besteht aus elf Kapiteln, in denen er Ausführungen zu den unterschiedlichen Wortarten (Substantiven, Verben, Adjektiven usw.) und deren korrekter Anwendung machte.93 Der Text endet mit einem „Anhang über die Satzbildung“ 94. Girschners Abhandlung zeugt vom umfangreichen Verständnis über die inneren Zusammenhänge der einheimischen Sprache, welche er im Lauf der Jahre gewonnen hatte. Er ließ

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es nicht bei einer reinen Vokabelliste bewenden, mit der eine einigermaßen adäquate Verständigung mit den Einheimischen vermutlich möglich gewesen wäre, sondern ging ins Detail. So finden wir zum Beispiel konkrete Aussagen über die „Konjugation eines Zustandspartizipiums“ 95 und viele andere Regeln, die er wohl nur mit einem sehr guten Sprachverständnis und genauer Beobachtung beziehungsweise Befragung in jahrelanger Arbeit in Erfahrung bringen und systematisieren konnte. Doch Girschners Interesse war nicht allein auf die Sprache der einheimischen Bevölkerung begrenzt. Er interessierte sich für ihre gesamte Kultur. Bevor er jedoch ein groß angelegtes Werk in dieser Hinsicht verfasste (bzw. seine wahrscheinlich über viele Jahre gesammelten Erkenntnisse systematisierte und niederschrieb), veröffentlichte er zunächst eine Abhandlung über „Die Karolineninsel Namoluk 96 und ihre Bewohner“, die in zwei Teilen 1912 und 1913 im „Baesseler-­Archiv“ erschien. Der erste Teil befasste sich nach einem Vorwort 97 in 13 Unterkapiteln 98 mit der Kultur der Insulaner. Dabei finden sich z. B. Erläuterungen zu den Themenkomplexen „Die Bewohner. Körperbeschaffenheit und Herkunft“ 99, „Stamm. Staat. Familie“ 100 und „Religion“ 101, um nur einige zu nennen. Den zweiten Teil bildete ein die Abhandlung abschließendes sprachliches Kapitel, welches im Aufbau der bereits erwähnten „Grammatik der Ponapesprache“ in verkürzter Form ähnelt. Den Abschluss des sprachlichen Teils bildete ein „Wörterverzeichnis“ 102. Interessant ist, dass der Zeit Lebens nicht promovierte Girschner vermutlich mit diesen Schriften im Jahr 1919 an die Philosophische Fakultät der Universität Rostock herantrat und darum bat, die Texte als Dissertationsäquivalent anzuerkennen. Die Fakultät lehnte sein Ansinnen in Ermangelung eines Ethnologischen Instituts ab, verwies Girschner allerdings an die unlängst gegründete Universität Hamburg.103 Ob er dort einen ähnlichen Antrag stellte, ist ungewiss. Sein großes ethnologisches Werk, die „Ethnographie der Insel Ponape“, brachte Girschner wohl erst nach seiner Rückkehr nach Deutschland vollständig zu Papier. Laut Völker hatte er es im Jahr 1922 vollendet.104 In zwei Bänden (wobei der zweite Band noch einmal in zwei Teilbände untergliedert ist) beschreibt er auf 622 handschriftlichen Textseiten zum einen die „materielle“ 105, zum anderen die „geistige Kultur der Ponapeer“ 106. Dabei untersucht und beschreibt er im ersten Band u. a. Kleidung 107, bevorzugte Nahrungsmittel bzw. traditionelle Speisen und Getränke und deren Zubereitung 108, Werkzeuge und Gerätschaften 109 und alltägliche Beschäftigungen.110 Im ersten Teilband des

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Abb. 3  Max Girschner auf Pohnpei.

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zweiten Bandes finden sich die beiden Großkapitel „Das Familienleben“ 111 und „Stamm und Stammessagen“ 112. Im zweiten Teilband behandelt Girschner u. a. die Themen „Staat und Verfassung“ 113, „Ansichten über den Weltbau. Astronomische Kenntnisse. Zeitrechnung“ 114 und „Götter und Geisterglaube“ 115. Ausführungen zur Sprache und Grammatik beinhaltet ein kurzes Kapitel 116 am Anfang des ersten Bandes. Eine ähnliche Textgliederung finden wir bei Paul Hambruch 117, einem Ethnologen, der 1910 im Rahmen der „Hamburger Südsee-­Expedition“ 118 auf der Insel weilte. Seine Forschungsergebnisse erschienen innerhalb der von Georg Thilenius 119, dem ersten Hamburger Ordinarius für Völkerkunde, herausgegebenen Schriftenreihe „Ergebnisse der Südsee-­Expedition 1908 – 1910“ in drei Bänden zwischen 1932 und 1936.120 Von einer wechselseitigen Beeinflussung der beiden Männer ist auszugehen, da sie zumindest in der Zeit, in der Hambruch auf Pohnpei weilte, sehr wahrscheinlich persönlichen Umgang miteinander hatten. Auch wenn die „Ethnographie“ im Gegensatz zu Hambruchs Text bisher nicht in gedruckter Form 121 vorliegt und in einigen Aspekten 122 heutigen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt, gebührt Girschner doch die Ehre, als erster eine groß angelegte völkerkundliche Abhandlung in deutscher Sprache über die Einwohner der Insel Pohnpei und ihre Kultur verfasst zu haben.

Der Sokehs-­Aufstand Den Umständen geschuldet übernahm Max Girschner auf Pohnpei v. a. während und nach dem 1910/11 stattfindenden Sokehs-­Aufstand Funktionen als leitender Kolonialbeamter, militärischer Befehlshaber, Militärarzt und schließlich auch als Beisitzer bei der sich anschließenden „juristischen Aufarbeitung“ des Geschehenen.123 Beim sogenannten Sokehs 124-Aufstand handelte es sich um das größte Aufbegehren einer einheimischen Volksgruppe gegen die deutsche Kolonialherrschaft im Pazifik. Verkürzt kann man die Ursachen wie folgt zusammenfassen: Seit 1907 hatten sich die Beziehungen zwischen den Einheimischen und den Deutschen verschlechtert. Zunächst hatten die Kolonialherren kaum in das alltägliche Leben der Einheimischen eingegriffen. Nun aber forderten sie Steuern und Arbeitspflichten beim Wegebau ein. Bezirksamtmann Gustav Boeder zeigte sich hier besonders unnachgiebig und rücksichtslos und schürte so den Widerstandswillen der Insulaner. Die Sokehs waren besonders betroffen, da Boeder ihnen 1910 insgesamt 30 Tage Pflichtarbeit auferlegt hatte – als Kompensation für die nach seiner Lesart nicht geleistete Arbeit im Vorjahr.125 Die Lage spitzte sich bis zum 18. Oktober 1910 immer weiter zu. Am Vortag war ein sich verweigernder Sokehs-­Arbeiter mit Stockhieben gezüchtigt worden, woraufhin die Sokehs am Folgetag unter der Führung von Soumadau en Sokehs in den Ausstand traten. Boeder wurde von diesem erschossen, zudem fanden einige seiner Begleiter (ein Sekretär, zwei Aufseher und fünf Ruderer) den Tod.126 Als nun ranghöchster deutscher Beamter vor Ort übernahm Max Girschner die Leitung der Verteidigung des Hauptortes Kolonia gegen die Aufständischen, deren Stärke auf etwa 200 Männer geschätzt wurde. Bis zum 21. Oktober errichtete man provisorische Barrikaden, zudem wurden auf Girschners Bitte hin aus den übrigen Distrikten der Insel etwa 500 Männer, die mit Waffen aus Regierungsbeständen ausgerüstet wurden, zur Unterstützung geschickt.127 Bis auf kleinere Scharmützel blieb ein größerer Zusammenstoß mit den Aufständischen aus. Girschners Leistung bei der Organisation der Verteidigung wurde u. a. von Gouverneur Albert Hahl als positiv bewertet: „[Als der Aufstand losbrach], sammelte Regierungsarzt Dr. [sic] Girschner die wenigen verfügbaren Kräfte und hielt,

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gestützt auf die übrigen treugebliebenen Stämme, gute Wacht, so daß die Aufständischen keinen Angriff wagten.“ 128 Im weiteren Verlauf wurde Girschner, dem neben Hahl auch viele andere Verdienste um die Aufrechterhaltung der Ordnung vor Ort und in Bezug auf die Verteidigung von Kolonia zuschrieben,129 nach dem Eintreffen eines Marinegeschwaders nicht weiter in die militärischen Planungen involviert, was den Regierungsarzt wohl empfindlich traf. Einzig durch seine ärztliche Tätigkeit kam er noch mit den weiteren Vorgängen in Kontakt.130 Bis Mitte Februar ergaben sich die Aufständischen nach diversen Scharmützeln der deutschen Übermacht.131 Am 22. und 23. Februar 1911 wurden 36 Gefangene, darunter der Anführer Soumadau, durch ein Tribunal unter der Leitung Hermann Kerstings 132 abgeurteilt. Diesem gehörte auch Max Girschner an. Der Regierungsarzt fiel als Beisitzer dadurch auf, dass er zwar die Todesstrafe als notwendige Form der Bestrafung nicht in Frage stellte (so wie dies seiner Meinung nach auch die Mehrzahl der Einheimischen nicht tat 133), jedoch für eine Durchführung derselben plädierte, die das einheimische „Rechtsgefühl“ 134 respektierte. Letztlich setzte sich diese Meinung durch und die zum Tode Verurteilten wurden am 24. Februar 1911 durch ein Erschießungskommando hingerichtet.135 Daneben insistierte Girschner mehrfach während der Verhandlung in Hinblick auf eine Strafmilderung für einige der Gefangenen, konnte hier jedoch nur wenig erreichen. Die insgesamt etwa 450 Sokehs wurden auf die Palau-­Inseln verbannt, wo man einen Großteil zur Arbeit in den Phosphat-­Minen zwangsverpflichtete. Viele von ihnen starben, die Geburtenrate ging deutlich zurück. Erst in den 1920er-­Jahren konnten einige Sokehs-­Familien nach Pohnpei zurückkehren, wo große Teile ihres Landes inzwischen an Einwanderer vergeben worden und sie zur kleinsten Volksgruppe geschrumpft waren.136

Schlussbemerkungen Max Girschner war in gewisser Weise ein Mann der beruflichen Extreme. Er verbrachte seine ersten und letzten Berufsjahre in der mecklenburgischen und pommerschen Provinz (Abb. 4), während er zwischen 1899 und 1914 auf Pohnpei in einer weit vom Mutterland entfernten und isoliert liegenden deutschen Kolonie tätig war – und dies mehr als eine Dekade und damit deutlich länger als die meisten seiner Kollegen. Andererseits war er ein akribischer Sammler und Forscher, als dessen bevorzugte Themen sich die Sprache, Kultur und Tradition der Pohnpei-­Isulaner erwiesen. Seine schriftlichen Hinterlassenschaften geben noch heute Einblick in ein Leben, welches im Dienst der Patienten, aber auch der sprach- und völkerkundlichen Kenntniserweiterung stand.

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Abb. 4  Max Girschner nach seiner Rückkehr in Pommern.

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Dieser Text stützt sich maßgeblich auf das bei Drucklegung noch in Bearbeitung befindliche Dissertationsprojekt des Verfassers. Die Insel war damals noch unter dem Namen Ponape bekannt und wurde erst 1984 in Pohnpei umbenannt. Eckart 1990, S. 132. Ebd., S. 131. Vgl. dazu den Abschnitt „Biografische Notizen“. Eckart 1990, S. 134. Ebd., S.  135 – 137. Ebd., S. 130. Ausführliche biografische Informationen sind dem Aufsatz „Max Girschner (1861 – 1927) – ein Leben in Freiheit und Einsamkeit“ von Wolf Völker zu entnehmen. Die Stadt heißt heute Bialogard und gehört heute zur polnischen Woiwodschaft Westpommern. Matrikelbuch der Universität Rostock (WS 1864/65–SS 1888) unter http://rosdok.uni-­rostock.de/​ resolve?id=rosdok_document_​ 000000000181&img&page=​0457 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019); Transkription des Eintrags unter http:// matrikel.uni-­rostock.de/​ id/200007537?_searcher=​48e2f98d​ -05b6 – 4d59 – 9a8b-61fa8b38739c&_​ hit=0 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Emil Steudels Artikel „Der ärztliche Dienst in den Schutzgebieten“ aus den „Beiheften zum Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene“ kann man diesbezüglich folgende Zahlen für das Jahr 1909 entnehmen: Togo: sieben Regierungsärzte, ein Bahnarzt (Bahnbauprojekt Lome-­Atakpame); Kamerun: sieben Regierungsärzte, 15 Militärärzte; Deutsch-­Ostafrika: 39 Militärärzte, drei Regierungsärzte; Deutsch-­Südwestafrika: 25 Militärärzte, daneben „eine größere Anzahl von Privatärzten [, die] eine Regierungsbeihilfe [erhalten]“, Steudel 1909, S. 23 – 29. In den afrikanischen Schutzgebieten waren also 1909 18 Regierungsärzte (sowie eine nicht näher genannte Anzahl von „Privatärzten“) und 79 Militärärzte tätig. Die Informationen aus diesem Abschnitt entstammen der nur mit dem Namen „Max Girschner“ versehenen,

unpaginierten Personalakte aus dem Archiv der Universität Rostock. 14 „Übersicht über den Verlauf der ärztlichen Prüfung“, Personalakte „Max Girschner“, UAR. 15 Weshalb Girschner nicht zum Dr. med. promoviert wurde, ist nicht bekannt. Möglicherweise nahm ihn das Studium derart in Anspruch, dass er keine Zeit für eine Dissertation erübrigen konnte. Genauso gut ist aber denkbar, dass er zum damaligen Zeitpunkt einfach kein Interesse daran hatte. 16 Wöchentliche Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeburg 63 (1893), H. 81, S. 2. 17 Schönberg gehört heute zum Landkreis Nordwestmecklenburg und liegt nahe der Landesgrenze zu Schleswig-­ Holstein, ca. 20 km westlich von Grevesmühlen. 18 Wöchentliche Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeburg 64 (1894), H. 60, S. 3. 19 Ebd. 20 Schönberger Anzeiger 15 (1899), H. 85, S. 1. 21 Hahl war in dieser Funktion ­Girschners direkter Vorgesetzter, denn wie Wolfgang Eckart feststellt, „waren alle zivilen Regierungsärzte zunächst dem Gouverneur des Schutzgebietes gegenüber weisungsgebunden“, Eckart 1997, S. 116. 22 Hahl 1997, S. 116. 23 Wie bei den Sanitätsoffizieren stand den Regierungsärzten nach einer Dienstperiode von z. B. drei Jahren ein längerer Heimaturlaub zu. Paul Kohlstock spricht in seinem Artikel „Ueber die Dienstverhältnisse der in den deutschen Schutzgebieten beamteten Aerzte“ aus der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ von vier Monaten „unter Belassung der vollen Geldbezüge“, Kohlstock 1899, S. 33 f. 24 Völker 2014, S. 3. 25 Schönberger Tageblatt 6 (1927), H. 214, S. 3. 26 Wie Emil Steudel in dem in den „Beiheften zum Archiv für Schiffsund Tropenhygiene“ abgedruckten Beitrag „Der ärztliche Dienst in den deutschen Schutzgebieten“ angab, wurden die Regierungsärzte „aus

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den in Deutschland approbierten praktischen Ärzten, welche sich beim Reichskolonialamt [bzw. bei dessen Vorgängerinstitution, der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes, M. R.] melden, ausgewählt“, Steudel 1909, S. 17. „Jüngere, im Allgemeinen nicht über 35 Jahre alte Ärzte werden bevorzugt, doch sollen sie in der Praxis oder an Krankenhäusern, Kliniken usw. nach der Approbation sich schon betätigt haben.“, Steudel 1909, S. 17. Auch in einer offiziellen Drucksache des Reichskolonialamtes zu den „Körperliche[n] Anforderungen zum Dienste in den deutschen Kolonien“ wird als „beste[s] Alter für die Gewöhnung an das tropische Klima“, welche als zwingende Voraussetzung für den Dienst in einem der deutschen Schutzgebiete angesehen wurde, „zwischen 23 und 30 Jahren“ genannt, BArch R 1001/5867, Bl. 54v. Steudel 1909, S. 18. Huerkamp 1985, S. 214. Steudel 1909, S. 17. Tode/Kompisch 2000, S. 9. Eckart 1990, S. 132. Eckart 1997, S. 80. Eckart 1990, S. 132 f. Hüntelmann 2008, S. 127. Einschränkend muss man hier allerdings hinzufügen, dass in beiden mecklenburgischen Teilherzogtümern bis 1918 keine Vertretung der Ärzteschaft existierte, vgl. diesbezüglich Herold-­Schmidt 1997, S. 53. Falls also entsprechende Kurse angeboten wurden, hätte Girschner diese bei einer benachbarten Ärztekammer (z. B. in Preußen) besuchen müssen. Verordnung, betreffend die Einrichtung einer ärztlichen Standesvertretung, vom 25. Mai 1887, S. 171. Leider konnten bisher keine Hinweise für derartige Kurse an der „Kaiser-­Wilhelms-­Akademie“ aufgefunden werden. Die einschlägigen Abhandlungen legen eher nahe, dass die Einrichtung ausschließlich Kurse für jene Mediziner abhielt, die Angehörige des Deutschen Heeres waren, Schmidt 1995, passim, insb. S. 55 f.

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39 Diese Information erhielt ich dankenswerterweise von Max ­Girschners Urenkelin, Frau Anke Kruse (Güstrow). 40 Vgl. dazu Kochs Berichte über die „Thätigkeit der Malariaexpedition“. Relevant ist in diesem Zusammenhang vor allem der „Schlussbericht“, in dem Girschner namentlich erwähnt und (wie so oft) fälschlich als „Dr. Girschner“ bezeichnet wird, BArch R 1001/5870, Bl. 90. 41 Vgl. dazu Girschners Angaben in seinem Bericht für das 3. Quartal 1900, BArch R 1001/5775, Bl. 21r. 42 Gegebenenfalls befindet er sich in noch nicht durchgesehenen Kisten aus dem Koch’schen Nachlass, die sich laut Wolf Völker im Robert Koch-­ Institut in Berlin befinden sollen, Völker 2014, S. 5. Laut der akribischen Aufstellung von Ragnhild Münch, unter deren Leitung Kochs Nachlass, der v. a. im Robert Koch-­Institut und im Robert Koch-­Museum (welches dem Institut für Mikrobiologie und Hygiene der Humboldt-­Universität Berlin beigeordnet ist) lagert, zwischen 1996 und 2000 erschlossen wurde, finden sich darin keine Briefe von oder an Max Girschner, vgl. das alphabetische Verzeichnis der Briefe bei Münch 2003, S. 324 – 352. Auf Nachfrage bestätigte mir Frau Dr. Münch, dass damals alle Nachlassanteile, die sich in den beiden genannten Einrichtungen befinden, erschlossen worden seien, was die These von möglicherweise unerschlossenen Nachlassanteilen in Frage stellt. Allerdings befindet sich nicht der gesamte Nachlass an den genannten Orten, einige persönliche Korrespondenzen seien im Besitz der Familie Koch verblieben. Zudem ist nicht ausgeschlossen, dass Mitarbeiter Kochs nach dessen Tod thematisch relevante Korrespondenzen an andere Einrichtungen weitergaben. Letztlich ist es möglich, dass der mutmaßliche Briefwechsel zwischen Koch und Girschner nicht mehr existiert (oder auch nie existiert hat). Frau Dr. Münch nannte als illustrierendes Beispiel Kochs Korrespondenz mit Paul Ehrlich, dessen Nachlass sich im Rockefeller Archive Center befindet. Darunter fänden sich jedoch nur sehr wenige Briefe von Koch, ebenso in Kochs Nachlass nur

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wenige Briefe Ehrlichs, obwohl beide über viele Jahre in regelmäßigem brieflichen Kontakt standen. Dies spricht für die These, dass beide möglicherweise vereinbart haben, Briefe mit persönlichen Inhalten nach dem Ableben des Briefpartners zu vernichten bzw. vernichten zu lassen (Frau Dr. Münch bezeichnet dies in einer E-Mail als „frühe Form von Datenschutz“). Möglicherweise hatte sich Koch auf ein ähnliches Vorgehen auch mit anderen Korrespondenzpartnern verständigt. Völker 2014, S. 5. Vgl. dazu die entsprechenden Aufstellungen bei Eckart o. J., S. 9 – 12. Völker 2014, S. 6. Diese Information erhielt Wolf Völker (der sie mir zugänglich machte) von Max Girschners Urenkelin, Frau Anke Kruse (Güstrow). Staudinger 1928, S. 107. Heute Slawoborze, welches ebenfalls in der polnischen Woiwodschaft Westpommern liegt. Völker 2014, S. 6. Schönberger Tageblatt 6 (1927), H. 214, S. 3. Völker 2014, S. 7. Vgl. dazu den Abschnitt „Sprach- und völkerkundliche Studien“. Völker 2014, S. 7. Ein in Girschners Berichten gebräuchlicher Begriff für Menschen mit heller Hautfarbe. Vgl. z. B. den Bericht über das 1. Quartal 1906: Den letzten Abschnitt überschrieb Girschner mit „Die Krankheiten der Europäer“, BArch R 1001/5777, Bl. 50r. Die Berichte wurden im 1899 eingerichteten zentralen Medizinalreferat der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes bzw. (ab 1907) des Reichskolonialamtes ausgewertet und archiviert, Eckart 1997, S. 115 f. Alle Berichte befinden sich in den fünf Akten 5775 – 5779 im Bestand „Reichskolonialamt“ (R 1001) des Bundesarchivs Berlin. Folgende Unterbrechungen der Überlieferung bestehen (für die im folgenden genannten Quartale existieren keine Berichte aus Girschners Hand; kurze Visitationen anderer Inseln oder kurze Vertretungen Girschners an anderen Stellen werden hier nicht berücksichtigt): 4. Quartal 1903 – 2. Quartal 1904 (Grund: Visitation der Marianen

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und anschließender Heimaturlaub), 2. Quartal 1908 – 1. Abschnitt des 1. Quartals 1909 (Grund: Heimaturlaub, vertreten durch Dr. Paul Schnee), 1. Quartal 1912 – 2. Quartal 1913 (Grund: Heimaturlaub, vertreten durch Dr. Josef Mayer). Medizinal-­Berichte 1905 – 1915. „Auch im letzten Vierteljahr dieses Jahres [1902, M. R.] waren die Witterungsverhältnisse von denen der früheren Jahre insofern abweichend, als die Regenmenge im December ganz außergewöhnlich gering war, nämlich nur 269,6 mm, während im Jahre 1901 422,1 mm und im Jahre 1900 543,1 mm gefallen waren.“, BArch R 1001/5776, Bl. 24r. „Am 22ten September morgens angeblich zwischen 5 – 7 Uhr wurde im Süden der Insel in der Landschaft Kiti nach übereinstimmenden Aussagen von Weißen und Eingeborenen ein leichtes Erdbeben wahrgenommen. Kein Bewohner der Insel weiß sich eines ähnlichen Vorkommnisses zu erinnern und in der Sprache fehlt die Bezeichnung dafür.“, BArch R 1001/5775, Bl. 181r. „Am 20. April 1905 zog über Ponape ein schwerer Taifun von Kussai kommend dahin und richtete gewaltige Verwüstungen auf der Insel an. Kein lebender Eingeborener weiß sich eines derartigen Unwetters zu entsinnen, doch geht die Überlieferung, daß vor etwa achtzig Jahren ein langanhaltender Sturm im Verein mit starken Meeresfluten das Land einst gänzlich verwüstet und arge Hungersnot veranlasst habe. Der Sturm […] vernichtete die Waldungen, zerstörte die Hütten der Eingeborenen und sämtlicher Häuser der Kolonie. Auch das alte, noch aus spanischer Zeit stammende Krankenhaus mit seinem neuen Anbau und dem größten Teil des Inventars ging dabei zugrunde.“, Medizinal-­Berichte 1905/06, S. 303 f. BArch R 1001/5775, Bl. 8r–9r. BArch R 1001/5778, Bl. 96r. Vgl. dazu Girschners Berichte für die folgenden Quartale: 4. Quartal 1900, BArch R 1001/5775, Bl. 35r; 4. Quartal 1901, BArch R 1001/5775, Bl. 174v; 4. Quartal 1902, BArch R 1001/5776, Bl. 24v; 4. Quartal 1904, BArch R 1001/5776, Bl. 218r; 4. Quartal 1905, BArch R 1001/5777, Bl. 35v; 4. Quartal 1906, BArch R 1001/5777, Bl. 136v;

Der Rostocker Absolvent Max Girschner als ­Kaiserlicher Regierungsarzt auf Pohnpei 

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4. Quartal 1907, BArch R 1001/5777, Bl. 208r; 4. Quartal 1909, BArch R 1001/5778, Bl. 134; 4. Quartal 1911, BArch R 1001/5779, Bl. 23v. 64 „Influenza. Achtzehn Fälle. Ein erst wenige Tage altes Kind erlag der Krankheit.“, BArch R 1001/5777, Bl. 208. 65 4. Quartal 1899, BArch R 1001/5775, Bl. 4r. 66 „Die bei unserer Ankunft herrschende Keuchhustenepidemie war im Monat December vorigen Jahres [1899, M. R.] erloschen; weitere Fälle sind nicht vorgekommen […].“, BArch R 1001/5775, Bl. 45r. 67 BArch R 1001/5775, Bl. 17r. 68 Ebd. 69 Diese Einteilung ist inzwischen verlassen worden. Man spricht heute grob von Früh- und Spätsyphilis. Erstere umfasst die erste und zweite Inkubationszeit (zweitere mit Auftreten von Primäraffekten, lokaler Lymphknotenschwellung, Eruptionsstadium, generalisierter Lymphknotenschwellung und Generalisationsphase) sowie die Rezidiv-, die Frühlatenz- und die Phase der späten Frühsyphilis. Zweitere wird schließlich in die frühe Spätsyphilis- und in die Phase der Neurosyphilis (ggf. mit Tabes dorsalis [Befall des Rückenmarks] und progressiver Paralyse [Untergang grauer Hirnsubstanz]) untergliedert, Pschyrembel, s. v. „Syphilis“. Die von Girschner sogenannte „tertiäre Syphilis“ ist mit der Phase der frühen Spätsyphilis bzw. der Spätlatenz gleichzusetzen. 70 BArch R 1001/5777, Bl. 70v. 71 „Frambösie ist in Ponape nicht sehr häufig; ich habe sie im verflossenen Vierteljahr nur bei drei Kindern gesehen. […] Viel häufiger scheint die Krankheit auf den Trukinseln zu sein.“, BArch R 1001/5775, Bl. 50v. 72 Bei der Frambösie treten zunächst himbeerartige (daher der Name der Erkrankung) Schädigungen im Gesicht und an den Extremitäten auf (Primärläsionen). Später kommt es zu überschießender Verhornung (Hyperkeratosen) und tiefreichenden Substanzdefekten der Haut (Ulzera, Sekundärläsionen). Nach Jahren können schließlich derbelastische, gummiartige Neubildungen (sogenannte Gummata) auftreten, die

Haut, Knorpel und Knochen zerstören können (Tertiärläsionen), Pschyrembel, s. v. „Frambösie“. 73 Pschyrembel, s. v. „Treponematosen, tropische“. 74 „Frambösie […] trat bei zwei Europäern (einem jungen Mann und einem jungen Mädchen) und bei vier Eingeborenen (Kindern) auf.“, BArch R 1001/5775, Bl. 177v. 75 BArch R 1001/5775, Bl. 35v. 76 BArch R 1001/5779, Bl. 172v. 77 „Allein das Salvarsan, das in den letzten Jahren noch weitere Verbesserungen […] und Modifikationen […] erfahren hat […], ist heute in der Tropenpraxis ein unersetzliches Heilmittel geworden. Für die in den Tropen weit verbreitete Syphilis spielt es die gleiche Rolle wie in Europa. Als einzig ideales Heilmittel muß Salvarsan für die Heilung der Frambösie gelten.“, Gonder 1915, S. 515. 78 BArch R 1001/5775, Bl. 177v. 79 BArch R 1001/5779, Bl. 26r. 80 BArch R 1001/5777, Bl. 190v. 81 BArch R 1001/5775, Bl. 52r. 82 BArch R 1001/5775, Bl. 7r. 83 BArch R 1001/5775, Bl. 7r. 84 BArch R 1001/5776, Bl. 35r. 85 BArch R 1001/5775, Bl. 46v–47r. 86 BArch R 1001/5779, Bl. 26r. 87 BArch R 1001/5777, Bl. 101v. 88 Fehlgeburt. 89 BArch R 1001/5777, Bl. 49r. 90 Morlang 2010, S. 48. 91 BArch R 1001/5775, Bl. 181r. 92 Girschner 1906, S. 73 – 76. 93 Ebd., S.  77 – 123. 94 Ebd., S.  124 – 126. 95 Ebd., S. 111. 96 Girschner rechnete das Atoll zu den Mortlock-­Inseln, die sich mehr als 1.000 km östlich von Pohnpei im Pazifik befinden. 97 Girschner 1912, S. 123 f. 98 Ebd., S.  125 – 215. 99 Ebd., S.  126 – 129. 100 Ebd., S.  160 – 169. 101 Ebd., S.  184 – 208. 102 Ebd., S.  179 – 190. 103 Akte „Max Girschner“, Universitätsarchiv Rostock. 104 Völker 2014, S. 6. Andere Befunde sprechen allerdings dafür, dass Girschner bis 1926 an der „Ethnographie“ arbeitete. 105 Girschner o. J., Bd. 1 (Titelblatt). 106 Ebd., Bd. 2, Teilband 1, S. 1.

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Ebd., Bd. 1, S. 13 – 21. Ebd., S.  24 – 56. Ebd., S.  57 – 74. Ebd., S.  101 – 124. Ebd., Bd. 2, Teilband 1, S. 1 – 45. Ebd., S.  50 – 251. Ebd., Teilband 2, S. 252 – 285. Ebd., S.  286 – 295. Ebd., S.  296 – 382. Ebd., Bd. 1, S. 2 – 7. Biografische Daten zu Hambruch finden sich in einem Artikel von Herbert Tischner in der „Neuen Deutschen Biografie“, Tischner 1966 passim. Vgl. dazu bei Fischer 1981, passim. Für biografische Daten vgl. im „Deutsches Kolonial-­Lexikon“, s. v. „Thilenius, Georg Christian“. Hambruch 1932, passim; Hambruch 1936, passim sowie Hambruch/Eilers 1936, passim. Die beiden letzten Bände wurden von Anneliese Eilers mitbearbeitet bzw. für die Veröffentlichung vorbereitet, da Hambruch 1933 verstarb. Laut Völker (2014, S. 6) seien zahlreiche Veröffentlichungsversuche gescheitert. Schließlich wurde das Manuskript von der „Abteilung IIIk“ des Auswärtigen Amtes angekauft, Staudinger 1928, S. 107. Später (1937) gelangte eine Fotokopie ins „Museum für Völkerkunde“ in Hamburg, wo sie sich zumindest bis 1985 befunden haben muss, aktuell aber nicht auffindbar ist. So finden wir bei Girschner weder dezidierte Angaben zur Herkunft seiner Informationen noch einen erläuternden Fuß- oder Endnotenapparat und ein Verzeichnis der verwendeten wissenschaftlichen Literatur. Woher und wie Girschner seine Informationen bezogen haben mag, lässt sich anhand der einleitenden Bemerkungen zum ersten Teil des Textes über „Die Karolineninsel Namoluk und ihre Bewohner“ erahnen: Es sei ihm geglückt, unter den Bewohnern von Namoluk „Leute zu finden, die nicht allein fähig, sondern auch gern bereit dazu waren, jede gewünschte Auskunft über ihre heimischen Verhältnisse, namentlich aber auch über die herrschenden religiösen Anschauungen zu geben“, Girschner 1912, S. 123. Zuvor scheint Girschner bereits nach dem Tod des Bezirksamtmanns Victor Berg Ende April 1907 kommissarisch

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die Amtsgeschäfte weitergeführt zu haben. Zumindest ließ er seine Vorgesetzten im Bericht über das erste Quartal 1907 wissen, dass er „Verordnungen getroffen [habe]“, den „Rest der Bevölkerung“ der Insel Ta, die laut seiner Ausführungen Ende März 1907 von einem Taifun heimgesucht worden war, nach Pohnpei bringen zu lassen, um sie dort ärztlich behandeln zu können, BArch R 1001/5777, Bl. 152r. 124 Die Sokehs waren eine der fünf Volksgruppen auf Pohnpei und siedelten im gleichnamigen Distrikt im Nordwesten der Insel. Die übrigen Distrikte waren Not (im Norden, südlich des deutschen Hauptortes Kolonia), U (im Nordosten), Metalanim (im Osten und Südosten) und Kiti (im Süden und Südwesten), Morlang 2010, S. 7 (im Original o. P.). Die schriftliche Wieder-

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gabe von Begriffen aus der Sprache der Insulaner ist in der Forschungsliteratur und auch im damaligen amtlichen Schriftverkehr teilweise sehr unterschiedlich. Ich folge hier und im Weiteren den Vorschlägen von Thomas Morlang. Bericht Boeder an das RKA vom 10. 7. 1910 unter BArch R 1001/3006, B. 127. Morlang 2010, S. 75 – 79. Ebd., S. 80. Hahl 1997, S. 217. Nach Meinung vieler Beteiligter war es „allein Girschner zu verdanken, dass die wenigen Deutschen in Kolonia“ noch lebten. Vor allem sein Entschluss, die anderen ponapesischen Völker zur Unterstützung anzufordern, wurde als Geniestreich angesehen.“, Morlang 2011, S. 4.

130 Vgl. dazu den Bericht Girschners über das 1. Quartal 1911, in dem er u. a. Rechenschaft über die Behandlung einiger Verwundeter ablegt, BArch R 1001/5778, insb. Bl. 234v. 131 Morlang 2010, S. 116 – 119. 132 Kersting war seit 1897 in unterschiedlicher Funktion im Schutzgebiet Togo tätig gewesen und traf im Januar 1911 zusammen mit den deutschen Marinetruppen auf Pohnpei ein. Weitere Angaben zu seiner Person sind der biografischen Miniatur von Thomas Morlang zu entnehmen, Morlang 2010, S. 132 f. 133 BArch R 1001/3010, Bl. 28. 134 Ebd. 135 Morlang 2010, S. 131. 136 Ebd., S.  134 – 142.

Literaturverzeichnis Quellen BA rch Berlin, Bestand Reichskolonialamt (R 1001): R 1001/3006: Allgemeine Angelegenheiten der Karolinen-­ Inseln, Bd. 9; R 1001/3009: Aufstand in Ponape, Bd. 1; R 1001/3010: Aufstand in Ponape, Bd. 2; R 1001/5775: Gesundheitliche Verhältnisse auf den Karolinen, Bd. 1; R 1001/5776: Gesundheitliche Verhältnisse auf den Karolinen, Bd. 2; R 1001/5777: Gesundheitliche Verhältnisse auf den Karolinen, Bd. 3; R 1001/5778: Gesundheitliche Verhältnisse auf den Karolinen, Bd. 4; R 1001/5779: Gesundheitliche Verhältnisse auf den Karolinen, Bd. 5; R 1001/5867: Einführung einer obligatorischen Chinin-­ Prophylaxe gegen Malaria, Bd. 5; R 1001/5870: Expeditionen des Geheimen Reg. Raths Prof. Dr. Koch zur Erforschung der Malaria, Bd. 2. UAR : Personalakte Max Girscher.

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Der Rostocker Absolvent Max Girschner als ­Kaiserlicher Regierungsarzt auf Pohnpei 

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Girschner, Max: Ethnographie der Insel Ponape, Bd. 2: Die geistige Kultur der Ponapeer, 1. Teilband: Das Familienleben, Stamm und Stammessagen (Schreibmaschinentranskript des handschriftlichen Manuskripts, erstellt von Eveline Dexelius). Girschner, Max: Ethnographie der Insel Ponape, Bd. 2: Die geistige Kultur der Ponapeer, 2. Teilband: Staat und Verfassung, Ansichten über den Weltenbau, Götter und Geisterglaube, Gemütsleben und Charaktereigenschaften (Schreibmaschinentranskript des handschriftlichen Manuskripts, erstellt von Eveline Drexelius). „Girschner, Max“; Eintrag im Matrikelbuch d. Universität Rostock (WS 1864/65–SS 1888), URL : http://rosdok.uni-­ rostock.de/resolve?id=rosdok_document_000000000181​ &img&page=0457 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Gonder, Richard: Paul Ehrlich und die Tropenmedizin, in: Archiv für Schiffs- und Tropenhygiene 19 (1915), H. 19, S. 505 – 517. Hahl, Albert: Gouverneursjahre in Neuguinea. Hrsg. von W. Wagner. Hamburg 1997. Hambruch, Paul: Ponape. Allgemeiner Teil: Geschichte, Geographie, Sprache, Eingeborene, 1. Teilband, in: Ergebnisse der Südsee-­Expedition 1908 – 1910. II . Ethnographie: B. Mikronesien, Bd. 7. Hrsg. von Georg Thilenius. Hamburg 1932. Hambruch, Paul: Die Ruinen. Ponapegeschichten, 3. Teilband, in: Ergebnisse der Südsee-­Expedition 1908 – 1910, II . Ethnographie: B. Mikronesien, Bd. 7. Hrsg. von Georg Thilenius. Hamburg 1936. Hambruch, Paul/Eilers, Anneliese: Ponape. Gesellschaft und geistige Kultur, Wirtschaft und stoffliche Kultur, 2. Teilband, in: Ergebnisse der Südsee-­Expedition 1908 – 1910, II . Ethnographie: B. Mikronesien, Bd. 7. Hrsg. von Georg Thilenius. Hamburg 1936. Herold-­Schmidt, Hedwig: Ärztliche Interessenvertretung im Kaiserreich 1871 – 1914, in: Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Organisierte Berufs- und Gesundheitspolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. von Robert Jütte. Köln 1997, S. 43 – 95. Hüntelmann, Axel C.: Hygiene im Namen des Staates. Das Reichsgesundheitsamt 1876 – 1933. Göttingen 2008. Huerkamp, Claudia: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert. Vom gelehrten Stand zum professionellen Experten: Das Beispiel Preußen (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 68). Göttingen 1985. Kohlstock, Paul: Ueber die Dienstverhältnisse der in den deutschen Schutzgebieten beamteten Aerzte, in: Deutsche Medizinische Wochenschrift 25 (1899), H. 2, S. 33 – 35. Marung, Max: o. T. (Bekanntmachung der Praxisvertretung durch Girschner), in: Wöchentliche Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeburg 63 (1893), H. 81, S. 2. Medizinal-Berichte über die Deutschen Schutzgebiete, Berichtsjahre 1903/04 – 1910/11. Hrsg. von der Kolonial-

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Exkurs: Die medizinischen Sammlungen an der ­Universität Rostock Ein Überblick Kathleen Haack Sammlungen verdanken ihre Existenz einer spezifischen Tätigkeit, nicht selten innerhalb universitärer Strukturen. Im Allgemeinen haben oder hatten diese einen direkten Bezug zu Forschung und Lehre und lassen sich u. a. über eine zeitliche Komponente definieren. Dies bedeutet jedoch nicht, Sammlungen seien (zumal historische) per se veraltet. Im Gegenteil: Als „Gedächtnisspeicher“ vergangener Forschungs- und Lehrstrukturen vermag die Auseinandersetzung mit der Entstehungsgeschichte, der Überlieferung und Kontextualisierung einzelner Sammlungen interessante kultur- und wissenschaftshistorische Befunde zu Tage fördern und so beispielsweise über Entwicklungen einzelner Disziplinen Auskunft geben oder anhand des (veränderten) Umgangs mit einzelnen Objekten Einblicke des Forschens und Vermittelns in Vergangenheit und Gegenwart gewähren. Denn auch eine Nutzung innerhalb des aktuellen Forschungs- und Lehrkontexts ist denkbar. Dazu ist es notwendig, nicht im Historischen zu verharren, sondern aktuelle Tendenzen aufzunehmen und Sammlungen aktiv fortzuführen und an zeitgemäße Lehrmethoden anzupassen. In den letzten Jahren ist dieses Potential wieder verstärkt in den Blickpunkt geraten und führte zur Etablierung der „Koordinierungsstelle für wissenschaftliche Universitätssammlungen in Deutschland“ 1 sowie zur Gründung der AG „Sammlungsbezogene wissenschaftliche Forschung in Deutschland“ des Wissenschaftsrates. Nicht zuletzt können wissenschaftliche Sammlungen als Tor zur Öffentlichkeit, als Vermittler zwischen Wissenschaft und Gesellschaft im Sinne universitärer Repräsentation und Identitätsstiftung fungieren. Die Universität Rostock und spezifisch die Universitätsmedizin verfügen über eine Reihe historisch-­wissenschaftlicher Sammlungen und Objekte. Im Zuge des zwischen 2004 und 2009 von der DFG an der Humboldt-­Universität Berlin geförderten Forschungsauftrags „Universitätssammlungen in Deutschland: Untersuchungen zu Bestand und Geschichte“ 2, dem eine Reihe weiterer, teilweise bis heute andauernder Projekte folgte, hat auch die Universitätsmedizin Rostock seit 2010 begonnen, Informationen zu bestehenden Inventaren zu ermitteln. Neben einer Bestandsaufnahme der vorhandenen Objekte geht es vor allem um die Frage nach der (Wieder)Nutzbarmachung für Lehre und Forschung, um wissenschaftshistorische Aspekte sowie der Erörterung von Möglichkeiten und Grenzen der Teilhabe einer breiten Öffentlichkeit. Letztgenanntes ist gerade im Jubiläumsjahr 2019 eine Chance für die Universität und Universitätsmedizin, ihre mediale Außenwirkung stärker zu entfalten. Im Einzelnen verfügt die Universitätsmedizin über folgende Sammlungen:

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Exkurs: Die medizinischen Sammlungen an der U ­ niversität Rostock

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Gliederung der Sammlung Sammlung

Einrichtung

Anatomische Sammlung

Institut für Anatomie

Anästhesiologische Gerätesammlung

Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie

Historische Drogensammlung

Institut für Toxikologie und Pharmakologie

Infusionsgerätesammlung

Referat Medizintechnik

Moulagensammlung

Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Venerologie

Ophthalmologische Sammlung

Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde

Pathologisch-­Anatomische ­Lehrsammlung

Institut für Pathologie

Physiologische Sammlung

Oscar Langendorff Institut für Physiologie

Zahnmedizinische Sammlung

Klinik und Polikliniken für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde „Hans Moral“

Quelle: https://geschmed.med.uni-­rostock.de/forschung/projekte/erfassung-­digitalisierung-­und-­ wissenschaftliche-­aufarbeitung-­der-­historischen-­sammlungen-­der-­universitaetsmedizin-­rostock/ (letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

Im Folgenden soll ein kurzer Überblick zu ausgewählten Sammlungen der Universitätsmedizin Rostock erfolgen.

Die Anatomische Lehrsammlung Das Institut für Anatomie besitzt „eine Sammlung historischer und moderner anatomischer Präparate zu allen Organsystemen, zum Bewegungsapparat sowie zur Embryologie des Menschen, ausgehend von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Abb. 1). Im Einzelnen handelt es sich um Trockenpräparate zum Gefäßsystem des Menschen, hergestellt von […] Carl Friedrich Quittenbaum (1793 – 1852) (ab 1823), um eine umfangreiche historische Schädelsammlung, angelegt von […] Friedrich Merkel (1845 – 1919) (1871), mit Exponaten aus der Region, Europa, Asien, Afrika und Südamerika, z. B. altperuanische Langschädel oder ägyptische Mumifizierungen, ergänzt durch Abgüsse aus dem Museum Blumenthal in Göttingen, um eine Sammlung zieglerscher Wachsmodelle zur embryonalen Entwicklung und zur Entwicklung von Herz und Gehirn, um eine Skelettsammlung, um Feuchtpräparate ab dem 20. Jahrhundert zu allen Organsystemen, Trockenpräparate und Plastinate sowie um Präparate zur Zahnentwicklung. Die Sammlung ist nach Organsystemen gegliedert. Dazu kommt eine umfangreiche zootomische Sammlung, bestehend aus Skeletten sämtlicher Tierklassen, einer Schädelsammlung und einer Sammlung von Feuchtpräparaten. Insgesamt umfasst die Anatomische Sammlung etwa 4 000 Exponate.“  3 

Abb. 1  Schädel aus der Schädelund Kopfsammlung des Anatomischen Instituts, vermutlich Mitte des 19. Jahrhunderts.

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Die Historische Drogensammlung „Im Jahre 1877 wurde die Sammlung dem Rostocker Chemiker Friedrich Witte [1864 – 1930] abgekauft, der sie auf der Wiener Weltausstellung präsentiert hatte. Seit dem Kauf der Sammlung wurde der Bestand durch verschiedene Lehrstuhlinhaber der Pharmakologie erweitert. Der Sammlungsbestand umfaßt eine reiche Palette von Pflanzenteilen wie Wurzeln, Rinden, Hölzern, Früchten, Samen, auch Algen, Flechten und Pilzen, die Ausgangsmaterial zur Gewinnung biologisch wirksamer Stoffe von therapeuthischer und toxikologischer Bedeutung sind, sowie eine Reihe von Harzen, Ölen und anderen Pflanzeninhaltsstoffen.“  4

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Exkurs: Die medizinischen Sammlungen an der U ­ niversität Rostock

Abb. 2  Fotoausschnitt aus der Drogensammlung.

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Die Moulagensammlung der Rostocker Hautklinik „Der Begründer der Rostocker Hautklinik, Maximilian Wolters [1861 – 1914], begann im Jahre 1902 mit dem Aufbau einer Moulagensammlung, die 1914 […] mit 3.000 Exponaten eine der bedeutendsten Moulagensammlungen Deutschlands war. Am 24. April 1942 wurde die Hautklinik durch einen Bombenangriff völlig zerstört – und die Moulagensammlung ebenfalls. Heute existieren noch 34 Exponate aus dieser Sammlung und 88 Moulagen aus Dresden. Moulagen sind Abformungen von erkrankten Körperteilen, die dadurch entstehen, in dem zuerst mit Gips Abdrücke des Körperteils genommen und diese dann mit Wachs ausgegossen werden. Nach dem Aushärten der Modelle werden diese direkt am Patienten farbgetreu bemalt. Die Moulagentechnik war – vor der Entwicklung der Farbphotographie – die optimale Möglichkeit, dermatologische und venerologische Erkrankungen des Menschen zu dokumentieren.“  5 Abb. 3  Moulage mit Blasenbildung auf der Haut bei syphilis congenita.

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Die Ophthalmologische Sammlung der Universitäts-­Augenklinik Rostock „An der Universitäts-­Augenklinik in Rostock gibt es eine kleine augenheilkundliche Sammlung, die in abgeschlossenen Vitrinen im öffentlichen Bereich der Klinik ausgestellt ist. Bemerkenswert ist u. a. eine Reihe von kunstvoll gearbeiteten Glasaugen, welche Augenkrankheiten darstellen.“ 6 Diese besteht aus 135 einzelnen Kunstaugen aus Glas, in die von einem Okularisten Krankheitsmerkmale eingearbeitet worden sind. Die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Wilhelm von Zehender (1819 – 1916), Rudolf Berlin (1833 – 1897) und Theodor Axenfeld (1867 – 1930) angelegte Sammlung zeigt verschiedene Pathologien der Augen sowie Traumafolgen und Krankheitsverläufe.

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Abb. 4  Pathologische ­Kunstaugensammlung.

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Die Pathologisch-­Anatomische Lehrsammlung Die Sammlung „umfasst heute 905 Exponate. Dabei handelt es sich überwiegend um Makropräparate zur Allgemeinen und Speziellen Pathologie, die in der Lehre eingesetzt werden. Neben den Feuchtpräparaten finden sich auch mazerierte Knochenpräparate in der Sammlung.“ 7 Sie ist eng an die Namen der Rostocker Pathologen Albert Thierfelder (1842 – 1908), Ernst Schwalbe (1871 – 1920) und Walther Fischer (1882 – 1969) gekoppelt. Insbesondere der zwischen 1908 und 1920 das Institut leitende Schwalbe erwarb mit der Zusammenstellung seiner „Missbildungssammlung“ für die Erforschung der Teratologie große Verdienste. Nicht der voyeuristische Blick auf Abnormitäten stand – wie noch im 18. und frühen 19. Jahrhundert – im Vordergrund, sondern die auf wissenschaftlichen, in Naturgesetze eingebundenen Erkenntnisse innerhalb der menschlichen Biologie.8

Die Physiologische Sammlung „Das Institut für Physiologie in Rostock besitzt eine vergleichsweise kleine Sammlung von Geräten und Vorrichtungen, die hier in der Vergangenheit in Lehre und Forschung Verwendung fanden (z. B. Helmholtz-­Resonatoren). Viele der Gerätschaften stammen aus der institutseigenen Werkstatt.“  9 

Abb. 5  Verschiedene Feuchtpräparate aus der Pathologisch-­Anatomischen Lehrsammlung.

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Anmerkungen 1 2

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Vgl. https://wissenschaftliche-­ sammlungen.de (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Vgl. https://www.kulturtechnik. hu-­berlin.de (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Das Projekt wurde unter Leitung von Dr. Cornelia Weber an der Humboldt Universität Berlin durchgeführt. Alle Angaben zu den einzelnen Sammlungen wurden der Homepage http://sammlungen.uni-­rostock. de/show?id=10.07.01 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019) entnommen. Einen Überblick zu den bestehenden und nicht mehr vorhandenen Samm-

4 5

lungen an der Universität Rostock mit einer Beschreibung findet sich auch unter http://www.universitaetssammlungen.de/search/uni/ Universit%C3 %A4t+Rostock (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Vgl. auch https://anatomie.med.uni-­rostock. de/anatomische-­sammlung/ (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). http://sammlungen.uni-­rostock.de/ show?id=10.07.02 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). http://sammlungen.uni-­rostock.de/ show?id=10.07.03#ad-­image-0 (­letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

6 http://www.universitaetssammlungen.de/sammlung/694 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Vgl. auch Schubert 2018. 7 http://sammlungen.uni-­rostock.de/ show?id=10.07.05 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Vgl. auch Rocktäschel 2018. 8 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Livia Prüll „Ernst Schwalbe als Pathologe in Rostock und die Ursprünge einer pluralistischen Medizin“ in diesem Band. 9 http://www.universitaetssammlungen.de/sammlung/764 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

Literaturverzeichnis Rocktäschel, Paula: Molekulargenetische, histologische und immunhistologische Untersuchungen an alten Feuchtpräparaten der Pathologisch-­Anatomischen Lehrsammlung Rostock. Med. Diss. Rostock. URL : http://rosdok.uni-­rostock.de/resolve/id/rosdok_ disshab_0000001898 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

Schubert, Daniel: Die Kunstaugensammlung der Universitätsmedizin Rostock. Med. Diss. Rostock 2018 8abrufbar unter http://rosdok.uni-­rostock.de/resolve/id/rosdok_ disshab_0000001999 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

Abb. 6  Taubenhalter nach Wilhelm Trendelenburg (1877 – 1946).

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Exkurs: Die medizinischen Sammlungen an der U ­ niversität Rostock

Fakultät in Umbruchzeiten: Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

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Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert Kathleen Haack Um 1900 hatte die naturwissenschaftlich-orientierte Medizin im Zuge von Spezialisierungen und Disziplingenesen einen ersten Höhepunkt erreicht. Sie war in Auseinandersetzung mit anderen heilkundlichen Methoden und Behandlungsweisen zur „Schulmedizin“ avanciert. Hierbei war es zu einem tiefgreifenden Wandel ärztlichen Handelns und Selbstverständnisses gekommen, gekoppelt an eine relativ homogen vorgebildete und vor allem akademisch ausgebildete Ärzteschaft. Dies wiederum erforderte eine adäquate universitäre Lehre, um der wachsenden Nachfrage der medizinischen Versorgung nachkommen zu können. Spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war es an allen 25 Universitäten im Deutschen Reich zu einem Wechsel in der Fakultätenhierarchie gekommen, bei der die medizinischen Fakultäten die mit Abstand größten – sowohl bei den Lehrenden, als auch Studierenden – geworden waren. Kein Wunder also, dass man selbstbewusst und zuversichtlich dem neuen Jahrhundert entgegensah. Nun galt es, die Krankheitsforschung in erfolgreiche therapeutische Verfahren umzusetzen. Kliniklaboratorien entstanden, und auch die theoretisch-praktischen Disziplinen wie Physiologie, Biochemie oder Hygiene nahmen an Bedeutung zu. So hatte auch in Rostock, in Abgrenzung von der Anatomie, die Physiologie mit der Frage nach der Erforschung der dynamischen Prozesse bei der Genese und Entwicklung von Krankheiten einen enormen Bedeutungszuwachs erlangt.1 Hinzu kam der immer mehr ins Blickfeld rückende Wert der (Bio)Chemie. In der Verbindung beider Fachgebiete erhielt einer der berühmtesten Söhne der Stadt, Albrecht Kossel (1853 – 1927), 1910 den Nobelpreis für Medizin. Kossel war 1878 an der Universität Rostock promoviert worden. Schon hier hatte er sich für die Physiologische Chemie, insbesondere für die Chemie von Geweben und Zellen sowie die Veränderungen von Proteinen interessiert. Seine Forschungsschwerpunkte konnte er später an den Universitäten Straßburg, Marburg und Heidelberg ausbauen. Und auch die Hygiene, ein mit Julius Uffelmann (1837 – 1894) traditionell stark und schon früh vertretenes Fach an der Universität Rostock, hatte im Zuge der Entdeckungen durch Robert Koch (1843 – 1910), Louis Pasteur (1822 – 1895) u. a. einen enormen Aufschwung genommen und sich fest im universitären Lehrbetrieb etabliert. An der Medizinischen Fakultät Rostock ist ab dem frühen 20. Jahrhundert eine Verlagerung zu mikrobiologischen, parasitologischen und bakteriologischen Themen erkennbar, die eng an den Namen von Theodor von Wasielewski (1868 – 1941) geknüpft ist. Unter dem Bedingungsrahmen des Ersten Weltkriegs und dessen langfristigen Auswirkungen während der Weimarer Republik kam eine zweite Komponente hinzu: Die Hygiene wurde zunehmend von einer deskriptiven zu einer normativen Wissenschaft, die – gekoppelt an eugenische Ideen – die

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Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Pflicht zur Gesundheit postulierte und so langfristig ein Fundament für die Ausgrenzung bestimmter Patientengruppen schuf. Als einer der wichtigsten Vertreter dieser Richtung an der Medizinischen Fakultät Rostock sei auf Hans Reiter (1881 – 1969), dem späteren Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes, verwiesen. Neben seiner Tätigkeit als außerordentlicher Professor für Sozialhygiene war er auch Direktor des Landesgesundheitsamtes von Mecklenburg-­Schwerin, Stadtverordneter in Rostock und Mitglied des Mecklenburg-­ Schwerin’schen Landtages. In diesen Funktionen konnte er Einfluss auf die Gesundheitspolitik im Land Mecklenburg nehmen. Sowohl die Entwicklung der Physiologie als auch der Hygiene stehen am Übergang zum 20. Jahrhundert stellvertretend für zeitgenössisch moderne Trends innerhalb der naturwissenschaftlich orientierten Medizin mit dem Ziel der Verbesserung therapeutischer Verfahren. Dies führte neben einer praxisorientierten Forschung innerhalb der Grundlagenfächer auch zur weiteren Ausdifferenzierung neuer klinischer Disziplinen und zu deren Institutionalisierung. So wurde 1891 die Medizinische Poliklinik von der Medizinischen Klinik getrennt, 1902 wurde die Hautklinik unter Maximilian Wolters (1861 – 1914) gegründet. Neben der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, die sich Wolters insbesondere auf die Fahnen geschrieben hatte, begründete er eine wertvolle Wachsmoulagensammlung mit etwa 3.000 Exponaten, von denen heutzutage nur noch wenige vorhanden sind. Nachdem 1905 eine eigene Abteilung für Kinder eingerichtet worden war, konnte Hermann Brüning (1873 – 1955) 1918 schließlich eine eigene Kinderklinik etablieren. Er erhielt 1919 das Ordinariat für Kinderheilkunde. 1941 wurde Viktor Schilling Direktor der Medizinischen Klinik (1883 – 1960). Als international anerkannter Wissenschaftler forschte er auf dem Gebiet der morphologischen Hämatologie. Auf seine Initiative hin konnte trotz der kriegsbedingten weitgehenden Zerstörung der Medizinischen Klinik am Schröderplatz im Zweiten Weltkrieg die medizinische Versorgung der Bevölkerung aufrecht erhalten werden, und dies nicht nur in Rostock, sondern auch in Bad Sülze und Graal-­Müritz mit der Schaffung von Hilfskrankenhäusern.2 Neben diesem Trend zur weiteren Spezialisierung im Verlauf des 20. Jahrhunderts – es ließen sich weitere Beispiele nennen – hatten sich auch andere Tendenzen im universitären und Wissenschaftsbetrieb abgezeichnet. So verlangten neue Studentengenerationen aus kleinbürgerlichen Kreisen und vor allem dem weiblichen Teil der Bevölkerung Zugang zu höherer Bildung. Die Universität Rostock war die Hochschule im Deutschen Reich, die sich dieser Entwicklung am längsten verweigerte. Hinzu kamen politische und gesellschaftliche Veränderungen, die – verstärkt durch die Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Einbüßen der ohnehin spät erworbenen außenpolitischen Machtstellung Deutschlands – im deutschen Bildungsbürgertum eine Art kulturpessimistische Grundstimmung hervorrief. Diesem Trend versuchten nicht wenige Wissenschaftler, unter ihnen besonders viele Mediziner, zu begegnen, indem sie mit Hilfe scheinbar adäquater wissenschaftlicher Lösungen Deutungshoheiten für heterogene gesellschaftliche Bereiche parat hielten. Der diagnostische Blick richtete sich zunehmend auf die Lage der Nation, die als Ursache und Ausdruck einer kollektiven Krise und als „an sich krank“ gedeutet wurde. Außer dem erwähnten Hans Reiter, der die Sozialhygiene, neben der zweifelsohne medizinischen Dimension, auch als eine protonormalistische Herrschafts- und Gesellschaftswissenschaft ansah, sei auf den Pathologen Ernst Schwalbe (1871 – 1920), den Zahnmediziner Johannes Reinmöller (1877 – 1955), den Pharmakologen Rudolf Kobert (1854 – 1918) sowie den Anatomen Dietrich Barfurth (1849 – 1927) verwiesen. Sie stehen stellvertretend, dies bedarf der weiteren Aufarbeitung, für eine politisierte Wissenschaft. Als nationalgesinnte Akademi-

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ker stellten sie, wie die meisten ihrer Kollegen an deutschen aber auch europäischen und internationalen Universitäten, ihre Forschung in den Dienst des Krieges. Eine Aufarbeitung insbesondere dieser Zeit und der für die konservativen Kräfte besonders schwierigen Situation nach der Abdankung des Kaisers Wilhelm II . und der Parlamentarisierung des Reiches während der Weimarer Republik wäre umso wichtiger, da hier das wissenschaftliche und ideologische Fundament der jüngeren Generationen zur Unterstützung des Nationalsozialismus gelegt worden ist. Die vorliegenden Beiträge zur Medizin an der Universität Rostock in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts umreißen die genannten Problemfelder. So zeigen Boeck und Peppel in ihrem Beitrag zum Frauenstudium den schwierigen Weg auf, den die ersten Studentinnen der Medizin in Rostock gehen mussten. Ihnen gelingt es, Lebenslinien von Ärztinnen, auch über ihre Hochschulbildung an der Universität Rostock hinaus, nachzuzeichnen und damit zugleich ein breites Spektrum von Schicksalen von Frauen im 20. Jahrhundert darzustellen. Zwischen Ausschluss und Integration, zwischen Emigration, Mitläufertum und Opportunismus, zwischen Ehrgeiz und Verzweiflung bewegten sich ihre Lebenswege. Nur wenige schafften es nach Ende des Zweiten Weltkriegs „nach ganz oben“, habilitierten und wurden Professorinnen. Insbesondere Arbeiten zur Entwicklung der Medizinischen Fakultät Rostock während des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik fehlen fast vollständig. Insofern stellen die vorgelegten Publikationen von Schulz, Prüll und Schmuhl einen sehr wichtigen Beitrag für eine beginnende historisch-­kritische Aufarbeitung der Fakultät in jenen Jahren dar, die es künftig zu vertiefen gilt. So kann Schulz die Auswirkungen auf den Lehr- und Wissenschaftsbetrieb in den entbehrungsreichen Kriegsjahren zwischen 1914 und 1918 nachweisen, in denen etwa das Institut für Pharmakologie und Physiologische Chemie zunehmend in die Bearbeitung von Aufträgen für das Kriegsministerium eingebunden wurde. Auch Ernst Schwalbe steht in dieser Tradition. Mit seiner Pathologie versuchte er, die militärischen Bemühungen der Obersten Heeresleitung im Ersten Weltkrieg auch inhaltlich zu unterstützen. Als „Kind seiner Zeit“ steht er dabei exemplarisch für die Kontextgebundenheit der Medizin. Dass Schwalbes wissenschaftliches Wirken nichtsdestotrotz einen wichtigen Beitrag für eine praktisch angewandte Pathologie am Kind leisten konnte, zeigt Prüll eindrücklich und unterstreicht damit, dass die Karriere von Personen und ihr Wirken oft komplexer sind als es scheint. Dies lässt sich auch für Hans Reiter hervorheben. Sein Weg vom Bakteriologen, Sozialhygieniker, Anhänger der Rassenhygiene bis hin zu einem der einflussreichsten Akteure innerhalb der nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“ zeichnet Schmuhl nach. Zugleich gibt er damit ein Zustandsbild deutscher Wissenschaft in der Weimarer Republik, bei denen der jungen Generation angehender Akademiker nicht nur eine wissenschaftliche Bildung, sondern auch eine geistig-­kulturelle, zumeist antiliberal geprägte Weltanschauung vermittelt wurde, die die Anfänge nationalsozialistischen Denkens in sich trug. Insofern stellt sein Beitrag das Bindeglied zwischen der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem Ersten Weltkrieg, und dem aufziehenden Nationalsozialismus dar. Schon die Erfolge des 1926 gegründeten und in Rostock 1928 etablierten Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes lassen aufhorchen. So kann auch Deinert in ihrem Beitrag über die Rostocker Studentenschaft in der NS -Zeit nachweisen, dass viele von ihnen hohe Erwartungen an die neue Regierung hatten; nicht zuletzt deshalb, weil den Verantwortlichen von Weimar keine Wende zum Besseren zugetraut wurde. Insbesondere Medizinstudenten sollten wichtige Aufgaben zur Erfüllung der gesundheitlichen Fürsorge des „deutschen Volkes“ sowie für kriegsnotwendige Zwecke zukom-

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men. Dabei war gar nicht abzusehen, wie Detjens am Beispiel des an der Medizinischen Fakultät angesiedelten Pharmaziestudiengangs nachweist, dass die Universität Rostock ihren Studienbetrieb aufrechterhalten konnte. Die schon während der Weimarer Republik immer wieder erwogene Schließung war im Zuge der „Verreichlichung“ der deutschen Hochschulen mit dem Ziel, Wissenschaft angesichts knapper öffentlicher Mittel zentral zu lenken und zu planen, erneut thematisiert worden. Die nichtpreußische kleine Universität Rostock überlebte wohl nur, da mit Beginn des Zweiten Weltkriegs umfassende Reichsreformen verschoben wurden. Überhaupt stellt das Jahr 1939 und die Verlagerung fast aller Ressourcen auf die Kriegswirtschaft eine Zäsur dar. Glaubte man ab 1933, dass die nationalsozialistische Bildungs- und Wissenschaftspolitik zu einer Implementierung von rassenhygienischen Lehr- und Forschungsprogrammen als zentrale Bestandteile der Wissenschaft im NS -Staat führen sollte, holte die Realität die hochfliegenden Pläne der Verantwortlichen an der Universität Rostock bald ein. So kann Hackbarth überzeugend nachweisen, dass die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit der Rassenhygiene zwar deren Aufstieg beschleunigt hatte, ihre Eigenständigkeit im Kontext von Anthropologie, „Erblehre“ und Hygiene jedoch von großen Schwierigkeiten begleitet war. Als die exponierte Legitimationswissenschaft konnte sich die „Rassenhygiene“ an der Rostocker Medizinischen Fakultät nur sehr bedingt behaupten. Eine effektive Forschungsarbeit wurde, so Hackbarth, vermutlich auf die Zeit nach dem „Endsieg“ projektiert. Die praktische Umsetzung der NS -Gesundheitspolitik hatte fatale Folgen auch für Patientinnen und Patienten der Rostocker universitären Medizin. So verweist Haack darauf, dass im Zuge des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Ärzte der Frauenklinik sowie der Chirurgischen Klinik in starkem Maß in die Zwangssterilisationen eingebunden waren. Sie ordneten sich der eugenisch motivierten und auf Ausgrenzung ausgerichteten Gesundheits- und Gesellschaftspolitik scheinbar ganz selbstverständlich unter. Auch Pädiater und Psychiater waren beteiligt. Unter dem Bedingungsrahmen des Zweiten Weltkriegs wurden Patienten nicht „nur“ aus der Fortpflanzungs- sondern auch aus der Lebensgemeinschaft ausgeschlossen. Sowohl Erwachsene als auch Kinder wurden Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde. Sich ihrer als Individuen zu erinnern, auch wenn kaum Spuren ihres häufig nur kurzen Lebens geblieben sind, versucht die Autorin mit ihren Ausführungen und dem damit verbundenen Plädoyer zur Veränderung des Blickwinkels von den Tätern hin zu den Opfern. Der historische Blick muss beide Perspektiven (Täter und Opfer) einnehmen. Die Zeit des Nationalsozialismus ist für die Universität Rostock und spezifisch die Medizinische Fakultät allenfalls marginal aufgearbeitet. Ihre Bedeutung für die Verflechtung von Wissenschaft und Politik kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Schließlich gehörten Mediziner zu den führenden Köpfen innerhalb der Universität Rostock während der NS -Zeit und besetzten zwischen 1936 und 1946 führende Positionen an der Universität, allen voran das Amt des Rektors. Diese historische Bestandsaufnahme kann ebenso für die Zeit nach 1945 gelten, in der es weder die „Stunde Null“ oder gar einen kompletten Neuanfang auf dem Weg zur sozialistischen Hochschule gegeben hat. Auch wenn, wie Kumbier nachweisen kann, die Zeit zwischen 1945 bis 1958 als Etappe der Orientierungssuche und Reorganisation bezeichnet werden kann, erforderten die realen Begebenheiten einen pragmatischen Umgang mit den alten Bildungseliten. Der Mangel an Dozenten blieb bis zum Mauerbau ein akutes Problem, viele verweigerten sich der angestrebten zentralistischen Steuerung des Hochschulwesens seitens des SED -Staates. Und auch die Studierenden sahen sich den Vorwürfen von Boykotthetze, Spionage und Diversion insbesondere in dem ersten

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Jahrzehnt nach Kriegsende ausgesetzt. Das bekannteste Beispiel an der Rostocker Universität ist das des Jurastudenten Arno Esch (1928 – 1951), der 1949 an der Universität verhaftet worden war und zwei Jahre später in der Sowjetunion zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Auch Medizinstudenten waren von Repressalien während und nach der Stalin-­Ära betroffen, wie Halbrock eindrücklich nachweisen kann. Flucht und Ausreise gehörten beinahe zur Tagesordnung. Halbrock zeigt, dass es FDJ und SED bis zur dritten Hochschulreform von 1967 bis 1969 nur selten gelang, bürgerliche Konventionen innerhalb der Medizin zurückzudrängen. Kritik und Unmutsäußerungen blieben dennoch verhalten; Verweigerung, Widerspruch und Aufbegehren gab es unter den Augen der Staatssicherheit eher selten. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rostocker Universität im Nationalsozialismus und der DDR sollte im Kontext der Spannung zwischen Ideologie und Praxis innerhalb der deutschen Wissenschaftskultur im 20. Jahrhundert angesiedelt sein.3 Neben dem Umgang der Verteter einzelner Institutionen mit veränderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und daran geknüpft die Bedeutung politischer Systembrüche als universitätsgeschichtliche Zäsuren, sollte auch die Frage nach der Stellung der deutschen Wissenschaft im internationalen und deutsch-­deutschen Vergleich relevant sein. Reisinger, Büttner und Klammt gewähren diesbezüglich einen vergleichenden Einblick in die ethischen und rechtlichen Grundlagen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln in den beiden deutschen Staaten in den 1980er-­Jahren. Ihr Fazit lautet, dass es nach derzeitigem Kenntnisstand keine Hinweise darauf gibt, dass ethische Standards bei klinischen Arzneimittelstudien westlicher Pharmafirmen in der DDR verletzt worden sind. Spezifische Forschungen stehen allerdings noch aus. Für eine Aufarbeitung der Rostocker Medizin an der Universität muss es schließlich um die Frage nach der strukturellen Ausdifferenzierung der Hochschullandschaft im Kontext wissenschaftspolitischer Intentionen gehen. Denn im Gegensatz zu Kaiserreich, Weimarer Republik und „Drittem Reich“ hatte der Standort Rostock mit seinem Hafen als Tor zur Welt eine sehr große Bedeutung für die DDR , auch innerhalb der medizinischen Versorgungsstrukturen und der DDR -Universitätslandschaft. Hier wird historisches Neuland zu betreten sein, auch wenn es bereits Aufzeichnungen für einzelne Kliniken und Institute gibt. Bekanntestes Beispiel ist die unter dem Direktorat von Horst Klinkmann (*1935) zu internationaler Geltung gekommene Forschung an der Klinik für Innere Medizin der Universität Rostock. Neben Klinkmanns eigenen Forschungsfeldern, der Nephrologie mit Dialyse und weiteren Entgiftungsverfahren, waren es vor allem die Gastroenterologie unter Weiterentwicklung endoskopischer und sonographischer Verfahren, die Erforschung der Pankreaserkrankungen, der Ausbau der Funktionsdiagnostik mit Herzkatheder- und Herzrhythmusdiagnostik u. a. m., die die Rostocker Medizin vorangetrieben haben. Inwieweit sich Klinkmann den politischen Vorgaben, Abläufen und Ansprüchen der DDR -Ideologie unterworfen hat, und inwieweit die von der Ehrenkommission der Universität Rostock 1992 testierte „mangelnde persönliche Eignung“ zutrifft, muss weiteren Forschungen mit zeitlichem Abstand vorbehalten werden. Im 600. Jahr der Universität und Medizinischen Fakultät bleibt zu konstatieren, dass die historische Aufarbeitung – auch und gerade für das 20. sowie 21. Jahrhundert – noch in den Anfängen steckt.

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Anmerkungen

Literaturverzeichnis

1

Grüttner, Michael/Hachtmann, Rüdiger/Jarausch, Konrad H./John Jürgen/Middell Mathhias: Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2010. Külz, Jürgen: Die Medizinische Fakultät, in: Rektor der Universität Rostock (Hrsg.): 575 Jahre Universität Rostock. Mögen viele Lehrmeinungen um die Wahrheit ringen. Konrad Reich, Rostock 1994, S. 171 – 218.

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Vgl. Haack, „Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock. ­Entwicklung der Spezialdisziplinen im 19. Jahrhundert“ in diesem Band. Vgl. Külz 1994, S. 188. Vgl. dazu Grüttner et al. 2010.

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Ernst Schwalbe als Pathologe in Rostock und die Ursprünge einer pluralistischen Medizin 1 Livia Prüll Geschichte wird sehr oft an historischen Persönlichkeiten festgemacht. Diese „Lichtgestalten“ dienen dann dazu, beispielsweise eine soziale Gruppe oder eine bestimmte Idee zu erklären – oder manchmal auch wesentliche Facetten des „Zeitgeistes“. Für die Geschichte der Medizin gilt das auch. Die Lebensschilderung eines „Heroen“ soll dann zuweilen die Geschichte eines Faches beispielhaft erläutern. Meistens Männer, bilden deren Viten die Matrize für die „wesentlichen“ Entwicklungen des jeweiligen Faches.2 Wie sich anhand von verschiedenen Forschungsarbeiten gezeigt hat, sind es aber nicht immer die Koryphäen, deren Leben entscheidende Erklärungskraft haben. Oft sind es auch weniger bekannte Fachvertreter oder solche mit „mittlerem“ Bekanntheitsgrad, die sehr grundsätzliche Fachentwicklungen verdeutlichen und deren Leben dann jeweils zum „Vergrößerungsglas“ für eine ganz wichtige Entwicklung der Medizin wird, die uns heute noch beschäftigt. Und manchmal ist es sogar so, dass die Bekanntheit dieser Personen zunächst mit einem krisenhaften besonderen Ereignis verbunden ist, das den Blick auf viel grundlegendere, wichtige Themen eher verstellt. Dieser Beitrag handelt von solch einer Person, dem Leben und Wirken von Ernst Schwalbe (1871 – 1920; Abb. 1 und 2). Ernst Schwalbe war Pathologe, das heißt, er war ein Mediziner, der die Leichen von Patient_innen öffnete (sogenannte „Obduktionen“), die im Krankenhaus gestorben waren, um deren Todesursache zu ermitteln. Die statistische Erfassung der gewonnenen Erkenntnisse diente und dient dabei auch der Ermittlung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung.3 Schwalbe war zwischen 1908 und 1920 Leiter des Pathologischen Institutes der Universität Rostock. Dies bedeutete, dass er Forscher und Lehrer in seinem Fach war. Bemerkenswerterweise wird Schwalbe bevorzugt mit einem bestimmten Ereignis gekoppelt, das wir uns zunächst ansehen werden. Danach werden wir uns mit dem Denken von Schwalbe, das den Hintergrund für dieses Ereignis bildet, näher beschäftigen. Drittens machen wir eine interessante Entdeckung, wenn wir seine fachliche Entwicklung anschauen, die mit dem Interesse an „Missbildungen“ des Menschen gekoppelt ist. Ganz am Ende werden wir analysieren, welche Bedeutung seine fachliche Arbeit noch heute hat.

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Abb. 1 und 2  Ernst Schwalbe (ohne Jahr).

Der Ausgangspunkt – Ernst Schwalbes Tod im Gefolge der „Novemberrevolution“ von 1918 Ernst Schwalbe wurde vor allem auffällig durch sein Ende. Noch sehr viel später, im Jahr 1993, erwähnten ihn seine Kolleg_innen vor allem in Zusammenhang mit seinem gewaltsamen Tod. Es ging darum, über die Ansprachen der Präsident_innen auf den Jahresversammlungen der „Deutschen Gesellschaft für Pathologie“ zu berichten, die vor allem seit 1908 routinemäßig gehalten wurden.4 Man betonte nicht nur, dass das Gedenken an die Toten bis zum Anfang der 1920er-­Jahre in diesen Ansprachen wichtig gewesen sei. Vor allem in der Versammlung von 1921, der ersten nach der Kriegsniederlage von 1918, sei dieses Gedenken wegen der vielen gefallenen Kollegen wichtig gewesen. Und eine Person wird dann namentlich genannt: „Vor allem wird an SCHWALBE gedacht, der inmitten einer politischen Demonstration in dieser Zeit durch eine Kugel den Tod gefunden hat.“ 5 Mehr kommt dann zu Schwalbe nicht, nur noch ein Eintrag im Register der Nekrologe.6 Aber sein Ende war hervorzuheben. Was war passiert? Im Jahr 1920 hatte der Generallandschaftsdirektor, Wolfgang Kapp (1858 – 1922), mit einigen Verbündeten und Freikorps mit Rückendeckung der Reichswehr einen Putsch gegen die Reichsregierung angezettelt. Dieser scheiterte aufgrund eines erfolgreichen Generalstreiks der Gewerkschaften, wobei sich im Gefolge der Gegenbewegung gegen diesen Rechtsaußen-­Putsch Arbeiterräte bewaffneten, um die Republik nun eindeutig auf die Spur eines linken, gewerkschaftsdominanten Kurses zu bringen.7 Das war auch in Rostock der Fall, wobei als Gegenmaßnahme von Seiten der Reichswehr „Zeitfreiwilligenbataillone“

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gebildet wurden, um eben dies zu verhindern. Schwalbe und einer seiner Söhne waren Mitglieder eines solchen Bataillons. Dieses hatte am 16. März 1920 den Auftrag erhalten, Waffen der Reichswehr, die auf dem Warnemünder Flugplatz gelagert waren, gegen den Zugriff der Arbeiterschaft zu sichern. Allem Anschein nach kam es zwischen beiden Parteien in einer emotional aufgeladenen Atmosphäre zu komplizierten Verhandlungen, in deren Rahmen schließlich auch ein Schusswechsel stattfand. Mehrere Menschen wurden verwundet, aber nur einer blieb tot auf der Straße liegen: Ernst Schwalbe.8 Der beteiligte Sohn stellte seinen Vater viel später, im Jahr 1933, im Rahmen eines tendenziösen Berichtes als einen ehrlichen Verhandler dar, als ein Opfer eines „feigen(r) Ueberfall(s) durch Wortbruch und Verrat“.9 Und Schwalbes Lebensdaten bieten zunächst auch gar nichts Militärisches oder Martialisches. 1871, im Jahr der Reichsgründung, wurde er in Berlin als Sohn eines Gymnasiallehrers geboren. Wie seinerzeit üblich studierte er an verschiedenen Orten – in seinem Fall Straßburg, Berlin und Heidelberg – und widmete sich dort jeweils der Humanmedizin. Zwischen 1900 und 1907 fand seine Ausbildung zum Pathologen in Heidelberg statt. Seit 1904 war er dort außerordentlicher Professor für Pathologie und pathologische Anatomie. Sein eigener Herr wurde er dann aber erst 1907, als er Prosektor und Leiter des Pathologisch-­bakteriellen Institutes im Städtischen Krankenhaus Karlsruhe wurde. Als „Prosektor“ war man Chef des Sektionswesens und oft auch Chef der angeschlossenen Laboratorien des entsprechenden Krankenhauses. Derartige Stellen waren zum Teil sehr renommiert und man konnte sich auf ihnen wissenschaftlich fortbilden.10 Aus diesem Grund gelang Schwalbe auch 1908, schon ein Jahr später, der Sprung auf den Lehrstuhl für allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie der Universität Rostock.11 Schwalbe war 1908 „eine in der gesamten Fachwelt bereits bekannte Persönlichkeit.“ Auch galt er weithin als guter Lehrer und Forscher. Seine Spezialgebiete – wir werden darauf noch eingehen – waren vor allem die menschlichen „Missbildungen“, dann die Pathologie des Blutes und der Blutgerinnung. Ferner – und das war ebenfalls immer sehr wichtig – wurde seine Persönlichkeit sehr positiv beurteilt.12 Bei seinem Tod am 16. März 1920 hinterließ Schwalbe seine Frau und vier Kinder. Er war, so wie andere Kolleg_innen auch, in das regionale städtische Bürgertum von Rostock eingebunden.13 Wie aber war er in die zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen geraten?

Die wissenschaftliche Ausrichtung – Ernst Schwalbes deutschnationale Pathologie Um die letztgestellte Frage zu beantworten, müssen wir uns Schwalbes Schriften anschauen und auch die Ursprünge von seinem wissenschaftlichen Denken. Die Geschichte beginnt dabei schon früher im 19. Jahrhundert – genauer: ca. 50 Jahre vor seiner Geburt. Denn die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war von Veränderungen der Medizin geprägt, die hier nur kursorisch zusammengefasst werden können, die aber wichtig sind für das Verständnis von Schwalbes Arbeit in Rostock. Seinerzeit änderte sich die Medizin in Richtung einer zunehmenden Berücksichtigung der experimentellen Naturerkenntnis im Labor und einer Einführung experimenteller Untersuchungstechniken in der Klinik.14 Und 1821 wurde Rudolf Virchow (1821 – 1902) geboren, der diese Entwicklung dann später nicht nur aufgreifen, sondern das Fach der Pathologie ab den späten 1840er-­Jahren auch konzeptionell zu einem wichtigen Grundlagenfach der naturwissenschaftlichen Medizin ausbauen sollte.15 Virchow war auch für Schwalbe ein wichtiger Orientierungspunkt, daher müssen wir einige Bemerkungen über ihn machen.

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Nach Rudolf Virchow musste die Medizin einen „mechanistischen Standpunkt“ vertreten, d. h. sie musste auf dem naturwissenschaftlichen Experiment basieren und sich von den vor 1850 noch geläufigen naturphilosophischen Erklärungsmodellen verabschieden. Diese Grundsätze mussten vor allem dringend auf die Erforschung des menschlichen Körpers im krankhaften Zustand, die „pathologische Anatomie“ angewandt werden. Dabei systematisierte Virchow die Arbeit auf diesem Gebiet: In der Trias Tierversuch – Leichenuntersuchung – klinische Austestung sollte die humanmedizinische Forschung entscheidend vorangetrieben werden. Den theoretischen Hintergrund für diese Arbeitsweise bildete ein von Virchow neu geschaffenes „Prinzip“, die „Cellularpathologie“. Danach bestand der menschliche Körper aus Zellen, die aus sich selbst heraus entstanden, indem sie sich teilten. Krankheit fuhr nicht mehr von außen als eigene Wesenheit in den menschlichen Körper ein. Krank waren vielmehr die Zellen. Krankheit war daher nichts Anderes als Leben unter anderen Bedingungen. Untersuchungen über die Seinsweise des (kranken) Lebens sollten fortan im Rahmen der „allgemeinen Pathologie“ durchgeführt werden.16 Die Forschungen, die Virchow anstieß, sollten seiner Meinung nach in eine neue biologische Medizin münden. Deren Kern sollte die „pathologische Physiologie“ sein, d. h. die Erforschung von Krankheitsverläufen und dynamischen Prozessen auf der Grundlage der Anschauung und Untersuchung der kranken körperlichen Zellen, Gewebe und Organe. Diese Visionen waren im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in die Zukunft gerichtet und ihrer Zeit voraus, aber auch in seiner Zeit stieß Virchow die Tore für ein neues Körperverständnis weit auf: Die Erforschung des kranken menschlichen Körpers an der Leiche auf der Basis der Zellularpathologie kurbelte klinische Forschungen an. So konnten die Chirurg_innen Organe deshalb entnehmen (resezieren), weil diese nun als isolierte Zellverbände erkannt wurden, die nicht mehr im Lichte philosophischer Reflexionen Teil eines unzerstörbaren Ganzen waren.17 Die geschilderten Theorien Virchows waren für Menschen wie Ernst Schwalbe, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts Medizin studierten und sich gar für die Pathologie interessierten, ungemein spannend. Jene Studierenden wie Schwalbe trafen an der Universität euphorisierte Mediziner_innen und Ärzt_innen, die im Kampf gegen die „spekulative“ Medizin und gegen „Kurpfuscher“ in der neuen naturwissenschaftlichen Medizin eine Art heilsbringendes Verfahren sahen. Man träumte von einer Effektivierung der Medizin, man träumte von einer Abschaffung der Krankheiten und einer Rettung der Menschheit. Und als Grundstütze dieser neuen Medizin nahmen die Mediziner (in Deutschland bis ca. 1900 nur männliche Studierende) die Pathologie war.18 Schwalbe lebte und webte in diesem System. Es waren dabei zwei Gesichtspunkte, die sich aus dem Erlebten ableiten lassen und die für ihn fortan wichtig wurden.

Schwalbe und die Politisierung der Pathologie Erstens war dies eine Verzahnung des Faches mit dem politischen Kontext. Bei dem linksliberalen Virchow, der ab 1856 an der Berliner Charité als Professor für Pathologie und pathologische Anatomie wirkte, konnte man schon seinerzeit zur Kenntnis nehmen, dass seine politische Haltung auf seine Pathologie abfärbte. Virchow sah die Mitglieder seines „Zellenstaates“ als gleichberechtigte Teilhaber am Körperganzen an. Seine Vorstellungen eines demokratischen Fürsorgestaates übertrug er auf das Organische, indem die Teile des Körpers in gegenseitiger Abhängigkeit einander zuarbeiteten.19 Schwalbe war nun auch politisch empfänglich. Wie viele seiner Kollegen in der Pathologie aber in die entgegengesetzte Richtung. Hier folgten große Teile des Faches dem „Altmeister“ nur im Grundprinzip des Politi-

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sierens, aber nicht inhaltlich. Denn der Aufstieg Virchows und seiner Pathologie fiel zeitgleich zusammen mit der Gründung und dem Aufstieg des deutschen Kaiserreiches und auch der Begründung des deutschen Hochschulsystems. Das neue Selbstund Sendungsbewusstsein der Deutschen wurde demgemäß vor allem im Bereich der Wissenschaften und der Medizin wichtig. Das subjektiv verspätet wahrgenommene Werden der Nation musste durch eine Aufholjagd kompensiert werden, die sich nicht zuletzt auf die Früchte des deutschen Universitätssystems stützte. Diese arbeitsteilige, hierarchische Wissensfabrik, die alles von der Assistent_in bis zur Professor_in für die Forschung mobilisierte (und nach wie vor so funktioniert), wurde als ein spezifisch deutsches Produkt angesehen. Es arbeitete in engem Bezug zu den Zielsetzungen des kaiserlichen Deutschlands.20 Im genannten Sinne betrieb Schwalbe Pathologie. Und vor dem Hintergrund seiner Reflexionen zur allgemeinen Pathologie betrieb Schwalbe auch Medizingeschichte – wie nicht wenige seiner Fachgenoss_innen. Zwischen 1905 und 1920 veröffentlichte er seine „Vorlesungen über Geschichte der Medizin“ in drei Auflagen.21 Die pathologische Anatomie und vor allem Virchows Zellularpathologie wurden nicht nur hervorgehoben, letztere stellte sogar den historischen Höhepunkt des Fortschreitens der Medizingeschichte dar. Schwalbe stand hier nicht alleine, sondern richtete sich im Duktus nach den Ausführungen des Prager Pathologen Hans Chiari (1851 – 1916).22 Er reihte sich gleichsam ein und war in Gesellschaft. Das gilt auch für seine politische Grundhaltung. Max Westenhoefer (1871 – 1957), Assistent Rudolf Virchows, wollte ab 1908 in Chile ein pathologisches Institut „nach deutschem Muster“ 23 schaffen. Otto Lubarsch (1860 – 1933), der zweite Nachfolger von Virchow an der Charité, war Jude, aber auch deutschnational und er verlangte von seinen jüdischen Mitbürger_innen die volle Assimilation an die Gesellschaft des Kaiserreiches.24 Während des Ersten Weltkrieges wurde Schwalbes Engagement dann auch offen politisch: Wie seine Kollegen hielt er Durchhaltereden und versuchte, die Bevölkerung auf den Krieg einzuschwören. Schon am 18. Oktober 1914 sprach Schwalbe über „Wofür kämpfen wir?“ an einem Volksunterhaltungsabend in Rostock. Zwei Monate später sprach er über den „Krieg als Erzieher“ und die „Volksernährung“ im Krieg.25 Damit stand Schwalbe auch im Kontext einer Pathologie, die im Ersten Weltkrieg auch inhaltlich versuchte, die militärischen Bemühungen der obersten Heeresleitung zu unterstützen: Sein Kollege Ludwig Aschoff (1866 – 1942) hatte als Leitgestalt des Faches ein Programm zur Leichenöffnung möglichst aller gefallener deutscher Soldaten entworfen, um die „Konstitution“ des deutschen Volkes zu untersuchen (Abb. 3). Zu diesem Zweck arbeiteten einige Ordinarien der Pathologie ab 1916 als „beratende Pathologen des Heeres“ 26. Schwalbe tat dies zwar nicht, aber er hatte sich gleich nach der Mobilmachung 1914 als Bataillonsarzt freiwillig gemeldet, um seinen Beitrag zur nationalen Sache zu leisten.27 Schwalbes politisches Engagement wird durch eine Quelle bestätigt, die das Alltagsleben in Rostock während des Ersten Weltkriegs beschreibt: Bruno Wolff, der Freund und Mitarbeiter von Schwalbe im Pathologischen Institut schrieb Tagebuch. Im Nachlass seines Sohnes Hans Julius Wolff (1902 – 1983) wurde es gefunden. Bruno Wolff

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Abb. 3  Kursaal des alten Instituts für Pathologie in der Gertrudenstraße (Die noch vorhandene Zeichnung an der Tür entstand nach Schwalbes Tod, zum 60. Geburtstag von Ludwig Aschoff am 10. Januar 1926).

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(1870 – 1918) beschreibt den Antisemitismus, unter dem er litt, er beschreibt aber auch Ernst Schwalbes Engagement für die Alldeutschen, dass zu Verstimmungen zwischen beiden Freunden führte: Schwalbe überreichte 1918 seinem Freund Wolff eine alldeutsche Schrift mit antisemitischen Bemerkungen. Schwalbes politisches Engagement war enthemmt.28 Die starken Berührungen des Politischen mit dem Wissenschaftlichen traten nach der Kriegsniederlage 1918 ganz deutlich hervor. Wie für seine Kolleg_innen war dies für Schwalbe ein Desaster. Durch das „furchtbare Unglück unseres Vaterlandes“ fühlte sich Schwalbe dazu getrieben, „auf eine möglichste Reinigung der Gelehrtensprache von Fremdausdrücken bedacht zu sein.“ Denn die Gegner führten in den Augen Schwalbes den Kampf „gegen das Deutschtum und die deutsche Sprache“ weiter. Es ging also „um den geistigen Kampf gegen Lüge und Verleumdung deutscher Arbeit“. Denn, so Schwalbe: „Deutscher Geist ist unbesiegbar!“. In diesem Sinne sollte der Beitrag der Ärzteschaft „in dem großen Heldenkampf Deutschlands“ dereinst aufgearbeitet werden, sollte die Ärzteschaft ferner „an dem Wiederaufbau unseres Vaterlandes helfen“. In diesem Rahmen wurde auch das Wirken Rudolf Virchows dargestellt, denn durch ihn wurde „die pathologische Anatomie eine Hauptgrundlage der Medizin“.29 Es war diese ganze Vorgeschichte, die Schwalbe dann schließlich auf die Straße zum Flugplatz nach Warnemünde führte und in seinen frühen Tod. Allerdings hatte er aus dem aufregenden 19. Jahrhundert noch etwas Anderes mitgenommen, einen Arbeitsstil, aus dem heraus sich eine wichtige Idee entwickeln sollte, die dann eine nachhaltige Wirksamkeit entfaltete.

Schwalbe und die pathologischen Präparate Die politischen und kulturellen Begleitumstände sind wichtig, um die Bedeutungszuschreibungen zu erfassen, die Ernst Schwalbe der Pathologie gab. Das andere wichtige Feld ist die Arbeitsweise im Fach, die er ebenfalls seiner Ausbildungszeit als Mediziner und Pathologe verdankte. Rudolf Virchow verteidigte seine „Zellularpathologie“ bis zu seinem Lebensende. Und es war auch ein Kernaspekt seiner geschilderten Arbeitsweise, dass die neue Medizin im Wesentlichen aus der Untersuchung des morphologischen Substrates, aus der Untersuchung der Leichen der verstorbenen Patient_innen, ihre Erkenntnisse schöpfen sollte.30 Durch Gewebeschnitte wurden seine Zelluntersuchungen untermauert, die Gewebeschnitte waren damit Beweismaterial. Daher brauchte man körperliches Material für die Forschung. Wichtig war die Anfertigung von mikroskopischen, aber auch von makroskopischen Präparaten. Letztere wurden mit speziellen Techniken bearbeitet und in Gläsern mit Konservierungsflüssigkeit verwahrt. In den Augen Virchows hatten die Präparate eine immense Bedeutung. Sie dienten nämlich nicht nur der Forschung. Sie dienten ebenfalls der Unterweisung der Studierenden, der Fortbildung von Ärzt_innen und nicht zuletzt auch der „Belehrung“ der Öffentlichkeit. Der Bedeutung des Faches gemäß hatte man Virchow (und seinen Nachfolgern) zwischen 1896 und 1906 an der Berliner Charité einen wuchtigen dreiteiligen Institutsbau geschaffen. Virchow selbst erlebte nur noch die Fertigstellung des großen Pathologischen Museums.31 Aber eben dieses war für ihn auch am wichtigsten. Das Museum sollte eine Schnittstelle zwischen Lehre, Forschung und Öffentlichkeit sein. Im Museum wurden tagein tagaus professionell Präparate sämtlicher Körperteile und -regionen hergestellt. Es war in den Augen Virchows ein Referenzort für seine neue Medizin.32 Eben in dieser Tradition stand auch Schwalbe. Als er 1908 nach Rostock kam, konnte er bereits auf eine pathologische Sammlung zurückgreifen. Sein Vorgänger, Theodor Acker-

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mann (1825 – 1896) war 1865 nach Rostock berufen worden, hatte dort ein eigenes, neu errichtetes Institut bezogen und den Grundstock einer Sammlung gelegt.33 Unter Schwalbe wurde die Sammlung dann beständig erweitert. Ebenfalls setzte sich Schwalbe in diesem Sinne für eine räumliche Erweiterung des Fachbetriebes ein, indem er einen Institutsneubau in die Wege leitete, der allerdings erst nach seinem Tod realisiert werden konnte.34 Schwalbe band die Rostocker Sammlung allerdings in den allgemeinen Präparate- und Abbildungsaustausch mit den anderen Instituten ein und stand in regem Austausch mit prominenten Fachkollegen wie Lubarsch oder Aschoff. Auch auf dem Gebiet der Sammlungstätigkeit entsprach Schwalbes Aktivität damit den allgemeinen Tendenzen des Faches, indem in Anlehnung an Virchow eine morphologische (körperlich begründete) Leichensaalpathologie betrieben wurde. Aus dieser sollten dann, abgesehen von der Eruierung der Krankheitsursache des verstorbenen Patienten, Grundsätze der allgemeinen Pathologie, der allgemeinen Krankheitslehre abgeleitet werden. Bereicherte Schwalbe in diesem Punkt lediglich das bereits bestehende Arbeitsprogramm der deutschsprachigen Pathologie des 19. Jahrhunderts, so entwickelte er hieraus jedoch auch etwas zukunftsweisendes Neues. Davon soll im nächsten Kapitel die Rede sein.35

Die wissenschaftliche Innovation – Ernst Schwalbe, die „Missbildungen“ und die kranken Kinder Wie alle Pathologen hatte Schwalbe ein Spezialgebiet, das er im Rahmen der Leichenöffnungen und der Präparateherstellung mit besonderem Interesse verfolgte. Das waren die „Missbildungen“ des menschlichen Körpers (Teratologie). Zunächst einmal handelte es sich dabei um nichts Neues. Sogenannte „Monstrositäten“ – vor allem Föten oder frisch verstorbene Säuglinge mit absonderlichem Körper – hatten am Ende des 18. Jahrhunderts die „Wunderkammern“ oder Naturalienkabinette der Fürsten gefüllt. Derartige Präparationen wurden als exotische Zustände aus Gottes Schöpfungswerk mit voyeuristischem Interesse beäugt. Im 19. Jahrhundert nun wurde die „Monstrosität“ zur „Missbildung“, indem der wissenschaftliche Blick das Absonderliche in das naturgesetzliche Walten der menschlichen Biologie einreihte.36 Im bereits geschilderten Sinne wurden Präparate angefertigt und in wissenschaftlich/öffentliche Schausammlungen integriert. Hier hatte sich auch Virchow betätigt, und Schwalbe stieg zunächst auch hier in seine Fußstapfen. In einem groß angelegten Werk, das zwischen 1906 und 1960 (!) publiziert wurde und damit weit über die Lebenszeit des Autors hinausreichte, konnte Schwalbe unter anderem auch nachweisen, dass „Missbildungen“ keine exotischen Raritäten waren, sondern dass sie im Gegenteil viel häufiger waren, als angenommen: Sie gehörten zum menschlichen Leben dazu, sie waren keine übernatürliche Fremdeinwirkung.37 Mit Schwalbes Tätigkeit zur Erforschung der Missbildungen ragte also zunächst das 19. Jahrhundert tief in das neu angebrochene 20. Jahrhundert hinein, so wie es auch beim politischen Kontext und bei der Arbeitsweise generell zu konstatieren ist. Betrachtet man seine Ausführungen zu diesem Thema aber genauer, so wird das Bild doch differenzierter. Eine ganze Anzahl derjenigen Präparate, die Schwalbe bis 1920 angefertigt hatte, stehen uns heute für eine Analyse seiner Forschungen noch zur Verfügung.38 Wir können aber vor allem aus seinen Schriften und dem Kontext seiner Arbeit erkennen, dass Schwalbe nicht dabei stehen blieb, die Gläser zu betrachten. Vielmehr ging er einen Schritt weiter als der „Altmeister“ an der Berliner Charité. Denn er revitalisierte einen Aspekt, den Virchow in der täglichen Arbeit nur randständig verfolgt hatte: den Kontakt

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Abb. 4  Hermann Brüning (Foto, ohne Jahr).

des Pathologen zur Klinik. Schwalbe sah die Missbildungen mit den Augen des „Praktikers“: Krankheiten konnten chronische Schäden des Körpers verursachen. Das waren dann zwar keine Krankheiten mehr, aber der Arzt musste dennoch mit diesen umgehen und Hilfeleistung bieten. Genauso war es mit Dauerschäden, die durch eine „fehlerhafte Entwicklung“ gesetzt worden waren. Sie gehörten für Schwalbe in das Feld der ärztlichen Behandlung. Dass Schwalbe die erworbenen Schäden von sogenannten „Dysontogenien“ (also verborgenen Entwicklungsstörungen, die wir heute als genetisch verursacht begreifen würden) abgrenzte, wird vom Fachmann der Pathologie heute als zukunftsweisend begriffen. Ein anderer, mindestens ebenso wichtiger Punkt, ist aber die Verbindung des Themas mit der praktischen Medizin: Schwalbe rechnete zu den „Dysontogenien“ nicht nur die Missbildungen, sondern auch die Tumoren. Zu den Missbildungen wiederum zählten nicht nur Entwicklungs- sondern auch Wachstumsstörungen des menschlichen Körpers. Den Ursprung hatten diese Veränderungen allesamt vor der Geburt. Aber nach der Geburt konnten sie sich mit unterschiedlichem Krankheitswert bemerkbar machen: Nicht immer ergaben sich aus einer vorgeburtlichen „Dysontogenie“ auch Funktionsstörungen des Körpers. Und das, obwohl „Missbildungen“ viel häufiger festgestellt werden konnten als einst angenommen.39 Letztlich schlug Schwalbe eine Brücke zwischen der pathologischen und der klinischen Phänomenologie, zwischen der Theorie in der Allgemeinen Pathologie und dem praktischen Umgang mit Patient_innen am Krankenbett und im täglichen Leben. Diesen Weg ging er konsequent. Denn die Patient_innengruppe, die als Träger_innen von „Missbildungen“ identifiziert werden konnte, ließ sich schnell ableiten: die Kinder. Schwalbes Engagement auf dem Gebiet der Kinderkrankheiten lässt auch erkennen, dass er sich in gewisser Weise als Teamarbeiter sah, wenn er noch im Jahr seines Todes anmerkte, dass der Universität Rostock seine „Lebensarbeit“ gelte.40 Denn Schwalbes Zugang zum Thema „Missbildungen“ bedeutete die Kontaktaufnahme zu seinem pädiatrisch arbeitenden Kollegen, Hermann Brüning (1873 – 1955, Abb. 4). Dieser leistete seinerzeit noch Pionierarbeit auf dem Gebiet der Kinderheilkunde. Erst seit 1901 mussten die Medizinstudierenden zumindest einsemestrig die Kinderklinik oder eine entsprechende Abteilung visitieren. Und erst in dem Jahr, als Schwalbe nach Rostock kam, erhielt Brüning als Oberarzt der Inneren Medizin (!) eine eigene „Kinder-­Poliklinik“.41 Nach Vorläuferinitiativen im 19. Jahrhundert konnte sich das Fach der Kinderheilkunde erst während und nach dem Ersten Weltkrieg vor allem aufgrund der hohen Säuglingssterblichkeit etablieren und professionalisieren. Die Anzahl der Säuglingsfürsorgestellen im Deutschen Reich stieg erst ab 1917 sprunghaft an. Erst 1918 wurde die Pädiatrie, die Kinderheilkunde, offiziell Prüfungsfach in der Medizin. 1894 war der erste Lehrstuhl für Pädiatrie an der Berliner Charité eingerichtet worden, bis 1914 gab es im Deutschen Reich nur sechs Lehrstühle. Zwischen 1919 und 1921 kamen 14 (!) weitere Lehrstühle hinzu.42 Die Kinderheilkunde erlebte einen beispiellosen Aufstieg nicht zuletzt durch das Engagement der ersten Kliniksleiter_innen. Es ist daher so beispielsweise nicht zufällig, dass die Jahre zwischen 1919 und 1933, als Ernst Moro (1874 – 1951) die Heidelberger Kinderklinik leitete, als die „Goldenen Jahre“ der Kinderklinik bezeichnet werden.43 So wie Brüning war auch Schwalbe nicht in der Position dessen, der aus dem Vollen schöpfen konnte. Obwohl behandelnden Ärzt_innen schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts klar war, dass die Leichenöffnung von Kindern aufgrund von deren körperlichen Besonderheiten eindeutig hilfreich für Forschungen auf dem Gebiet der Kinderkrankheiten war, konnte von einer gebührenden Berücksichtigung der pathologischen Anatomie des Kindes in den Lehrbüchern der Pathologie im gesamten 19. Jahrhundert kaum

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die Rede sein. Die Faktoren Lebensperiode, Geschlecht und Identität wurden erwähnt, der Inhalt der Handbücher spiegelte die Theorie jedoch kaum wider. Dies gilt für die Arbeiten von Virchow, aber beispielsweise auch für das Lehrbuch des Freiburger Pathologen Ernst Ziegler (1849 – 1905), der das Thema Kinderkrankheiten im ersten Band zur allgemeinen Pathologie in den Ausgaben seines „Lehrbuches der allgemeinen Pathologie und der pathologischen Anatomie“ in den Auflagen 1895, 1898 und 1905 nur eine halbe Seite kleingedruckten Text widmete.44 Die pathologische Anatomie des 19. Jahrhunderts war eine Erwachsenenpathologie, genauer gesagt eine Pathologie des jungen Mannes in arbeitsfähigem Alter. Bevölkerungsgruppen mit besonderen seelischen und körperlichen Konditionen standen nicht im Fokus des Interesses. Das änderte sich erst langsam zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Abgesehen von der bereits beschriebenen Kinderheilkunde gilt dies auch für alte Menschen sowie auch für die Bedürfnisse der Frauen.45 Brüning und Schwalbe schufen im Rahmen ihrer Zusammenarbeit etwas Neues. Zwischen 1912 und 1924 gaben Sie ein zweibändiges Werk heraus, das „Handbuch der allgemeinen Pathologie und der pathologischen Anatomie im Kindesalter“ (Abb. 5). Die Expertise des deutschsprachigen Raumes in Sachen Paidopathologie (Kinderpathologie) wurde in diesem Werk zusammengetragen, um wie beschrieben eine Forschungslücke zu füllen. Die einzelnen Beiträge befassten sich mit den verschiedenen Organsystemen, aber auch mit spezifischen Erkrankungen bzw. spezifischen Problemstellungen im Zusammenhang mit Kinderkrankheiten. Die Lehre der Missbildungen, die Schwalbe besonders am Herzen lag, ging in diesem großen Werk auf, bemerkenswerterweise wurde das Kapitel aber nicht von Schwalbe verfasst, sondern von Bruno Wolff. Schwalbe zeigte demgegenüber in dieser groß angelegten Arbeit, dass er über das Spezialthema der Missbildungen hinausdachte, indem er gleich nach den historischen Einführungsbemerkungen von Brüning über „Normalen Altersunterschied und Wachstum im Kindesalter. Allgemeines über Ursachen der Krankheiten im Kindesalter. Analyse der Altersdisposition“ schrieb. Damit schlug er den Bogen vom Leichensaal in das Behandlungszimmer – was damals für die deutsche Pathologie wie beschrieben keinesfalls üblich war.46 Bis zu einem gewissen Grad machte Schwalbe damit das Fach der Pathologie auf einem umschriebenen Gebiet für die praktische Medizin zugänglich.

Schlussbetrachtungen – Ernst Schwalbe und „andere“ Menschen in der Medizin Damit kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Betrachtungen zurück. Es lohnt sich, auch diejenigen Wissenschaftler genauer anzuschauen, die sich nicht unter der Hochprominenz, sondern eher im „Mittelfeld“ befinden. Nur so finden wir zum Teil die Spuren von längerfristigen Entwicklungen in der Medizin. Nur so können wir entsprechende Gewichtungen vornehmen und die Bedeutung zeitgenössischer Trends abschätzen.

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Abb. 5  Titelblatt des „Handbuchs der allgemeinen Pathologie und der pathologischen Anatomie im Kindesalter“ aus dem Besitz von Ernst Schwalbe.

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Schwalbes deutschnationaler Fanatismus und sein martialischer Tod in dem damaligen Dorf Schutow bei Rostock stehen für das Eingebundensein der Medizin in die Kriegsziele des kaiserlichen Deutschlands und die Kontextgebundenheit der Medizin – seinerzeit und heute. Schwalbe leistete seinen Beitrag zu diesem Engagement. Ein Kind seiner Zeit war er ferner in der Art und Weise, wie er nach Virchow’schem Muster Pathologie betrieb und wie er sich der Arbeit an den Präparaten verschrieb. Dennoch stehen diese Bereiche nur für einen Teil von Schwalbes Wirken. Und es ist auch keinesfalls nur die Missbildungslehre, die Aufschlüsselung ihrer Facetten und in diesem Zusammenhang „die Bedeutung der inneren Krankheitsursachen“, die Schwalbes wissenschaftliches Werk auszeichnen und die es erwähnenswert machen.47 Vielmehr ist es bei näherer Untersuchung die Erweiterung eben dieser Missbildungs- und Entwicklungslehre der Pathologie hin zu einer praktisch angewandten Pathologie am Kind, die Schwalbes wissenschaftlichem Werk eine besondere Note geben. Das mit Hermann Brüning zusammen herausgegebene Handbuch der Kinderpathologie war seinerzeit einzigartig und es unterstützte einen modernen Trend, nämlich eine Ausweitung und Differenzierung der Medizin in Richtung der Versorgung von Bevölkerungsgruppen, die bis dato nicht im Rampenlicht der Medizin standen bzw. die vernachlässigt worden waren. Im Falle von Schwalbe betraf dies die Kinder. Das Handbuch für Kinderpathologie war ein wichtiger Impuls, der seiner Zeit voraus war. Erst 1963 wurde durch den Magdeburger Pathologen Hasso Essbach (1909 – 1993) mit seinem Lehrbuch der Paidopathologie wieder etwas Ähnliches geschaffen. Er schrieb im Vorwort, dass das Gebiet „bis vor wenigen Jahren Stiefkind unseres Faches“ gewesen sei.48 Heute gibt es 13 Standorte für Kinderpathologie im deutschen Sprachgebiet.49 Mit diesen wenigen Bemerkungen ist ein mühsamer Weg angedeutet, den die Medizin nach 1900 und insbesondere dann ab den 1960er-­Jahren nahm, um allen Teilen der Bevölkerung gerecht zu werden. Vor allem seit 1990 bekam die Medizin langsam aber zunehmend ein demokratisches und multikulturelles Profil. An der Entscheidungsfindung werden heute die Patient_innen zunehmend beteiligt – so auch die Kinder. Eine Berücksichtigung der Interessen von Menschen, die nicht den Normierungsbestrebungen des 19. Jahrhunderts entsprechen, wird immer wichtiger. Auch „andere“ Menschen, die nicht krank sind aber die Hilfestellung der Medizin in Anspruch nehmen müssen, wie beispielsweise Gehörlose oder transidente (transsexuelle) Menschen, werden zunehmend nicht nur wahr- sondern auch ernstgenommen.50 Der überraschende Befund ist nun, dass das Wirken von Ernst Schwalbe nicht ein großer Motor, aber doch ein kleines Rädchen in dieser Entwicklung war. Die Karriere von Personen und ihr Wirken sind oft komplexer als es scheint. So kommt es, dass der deutschnationale, kaisertreue Schwalbe in gewisser Weise einen kleinen Beitrag zur Demokratisierung der Medizin leistete. Das ist nicht unwichtig, denn wir erkennen dadurch, dass ein Trend, den wir heute deutlich wahrnehmen und fördern, in filigranen Spuren schon früh nach 1900 einsetzte – im Bemühen, eine naturwissenschaftliche Medizin zu reformieren, die gesellschaftliche Bedürfnisse eigenen Visionen allzu sehr untergeordnet hatte.

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Anmerkungen 1

Für die Unterstützung mit Material zu Schwalbe bedanke ich mich herzlich bei meinem Kollegen Hans-­Uwe Lammel, „Geschichte der Medizin“, Universitätsmedizin Rostock, sowie bei Sylvio Erdmann, Mitarbeiter im Universitätsarchiv Rostock. 2 Siehe hier beispielhaft die Biographien des Pathologen ­Rudolf ­Virchow (1821 – 1902) und des Bakteriologen Robert Koch (1843 – 1910), Ackerknecht 1953; ­Vasold 1990; Gradmann 2005. 3 Vgl. zur (historischen) Bedeutung der Leichenöffnung für das Fach Pathologie die klassische Darstellung von Brugger/Kühn 1979. 4 Vgl. Becker 1993, S. 52 – 62. 5 Ebd., S. 63. 6 Ebd., S. 214. 7 Vgl. Wehler 2003, S. 401 – 403. 8 Vgl. Bernhard Schwalbe, Rostocker Zeitfreiwilligen-­Bataillon im Kapp-­Unternehmen der Marxisten 1920, Beiblatt des „Niederdeutschen Beobachters“, Dienstag, 2. Mai 1933, in: Personalakte Ernst Schwalbe, Universitätsarchiv Rostock (im Folgenden: PA Schwalbe, UA Rostock), Bl. 95. 9 Vgl. den Artikel „Eine Professor-­ Schwalbe-­Straße in Rostock“ von Bernhard Schwalbe, in: Allgemeine Deutsche Zeitung, 10. 4. 1933. Siehe die ebenfalls in nationalsozialistischer Zeit erschienene, schon aufgeführte Darstellung des Sohnes: Schwalbe, Rostocker Zeitfreiwilligen-­Bataillon im Kapp-­ Unternehmen, in: PA Schwalbe, UA Rostock, Bl. 94 und 95. Siehe das Zitat auf Bl. 95. 10 Vgl. speziell zu den zahlreichen Prosekturen im deutschsprachigen Raum die Ausführungen in Fischer/ Gruber 1949. 11 Eintrag von „Ernst Schwalbe“ im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00003312 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019); Ernst Schwalbe, Städt. Krankenhaus Karlsruhe, an die Univ. Rostock, 13. 3. 1908, in: PA Schwalbe, UA Rostock, Bl. 16. 12 Die Medizinische Fakultät der Univ. Rostock: Die Wiederbesetzung der Professur für allgemeine Pathologie

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und pathologische Anatomie, Rostock, 19. 2. 1908, in: PA Schwalbe, UA Rostock, Bl. 24 – 31, hier Bl. 26 f., siehe das Zitat auf Bl. 26. R. Hanser: Ernst Schwalbe. 20.I.1871 – 17.III.1920, in: Verhandlungen der Deutschen Pathologischen Gesellschaft, 1937, S. 549 – 555, hier S. 551. Vgl. Bynum 1994; Lachmund 1997. Siehe zu den Grundlagen von Virchows Arbeit die schon eingangs zitierten Biographien von Ackerknecht und Vasold. Siehe ferner auch Goschler 2002. Vgl. Prüll 2000; ders. 2002. Vgl. dazu Prüll 1998; ders. 2003a. Siehe dazu Bynum 1994, S. vii. Eine sehr schöne Darstellung der medizinischen Visionen des 19. Jahrhunderts findet sich in den Lebenserinnerungen von Adolf Kußmaul. Kußmaul 1899, S. 2. Vgl. Mazzolini 1988; Johach 2008. Vgl. Ben-­David 1960; vom Brocke 1980; Prüll 2003b, S. 337 f. Vgl. Schwalbe 19051; ders. 19092; ders. 19203. Siehe dazu auch Prüll 1997a, S.  202 – 204. Vgl. Prüll 1999. Vgl. Ebd., Prüll 1997b. Strahl 2007, S. 93; Schwalbe 1914; ders. 1915. Vgl. Prüll 1996, passim. Schwalbe an den Rektor der Universität Rostock, 1. 8. 1914, in: PA Schwalbe, UA Rostock, Bl. 33. Vgl. Wolff o. J.: Kriegstagebücher. Siehe v. a. die Eintragungen von 1917 und 1918, S. 109, 111, 112, 152 und 168. Vgl. Schwalbe 19203. Siehe die ersten fünf Zitate auf S. VII/VIII, dann das sechste und siebte auf S. 170, das letzte Zitat auf S. 163. Schwalbe hatte bezeichnenderweise die erste und die letzte Vorlesung seiner „Geschichte der Medizin“ nach dem Krieg umgearbeitet. Die Auseinandersetzungen um die „Zellularpathologie“ prägen auch noch den Grundsatzbeitrag von Virchow zur neuen Medizin, den er gegen Lebensende verfasste. Virchow 1897. Vgl. Prüll 2003b, S. 78 – 87.

32 Vgl. zur Geschichte des Pathologischen Museums der Berliner Charité ferner Krietsch/Dietel 1996. 33 Eulner 1970; Pathologisch-­ anatomische Lehrsammlung Rostock 2017. 34 Vgl. Nizze 2004, S. 7 und 10 f. Siehe zum Pathologischen Institut der Universität Rostock auch Fischer/Gruber 1949, S. 154 f. 35 In England wurde im Gegensatz zur deutschsprachigen Pathologie schon ab der Jahrhundertwende eine „klinische Pathologie“ favorisiert, die vor allem Körperflüssigkeiten und Gewebeproben des lebenden Patienten analysierte. Vgl. Prüll 2003b, S.  159 – 265. 36 Zürcher, S. 12 – 14. Übergänge beider Sehweisen zeigen sich bei dem Apotheker Sir Henry Wellcome (1853 – 1936), der sich nicht nur als Firmengründer, sondern auch als Sammler von medizinischen Exponaten und medizinhistorischen Zeugnissen der Vergangenheit betätigte. Arnold/Olsen 2003. 37 Ebd., S. 77 f. 38 Pathologisch-­anatomische Lehrsammlung Rostock 2017. Für zusätzliche Angaben zur Sammlung bedanke ich mich an dieser Stelle bei meinem Kollegen Hans-­Uwe Lammel. 39 Schwalbe 1911a, S. 1 f.; ders. 1911b, S.  556 – 564. 40 Schwalbe 1920, S. VIII. 41 Eulner 1970, S. 207 und 214. Siehe zu Brüning auch den Eintrag „Hermann Brüning“, in: Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://cpr. uni-­rostock.de/resolve/id/cpr_person_00002018 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Gegenwärtig wird am Rostocker Arbeitsbereich Geschichte der Medizin von Tina Lewerenz ein Promotionsprojekt zu Hermann Brüning und der Begründung der Kinderheilkunde in Rostock bearbeitet. 42 Seidler/Leven, S.  203 – 205. 43 Eckart 2010, S. 64. 44 Ziegler 1895, S. 106; ders. 1898, S. 104 f.; ders. 1905, S. 52. 45 Prüll 1997c; Honegger 1991; Thane 1993; diess. 2000. 46 Vgl. Brüning: Schwalbe 1912 – 1924; ferner Hanser 1937, S. 552. Dies zeigt auch eine Publikationsreihe,

Ernst Schwalbe als Pathologe in Rostock und die Ursprünge einer pluralistischen Medizin 

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert die von Schwalbe zusammen mit Robert Meyer ab 1914 herausgegeben wurde („Studien der Pathologie der Entwicklung und des Wachstums“) und deren Erscheinen dann in der

Kriegs- und Nachkriegszeit nach der Publikation des zweiten Bandes wieder eingestellt wurde. Fischer/Gruber 1949, S. 203. 47 Nizze 2004, S. 10.

48 Essbach 1963, S. V. 49 Standorte Kinderpathologie. AG deutscher Kinder- und Fetalpathologen. 50 Prüll 2016, S. 157 f.; Fischer/Lane 1993.

Literaturverzeichnis Quellen UAR : Personalakte Ernst Schwalbe.

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Ernst Schwalbe als Pathologe in Rostock und die Ursprünge einer pluralistischen Medizin 

Fakultät im Kriegszustand? Die Rostocker Universitätsmedizin im Ersten Weltkrieg Hauke Schulz

Die Arbeit ist Kampf, wie der Krieg. Aber sie ist des wilden Bruders milde Schwester, die langsam schafft, doch nie zerstört. Der stillen pflichtgemäßen Arbeit haben sich die deutschen Hochschulen während des Krieges geweiht in dem Bewusstsein, so am ehesten mitwirken zu können zum Wohle des Vaterlandes und so hat es auch unsere alte Universität gehalten.1

Diese Worte fand der Rostocker Anatom Dietrich Barfurth in seiner Antrittsrede als Rektor am 1. Juli 1917. Wenn auch weniger schroff im Duktus, erinnern sie dennoch an das berühmt-­berüchtigte „Manifest der 93“ 2 aus dem Jahr 1914 und dem damit verbundenen Aus- und Aufruf „Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden“ 3. Wie die große Mehrzahl der staatstragenden intellektuellen Oberschicht des Kaiserreichs teilte auch Barfurth die nahezu uneingeschränkte Kriegsbegeisterung der deutschen Professorenschaft. Sein Kampf fand jedoch nicht auf dem Schlachtfeld statt. Vielmehr sah er seine Aufgabe, wie auch die vieler Kollegen, in der stillen und pflichtgemäßen Arbeit an den Universitäten des Deutschen Reichs und speziell an seiner, der Universität Rostock. Doch was bedeutete dies konkret? Welche Auswirkungen etwa hatte der Krieg auf die Medizinische Fakultät und das Handeln und die Aufgaben ihrer Mitarbeiter? Am Beispiel des pharmakologischen Instituts soll ein Einblick in die Arbeit der Fakultät in der Vorkriegszeit, die Auswirkungen während des Weltkriegs und die Folgen in den ersten Friedensjahren bis in die frühen 1920er-­Jahre gewährt werden.

Blühende Zeiten? Die Entwicklung der Fakultät vor dem Krieg Seit den 1880er-­Jahren zeigte sich an der Medizinischen Fakultät Rostock wie auch im Rest des Deutschen Reiches eine expansive Entwicklung der Klinik und die Bildung neuer Disziplinen aus den „klassischen“ Fächern heraus. So entstand hier etwa der erste Lehrstuhl der heutigen Hals-­Nasen-­Ohren-­Heilkunde im Deutschen Reich,4 der erst dritte für Haut- und Geschlechtskrankheiten und auch eine eigenständige Kinderklinik war bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert geplant gewesen.5 Diese Pionierarbeiten waren immer auch von individuellen Faktoren bestimmt.6 Denn auf anderen Gebieten fällt die Universität Rostock hinter der allgemeinen Entwicklung zurück und erhält zum Beispiel als eine der letzten Universitäten im Deutschen Reich eine Psychiatrische Klinik 7 – 1889 haben außer in Kiel, Königsberg und eben Rostock überall solche bestanden. Nichtsdestotrotz: Es ist generell Aufbruch und Wachstum zu beobachten. Folgt man der Autobiographie des

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ersten Ordinarius an der heutigen Hals-, Nasen- und Ohrenklinik, Otto Körner, so war der medizinische Lehrkörper von 14 auf 35 Lehrer angewachsen und die Zahl der Medizinstudenten von 110 auf 405 gestiegen, womit Rostock im Sommer 1913 die medizinischen Fakultäten von Halle oder Greifswald weit überflügelt und hinter Göttingen nur um sieben Studenten zurückgestanden habe.8 Die Universität hat aber auch auswärtige Ärzte angezogen: Aus dem Besucherbuch der HNO -Klinik geht hervor, dass von 1899 bis zum Ausbruch des Weltkrieges mehrere hundert Ärzte, viele aus dem Ausland, nach Rostock gekommen seien – inklusive 25 Mediziner aus Amerika und 23 japanische Kollegen.9 Vom Austausch zu Letzteren konnte die Fakultät später stark profitieren.

Krieg und Klinik Wir sind stolz darauf, daß unsere Universität 1870 im Verhältnisse zur Zahl ihrer Studenten unter allen deutschen Hochschulen die meisten Kämpfer, Ärzte und Krankenpfleger ins Feld geschickt hat. Und so dürfen wir uns auch freuen, wenn sich zu den alten Universitäten neue gesellen, als neue Pflegestätten des nationalen Sinnes und als neue Schulen nationaler Tatkraft!10

Patriotismus und pathetischer Ton sind zu jener Zeit nichts Kriegsspezifisches oder als Durchhalteparole während des Krieges gedacht. Das vorangestellte Zitat ist ein Auszug aus einer Rede vom 1. Juli 1913, ein Jahr vor dem Krieg, gehalten vom Rostocker Professor und Mitbegründer der Hals-­Nasen-­Ohrenkunde, Otto Körner. Mit medizinethischen Fragen zu dieser Zeit, wie sich etwa das Selbstbild der Mediziner durch den Krieg verändert – oft als Entwicklungsfortsetzung begründet in „Industrialisierung“, „Ökonomisierung“ und wissenschaftlichen Diskussionen wie etwa der Entstehung sozialdarwinistischen Gedankenguts – beschäftigen sich Arbeiten wie die des britischen Medizinhistorikers Mark Harrison. Er sprach 1996 von der „Medikalisierung des Krieges“ und einer „Militarisierung der Medizin“.11 Die Medizin sei nicht mehr ein unabhängiger Faktor im Wissenschaftsbetrieb oder politischen Alltag gewesen, sondern wurde von Armeeplanern aktiv in ihre Überlegungen einbezogen, um die Schlagkraft des Militärs zu erhöhen. Die Mediziner hätten dies nicht unterbunden, sondern sie bewusst als patriotische Pflichterfüllung und dankbare Möglichkeit der „(Kampf-) Feld“-Forschung angenommen. Genannt sei hier der in Freiburg tätige Pathologe Ludwig Aschoff 12, der bei der Heeresleitung erreichte, die sogenannte Feldpathologie zu stärken. Einerseits sollten die Folgen des Krieges auf den menschlichen Körper untersucht werden, andererseits hätte auch die Möglichkeit gelockt, bei den Gefallenen Untersuchungen an körperlich gesunden Männern vornehmen zu können.13 Auch in Rostock habe sich die Forschung im Krieg mit Verwundeten auseinandergesetzt, so Barfurth in seiner Rede. Im deutsch-­französischen Krieg seien insgesamt nur 43 Kehlkopfschüsse beobachtet worden, allein in der Rostocker Ohren- und Kehlkopfklinik sollen im Ersten Weltkrieg bis 1917 31 dieser Verletzungen versorgt worden sein. Ebenso sei die Innere Medizin mit neuen Erkrankungsmustern von verwundeten Soldaten konfrontiert gewesen, ohne dass diese genauer bezeichnet werden. Die wissenschaftliche Tätigkeit auch der Rostocker Medizin habe sich auf diese Kranken konzentriert, worüber „viele Mitteilungen in Zeitschriften und anderen Berichten vorliegen“.14 Wertvoll könnte auch ein Hinweis von Antje Strahl sein, die bereits zum Teil Arbeiten, die ab 1914 entstanden sind und mit dem Krieg zusammenhingen, aufgelistet hat.15 Besondere Erwähnung soll hier ein Auszug aus einer 1916 gehaltenen Rede des Rostocker Professors für Augenheilkunde und Universitätsrektors Albert Peters finden, der

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Fakultät im Kriegszustand?

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Abb. 1  Postkarte von 1915: im Hintergrund die Silhouette von Rostock sowie ein verwaister Schreibtisch (kolorierte Graphik von Thuro Balzer).

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berichtet, dass an der Universitätsaugenklinik 1914 und 1915 allein 5.000 Refraktionsbestimmungen vorgenommen worden seien, um „durch Verordnung passender Brillen die Brauchbarkeit im Felde zu heben oder die Leute für die verschiedensten Zweige des Arbeitsdienstes auszurüsten“. Die Formulierung, dass „inzwischen […] auch in anderen Garnisonstädten Augenärzte zu diesen Untersuchungen herangezogen worden [sind]“, lässt darauf schließen, dass man damit in Rostock vorangegangen sein könnte. Peters zeigte sich sicher, „daß die so gewonnenen Erfahrungen auch für die Friedenszeit ihre Verwendung finden werden“, seien diese Einrichtungen doch erst durch den Krieg geschaffen worden.16 Der Erste Weltkrieg wirkte sich also auch ganz praktisch auf die Universität aus, aber natürlich nicht in dem Maße wie an frontnäheren Fakultäten wie etwa Freiburg. Hier habe man den Kanonendonner aus den Vogesen hören können, bald nach Kriegsausbruch 3.300 Betten in 24 Lazaretten geschaffen und 1917 das Anatomische Institut durch einen englisch-­französischen Fliegerangriff verloren.17 Von diesen Geschehnissen war man in Rostock weit entfernt, doch auch hier hatte der Krieg sehr starke Auswirkungen auf den Universitätsbetrieb. Genannt sei die Abwesenheit vieler Dozenten, Mitarbeiter und Studenten (Abb. 1). Aus den Personalverzeichnissen der Universität 18 geht hervor, dass in den klinischen Einrichtungen circa ein Drittel bis die Hälfte der Ärzte im Felde gestanden bzw. Dienst in Lazaretten oder als Hilfsärzte auf dem Land geleistet habe. In den angegliederten nicht-­klinischen Instituten fiel diese Quote noch höher aus. Jene Personalverzeichnisse der Kriegszeit gaben darüber hinaus nicht nur wie sonst üblich Auskunft über die Beschäftigten und Studierenden, sondern öffnen stets mit Verlustanzeigen gefallener Universitätsangehöriger und im Berichtsjahr verliehene Armeeauszeichnungen. Des Weiteren litt die Universität unter Ressourcenknappheit in Folge der Mangelwirtschaft während des Krieges. So berichtet Johannes Reinmöller, Direktor des zahnärztlichen Instituts, dass 1917 die Beschaffung von Rohmaterialien so schwierig gewesen sei, dass vielfach an Stelle von Kautschuk für Zahnfüllungen von Soldaten Aluminium habe verwendet werden müssen; insgesamt seien auf der allgemeinen Station in jenem Jahr 5.073 Patienten, auf der Militärstation hingegen 8.521 Soldaten versorgt worden.19 Zur Ressourcenknappheit kam hinzu, dass auch zusätzliche Arbeit durch militärische Aufträge anfiel. So seien Probeanalysen an klinischen Instituten angefordert (siehe Abschnitt unten über das Institut für Pharmakologie und Physiologische Chemie) oder im Hygienischen Institut unter Leitung von Ludwig Pfeiffer im Jahr 1915 750 Liter Choleraimpfstoff und 1.200 Liter Typhusimpfstoff für Heer und Marine geordert worden.20 Auch an den Kliniken der Universität hatte der Krieg direkte Auswirkungen. Barfurth benennt die orthopädische Versorgung „Gliedbeschädigter“ mit Prothesen und zweckmäßigen Apparaturen (Abb. 2) oder die Rehabilitation von Verwundeten und Kriegsbeschädigten in die Arbeit, etwa die von „Gehirnverletzten“ in Übungsschulen, Werkstätten sowie in der Garten- und Landwirtschaft in der Psychiatrischen Klinik.

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Fakultät im Kriegszustand?

Abb. 2  In der Orthopädiewerkstatt des Elisabethheims in der Ulmenstraße, um 1917.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Auch die Blindenfürsorge erfahre besondere Aufmerksamkeit.21 Karl Kleist, Professor für Psychiatrie und Neurologie, zählt im Jahresbericht 1916/17 auf, dass die der Klinik angegliederte Nervenabteilung des Reservelazaretts Rostock durch Aufstellung einer Baracke von 30 auf 60 Betten erweitert und eine Abteilung für Kopfschussverletzte mit besonderem Unterricht und Übungswerkstatt eingerichtet worden sei. Von 924 Aufnahmen im betreffenden Zeitraum seien 673 Soldaten gewesen, in der Poliklinik von 1.500 Patienten 1.000 Soldaten.22 Auch die Arbeit im Universitätskrankenhaus habe während des Krieges deutlich zugenommen, durchschnittlich seien jährlich 5.460 Kranke und Verwundete versorgt worden – 500 mehr als im Frieden.23 Die Ausbildung in der chirurgischen Klinik habe eine bemerkenswerte Erweiterung erfahren. In einer achtwöchigen Ausbildung ließ sich ein Vertreter der Mathematik freiwillig als Verband- und Operationswärter unterweisen, um dann im Lazarett des Marien-­Frauenvereins zu helfen.24 Dabei verlor die Universität den Kontakt zu ihren Studenten nicht und unternahm den Versuch, „sie […] Augenblicke des Krieges vergessen lassen“.25 In einer „Weihnachtsgabe der Rostocker Universitätslehrer an ihre Schüler im Felde“ wandten sich 1916 diverse Professoren mit einer Sammlung von Aufsätzen, u. a. über die „Geschichte der Tollkirsche und der Pupillenerweiterung durch Gifte“ vom Pharmakologen Kobert an diese. Häufig habe man gehört, „wie sehr Sie sich da draußen gerade nach geistiger Anregung, ja wohl auch gelehrter Beschäftigung sehnten, wir vernahmen auch von Ihrer Befürchtung, daß Sie den Anschluß an Ihre frühere Tätigkeit nur unter größten Schwierigkeiten wiedergewinnen könnten.“ 26 Ob dies die vorwiegenden Sorgen in einem Schützengraben waren, sei dahingestellt.27 Man sandte aber nicht nur Bücher an die Front, sondern auch Dozenten für sogenannte Kriegshochschulkurse. Der oben erwähnte Pfeiffer habe beispielsweise im Auftrag des Gouverneurs in Belgien Mitte April 1918 in Brüssel vier Vorträge vor „unseren feldgrauen Akademikern“ gehalten.28 An anderer Stelle war aber auch weniger Arbeit zu verzeichnen. So gab es von 1915 bis 1920 keinerlei Disziplinarverfahren gegen Studierende. In den Vorjahren genügten schon kleinere Vergehen, um einen Verweis zu erhalten.29

Auswirkungen des Krieges auf die Arbeit der Fakultät am Beispiel des Instituts für ­Pharmakologie und Physiologische Chemie Wie der Arbeitsalltag während des Krieges konkret aussah, lässt sich am Beispiel des Pharmakologischen Instituts gut nachzeichnen. Die ausführlichen Jahresberichte des Institutsdirektors Rudolf Kobert liefern dafür eine gute Basis.30 Besonderes Augenmerk soll hier auf dem ersten Assistenten Ernst Sieburg liegen (Abb. 3). Er war nicht nur als Arzt, sondern auch als Apotheker und Nahrungsmitteltechniker angestellt. Anhand seiner Biographie lassen sich exemplarisch verschiedenste Einsatzfelder deutscher Mediziner im Krieg aufzeigen; sie wirft darüber hinaus ein Schlaglicht auf den Umgang der Deutschen mit einst gerühmten Mitbürgern im Verlauf des 20. Jahrhunderts. Das Institut für Pharmakologie und Physiologische Chemie bestand 1914 aus seinem Direktor Professor Kobert, dem ersten Assistenten Sieburg, dem zweiten Assistenten, Apotheker Julius Dyckerhoff, dem Diener Beutin und der Hilfsarbeiterin Waetke. Sitz war das damalige Institutsgebäude in der Gertrudenstraße, in dem heute noch die Institute der Anatomie und der Physiologie untergebracht sind.31 Die Berichte der Vorkriegszeit

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unterscheiden sich wohl nicht sehr von den Nöten heutiger Zeit.32 Mängel an der ohnehin unzureichenden Ausstattung und am zugedachten Etat werden beklagt, aber immerhin auch die Freude über Kapazitätserweiterung durch Ankauf des Hauses im Patriotischen Weg 1 zum Ausdruck gebracht. Späteren Berichten zufolge 33 konnte die Erweiterung jedoch erst 1915 im ersten Kriegsjahr abgeschlossen werden, indem ein neues Laboratorium für die Apothekerausbildung, die damals auch unter dem Dach der Medizinischen Fakultät stattfand, fertiggestellt wurde. Das Praktikum, das dort hätte durchgeführt werden sollen, fiel jedoch aus Mangel an Teilnehmern aus, die meisten Pharmaziestudenten standen im Feld. Dies ist Kobert nur eine kurze Notiz wert. Umso ausführlicher geht er darauf ein, dass im Berichtsjahr 1914/15 noch neun Dissertationen von im Kriegseinsatz befindlichen Medizinstudierenden fertiggestellt und acht Verfahren auch mit der Promotion zum Abschluss gebracht worden seien. Einem neunten habe noch ein Studiensemester gefehlt und eine zehnte Arbeit sei praktisch vollendet worden, der Verfasser Karl Scheven dann aber in russische Gefangenschaft geraten und nach Sibirien gebracht worden.34 Einer der acht Absolventen, Dr. med. Baebler, sei im Feld gefallen.35 Von den vier im Institut beschäftigten Männern standen laut Kobert 36 schon im ersten Kriegsjahr zwei im Feld. Beide Assistenten meldeten sich freiwillig zum Heer, jedoch sei nur der Apotheker Dyckerhoff eingezogen worden ebenso wie Institutsdiener Beutin. Der erste Assistent Sieburg habe dem Institut dennoch nicht zur Verfügung gestanden. „Natürlich“, so Kobert, habe er sich „ebenfalls sofort freiwillig dem Heere zur Verfügung gestellt“, sei aber „zu seinem Bedauern als unbrauchbar abgewiesen“ worden. Um der „drückenden Arztnot im Lande abzuhelfen“, sei er jedoch beurlaubt worden. Unter anderem habe Sieburg neun Monate als praktischer Arzt in der mecklenburgischen Kleinstadt Malchin praktiziert. Dennoch war es ihm möglich, sich im Dezember 1915 in der Pharmakologie zu habilitieren, im Februar folgte die medizinische Promotion.37 Dem Bericht Koberts aus dem Jahre 1916 zufolge habe Sieburg aber auch in der Folgezeit die Ferien immer wieder genutzt, in Landarztpraxen Vertretungen zu übernehmen, so 1916 in einem Berliner Vorort.38 Koberts Ausführungen sind durchaus so zu verstehen, dass er aus patriotischer Pflicht selbstredend seinen Mitarbeiter freigestellt habe, um die medizinische Versorgung der Bevölkerung in der Kriegszeit zu gewährleisten. Sieburgs eigenen Aufzeichnungen ist jedoch zu entnehmen, dass er selbst gern länger Arztvertretungen wahrgenommen hätte – Direktor Kobert ihn aber aufgefordert habe, in das Institut zurückzukehren.39 1916 seien „plötzlich“ 20 ältere Studierende von der Front entsandt worden, um „innerhalb kürzester Zeit“ auf das Staatsexamen vorbereitet zu werden.40 Daher habe Sieburg nicht nur die üblichen Vorlesungen und Kurse gehalten, sondern zusätzlich diesen abkommandierten Soldaten die noch fehlende Pharmakologievorlesung in gedrängter Form und in Verbindung mit einem Examinatorium angeboten.41 Trotz des Krieges und der beschriebenen Personalnot ist die Arbeit des pharmakologischen Instituts nicht zum Erliegen gekommen.42 Die Zahl der im Institut selbstständig Arbeitenden sei so hoch gewesen, dass 1915 sogar der Etat durch das Großherzogliche Ministerium erhöht worden sei. Dies sei aber auch aufgrund allgemeiner Teuerungsraten nötig gewesen, insbesondere für Futterkosten der Tiere und für Chemikalien. Unter diesen Preisanstiegen litten auch die Rostocker Bürger. Daher erhielten die Assistenten der Medizinischen Fakultät „billig gebliebene Beköstigung“ und Extrazulagen für ihre vermehrte Arbeit. Dies galt jedoch nur für die klinischen Assistenten – sehr zum Unmut Koberts, der dies als „Ungerechtigkeit und Härte“ beschrieb, da das Gehalt seiner Assistenten nicht einmal für Lebensmittel ausreiche und daher gerade sie zusätzlichen Härten ausgeliefert seien, so u. a. auch Sieburg.43 Obwohl zumindest der Lehrbetrieb weniger umfänglich war, habe die Arbeit am Institut

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Abb. 3  Professor Sieburg im Institut für Pharmakologie, Jahr unbekannt.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

insgesamt zugenommen. Behörden, Krankenhäuser, Institute, Patienten, Firmen und Fabriken aus Mecklenburg, aber auch aus dem ganzen Reich hätten vermehrt Aufträge an das Institut gestellt, ebenso wie Armeeeinrichtungen sowohl an der Ost- und Westfront. Militärbehörden, -ärzte und -apotheker hätten sein Institut in Anspruch genommen, um Arzneimittel wie erbeutete Rizinusöle und Digitalispräparate, aber auch Futtermittel und Blutproben von Vergifteten untersuchen zu lassen.44 Das Pharmakologische Institut habe so Tausende von Pferden und Rindern vor dem Tod bewahrt.45 In einem Schreiben vom März 1918 führt Kobert aus, dass er von privaten Auftraggebern für erbetene Gutachten stets Gratislieferungen von regelmäßig benötigten Substanzen oder Demonstrationspräparaten für den Unterricht erhalten und so ohne den Etat des Institutes zu belasten, eine herrliche Demonstrationssammlung von Arzneimitteln und Giften erstellt habe.46 Aus dem Bericht vom November 191747 wird ein sich zuspitzendes Lagebild deutlich. Sieburg habe dem Institut nun gar nicht mehr zur Verfügung gestanden, da er Lazarettzüge von der Front in verschiedene Bundesstaaten [bzw. Teilstaaten des Deutschen Reiches] geführt habe,48 auch der zweite Assistent Dyckerhoff habe weiterhin als Vizefeldwebel eines Fußartillerieregiments im Felde an der Westfront gestanden – seine naturwissenschaftlichen und medizinischen Fachkenntnisse kämen „auf diese Weise weder dem Vaterlande noch dem Institute zu Gute“ 49. Auch die medizinische Vorbildung des Institutsdieners Beutin würde nicht genutzt werden, obwohl er ausgebildeter Krankenwärter sei, würde er in seinem dritten Kriegsjahr als Bäcker zum Einsatz kommen. Die Vertretung des zweiten Assistenten, üblicherweise ein Arzt oder Apotheker, habe in diesem Jahr ein Student des ersten Semesters übernommen, bis auch dieser eingezogen worden sei. Sieburgs Aufgaben seien hingegen seit Kriegsbeginn von einem ersten Stellvertreter erledigt worden, der gar nicht mehr eingezogen werden konnte: Der Apotheker Dr. phil. Gonnermann war im vierten Kriegsjahr bereits 73 Jahre alt und „in einer sehr traurigen Lage“ 50. Er bekomme keine Kriegszulage und habe zudem durch einen Diebstahl schweren Schaden genommen. Fakultative Vorlesungen wie die Geschichte der Medizin oder Bäderkunde fielen aus. Aber die Praktika des Sommer- wie des Wintersemesters fänden statt und seien „sogar gut besucht“ 51; zusätzlich hätte wieder ein Kriegszwischensemester organisiert werden müssen. Erstmals seit Kriegsbeginn habe Unterricht ausfallen müssen, weil Kobert erkrankt sei. Für drei Tage habe der Betrieb geruht, obwohl es „aus ärztlichen Gründen sehr zu wünschen gewesen [wäre], daß er einen sechswöchigen Erholungsurlaub bekommen hätte.“ 52 Aber in diesem Jahr sei es nicht mehr, wie in den Jahren zuvor, möglich gewesen, einen Vertreter zu benennen. Zusätzlich sei die Durchführung der Praktika wegen Mangels der wichtigsten Geräte, Chemikalien und ungenügender Beschaffenheit des Leuchtgases sehr erschwert gewesen. Und aus Knappheit an Heizmaterial habe der Hörsaal aufgegeben werden müssen und sich die Zuhörerschaft in ein einfenstriges Zimmer, sonst Arbeitsraum des Assistenten, zusammengedrängt. Aus Kohlemangel sei man sogar aufgefordert worden, das Institut gänzlich zu schließen. „Noch in keinem Jahre seit Bestehen des Institutes wurde die Tätigkeit der Beamten so unangenehm gestört“, führt Kobert aus. Im „Interesse des Allgemeinwohles“ sei man dieser Order „natürlich nicht“ gefolgt. Vielmehr habe man in eiskalten Räumen weitergearbeitet. Unter anderem seien „geheimnisvolle Sendungen“ aus Frankreich an Gefangene in Wismar auf „höheren Befehl“ auf Gifte untersucht worden. Für das Berichtsjahr 1917/18 verfasst drei Wochen nach Kriegsende im November 1918, ergibt sich aus dem Jahresbericht keine Änderung dieser Lage. Das Kriegsende erwähnt Kobert darin überhaupt nicht, kurz vor seinem 65. Geburtstag starb er wenige Wochen später im Dezember. Sein Interimsnachfolger wurde Sieburg, der am 1. Dezember 1918

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aus dem Feld zurückgekehrt war, bis Anfang 1919 Paul Trendelenburg neuer Leiter wurde; auch Diener Beutin kehrte aus dem Krieg zurück.53 Aus den Jahresberichten geht jedoch nicht hervor, was mit dem zweiten Assistenten und Apotheker Dyckerhoff geschehen ist. Letztmalige Erwähnung findet er im Personalverzeichnis vom 20. Oktober 1918. Hier wird er als im Felde stehend ausgewiesen, nicht unter den Gefallenen und Kriegsausgezeichneten.54 An das Institut kehrte er jedoch den Personalverzeichnissen der Folgejahre zufolge nicht zurück. Im Jahresbericht vom 8. Januar 1920 für das Berichtsjahr 1918/1955, den erstmals Trendelenburg verfasst hat, wird auch wieder der zu Kriegsbeginn erwähnte Erweiterungsbau im Patriotischen Weg genannt. Die „nahezu fertig eingerichteten Laborationsräume“ seien bislang gar nicht für Institutszwecke genutzt worden – einstweilen seien sie zur Unterbringung Wohnungsloser zur Verfügung gestellt worden, ein Hinweis auf die prekäre soziale Lage zu Kriegsende.56 Die Jahresberichte des pharmakologischen Instituts sind stets um sehr detaillierte Angaben zu Publikationen und Vorträgen ergänzt. In den Vorkriegsjahren sind dies durchschnittlich 22 pro Jahr, im ersten Kriegsjahr sogar 25. Im zweiten Kriegsjahr, dem Berichtsjahr 1915/16 fällt die Zahl auf 14 ab, jedoch seien vier weitere Publikationen des Jahres noch im Druck, da „alle Druckereien und Verlage aus Mangel an Arbeitskräften und Papier sehr viel langsamer arbeiten als sonst.“ 57 Für die weiteren Kriegsjahre können keine Angaben gemacht werden.58 Im ersten Friedensjahr, dem Berichtsjahr 1918/19 finden sich wieder 25 Publikationen, unter ihnen diverse Aufsätze vom immerhin schon 75-jährigen Assistenten Gonnermann, einige Dissertationen, aber auch einige Nachrufe auf Rudolf Kobert. Interessanterweise weisen alle Publikationslisten keine einzige Arbeit mit Bezug zum Krieg aus. In den Folgejahren gibt es einen drastischen Einbruch an Veröffentlichungen (lediglich drei bis maximal neun werden jeweils aufgeführt). In der Zusammenschau der Berichte beschreibt Kobert die Kriegsjahre als entbehrungsreich und mit gesteigertem Arbeitspensum, das aber durch besondere Kraftanstrengungen der in Rostock gebliebenen Mitarbeiter bewältigt und damit der Betrieb aufrechterhalten werden konnte. Immer wieder werden Bezüge der eigenen Arbeit mit dem Kriegsgeschehen, etwa individuelle Mehrarbeit, damit Personal abgestellt werden kann, oder Bearbeitung von Aufträgen für das Kriegsministerium, hergestellt. Zum einen soll damit sicher der Patriotismus der Mitarbeiter unter Beweis gestellt werden. Zum anderen ist dies aber sicher auch als Rechtfertigung, sei es vor sich selbst oder auch vor der Öffentlichkeit, zu sehen, selbst nicht an der Front zu stehen, während eigene Mitarbeiter und Studierende im Kampfeinsatz sind, gar in Gefangenschaft geraten oder ihren Einsatz mit dem Leben bezahlen. Diese Ausführungen sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass am Pharmakologischen Institut nicht nur jene „stille pflichtgemäße Arbeit“ stattgefunden hat, der sich, Barfurth 1917 zufolge 59, die deutschen Hochschulen während des Krieges „geweiht“ hätten. Es waren auch deutliche politische Töne aus dem Institut zu vernehmen: Neben den Nobelpreisträgern Emil von Behring und Paul Ehrlich zählte auch der Rostocker Professor und Direktor des Pharmakologischen Instituts Rudolf Kobert zu den zehn Ärzten, die schon am 7. September 1914 in einer Erklärung deutscher Universitätslehrer englische Auszeichnungen mit der Begründung, dass England Deutschland den Krieg erklärt hätte, ablegten. England habe aus Neid über Jahre andere Länder gegen das eigentlich doch „bluts- und stammverwandte“ Deutschland aufgewiegelt.60 An dieser Stelle soll ein Exkurs nicht fehlen, der über die Zeit des Ersten Weltkrieges und den Fokus auf Rostock hinausweist und ein Schlaglicht auf das Schicksal Sieburgs werfen soll. Der in den Berichten immer wieder erwähnte und gelobte Sieburg kehrte im Dezember 1918 aus dem Feld zurück und wurde kurzzeitig kommissarischer Direk-

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tor des Instituts. Die Hamburgische Universität berief ihn schließlich 1921 als außerplanmäßigen Professor für Pharmakologie an die Medizinische Fakultät und gleichzeitig zum Leiter des Forschungsinstituts für klinische Pharmakologie in Hamburg.61 Der Hamburger Personalakte zufolge 62 beantwortet er nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 den Fragebogen zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums nur mit Verzug und nach ausdrücklicher Aufforderung. Er gab an, „arischer“ Abstammung („‚Sind Sie arischer Abstammung […]?‘ – Antwort: ‚Ja!‘“) und römisch-­katholisch zu sein. Die Medizinische Fakultät beschloss in ihrer Sitzung am 26. Juli 1933 Sieburg nahezulegen, die Professur an der Fakultät niederzulegen. Der schon angekündigten Entziehung der Lehrbefugnis durch die Landesunterrichtsbehörde kam er im August durch einen „freiwilligen“ Verzicht zuvor. Leider sind entscheidende Vorgänge aus der Akte nicht mehr eindeutig zu rekonstruieren, aber offenbar konnte Sieburg teilweise keine Nachweise über seine Abstammung vorbringen. Im September 1933 brachte der Prodekan in einem Schreiben an die Landesunterrichtsbehörde vor, dass die Fakultät Sieburg, „der übrigens seit Jahren zu keiner Klinik und zu keinem Institut der Hamburgischen Universität mehr in irgendwelcher Beziehung stand“, als ausgeschieden betrachte. Professor Sieburg starb 51-jährig im Januar 1937 in Hamburg.

Nachwirkungen des Krieges in den ersten Friedensjahren

Abb. 4  Todesanzeige von Friedrich Franz Martius, Sohn des Professors für Innere Medizin Friedich Martius (August 1914). Abb. 5  Gedenkband, in dem die Universität ihrer Gefallenen gedenkt.

Im November 1918 endete der Krieg. Nach und nach kehrten Studierende, Dozenten und andere Mitarbeiter der Universität zurück. Aber es dauerte einige Zeit, bis wieder der Alltag der Friedenszeit einkehren konnte. So wurden im Personalverzeichnis der Universität für das Winterhalbjahr 1919/20 noch insgesamt 29 Studierende als kriegsgefangen und zwei als vermisst ausgewiesen. Sechs waren kriegsgefangene Angehörige der Medizinischen Fakultät.63 Im Sommersemester 1920 reduzierte sich die Zahl der Kriegsgefangenen auf neun, drei von ihnen Mediziner.64 Ein nicht geringer Teil kehrte aber gar nicht von den Schlachtfeldern in die Hörsäle, Klinken und Labore zurück – beinahe 70 Angehörige der Medizinischen Fakultät fanden im Kriegseinsatz den Tod (Abb. 4).65 Unter den Studierenden der Medizin sei ein Fünftel im Krieg gefallen (Abb. 5).66 Ein Großteil der überlebenden Medizinstudenten scheint jedoch rasch an die Universität zurückgekommen zu sein und das Studium abgeschlossen zu haben, wie sich eindrücklich an den Promotionszahlen ablesen lässt.67 Im Schnitt erlangen in den zehn Vorkriegsjahren gut 40 Absolventen den Doktorgrad, im ersten Kriegsjahr verleiht die Universität gar noch 52 Mal den Doktortitel der Medizin. Während des Krieges fällt diese Zahl auf 20 und steigt auf 60 im ersten Friedensjahr, 1920/21 sind es gar 205. Auch in der Personalpolitik der Medizinischen Fakultät gab es noch langfristige Auswirkungen. Nach und nach wurden Stellen für Medizinalpraktikanten, vergleichbar mit den heutigen Studierenden im Praktischen Jahr, gestrichen. Stattdessen wurden Offiziersärzte eingestellt. Leider geht aus den Aufzeichnungen 68 nicht hervor, ob der Mangel an approbierten Ärzten zur Kriegszeit erst dazu geführt haben könnte, diese Stellen mit Medizinalpraktikanten provisorisch zu besetzen. In dem laufenden Schriftverkehr fällt

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jedoch auf, dass schon zu Beginn der 1910er-­Jahre in einigen Kliniken vermehrt Stellen für Medizinalpraktikanten geschaffen worden waren, was mit der Expansion der Klinik zusammenhängen könnte. Aber auch jene Mediziner, die ihr Studium im Krieg abgeschlossen hatten, jedoch noch keine Assistentenstelle bekleiden konnten, also Kriegsvolontärärzte, vergleichbar mit dem ehemaligen Arzt im Praktikum, hatten Schwierigkeiten zu bewältigen. Eine Vergütung war für sie nicht vorgesehen, lediglich eine Beihilfe im Sinne eines Stipendiums, „um den durch den Krieg in ihrer Ausbildung Geschädigten die Gewinne solider Kenntnisse zu erleichtern.“ 69 Dies betraf 1919 noch drei Ärzte der Pathologie, einen in der Anatomie, zwei im Hygienischen Institut sowie einen Arzt in der Kinderklinik,70 1920 waren nur noch am Pathologischen Institut drei dieser Volontäre beschäftigt.71 Es scheint eine Reihe notleidender Studierender gegeben zu haben. Zu seinem 70. Geburtstag erhielt Dietrich Barfurth eine Summe von 10.300 Mark aus Spenden seiner Kollegen, Schüler und Freunde, die er zur Einrichtung einer Stiftung verwendete (Abb. 6).72 Die jährlichen Zinsen sollten laut Satzung zur Hälfte für sofortige Linderung augenblicklicher Notlagen Kriegsbeschädigter und bedürftiger Studierender genutzt werden.73 Derlei Stiftungen waren nicht unüblich. 1917 vermachte die Rostocker Bürgerin

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Abb. 6  Dietrich Barfurth im Kreis von Medizinstudenten im Gebäude der Anatomie um 1900.

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Anna Breu mit 12.000 Mark mehr als ein Drittel ihres Erbes der Universitätsaugenklinik und bat sich ausdrücklich aus, dass das Geld für die Versorgung „im Kriege erblindeter Krieger“ verwendet werde.74 Und auch für eine weitere Personengruppe schien sich die Situation dramatisch zu ändern, wenn man die Personalverzeichnisse der Universität heranzieht.75 1909 nahm in Rostock die erste Frau das Studium der Medizin auf.76 Die Zahlen blieben die ersten Jahre niedrig. 1913 kamen auf 357 männliche Studenten lediglich sechs Medizinstudentinnen. Im Krieg steigerte sich die Zahl erst auf 16, 1918 dann bis auf 50 und schließlich 60 im Jahre 1919. Sicher wird dazu beigetragen haben, dass viele Studienplätze frei blieben, weil die jungen Männer im Feld standen. Barfurth führt es 1917 in seiner Rektoratsrede so aus: „Nach Ausbruch des Krieges war unsere geringe Zuhörerschaft zusammengesetzt aus Dienstuntauglichen, Kriegsbeschädigten und studierenden Damen.“ 77 Bis 1922 gingen die Zahlen dann wieder auf 21 Studentinnen gegen 209 Studenten zurück. Eingangs ist beschrieben worden, in welchem Maße ausländische Mediziner sich in der Vorkriegszeit in Rostock weiterbilden ließen. Von diesen Verbindungen ins Ausland konnte die Fakultät nach dem Krieg profitieren, so etwa mit einer großen Zuwendung japanischer Ärzte.78 1921 beschlossen einige Hundert japanische Ärzte, die vor dem Krieg in Deutschland studiert hatten, insgesamt eine Summe von 490.000 Mark zu spenden. In einem undatierten Schreiben aus Tokio bekunden Dutzende japanische Ärzte, dass man bei Ausbruch des Weltkriegs „schmerzliche Gefühle nicht unterdrücken“ habe können. Nachdem „die düsteren Kriegswolken entschwunden und der Friede wieder hergestellt worden“ sei, freue man sich, „mit den früheren Lehrern und Kollegen in Deutschland und Österreich wieder brieflich verkehren, gegenseitig das Herz ausschütten und über die Lage der wissenschaftlichen Studien gegenseitig unterrichten zu können.“ 79 Die Fakultät erhielt so 20.000 Mark und verwies im Dankesschreiben vom 20. September 1921 an Professor Jrisawa von der Kaiserlichen Universität Tokio darauf, dass die Spende Beweis sei, „dass sich die Ärzte Japans durch die Verleumdungen der letzten Jahre in ihrem Vertrauen zur deutschen Ärzteschaft nicht beirren liessen und auf einem [sic] Austausch ihrer Erfahrungen mit den deutschen Kollegen Wert legen. In der Bekennung dieser Gesinnung erblickt die Medizinische Fakultät Rostock den wirksamsten Einspruch gegen alle diejenigen Länder und Ärzte, welche unter gehässigen Beschuldigungen ihre feindselige Haltung gegen Deutschlands Ärzte fortsetzen.“ 80 Mit dieser feindseligen Haltung dürfte der Beschluss zum Ausschluss deutscher Ärzte von internationalen Kongressen gemeint sein, der etwa 1920 in Paris beim internationalen Kongress für Chirurgie gefasst worden war. Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen benannte es gar als Bedingung für die Annahme der Spende, dass die betreffende japanische Fachgesellschaft sich lossage von jenem Ausschlussbeschluss.81 Davon war in Rostock keine Rede. Dennoch dürfte auch in Rostock die Enttäuschung groß gewesen sein, nicht mehr an internationalen Fachtagungen teilnehmen zu können. Der Anteil deutscher Wissenschaftler an internationalen Kongressen habe einer Auswertung Haferkamps 82 zufolge in der Vorkriegszeit zehn bis zwanzig Prozent, bei einer Tagung zur Krebsforschung in Brüssel sogar nahezu ein Drittel an den ausländischen Teilnehmern ausgemacht. Der erste Kongress der Nachkriegszeit sei dann 1920 derjenige der Fachgesellschaft für die Geschichte der Medizin in Lausanne gewesen, der erste mit deutscher Beteiligung der Kongress des Roten Kreuzes in Genf 1921.83 In den 1920er-­Jahren sei von deutschen Wissenschaftlern sogar regelmäßig verlangt worden, sich von der deutschen Regierung von 1914 zu distanzieren; die Entente-­Mächte hätten zum Beispiel im Vorfeld des Kongresses für vergleichende Pathologie 1921 in Rom von den deutschen Teilnehmern eine schriftliche Erklärung der deutschen Kriegsschuld

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verlangt.84 Der internationale Austausch blieb aber offensichtlich nicht vollständig aus. Im Jahresbericht 1920/21 des Rostocker Instituts für Pharmakologie 85 wird ausgeführt, dass man durch Vermittlung von Professor John Jacob Abel (1857 – 1938), Professor für Pharmakologie an der US -amerikanischen Universität in Baltimore, als wertvolles Geschenk eines Herrn E. Stauffer 16 Bände des Journal of Pharmacology and experimental therapeutics erhalte. Außerdem werde man gleichzeitig durch Entgegenkommen des Rockefeller Instituts in New York wieder mit dem zuvor vom Institut bezogenen und als „wertvoll“ bezeichnetem Journal of biological chemistry zum alten Preis beliefert.

Schlussbemerkung Anlässlich des 100. Jahrestages des Kriegsausbruchs standen in den vergangenen Jahren besonders zwei politische Diskussionen medial im Fokus. Zum einen wurde abermals kontrovers über die Kriegsursachen debattiert, namentlich verbunden mit Christopher Clarks These, dass weniger die Deutschen diesen Krieg beabsichtigt hätten, sondern vielmehr der ganze Kontinent gleichsam in den Krieg hinein geschlafwandelt sei.86 Daneben sind immer wieder Parallelen gezogen worden zwischen den Jahren vor 1914 und der aktuell aufgeheizten politischen Lage auf dem europäischen Kontinent. Diese Ähnlichkeiten mag es in der einen oder anderen Form geben. Aber heute würde kein Rostocker Universitätsangehöriger wohl noch so denken, wie Albert Peters, damaliger Ordinarius der Augenheilkunde und Rektor der Universität, es 1916 in der Rede zur Feier des 28. Februar formulierte und damit wohl den Geist der Zeit zum Ausdruck brachte.87 Die Universitäten waren für ihn „Pflanzstätten echter Vaterlandsliebe“, in ihnen „erwuchs ein Geschlecht, welches dem Heere eine Fülle tapferer Soldaten und Offiziere gestellt hat, von denen schon viele Tausende ihre Treue zu Kaiser und Reich mit ihrem Blute besiegelt haben, und auch unsere Hochschule kann stolz sein auf ihre zahlreichen früheren und jetzigen Schüler, die zur Ehre deutschen Namens zu kämpfen und zu sterben wußten.“ Im Universitätsarchiv wird ein großformatiges Buch verwahrt, ca. 40 mal 60 cm groß, gebunden in einen prächtigen schwarzen Ledereinband, schwere hochwertige Seiten mit vergoldeten Seitenrändern, an der Zahl über 240.88 Auf jeder dieser Seiten wird einem Gefallenen gedacht mit Namen, Geburtsort, oftmals Funktion an der Universität sowie Geburts- und Todestag. Die Geburtstage der Gefallenen liegen genau 100 Jahre zurück zu den Geburtstagen derer, die in unserer Zeit ihr Studium an der Universität Rostock abschließen können. Diese beenden ihr Studium genau 100 Jahre später in einem Alter, in dem die Kommilitonen aus der Vergangenheit nicht in Vorlesungen sitzen konnten, sondern auf den Schlachtfeldern Europas den Tod fanden. Auch 1919 ist ein Universitätsjubiläum gefeiert worden. In welch glücklichen Zeiten wir leben dürfen.

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Anmerkungen 1 2

Barfurth 1917, S. 1 f. Als „Manifest der 93“ wird ein von 93 deutschen „Intellektuellen“ verfasster Aufruf aus dem Jahr 1914 mit dem Titel „An die Kulturwelt!“ bezeichnet. In diesem wurden die Vorwürfe der Kriegsgegner negiert. 3 http://www.europa.clio-­online.de/ quelle/id/artikel-3274 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 4 Dommerich et al. 2001, S. 89. 5 Lammel 2001, S. 21. Seit 1881 habe es Überlegungen gegeben, eine Kinderklinik zu schaffen. Die räumliche Verselbstständigung der Klinik sei dann 1918 in der Augustenstraße 80 erfolgt, das erste pädiatrische Ordinariat ein Jahr darauf. Zur Frühzeit der Kinderklinik entsteht derzeit im Arbeitsbereich Geschichte der Medizin eine Dissertation durch Tina Lewerenz. 6 Körner 1920, S. 107 ff. Der HNO-Arzt Körner beschreibt einen hartnäckigen Kampf um die Einrichtung seiner Klinik, die Verhältnisse seien anfangs sehr bescheiden gewesen, „aber sie nahmen mir den Mut nicht; wurde doch auch in der Wüste gepredigt!“. 7 Miesch 1996, S. 17 – 20. 8 Körner 1920, S. 104. 9 Ebd., S. 115. 10 Körner 1913, S. 16. 11 Harrison 1996. 12 Als einer der führenden Pathologen im Deutschen Reich entwarf Aschoff ein Programm zur Leichenöffnung möglichst aller gefallener deutscher Soldaten, um die „Konstitution“ des deutschen Volkes zu untersuchen. Er fungierte als beratender Armeepathologe beim Feldsanitätschef und hatte maßgeblichen Einfluss auf seine Kollegen. Vgl. Prüll 1996, S. 159 f. 13 Ebd. 14 Barfurth 1917, S. 13. 15 Strahl 2007, S. 64. Sie bezieht sich dabei auf die schon oben benannte Ansprache Barfurths. In den bisher gesichteten Jahresberichten der einzelnen Kliniken und Institute waren keine Hinweise auf diese mit dem Krieg zusammenhängenden Promotionsthemen zu finden. Beispielsweise wird in einer Dissertation aus dem Jahr 1920 über den Verlauf

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der Spanischen Grippe in Rostock der Krieg nicht einmal erwähnt (Köhnke 1920). Dabei hat der Autor einen typischen Lebenslauf aus dieser Zeit aufzuweisen: Nach Absolvierung des Gymnasiums sei er als Einjahresfreiwilliger in das Füsilierregiment „Kaiser Wilhelm“ in Mecklenburg eingetreten. Gleichzeitig begann er an der Universität Rostock das Medizinstudium. Ab dem vierten Mobilmachungstage habe er am Krieg teilgenommen, währenddessen er die ärztliche Vorprüfung bestanden habe (Medizinstudenten wurden immer wieder zur Studienfortsetzung vom Feld aus beurlaubt, siehe unten). Ab dem Zwischensemester 1919 habe er das Studium fortsetzen können, 1920 sei dieses mit dem ärztlichen Staatsexamen abgeschlossen worden. Dass ein Großteil der wissenschaftlichen Arbeiten mit dem Krieg im Zusammenhang stand, bezieht sich daher wohl eher auf die anderen Fakultäten. An der Theologie beschäftigen sich Dissertationen mit dem Spenden von Trost und Zuversicht an Kriegsgeschädigte. Es seien an anderen Fakultäten auch Forschungsschriften wie „Die Schuldfrage“ oder „Der Krieg als Erzieher“ entstanden. 16 Peters 1916, S. 12. 17 Hofer 2007, S. 172. 18 Die Personalverzeichnisse sind im Internet abrufbar über den Rostocker Dokumentenserver (Links in den Quellenangeben). Für diese Arbeit sind die Verzeichnisse vom Sommersemester 1914 bis zum Wintersemester 1922 gesichtet worden, die fortlaufend abrufbar sind. 19 UAR R4 C8/2. 20 Barfurth 1917, S. 12. 21 Ebd., S. 14. 22 UAR R4 C8/2. 23 Barfurth 1917, S. 16 f. 24 Ebd., S. 20. 25 Universität Rostock 1916, S. 5. 26 Ebd. 27 Neben der Geschichte der Tollkirsche wurden in Aufsätzen auch Themen wie Völkerpsychologische Beobachtungen Luthers, die Ehe bei den alten Römern oder „die Vita

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eines Rostocker philosophischen Doktors vor 50 Jahren“ behandelt. UAR R4 C8/2: Thema der Vorträge: „Synthese des Kautschuks“, „Chemie der Blumenfarben“ und „moderne Ergebnisse der Eiweißforschung“. UAR R11 F001: So sei es noch 1914 zu mehreren Klagen gekommen, weil es zwischen Rostocker Studierenden in Warnemünde zu Schlägereien gekommen sei, durch die sich Reisende belästigt gefühlt hätten. UAR 1872: 1910 bis 1922. Personalverzeichnis der Universität Rostock, Sommersemester 1914. UAR 1872: 1912 bis 1914. UAR 1872: 1914 bis 1915. Bollmann 2005, S. 80 f.; Personalverzeichnisse der Universität: Letztere weisen in der Tat einen Medizinstudenten mit Namen Karl Scheven aus. Laut dem Verzeichnis des Sommersemesters 1916 habe er als Feldunterarzt mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse eine Feldauszeichnung erhalten. Die Dissertation scheint er später fertiggestellt zu haben, im Personalverzeichnis des Wintersemesters 1919/20 wird ein Assistenzarzt der Chirurgischen Klinik mit gleichem Namen und dem Titel Dr. med. geführt. In Bollmanns Monographie wird ein Dr. med. Carl [sic] Scheven aufgeführt, dessen Lebensdaten jedoch mit Karl Scheven übereinstimmen. Dieser habe, 1888 in Rühn in eine Theologenfamilie hineingeboren, 1909 in Schwerin sein Abitur bestanden und im Anschluss in Heidelberg, Rostock und München Medizin studiert, die Approbation sei ihm 1914 in Berlin erteilt worden, 1907 sei er dann in Rostock promoviert worden. Hier habe er bis 1920 an der Chirurgischen Klinik als Assistent gearbeitet, bis 1924 dann praktischer Arzt in Büchen. 1924 sei er dann Kreismedizinalrat in Waren geworden, später dann in gleicher Funktion in Rostock tätig. 1955 sei er in Doberan verstorben. Die Personalverzeichnisse der Universität führen Verlustlisten im Krieg gefallener Universitätsmitglieder auf. In diesen findet sich jedoch kein Dr. med. Baebler. UAR 1872: 1914 bis 1915.

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37 UAR: PA E. Sieburg, Bl. 14. 38 UAR 1872: 1915 bis 1916. 39 UAR: Personalakte Prof. Sieburg. Im Rahmen seiner Habilitierung reichte Sieburg 1915 einen handgeschriebenen Lebenslauf ein: „Da ich zu Beginn des Krieges entgegen meiner Bemühungen weder als Arzt noch als Kombattant Verwendung im Heeresdienst fand, ging ich um zur Behebung der Ärztenot im Lande beizutragen, in die ärztliche Praxis. Nach ¾-jähriger ärztlicher Tätigkeit nahm ich meine Betätigung im pharmakologischen Institut auf Aufforderung des Direktors wieder auf.“ 40 UAR 1872: 1915 bis 1916; UAR R11 B1/2: Die Fristen, nach denen Kandidaten zur ärztlichen Prüfung von der Front beurlaubt worden, waren in der Tat sehr kurz. So wurde dem Unterrichtsministerium in Schwerin etwa am 10. Oktober 1916 durch das Reichsamt des Innern in Berlin mitgeteilt, dass zum 1. November eine Zahl Feldunterärzte für drei Monate an die Universität beurlaubt werde, um das Studium abzuschließen. Der Rektor der Universität zeichnete diese Information sogar erst am 17. Oktober – also zwei Wochen vorher – als zur Kenntnis genommen gegen. 41 UAR 1872: 1915 bis 1916. 42 UAR 1872: 1914 bis 1915. 43 UAR 1872: 1915 bis 1916. 44 Ebd. 45 Barfurth 1917, S. 20. 46 UAR R4 C8/2. 47 UAR 1872: 1916 bis 1917. 48 UAR: PA E. Sieburg. Diese Arbeit dürfte Sieburg auch direkt an die Front geführt haben und über die bloße Begleitung der Lazarettzüge innerhalb des Reiches hinausgereicht haben. Einem Urlaubsantrag vom 15. 10. 1916 zufolge bittet er um „Ermöglichung der Betätigung auf dem Kriegsschauplatz laut eines Vertrages mit dem Kriegsministerium als leitender Arzt des VIz. K1, Krankentransportabteilung 1, in Cambrai (Westen)“. In einem Lebenslauf aus dem April 1921 (StaHH 361 – 6 383) gibt Sieburg an, von April 1916 bis Dezember 1918 als landsturmpflichtiger Arzt im Felde bei mobilen Truppenteilen tätig gewesen zu sein. 49 UAR 1872: 1916 bis 1917. 50 Ebd. 51 Ebd.

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52 Ebd. 53 UAR 1872: 1918 bis 1919. 54 Personalverzeichnis der Universität Rostock, Wintersemester 1918/19. 55 UAR 1872: 1918 bis 1919. 56 Ebd. 57 UAR 1872: 1915 bis 1916. 58 Ob keine Publikationen erschienen sind, kann nicht gesagt werden. Die Publikationsverzeichnisse sind den Jahresberichten in der Regel als Anlage angefügt gewesen, ohne dass in den Berichten auf die Publikationen eingegangen oder auf diese verwiesen wurde. Den weiteren Jahresberichten sind keine Publikationslisten angefügt, was jedoch nicht bedeutet, dass keine angefertigt wurden. Es bleibt die Möglichkeit, dass diese nicht überliefert sind. 59 Barfurth 1917, S. 1 f. 60 Godwin 1977, S. 27 f.; CPR. Kobert: 1906 hatte Kobert von der Universität Aberdeen (Schottland) die Ehrenpromotion zum Dr. utr. iur. h.c erhalten. Darüber hinaus legte er 1914 den Titel des Kaiserlich-­Russischen Staatsrats nieder, den er 1887 erhalten hatte, als er zum ordentlichen Professor für Pharmakologie an der Universität Dorpat (Russland, heute Estland) berufen wurde. 61 StaHH 361 – 6 IV 897: Personalakte Professor Ernst Sieburg. 62 StaHH 361 – 6 I 383: Personalakte Professor Ernst Sieburg. 63 Personalverzeichnis der Universität Rostock, Wintersemester 1919/20. 64 Personalverzeichnis der Universität Rostock, Sommersemester 1920. 65 UAR R15 A1/2: Bei dieser Quelle handelt es sich um einen prächtig gestalteten Gedenkband, in dem die Universität ihre Gefallenen einschließlich Funktion an der Universität, Lebensdaten und Umständen des Todes aufführt. Unter den 237 angeführten Gefallenen, die die Universität beklagte, waren demnach 67 Mitglieder der Medizinischen Fakultät, darunter jeweils ein Privatdozent, Diener, Hilfsschreiber sowie zwei weitere Ärzte und 61 Studenten. 66 Strahl 2007, S. 72 f. Unter den fast 900 Studierenden der Universität im Semester 1913/14 waren gut 400 Medizinstudenten. Bis November 1918 seien insgesamt ca. 230 Studenten der Alma Mater gefallen. Relativ gesehen hätten jedoch die

Theologische Fakultät und die Juristische Fakultät noch größere Verluste als die Mediziner zu beklagen. Fast die Hälfte der 44 eingezogenen Theologiestudenten und 39 von 91 Jurastudenten seien nicht von den Schlachtfeldern zurückgekehrt (45 bzw. 43 %). Bei den Medizinern habe dieser Anteil 20 % betragen, an der Philosophischen Fakultät ca. 25 %. 67 UAR K120 – 0406.1. 68 LHAS 5.12 – 7/1 – 1887. 69 Ebd. 70 Personalverzeichnis der Universität Rostock, Wintersemester 1919/20. 71 Personalverzeichnis der Universität Rostock, Sommersemester 1920. 72 UAR R2 F6. 73 Ebd.: Die andere Hälfte sollte der Gründung eines Studentenheimes zugutekommen. Ein Zahlungsverkehr ist bis 1922 in der Akte belegt. Nicht zu finden sind Informationen über Verwendung des Stiftungsvermögens und das Ende der Stiftung – das Vermögen der meisten Stiftungen aus jener Zeit ging jedoch in den Wirtschaftskrisen der Weimarer Republik verloren. Allerdings konnte die Fakultät auch längere Zeit von Stiftungen profitieren. So findet sich in der Überlieferung (UAR R2 F38) ein zunächst kurios anmutender Vorgang aus dem Jahr 1919, der eine mögliche wirtschaftliche Not unterstreicht. Der Rittergutsbesitzer Wendroth (*3. 8. 1874, Rittergut Beidendorf, Bahnstation Bobitz) vermache der Medizinischen Fakultät 100.000 Mark zur Einrichtung einer Stiftung, die in Gedenken an Vater und Großvater als „Dr. Wendroth-­Stiftung“ eingerichtet werden solle, da der Name mit ihm aussterbe, sowie 6.000 Bände seiner Bibliothek, darunter 700 medizinische Werke. Er selbst habe „persönlich“ Medizin studiert. Er bitte, dass der Stiftername nicht genannt werde; um den Stiftungsnamen aber eine „gewisse Rechtfertigung“ zu gewähren, bittet er jedoch um Verleihung des Titels Dr. med. h. c. Nach Besprechung im Konzil könne laut Dekan dies nicht geschehen. Man habe aus den Verhandlungen entnommen, dass Wendroth ein längeres Medizinstudium hinter sich habe und man eine nachträgliche Prüfung durch Einholen fehlender Nachweise ermöglichen könne.

Fakultät im Kriegszustand?

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Dies könne er jedoch nicht – weil er gar nicht studiert habe. Im ersten Anschreiben des Vorgangs hieß es noch, dass „durch besondere Gründe ein Abschluss-­Examen leider nicht erfolgen konnte“. Nun schreibt Wendroth, dass der Vater ihm verboten habe, Medizin zu studieren. Zunächst scheint, weil die Universität diesen Handel mit Titeln doch ablehnt, das Projekt abgebrochen zu werden. Die Stiftung kommt dann doch zustande, da bis in die 1950er aus Zinsen Mitarbeiter der Fakultät unterstützt und für verschiedene Institute und Kliniken Geräte beschafft wurden. Eine Namensnennung als Spender wurde von Wendroth dann abgelehnt; er wolle nur, dass der Name der Stiftung „Dr. Wendroth-­Stiftung“ laute. 74 UAR 238. 75 Personalverzeichnisse der Universität, 1914 bis 1922.

76 Strahl 2007, S. 59 ff. „Erst“ 1909 sollte man ergänzen. Im Vergleich zu allen anderen deutschen Universitäten habe man sich hier für die Einführung des Frauenstudiums am längsten Zeit gelassen. Vgl. zum Frauenstudium in Rostock den Beitrag von Boeck und Peppel in diesem Band. 77 Barfurth 1917, S. 18. 78 UAR R2 F31. 79 Ebd. 80 Ebd. 81 Ebd. In der Loseblattsammlung bezüglich der japanischen Spende findet sich eine Sammlung von Reaktionen der verschiedenen Universitäten, die mit der Spende bedacht werden sollten. Am 1. Juli 1921 hatte die Botschaft in Tokio das Auswärtige Amt in Berlin über die Spende von 490.000 Mark an 22 Universitäten informiert. Die Verteilung erfolgte nach Anzahl der Ärzte, die an jeweiliger Universität studiert hätten.

Daraufhin bat das Auswärtige Amt die Universitäten um eine möglichst schnelle Danksagung. 82 Haferkamp 1937, S. 34 ff. Der Autor umreißt die Veranstaltung internationaler medizinischer Kongresse in der Zeit von kurz vor dem Ersten Weltkrieg und die Zeit danach bis in die 1930-er Jahre. Dabei geht er auf den Ausschluss deutscher Wissenschaftler sowie deren Diskriminierung bis in seine Gegenwart 1937 ein. Aufgrund des zeitlichen Kontextes ist sicher zu bedenken, dass er eine solche Diskriminierung aber gerade herauszuarbeiten versucht. 83 Ebd. 84 Ebd. 85 UAR 1872: 1920 bis 1921. 86 Clark 2012, S. 718. 87 Peters 1916, S. 3. 88 UAR R15 A1/2.

Literaturverzeichnis Quellen

Literatur

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praktikanten in den Universitäts-­Kliniken zu Rostock, 1912 – 1941. StaHH 361 – 6 IV 897: Personalakte Professor Ernst Sieburg. StaHH 361 – 6 I 383: Personalakte Professor Ernst Sieburg. UAR 238: Schenkung der Rostockerin Anna Breu an die Augenklinik (12.000 M), 1917. UAR 257: Assistenten an der Ohren-­Klinik, 1896 – 1938. UAR 1872: Jahresberichte des Instituts für Pharmakologie und Physiologische Chemie, 1883 – 1946. UAR K120 – 0406.1: Verzeichnis der Promotionen. UAR PA E. Sieburg: Personalakte Professor Ernst Sieburg. UAR R2 F6: Barfurth-­Stiftung. UAR R2 F31: Japanische Spende an die Medizinische Fakultät. UAR R2 F38: Doktor Wendroth-­Stiftung (Medizinische Fakultät). UAR R4 C8/2: Jahresberichte des Rektors, Bd. 2, 1918 – 1925. UAR R11 B1/2: Immatrikulationsbestimmungen, 1916 – 1945. UAR R11 F001: Disziplinarverfahren gegen Studenten. UAR R15 A1/2: Dem Andenken ihrer Gefallenen 1914/19. Die Universität Rostock.

Hauke Schulz

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Zwischen Kaiserreich und NS-Zeit

Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 22 (1937, Reprint 1977). Harrison, Mark: The Medicalization of War – The Militarization of Medicine, in: Social History of Medicine, 9. Jahrgang, 2. Ausgabe (1996), S. 267 – 276. Hofer, Hans-­Georg: Medizin, Krieg und Politik: Die Freiburger Medizinische Fakultät und der Erste Weltkrieg, in: Martin, Bernd (Hrsg.): 550 Jahre Albert-­Ludwigs-­Universität Freiburg. Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts, Bd. 3. Freiburg 2007, S. 166 – 181. Köhnke, Helmuth: Die Grippeepidemie 1918/20 nach Erfahrungen der medizinischen Klinik in Rostock. Dissertationsschrift, Rostock 1920. Körner, Otto: Brauchen wir neue Universitäten? Ansprache gehalten am 1. Juli 1913 in der Aula der Universität Rostock von dem Rector O. Körner. Rostock 1913. Körner, Otto: Erinnerungen eines deutschen Arztes und Hochschullehrers 1858 – 1914. München und Wiesbaden 1920. Lammel, Hans-­Uwe: Die Entwicklung von Spezialdisziplinen in der Medizin von den Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, in: 100 Jahre Lehrstuhl für Ohren- und Kehlkopfheilkunde, erschienen in der Reihe: Beiträge zur Geschichte der Universität Rostock, Heft 24. Hrsg. von Burkhard Kramp. Rostock 2001. S. 7 – 26. Miesch, Ines: Die Heil- und Pflegeanstalt Gehlsheim. Von den Anfängen bis 1946. Rostock 1996. Peters, Albert: Die Augenheilkunde in der Kriegszeit. Rede zur Feier des 28. Februar 1916. Rostock 1916. Prüll, Cay-­Rüdiger: Die Sektion als letzter Dienst am Vaterland. Die deutsche Kriegspathologie im Ersten Weltkrieg, in: Die Medizin und der Erste Weltkrieg. Hrsg. von Wolfgang U. Eckart und Christoph Gradmann. Pfaffenweiler 1996, S. 155 – 182. Strahl, Antje: Rostock im Ersten Weltkrieg. Bildung, Kultur und Alltag in einer Seestadt zwischen 1914 und 1918. Berlin 2007. Universität Rostock (Hrsg.): Weihnachtsgabe der Rostocker Universitätslehrer an ihre Schüler im Felde. Rostock 1916.

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Onlinenachweise Universitätsbibliothek Rostock: RosDok (Rostocker Dokumentenserver): Personalverzeichnisse der Universität: http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1914_SS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1914_WS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1915_SS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1915_WS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1916_SS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1916_WS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1917_SS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1917_WS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1918_SS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1918_WS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1919_SS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1919_WS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1920_SS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1920_WS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1921_SS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1921_WS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1922_SS _PV .pdf; http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/ PDF /1922_WS _PV .pdf; (letzte Aufrufe am 14. 4. 2019). Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!« (1914), in: Themenportal Europäische Geschichte, 2006, URL : www.europa. clio-­online.de/quelle/id/artikel-3274 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). CPR . Kobert: Eintrag Prof. Rudolf Kobert, URL : http://cpr. uni-­rostock.de/resolve/id/cpr_person_00001151?_ search=d7fa7bcd-35dd-49d6 – 9d3 f-­ffa18d9c92ac (letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

Fakultät im Kriegszustand?

Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock Gisela Boeck und Tim Peppel In jedem Wintersemester, wenn wir das erste Mal die neuen Studierenden der Humanmedizin und der Zahnheilkunde begrüßen, um sie in die Grundlagen der Chemie einzuführen, schweift der Blick durch die Reihen. Es wundert uns nicht, dass wir junge Frauen und Männer sehen, die erwartungsvoll ihr Studium beginnen. Im Wintersemester 1996/97 betrug der Anteil weiblicher Studienanfänger 50 %, inzwischen liegt er bei 65 %1 (Abb. 1). Es ist kaum vorstellbar, dass vor rund 110 Jahren Frauen im Hörsaal eine Ausnahmeerscheinung waren. Sie hatten keinen regulären Zugang zur Universität, zum Medizinstudium und waren als Vorlesende undenkbar. Über den Beginn des Frauenstudiums und die ersten Frauen, die in Rostock an der Medizinischen Fakultät hörten, später auch studierten und promovierten oder nach einer Ausbildung in den Naturwissenschaften an der Medizinischen Fakultät wissenschaftlich tätig wurden, berichtet dieser Beitrag.

Zu den Anfängen des Frauenstudiums Schon in der Antike und im Mittelalter spielten in der Heilkunde tätige Frauen eine große Rolle, sie waren am Krankenbett gefragt, ihr Rat war auch in der Rekonvaleszenz von Bedeutung. Ihr Wissen hatten sich die Frauen empirisch erworben. Der Zugang zu akademischer Bildung blieb ihnen lange Zeit nicht nur in der Medizin verschlossen, die Universitätspforten öffneten sich nur mit Sondergenehmigungen, wie die folgenden Beispiele zeigen. Dorothea Christiane Erxleben (1715 – 1762) hatte sich zum Beispiel in der ärztlichen Praxis ihres Vaters umfangreiches Wissen angeeignet und wurde als erste Frau überhaupt 1755 in Halle (Saale) zum Dr. med. promoviert.2 Regina Josepha von Siebold (1771 – 1849) durfte mit einer Ausnahmegenehmigung hinter einem Vorhang in Würzburg Vorlesungen zur Geburtshilfe hören. Praktische Erfahrungen musste sie in der Praxis des Ehemanns sammeln. Ihr Wirken wurde 1815 von der Universität Gießen mit der Doktorwürde der Entbindungskunst ehrenhalber gewürdigt. Ihre ebenfalls in der Geburtshilfe tätige Tochter Charlotte Heidenreich von Siebold (1788 – 1859) wurde 1817 in Gießen zum Dr. med. promoviert.3 Noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mussten Frauen, die studieren wollten, ins Ausland gehen, denn andere Länder waren Deutschland weit voraus. In den

Gisela Boeck | Tim Peppel

244

Zwischen Kaiserreich und NS-Zeit

USA konnten sich Frauen ab 1833 an Colleges

bilden, in Frankreich und in der Schweiz konnten sie ab den 1860er-­Jahren regulär studieren. Studienmöglichkeiten bestanden in Schweden ab 1870, in Finnland und Dänemark ab 1875 und ab 1878 in den Niederlanden. In England waren 1869 Frauencolleges eingerichtet und 1874 die Medical School of Women in London gegründet worden. 1872 wurden in St. Petersburg Kurse für „gelehrte Hebammen“ eingeführt. Die meisten studierwilligen Frauen aus Deutschland entschlossen sich zu einem Studium in der Schweiz. Bei dieser Entscheidung spielte nicht nur die Sprache eine Rolle, sondern auch die Tatsache, dass die Schweizer Universitäten keine Reifeprüfung, sondern nur Vorstudien verlangten. Als erste deutsche Frau studierte Emilie Lehmus (1841 – 1932) ab 1870 in Zürich Medizin und wurde dort 1875 promoviert.4 Ende des 19. Jahrhunderts wurde in Deutschland der Ruf nach Zulassung von Frauen zum universitären Studium immer lauter. Parallel dazu kämpften die Frauen um die Möglichkeit, die höhere Mädchenschulbildung zu etablieren, damit auch sie die Hochschulreife erlangen konnten. 1896 wurden Frauen an preußischen Universitäten schließlich als Gasthörerinnen zugelassen, sie mussten sich also nicht mehr beim Unterrichtsministerium um eine Genehmigung bemühen. Die Erlaubnis des jeweiligen Hochschullehrers war jedoch nach wie vor unerlässlich. 1899 eröffnete sich für Frauen die Möglichkeit, das ärztliche, zahnärztliche und pharmazeutische Staatsexamen in Deutschland zu absolvieren. Diese Entscheidung bedeutete für viele, die im Ausland studiert hatten, dass sie nun in Deutschland die Approbation erhalten konnten. Diese Möglichkeit nutzten 1901 sechs Frauen, sie legten ihr Staatsexamen in Freiburg, Halle (Saale) und Königsberg ab.5

Hörerinnen an der Medizinischen Fakultät An der Universität Rostock wurden am 22. Januar 1895 Anmeldung und Registrierung von Hörern eingeführt. 18 Frauen nutzten im Wintersemester 1895/96 diese Möglichkeit, da die Universitätsstatuten bis dato keine Einschränkung hinsichtlich des Geschlechts vorsahen.6 Der Status der Hörerin an der Universität Rostock wurde 1896 zwar legalisiert, aber mit vielen Bedingungen verknüpft und auf den Zugang zur philosophischen Fakultät beschränkt.7 Trotzdem stellte 1899 Minna Gütschow 8 aus Rostock die Anfrage an den Dekan der Medizinischen Fakultät, ob ihre Tochter Marga 9 das zahnärztliche Studium beginnen könne. Marga Gütschow erhielt tatsächlich die Genehmigung, die für die Ausbildung als Zahnarzt notwendigen Vorlesungen und Übungen an der Medizinischen Fakultät zu besuchen.10 Am 24. Juli 1903 hat sie die zahnärztliche Prüfung erfolgreich bestanden.11 1905 stellte die Lehrerin Wiese den folgenden Antrag an das hohe Grossherzogliche Ministerium, Abteilung für Unterrichts-­Angelegenheiten:

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Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät

Abb. 1  Blick in den Hörsaal an der Universitätsmedizin Rostock 2017.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Unterzeichnete erbittet von dem hohen Ministerium ergebenst die Erlaubnis zu den allgemeine naturwissenschaftliche Bildung bezweckenden Vorlesungen der Dozenten der medizinischen Fakultät zu Rostock als Hörerin zugelassen zu werden. Sie erbittet im besonderen die Erlaubnis dem Vortrage des Herrn Prof. Dr. Langendorff über Stimme und Sprache im kommenden Sommersemester beiwohnen zu dürfen. Sie hat die Erlaubnis des Dozenten bereitwilligst erhalten. Sie ist Lehrerin der Naturwissenschaften an der Stenderschen höheren Töchterschule, (Vorsteherin Frl. Ohlerich) und am Rostock’er Lehrerinnenseminare. Sie wünscht ihre Fachbildung zu fördern. Dem hohen grossherzoglichen Ministerium ganz ergebenste W. Wiese, Lehrerin. Rostock, 30/ 3. 1905 Doberanestr. [sic] 13612,

Im Verzeichnis der Hörerinnen aus dem Sommer 190513 wird dann der Name Wiese als Hörerin bei Oskar Langendorff (1853 – 1908) genannt. In der analogen Liste aus dem Sommersemester 1907 wird Fräulein Gertrud von Brunn, die Tochter des Anatomen Albert von Brunn (1849 – 1895), als Hörerin der Toxikologie bei Rudolf Kobert (1854 – 1918) aufgeführt. Kobert machte selbst eine entsprechende Mitteilung, dass von Brunn schon fünf Jahre lang Lehrerin war und nun das Abitur machen wollte, um damit das Oberlehrerexamen für Zoologie, Botanik sowie Geographie absolvieren zu können. Er schrieb: „Frln. v. Brunn nimmt am Unterricht mit großem Interesse Anteil und ist recht gut vorgebildet.“ 14 Im November 1907 wurde die Petition, Dorothea Schäffer aus Gehlsdorf einen Hörerschein für die Medizin zu erteilen, ausnahmsweise bewilligt.15 So gab es immer wieder Ausnahmen, und der Rektor der Universität, der Chemiker August Michaelis (1847 – 1916), teilte am 12. Dezember 1905 mit: Nach den von den Dozenten eingezogenen Erkundigungen hat die Zulassung von Damen zum Hören der Vorlesungen hier zu Ausstellungen nach keiner Seite hin Veranlassung gegeben, im Gegenteil haben die Hörerinnen besonderen Fleiss bewiesen.16

Die ersten Studentinnen für Medizin Schließlich wurden 1909 auch für Mecklenburg die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, die Frauen eine vollberechtigte Immatrikulation erlaubten. Dabei wurde den Änderungen in den Disziplinarvorschriften für die Studierenden ein siebenter Abschnitt „Vom Frauenstudium“ hinzugefügt, der die Paragraphen 57 bis 59 umfasste. Im § 57 hieß es, dass Frauen die akademischen Bürgerrechte erwerben und die große Matrikel empfangen können. Voraussetzung war der erfolgreiche Abschluss eines einheimischen oder eines in Deutschland befindlichen Gymnasiums, eines Realgymnasiums oder einer Oberrealschule. Nach § 59 waren Ehefrauen von der Immatrikulation ausgeschlossen.17 Damit bildete die Universität Rostock das Schlusslicht der deutschen Universitäten. Während die Universität zur Kompensation dieses Faktes gern hervorhob, dass sie im Gegensatz zu anderen Universitäten die völlige Gleichstellung der Frau erreicht hatte, war das Großherzogliche Ministerium in Schwerin bestrebt, den Frauenanteil gering zu halten.18 Im Wintersemester 1909/10 immatrikulierten sich an der Rostocker Universität drei Frauen: an der philosophischen Fakultät Elisabeth Bernhöft (1880 – 1964) und Fri(e)da Ortmann (1885 – 1986)19 sowie Sophie Jourdan (1875 –nach 1944) an der Medizinischen Fakultät. Wie Tabelle 1 zeigt, folgten ihr bald weitere Frauen.

Gisela Boeck | Tim Peppel

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Zwischen Kaiserreich und NS-Zeit

Semester

Vorname

Nachname

Geburtsort

1909/1910

Sophie

Jourdan

Mülheim

1910

Felice

Knauff

Kobulten

1910

Eva

Büntgen

Sinzig

1910/1911

Gertrud

Gradowski

Neidenburg

1911

Sophie

Jourdan

Mülheim

1912

Amelie

Freiin von Schlotheim

Lipke

1912/1913

Agnes

Bergholter

Güstrow

1913

Eva

Huebner

Birnbaum

1913/14

Anna

Mohr

Bremen

1913/1914

Gertrud

Schroeder

Gadebusch

1913/1914

Gertrud

Severin

Lübeck

1913/1914

Johanna

Gräfin von Koenigsmarck

Aurich

1913/1914

Anna

Voigt

Wismar

1914

Hertha

Barca

Altona

1914

Ina

Synwoldt

Rostock Altona

1914

Elisabeth

Michaelsen

1914

Anna

Fibelkorn

Altdamm

1914

Hedwig

Fricke

Königslutter

1914/1915

Theodora

Danneel

Bützow

Tab. 1  An der Universität Rostock in den Jahren 1909 bis 1914 für Medizin immatrikulierte Frauen.20

Erst Ende der 1910er-­Jahre nehmen die Immatrikulationszahlen 21 für Medizin deutlich zu 22 (Grafik 1).

Grafik 1  Immatrikulationen von Frauen an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock.23

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Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Stellt man diese den Immatrikulationszahlen von Männern gegenüber, wird deutlich, dass der Anteil der Frauen anfangs gering war, dann aber sukzessive anstieg (Tab. 2). Zeitraum

Immatrikulationen für Medizin

Anteil Frauen in %

Männer

Frauen

1223

20

1915 – 1919

959

163

14,5

1920 – 1924

1095

161

12,8

1909 – 1914

1,6

1925 – 1929

1117

167

13,1

1930 – 1934

2729

708

20,6

Tab. 2  Immatrikulation für Medizin im Geschlechtervergleich für den Zeitraum 1909 – 1934.24

Und immer noch Hörerinnen Die Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium hatte es nach sich gezogen, dass die Modalitäten für die Erteilung von Hörerscheinen verändert wurden. Nach wie vor konnten viele Frauen aufgrund des fehlenden Reifezeugnisses oder der Ablehnung von Abschlusszeugnissen verschiedener Schulen keine Immatrikulation beantragen; ihnen blieb nur der Weg der Hörerin. Die Hörerscheine sollten jedoch auch nur dann erteilt werden, wenn in Hinblick auf die Vorbildung die Voraussetzungen für ein wissenschaftliches Studium vorhanden waren. Die Anzahl der Hörerinnen sollte möglichst gering gehalten werden; der Zugang zur Medizinischen und Juristischen Fakultät wurde, wie oben beschrieben, zunächst vollständig untersagt. Doch gerade bezüglich der Zulassung von Hörerinnen an der Medizinischen Fakultät gab es viele Anfragen und Diskussionen. Gegen die generelle Zulassung von Frauen als Hörerinnen an der Medizinischen Fakultät, die als Apothekerin, Zahnärztin oder Lehrerin ein berufliches Interesse haben könnten, sprach sich der Dermatologe Maximilian Wolters (1861 – 1914) ohne nähere Begründung aus. Er forderte, dass die Zulassung durch die jeweiligen Dozenten ausgesprochen werden müsse.25 Der Germanist Wolfgang Golther (1863 – 1945) hingegen hatte in seiner Amtszeit als Rektor einen Brief entworfen, in dem er sehr deutlich darauf hinwies, dass es viele Frauen gibt, die an der Medizinischen Fakultät hören wollten. Er wurde unterstützt vom Pathologen Ernst Schwalbe (1871 – 1920), der das Interesse der Frauen an der Geschichte der Medizin oder der Krankenpflege hervorhob.26 In den 1910er-­Jahren gab es immer wieder Anfragen, ob die Zeugnisse einzelner Schulen als Reifezeugnisse anerkannt werden und die Immatrikulation an der Medizinischen Fakultät oder den Hörerstatus ermöglichen. Ein entsprechender Antrag von Thekla Reuber auf Immatrikulation für Zahnmedizin wurde am 24. Mai 1911 mit Hinweis auf das fehlende Reifezeugnis einer neunklassigen Vollanstalt abgelehnt. Ihr wurde auch der Hörerstatus nicht zugebilligt, obwohl sie die für das Studium „vorgeschriebene schulwissenschaftliche Vorbildung“ besaß, denn Hörerinnen würden nur an der Philosophischen Fakultät zugelassen.27 Martha Lehmkuhl 28 aus Oldenburg hingegen, die 1911 um Immatrikulation ersucht hatte, wurde als Hörerin der Zahnheilkunde zugelassen. Das war insofern bemerkenswert, weil von der oben erwähnten Vorschrift abgewichen wurde, Hörerinnen nur an der Philosophischen Fakultät zuzulassen. Mit dem Hörerschein hatte sie aber keine Berechtigung,

Gisela Boeck | Tim Peppel

248

Zwischen Kaiserreich und NS-Zeit

an der zahnärztlichen Staatsprüfung teilzunehmen. Das Ministerium stimmte erst dann ihrem Antrag auf Staatsprüfung zu, als sich Rektor, Kanzler und Vizekanzler auf den Fall der oben erwähnten Marga Gütschow bezogen.29 Auch eine Eheschließung konnte unerwartete Probleme für das Studium nach sich ziehen. Die Studentin der Medizin, Eva Pflug (geb. Lehmann, 1892 – 1937), hatte sich am 19. Oktober 1916 verheiratet.30 Es war bis dato unklar, ob eine Verehelichung den Verlust der akademischen Rechte bedeutete, denn in den Disziplinarsatzungen (§ 59) hieß es nur, dass Ehefrauen von der Immatrikulation ausgeschlossen seien.31 In Zusammenhang mit einem entsprechenden Antrag wurden auch Erkundigungen beim Ehemann eingeholt, sodass es schließlich in einem Brief der Universität an das Ministerium hieß: Nach Mitteilung ihres Ehemannes, des cand. med. Wilhelm Pflug, der hier zur Zeit als Sanitätsunteroffizier im Garnisonsdienste steht, wünscht die jetzt im 7. Semester Medizin studierende Antragsstellerin [sic] das Staatsexamen zu machen u. nach Absolvierung des praktischen Jahres die Approbation als Arzt zu erwerben, um ihren Ehemann in der Ausübung seines Berufes unterstützen und ihn in Notfällen unterstützen zu können.32

Daraufhin äußerte sich das Ministerium: Das unterzeichnete Ministerium legt die Vorschrift der §§ 59, 58, 21 Nr. 3 der Diszipl. Stat. dahin aus, daß weibliche Studierende durch ihre Verheiratung das akademische Bürgerrecht verlieren. Der Frau Eva Pflug, geb. Lehmann soll unter den vorliegenden besonderen Verhältnissen hierdurch Befreiung von diesen Vorschriften erteilt sein.33

Die ersten Doktorinnen an der Medizinischen Fakultät Mit der regulären Zulassung zum Studium konnten sich die Frauen nun auch einer Promotion zuwenden. Aus der Zusammenstellung der an der Universität Rostock veröffentlichten Hochschulschriften 34 lässt sich eine Liste der ersten Promovendinnen in der Medizin erstellen, wobei offenbleibt, ob weitere Frauen promoviert wurden, deren Arbeiten nicht in dem Verzeichnis erfasst wurden. Bis 1933 entstanden mindestens 71 medizinische Promotionsschriften, die verschiedenste Fachgebiete umfassten. Elisabeth Boedecker hatte in ihrer Übersicht der Promotionen 35 von Frauen in Deutschland für den Zeitraum 1908 bis 1933 insgesamt 4.646 Promotionen in der Medizin angegeben (im Bereich der Naturwissenschaften, Mathematik und Technik waren es 1.490). Nach ihren Untersuchungen dominierten die Innere Medizin, die Chirurgie und die Frauenheilkunde als Promotionsgebiete. Die Namen der ersten Frauen, die in Rostock den Dr. med. erlangten, und die Themen ihrer Promotionsschriften zeigt Tabelle 3.36 Eine deutliche Dominanz eines Fachgebietes ist nicht statistisch zu belegen. Über den Lebensweg dieser ersten Frauen ist bis heute wenig bekannt. Ihre Biografien verlieren sich häufig bereits nach einer Heirat durch den damit verbundenen Namenswechsel. In einigen Fällen konnten jedoch Hinweise gefunden werden, die nun exemplarisch vorgestellt werden sollen. Die erste reguläre Medizinstudentin Sophie Jourdan, die ihre Laufbahn als Lehrerin begonnen und sich erst nach längerer Krankheit entschlossen hatte, ihr Abitur zu machen und Medizin zu studieren 37, wurde auch als eine der ersten Frauen an der Medizinischen Fakultät am 17. Juni 1913 mit der Gesamtnote cum laude promoviert. Nach ihrer Approbation im Jahre 1913 ließ sie sich in Berlin nieder. Ab 1937 war sie Ärztin an der Säuglingsfürsorgestelle in Berlin-­Kreuzberg, ab 1941 übte sie keine ärztliche Tätigkeit mehr aus. 1944 berichtete sie noch über ihre Evakuierung nach Ostpreußen,38 danach verliert sich ihre Spur.

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Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Name 39

Geburtsdatum und -ort 04. 12. 1884 Sinzig 01. 12. 1875 Mülheim 01. 03. 1875 Aurich 30. 01. 1888 Brunshaupten 21. 06. 1891 Herten

Datum der Pro­ motionsurkunde 14. 03. 191340

Titel der Arbeit

Referent/en

Über Zerreißungen der äußeren Augenmuskeln

Albert Peters

17. 06. 1913

Erfahrungen über den transperitonealen Weg bei Operationen an der Wirbelsäule Über die Wirkungen einiger aromatischer Arsenoverbindungen Die Röntgenbehandlung der tuberkulösen Lymphome

Wilhelm Müller

07. 12. 1892 Barmen 23. 07. 1889 Patimbern 10. 12. 1878 Lübeck 24. 09. 1892 Unna 17. 03. 1887 Wismar

10. 10. 1918

Hanna Richter

13. 07. 1892 Durlack

20. 09. 1919

Gertrud Schroeder (Jacobs)

11. 02. 1890 Gadebusch

03. 06. 1920

Eva Büntgen (Licht) Sophie Jourdan Johanna Gräfin von Koenigsmarck, geb. Fromm Emmy Schwemer Gertrud Vollmer

Marie Bitter Hanna Schiemann Gertrud Severin (Degner) Herta Bremme Anna Voigt

Gertrud Bardenhewer (Zetkin) 02. 08. 1893 Uerdingen Katharina Gürtler 09. 12. 1896 Königsberg Hildegard Felke, geb. Nietz 14. 01. 1897 Winkenhagen Gudrun Traeger 06. 06. 1896 Nürnberg Gertrud Soeken 14. 05. 1897 Rostock Marie Börner (Abraham) 23. 02. 1898 Reichenbrand Elli Marquard, geb. Neuhaus 21. 01. 1896 Magdeburg Maria Boers (Beckmann) 13. 10. 1895 Neuss Irma Paasch 11. 07. 1896 Schwerin Elisabeth Ante 01. 03. 1898 Neu­bu(c)kow Edith Josephy, geb. Zimmt 07. 01. 1899 Posen Martha Rebien 25. 11. 1896 Lübeck Kaethe Voigt (Schrader) 20. 12. 1898 Bant

20. 09. 1915 08. 02. 1918 04. 04. 1918

04. 11. 1918

Das Melubrin. Eine kritische Würdigung seiner Eigenschaften und seiner Wirkungen an der Hand der bisher vorliegenden Literatur und eigener Erfahrungen mit der intravenösen Anwendung beim akuten Gelenkrheumatismus und den ihm verwandten Krankheiten Über die angeborenen Defekte des vorderen Irisblattes

Rudolf Kobert Ernst Franke, Friedrich Martius Friedrich Martius

Albert Peters Rudolf Kobert

13. 11. 1918

Beiträge zur Kenntnis der saponinartigen Stoffe in den Digitalisblättern Über Adrenalinwirkung bei Schizophrenen und Gesunden

28. 02. 1919

Ein Beitrag zur Bindearmcorea 41

Karl Kleist

01. 05. 1919

Rudolf Kobert

28. 08. 1922

Beiträge zur Kenntnis der adstringierenden Wirkung der Aluminiumsalze mit besonderer Berücksichtigung der ameisensauren Tonerde Über den Unterschied der Aziditätswerte bei Titration des filtrierten und unfiltrierten Mageninhalts nach Eiweißprobefrühstück Bericht über die Ergebnisse der in den letzten 10 Jahren an der Chirurgischen Universitätsklinik zu Rostock operierten Fälle von Prolapsus ani et recti Über Seropneumothorax bei Grippepneumonie

10. 03. 1923

Über Stirnhirnsyndrome

Max Rosenfeld

20. 08. 1923

Staphylodermien und Immunität

Walter Frieboes

20. 08. 1923

Wilhelm Müller

23. 09. 1923

Erfahrungen aus der Rostocker Chirurgischen Klinik über Laminektomien Zur Methodik der Säureuntersuchungen in der Scheide und einige Resultate Über den Verlauf von Schwangerschaft und Geburt bei Doppelmißbildungen des Uterus und der Vagina Über Anämia pseudoleucaemica infantum (von Jacksch-­ Hayem) bei Zwillingen Zur Frage der diffusen Peritonitis gonorrhoica

25. 01. 1924

Die gutartigen Geschwülste der Vulva und Vagina

Otto Sarwey, Robert Schröder Robert Schröder

05. 03. 1924

Über die Aktinomykose des Zentralnervensystems

Walther Fischer

07. 07. 1924

Seltenere Augensymptome bei Encephalitis epidemica

Hans Curschmann

21. 07. 1924

Über nephrotische Schrumpfniere

Hans Curschmann

20. 09. 1924

Über die Messung der Pepsinwirkung und das Verhalten des Pepsins im Körper

Paul Trendelenburg

15. 09. 1923 20. 09. 1923 20. 09. 1923

Oswald Bumke

Friedrich Martius Ernst Franke, Wilhelm Müller Hans Curschmann

Robert Schröder Robert Schröder Hans Curschmann

Tab. 3  Die ersten Promotionen von Frauen an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock.

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Zwischen Kaiserreich und NS-Zeit

Die erste in der Medizin promovierte Frau ist Eva Büntgen (1884 – 1966) gewesen. Leider ist keine Promotionsurkunde überliefert. Aber aus dem in der Promotionsakte vorhandenen Schreiben der Abteilung für Unterrichtsangelegenheiten aus Schwerin, das die Genehmigung zur Durchführung der Promotion erteilte, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit geschlossen werden, dass die Urkunde das Datum 14. März 1913 trägt.42 Das eigentliche Verfahren hatte bereits im Frühjahr 1911 stattgefunden. Dass die Urkunde später ausgestellt wurde, könnte mit einer noch fehlenden Approbation erklärt werden. Als Eva Büntgen am 31. August 1912 den Rittergutsbesitzer und Doktor der Rechte Georg Licht ehelichte, wurde sie – wahrscheinlich nicht ganz gerechtfertigt – bereits als Doktorin der Medizin im Heiratsregistereintrag benannt. Ferner ist aus dem Heiratsregistereintrag zu erfahren, dass Eva Licht am 23. Juni 1966 in Hattenweiler verstorben ist.43 Der Nachweis einer ärztlichen Tätigkeit gelang bisher nicht.44 Johanna Gräfin von Königsmarck (geb. von Fromm, 1875 – 1931) hat sich erst spät für ein Studium der Medizin entschieden. Sie war mit Graf Günther von Königsmarck (1873 – 1938), einem Heiratsschwindler, und dann mit Bernhard Rieger (1868 – 1911) verheiratet. Beide Ehen wurden nach kurzer Zeit geschieden. Aus der ersten Beziehung stammt die Tochter Margot (1901 – 1980). 1909 bestand Johanna Gräfin von Königsmarck nach privater Vorbereitung die Reifeprüfung und begann in Bern ein Medizinstudium (Abb. 2). Sie studierte auch in Zürich, Freiburg und Erlangen und kam 1913 nach Rostock. Hier fertigte sie unter Rudolf Kobert ihre Dissertationsschrift an, in der sie sich mit der Wirkung von para- und ortho-­Arsenobenzoesäure auf verschiedene Tiere beschäftigt. Inwieweit sie an der Synthese dieser sehr giftigen Substanzen beteiligt gewesen ist, geht nicht zweifelsfrei aus der Arbeit hervor. Die Arbeit zeugt jedoch von einer engen Zusammenarbeit des Pharmakologen Rudolf Kobert mit dem Chemiker August Michaelis, der sich mit dieser Verbindungsklasse intensiv beschäftigte, denn Arsenverbindungen versprachen Verwendung als Chemotherapeutika.45 Nach Promotion und Approbation wirkte sie als niedergelassene Ärztin in Berlin (1917 – 1919), in Dortmund (mindestens ab 1921 – 1929) und evtl. noch 1931 in Soest.46 Ihr Wohnort war zu diesem Zeitpunkt aber in Wiesbaden, wo sie durch Suizid mit Veronal ihrem Leben ein Ende setzte.47 Hanna Schiemann (1889–nach 1958) ist nach ihrer Promotion offenbar wieder in ihre Heimat nach Ostpreußen zurückgegangen und hat sich als Ärztin in Königsberg niedergelassen.48 Nachweislich wirkte sie bis 1942 dort, spätestens 1945 kam sie nach Honnef 49, wo sie nach einem Zeitzeugenbericht gelegentlich noch als Allgemeinmedizinerin praktizierte, um den Lebensunterhalt zu sichern.50 Anna Voigt (1887 – 1974) war Assistenzärztin an der Universitäts-­Hautklinik und wurde Fachärztin für Haut- und Blasenleiden. Als solche wirkte sie viele Jahre in Rostock.51 Von Gertrud Schroeder (1890-?) ist bekannt, dass sie nach dem Besuch einer privaten höheren Töchterschule in Rostock zu den ersten Gymnasiastinnen an der Großen Stadtschule gehörte. 1913 legte sie am Großherzoglichen Gymnasium in Bad Doberan das Abitur ab.52 Später heiratete sie den Arzt Robert Jacobs. Sie wurde praktische Ärztin für Kinder- und Frauenkrankheiten und engagierte sich für Arme.53 Anna Maria Gertrud Bardenhewer (1893 – 1981) hielt sich in den 1920er-­Jahren in der Künstlerkolonie in Worpswede auf und bekam von Otto Tetjus Tügel (1892 – 1973) den

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Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät

Abb. 2  Johanna Gräfin von Königsmarck (Fotoalbum „Hauptmann von Fromm“).

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Abb. 3  Gertrud Bardenhewer – eine Aufnahme aus der Zeit in Rostock.55 Abb. 4  Gertrud Bardenhewer (2. v. r.) bei einer Bootstour auf der Warnow.

Sohn Lukas (1923 – 1974), der später in England seinen Nachnamen in Bennett änderte.54 Nach der Approbation in Rostock (Abb. 3 und 4) lässt sie sich in Kiel nachweisen, an der dortigen Universitäts-­Frauenklinik bestand sie 1925 die Hebammenprüfung.56 Von 1929 bis 1930 war sie in der gynäkologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses Berlin-­Britz als Hilfsärztin, dann als Assistenzärztin tätig.57 1933 wurde sie aus dem Städtischen Gesundheitswesen Berlin entlassen.58 Es ist zu vermuten, dass auch sie unter das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 59 fiel, da sie sich im Verein sozialistischer Ärzte engagierte.60 Von Mai bis November 1933 war Gertrud Bardenhewer Hospitantin an der deutschen geburtshilflichen Universitätsklinik in Prag.61 Spätestens 1934 lernte sie in der Tschechoslowakei Kostja Zetkin 62 (1885 – 1980) kennen. Sie gingen gemeinsam 1936 nach Paris, heirateten in Frankreich 193863 und emigrierten schließlich 1940 in die USA .64 Zuerst versuchten sie, als Farmer Fuß zu fassen.65 Später fanden beide Arbeit in psychiatrischen Kliniken. Vor allem wegen Kostjas früheren Verbindungen zu führenden Politikern der russischen Revolution und zur Kommunistischen Partei in Deutschland waren die Zetkins in den USA unter ständigem Verdacht.66 Nach Ende der Berufstätigkeit ging das Paar 1957 nach Kanada an die Sunshine Coast in British Columbia. Gertrud verstarb 1981 in Mexiko.67 Über die Rostockerin Gertrud Soeken (1897 – 1978), Tochter des Direktors der Seefahrtsschule, ist bekannt, dass sie die Bierstedt’sche Höhere Töchterschule in Rostock und Gymnasialmädchenkurse absolvierte und im Februar 1915 ihre Reifeprüfung in Güstrow an der Domschule bestand.68 Nach dem Medizinstudium in Rostock und München, ihrer Approbation und Promotion war sie von 1923 bis 1932 in der Kinderheilanstalt Berlin-­Buch Volontärassistentin bzw. Assistentin und ab 1926 Oberärztin in der Inneren Abteilung. Sie wurde Fachärztin für Kinderheilkunde und war von 1932 bis 1939 mit Unterbrechung wissenschaftliche Mitarbeiterin und Abteilungsleiterin am Kaiser-­Wilhelm-­ Institut für Hirnforschung Berlin-­Buch, zeitweise vertrat sie den Institutsdirektor Oskar Vogt (1870 – 1959). Gleichzeitig leitete sie das Kinderheim für schwererziehbare Kinder

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Zwischen Kaiserreich und NS-Zeit

in Borgsdorf und führte Sprechstunden am Kinderkrankenhaus Wedding durch. Von 1939/40 bis 1945 war Gertrud Soeken leitende Ärztin der Kinderabteilung I des Städtischen Krankenhauses Berlin-­Buch. Soeken war NSDAP -Mitglied. Ihre Schriften zeigen, dass sie von der NS -Gesundheitspolitik überzeugt war und eugenische Auffassungen vertrat und unterstütze. Sie wirkte in Erbgesundheitsgerichten mit.69 Nachweislich hatte sie Kontakt zu einem der drei medizinischen Sachverständigen der Kinder-„Euthanasie“, dem Leiter der privaten Kinderklinik Berlin-­Frohnau, Ernst Wentzler (1891 – 1973). Ihm soll Soeken ihre Mitarbeit im sogenannten Reichsausschussverfahren 70 zugesichert haben.71 1945 zog die Kinderabteilung des Städtischen Krankenhauses Berlin-­Buch in das Hufeland-­Krankenhaus um. Soeken verblieb bis 1949 dort in leitender Position, obwohl sie im Juni 1946 nur zur eingeschränkten Berufsausübung zugelassen worden war. Doch Mitarbeiter des Personalamtes des Verwaltungsbezirkes Pankow, des Gesundheitsamtes Pankow und des Landesgesundheitsamtes hatten sich für sie aufgrund fehlenden Ersatzes ausgesprochen.72 Im März 1949 wurde sie offenbar doch von der Stadtverwaltung Berlin-­ Ost entlassen und ging an das Städtische Krankenhaus in Berlin-­Spandau. Dort leitete sie bis 1962 eine kleine pädiatrische Abteilung und schrieb wissenschaftliche Arbeiten. Gertrud Soeken starb 1978 in Berlin.73 An das Schicksal von Edith Josephy (geb. Zimmt, 1898 – 1944, Abb. 5) erinnert seit 2005 ein Stolperstein vor dem Eingang des Hörsaals der Kinder- und Jugendklinik in der Rembrandtstraße. Die aus Posen (Poznań) stammende Edith hatte 1917 ihr Medizinstudium in Heidelberg begonnen. Im WS 1917/18 ging sie nach München, wechselte 1918 – wohl auf Anregung ihrer Studienfreundin Anni Hirsch 74 – nach Rostock 75, wo sie 1919 die ärztliche Vorprüfung bestand. 1921 heiratete sie den Juristen Franz Josephy (1893 – 1944). Im Sommer 1923 wurde die Tochter Marianne geboren. Edith Josephy war zunächst Assistenzärztin an der Universitätskinderklinik, später hatte sie eine eigene Praxis. Am 22. April 1933 wurde die Zulassung jüdischer Ärzte für die staatlichen Krankenkassen aufgehoben. Das hatte die Schließung ihrer Praxis zur Folge. 1935 wurde auch der Ehemann in den Zwangsruhestand versetzt. Die Familie ging 1936 nach Berlin. Im Januar 1939 gelangte die Tochter Marianne mit einem Kindertransport nach England und überlebte so den Holocaust.76 Edith und Franz bemühten sich ebenfalls um Ausreise. Um ihre Arbeitschancen zu erhöhen, absolvierte Edith am Berliner Jüdischen Krankenhaus eine Ausbildung zur Krankenschwester. Franz besuchte Sprach- und Fotografiekurse, musste aber nach 1940 Zwangsarbeiten auf Baustellen und als Kofferträger leisten.77 1943 wurden die Insassen des jüdischen Altersheims in der Berliner Großen Hamburger Straße nach Theresienstadt deportiert. Edith musste den Alterstransport begleiten, und ihr Mann schloss sich ihr an. Dort wurde Edith durch den Ältestenrat als Ärztin, Franz bei der Ghettopolizei eingesetzt.78 Am 28. Oktober 1944 wurden beide nach Auschwitz transportiert und dort umgebracht.79

Else Hirschberg (1892 – 1942) – zwischen Chemie und Medizin An der Medizinischen Fakultät wirkten aber auch Frauen, die nicht Medizin studiert hatten. Dazu gehört die Chemikerin Else Hirschberg, über die inzwischen umfangreiche Informationen vorliegen und deren Leben hier ebenfalls eine Würdigung erfahren soll. Else Hirschberg wurde am 11. Februar 1892 in Berlin in eine jüdische Familie geboren. Spätestens 1908 kam Else nach Rostock. Sie schrieb sich an der Universität als Gasthörerin

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Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät

Abb. 5  Edith Josephy, Ende der 1930er-­Jahre in Berlin.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

ein. Warum sie sich für Chemie entschieden hatte, ist unbekannt. In ihrem familiären Umfeld gab es einige Chemiker,80 vielleicht hatte sie mögliche Aufstiegschancen in dieser Naturwissenschaft erkannt.81 Als erste Frau in Rostock absolvierte sie das chemische Verbandsexamen 82, das den offiziellen Abschluss des Chemiestudiums besiegelte und die Voraussetzung für eine Promotion war. Mit einer Abhandlung über (auch medizinisch interessante) Pyrazolone 83 wollte Else den Doktorgrad erlangen. Das gelang aufgrund des fehlenden Reifezeugnisses jedoch nicht.84 Inzwischen hatte sie sich noch deutlicher medizinischen Problemen zugewandt, für deren Bearbeitung Chemiekenntnisse notwendig waren. So hatte sie in der Medizinischen Universitätsklinik unter Friedrich Martius (1850 – 1923) bei Joseph Meinertz (1877 – 1968) geforscht, die Ergebnisse wurden unter dem Titel „Die quantitative Bestimmung von geringen Mengen Traubenzucker im Harne mittels der Bertrand’schen Methode“ 85 publiziert. Bemerkenswert ist, dass Else Hirschberg als Alleinautorin auftrat, obwohl sie nicht promoviert und erst 21 Jahre alt war. Bis 1917 hatte sie sich unter dem Pharmakologen Rudolf Kobert mit Untersuchungen zu den Inhaltsstoffen des Maiglöckchens auseinandergesetzt.86 Die Angaben zum Anstellungsverhältnis von Else Hirschberg in jenen Jahren sind widersprüchlich. Aus dem Entwurf eines nicht vollständig datierten Zeugnisses aus der Personalakte geht hervor, dass sie im Zeitraum von 1917 bis 1919 mit Unterbrechungen als wissenschaftliche Hilfsarbeiterin angestellt war. Die angegebenen Unterbrechungen beziehen sich vermutlich auf die Leitung des Labors im städtischen Krankenhaus in Stettin.87 In ihrem in der Dissertation wiedergegebenen Lebenslauf wird auch eine Tätigkeit bei Rona in Berlin erwähnt. Es handelt sich hier vermutlich um Peter Rona, eigentlich Rosenfeld (1871 – 1945), der 1905/06 gemeinsam mit Leonor Michaelis (1875 – 1949) das Chemisch-­bakteriologische Laboratorium am Urban gegründet hatte. Im genannten Zeitraum waren neun Publikationen entstanden, die Else Hirschberg zum Teil allein, zum Teil mit dem Physiologen Hans Winterstein (1879 – 1963) veröffentlicht hatte und die an der Untersuchung von Zuckerarten anknüpften, um daraus Aussagen zum Stoffwechsel machen zu können. Nach 1919 wurde Else Hirschberg als technische Assistentin am Physiologischen Institut der Universität Rostock, ab 1927 jedoch definitiv nur als Hilfskraft, immer für ein Semester befristet mit einem monatlichen Lohn zwischen 200 und 250 RM beschäftigt. Zu ihren Arbeitsaufgabengehörten u. a. die Mitarbeit an Vorlesungen und Kursen, die Führung der Bibliothek, die sie neu geordnet hatte, die Registrierung des Inventars und der Rechnungen sowie die Herstellung von chemischen Lösungen für Vorlesungen und Kurse.88 So mussten zum Beispiel 15 Liter menschlichen Harns präpariert werden. Ein wesentlicher Hinderungsgrund für die Anstellung als vollwertige Assistentin war die Forderung der Medizinischen Fakultät nach einem elfsemestrigen Medizinstudium. Else Hirschberg hatte 1928 tatsächlich ein Medizinstudium aufgenommen,89 nachdem sie in Berlin eine 1923 eingeführte Prüfung absolviert hatte, die allen besonders Begabten ein Studium ermöglichen sollte, die kein Reifezeugnis vorweisen konnten.90 Nun stand auch der Promotion nichts mehr im Wege. Dem Promotionsgesuch legte Else Hirschberg ihre unter Kobert angefertigte und bereits gedruckte Arbeit zur Pharmakologie des Maiglöckchens bei. Problematisch war, dass die Arbeit schon publiziert war. Der Psychologe David Katz (1884 – 1953), zu der Zeit Dekan der Philosophischen Fakultät, verwies auf einen analogen Fall, bei dem trotzdem eine Zulassung zur Promotion erfolgt war. Diesem Urteil schlossen sich alle anwesenden Hochschullehrer der Fakultät an und Else Hirschberg konnte endlich – als fünfte Rostocker Chemikerin – am 17. März 1928 zum Dr. phil. promoviert werden.

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Zwischen Kaiserreich und NS-Zeit

Seit 1929 war Else Hirschberg zunehmend Anfeindungen ausgesetzt. In Eingaben wurde ihr unterstellt, dass die Promotion nicht rechtmäßig gewesen wäre und dass sie für die Lehre ungeeignet sei. Doch Friedrich Wilhelm Fröhlich (1879 – 1932), der Nachfolger von Winterstein, und der Dekan der Medizinischen Fakultät, Wilhelm von Gazen (gen. Gaza, 1883 – 1936), sprachen sich für Else aus.91 Trotz der ständigen Sorge um ein Einkommen, der enormen Arbeitsbelastung und zunehmender Repressalien 92 war Else Hirschberg zwischen 1925 und 1932 wissenschaftlich aktiv. Davon zeugen weitere elf Publikationen, wobei sie bei vier Schriften wieder Alleinautorin war. Die Angriffe auf die Kompetenzen von Else Hirschberg können auch mit den zunehmenden Repressalien gegenüber jüdischen Menschen in Zusammenhang stehen. Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums 93 wurde am 7. April 1933 erlassen. Einen Tag zuvor hatte Else Hirschberg dem stellvertretenden Direktor des Physiologischen Instituts mitgeteilt: Sehr geehrter Herr Professor, auf Veranlassung von Herrn stud. jur. Trumpf 94 sehe ich mich leider genötigt dem Institut bis der Nachfolger von Herrn Prof. Fröhlich eintrifft, fernzubleiben. Mit vorzüglicher Hochachtung Dr. Else Hirschberg 95

Der zum Nachfolger von Fröhlich zum 1. Mai 1933 berufene Kurt Wachholder (1893 – 1961) bemühte sich umgehend am 2. Mai 1933 um eine Neubesetzung der Hilfsassistentenstelle, da Fräulein Hirschberg für den Unterricht nicht mehr infrage käme. Am 5. Mai 1933 wurde Else Hirschberg zum 15. Mai entlassen und Wachholder teilte dem Ministerium am 11. Mai 1933 mit: Zum Schreiben G. Nr. 3 U. A. vom 28. 4. 1933 erlaube ich mir ergebenst zu berichten, dass nach dem Ausscheiden von Frl. Dr. Hirschberg am Institut keine Beamte, Angestellte oder Arbeiter nicht arischer Abstammung mehr sind. Der Direktor des Physiologischen Instituts Wachholder 96

Wie Else nach der Entlassung aus der Universität den Lebensunterhalt für sich und ihre Mutter absicherte, ist unbekannt. Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1936 ging sie gemeinsam mit ihrer jüngsten Schwester nach Hamburg. Am 1. April 193797 wurde sie Laborleiterin am Israelitischen Krankenhaus.98 1938 ergaben sich dort erhebliche Veränderungen, da sehr viele Ärzte und Schwestern ins Ausland emigrierten.99 Auch Else Hirschberg versuchte, einen Weg zu finden, um sich und ihre Schwestern zu retten. Sie hoffte auf Unterstützung durch William A. Noyes (1857 – 1941). Den an der University of Illinois at Urbana-­Champaign tätigen Chemieprofessor hatte sie im Juni 1924 bei der Tagung des Deutschen Chemikervereins in Rostock kennengelernt. Seitdem stand sie mit ihm in lockerer brieflicher Verbindung.100 Da es sich als sehr schwierig erwies, eine Arbeitsmöglichkeit in den USA zu finden, wurde auch über ein Rockefeller-­Stipendium diskutiert, das die Einreise in ein „Zwischenland“ ermöglichen sollte. Else wies darauf hin, dass es in den meisten Ländern, auch in den Niederlanden und der Schweiz, Professoren gebe, die sie persönlich kennen.101 Else Hirschberg hatte sich auch um Unterstützung 102 für ihre Emigration bei der American Association of University Women (AAUW ) bemüht, die zur International Federation of University Women (IFUW ) gehörte. Am 15. Februar 1939 hatte Else an die AAUW geschrieben und sich nach Möglichkeiten erkundigt, außerhalb der Quote in die USA kommen zu können. Sie erwähnte, dass sie ihre Stelle am Medizinischen Labor des Hospitals der Deutsch-­Israelitischen Gemeinde in Hamburg verlieren werde, da das Krankenhaus kurz vor der Auflösung stehe.103

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Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Im November 1939 teilte Noyes mit, dass er die Affidavits für Else Hirschberg an das Amerikanische Konsulat in Hamburg abgeschickt habe. Weitere Briefe sind nicht überliefert. 1941 verstarb William A. Noyes. Sind die Affidavits nicht in die Hände von Else Hirschberg gelangt? Waren die zugesicherten finanziellen Garantien nicht ausreichend? Wir wissen es nicht. In den Deportationslisten der Hamburger Gestapo finden sich für den 11. Juli 1942 die Namen von Else und Margot Hirschberg.104 Dieser Transport ging direkt nach Auschwitz.105 Ihr genaues Todesdatum ist nicht bekannt (Abb. 6).

Schlussbemerkung

Abb. 6  Denksteine für Else Hirschberg und ihre Schwestern Hertha und Margot in der Rostocker Schillerstr. 29, verlegt am 06. 07. 2017.

Der Zugang zu einem Medizinstudium war zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit erheblichen Schwierigkeiten für Frauen verbunden. Auch wenn die Lebenslinien nur weniger Frauen bisher nachvollzogen werden konnten, zeigt sich, dass sich einige als Ärztinnen niedergelassen haben. Andere haben wahrscheinlich nach ihrer Eheschließung ihre Berufstätigkeit beendet bzw. wegen gesetzlicher Regelungen beenden müssen. Eine universitäre Laufbahn hat keine der vorgestellten Frauen vollenden können, auch wenn diese von der in der Philosophischen Fakultät promovierten, aber vordergründig an der Medizinischen Fakultät forschenden Else Hirschberg angestrebt wurde. Noch viele Jahre mussten vergehen, bis auch Frauen an der Medizinischen Fakultät die wissenschaftliche Karriere mit einer Professur krönen konnten. Als erste war das nach derzeitigem Wissensstand Anne Lise Schubel (geb. Kammradt, 1907 – 1988) aus Greifswald. Von 1927 bis 1932 studierte sie Medizin. 1934 heiratete sie Johannes Schubel, den späteren Direktor der Greifswalder Universitäts-­H NO -Klinik. Das Paar hatte fünf Kinder, die übrigens alle eine ärztliche Laufbahn einschlugen. Nach dem frühen Tod des Ehemanns im Jahre 1950 arbeitete sie als Assistentin am Pathologischen und Anatomischen Institut der Universität Greifswald. Seit 1956 war sie Oberärztin am Anatomischen Institut der Universität Rostock und hatte die kommissarische Leitung des Instituts inne. Nach ihrer Habilitation 1957 in Jena wurde sie Dozentin für das Fachgebiet Anatomie und mit der Wahrnehmung der Professur mit vollem Lehrauftrag für Anatomie an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock beauftragt. Bereits im Februar 1959 wechselte sie nach einem Entscheid des Staatsekretariats für Hoch- und Fachschulwesen an die Universität Greifswald, wo sie eine Professur mit Lehrstuhl für das Fachgebiet der Anatomie an der Medizinischen Fakultät der Ernst-­Moritz-­Arndt-­Universität erhielt und bis 1968 Direktorin des Anatomischen Instituts war.106 Meta Sander (geb. Schnock, 1906 – 1996) hatte in Köln Medizin studiert und promoviert. 1935 kam sie an das Hygiene-­Institut in Rostock und wechselte 1940 an die Universitäts-­ Frauenklinik und zeitweise auch an die Chirurgische Universitätsklinik. Seit 1943 bildete sie Hebammen aus, von 1948 bis 1951 übernahm sie die ärztliche Leitung der Schwesternschule in Rostock. Nach ihrer Habilitation im Jahre 1953 wurde sie Dozentin und 1959 Professorin mit Lehrauftrag, 1969 ordentliche Professorin für Geburtshilfe und Gynäkologie. Hauptamtlich war sie von 1958 bis 1971 Leitende Ärztin der Frauenklinik Wismar.107 Auch wenn heute 13 Hochschullehrerinnen an der Universitätsmedizin wirken, sollte nicht übersehen werden, dass an der Spitze der Karriereleiter nach wie vor hauptsächlich Männer stehen. Der Anteil der Hochschullehrerinnen betrug auch 2017 nur 13 %.108

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Für diese Information danken wir dem Studiendekanat der ­Universitätsmedizin Rostock. Vgl. Schmiedgen 2006, hier S. 50 – 52. Vgl. Kaiser 1996, hier S. 173. Vgl. Burchardt 1995, hier S. 22. Vgl. Bleker 2000, hier S. 11. UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918, Abschrift eines Berichtes zum Frauenstudium vom 21. Januar 1896. Es heißt im § 103 der Universitätsstatuten von 1843: Zum Hören waren alle gebildeten Personen, welche der Immatrikulation nicht fähig sind, berechtigt. Die juristische Fakultät interpretierte es dann so, dass man ohnehin nur an Männer gedacht hatte. Deshalb musste noch die Präzisierung vorgenommen ­werden. UAR R 11 B12.1: Frauenstudium Bd. 1, 1869 – 1910 f. 16 Schreiben Justizministerium. In dem Briefwechsel (UAR R 11 B12.1: Frauenstudium Bd. 1, 1869 – 1910) wird die Mutter Minna (1851 – 1940) als Dentistin bezeichnet. Das stimmt mit den Angaben zur Mecklenburgischen Volkszählung aus dem Jahre 1900 überein (Ancestry.com. Mecklenburg-­Schwerin Volkszählung, 1900 [database on-­line]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations Inc, 2007). Ursprüngliche Daten: Mecklenburg-­Schwerin (Großherzogtum), Volkszählungsamt. Volkszählung am 1. Dezember 1900. LHAS 5.12 – 3/20 Statistisches Landesamt (1851 – 1945) (abgerufen am 5. 1. 2018). Eine analoge Aussage macht das Rostocker Adressbuch von 1924 unter http://adressbuecher.genealogy.net/addressbook/ entry/54747d741e6272f5d1c2cb6 f (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Auch der Großvater von Marga ist Zahntechniker gewesen (Ancestry.com. Rostock, Deutschland, Sterberegister, 1876 – 1950 [database on-­line]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2015. Ursprüngliche Daten: Personenstandsregister, Sterberegister, 1876 – 1950. AHR, abgerufen am 5. 1. 2018). Margaretha wurde am 7. Juni 1881 in Rostock geboren. In der Mecklenburgischen Volkszählung von 1900

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wird sie als Marga Gütschow geführt und zwar mit dem Beruf einer Zahnmedizinstudentin (Ancestry.com. Mecklenburg-­Schwerin Volkszählung, 1900 [database on-­line]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations Inc, 2007). Ursprüngliche Daten: Mecklenburg-­Schwerin (Großherzogtum), Volkszählungsamt. Volkszählung am 1. Dezember 1900. LHAS 5.12 – 3/20 Statistisches Landesamt (1851 – 1945). UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918, Briefwechsel in der Angelegenheit Gütschow. UAR R 11 B12.1: Frauenstudium Bd. 1, 1869 – 1910, Vermerk auf dem Schreiben des Justizministeriums vom 2. Mai 1907. UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918, Abschrift eines Briefes vom Justizministerium vom 1. April 1905. UAR R 11 B12.1: Frauenstudium Bd. 1, 1869 – 1910, Verzeichnis der Universitätsquästur vom 23. 5. 1905. UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918, Schreiben von Kobert an das Vizekanzellariat von April 1907. UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918, Schreiben vom 2. und 13. November 1907. UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918, Schreiben vom 12. Dezember 1905. UAR R 11 B 12.1: Frauenstudium Band 1, 1869 – 1910, Disziplinarvorschriften für die Studierenden der Universität Rostock, 7. Abschnitt: Vom Frauenstudium, § 57 – 59. Sie wurden erst 1914 gedruckt. Vgl. Beese 2011, hier S. 191. Fri(e)da Antonie Ida Johanna wurde am 1. Oktober 1885 in Schependorf/ Mecklenburg-­Schwerin als Tochter des Rittergutsbesitzers Christian Friedrich Wilhelm Ortmann und seiner Frau Maria Ulrike Ida (geb. Runge) geboren (Ancestry.com. Mecklenburg, Deutschland, Kirchenbuchduplikate, 1740 – 1918 [database on-­line]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2009. Ursprüngliche Daten: LHAS, Kirchenbuchabschriften evangelischer und katholischer

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Gemeinden Mecklenburgs. 10.72 – 4. (abgerufen am 5. 1. 2018). Die Angaben erfolgten durch Auswertung der Daten des Matrikelportals der Universität Rostock unter http://matrikel.uni-rostock.de/ (letzter Aufruf am 14.4.2019). Es ist zu beachten, dass sich viele Studierende mehrfach immatrikulierten, da sie verschiedene Universitäten besuchten. Eine Diskussion über Alter und Herkunft der Studentinnen ist bei Hager 1964 zu finden. Angaben nach Matrikelportal der Universität Rostock. Angaben ebd. UAR R 11 B12.1: Frauenstudium Bd. 1, 1869 – 1910, Unterlagen zu den Zulassungsbedingungen für Hörerinnen vom 25. November 1909, Beilagen. UAR R 11 B12.1: Frauenstudium Bd. 1, 1869 – 1910, Unterlagen zu den Zulassungsbedingungen für Hörerinnen vom 25. November 1909, Beilagen (Golther am 14. Dezember 1909, Schwalbe am 5. Dezember 1909). UAR R 11 B 12/2: Frauenstudium Bd. 2, 1911 – 1945, Entwurf des Rektorschreibens vom 24. 5. 1911. Der Name Lehmkuhl taucht in der Matrikel in Zusammenhang mit einem am 23. Oktober 1888 in Oldenburg geborenen Wilhelm auf. Es könnte sich dabei um den Bruder handeln. Der eindeutige Nachweis einer verwandtschaftlichen Beziehung steht noch aus. Er wurde 1909 und dann nochmals 1912 mit kleiner Matrikel an der Universität Rostock für Zahnmedizin immatrikuliert, vgl. http://purl. uni-­rostock.de/matrikel/200026425 und http://purl.uni-­rostock.de/​ ­matrikel/200029597 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918, Briefwechsel in der Angelegenheit Lehmkuhl. Die Ehe von Eva Henriette Margareta Pflug (geb. Lehmann) wurde bald wieder geschieden. Am 5. April 1923 ging sie die Ehe mit dem Gutsbesitzer Johannes Friedrich Partikel ein. Vgl. dazu die über ancestry.com zugänglichen Daten im Heiratsregister des Stadtarchivs Magdeburg sowie

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im Zivilstandsregister der östlichen Provinzen des LA Berlin. UAR R 11 B 12.1: Frauenstudium Bd. 1, 1869 – 1910, Disziplinarvorschriften für die Studierenden der Universität Rostock, 7. Abschnitt: Vom Frauenstudium, §  57 – 59. UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918, Briefwechsel in der Angelegenheit Lehmann, hier Bericht vom 10./13. November 1916. UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918, Briefwechsel in der Angelegenheit Lehmann, hier Schreiben des Großherzoglich Mecklenburgischen Ministeriums, Abteilung Unterrichtsangelegenheiten, vom 15. November 1916. Jahresverzeichnisse der an den deutschen Universitäten erschienen Schriften 1887 – 1913, 1914 – 1925 und 1926 – 1936. Für die entsprechende Recherche danken wir Claudia Hahn. Boedeker 1935. Die Daten wurden den im Universitätsarchiv verwahrten Promotionsakten oder den in der Universitätsbibliothek vorhandenen Promotionsschriften entnommen. UAR: Promotionsakte Sophie Jourdan. Buchin 2000, S. 263 und unter http:// geschichte.charite.de/aeik/biografie. php?ID=AEIK00469 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Der Familienname nach Heirat wurde in Klammern ergänzt, sofern er aus den Promotionsakten hervorging. In der Promotionsakte von Eva Büntgen gibt es keine Promotionsurkunde. Das Datum wird von dem beiliegenden Brief des Ministeriums mit der Beauftragung der Promotion übernommen. Auf der Promotionsurkunde lautet der Titel: „Ein Beitrag zur Blinddarmchorea“. Dabei handelt es sich um einen erheblichen Schreibfehler. UAR: Promotionsakte Eva Büntgen. Standesamt Berlin IX: Heiratsurkunde Nr. 376/1912. Buchin 2000, S. 240 und unter http:// geschichte.charite.de/aeik/biografie. php?ID=AEIK00147 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Teller und Teller 1984, hier S. 29 – 31 sowie Boeck et al. 2017. Buchin 2000, S. 268 und unter http:// geschichte.charite.de/aeik/biografie.

php?ID=AEIK00516 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 47 Siehe dazu den Sterberegistereintrag, StA Wiesbaden Nr. 705/1931. 48 Vgl. die Angaben im Reichs-­ Medizinal-­Kalender und im Verzeichnis der deutschen Ärzte. Noch in der Ausgabe von 1939 ist der Name in Königsberg eingetragen. 49 http://geschichte.charite.de/aeik/ biografie.php?ID=AEIK00656 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 50 Information von Christine Pfalz, Archiv der Stadt Bad Honnef. 51 UAR: Promotionsakte Anna Voigt. 52 UAR: Promotionsakte Gertrud Schroeder. 53 Budzier 2009, hier. S. 10 – 12. 54 https://www.fotoflowsolutions.com/ legacy-­project/ (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 55 Hebammenprüfungszeugnis vom 10. 12. 1925, Privatbesitz: Peter Bennett. 56 Wir danken Peter Bennett für die großzügige Bereitstellung von Fotos und anderen Dokumenten seiner Großmutter. 57 Zeugnis von Dr. Ernst Gräfenberg (Krankenhaus Berlin-­Britz) vom 21. April 1933, Privatbesitz: Peter Bennett. 58 https://geschichte.charite. de/verfolgte-­aerzte/biografie. php?&ID=297 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 59 Dieses am 7. April 1933 erlassene Gesetz richtete sich nicht nur gegen jüdische Menschen, sondern alle politisch missliebige Beamte. 60 Einen entsprechenden Hinweis findet man in Der sozialistische Arzt – Monatszeitschrift des Vereins sozialistischer Ärzte. 7 (1931) Nr. 10, S. 263. 61 Zeugnis des Supplierenden Vorstands der Deutschen Universitäts-­ Frauenklinik in Prag vom 30. November 1933, Privatbesitz: Peter Bennett. 62 Kostja Zetkin ist der zweite Sohn der Frauenrechtlerin, Friedensaktivistin und Sozialistin Clara Zetkin (1857 – 1933), der eine enge Beziehung zu Rosa Luxemburg (1871 – 1919) hatte. 63 Heiratsurkunde, Privatbesitz: Peter Bennett. 64 Jahr: 1940; Ankunft: New York, New York; Seriennummer des Mikrofilms: T715, 1897 – 1957; Mikrofilmrolle: Roll 6469; Gesellschaft: 5;

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Seitennummer: 145. Ancestry.com. New York, Passagierlisten, 1820 – 1957 [database on-­line]. Provo, UT, USA: Ancestry.com Operations, Inc., 2010. Briefe von Gertrud Bardenhewer an ihre Schwester Thea, Privatbesitz: Peter Bennett. Harrison 2013. Ancestry.com. Jalisco, Mexiko, zivile Sterberegister, 1856 – 1987 [database on-­line]. Provo, UT, USA: Ancestry. com Operations, Inc., 2015. Ursprüngliche Daten: Mexico. State of Jalisco Civil Registration. Registro Civil del Estado de Jalisco, México. Courtesy of the Academia Mexicana de Genealogia y Heraldica. Die Angaben sind dem der Promotionsschrift beigefügten Lebenslauf entnommen. Vgl. Schwoch 2006, S. 336. Der „Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ hatte die Aufgabe zur systematischen Erfassung von behinderten Neugeborenen und Kleinkindern im Deutschen Reich. In einer am 18. August 1939 als geheime Reichssache deklarierten Meldepflicht „für missgestaltete usw. Neugeborene“ wurde verfügt, dass Hebammen und Ärzte an den „Reichsausschuss“ Kinder mit definierten Krankheiten zu melden hätten. Die im Rahmen des Reichsausschussverfahrens Selektierten wurden dann in den sogenannten Kinderfachabteilungen, die im Allgemeinen pädiatrischen oder psychiatrischen Kliniken angeschlossen waren, von Ärzten exploriert und beobachtet, um schließlich nach deren Bildungsfähigkeit und Brauchbarkeit beurteilt zu werden. Schließlich wurde anhand dieser Kriterien über deren Leben und Tod entschieden. Vgl. Topp 2004, S. 17 – 54. Vgl. Aly, 1994, hier S. 220. Vgl. Schwoch 2006, S. 336. Vgl. Vogt 2008, hier S. 174 f. Vgl. zu Hirsch http://purl.uni-­rostock. de/matrikel/200013984 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). http://purl.uni-­rostock.de/matrikel/200013967 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Max-­Samuel-­Haus 2003, S. 89. Die Briefe der Eltern an Marianne und andere Verwandte werden in der Wiener Library for the Study of the Holo-

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caust & Genocide verwahrt, siehe https://portal.ehri-­project.eu/units/ gb-003348-wl1804 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Sie selbst hat unter Verwendung der Briefe in zwei Büchern von ihrem Schicksal berichtet. Vgl. dazu Elsley 1989 und Elsley 1995. 77 Vgl. Elsley 1995, z. B. S. 106 und 207 sowie Schröder/Katschke 2012, S. 163. 78 Vgl. Schröder/Katschke 2012, S. 177. 79 http://www.holocaust.cz/de/ opferdatenbank/opfer/17536edith-­josephy/ (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 80 Vgl. Peppel/Boeck 2017. 81 Vaupel 2005, hier S. 3408. 82 Das Verbandsexamen war eine akademische Prüfung im Fach Chemie, die 1898 durch den Verband der Laboratoriums-­Vorstände an deutschen Hochschulen eingeführt wurde. Damit wurde die Einführung eines Staatsexamens verhindert, gegen das sich eine Reihe von Professoren an Universitäten entschieden ausgesprochen hatten, weil dadurch die akademische Freiheit eingeschränkt worden wäre. Die Prüfung war Voraussetzung, um zur Promotion zugelassen zu werden. Das Zeugnis von Else Hirschberg trägt das Datum 25. Juni 1913. Vgl. Verband 1914, S. 33. 83 APS: Mss. B. B445: Max Bergmann Papers, Hirschberg, Else, 1939 January–June, Box 9, Folder 25, Verzeichnis der veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeiten von Else Hirschberg. 84 UAR: Promotionsakte Else Hirschberg. 85 Hirschberg 1913. 86 Hirschberg 1917. 87 APS: Mss. B. B445: Max Bergmann Papers; Hirschberg, Else-1939 January–June, Box 9, Folder 25, Abschrift des Zeugnisses von Neisser vom 28. Februar 1919.

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88 UAR: Personalakte Else Hirschberg, Schreiben vom 21. September 1932. 89 http://purl.uni-­rostock.de/matrikel/200024018 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019) und Studentenakte und Studentenkartei Else Hirschberg. 90 Siehe dazu u. a. Benecke 1927. 91 UAR: Personalakte Else Hirschberg, Schreiben des Dekans der Medizinischen Fakultät von Gazen an das Ministerium vom 18. Oktober 1932. 92 Vergleiche hier zur Situation in Rostock auch Elsley 1995, S. 12. 93 Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 legte Folgendes fest: „§3 (1) Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen; Ehrenbeamte sind aus dem Amtsverhältnis zu entlassen. (2) Dies gilt nicht für Beamte, die bereits seit dem 1. August 1914 Beamte gewesen sind oder die im Weltkrieg an der Front für das Deutsche Reich gekämpft haben oder deren Väter oder Söhne im Weltkrieg gefallen sind.“ Zit. nach Walk 1996, S. 12. 1. VO zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 11. 4. 1933: „§ 2: (1) Als nicht arisch gilt, wer von nichtarischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder ein Großelternteil nicht arisch ist.“ Zit. nach Walk 1996, S. 13. 94 Werner Trumpf (1910 – 1971) studierte in Rostock Germanistik, später Jura, seit 1932 gehörte er der NSDAP und der SA an. 1932/33 war er Hochschulgruppenführer des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes in Rostock und 1933 Führer der Rostocker Studentenschaft. Siehe dazu die Ergänzung von Harald Lönnecker im Matrikelportal der Universität Rostock unter http://purl.

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uni-­rostock.de/matrikel/200021713 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). UAR: Personalakte Else Hirschberg. UAR: Medizinische Fakultät, Assistenten am Physiologischen Institut 1902 – 1939, Nr.  310. APS: Mss. B. B445: Max Bergmann Papers; Hirschberg, Else-1939 ­January–June, Box 9, Folder 25, Abschrift des Zeugnisses von Walter E. Griesbach vom 11. Dezember 1938. Zur Geschichte des Krankenhauses siehe Jenss et al. 2016; Lindemann 1981 und Denkmalschutzamt Hamburg 1991. Jenss et al. 2016, S. 67. APS: Mss. B. 445: Max Bergmann Papers; Noyes, William Albert – 1938 December – 1939 November, Box 15, Folder 23, Brief von Noyes ohne Adressaten und Datum. APS: Mss. B. 445: Max Bergmann Papers; Hirschberg, Else – 1939 January – June – Box 9 – Folder 25, Brief von Hirschberg an Bergmann vom 2. März 1939. Zum Einsatz des IFUW bei der Flüchtlingshilfe siehe Oertzen 2012, S.  245 – 332. AAUW Archives, RG Programs, International Relations, War Relief Case Files, Folder 42. Zit. nach von Oertzen 2012, S. 292 Fußnote 13. Leider ist dieses Archiv seit geraumer Zeit geschlossen, weitergehende Recherchen sind derzeit nicht möglich. Senat der Stadt Hamburg 1965, S. 48. Sielemann 2006. UAR: Personalakte Anne Lise Schubel. UAR: Personalakte Meta Sander. Berechnung nach den Angaben des Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://cpr.uni-­rostock.de (letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

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Albert – 1938 December – 1939 November, Box 15, Folder 23 sowie Folder 25. LHAS 5.12 – 3/20 Statistisches Landesamt (1851 – 1945). LHAS , Kirchenbuchabschriften evangelischer und katholischer Gemeinden Mecklenburgs. 10.72 – 4. StA Wiesbaden Nr. 705/1931. Standesamt Berlin IX : Heiratsurkunde Nr. 376/1912. UAR Kurator K 125 – 0221: Frauenstudium 1892 – 1918. UAR R 11 B12.1: Frauenstudium Bd. 1, 1869 – 1910. UAR R 11 B 12/2: Frauenstudium Bd. 2, 1911 – 1945. UAR : Promotionsakte Sophie Jourdan. UAR : Promotionsakte Anna Voigt. UAR : Promotionsakte Gertrud Schroeder. UAR : Promotionsakte Else Hirschberg. UAR : Personalakte Else Hirschberg. UAR : Medizinische Fakultät, Assistenten am Physiologischen Institut 1902 – 1939, Nr. 310.

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Türen werden aufgestoßen: Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät

Vom engagierten Sozialhygieniker zum Parteigänger des Nationalsozialismus Hans Reiters Rostocker Jahre, 1919 – 1933 Hans-­Walter Schmuhl

Die „1. Sozialhygienische Studienreise“, März 1922 Wir haben auf den Zechen nach Einfahrt im Förderkorbe (8 – 10 m/sek Geschwindigkeit) die Bergleute – ca. 600 bis 700 m unter Tag – besucht und gesprochen, sie – schwarz von Kohlenstaub – in harter Arbeit, schweißtriefend an den Vororten, kennengelernt, das Eindringen in das Gebirge, die ohrenbetäubenden Bohrungen, das Hauen der Kohlen in den engen, schräggelagerten Flözen mit den stellenweise von der darüberliegenden Last wie Streichhölzer eingeknickten Abstützungen und das mühsame Durchqueren der verschiedenen Sohlenverbindungen auf leichten, schwankenden Holzleitern oder auf mechanisch angetriebenen Schrägbahnen miterlebt. Wir empfanden die drückende, feuchte Wärme an den wenig bewetterten Vororten, den kalten, alles durchdringenden Strom der frisch zugeführten „Wetter“, und fühlten die Sprengungen unter Tag mit ihren gewaltigen Erschütterungen des gesamten Bergwerkgefüges. […] Wir sahen nicht nur, wir hörten die unmelodischen, brutalen Geräusche der Schmiedefeuer, der Dampfhämmer, des zischenden Eisens, der tobenden Bessemergebläse, Eindrücke, die sich beim Betreten der Betriebe wie ein gewaltiges Tier auf die Sinne legten.1

So beschrieb der Hygieniker und Bakteriologe Hans Reiter die Eindrücke einer Gruppe Rostocker Studenten und Studentinnen von den Zechen und Hüttenwerken des Ruhrgebiets anlässlich der ersten von ihm organisierten sozialhygienischen Studienreise im März 1922. Das didaktische Konzept Reiters ging davon aus, dass es in der Ausbildung künftiger Sozialhygieniker und Sozialhygienikerinnen nicht genügte, toten Unterrichtsstoff einzupauken. Trockenes Zahlenmaterial allein könne die Studenten und Studentinnen kaum fesseln, sie sollten vielmehr aus den Hörsälen heraus, um das wirkliche Leben, um die Menschen kennenzulernen, die hinter diesen Zahlen standen.2 Sie sollten die Arbeitswelt mit allen Sinnen erfassen – sie im Wortsinn sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen. Nach Abschluss der vierzehntägigen Reise schrieb einer der Teilnehmer einen begeisterten Bericht für den „Rostocker Anzeiger“, aus dem das Programm dieser „1. Sozialhygienischen Studienreise“ hervorgeht.3 Ziel der Reise war das rheinisch-­westfälische Industrierevier. Die dreißigköpfige Gruppe, der auch acht „Damen“ angehörten, machte zunächst Station in Bielefeld, wo sie außer einer Weberei auch die Windelsbleiche, die größte deutsche Veredelungsanstalt für Webereiprodukte, besichtigte. Weiter ging es nach Dortmund. Dort standen eine Grubeneinfahrt in die Zeche Viktoria in Lünen, eine Besichtigung der Berggewerklichen Versuchsstrecke in Dortmund-­Derne, wo künstlich ausgelöste Kohlenstaubexplosionen studiert wurden, ein Besuch in den Anlagen zur Kohleveredelung der

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Bergwerksgesellschaft Phönix AG in Dortmund-­ Hörde und eine Visite im Pathologischen Institut der Städtischen Krankenanstalten auf dem Programm. Die Gruppe fuhr in die Zeche Holland in Gelsenkirchen-­Wattenscheid ein. In Bochum besuchte sie die Bergschule (Abb. 1 und 2). In Essen lernte sie die Sozialeinrichtungen der Firma Krupp kennen und besichtigte eine Kläranlage. In Oberhausen stand eine Führung durch die Gutehoffnungshütte auf dem Programm. In Duisburg unternahm die Gruppe eine Rundfahrt durch den Ruhrorter Hafen. In Krefeld besuchte man Seidenwebereien und -färbereien, in Düsseldorf die Firma Rheinmetall. „Höhepunkt“ 4 der Reise war schließlich der Besuch der Farbwerke Bayer & Co. in Leverkusen. Auf der Rückfahrt wurden noch ein Stahlwerk in Solingen sowie die Firma Günther Wagner (Pelikan) und die Continental Kautschuk- und Gutta-­Percha-­Companie in Hannover besichtigt. Etwa zwanzig Fachvorträge rundeten das Besichtigungsprogramm ab. Dabei referierte unter anderem der Hygieniker Ludwig Teleky (1872 – 1957), der soeben zum Leiter der Westdeutschen Sozialhygienischen Akademie in Düsseldorf berufen worden war, über „Diagnose und Therapie der Bleierkrankungen“. Teleky sollte 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft mit Berufsverbot belegt werden, er emigrierte 1938 in die USA .5 Hans Reiter hingegen sollte 1933 zum Präsidenten des Reichsgesundheitsamtes ernannt werden und bis zum Ende des „Dritten Reiches“ zum engeren Machtzirkel der nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“ gehören. 1922 zeigte er noch keinerlei Berührungsängste gegenüber dem Kollegen jüdischer Herkunft. Bemerkenswert auch, dass die von ihm geführte Reisegruppe auf der Rückfahrt einen Zwischenhalt in Hamburg einlegte und auf Einladung der Witwe des kurz zuvor verstorbenen Dichters Richard Dehmel (1863 – 1920), der Kunstförderin und Frauenrechtlerin Ida Dehmel (geb. Coblenz, 1870 – 1942), dem „Dehmelhaus“ in Blankenese einen Besuch abstattete. Ida Dehmel sollte ab 1933 als Jüdin verfolgt werden und 1942 angesichts der drohenden Deportation in den Freitod gehen.6 Diese dramatischen Entwicklungen lagen 1922 noch in weiter Ferne: „Den Abschluss der Reise bildete nach alt-­studentischer Sitte ein fröhlicher Kommers zu Ehren des verdienstvollen Veranstalters der Studienfahrt.“ 7 Hans Reiter hatte diese Reise sorgfältig vorbereitet. Sie bildete den Abschluss seines sozialhygienischen Seminars im Wintersemester 1921/22, an dem Hörer aller Fakultäten teilnehmen konnten. Etwa zur Hälfte, so Reiter, bestand das Seminar aus Medizinern, zur anderen Hälfte aus Volkswirtschaftlern, Juristen und Philologen. Die Mehrzahl der Hörer gehörte den höheren Semestern an, manche hatten das Staatsexamen in einem Fach bereits abgelegt und setzten ihr Studium in einem anderen Fach – unter Einbeziehung der Sozialhygiene – fort. Bereits im laufenden Semester hatte die Gruppe eine Reihe von Wirtschaftsbetrieben in Mecklenburg und Lübeck besichtigt, wobei je zwei Studierende, nach Möglichkeit Vertreter verschiedener Disziplinen, eine Vorbesichtigung durchführten und dann für das ganze Seminar einführende Referate hielten, um diese Veranstaltungen „des Charakters der Museumsbesichtigungen zu entkleiden“.8 Die Auswahl der Studierenden, die an der abschließenden Studienfahrt teilnehmen durften, erfolgte „lediglich auf Grund von Leistungen“.9 Um allen von ihm ausgewählten

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Abb. 1  Bergleute bei Arbeiten an einer Störung im Querschlag, 1933.

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Abb. 2  Bergmann beim Ableuchten auf Schlagwetter mittels Sicherheitslampe.

Studierenden die Teilnahme an den sozialhygienischen Studienreisen zu ermöglichen, warb Hans Reiter bei verschiedenen Industrieunternehmen finanzielle Mittel ein, die in eine von ihm gegründete „Stiftung Sozialhygiene“ flossen.10 Daraus wurden die Fahrtkosten, nach Möglichkeit auch die Unterbringungs- und Verpflegungskosten für „unbemittelte Studierende“ finanziert, wobei „Studierende, denen ein halber oder ganzer Freitisch oder Honorarerlass gewährt ist, […] besonders berücksichtigt“ 11 wurden. Zudem bekam der nach dem Urteil des Veranstalters beste Teilnehmer des Seminars die Kosten der Studienfahrt aus der Seminarkasse bezahlt.12 Im Jahre 1922 folgten noch zwei weitere sozialhygienische Studienreisen, eine nach Berlin, wo die Gruppe, abgesehen von Besichtigungen in der Elektroindustrie, Einblicke „in die sogenannte ‚Psychotechnik‘, d. h. Arbeitsberatung, Fließbandstudien usw.“ 13 erhielt, die andere nach Mitteldeutschland, „auch in die Heimarbeitsdörfer im Erzgebirge“.14 Die sozialhygienischen Studienreisen wurden zu einer ständigen Einrichtung.15 Selbst auf dem Höhepunkt der Hyperinflation 1923, als die dem Hygienischen Institut planmäßig zur Verfügung stehenden Mittel völlig entwertet waren, gelang es mit Hilfe beträchtlicher Zuwendungen Rostocker und Berliner Firmen sowie des Draeger-­Werkes in Lübeck, Beihilfen an bedürftige Studierende bereitzustellen, so dass eine eintägige sozialhygienische Studienfahrt nach Schwerin mit 45 Studierenden und eine zweitägige Studienfahrt nach Lübeck mit 29 Studierenden zustande kamen.16 Wie sich Bruno Gebhard (1901 – 1985), der später maßgeblichen Anteil am Aufbau des Deutschen Hygiene-­Museums in Dresden haben sollte, in seiner Autobiographie erinnerte, war es für ihn „eine Art von Offenbarung, als ich im dritten Semester erfuhr, dass ein neuer Zweig der Medizin in der Entwicklung sei, die Sozialmedizin.“ 17 Gebhard nahm an den ersten drei sozialhygienischen Studienreisen teil, die er als ein „Novum in der medizinischen Ausbildung“ 18 beschrieb, das bei den Studierenden großen Anklang gefunden habe. Auch der Veranstalter dieser Reisen hatte unter den Studierenden einen guten Ruf: „Hans Reiter, damals 40 Jahre alt, vereinigte in sich die seltenen Fähigkeiten eines ausgezeichneten Laboratoriumsforschers, eines klinischen Diagnostikers […] und wendigen Organisators.“ 19

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Wer war dieser Hans Reiter?20 Fachleute kennen ihn als Bakteriologen, nach dem sogar ein Krankheitsbild – der Morbus Reiter – benannt ist. Allgemein bekannt ist er, wie schon erwähnt, als Präsident des Reichsgesundheitsamtes im „Dritten Reich“. Er strukturierte diese Behörde um und weitete durch die Schaffung einer eigenen Abteilung für Erbmedizin ihr Aufgabengebiet in Richtung auf Erbbiologie und Rassenhygiene aus.21 Das 1937 unter dem Dach des Reichsgesundheitsamtes gegründete „Erbwissenschaftliche Forschungsinstitut“ unter Leitung von Günther Just (1892 – 1950) setzte mit dem siebenbändigen „Handbuch der Erbbiologie des Menschen“ (1939/40) Maßstäbe für die im Entstehen begriffene Humangenetik. Die 1936 geschaffene „Rassenhygienische und Bevölkerungspolitische Forschungsstelle“ im Reichsgesundheitsamt unter Leitung des „Zigeunerforschers“ Robert Ritter (1901 – 1951) hatte wesentlichen Anteil an den Vorbereitungen zur Verfolgung und Vernichtung der Sinti und Roma. Hans Reiter selbst gehörte als Vertreter Deutschlands beim Internationalen Gesundheitsamt in Paris, als Leiter der 1934 ins Leben gerufenen Arbeitsgemeinschaft der medizinischen Fachgesellschaften, als Vorstands- oder Kuratoriumsmitglied zahlreicher Verbände, Gesellschaften und Vereine, als Herausgeber verschiedener Fachzeitschriften und Monographien – zumindest bis zu seiner faktischen Entmachtung im Jahre 194222 – zu den einflussreichsten Akteuren innerhalb der nationalsozialistischen „Gesundheitsführung“. Er gilt gemeinhin als Anhänger der Rassenhygiene seit den Anfängen der Weimarer Republik und als früher Parteigänger des Nationalsozialismus. In den Berichten über die 1. sozialhygienische Studienreise im Jahre 1922 begegnet uns Hans Reiter hingegen als ein engagierter Sozialhygieniker. Wie war der Bakteriologe zur Sozialhygiene gekommen? In welchem Verhältnis standen Sozial- und Rassenhygiene in seinem wissenschaftlichen Denken und seinen politischen Auffassungen? Wie kam es dazu, dass Hans Reiter sich in den 1920er-­Jahren von einem nationalliberalen Vernunftrepublikaner zu einem entschiedenen Nationalsozialisten wandelte? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser offenen Fragen ist in den Rostocker Jahren Hans Reiters von 1919 bis 1933 zu suchen. Obwohl bereits einige wichtige Arbeiten zum Leben und Werk Hans Reiters vorliegen, hat dieser Lebensabschnitt bislang vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er soll daher im Mittelpunkt dieses Aufsatzes stehen. Doch zunächst ein knapper Abriss der frühen biographischen Stationen Hans Reiters.

Die frühe Biographie, 1881 – 1918 Hans Reiter wurde am 26. Februar 1881 als Sohn des Kaufmanns und Möbelfabrikanten Richard Reiter († 1900) und seiner Frau Margarete, geb. Steib, in Reudnitz bei Leipzig geboren. Die Familie Reiter scheint „dem gutbürgerlichen Mittelstand“ 23 angehört zu haben. Hans Reiter besuchte das Thomasgymnasium in Leipzig. Nach dem Abitur leistete er seinen Militärdienst als Einjährigfreiwilliger ab und studierte Medizin an den Universitäten Leipzig, Breslau und Tübingen, wo er im März 1906 das Staatsexamen ablegte und die Approbation erhielt. Nach einer halbjährigen Medizinalpraktikantenzeit an der Medizinischen Universitätsklinik in Leipzig wurde er im Juli 1906 bei dem Internisten Heinrich Curschmann (1846 – 1910) mit einer Dissertation über das Thema „Nephritis und Tuberkulose“ promoviert. Der junge Arzt interessierte sich für Hygiene, Bakteriologie und Immunologie. Nach dem Studium unternahm er eine Studienreise an das Institut Pasteur in Paris, absolvierte ein Volontariat bei dem Hygieniker Ernst Friedberger (1875 – 1932) am Pharmakologischen Institut der Universität Berlin, leistete den verbleibenden Teil seiner Militärdienstzeit als Arzt beim Eisenbahn-­Regiment Nr. 1 in Berlin ab und hospitierte am

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St. Mary’s Hospital in London bei dem Begründer der Immunologie, Sir Almroth Edward Wright (1861 – 1947). Im Juli 1908 heiratete Hans Reiter – die Ehe mit Nina Lautenschläger (* 1883) blieb bis zur Scheidung im Jahre 1942 kinderlos, das Paar nahm aber zwei Adoptivkinder an. Vorübergehend übernahm Hans Reiter eine Stelle als wissenschaftlicher Assistent und Leiter des Laboratoriums an der Universitäts-­Poliklinik für Lungenleiden in Berlin und volontierte am Berliner Hygieneinstitut unter Carl Flügge (1847 – 1923), Bruno Heymann (1871 – 1943) und Arthur Korff-­Petersen (1882 – 1927), Wegbereitern der Sozialhygiene. Von 1909 bis 1911 betrieb Reiter ein eigenes Laboratorium zur Herstellung von Impfstoffen in der Reichshauptstadt. Nach einem erneuten Aufenthalt am St. Mary’s Hospital wechselte er Ende 1911 als Assistenzarzt und Leiter des Untersuchungsamtes am Hygienischen Institut an die Universität Königsberg unter Martin Hahn (1865 – 1934). Nachdem er sich im Jahre 1913 mit einer Arbeit über „Vaccinetherapie und Vaccinediagnostik“ bei Karl Kisskalt (1875 – 1962) habilitiert hatte, wurde Reiter als Privatdozent für Bakteriologie und Hygiene an der Universität Königsberg geführt. Im April 1914 wechselte er schließlich als stellvertretender Abteilungsleiter an das Hygienische Institut der Universität Berlin. Der Erste Weltkrieg unterbrach die berufliche Karriere Hans Reiters und lenkte sie langfristig auch in eine andere Richtung. Von August 1914 bis September 1915 diente er als Assistenzarzt beim beratenden Hygieniker der I., später der IX . Armee an der Westfront, im Mai 1915 erhielt er das Eiserne Kreuz II . Klasse. Im Januar 1916 erfolgte seine Versetzung auf den Balkan, wo er an Paratyphus erkrankte. Von Dezember 1916 bis Juni 1917 war Reiter als garnisonsverwendungsfähig an das Hygienische Institut in Saarbrücken abkommandiert, vom März bis Juni 1917 sei er dort, so teilte er nach dem Krieg mit, „stellvertretend mit den Direktorgeschäften in medizinischen Angelegenheiten betraut“ 24 gewesen. Im weiteren Verlauf des Krieges wurde Reiter nach eigenen Angaben „im Felde verwundet als Laboratoriumsleiter“.25 Während des Krieges konnte Hans Reiter seine wissenschaftliche Tätigkeit fortsetzen. Im Oktober 1915 gab er gemeinsam mit Erich August Hübener (* 1870) bekannt, den Erreger des Morbus Weil (später als Leptospira icterohämorrhagiae bezeichnet) identifiziert zu haben – eine Woche vor einer anderen deutschen Forschergruppe und zehn Monate nach einem japanischen Forschungsteam, dessen Bericht in Deutschland jedoch erst nach dem Ersten Weltkrieg bekannt werden sollte.26 Zwischen den beiden deutschen Forschergruppen kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung, wem der Entdeckerruhm zustand – ein eigens eingesetztes Schiedsgericht kam zu dem Schluss, dass Reiter und Hübener das Recht zur Benennung des Krankheitserregers nicht zustehe – eine „wissenschaftliche Schlappe“, die Reiter „zeitlebens nicht vergessen sollte“.27 Im Dezember 1916 beschrieb Reiter dann den Fall eines deutschen Offiziers an der Balkanfront, der nach einer blutigen Diarrhoe an Arthritis, Urethritis und Konjunktivitis litt. Diese Symptomentrias erhielt den Namen Morbus Reiter, ungeachtet der Tatsache, dass dieses Krankheitsbild schon fast hundert Jahre vorher von dem englischen Chirurgen Sir Benjamin Brodie (1783 – 1862) beschrieben worden war.28 Reiter war es gelungen, aus dem Blut des Patienten eine bis dahin unbekannte Spirochaetenart zu isolieren und als Krankheitserreger zu identifizieren. Die Publikation dieses Befundes begründete den wissenschaftlichen Ruf Hans Reiters.29 In Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen wurde er im Mai 1918 vom preußischen Kultusministerium zum nichtplanmäßigen außerordentlichen (Titular-)Professor ernannt. Zugleich wurde Reiter, mittlerweile zum Oberarzt der Landwehr befördert, als beratender Hygieniker der deutschen Truppen der 1. bulgarischen Armee eingesetzt. Im November 1918 erlebte er noch den Rückzug der deutschen Truppen aus Bulgarien mit, im Dezember wurde er aus dem Militärdienst entlassen.

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Neubeginn in Rostock, 1919 – 1921 Es war Theodor von Wasielewski (1868 – 1941), seit 1916 ordentlicher Professor für Hygiene an der Universität Rostock, der Hans Reiter (Abb. 3) in die Hansestadt holte – die beiden hatten sich „im Felde kennen gelernt“.30 Am 1. Februar 1919 nahm Reiter seinen Dienst als 1. Assistent und Leiter der bakteriologischen Abteilung am Hygienischen Institut der Universität Rostock auf.31 Wenige Tage später beantragte er bei der Medizinischen Fakultät seine Zulassung als Privatdozent.32 Der Dekan reichte den Antrag an die Abteilung für Unterrichtsangelegenheiten im Staatsministerium des Freistaates Mecklenburg-­Schwerin weiter, mit der Bemerkung, dass die Fakultät von einer Habilitationsschrift und einer Probevorlesung absehe, weil Reiter bereits an einer anderen deutschen Universität habilitiert sei, eine große Zahl wissenschaftlicher Arbeiten vorweisen könne und von Wasielewski ihn empfehle. Die Fakultät bat das Ministerium darum, Reiter die venia legendi für das Fach Hygiene und Bakteriologie zu erteilen.33 Auch der „Bevollmächtigte der Mecklenburgisch-­Schwerinschen Volksregierung an der Universität Rostock“ erhob keine Einwände, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Reiter, der seine Frau und ein Kind mitbrachte, wirtschaftlich über die Runden kommen würde: „Nach mündlicher Versicherung verfügt er über genügende Mittel, um unter Zuhilfenahme seines Assistentengehalts hier mit seiner Familie leben zu können.“ 34 Die Verleihung der venia legendi erfolgte am 8. März 1919, am 27. März stellte sich der neue Privatdozent in einer öffentlichen Vorlesung mit dem Titel „Der heutige praktische Wert der aktiven Immunisierung“ im Auditorium des Seminargebäudes vor.35 Im Sommersemester 1919 nahm Hans Reiter seine Lehrtätigkeit auf. Er bot drei Veranstaltungen an: „Ausgewählte Kapitel der Hygiene (eine Stunde pro Woche, für Hörer aller Fakultäten)“, „Einführung in die Immunitätslehre und Serologie mit Übungen für Vorgeschrittene“ (zwei Stunden pro Woche) sowie „Anleitung zu wissenschaftlichen Arbeiten“ (täglich sieben Stunden).36 Daneben hielt Reiter in diesem Semester eine Vorlesung an der Sozialen Frauenschule in Rostock mit zwanzig Teilnehmerinnen.37 Hans Reiters neuer Arbeitsplatz war wenig einladend. Am Ende des Ersten Weltkriegs waren dem Bakteriologischen und Hygienischen Institut der Universität Rostock „praktisch nur die kahlen Wände geblieben“.38 Die Kosten für die dringendsten Renovierungsarbeiten, den Neuaufbau der Sammlungen und der Bibliothek veranschlagte von Wasielewski auf über 50.000 Mark,39 doch war an Investitionen in dieser Größenordnung in der Nachkriegszeit nicht zu denken. Mit Blick auf das marode Institutsgebäude klagte die Medizinische Fakultät gegenüber dem Ministerium für Unterricht und Medizinalwesen in Schwerin, „dass es eines Kulturstaates unwürdig ist, seinen Unterricht über Volksgesundheitslehre in einem derart verkommenen Gebäude erteilen zu lassen.“ 40 Es fehlte aber nicht nur an finanziellen Mitteln zur Modernisierung des Gebäudes und seiner Einrichtung, auch an den Personalkosten musste gespart werden. Als daher im Laufe des Jahres 1919 Überlegungen angestellt wurden, wie das neuartige Fachgebiet der Sozialhygiene an der Universität Rostock verankert werden könnte, war an die Einrichtung einer neuen Stelle oder gar eines Lehrstuhls für Sozialhygiene 41 nicht zu denken. Stattdessen regte Theodor von Wasielewski beim Unterrichtsministerium die Einrichtung einer sozialhygienischen Abteilung an seinem Institut an. Am 5. Dezember 1919 beantragte er ferner, seinem Assistenten Hans Reiter einen zusätzlichen Lehrauftrag zu erteilen mit der Verpflichtung, zwei Semesterwochenstunden im Fach Sozialhygiene zu unterrichten. Von Wasielewski wies bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass Reiter im laufenden Wintersemester 1919/1920 erstmals eine gut besuchte Vorlesung über Sozialhygiene für Hörer

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Abb. 3  Hans Reiter, ohne Jahr.

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aller Fakultäten halte „und im Einvernehmen mit dem Direktor mit einer Reihe älterer Studierenden Arbeiten über sozialhygienische Fragen Rostocks durchgeführt“ 42 habe. Das Ministerium ließ sich Zeit mit seiner Entscheidung. Im Juni 1920 erneuerte die Medizinische Fakultät der Universität Rostock ihren Antrag auf Verleihung eines Lehrauftrags für Sozialhygiene an Hans Reiter und bat das Ministerium, „die verhältnismäßig geringen Mittel für eine zweistündige Vorlesung über Sozialhygiene erforderlichenfalls im Nachtragsetat zu befürworten.“ 43 Im November 1920 stellte die Fakultät zudem den Antrag, Reiter den Titel eines außerplanmäßigen außerordentlichen Professors zu verleihen.44 Am 7. März 1921 genehmigte das Ministerium endlich einen unbesoldeten Lehrauftrag für Reiter im Umfang von vier Semesterwochenstunden, am 1. Juni 1921 folgte die Ernennung zum unbesoldeten außerplanmäßigen außerordentlichen Professor.45 Wohlgemerkt: Weder der Lehrauftrag noch der neue Titel brachten Reiter irgendeine Vergütung ein. Dennoch gab er seine Stellung als I. Assistent und Leiter der bakteriologischen Abteilung am Hygienischen Institut der Universität Rostock zum 30. April 1921 auf,46 und zwar, wie Theodor von Wasielewski in seinem Jahresbericht hervorhob, „auf eigenen Wunsch […], um sich vorwiegend der Sozialhygiene forschend und unterrichtend widmen zu können.“ 47 Der Grund für diesen ungewöhnlichen Schritt ist wohl in der überbordenden Lehrtätigkeit Reiters zu suchen. Neben seiner täglichen Arbeit in der Bakteriologischen Abteilung, den zweistündigen bakteriologischen Kursen (die auch Sterilisationskurse für Pharmazeuten einschlossen), den vierstündigen hygienischen Praktika sowie den Einführungen in die allgemeine Hygiene, Immunologie und Bakteriologie hielt Reiter seit dem Wintersemester 1919/20, wie bereits erwähnt, Vorlesungen über Sozialhygiene, seit dem Sommersemester 1920 veranstaltete er zudem seine aufwändigen sozialhygienischen Seminare.48 Hinzu kamen Vorlesungen in der Sozialen Frauenschule und Kurse an der Volkshochschule. Vor die Wahl gestellt, entschied er sich gegen die Bakteriologie und Immunologie und für die Sozialhygiene – trotz einer völlig unsicheren beruflichen Perspektive. Hier wird deutlich, wie wichtig Hans Reiter das neue Fachgebiet war.

Sozialhygiene als Forderung der Zeit, 1917 – 1922 Erstmals hatte sich Reiter im Jahre 1917 – damals war er an das Hygienische Institut in Saarbrücken abkommandiert – in einem Aufsatz mit dem Titel „Kann eine Verbreitung der Gonorrhoe und der hiermit verknüpfte Geburtenrückgang nach Friedensschluss eingeschränkt werden?“ mit einem sozialhygienischen Thema auseinandergesetzt. In diesem Text findet sich auch schon eine wegweisende programmatische Aussage: Jeder einzelne Mann repräsentiert als solcher einen Teil des Staatsvermögens; zum Gegenwartswert des Individuums addiert sich der Wert als Produzent neuer Menschen, die später im gleichen Sinne für den Staat wirken. Durch den Krieg mit seinen ungeheuren Opfern, die er unserem Volke auferlegt, verarmt der Staat auch an seinen Höchstwerten, an den Menschen selbst. Dieses Verarmen ist um so bedenklicher, als der Krieg bekanntlich eine negative Auslese darstellt und durch ihn gerade häufig die Tüchtigsten dem Staate verloren gehen. Um so mehr muss danach gestrebt werden, die entstandenen Lücken baldmöglichst zu ersetzen, und dieses Bestreben soll die Pflicht jedes Einzelnen sein.49

Hier scheinen die wesentlichen Versatzstücke des gesundheitspolitischen Denkens Reiters auf: ein gleichsam kameralistisches Konzept, das Menschenleben zum Volksvermögen rechnet, der Primat des Staates, der Vorrang des Volksganzen vor der Einzelexistenz, die Gleichsetzung von Gesundheit und Leistungsfähigkeit, die Pflicht zur Gesundheit als

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Kehrseite des Rechts auf Gesundheit, schließlich das Menetekel schwindender Volkskraft infolge der „contraselektorischen Effekte“ des Krieges. In diese Matrix ließen sich sozialhygienische wie auch rassenhygienische Postulate und Programme eintragen, die als komplementäre Strategien verstanden wurden, um die Volksgesundheit zu steigern, wobei die Grenze zwischen Erbanlage und Umwelt die Scheidelinie markierte. In seinem Aufsatz „Das Recht auf Gesundheit“ (1919) knüpfte Reiter an seinen Grundgedanken an: „Leider ist es auch heute noch nicht in allen Hirnen eingeprägt, dass das wertvollste Gut eines Staates sein Menschenmaterial ist.“ 50 An dieser Stelle entwickelte Reiter auch schon konkrete Pläne zum Neuaufbau des öffentlichen Gesundheitswesens: Die bestehenden Kreisarztstellen sollten zu Kreisgesundheitsämtern ausgebaut werden. Dazu, so Reiter weiter, brauche man einen Stab engagierter und hoch motivierter Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die im Sinne einer sozialhygienischen Aufklärung im Volk tätig werden sollten: Die dem Kreisgesundheitsamte beizugebenden Helfer und ganz besonders Helferinnen müssen diesen Beruf aus Liebe zur Sache ergreifen und dürfen keiner Moderichtung folgen. Ihre Aufgabe ist es, den Sinn der Volksgesundheitspflege in die kleinste und ärmste Hütte zu tragen. Sie müssen am zweckmäßigsten eine allumfassende Ausbildung in der Wohnungsfürsorge, Mutterschaftsfürsorge, in der Säuglings-, Kinder-, Krankenpflege und auch in der Kochkunst genossen haben und die einfachsten Fähigkeiten für eine statistische Erfassung der Beobachtungen besitzen. Sie müssen aufklären und helfen, kontrollieren und berichten. In der Hauptsache aber: es müssen empfindende Menschen sein, die Verständnis für die Not des Volkes haben und die auch die richtige Form finden, mit ihrem Wissen und Verständnis die Notleidenden zu unterstützen. Gerade sie haben eine ungeheure Verantwortung zu tragen, denn helfen sie ohne Taktgefühl, dann werden sich bald ihre Schutzbefohlenen vor ihnen verschließen, und der Zweck des Helfens wird nie erreicht.51

An dieser Stelle geht es um Fürsorgerinnen und Wohlfahrtspfleger, doch werden hier auch die Motive deutlich, die hinter Hans Reiters Engagement bei der Ausbildung von künftigen Sozialhygienikern und Sozialhygienikerinnen standen – er verfolgte damit ein strategisches Ziel, es ging ihm darum, eine umfassend, auch fachübergreifend ausgebildete Funktionselite zu schaffen, deren Angehörige als Multiplikatoren in die Gesellschaft hinein wirken sollten. Um alle Kräfte zu bündeln, schlug Reiter vor, die freigemeinnützigen Wohltätigkeitsvereine zu verstaatlichen, einheitlich zu organisieren und den Kreisärzten zu unterstellen. Das Kreisgesundheitsamt sollte die Schaltstelle sein, „wohin zuerst alle Bahnen unserer praktischen sozialen Gesundheitspflege führen: die Wohnungsfürsorge, Mutterschaftsfürsorge, Jugendfürsorge mit Säuglingspflege und Kleinkinderpflege, die Krankenfürsorge, die Kontrolle der Berufshygiene und jede Art von Bevölkerungspolitik.“ 52 Umgekehrt sollte vom Kreisgesundheitsamt „dauernde Aufklärung der weitesten Kreise des Volkes über alle sozialhygienischen Fragen“ 53 ausgehen. Reiter machte sich an dieser Stelle auch schon Gedanken über einen hierarchischen Aufbau des öffentlichen Gesundheitswesens: Nach oben würde der Bau für die Verwaltung der Volksgesundheit – eventuell unter Einschaltung von Provinzial- oder Landesgesundheitszentralen – in einem Reichsgesundheitsministerium oder einer analogen Institution gipfeln, geleitet von einem geeigneten ärztlichen Beamten oder einem Ausschuss von Ärzten, dem die Organisation und Verwaltung des Gesundheitswesens, einschließlich der Gesundheitsgesetzgebung, obliegt und das durch ein wirkliches, nicht juristisch-­ bürokratisch geleitetes „Reichsgesundheitsamt“ mit Forschungslaboratorien und sozialhygienischen Abteilungen, wo u. a. eine umfassend ausgebaute Gesundheitsstatistik zusammenläuft, mit einem Arzte als Direktor, in seinen Beschlüssen unterstützt und unterrichtet wird.54

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Ob Hans Reiter zu diesem Zeitpunkt bereits den heimlichen Ehrgeiz hatte, selbst einmal an die Spitze des Reichsgesundheitsamtes zu treten, darüber kann man nur spekulieren. Dass er seine Lebensaufgabe als Wissenschaftler und Staatsbürger darin sah, den Umbau des öffentlichen Gesundheitsdienstes im Deutschen Reich den Erkenntnissen und Forderungen der Sozialhygiene entsprechend voranzutreiben, ist unzweifelhaft. 1922 publizierte Reiter einen Aufsatz über „Die körperliche Ertüchtigung der Jugend durch Leibesübungen“. Im Sinne der Volksgesundheit sei es notwendig, den Turnunterricht an den Schulen, dem Misstrauen des Auslands und der Gleichgültigkeit der deutschen Behörden zum Trotz, auszubauen. Es gebe mittlerweile „aus dem Volke heraus“ 55 eine Bewegung zur Förderung der Leibesübungen, es fehle aber die Unterstützung von offizieller Seite: „Wo bleiben Parlamente, wo Regierungen und Behörden, die in großzügiger Weise diese Strömung rationell organisieren, damit keine Werte vergeudet werden?“,56 so Reiters ungeduldige Frage. Konkret forderte er, dass die Schulen mindestens eine Turnstunde am Tag, einen obligatorischen Spielnachmittag in der Woche und an zwei Sonntagen im Monat Wandertage durchführen sollten. Turnen sollte zum Prüfungsfach werden. Neben den praktischen Leibesübungen sollte eine theoretische Aufklärung der Schülerinnen und Schüler über gesunde Ernährung, Wohnung, Kleidung, Rassenhygiene, Methoden der körperlichen Abhärtung, Alkohol- und Nikotinmissbrauch erfolgen. Den abschließenden Bemerkungen Reiters ist die Unzufriedenheit mit dem schleppenden Ausbau der öffentlichen Gesundheitspflege abzuspüren: Gerade für dieses Gebiet der Gesundheitspflege empfindet man schmerzlich das fast gänzliche Fehlen gesundheitspolitisch eingestellter, über den Parteien stehender Köpfe in den gesetzgebenden Körperschaften und Verwaltungen! Das alte Wort – der Mensch ist das wertvollste Gut des Staates –, scheint auch heute noch zu wenig beachtet zu werden, – und doch ist es nur der gesunde und leistungsfähige menschliche Körper und Geist mit seiner Arbeitskraft, die allein unseren Sachgütern Leben und damit Werte verleiht!57

Hans Reiter als Rostocker Kommunalpolitiker, 1920 – 1922 Die Sozialhygiene verstand sich als angewandte Wissenschaft, deren Ergebnisse unmittelbar in das öffentliche Gesundheitswesen einfließen sollten. Hans Reiter beschränkte sich jedoch nicht auf die wissenschaftliche Politikberatung, er engagierte sich zu der Zeit, als er die Grundzüge seines sozialhygienischen Programms entwarf, auch parteipolitisch, und zwar in den Reihen der Deutschen Volkspartei (DVP ), die im November/Dezember 1918 aus der alten Nationalliberalen Partei hervorgegangen war und eine mittlere Linie zwischen der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei und der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei verfolgte. Von 1920 bis 1922 war Hans Reiter Vorsitzender der Rostocker Ortsgruppe der Deutschen Volkspartei, von 1919 bis 1923 hatte er als Mitglied der Fraktion der DVP Sitz und Stimme in der Rostocker Stadtverordnetenversammlung.58 Ein Artikel mit dem Titel „Gedanken zur Neuwahl des Stadtparlaments“, der im „Rostocker Anzeiger“ vom 22. November 1921 erschien, gibt Einblick in die Motive, die Hans Reiter bewogen hatten, sich politisch zu engagieren. Den Hintergrund bildete die grundstürzende Erfahrung der Kriegsniederlage, der Novemberrevolution und des Zusammenbruchs des Kaiserreichs:

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In wildem, sich überstürzendem Drängen rollen die Ereignisse ab. Alte Formen, zu denen wir einst in stummer, blinder Anbetung emporschauten, liegen zerbrochen am Boden, noch vollzieht sich ein gewaltiges Ringen, Neues und Besseres an ihre Stelle zu setzen!59

Der politischen Leitlinie der Deutschen Volkspartei und ihres Gründers Gustav Stresemann (1875 – 1929) folgend, bekannte sich Hans Reiter zur neuen Republik, zur Demokratie und zum Parlamentarismus und leitete daraus eine Verpflichtung zum politischen Engagement ab: „Neue Rechte bringen neue Pflichten […]. In einem demokratischen Staate ist es die allererste Bürgerpflicht, auch mit seiner Person für das Staatswohl und damit für das Wohl der Allgemeinheit einzutreten.“ Ausdrücklich bezog Reiter diese Verpflichtung auch auf die Kommunalpolitik. Die weit verbreitete Ansicht, „Politik gehöre nicht aufs Rathaus“, lehnte er entschieden ab. „Und in der Praxis?“, so lautete die rhetorische Frage, auf die Reiter eine eindeutige Antwort gab: Alle denken politisch, – auch im Stadtparlament, und alle sprechen politisch, – auch im Stadtparlament! Wir haben es ja erlebt! Die Politik sitzt einmal drin und wir werden sie, solange die heutige parlamentarische Form unser Schicksal bestimmt, niemals dadurch herausdrängen, dass wir ihr Vorhandensein leugnen! Das Stadtparlament ist die Keimzelle des gesamten demokratischen Staatsgebildes.

Schwer ringe der „Bürger“ mit sich, „es ekelt ihn[,] in die politische Arena zu steigen“. Rückzug aus dem öffentlichen Leben sei jedoch der „falsche Weg, wir müssen hinaus ins politische Leben“. Die Sozialdemokratie stellte Reiter, was „Fleiß, Ausdauer, Disziplin und Organisation“ anging, als Vorbild dar. Sie habe, allerdings „in rücksichtslosester Vergewaltigung des Einzelmenschen für die Gesamtheit der hauptsächlich von ihr vertretenen Schichten Hervorragendes geleistet.“ Dem gelte es, eine klassen- und schichtenübergreifende Sammlungsbewegung entgegenzusetzen: Noch klingt der verderbliche Schrei des Klassenkampfes! Gerade für die Deutsche Volkspartei wird es die Quelle ihrer Kraft sein, sich mit aller Energie gegen diesen Klassenkampf einzusetzen. Wir sind ein Volk in tiefster Not, ein Volk, das sich heute den Klassenkampf nicht mehr leisten darf, das eine bessere Zukunft nur erwarten kann von dem Zusammenschluss des ganzen Volkes, von einem gegenseitigen Verstehen aller Stände und Schichten.

Abschließend gab Reiter die Parole für den anstehenden Kommunalwahlkampf aus: „Der Wahlspruch der Deutschen Volkspartei lautet: National – Liberal – Sozial.“ Zwei Monate zuvor, auf einer Mitgliederversammlung der Ortsgruppe der Deutschen Volkspartei am 6. September 1921, hatte Reiter, noch ganz unter dem Eindruck des Mordes an Finanzminister Matthias Erzberger (1875 – 1921) am 26. August 1921 stehend, eine Einschätzung der politischen Lage gegeben. Die „politische Atmosphäre“ sei schon seit längerem „gewitterschwül“ 60 gewesen. Auf der einen Seite stünden „die Massen, die nach jahrelangem Kampf zur politischen Macht gelangt sind und nicht wissen, wie sie diese Macht ausnutzen können, aber in beständiger Furcht leben, sie zu verlieren.“ Auf der anderen Seite fände sich das Bürgertum wieder, „mangelhaft organisiert und deshalb auch mehr oder minder machtlos.“ Reiter warnte vor einer politischen Polarisierung durch die Agitation sowohl der extremen Rechten als auch der extremen Linken und plädierte, obwohl die Aussichten auf den von Gustav Stresemann erstrebten „Block der Mitte“ geschwunden seien, für eine Politik des Ausgleichs: Stresemanns Ausspruch von der Politik des Kompromisses ist durchaus richtig, wenn auch viele darin eine Schwäche unseres Parteiprogramms erblicken. […] Die Deutsche Volkspartei will als Mittelpartei alles vermeiden, was geeignet ist, unser Volksganzes zu zerklüften. Wir haben die

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Aufgabe und das Ziel, zu vermitteln. Unsere Politik wird deshalb als Schaukelpolitik verschrien, aber praktische Politik lässt sich ohne Konzessionen nicht treiben.

Freilich fiel Reiters Abgrenzung nach links ungleich eindeutiger aus als nach rechts. Wenn er die Anwendung der jüngst erlassenen Ausnahmebestimmungen auch „gegen die Linksradikalen“ und die „Abwehr des Terrors der Straße“ forderte und sich „gegen das Verbot der Feier nationaler Gedenktage“ verwahrte, so positionierte er sich in der Nähe der Deutschnationalen und Völkischen. In den Reihen der Sozialdemokraten wurde dies auch – manchen Anbiederungsversuchen Reiters zum Trotz – durchaus erkannt. So verunglimpfte die sozialdemokratische „Volkszeitung“ die Ansprache des Ortsgruppenvorsitzenden der Deutschen Volkspartei bei der Reichsgründungsfeier am 18. Januar 1922 vor dem Kriegerdenkmal am Wall zu Rostock als „Reiters Haßgesang“.61 Hans Reiters nationaler Chauvinismus konnte bisweilen bizarre Formen annehmen. So veröffentlichte der „Rostocker Anzeiger“ am 11. Januar 1921 einen „Offenen Brief “ Reiters an die Ballettmeisterin am Rostocker Stadttheater, Valerie Lindau, in dem sich der Stadtverordnete über die Mottos der von ihr veranstalteten Maskenfeste empörte: Nach dem Feste auf der französischen Malaieninsel Tahiti ist nun das Fest im französischen Modebad Nizza gefolgt. […] Haben Sie denn kein Verständnis für nationale Würde und nationales Taktgefühl? – Hat keiner Ihrer Verwandten und Freunde im Kampfe mit schwarzen, gelben und weißen Franzosen geblutet oder in französischer Gefangenschaft unsagbare Demütigungen erduldet? – Haben Sie keine Freundin im besetzten Gebiet, die gegen schwarze und gelbe Schmach täglich ankämpfen muss? – Empfinden Sie selbst nicht die Beleidigung, die Sie durch Ihr Verhalten dem deutschen Volke zufügen?62

Hans Reiter reihte sich mit diesem „Offenen Brief “ in die internationale Kampagne gegen die „Schwarze Schmach“ ein, eine Protestbewegung gegen den Einsatz französischer Kolonialtruppen während der alliierten Rheinlandbesetzung, denen man massenhafte Vergewaltigungen deutscher Frauen unterstellte. Reiter erweist sich hier als ein in der Wolle gefärbter Rassist. Valerie Lindau konterte die öffentliche Attacke übrigens souverän: Es gehört allerdings eine ziemliche Phantasie dazu, aus dem Titel eines harmlosen, fröhlichen Maskenfestes der Veranstalterin ‚Mangel an nationaler Würde‘ zum Vorwurf zu machen. Ich glaube, dass auch niemand einen solchen Mangel darin erblicken wird, wenn einmal ein deutscher Professor mit seiner Gattin ‚Boston‘, ‚One Step‘ oder gar ‚Foxtrott‘ tanzt. Es wäre doch sehr bedauerlich, wenn unser Deutschtum durch solche kleinlichen Äußerlichkeiten in die Brüche ginge. […] Um aber Ihnen, sehr geehrter Herr Professor, für die Zukunft solche Aufregungen zu ersparen, nenne ich mein nächstes Maskenfest ‚Ein Karneval in Finsterwalde‘.63

Berufliches Scheitern Reiters an der Universität Rostock, 1921 – 1923 Hans Reiter war ein hohes Risiko eingegangen, als er seine Assistentenstelle am Bakteriologischen und Hygienischen Institut der Universität Rostock aufgegeben hatte, um sich auf der Basis eines unbesoldeten Lehrauftrags ganz dem Unterricht in Sozialhygiene widmen zu können. Theodor von Wasielewski, dessen Anträge auf eine Aufstockung des Personals im Hygienischen Institut regelmäßig abgewiesen wurden, wies den Dekan der Medizinischen Fakultät im Juni 1921 darauf hin, dass er zu seinem Bedauern derzeit nicht in der Lage sei, seinem „wissenschaftlichen Mitarbeiter und freiwilligen Leiter der sozialhygienischen Abteilung, Herrn Prof. Dr. Reiter, irgendwelche Vergütung für seine

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Tätigkeit zu geben.“ 64 Der Dekan möge daher beim Ministerium die Umwandlung des unbesoldeten Lehrauftrags Reiters in einen besoldeten beantragen – was auch umgehend geschah.65 Jetzt zeigte sich jedoch, dass sich Reiter mit der Aufgabe der Assistentenstelle in eine Sackgasse manövriert hatte. Dem Antrag auf Umwandlung des unbesoldeten in einen besoldeten Lehrauftrag werde, so beschied das Ministerium kurz und bündig mit, „aus etatmäßigen Gründen wohl kaum Folge gegeben werden können, da der Prof. Reiter nach Aufgabe seiner Assistentenstelle nicht mehr in einem festen Anstellungsverhältnis zu dem Hygienischen Institut steht.“ 66 Es kam aber noch schlimmer: Kurz darauf, am 27. Juli 1921, teilte das Ministerium mit, dass in der Verfügung vom 7. März 1921 der Umfang des Lehrauftrags „versehentlich“ 67 auf vier statt nach dem Vorschlag der Medizinischen Fakultät auf zwei Semesterwochenstunden festgesetzt worden sei. Dies wurde nunmehr „berichtigt“.68 Zugleich gewährte das Ministerium Reiter rückwirkend vom 1. April 1921 an für die Dauer von drei Jahren, also bis zum 31. März 1924, eine Vergütung von 600 Mark pro Semesterwochenstunde. Diese Verfügung veranlasste Hans Reiter zu einem geharnischten Protestschreiben. Als die Fakultät vor eineinhalb Jahren den Antrag auf Erteilung eines Lehrauftrags im Umfang von zwei Semesterwochenstunden gestellt habe, sei „die Entwicklung der socialen Hygiene noch nicht in ihrer ganzen Tragweite zu überblicken“ 69 gewesen, zwei Semesterwochenstunden waren damals „für genügend erachtet“ worden. Das Ministerium selber habe dann „in der richtigen Einschätzung der Bedeutung dieses Faches“ vier Semesterwochenstunden festgesetzt. Über den laufenden Lehrbetrieb schrieb Reiter: Ich habe im vorigen Semester 3 ½ Stunden gelesen, habe aber für das Wintersemester 4 ½ Stunden festlegen müssen, um nur einigermaßen die Fülle des Stoffes bewältigen zu können, wobei zu berücksichtigen ist, dass der Inhalt der Wintervorlesungen gänzlich verschieden von dem der Sommervorlesungen sein wird.

In Zukunft dürften vier bis fünf Semesterwochenstunden unter der Voraussetzung, dass die Vorlesung über zwei Semester laufe, genügen. Stolz verwies Reiter auf die rege Teilnahme an seinen sozialhygienischen Vorlesungen und Seminaren, er sah darin den „besten Beweis […], dass die Art meiner Lehrtätigkeit den Anforderungen und Wünschen entspricht.“ Aus diesem Schreiben erfahren wir auch mehr über die näheren Umstände der Entscheidung Reiters, seine Assistentenstelle aufzugeben – und über die prekären finanziellen Verhältnisse, in denen er zu dieser Zeit lebte und arbeitete. Zugleich wird deutlich, wie sich Reiters Unzufriedenheit mit seinen persönlichen Verhältnissen mit seiner Enttäuschung über das Desinteresse der Behörden an der Sozialhygiene vermischte: Ich habe seinerzeit den Lehrauftrag für sociale Hygiene provisorisch unbesoldet angenommen[,] um hierdurch einer weiteren Entwicklung dieses für unser Volk hochbedeutsamen Wissenszweiges auch in Mecklenburg förderlich zu sein[,] und ich war dabei der Überzeugung, dass die Frage der Besoldung in kurzer Zeit zufriedenstellend gelöst werden würde. Zufriedenstellend kann ich es aber nicht bezeichnen, wenn mir allein im Gegensatz zu allen anderen Kollegen 600 Mark statt 1000 Mark für eine Semesterwochenstunde zugebilligt werden. – Ist meine Leistung minderwertiger als die der anderen oder ist der Stoff weniger bedeutsam? Aus der Vorlesung selbst fließt mir keine Einnahme, da ich diese, – nicht das Seminar –, gratis lese [,] um erst einmal weiteren Kreisen einen Einblick in den außerordentlich interessanten Stoff der socialen Hygiene zu geben, der Grenzgebiete von Medizin, Volkswirtschaft und Staatswissenschaft darstellt. Die Ausarbeitung der Vorlesungen erfordert meist eine vielmonatliche Vorbereitung und die schnelle Entwicklung der Forschung bringt es mit sich, dass auch ständig eine Neuordnung und Ergänzung des bereits einmal vorgetragenen Gebietes sich benötigt, viel mehr als in anderen Gebieten der Medizin.

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Da ich gegenwärtig kein Amt als Assistent oder Abteilungsleiter begleite, (trotzdem aber täglich viele Stunden auch im Interesse des Instituts arbeite) beschränkt sich meine Einnahme aus meiner Berufstätigkeit fast nur auf die Summe des Lehrauftrages, d. h. auf 2.400 Mark im Jahr bei einer täglichen Arbeitszeit von 7 – 12 Stunden. Die Summe von 2.400 Mark ist alles, was der mecklenburgische Staat zur Zeit für den Ausbau der socialen Hygiene jährlich erübrigt. Sie trägt in keiner Weise zu einer Unterstützung der socialhygienischen Forschertätigkeit selbst bei und ich bin gezwungen[,] mir dieses Geld für meine Arbeit und Untersuchungen aus Industrie- und Handelskreisen zusammenzubetteln oder bin auf das liebenswürdige Entgegenkommen eines Reichsministeriums angewiesen, wenn ich Forschungsmaterial sammeln und bearbeiten will oder meinen Unterricht durch Erweiterung und Vergrößerung des Lehrmaterials zu vertiefen erstrebe. Das Ministerium kann versichert sein, dass diese Sammlung von Geldern, die ich nicht für mich, sondern nur für meine Arbeit benutze, zu der unangenehmsten Tätigkeit gehört, dass sie Arbeitsfreude kaum steigert, von mir aber getragen werden muss, weil ohne diese Hilfe die Erteilung eines Lehrauftrages für sociale Hygiene völlig zwecklos wäre.

Abschließend bat Reiter darum, es bei einem Lehrumfang von vier Semesterwochenstunden zu belassen und ihm eine Besoldung von jährlich 8.000 Mark zu gewähren. Das Ministerium belehrte Reiter kühl, er gehe offenkundig von „irrigen Voraussetzungen“ 70 aus: Lehraufträge für Dozenten, die nicht auch gleichzeitig Angestellte der Universität seien, würden grundsätzlich nur mit 600 Mark pro Semesterwochenstunde vergütet. Was den Umfang des Lehrauftrags anging, so behielt sich das Ministerium die Entscheidung zunächst vor. Im Oktober 1921 beschied es dann, dass eine Erweiterung des Lehrauftrags derzeit nicht in Frage komme.71 Dagegen wurde die Vergütung im Dezember 1921 von 600 auf 1.200 Mark pro Semesterwochenstunde angehoben.72 Im Mai 1922 wurde der Lehrauftrag doch noch bis auf weiteres auf vier Semesterwochenstunden ausgeweitet,73 im Juli 1922 folgte eine weitere Anhebung der Vergütung auf 1.800 Mark pro Stunde.74 Diese Entwicklung war indes auf die immer schärfer anziehende Inflation zurückzuführen: Im November 1922 wurde die Vergütung auf 3.500 Mark pro Stunde erhöht, im Mai 1923 auf 12.000 Mark. Gleichzeitig wurde den Privatdozenten der Universität Rostock die Möglichkeit eingeräumt, beim Engeren Konzil einen Antrag auf finanzielle Beihilfe zu stellen – was Hans Reiter zunächst brüsk zurückwies, da ich es für meine Person ablehnen muss[,] bei der Entschädigung für meine Lehrtätigkeit an der Universität lediglich den Bedürftigkeitszustand maßgebend sein zu lassen und anstelle der Entschädigung für die Leistung einen Almosen zu setzen, der höchstens die Einnahmen eines ganz jungen Assistenten mit eben bestandenem Staatsexamen gestattet.75

Zu den prekären wirtschaftlichen Verhältnissen kam noch die fehlende berufliche Perspektive. Theodor von Wasielewski förderte zwar die universitäre Lehre auf dem Feld der Sozialhygiene, die Einrichtung eines eigenen Lehrstuhls für Sozialhygiene lehnte er jedoch ab, damit die Einbettung der Sozialhygiene in die allgemeine Hygiene gewährleistet blieb. Für Hans Reiter war damit der Weg zu einer ordentlichen Professur an der Universität Rostock – unabhängig von den verfügbaren finanziellen Mitteln – grundsätzlich versperrt. Auch bei den Planungen zur Ausbildung von „Gesundheitslehrern“, deren Grundzüge von Wasielewski in einer Denkschrift aus dem Jahre 1922 entwarf, spielte Reiter keine Rolle.76

Zaungast an der Universität Rostock, 1923 – 1933 Das Fehlen einer beruflichen Perspektive und seine prekären wirtschaftlichen Verhältnisse zwangen Hans Reiter schließlich, sich nach einer anderen Stellung umzusehen. Am 22. Juni

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1923 teilte er der Medizinischen Fakultät mit, dass er das Angebot, als Vertretung für den nach São Paulo beurlaubten Hygieniker und Bakteriologen Martin Ficker (1868 – 1950), Abteilungsleiter am Kaiser-­Wilhelm-­Institut für experimentelle Therapie, nach Berlin-­ Dahlem zu wechseln, angenommen habe, „da eine weitere Entwicklungsmöglichkeit für mich an der Universität Rostock in nächster Zeit ausgeschlossen erscheint“.77 Die Vertretung sei zunächst auf ein Jahr befristet, doch bestünde Aussicht auf eine Verlängerung. Reiter machte in diesem Schreiben aber auch deutlich, dass er seinen Lehrauftrag in Rostock weiterhin erfüllen wolle: „An die Annahme habe ich die Bedingung geknüpft, dass hierdurch das Abhalten meiner Vorlesungen in Rostock nicht beeinträchtigt wird.“ 78 Er werde auch in den kommenden Semestern wöchentlich mindestens vier Stunden Lehre anbieten, wobei er seine Veranstaltungen auf Montag oder Sonnabend legen wolle. Dabei gedenke er, seinen Unterricht auch zukünftig „in der gleichen einzigartigen Form fortzusetzen“.79 Im August 1923, so vermerkt es der Jahresbericht des Hygienischen Instituts für das Geschäftsjahr 1923/1924, vollzog Hans Reiter, der sich – so hob Theodor von Wasielewski hervor – seit seinem Ausscheiden aus dem Institut „als freiwilliger wissenschaftlicher Hilfsarbeiter besonders um den Ausbau des sozialhygienischen Unterrichts für Nichtmediziner verdient gemacht hatte“,80 den Wechsel nach Berlin. Obwohl seine Tätigkeit am Kaiser-­Wilhelm-­Institut für Experimentelle Therapie Reiters Ruf als Bakteriologe weiter festigte – er befasste sich zu dieser Zeit vor allem mit der serologischen Diagnostik der Syphilis, mit der Isolierung der nach ihm benannten Reiter-­Spirochaete gelang ihm ein weiterer Erfolg auf diesem Gebiet 81 –, war es nicht der wissenschaftliche Ehrgeiz gewesen, der ihn nach Dahlem getrieben hatte, sondern seine wirtschaftliche Notlage. Seine Leidenschaft galt nach wie vor dem Unterricht auf dem Feld der Sozialhygiene. Zunächst machten ihm jedoch die Zeitverhältnisse – die Hyperinflation näherte sich ihrem Höhepunkt – einen Strich durch die Rechnung. Im Wintersemester 1923/24 musste sich Reiter von der Vorlesungspflicht befreien lassen, weil der Bahnverkehr zwischen Berlin und Rostock stark eingeschränkt und extrem verteuert war. Die angekündigte Vorlesung „Soziale Hygiene, II . Teil (Einführung in die Hygiene der Arbeitsverhältnisse und Berufe, Versicherung und Fürsorge)“ mit einem Kolloquium für Mediziner, Volkswirtschaftler und Juristen musste entfallen. Dafür hielt Reiter im Sommersemester 1924 die Vorlesung „Soziale Hygiene, I. Teil (Gesundheits- und Bevölkerungspolitik, Mutterschutz, Jugendhygiene etc.)“ mit einem Kolloquium für Hörer aller Fakultäten, dazu ein weiteres sozialhygienisches Seminar mit abschließender Studienfahrt. Hinzu kamen die Vorlesungen „Sozialhygienische Fragen aus dem Gebiete der Sexualwissenschaft (Fortpflanzungs- und Rassenhygiene, Prostitution, Geschlechtskrankheiten)“ für Studierende aller Fakultäten, ebenfalls mit Kolloquium, eine „Einführung in die Sozialhygiene der Berufe“ für Mediziner und Volkswirtschaftler, schließlich noch eine Anleitung zu wissenschaftlichem Arbeiten. Im Oktober 1924 teilte Reiter dem Unterrichtsministerium mit, es sei ihm die Stelle des wissenschaftlichen Direktors des Deutschen Hygiene-­Museums in Dresden angeboten worden (Abb. 4). „Da mir jedoch keine Sicherung weiterer wissenschaftlicher Arbeitsmöglichkeit gegeben werden konnte, habe ich das Angebot abgelehnt und dafür die Gewähr einer Dauerstellung als Abteilungsvorsteher des hiesigen Instituts [in Dahlem, d. V.] erhalten.“ 82 Reiter bat daher um eine Beurlaubung im Wintersemester 1924/25 in Rostock. Zwar nahm Reiter seine Lehrtätigkeit im Sommersemester 1925 wieder auf – u. a. bot er nun eine Veranstaltung mit dem Titel „Experimentell-­biologische Arbeiten am Kaiser-­ Wilhelm-­Institut für experimentelle Therapie und Biochemie“ an 83 –, doch schien es so, als wenn sich der Schwerpunkt seiner Tätigkeit nun nach Dahlem verschieben sollte. Reiter

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Abb. 4  Fotografie einer Ausstellungstafel aus der Wanderausstellung „Ewiges Volk“, 1937 – 1939. Als Kooperationsprojekt des Deutschen Hygiene-Museums Dresden und des Hauptamtes für Volksgesundheit der NSDAP diente die „Reichswanderschau“ der Propagierung der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik in allen ihren Ausformungen.

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machte sich wohl Hoffnungen, die Nachfolge des Institutsdirektors August v. Wassermann (1866 – 1925) antreten zu können, doch kam es nach dessen Tod zu einer Schließung des Instituts, das fortan als Immunochemische Abteilung des Kaiser-­Wilhelm-­Instituts für Biochemie weitergeführt wurde.84 Reiter verließ daraufhin das Institut und übernahm im Herbst als Obermedizinalrat die Stelle des Direktors des Landesgesundheitsamtes von Mecklenburg-­Schwerin. Seine Lehrtätigkeit an der Universität Rostock setzte Reiter auch in der neuen Stellung fort. Er hielt seine Vorlesungen über Sozialhygiene und veranstaltete seine sozialhygienischen Seminare, mit denen er weitere sozialhygienische Studienreisen unternahm. 1926 konnte, abgesehen von kleineren Besichtigungsfahrten nach Schwerin, Graal-­Müritz und Güstrow, wieder eine Studienreise in das Ruhrgebiet unternommen werden, die von der Stadt Essen, der Emscher-­Genossenschaft und dem Ruhrverband gefördert wurde. Am Ende dieser Reise stand ein viertägiger Aufenthalt in Düsseldorf, wo die Gruppe die Große Ausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GeSoLei) besuchte und verschiedene städtische Wohlfahrtseinrichtungen besichtigte (Abb. 5, 6).85 Im Jahre 1927 folgte eine Studienfahrt in das mitteldeutsche und thüringische Industriegebiet. Besichtigt wurden das Kraftwerk Zschornewitz, die städtehygienischen Einrichtungen von Halle/Saale, das Leunawerk, die badehygienischen Einrichtungen in Kösen, die gewerbehygienischen Einrichtungen der Zeiss-­Werke in Jena, die Schott’schen Glaswerke in Jena, eine große Porzellanfabrik in Kahla sowie eine Spinnerei und Weberei in Gera.86 1928 ging es nach Baden und in die Pfalz (Mannheim, Ludwigshafen, Murgtalsperre), 1929 nach Franken (Nürnberg, Bamberg, Schweinfurth, Kissingen), 1930 nach Dresden, wo man das neue Deutsche Hygiene-­Museum besuchte, dann weiter nach Chemnitz und Bad Elster.87 Erst 1931 „musste infolge Sperrung der für Studienfahrten zur Verfügung gestellten Beträge eine für Ende des Sommersemesters vorbereitete Studienfahrt zur Besichtigung von hygienischen und gewerbehygienischen Betrieben in Berlin in letzter Stunde vor Antritt derselben abgesagt werden.“ Im Juli 1933 wurde die Tradition mit einer Studienfahrt nach Danzig und Zoppot, verbunden „mit einer Grenzlandfahrt nach Marienburg, Marienwerder etc.“,88 wieder aufgenommen. Der Lehrauftrag im Umfang von vier Semesterwochenstunden bestand weiter fort. 1928 wurde Reiter zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt. Was es mit dieser Ernennung auf sich hatte, wird in einem Konflikt im Dezember 1929 deutlich: Die Universität hatte eine an Hans Reiter gerichtete Einladung zur Rektorenwahl zurückgezogen, da sie „irrtümlich“ 89 erfolgt sei. Dagegen erhob Reiter Protest beim Ministerium für Medizinalangelegenheiten: Er habe bei den Verhandlungen mit dem Ministerium über die Annahme der Direktion des Landesgesundheitsamtes im Jahre 1926 den Wunsch zum Ausdruck gebracht, „1.) meine Lehrtätigkeit an der Universität Rostock fortsetzen zu dürfen, 2.) meine Eingliederung in den Lehrkörper so zu gestalten, dass sie der Stellung des Direktors des Landesgesundheitsamtes entspricht, wobei ich an Rang und Rechte eines ordentlichen Professors dachte“.90 Das Ministerium habe dagegen „seinerzeit eine Lösung zu finden [geglaubt] in meiner Ernennung zum Honorarprofessor und Erteilung eines Lehrauftrages für Sozialhygiene.“ 91 Die Ausladung von der Rektorenwahl zeige, „dass die Absicht einer höheren Eingliederung in den Lehrkörper kaum erreicht ist, sondern, dass meine früheren Rechte innerhalb der Universität sogar wesentlich geschmälert wurden“ 92 – was nicht im Interesse des Ministeriums liege. Vergeblich bat Reiter um eine Aufwertung seiner Position. Insgesamt gewinnt man aus den Akten den Eindruck, dass Hans Reiter zu dieser Zeit kaum mehr als ein Zaungast am Hygienischen Institut der Universität Rostock war. Zwar bot er weiter seine Lehrveranstaltungen an, doch deckten auch Theodor von Wasielew-

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Abb. 5  Postkarte der Großen Ausstellung Düsseldorf 1926 für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GeSoLei).

ski und sein Mitarbeiter Friedrich Wolfgang Winkler (1890 – 1972) in der Lehre das Gebiet der Sozialhygiene mit ab. Winkler, seit April 1922 Assistent, später Oberassistent am Hygienischen Institut, seit Dezember 1923 Privatdozent für Hygiene und Bakteriologie, seit März 1928 außerplanmäßiger außerordentlicher Professor für Hygiene an der Universität Rostock, entwickelte sich mit der Zeit zu einem scharfen Rivalen Reiters. Auf dem Feld der Rassenhygiene hatte er ihm eindeutig den Rang abgelaufen – seit einem Forschungsaufenthalt am Staatlichen Institut für Rassenbiologie an der Universität Uppsala bei Herman Lundborg (1868 – 1943) im Jahre 1926/27 galt Winkler als Spezialist für Rassenforschung, Vererbungslehre und Eugenik.93 Die Rivalität könnte auch eine politische Dimension gehabt haben, driftete Hans Reiter zu dieser Zeit doch bereits weit nach rechts ab und vertrat zunehmend rassenhygienische Forderungen, die auch von den Nationalsozialisten erhoben wurden. Zwar stellte der Regierungsbevollmächtigte an der Universität Rostock die Aula am 14. Februar 1929 für einen Vortrag Reiters zum Thema „Entartet oder stirbt das deutsche Volk?“ zur Verfügung, doch knüpfte er seine Erlaubnis an eine Bedingung: „Vorausgesetzt wird jedoch, dass der Vortrag ein rein wissenschaftlicher ist und sich von politischen Gebieten fern hält.“ 94

Hans Reiter, der ­Nationalsozialismus und die Rassenhygiene Spätestens mit dem Tod Gustav Stresemanns im Jahre 1929, wahrscheinlich aber schon im Jahre 1926 – wohl in Zusammenhang mit der Entspannungspolitik Stresemanns, dem Vertrag von Locarno und der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund – hatte sich Hans Reiter von der Deutschen Volkspartei abgewandt.95 Hatte er als Funktionär der DVP noch die Parole „National – Liberal – Sozial“ ausgegeben, so verblasste das ohnehin nicht besonders stark ausgeprägte liberale Moment in seinem politischen Denken zusehends. Anfang der 1930er-­Jahre fand Reiter den Weg zum Nationalsozialismus.96 Am 1. August 1931 wurde er Mitglied der NSDAP  – wahrscheinlich war er zu dieser Zeit der einzige „Parteigenosse“ in der Rostocker Hochschullehrerschaft 97 –, im März 1932 trat er dem NS -Lehrerbund sowie dem NS -Ärztebund bei. Zu dieser Zeit übernahm er auch die Leitung der Nationalsozialistischen Führer- und Fortbildungsschule des Gaues Mecklenburg-­ Lübeck in Schwerin. Bei der Wahl am 5. Juni 1932 zog Reiter für die NSDAP in den Landtag des Freistaates Mecklenburg-­Schwerin ein. Enge Verbindungen unterhielt Reiter zu Staatsminister Dr. Friedrich Scharf (1897 – 1974), der in der neuen nationalsozialistischen Regierung für die Ressorts Inneres, Justiz, Unterricht, Kunst, geistliche und Medizinalan-

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gelegenheiten zuständig war. Reiter beteiligte sich „an den Vorarbeiten zur Neuorganisation des deutschen Gesundheitswesens, der Jugenderziehung, der Reform des Studentenrechts und der Hochschulen.“ 98 Weiter galt Reiter als „engster Vertrauensmann“ 9 9 des Gauleiters von Mecklenburg-Lübeck, Friedrich Hildebrandt (1898 – 1948), an der Hochschule“. Nach Gründung der Reichsfachschaft „Hochschullehrer und Wissenschaftler“ im NS -Lehrerbund wurde Reiter 1933 deren Obmann an der Universität Rostock und war in dieser Funktion maßgeblich an der Verfolgung von Hochschullehrern jüdischen Glaubens oder jüdischer Abstammung beteiligt.100 Seine Unterschrift findet sich auf dem Wahlaufruf „Deutsche Hochschullehrer für Hitler“ vom 5./6.  November 1932 ebenso wie unter dem Aufruf „Die deutsche Geisteswelt für Liste 1“ vom 3. März 1933, mit dem sich etwa 300 Hochschullehrer vor der entscheidenden Reichstagswahl am 5. März für die NSDAP aussprachen. In der ausgehenden Weimarer Republik griff Hans Reiter zunehmend auch gesundheitspolitische Forderungen der Nationalsozialisten auf. Die Eugenik hatte in seinem Konzept der Sozialhygiene von Anfang an ihre Nische gehabt – immer dort, wo sich die Erbanlagen gegenüber den Umwelteinflüssen durchzusetzen schienen und die Sozialhygiene an ihre Grenzen zu stoßen meinte. Dies deutete sich schon in Reiters frühen Veröffentlichungen zur Problematik des unehelichen Kindes an: Seine Forschungsbefunde, so postulierte er schon 1922, berechtigten, im Durchschnitt von einer „angeborenen geringeren körperlichen Wertigkeit“ 101 unehelich geborener Kinder auszugehen. Auch sei eine Häufung „psychischer Minderwertigkeiten“ 102 – die sich im Besuch einer Hilfsschule, in psychopathischem Verhalten oder Kriminalität manifestieren konnten – sei das Ergebnis von Erbanlagen. Eine Adoption, so fasste Reiter die Befunde einer Reihenuntersuchung zusammen, könne

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Abb. 6  Poster für die Große Ausstellung Düsseldorf 1926 für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GeSoLei).

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sich zwar günstig auf die Entwicklung des unehelich geborenen Kindes auswirken, die durch die Erbanlagen gesetzten Grenzen letztlich aber nicht durchbrechen – weshalb nur Kinder, die „frei von physischen und psychischen Belastungen“ 103 seien, zur Adoption freigegeben (und nur innerhalb derselben Gesellschaftsschicht vermittelt) werden sollten: Die Erkenntnis, dass es sich bei der Adoption um einen Pfropfvorgang handelt, […] und die Auffassung, dass wir nur imstande sind, ererbte Fähigkeiten zu entwickeln, aber keine neuen zu bilden, wird innerhalb des Adoptionsproblems vor Illusionen bewahren!104

1932 legte Hans Reiter – zusammen mit Dr. Hildegard Mischke (*1905) – einen Originalbeitrag mit dem Titel „Bedeutung von Anlage und Milieu bei weiblichen Fürsorgezöglingen Mecklenburgs“ vor.105 Darin wurden die Ergebnisse einer Untersuchung an 62 weiblichen Jugendlichen dargelegt, die sich in Fürsorgeerziehung befanden, in der Mehrzahl aus einem evangelischen Erziehungsheim in Mecklenburg. Die Grundlage bildete zum einen die „Beobachtung der Mädchen bei Arbeit und Spiel, beim Essen und Zubettgehen“,106 Unterhaltungen mit den Zöglingen, Gespräche mit den zuständigen Fürsorgerinnen, zum anderen ein umfangreiches Aktenstudium. Die festgestellten „Verwahrlosungssymptome“ – „Herumtreiben“, „Diebstahl“, „sittliche Verwahrlosung“ und „Unterbegabung“ 107 – meinten der Autor und die Autorin auf die Erbanlagen der Zöglinge (und „den großen Einfluss der elterlichen Anlage auf die Gestaltung des Milieus“ 108) zurückführen zu können. Obwohl sie einräumten, dass es gewagt erscheine, angesichts der geringen Fallzahl allgemeine Schlussfolgerungen zu ziehen, gelangten zu dem abschließenden Urteil: a) Minderwertige Veranlagungen sind in der Regel so wirksam, dass sie selbst in einem günstigen Milieu zur Verwahrlosung führen; b) Gesunde, biologisch hochwertige Anlagen verhüten auch in einem äußerst schlechten Milieu in der Regel das Abgleiten in Verwahrlosung, oder befähigen den gesunkenen Menschen zu einem Wiederaufstieg.109

Aus dieser Aussage leiteten Reiter und Mischke weitreichende praktische Forderungen ab: die Trennung der Fürsorgezöglinge „in erziehbare und nichterziehbare“, eine längere Beobachtungsphase nach der Verhängung der Fürsorgeerziehung, „beste Erziehung der Erziehbaren in Sonderheimen“ und „Dauerverwahrung der Nichterziehbaren, solange kein deutsches eugenisches Sterilisationsgesetz durch Verhütung der Fortpflanzung dieser Minderwertigen einen Schutz des Staates und der Gesellschaft verbürgt.“ 110 Abschließend bekräftigten der Autor und die Autorin noch einmal die Forderung nach einem Sterilisationsgesetz: „Unser Volk muss sich von Minderwertigen reinigen. Dies ist möglich durch rechtzeitige Sterilisierung aller durch minderwertige Anlagen belasteten Asozialen vor Beginn der Pubertät.“ 111 Mit solchen Texten hatte sich Hans Reiter für höhere Aufgaben im nationalsozialistischen Deutschland empfohlen. Am 26. Juli 1933 wurde er mit der kommissarischen Leitung des Reichsgesundheitsamtes in Berlin betraut, zum 1. Oktober 1933 wurde er schließlich zu dessen Präsidenten ernannt. Zum Abschied wurde er von den Studierenden der Universität Rostock gefeiert. Der Kandidat der Medizin, Adolf Puls (*1909), sagte ihm im Namen der SA -Studentenschaft Danke: Wir Studenten haben immer wieder auf unsere Lehrer geblickt in der Hoffnung, dass sie uns Führer in der Neugestaltung des Staates würden. Sie waren der einzige, Herr Professor Reiter, der nicht nur das nationalsozialistische Abzeichen trug, sondern der sich überall und stets für die nationalsozialistische Bewegung eingesetzt hat. Sie trugen nicht nur das braune Hemd äußerlich, Sie waren und sind uns immer das Vorbild des nationalsozialistischen Dozenten gewesen.112

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Sein offizieller Abschied von der Universität Rostock fiel unterkühlt aus: In einem Schreiben an das Unterrichtsministerium des Freistaats Mecklenburg-­Schwerin vom 18. November 1933 wies er darauf hin, dass er wohl automatisch aus der Universität Rostock ausscheide, da er dort künftig keine Vorlesungen mehr halte. Der Titel „Honorarprofessor“ werde damit wohl hinfällig. Er selbst stelle keinen Antrag auf Beibehaltung des Titels, schließlich sei dieser eine „besondere Ehrung“,113 die von der Universität zu vergeben sei. Wenn Reiter damit gerechnet hatte, dass die Universität Rostock ihm diese besondere Ehrung erneut antragen würde, so sah er sich getäuscht. Stattdessen wurde er im Januar 1934 Honorarprofessor für Hygiene an der Universität Berlin und hielt dort Vorlesungen zur Erb- und Rassenpflege.114 Auf der Sondertagung des Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebundes im Jahre 1933 hielt Hans Reiter einen Vortrag über die „Nationalsozialistische Revolution in Medizin und Gesundheitspolitik“. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen kam er auf den grundstürzenden Umbruch der politischen Verhältnisse im Jahre 1933 zu sprechen, den er mit ähnlichen Worten beschrieb wie seinerzeit den Umbruch von 1918/1919: Erst langsam beginnend, dann immer stürmischer vorwärts stoßend, wurden alte politische Anschauungen und Werte überwunden und schufen allmählich ein neues Bild der Welt und ihrer Lebensauffassungen, scheinbar neu und unerhört, tatsächlich aber doch nur ein Sichbesinnen auf alte, verklungene Zeiten, die ein nicht verständlicher Lebenskampf verdrängt oder verschüttet hatte.115

Hatte sich Reiter im Jahre 1919 als Vernuftrepublikaner in die politische Arena begeben und versucht, seine Vorstellungen einer sozialhygienisch angeleiteten Gesundheitspolitik im Rahmen der parlamentarischen Demokratie zur Geltung zu bringen, so vollzog er im Jahre 1933 eine Kehrtwende und setzte seine Hoffnungen auf den neuen Staat, der sich anschickte, eine sozial- und rassenbiologische Entwicklungsdiktatur zu errichten: Die nationalsozialistische Weltanschauung, die in ihrer Entwicklung und Vollendung zu weitgehenden Änderungen der inneren Staatsstruktur führt, muss dort, wo diese Idee in engste Verbindung mit dem Volkskörper selbst tritt, zu ganz grundlegenden Neuordnungen Veranlassung geben, die heute nur der Arzt sehen kann, der Ursache, Weg und Ziel dieser Entwicklung begreifen durfte!116

Anmerkungen 1

Reiter 1922a, S. 1216 – 1218; Zitatanf., S. 1217 (Hervorhebungen im Original). 2 Ebd., S. 1216. Ganz ähnlich Reiter 1920a, S. 991 f. 3 Artikel „1. Sozialhygienische Studienreise 1922 nach dem rheinisch-­ westfälischen Industriegebiet, veranstaltet vom Sozialhygienischen Seminar in Rostock“, in: Rostocker Anzeiger Nr. 72, 26. 3. 1922. Gezeichnet ist der Artikel mit der Initiale F. – Alle Artikel aus dem „Rostocker Anzeiger“ wurden vom Stadtarchiv Rostock zur Verfügung gestellt. 4 Ebd. 5 Wulf 2001.

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Chromik 2015. Artikel „1. Sozialhygienische Studienreise 1922 nach dem rheinisch-­ westfälischen Industriegebiet, veranstaltet vom Sozialhygienischen Seminar in Rostock“, in: Rostocker Anzeiger Nr. 72, 26. 3. 1922. Ein weiterer Artikel zu dieser 1. Sozialhygienischen Studienreise findet sich in Mecklenburgische Warte, Nr. 72, vom 26. 3. 1922. Reiter 1922a, S. 1217. Der Rektor der Universität Rostock an die Wirtschaftshilfe der Deutschen Studentenschaft, 5. 10. 1922, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter.

10 Ebd. So verwundert es nicht, dass Reiters Aussagen zur Gewerbehygiene ausgesprochen unternehmerfreundlich ausfielen. Vgl. von der Osten-­Sacken und von Rhein 1992, S. 13. Er stellt zu Recht fest, dass Reiters Bericht über die 1. Sozialhygienische Studienreise „ein einziges Loblied auf die deutsche Industrie“ anstimmte. „Es findet sich keine Spur einer Kritik der bestehenden Verhältnisse.“ Gebhard 1976, S. 19 erinnert sich, dass Reiter „als der natürliche Antipode zu [dem Sozialdemokraten] Alfred Grotjahn“ galt.

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11 Satzungen des Hygienischen Seminars, undatiert, UAR 4.06.00: Nr. 327. 12 Ebd. 13 Gebhard 1976, S. 19. 14 Ebd. 15 In einem Schreiben an die Medizinische Fakultät vom 22. Juni 1923 teilte Reiter mit, dass bis dahin sechs Sozialhygienische Studienreisen – nach Rheinland-­Westfalen, Berlin, Hamburg, Halle/Saale, Leipzig, Freiberg, Dresden, dem Erzgebirge und der Niederlausitz – stattgefunden hätten. Reiter an die Medizinische Fakultät, 22. 6. 1923, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 16 Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygienischen Instituts vom 1. April 1923 bis 31. März 1924, UAR 4.06.00: Nr. 330. 17 Gebhard 1976, S. 19. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Aus der breiten Literatur zur Biographie Reiters seien genannt Stürzbecher 1983, S. 1160 f.; von der Osten-­Sacken und von Rhein 1992; Maitra 2001; Buddrus/Fritzlar 2007, S. 328 – 330; Artikel „Reiter, Hans“, in: Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://cpr.uni-­rostock. de (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Der folgende Abriss der Biographie Hans Reiters stützt sich im Wesentlichen auf diese Arbeiten, die allerdings in Hinblick auf die Datierung einzelner Lebensabschnitte teilweise voneinander abweichen. 21 Vgl. dazu auch die Laudatio von Verschuer 1942, S. 69 f. 22 Vgl. dazu Maitra 2001, S. 196 – 200. 23 Ebd., S. 179. 24 Hans Reiter an die Medizinische Fakultät der Universität Rostock, 10. 2. 1919, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 25 Ebd. 26 Maitra 2001, S. 184 f. 27 Ebd., S. 185. 28 Ebd., S. 185 f. 29 Reiter 1916, S. 1535 f. 30 Verfügung des Bevollmächtigten der Mecklenburgisch-­Schwerinschen Volksregierung an der Universität Rostock, 22. 2. 1919, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. Zu Theodor von Wasielewskis Einsatz als beratender Hygieniker im Ersten Weltkrieg Buddrus/Fritzlar 2007, S. 428.

31 Theodor von Wasielewski an das Engere Konzil der Universität Rostock, 10. 2. 1919, UAR 4.06.00: Nr. 315; Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygienischen Instituts im Berichtsjahre 1918/19, 22. 12. 1919, UAR 4.06.00: Nr. 330. 32 Hans Reiter an die Medizinische Fakultät der Universität Rostock, 10. 2. 1919, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 33 Der Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock an das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium, Abteilung für Unterrichtsangelegenheiten, 13. 2. 1919, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 34 Verfügung des Bevollmächtigten der Mecklenburgisch-­Schwerinschen Volksregierung an der Universität Rostock, 22. 2. 1919, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 35 Das Einladungsschreiben findet sich in UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 36 Übersicht über die Lehrtätigkeit Hans Reiters an der Universität Rostock bei Uerckwitz 1969, S. 123 f. 37 Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygienischen Instituts im Berichtsjahre 1918/19, 22. 12. 1919, UAR 4.06.00: Nr. 330. 38 So hieß es in einer Anmerkung auf einem Inventarverzeichnis aus dem Jahre 1917, zit. nach Uerckwitz 1969, S. 35. 39 Ebd., S. 36. 40 Zit. nach ebd. 41 Alfred Grotjahn (1869 – 1931) wurde 1920 zum ordentlichen Professor für Sozialhygiene an der Universität Berlin ernannt. Es handelte sich um den ersten Lehrstuhl dieser Art im Deutschen Reich. 42 Theodor von Wasielewski an das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium, Abteilung für Unterrichtsangelegenheiten, 5. 12. 1919, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. Die Erträge der gemeinsam mit Studierenden höherer Semester durchgeführten sozialhygienischen Studien zur Stadt Rostock fanden ihren Niederschlag in mehreren Publikationen. Vgl. z. B. Reiter/Dörr 1920, S. 316 – 322 (statistische Auswertung aller Geburten und Todesfälle in Rostock während der Kriegsjahre); Reiter/Osthoff 1921, S. 224 – 252

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(statistische Auswertung der Unterlagen aller 413 Kinder, die bis dahin die Hilfsschule in Rostock besucht hatten); Reiter 1922b, S. 145 – 156 (wertet u. a. die Unterlagen der Universitätsfrauenklinik und die Hebammenlisten der Stadt Rostock aus); Reiter/Ihlefeld 1922, S. 2524 f. (Reihenuntersuchung aller 1.289 im Jahre 1910 in Rostock geborenen ehelichen Kinder). 43 Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock an das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium für Unterricht, 16. 6. 1920 (Entwurf, laut Randglosse am 18. 6. 1920 überreicht), UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 44 Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock an das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium für Unterricht, 20. 11. 1920, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 45 Verfügung des Mecklenburgisch-­ Schwerinschen Ministeriums für Unterricht, 7. 3. 1921 bzw. 1. 6. 1921, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 46 Theodor von Wasielewski an den Rektor und das Engere Konzil der Universität Rostock, 27. 4. 1921, UAR 4.06.00: Nr. 315. 47 Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygienischen Instituts vom 1. April 1921 bis 31. März 1922, UAR 4.06.00: Nr. 330. Hier wird das Ausscheiden Reiters irrtümlich auf den 31. März 1921 datiert. 48 Vgl. die Übersicht bei Uerckwitz 1969, S. 124. Dazu auch Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygienischen Instituts vom 1. April 1921 bis 31. März 1922, UAR 4.06.00: Nr. 330: „Die öffentlichen Vorlesungen Prof. Dr. Reiters für alle Fakultäten erfreuten sich im Berichtsjahr steigender Beliebtheit (130 Hörer), die Übungen im sozialhygienischen Seminar wachsender Beteiligung.“ 49 Reiter 1917, S. 690 f., Zitat auf S. 690. 50 Reiter 1919, S. 633 f., Zitat auf S. 633. 51 Ebd. 52 Ebd., S. 634. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Reiter 1922c, S. 1289 – 1293, Zitat auf S. 1289. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 1292.

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58 Die Amtszeit Reiters als Stadtverordneter ist nicht ganz klar. Maitra 2001, S. 187. 59 Hans Reiter, Gedanken zur Neuwahl des Stadtparlaments, in: Rostocker Anzeiger, Nr. 272, 22. 11. 1921. Danach auch die nachfolgenden Zitate (alle Hervorhebungen im Original). 60 Bericht in Rostocker Anzeiger, Nr. 209, 8. 9. 1921. Danach auch die folgenden Zitate (alle Hervorhebungen im Original). 61 Artikel „Der geschmähte Reiter“, in: Mecklenburgische Umschau, H. 4, 26. 1. 1922. 62 „Eingesandt. Offener Brief an Frau ­Valerie Lindau“, in: Rostocker ­Anzeiger, Nr. 8, 11. 1. 1921. 63 „Eingesandt. Antworten auf Herrn Professor Reiter, Rostock“, in: Rostocker Anzeiger, Nr. 9, 12. 1. 1921. 64 Theodor von Wasielewski an den Dekan der Medizinischen Fakultät, 25. 6. 1921, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 65 Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock an das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium für Unterricht, 29. 6. 1921, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 66 Stellungnahme des Mecklenburgisch-­ Schwerinschen Ministeriums für Unterricht, 4. 7. 1921, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 67 Verfügung des Mecklenburgisch-­ Schwerinschen Ministeriums für Unterricht, 27. 7. 1921, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 68 Ebd. 69 Hans Reiter an das Mecklenburgisch-­ Schwerinsche Ministerium für Unterricht, 10. 8. 1921, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. Danach auch die folgenden Zitate (Hervorhebungen im Original). 70 Das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium für Unterricht an Hans Reiter, 15. 8. 1921, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 71 Das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium für Unterricht an Hans Reiter, 31. 10. 1921, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 72 Das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium für Unterricht an Hans Reiter, 20. 12. 1921, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 73 Das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium für Unterricht an Hans

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Reiter, 2. 5. 1922, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 74 Das Mecklenburgisch-­Schwerinsche Ministerium für Unterricht an Hans Reiter, 22. 7. 1922, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 75 Hans Reiter an das Engere Konzil der Universität Rostock, 13. 5. 1923, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter (Hervorhebung im Original). 76 Uerckwitz 1969, S. 41 – 43. Zu den „Lehrerschulungswochen in hygienischer Volksbelehrung“ findet sich umfangreiches Material in UAR 4.06.00: Nr. 331. 77 Hans Reiter an die Medizinische Fakultät der Universität Rostock, 22. 6. 1923, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygienischen Instituts vom 1. April 1923 bis 31. März 1924, UAR 4.06.00: Nr. 330. 81 Maitra 2001, S. 187 f. 82 Hans Reiter an das Mecklenburgisch-­ Schwerinsche Ministerium für Unterricht, 11. 10. 1924, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. Als Direktor des Landesgesundheitsamtes von Mecklenburg-­Schwerin richtete Reiter im Schloss zu Schwerin ein Mecklenburgisches Hygienemuseum ein. Reiter 1931, S. 53 – 57. 83 von der Osten-­Sacken und von Rhein 1992, S. 11. 84 Maitra 2001, S. 188. 85 Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygienischen Instituts vom 1. April 1925 bis 31. März 1926, UAR 4.06.00: Nr. 330. 86 Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygienischen Instituts vom 1. April 1927 bis 31. März 1928, UAR 4.06.00: Nr. 330. 87 Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygienischen Instituts vom 1. April 1928 bis 31. März 1929 bzw. vom 1. April 1929 bis 31. März 1930 bzw. vom 1. April 1930 bis 31. März 1931, UAR 4.06.00: Nr. 330; ungenannter Verfasser (Hans Reiter) an Landesgewerberat Prof. Dr. Thiele, Dresden, 11. 12. 1928, UAR 4.06.00: Nr. 332. 88 Theodor von Wasielewski, Bericht über die Verwaltung des Hygieni-

schen Instituts vom 1. April 1933 bis 31. März 1934, UAR 4.06.00: Nr. 330. 89 Der Rektor der Universität Rostock an Hans Reiter, 11. 12. 1929, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 90 Hans Reiter an das Mecklenburgisch-­ Schwerinsche Ministerium für Medizinalangelegenheiten, 12/1929, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 91 Ebd. 92 Ebd. 93 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 441 f. Von 1949 bis 1957 war Winkler Inhaber des Lehrstuhls für Hygiene an der Universität Halle. 94 Der Regierungsbevollmächtigte an der Universität Rostock an den Vorstand der Rostocker Studentenschaft, Amt für politische Bildung, 30. 1. 1929, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. 95 Maitra 2001, S. 187, Anm. 47. 96 Geschichte der Universität Rostock 1969, S. 258 f.; Maitra 2001, S. 189 f.; Buddrus/Fritzlar 2007, S. 328 f. 97 Maitra 2001, S. 190. 98 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 329. 99 Geschichte der Universität Rostock 1969, S. 258. 100 Ebd. 101 Reiter 1922b, S. 156. 102 Ebd., S. 155. 103 Reiter 1930, S. 841 – 843, Zitat auf S. 843. 104 Ebd. 105 Reiter/Mischke 1932, S. 513 – 553. 106 Ebd., S. 514. 107 Ebd., S.  524 – 526 und 532 – 534. 108 Ebd., S. 550. 109 Ebd., S. 551. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 552. 112 Artikel „Professor Dr. Reiters Abschied von der Landesuniversität Rostock“, Rostocker Anzeiger Nr. 165, 18. 7. 1933. 113 Hans Reiter an das Mecklenburgisch-­ Schwerinsche Ministerium für Unterricht, 18. 11. 1933, UAR 1.11.0: Personalakte Hans Reiter. Das Schreiben schloss mit der Frage, ob man im vorausgegangenen Anschreiben den Professorentitel mit Bedacht weggelassen habe. 114 Maitra 2001, S. 195 f. 115 Reiter 1933, S. 316 – 319, Zitat auf S. 316. 116 Ebd.

Vom engagierten Sozialhygieniker zum Parteigänger des Nationalsozialismus

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

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Die Existenz der Universität in Gefahr? Die Abwicklung des ­Pharmaziestudiengangs an der Universität Rostock 1938 Florian Detjens

Einleitung „Für das Reichsministerium wird erklärt, daß die Absicht bestehe, neue Pharmazie-­ Studierende an der Rostocker Universität nicht mehr zuzulassen“,1 hieß es in einem Gesprächsprotokoll zwischen Vertretern des Berliner Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM ) und Vertretern der Universität Rostock vom Sommer 1936. Damit wurde ein Prozess in Gang gesetzt, der gut drei Jahre später mit dem abgedruckten Erlass des REM seinen Schlusspunkt fand. In nüchternem Amtsdeutsch wurde darin das Ende einer fast sieben Jahrzehnte währenden Tradition Rostocker Pharmazeutenausbildung besiegelt: „Von dem durch die Schließung des Pharmazeutischen Instituts der Universität Rostock entbehrlich gewordenen Inventar ersuche ich überweisen zu lassen: […]“ 2, so die Anweisung aus der Berliner Zentrale (Abb. 1). Es folgte eine Auflistung der Gegenstände, die an Pharmazeutische Institute in Kiel, Breslau, Marburg und Freiburg zu übersenden waren. Die regionalen hochschulpolitischen Akteure 3 hatten es trotz intensiver Bemühungen nicht vermocht, den Verlust des Studiengangs zu verhindern. Dabei ging es aus zeitgenössischer Perspektive um weit mehr als „nur“ darum, die Schließung eines Studiengangs abzuwenden. Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler und den Märzwahlen 1933 begann die NSDAP , die Weimarer Republik in eine nationalsozialistische Diktatur zu verwandeln, wozu auch die „Verreichlichung“ der Hochschulen gehören sollte. Für Rostock hätte dies bedeutet, den besonderen Status der Mecklenburgischen Landesuniversität zu verlieren und zum wohl schwächsten Glied in der Reihe der norddeutschen Hochschulen Hamburg, Kiel und Greifswald zu werden. Dies wäre insofern dramatisch gewesen, weil 1936/37 darüber nachgedacht wurde, einzelne Hochschulstandorte im Reich zu schließen.4 In einem solchen Umfeld einen Studiengang zu verlieren, erst recht einen, der für die beteiligten Institute geradezu von existenzieller Bedeutung gewesen zu sein schien, galt den Zeitgenossen als Anfang vom Ende der mehr als ein halbes Jahrtausend alten Mecklenburgischen Landesuniversität.5 Vor diesem Hintergrund gilt es zu klären, weshalb es überhaupt zur Schließung des Rostocker Pharmaziestudiums kam, warum genau der Verlust des Studiengangs so problematisch war, welche Motive die regionalen hochschulpolitischen Akteure umtrieben und mit welchen Argumenten und Strategien sie den Verlust der Pharmazeutenausbildung verhindern wollten.

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Abb. 1  Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an das Staatsministerium, Abt. Unterricht, 28. 08. 1939.

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Anders als im abgedruckten Schreiben des REM angegeben, gab es in Rostock kein spezielles Pharmazeutisches Institut. Und dennoch wurde seit den 1870er-­Jahren an der Mecklenburgischen Landesuniversität ein entsprechendes Studium angeboten. Ganz im Sinne des interdisziplinären Charakters der Pharmazeutenausbildung erfolgte diese über Instituts- und Fakultätsgrenzen hinweg. Die angehenden Pharmazeuten studierten am Pharmakologischen Institut der Medizinischen Fakultät sowie an den zur Philosophischen Fakultät gehörenden Instituten für Chemie, Botanik und Physik. Der Grundstein für ein Pharmaziestudium in Mecklenburg-­Schwerin wurde 1865 mit der Berufung von Theodor Ackermann 6 auf die Professur für Pharmakologie gelegt. Es war erst die dritte Einrichtung dieser Art an einer deutschsprachigen Universität, nach Dorpat (1847), das damals zum russischen Imperium gehörte, und Wien (1849). Erst 1875 erhielt der seit 1874 dann mit Karl Gaehtgens 7 besetzte Lehrstuhl ein eigenes Institut. Gaehtgens übernahm nun die Vorlesungen für Pharmakologie und Pharmakognosie. Durch die Verbindung der beiden Fächer wurde die breite Basis für die Ausbildung von Medizin- und Pharmaziestudierenden geschaffen.8 Unter Gaehtgens Nachfolger Rudolf Kobert 9 (1898 – 1918) sollte sich die Pharmakologie in Rostock dann erheblich weiterentwickeln.10 Noch 1935 zählte Rostock zu den wenigen Universitäten des Deutschen Reiches,11 an der Pharmakognosie von einem Pharmakologen und nicht etwa von einem Botaniker vertreten wurde.12 Dies wurde auch dadurch unterstrichen, dass der Lehrstuhl 1935/36 die erweiterte Bezeichnung „Lehrstuhl für Pharmakologie, Toxikologie und Pharmakognosie“ erhielt.13 Wie im Nachfolgenden herausgearbeitet wird, versuchten die Dekane der Medizinischen und der Philosophischen Fakultät zusammen mit dem Mecklenburgischen Staatsministerium, einschließlich des Staatsministers Friedrich Scharf und unter Einbeziehung des Gauleiters und Reichsstatthalters Friedrich Hildebrandt, die Abwicklung des Pharmaziestudiums zu verhindern, weshalb sie darüber mit dem REM zu verhandeln begannen. Die Auswirkungen, die der Verlust des Studiengangs hatte, können allerdings kaum nachvollzogen werden, da der Kriegsausbruch die Rahmenbedingungen erheblich veränderte.14

Hintergründe der Schließung und mögliche Auswirkungen für die Universität Für den 15. Juli 1936 kündigten zwei Vertreter des Reichskultusministeriums ihren Besuch im „Pharmazeutisch-­Chemischen Institut“ der Universität Rostock an – das es de facto gar nicht gab –, um dort einige Fragen zum Pharmaziestudium zu erörtern (Abb. 2).15 Was die beiden Ministerialen dabei den Rostocker Professoren Wilhelm Comberg 16 (Dekan der Medizinischen Fakultät), Heinz Maybaum 17 (Dekan der Philosophischen Fakultät) und Max Trautz 18 (Direktor des Chemischen Instituts) eröffneten, hatte es in sich: Es könne aus wirtschaftlichen Gründen nicht gutgeheißen werden, wenn in den drei räumlich nebeneinander liegenden Universitäten Kiel, Rostock und Greifswald die Einrichtungen für das Pharmaziestudium bestünden. Kiel habe ein besonders neues Institut und Greifswald eine umfangreichere Einrichtung als Rostock. Aus diesem Grunde müsse Rostock wahrscheinlich zurücktreten. Die bereits Immatrikulierten sollten ihr Studium noch beenden können. Max Trautz protestierte umgehend. Ein Ausfall der Pharmaziestudierenden sei für die Institute für Chemie, Botanik und Physik kaum tragbar, da diese ohnehin schon wenige Hörer hätten. Zudem sei die Pharmazie in Rostock „[…] eine alte

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Abb. 2  Betr. Pharmaziestudium an der Universität Rostock, Konferenz im Chemischen Institut am 15. 07. 1936.

Einrichtung, die offenbar nicht nur geografischen Gegebenheiten entspricht: Seit den [18]70er-­ Jahren sind etwa 700 Pharmazieprüfungen vorgenommen worden“. Der Vorschlag des REM , das Ganze durch die Einrichtung eines „Instituts für Chemische Technologie“ abzufedern, wurde von Trautz und Comberg als rundherum ungeeignet abgelehnt. Die Chemische Technologie könne allenfalls eine Kompensation für das Chemische Institut sein, „[…] nicht aber für die anderen notleidenden Institute“. Zum Abschluss des Gespräches erklärte Dekan Comberg „[…] ausdrücklich, daß die Rostocker Universität sich mit der geplanten Regelung nicht abfinden könne […]“, sollte es keinen adäquaten Ausgleich geben.19 In der Folgezeit versuchte nun die Mecklenburgische Staatsregierung zusammen mit ihrer einzigen Universität die Abwicklung des Pharmaziestudienganges abzuwenden. Hintergrund der Schließungsabsicht war die auf dem 3. Deutschen Apothekertag in Stuttgart am 18. Juni 1936 beratene reichsweite Neustrukturierung des Pharmaziestudiums. Durch die bereits im April 1935 in Kraft getretene neue Prüfungsordnung für Apotheker wurde nicht nur das Studium von vier auf sechs Semester verlängert, sondern zugleich die anzubietenden Lehrveranstaltungen in pharmazeutischer Chemie und Pharmakognosie, Bakteriologie, Physiologie, aber auch Homöopathie und Buchführung erweitert und vertieft. Angesichts knapper finanzieller Ressourcen und der Annahme, dass künftig weniger Apotheker gebraucht würden, sollten die Studienstandorte für Pharmazeuten stark reduziert werden. Die Zahl der Pharmaziestudierenden war nämlich während der Weltwirtschaftskrise erheblich gestiegen, während zugleich die Arbeitslosenquote unter Apothekern zugenommen hatte. Folglich sollte ein Überangebot an Pharmazeuten abgebaut werden. Standesvertreter forderten daher schon länger eine Zugangsbeschränkung für die Pharmazeutenausbildung, die das NS -Regime dann aufgriff. Die durch Standortschließungen freigesetzten Mittel sollten dem Ausbau der verbleibenden Institute dienen. Die Umstrukturierung gelang aber nur bedingt, wozu nicht zuletzt auch der Kriegsausbruch 1939 beigetragen hat.20 Eine Entscheidung über Rostock – wo man sich trotz gestiegener Anforderungen gut aufgestellt sah bzw. entsprechend vorbereitete 21 – blieb zunächst aber offen.22 Staatsminister Friedrich Scharf setzte sich auch persönlich für Rostock ein und meinte noch 1937, dafür aus Berlin entsprechende Zusagen erhalten zu haben.23 Die Erweiterung des Pharmaziestudiums durch die neue Prüfungsordnung von 1935 war keine genuin nationalsozialistische Idee – auch wenn dessen Vertreter es gerne so

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proklamierten. Schon in den 1920er-­Jahren wurde zwischen Standesvertretern, Wissenschaftlern und Hochschulpolitikern darüber diskutiert. Und auch die Universität Rostock befürwortete 1926 die Vertiefung des Pharmaziestudiums. Schließlich galt noch immer die Prüfungsordnung von 1904.24 Insbesondere die Pharmakognosie sollte nun, so die Hoffnung zeitgenössischer Pharmazeuten, erheblich ausgebaut und eigenständig werden, d. h. aus dem Schatten der Botanik treten.25 Ausgerechnet in dem von der Schließung bedrohten Rostock wurde die Pharmakognosie bereits von einem Pharmakologieprofessor und nicht – wie zumeist üblich – von einem Botaniker vertreten.26 Jedoch war Rostock in der schwächeren Position gegenüber vielen anderen deutschen Hochschulen, da es hier kein eigenes Pharmazeutisches Institut gab, sondern lediglich eine entsprechende Abteilung am Chemischen Institut.27 Derlei Umstrukturierungen in der Hochschulausbildung blieben indes keineswegs auf die Pharmazie beschränkt. Sie traten seit der Machtergreifung der NSDAP bzw. seit Schaffung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934 auch in vielen anderen Fachbereichen auf. Die Idee, die Wissenschaft angesichts knapper öffentlicher Mittel zentral zu lenken und zu planen, kam bereits in der Weimarer Republik auf und wurde gerade wegen der Weltwirtschaftskrise intensiver verfolgt. Die Überlegung, eine Gesellschaft in all ihren Bereichen durchzuplanen, war ebenfalls nicht genuin nationalsozialistisch, sondern schon seit der Jahrhundertwende ungemein populär, woran die Nationalsozialisten anknüpften. Die Tendenz zur zentralisierten Planung, mit der föderale Strukturen zerschlagen werden sollten, drang so letztlich auch in den Wissenschaftsbereich ein. Im REM wurden insbesondere in Verfolgung des sogenannten Vier-­Jahres-­Plans ab 1936 Gesamtplanungen für einzelne Fächer aufgestellt und Wege zur vermeintlich effizienten Mittelverwendung durch Forschungslenkung gesucht.28 Damit betraut war zunächst der ehemalige Rostocker Chemie-­Dozent Franz Bachér, der von April 1935 bis April 1937 die Abteilung Hochschulen im REM leitete und als eingefleischter Nationalsozialist galt.29 Am Ende dieser Planungen stand im Februar 1938 die Entscheidung, ab dem 1. April 1938 reichsweit nur noch an 14 statt an bisher 24 Standorten Pharmaziestudierende zuzulassen. Die obsolet gewordenen Einrichtungen, wozu neben Rostock auch Greifswald zählte, sollten zum 1. Oktober des Jahres geschlossen werden.30 Die Entscheidung in Berlin gegen Rostock wird sicherlich auch durch den mitunter dürftigen Zustand der Ausbildungseinrichtungen, trotz allen Besserungsbemühungen des Landes Mecklenburgs, beeinflusst gewesen sein.31 Schon vor Einführung der neuen Apotheker-­Prüfungsordnung hatte es dort Schwierigkeiten bei der Durchführung der Pharmazeutenausbildung gegeben. Die Jahresberichte des Pharmakologischen Instituts etwa zeugen von nicht vollumfänglich durchgeführten Veranstaltungen für Pharmazeuten, von Erschwernissen durch mangelhafte Ausstattung oder von zu kleinen Räumlichkeiten. So entfiel zwischen 1934 und 1937 etwa das pharmakologische Praktikum.32 Dem Institut fehlte nämlich ein „apothekenmäßig eingerichteter Kursraum“, in dem die Studierenden „[…] die einfachsten Verrichtungen des apothekenmäßigen Dispensierens erlernen“,33 so Institutsdirektor Ernst Ruickoldt.34 Die Absicht des REM , die Rostocker Pharmazeutenausbildung wegen zu hoher Investitionskosten abzuwickeln, hatte also durchaus eine sachliche Berechtigung. Selbst in Schwerin kam schon während der Hochphase der Weltwirtschaftskrise die Idee auf – die dann aber nicht weiter verfolgt wurde –, als mögliche Einsparung „[…] das pharmazeutische Studium fallen zu lassen […]“.35 Doch warum war der Verlust des Studiengangs für die Mecklenburgische Landesuniversität überhaupt so ein Problem? Ein Blick auf die Zahl der Immatrikulierten zeigt, dass die Ankündigung 1936 die Hochschule in einer kritischen Phase ihrer Entwicklung traf.

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Studierenden- Studierende davon in zahl/Semester reichsweit Rostock

davon Natur­ davon davon Pharma­ Allgemeine wissenschaften Chemiker Physiker zeuten Medizin

Sommer 1932

98.852

2.686

256

71

28

43

1.108

Sommer 1933

88.930

2.686

239

69

32

45

1.180

Sommer 1936

52.581

1.243

106

29

0

63

545

Sommer 1938

41.069

851

71

33

0

42

472

Zahlen aus Buddrus/Fritzlar 2007, S. 497 und Deinert 2010, S. 382 – 383 und 390 – 394.

Binnen weniger Jahre war die Zahl der Studierenden stark gesunken, in Rostock allerdings deutlich stärker als reichsweit, während sich der Pharmaziestudiengang diesem Trend etwas entgegenstellte. Im Sommer 1938, dem letzten Studiensemester für Pharmazeuten an der Warnow, stellten diese knapp fünf Prozent der Immatrikulierten. Die naturwissenschaftlichen Institute traf die Abwicklungsmaßnahme dabei besonders stark, weil insbesondere das Chemische Institut in die Pharmazeutenausbildung involviert war. Zugleich brach die Zahl der Medizinstudierenden drastisch ein, wodurch die naturwissenschaftlichen Institute weitere Hörerverluste zu verzeichnen hatten, schließlich stellten Mediziner und Pharmazeuten einen erheblichen Teil der Veranstaltungsteilnehmer.36 Die hohen Studierendenzahlen zu Beginn der 1930er-­Jahre erklären sich als Folge des starken Zustromes an die Hochschulen während der Weltwirtschaftskrise. Nach Hitlers Machtergreifung nahm sie reichsweit wieder erheblich ab. Die Gründe hierfür waren komplex. Einerseits beschränkte das NS -Regime den Hochschulzugang. Andererseits wirkten sich die geburtenschwachen Jahrgänge während des Ersten Weltkrieges negativ aus. Zudem spielte der Umstand eine Rolle, dass die Berufsaussichten damaliger Hochschulabsolventen bisweilen ausgesprochen schlecht waren.37 Um angesichts dieser Umstände Rostock zu einem attraktiven Studienstandort zu machen, verzichtete etwa die Medizinische Fakultät schon 1933 auf die Einführung eines Numerus clausus.38 Zugleich litt der ohnehin schon schuldengeplagte Landeshaushalt unter den rückläufigen Studierendenzahlen, da Einnahmen aus Hörer- und Studiengebühren wegfielen. Bereits seit Ende des Ersten Weltkrieges war die Landesuniversität infolge der erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes Mecklenburg-­Schwerin mit finanziellen Einsparungen konfrontiert gewesen. Immer wieder wurde gar die (temporäre) Schließung erwogen, wenn auch nie umgesetzt.39 Der Wegfall des Pharmaziestudiengangs lief überdies den generell seit Jahren betriebenen Bemühungen der Mecklenburgischen Landesuniversität zuwider, durch Standortprofilierung, so etwa die Spezialisierung der Wirtschaftswissenschaften auf Raumforschung, der Errichtung eines Nordischen Instituts, der Etablierung einer „deutschen“ Archäologie, der Anbindung an die Ernst-­Heinkel-­Flugzeugwerke und der Fokussierung auf Luftfahrtwissenschaft und der Errichtung einer Landwirtschaftlichen Fakultät, für Studierende insgesamt attraktiver zu werden. Es verwundert daher nicht, dass nur eine Woche nach dem Besuch der REM -Vertreter in Rostock die Schweriner Unterrichtsabteilung gegen die beabsichtigte Schließung des Pharmaziestudiengangs protestierte. Dort befand man, dass „[…] die Interessen der Universität Rostock dadurch aufs schwerste geschädigt würden“. Unter Verweis auf die jahrzehntelange Tradition des Rostocker Pharmaziestudiums und die seit den 1870er-­Jahren examinierten 700 Pharmazeuten wurde um den Erhalt des Studiengangs gebeten. Zudem, so wurde argumentiert, hätte der Fortfall des Studiengangs negative Auswirkungen auf Lehre und Forschung des Chemischen und Botanischen Instituts. Hier drohe eine „Verödung“ der Institutsarbeit, da die Zahl der Nicht-­Pharmaziestudierenden

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an den naturwissenschaftlichen Instituten eine geringe sei. Außerdem könne das Land den eintretenden Gebührenausfall nicht tragen. Ganz dem Argument von Professor Trautz folgend, sei zudem die Chemische Technologie nicht als Kompensation geeignet.40 Doch der Schweriner Protest zog keinerlei Berliner Reaktion nach sich. Folglich ging man in Mecklenburg davon aus, die Pharmazie in Rostock sei gerettet – ein fataler Irrtum, wie sich alsbald herausstellte. Im Rahmen einer Hochschulkonferenz Ende Mai 1937 erfuhr der Mecklenburger Hochschulreferent nämlich „gesprächsweise“, dass die Pharmazie in Rostock doch geschlossen werden sollte.41 In den nächsten Monaten intervenierten die regionalen hochschulpolitischen Akteure gegen die Schließungspläne in Berlin. Ihre Reaktion ist wohl am besten vor dem Hintergrund der Gemengelage aus den tagesaktuellen hochschulpolitischen Debatten auf der einen und der Lage der Mecklenburgischen Landesuniversität auf der anderen Seite zu verstehen. Angesichts der stets rückläufigen Studierendenzahlen waren die Befürchtungen aus Rostock und Schwerin nicht unbegründet. Der zweifelsohne hohe Anteil der Pharmazeuten an den Besuchern der naturwissenschaftlichen Institute zeugt von der Bedeutung des Studiengangs für die beteiligten Einrichtungen. Zudem war das Thema „Verreichlichung“ der Hochschulen noch längst nicht vom Tisch. Es hatte sogar seit Februar 1937 noch eine neue Komponente erhalten: die Schließung ganzer Hochschulstandorte. Der nationalsozialistische Erziehungswissenschaftler Ernst Krieck hatte angesichts der stetig weniger werdenden Studierenden öffentlich gefordert, die Hochschulen im Reich um ein Drittel zu reduzieren und damit eine heftige Debatte ausgelöst, die gerade im Sommer 1937 – also als Rostock definitiv der Studiengang genommen werden sollte – ihren Höhepunkt erreichte. So mancher Rektor fürchtete nun um den Fortbestand seiner Universität, damit war Rostock keineswegs alleine. Zwar bekräftigte das REM , dass ein solcher Schritt nicht geplant sei, doch eine Beruhigung der Angelegenheit trat erst ab Ende 1937 ein.42 Die starke Erregung der Mecklenburger Akteure lässt sich wohl auch damit erklären, dass schon seit Ende des Ersten Weltkrieges immer wieder Meldungen, Gerüchte und Planspiele in Schwerin aufgekommen waren, die Universität Rostock aus finanziellen Erwägungen zu schließen.43 Zwar ist es am Ende nie dazu gekommen, doch eine latente Angst vor einem solchen Szenario dürfte den Rostocker Akteuren über die Jahre geradezu in Fleisch und Blut übergegangen sein. Vor diesem Hintergrund ist das skizzierte und im Nachfolgenden gerne bemühte Schreckensszenario, wonach der Verlust des Studiengangs den Anfang vom Ende der Mecklenburgischen Landesuniversität einläuten könnte, vielleicht etwas übertrieben, aber keineswegs ganz grundlos gewesen; wenngleich es am Ende anders kam als gedacht.

Mecklenburger Bemühungen, die Schließung abzuwenden Beim Blick auf die beteiligten Rostocker fällt zunächst auf, dass hauptsächlich der Dekan der Medizinischen Fakultät, Professor Werner Kollath 44, sowie Rektor Ernst Brill, ebenfalls Mediziner 45, die Interessen der Universität vertraten. Heinz Maybaum, der Dekan der Philosophischen Fakultät, trat hingegen kaum in Erscheinung – obwohl es doch die naturwissenschaftlichen Institute der Philosophischen Fakultät waren, die durch den Wegfall der Pharmazeuten einen erheblichen Teil ihrer Hörer verloren. Dekan Kollath führte Anfang Juni 1937 zunächst ein persönliches Gespräch mit dem zuständigen Fachreferenten im REM . Dabei betonte er, dass „[…] Anwesenheit und Unterricht […]“ von aktuell etwa 50 Pharmaziestudierenden „[…] die Grundlage für das Bestehen […]“ der beteiligten naturwissenschaftlichen und medizinischen Institute

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sei. Durch Streichung des Pharmaziestudiengangs sei somit „[…] nicht nur eine Gefahr für die Institute, sondern darüber hinaus für den Bestand der Universität zu erwarten, denn wenn die gesamten Institute dadurch lahmgelegt werden, wird sich das auf die Gesamtuniversität mit Sicherheit auswirken“. Nach Kollaths Einschätzung habe „[…] ein eingehender Hinweis auf die Gefährdung der Universität Aussicht auf Erfolg […]“.46 So warnten die Mecklenburger Beteiligten nun stets und eindringlich vor der Gefahr, die die Abwicklung des Rostocker Pharmaziestudiengangs für die Universität haben könnte. Dabei bemühten sie die sich wiederholenden Argumente von der „Verödung“ der beteiligten Institute und der daraus resultierenden Gefahr durch weiter zurückgehende Studierendenzahlen für den Fortbestand der Ausbildungseinrichtungen. Aus dieser Entwicklung, so die Befürchtung, erwachse über kurz oder lang eine Gefährdung für den Fortbestand der Mecklenburgischen Landesuniversität. Als zentrales Argument für die Fortsetzung der Pharmazeutenausbildung in Rostock wurde die lange Tradition des dortigen Studiengangs angeführt, durch dessen Wegfall die mehr als ein halbes Jahrtausend währende Landesuniversität gefährdet werde. Was in der Argumentation der regionalen hochschulpolitischen Akteure hingegen weitgehend fehlte, war eine Antwort auf die Frage, wie man den Studiengang an der Mecklenburgischen Landesuniversität mit geringem Aufwand so ausstatten konnte, dass er den Anforderungen der neuen Apothekerprüfungsordnung entsprach. Vielleicht fehlten derartige Argumente, weil nach der Einschätzung von Dekan Kollath aus den Gesprächen mit den Berliner Planern der Hinweis auf die Gefährdung für den Fortbestand der Universität Rostock beim Wegfallen der Pharmazeutenausbildung als erfolgsversprechend eingeschätzt worden war. Vielleicht wurde sich auf die repetitiv vorgetragenen Argumente auch deshalb beschränkt, weil es schlicht an harten Fakten mangelte. Die benötigte Ausstattung der Institute bzw. die Möglichkeit, die beteiligten Institute entsprechend der erhöhten Anforderungen aufzustellen, wurde zwar von Rostocker Professoren bejaht, in Berlin aber wohl nicht geteilt und von Mecklenburger Seite geradezu beiläufig erwähnt.47 Schließlich war Rostock schon deshalb in einer deutlich schlechteren Position als andere Universitäten – etwa Greifswald oder Kiel –, weil es kein eigenes Pharmazeutisches Institut gab. Und hohe Investitionskosten infolge der neuen Prüfungsordnung sollten durch die Reichsplanung ja gerade vermieden werden. Die regionalen hochschulpolitischen Akteure hatten daher kaum eine andere Möglichkeit, als historische Argumente und beabsichtigte Maßnahmen anzuführen. Denn gut ausgestattete Institute, ja überhaupt ein eigenes Pharmazeutisches Institut, existierten in Rostock nicht. Neue Argumente, die sich an Versatzstücken der NS -Ideologie orientierten, brachten Rektor Brill und der Rostocker Studentenführer Ulrich Thomsen vor. Brill wies dabei auf die Besonderheit seiner Universität hin: Die kleine Universität Rostock würde einer erheblichen Zahl von Besuchern beraubt. Gerade an den kleinen Hochschulen kann aber der Student unbeschwert von den Belastungen der Großstadt seiner Arbeit nachgehen und in wirklich geschlossenen Kreisen seine weltanschauliche und fachliche Bildung erkämpfen.48

Hier sind der Vorrang der weltanschaulichen vor der fachlichen Bildung und die NS -typische, martialische Ausdrucksweise ebenso zu beachten wie die der NS -Agrarromantik innewohnende Ablehnung großstädtischen Lebens. Die Rostocker NS -Studentenführung wiederum wollte lieber die örtlichen „Bekenntnistheologen“ abschaffen, mit denen man ohnehin Auseinandersetzungen hatte, und stattdessen die zu den im nationalsozialistischen Sinne „guten Kräften“ zu rechnenden Pharmazeuten erhalten.49 Die Rostocker Theologen waren der örtlichen Studentenführung wegen

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ihrer Zugehörigkeit zur sogenannten Bekennenden Kirche, die den dezidiert nationalsozialistischen Deutschen Christen entgegenstand, ein Dorn im Auge.50 In Schwerin fand dieser Vorstoß allerdings keinen Rückhalt, denn es sei schließlich Aufgabe des Studentenführers, etwaige Widerstände zu überwinden und „[…] auch die Theologiestudierenden für die Ziele der nationalsozialistisch ausgerichteten Universität zu gewinnen.“ 51 Letzterer Auffassung pflichtete auch das REM bei.52 Noch bevor das Kultusministerium reagiert hatte, reiste Dekan Kollath erneut nach Berlin. Doch dort erfuhr er lediglich, dass man der Abwicklung der Rostocker Pharmazeutenausbildung höchstens noch einen kurzen Aufschub gewähren könne. Das galt umso mehr, als das REM im Ausbau der Rostocker Zahnklink 53 eine ausreichende Kompensation sah.54 Gemeinsam mit Heinz Maybaum als Dekan der Philosophischen Fakultät protestierte Kollath nun nochmals in Berlin. Möglicherweise stelle „[…] diese Aufhebung des Pharmazeutenstudiums für die Universität Rostock einen schweren, lebenswichtigen Schaden […]“ dar, so ihre schon mehrfach vorgetragene Warnung. Zudem wurden verhaltene Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer zentral geplanten Universitätsausbildung vorgebracht. Sollte nämlich festgestellt werden, dass doch ein höherer Bedarf an Pharmazeuten eintrete, fehle schlichtweg der Ausbildungsstandort Rostock. Daher wurde um einen Aufschub der Entscheidung „auf einige Jahre“ gebeten.55 Tatsächlich gab es schon seit 1936 Zweifel an den Annahmen der Planer im REM .56 So ziemlich das Einzige, was sich an der Rostocker Argumentation in den Jahren 1936 und 1937 änderte, war die exponentiell wachsende Zahl der vermeintlichen Pharmazieabsolventen von 700 (1936) über 750 (1937, Kollath) auf 842 (1937, Brill), mit der die hohe Bedeutung des Studiengangs untermauert werden sollte.57 Eine neue Argumentationsebene führte der sichtlich verärgerte Mecklenburgische Staatsminister Friedrich Scharf in seinem scharf formulierten Protestschreiben an den „Lieben P[artei]g[enossen] Wacker“ ein: Er warf dem REM kurzerhand vor, es bevorzuge die preußische Universität Greifswald: „Ich vermag […] nicht einzusehen, warum man einer über 500 Jahre alten Kultur- und Bildungsstätte, die heute lebens- und leistungsfähiger als je dasteht, die Lebensader durch diese Maßnahme Ihres Ministeriums abschneiden will. Denn darauf kommt es letzten Endes hinaus.“ Er habe den Eindruck, „[…] als wolle man benachbarte Universitäten in Preußen auf Kosten Rostocks lebensfähig machen“, ihnen also „[…] eine vielleicht an und für sich nötige Blutauffrischung […]“ verschaffen. Ein klarer Seitenhieb auf die Universität Greifswald, die nach damaligem Wissensstand in Schwerin ja ihren Pharmaziestudiengang behalten sollte.58 Die Annahme, dass Rostock zu Gunsten der preußischen Universität Greifswald geschwächt werden sollte, mag darauf gefußt haben, dass das REM personell weitgehend aus dem Preußischen Kultusministerium hervorgegangen war. Zwar war der Badische Staatsminister Otto Wacker seit April 1937 Leiter des Amtes Wissenschaft im REM , die Reform des Pharmaziestudiums war jedoch noch unter seinem Vorgänger Theodor Vahlen eingeleitet worden, der von 1911 bis 1927 und ab 1933 Professor in Greifswald war. Rudolf Mentzel wiederum, der als zentraler Mitarbeiter im Amt Wissenschaft wirkte und 1939 Nachfolger Otto Wackers wurde, hatte immerhin in Greifswald habilitiert, nachdem dies in Göttingen zuvor gescheitert war.59 Der ehemalige Rostocker – und potentielle Fürsprecher – Franz Bachér war hingegen im April 1937 aus dem REM ausgeschieden.60 Friedrich Scharfs Schreiben mag bisweilen unsachlich gewesen sein, doch spiegelte es die schon seit Jahren angespannte Gefühlswelt der Mecklenburger Akteure wider. In der Sache neue Argumente, die für den Erhalt der Pharmazeutenausbildung in Rostock sprachen, brachte Scharf aber nicht vor. Stattdessen übte er indirekte, im Grundsatz freilich nicht

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Abb. 3  Der Rektor an Herrn Oberregierungsrat Pg. Klitzing, 17. 07. 1937.

unberechtigte Kritik an der Wissenschaftspolitik des NS -Regimes.61 Nachdem Monate ins Land gegangen waren, erfolgte die ebenso knappe wie für Schwerin und Rostock gleichermaßen unbefriedigende Antwort des Reichskultusministeriums erst im Dezember 1937. Kurz und bündig wurde verkündet, dass zwar noch keine endgültige Entscheidung gefallen sei, der Rostocker Pharmaziestudiengang aber nicht erhalten bleiben könne, da der Reichsfinanzminister noch weitere Einsparungen fordere.62 Inzwischen wurde über Parteikanäle der Reichskultusminister selbst aktiviert, um dem Mecklenburger Anliegen zum Erfolg zu verhelfen. Bereits im Sommer 1937 informierte Rektor Brill den Mecklenburger Gauleiter und Reichsstatthalter Friedrich Hildebrandt über den Vorgang und bat um Hilfe, denn „die Schädigung, die die Universität Rostock durch die beabsichtigte Maßnahme erleiden würde, ist gar nicht abzusehen“ (Abb. 3).63 Im November hatte dann der stellvertretene Gauleiter von Mecklenburg, Gerd von Koeber 64, in München Reichskultusminister Bernhard Rust die Angelegenheit angetragen und von ihm erwirken können, dass die Entscheidung nochmals geprüft werden sollte. Und tatsächlich wurde auf Bitte von Staatsminister Scharf im Januar 1938 die Entscheidung nochmals überprüft.65 Der zuständige Referent im REM blieb aber bei seiner Auffassung, zumal sich an der Sachlage auch noch etwas verändert hatte. Der Reichsfinanzminister forderte nämlich weitere Einsparungen, weswegen zwischen den drei Standorten Braunschweig, Greifswald und Rostock abgewogen werden musste. In Greifswald seien die Voraussetzungen besser, weil in Rostock „[…] die Pharmazie lediglich ein Anhängsel an die Chemie darstellt“ – Letzteres war zutreffend. Da Rust wiederum für den Erhalt des Pharmaziestudiums an der TH Braunschweig eintrat – der Reichskultusminister war nämlich seit 1928 Gauleiter von Südhannover-­Braunschweig, wenn auch seit 1933 beurlaubt –, war die Angelegenheit zu Ungunsten Rostocks entschieden.66 Es bestand aus Sicht Berlins also weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit, der Forderung aus Mecklenburg nachzukommen. Eine Antwort auf Scharfs Schreiben erfolgte erst Mitte März 1938, also erst nach der Bekanntgabe der Neuordnung der Pharmazeutenausbildung. In einem von Reichsminister Rust abgezeichneten Antwortschreiben wurde nun nochmals mitgeteilt, dass es für die Rostocker Pharmazieausbildung keine Zukunft gäbe. Dabei seien „[…] auch alle Bedenken der Mecklenburgischen Staatsregierung erwogen […]“ worden.67 Freilich eine aus Mecklenburger Sicht wenig befriedigende Antwort.

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Da die Wissenschaftsplaner aufgrund der Mahnungen aus Fachkreisen, es werde ein Nachwuchsmangel bei den Pharmazeuten eintreten und dem Umstand, dass es Ende der 1930er-­Jahre tatsächlich dazu kam, offenbar eine nochmalige Prüfung der neu strukturierten Pharmazieausbildung vornehmen wollten, ergab sich im Sommer 1938 die Möglichkeit für Rostock, die zum Oktober drohende Abwicklung des Studiengangs abzuwenden. So reiste der neue Rektor Ernst Ruickoldt – passenderweise selbst Pharmakologieprofessor – nach Berlin.68 Schon im Mai hatte der Niederdeutsche Beobachter, das Hausblatt des Mecklenburger Gauleiters, über das „Todesurteil“ gegen das „Pharmazeutische Institut“ – das Rostock schlichtweg nicht hatte – berichtet. Dabei wurde nochmals die besondere – und vor allem regionale – Bedeutung der Rostocker Pharmazeutenausbildung hervorgehoben.69 Dies betonte auch der Bezirksapothekenführer Nordmark, Julius Aumüller 70, der seinerseits Mecklenburgischer Pharmazierat und Pächter der Hof-­Apotheke in Ludwigslust war. Er monierte gegenüber dem REM , dass durch dessen Entscheidung in Norddeutschland nur noch in Kiel und Königsberg Pharmazie studiert werden könne. Aber längst nicht alle Studierenden wären in der Lage, ein Studium an einer entfernter liegenden Hochschule zu finanzieren. Zudem seien die regionalen Apotheker auf die Nähe zu pharmazeutischen Ausbildungsstätten angewiesen. Zum einen für regelmäßige Fortbildungen, zum anderen, um Nachwuchs und auch Aushilfen in Form von Pharmaziestudierenden zu bekommen, da die wirtschaftliche Lage vieler Apotheken die Beschäftigung von Angestellten nicht erlaube. Besonders Rostock, so lobte Aumüller, habe sich in den letzten Jahren hier besonders hervorgetan und gut entwickelt. Daher plädierte der Bezirksapothekenführer für den Erhalt der Pharmazie in Rostock.71 Doch das Vorhaben blieb ohne Erfolg.72 So blieb nur noch, der eingangs erwähnten Aufforderung des REM zu folgen und das durch den Wegfall des Pharmaziestudiums entbehrlich gewordene Inventar gegen Erstattung von zwei Dritteln des Einkaufspreises an die Hochschulen in Kiel, Breslau, Marburg und Freiburg zu übersenden.73 Denn anders als etwa im Falle von Jena oder Leipzig, wo gar ein Pharmazeutisches Institut geschaffen wurde, gelang den Mecklenburger Akteuren eine Umstimmung des REM nicht.74

Schlussbetrachtung Es sind zwei wesentliche Leitmotive in der Argumentation der regionalen hochschulpolitischen Akteure auszumachen, die bereits seit 1936 – und in anderen Zusammenhängen auch davor oder danach – zu finden sind: 1. Die materielle Schädigung der Universität Rostock und des Hochschulstandortes – einerseits durch den Verlust eines wesentlichen Anteils an Studierenden in einer Phase stark rückläufiger Studierendenzahlen und andererseits durch Einschnitte im wissenschaftlichen Profil der Universität und damit den Verlust eines Anziehungsfaktors für den Standort Rostock. 2. Damit einher geht die ideelle Schädigung der Mecklenburgischen Landesuniversität. Hierbei wurde sowohl auf die nahezu sieben Jahrzehnte währende Tradition des Pharmaziestudiums in Rostock verwiesen als auch auf das halbe Jahrtausend, das die Universität bereits existierte. Durch die angedachte Maßnahme werde der Fortbestand der Universität in Gänze gefährdet, so die Behauptung. Zudem trat die Konkurrenz zu den umliegenden preußischen Universitäten hervor, die, so der Vorwurf, auf Kosten Rostocks gestärkt werden sollten. Diese Argumente sind dabei immer vor dem Hintergrund der seit der Machtergreifung kursierenden

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Neugestaltungsabsichten der deutschen Hochschullandschaft durch die Nationalsozialisten zu sehen, wozu auch die mögliche Schließung von einzelnen Hochschulen gehörte. Die Debatten darum erreichten gerade 1937 ihren Höhepunkt. Dementsprechend energisch setzten sich die regionalen hochschulpolitischen Akteure für die Pharmazie in Rostock ein. Schließlich ging es nicht bloß um den Verlust eines Studiengangs, der den Bestrebungen, den Studienstandort Rostock auszubauen, entgegenlief. Die Angst vor einem schleichenden Niedergang der einzigen Universität des Landes war ein wesentliches Motiv, das die mecklenburgischen Beteiligten umtrieb, weshalb sie sich dem befürchteten Abbau mit aller Kraft entgegenstellten. Verweise auf die lange Geschichte sollten dabei die hohe historische Bedeutung der Universität illustrieren, zugleich die unzureichende Ausstattung übertünchen und so eine Schließung schon aus kulturell-­historischer Sicht unverantwortlich erscheinen lassen. Als Amtschef Otto Wacker im Dezember 1937 den Gerüchten um Hochschulschließungen erneut entgegentrat, verwies er auch auf die Tradition der deutschen Universitäten und den negativen Eindruck, den ein solcher Schritt im Ausland vom nationalsozialistischen Deutschland hinterlassen würde.75 Da das NS-Regime ab Ende der 1930er-­Jahre die komplexe Reichsreform zugunsten der Vorbereitungen des Angriffskrieges hintanstellte, wurde von der „Verreichlichung“ der Hochschulen mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen vorerst abgesehen und schließlich auf die Zeit nach dem Krieg vertagt.76 Somit zog der weggefallene Pharmaziestudiengang für die Universität Rostock keine gravierenderen Folgen nach sich. Der Versuch, den Reichserziehungsminister über die NS -Parteischiene in seinem Entschluss umzustimmen, verlief letztlich erfolglos, weil auch das Reichsfinanzministerium weitere Einsparungen forderte. Gleichwohl konnte man in Mecklenburg damit gut leben, denn die schlimmste Befürchtung, die Schließung der Landesuniversität, trat nicht ein. Und das wiederum lag vor allem daran, dass die NS -Hochschulpolitik gegen Ende der 1930er-­Jahre zunehmend andere Akzente setzte, die allein den Kriegsvorbereitungen des Regimes untergeordnet waren. Der abgewickelte Pharmaziestudiengang war einer der wenigen institutionellen Verluste, die die Universität Rostock in der NS -Zeit hinnehmen musste. Entgegen den vielfach artikulierten Befürchtungen, es werde das schleichende Ende der Landesuniversität eingeleitet, blieben die betroffenen Institute und Lehrstühle erhalten. Und es entstand sogar eine Reihe neu eingerichteter Professuren bis hin zur 1942 gegründeten Landwirtschaftlichen Fakultät.77 Die Rostocker Forscher brachten ihre wissenschaftlichen Kompetenzen in die als kriegswichtig geltenden Forschungsprojekte ein und beteiligten sich an dem letztlich gescheiterten Erreichen der Expansionsziele des NS -Staates.78 Der Pharmakologe Ernst Ruickoldt verletzte sich 1940 und kehrte nach langer Genesungsphase erst Ende 1944 in den Dienst zurück, sodass die Forschung am Pharmakologischen Institut weitgehend ruhte und die Lehre von Peter Holtz, seit 1938 Professor für Physiologische Chemie, mit übernommen wurde. Holtz engagierte sich ebenfalls als Forscher für das NS -Regime.79 Schließlich führte das Mecklenburgische Staatsministerium während des Krieges den 1938 geschlossenen Pharmaziestudiengang sogar erfolgreich als Begründung dafür an, warum trotz der weiter stark schrumpfenden Studierendenzahlen die Landesuniversität weiterhin „lebensfähig“ sei und daher ausgebaut werden solle: Rostock sei nämlich „[…] sehr schwer durch gewisse Maßnahmen des Herrn Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung betroffen“ gewesen. Gemeint war damit neben den weggefallenen Pharmaziestudierenden auch der „[…] scheinbar vorbereitete Abbau der Theologischen Fakultät […]“. Damit die Universität in „normalen Zeiten“, also nach dem Krieg, wieder mehr Studierende habe, müsse ein Lehrstuhl für Physikalische Chemie eingerichtet werden.80 Und tatsächlich wurde der gewünschte Lehrstuhl 1942 eingerichtet.81

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Anmerkungen 1

UAR 2.04.1/786: Konferenz im Chemischen Institut am 15. 7. 1936, Bl. 3 – 7. 2 UAR 2.04.1/786: Abschrift, Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an das Mecklenburgische Staatsministerium, Abt. Unterricht vom 28. 8. 1939, Bl. 55. 3 Mit regionalen hochschulpolitischen Akteuren sind gemeint: der Mecklenburgische Staatsminister ­Friedrich Scharf, die für Hochschulen zuständige Abteilung Unterricht des Mecklenburgischen Staatsministeriums, hier v. a. der Referent und zugleich Regierungsbeauftragte/ Kurator an der Universität Rostock, Ministerialrat Otto Dehns, aber auch Vertreter der Universität Rostock, also der Rektor, die Dekane sowie bisweilen auch einzelne Professoren, sofern sie direkt in Erscheinung traten. Zudem fällt auch der Gauleiter und Reichsstatthalter Friedrich Hildebrandt sowie sein Parteiapparat darunter, sofern er in Fragen der Hochschulpolitik eingreift. 4 Heiber 1992, S. 148 – 150 und 154. 5 Bei Helmut Heibers umfangreichem Werk zu den Hochschulen in der NS-Zeit kommt die Schließung des Rostocker Pharmaziestudiengangs auf einer halben Seite vor. Siehe Heiber 1992, S. 154. 6 Eintrag von »Theodor Ackermann« im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00002463 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 7 Eintrag von »Karl Gaehtgens« im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00002479 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 8 Rosbach 1969, S. 3 – 23. 9 Eintrag von »Rudolf Kobert« im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00001151 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 10 Rosbach 1969, S. 36 ff. 11 Zur Pharmazeutenausbildung, ihrer Reform und Entwicklung im Dritten Reich am Beispiel der mittel- und ostdeutschen Universitäten siehe Kintzel 1993, passim. Rostock wird in der Studie Kintzels nicht betrachtet, da die dortige Pharmazie nicht im

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selben Maße institutionalisiert war, wie an den anderen von Kintzel betrachteten Hochschulen; siehe ebd., S. 3. UAR 1.07.0/K 022 – 0057: Pharmakologisches Institut vom 3. 5. 1935, Bl.  604 – 616. Buddrus/Fritzlar 2007, S. 339 – 341 und 481. Durch den Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 änderten sich grundlegend die Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre an den deutschen Hochschulen. Dozenten und Studenten mussten Wehrdienst leisten, oft auch an der Front. Abiturienten wurden oft gar nicht immatrikuliert, sondern hatten zunächst ebenfalls Wehrdienst zu absolvieren. Für Frauen wiederum gab es äquivalente Pflichtdienste. In Rostock sank daher die Zahl der Studenten auf unter 500. Erst ab 1943 änderte sich dies allmählich wieder. Durch die Abkommandierung von Wehrmachtsangehörigen zum Medizinstudium stieg die Zahl wieder auf über 600 Studierende an. Von den vierstelligen Studierendenzahlen der 1930er-­Jahre war man aber weit entfernt. Siehe Deinert 2010, S. 179 – 277, 383 und 388 – 394. BArch R 4901/2130: Ministerialrat Breuer an den Herrn Rektor der Universität Rostock vom 11. 7. 1936, Bl. 80. Eintrag von »Wilhelm Comberg« im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00002687 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Eintrag von »Heinz/Heinrich Maybaum« im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl. uni-­rostock.de/cpr/00001670 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Eintrag von »Max Trautz« im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock.de/ cpr/00003401 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Trautz wechselte zum Oktober 1936 an die Universität Münster. Alle Zitate aus UAR 2.04.1/786: Konferenz im Chemischen Institut am 15. 7. 1936 betr. Pharmaziestudium an der Rostocker Universität, Bl. 3 – 7.

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Kintzel 1993, S.  18 – 27, 68 – 71, 74 – 81, 116 – 143, 166 – 170 und 174 – 177; zu den Inhalten der Prüfungsordnung siehe ebd., S.  154 – 163. UAR 1.07.0/K 022 – 0057: Pharmakologisches Institut an den Herrn Regierungsbevollmächtigten vom 28. 1. 1935, Bl. 655 f.; BArch R 4901/2130: Abschrift, Der Direktor des Chemischen Instituts der Universität Rostock an das Mecklenburgische Staatsministerium, Abt. Unterricht und Medizinalangelegenheiten vom 28. 2. 1936, Bl. 82. Zu den Investitionen in die Institute siehe auch die Jahresberichte des Pharmakologischen Instituts für die entsprechenden Jahre in UAR 1.07.0/K 023 – 1174.2; BArch R 4901/2130: Dr. Friedrich Scharf, Mecklenburgischer Staatsminister an Staatsminister Otto Wacker vom 12. 8. 1937, Bl. 160 – 162. Kintzel 1993, S. 11 – 15. BArch R 4901/2130: Mecklenburgisches Staatsministerium, Abt. Unterricht an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 9. 6. 1937, Bl. 87; ebd.: Dr. Friedrich Scharf, Mecklenburgischer Staatsminister an Staatsminister Otto Wacker vom 12. 8. 1937, Bl. 160 – 162. Kintzel 1993, S. 8 – 11, 144 – 148 und 151 – 154. Zu der Debatte in Mecklenburg siehe LHAS 5.12.7/1, Nr. 1202. Kintzel 1993, S. 24 f. und 149 – 151. Die von Kintzel erwähnte Denkschrift von Prof. Dr. E Gilg, Die Pharmakognosie an den Hochschulen des Deutschen Reiches. Im Auftrage des Verbandes der Vertreter der wissenschaftlichen Pharmazie deutscher Hochschulen, Berlin 1930 ist zu finden in LHAS 5.12.7/1, Nr. 1202. UAR 1.07.0/K 022 – 0057: Pharmakologisches Institut vom 3. 5. 1935, Bl.  604 – 616. Kintzel 1993, S. 141. In den Jahresberichten des Rostocker Chemischen Instituts ist eine entsprechende Abteilung erwähnt, siehe UAR 1.07.0/ K090 – 0529.2, Bl.  138 – 237. Eine Übersicht der Abteilungen bieten auch Buddrus/Fritzlar 2007, S. 491. Siehe dazu sowie zu verschiedenen Planungs- und Zentralisierungsvorhaben in der Wissenschaft, wie

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etwa einer „Reichsakademie der Forschung“, der Einrichtung des Reichsforschungsrates oder aber der Vereinheitlichungen der Hochschulverwaltungen, einer Vereinheitlichung der Besoldung bis hin zur nie vollständig umgesetzten „Verreichlichung“ der Hochschulverwaltungen Nagel 2012, S. 215 – 244 und 255 – 281. Zu Bachér siehe Buddrus/Fritzlar 2007, S. 58 f.; Die Geschichte der Universität Rostock 1969, Bd. 1, S.  259 – 260. LHAS 5.12.7/1, Nr. 1198: Der Reichsund Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 14. 2. 1938, Bl. 275 f.; ebd., Nr. 1202: Der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 14. 2. 1938; zur Reform siehe Kintzel 1993, S. 11 – 27 und 154 – 177. Aus finanziellen Gründen musste die Pharmazieausbildung in Greifswald auf Forderung des Reichsfinanzministers ebenfalls entfallen. Siehe BArch R 4901/2130: Notiz für den Herrn Reichsminister vom 6. 1. 1938, Bl. 186. Dabei hatte es noch im Dezember 1937 eine mündliche Zusage für den Erhalt Greifswalds ­gegeben, siehe Kintzel 1993, S. 14 f. und 121 f. Wie Anm. 21. Siehe dazu die Jahresberichte des Pharmakologischen Instituts für die Jahre 1928 bis 1939 in UAR 1.07.0/ K23 – 1174.2. UAR 1.07.0/K 022 – 0057: Pharmakologisches Institut an das Mecklenburgische Ministerium für Unterricht vom 15. 6. 1934, Bl. 584 – 586. Eintrag von „Ernst Ruickoldt“ im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00000228 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Als weitere Einsparungsmöglichkeiten im Bereich der Universität wurden die Universitätsluftwarte, das Seminar für allgemeine und vergleichende Religionswissenschaft sowie die Poliklinik für Mund- und Zahnkrankheiten angegeben. Siehe LHAS 5.12.7/1, Nr. 1202: An Herrn Ministerialdirektor Schwaar vom 6. 8. 1931. Hans Schwaar war seit 1919 Ministerialdirektor im Finanzministerium von Mecklenburg-­ Schwerin und leitete zugleich das

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Ministerium. Zu Schwaar siehe Buddrus/Fritzlar 2012, S. 277 f. 1934/35 besuchten z. B. neun bzw. zehn Pharmazeuten und zugleich 54 bzw. 86 Medizin-­Studierende Veranstaltungen am Chemischen Institut. 1935/36 kamen auf 15 Chemiker 17 weitere Naturwissenschaftler und 48 Pharmazeuten sowie 53 Mediziner. Im Sommersemester 1936 kamen auf 22 Chemiker 49 Pharmazeuten und 62 Mediziner, die das Praktikum besuchten. Im Sommersemester 1937 waren es wiederum 21 Chemiker, 61 Pharmazeuten und 43 Mediziner, die das Praktikum absolvierten. Siehe UAR 1.07.0/K090 – 0529.2: Bl. 185, 189, 217 und 233. Deinert 2010, S. 22 – 27 und 33; Schagen 2009, S. 54 f. Ausführlich dazu Jarausch 1984, S. 176 – 187. Die Geschichte der Universität Rostock 1969, Bd. I, S. 270. Deinert 2010, S. 39, insbesondere auch ihre Hinweise in Anm. 133. Siehe dazu auch Vorgänge und Pressemeldungen aus den Jahren 1923 – 1931 in LHAS 05.12.07/01, Nr. 631, Bl. 16 – 21, 24, 26, 28, 30 – 34, 37 – 38, 57 – 63 und 73 – 79; zur finanziellen Situation des Landes Mecklenburg-­Schwerin siehe das Gutachten des Reichssparkommissars 1930, passim. UAR 2.04.1/786: Mecklenburgisches Staatsministerium, Abt. Unterricht an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 22. 7. 1936, Bl. 47 f. UAR 2.04.1/786: Mecklenburgisches Staatsministerium, Abt. Unterricht an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 22. 7. 1936, Bl. 47 f.; BArch R 4901/2130: Dr. Friedrich Scharf, Mecklenburgisches Staatsminister an Staatsminister Otto Wacker vom 12. 8. 1937, Bl. 160 – 162. Heiber 1992, S. 148 – 150 und 153 f. Siehe Anm. 39. Eintrag von »Werner Kollath« im Catalogus Professorum Rostochiensium unter http://purl.uni-­rostock. de/cpr/00001815 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Eintrag von »Ernst Brill« im Catalogus Professorum Rostochiensium, unter http://purl.uni-­rostock.de/ cpr/00003341 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019).

46 UAR 2.04.1/786: Medizinische Fakultät der Universität Rostock an Seine Magnifizenz vom 4. 6. 1937, Bl. 11 – 13. 47 UAR 2.04.1/786: Der Rektor der Universität Rostock, Professor Brill, und der Vorsitzende der Pharmazeutischen Prüfungskommission, Professor Maurer, an das Reichs- und Preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Abt. Medizinalangelegenheiten vom 4. 6. 1937, Bl. 21 f.; LHAS 5.12.7/1, Nr. 1198: Mecklenburgisches Staatsministerium, Abt. Unterricht an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 9. 6. 1937, Bl. 260; UAR 1.07.0/K 022 – 0057: Pharmakologisches Institut an den Herrn Regierungsbevollmächtigten vom 28. 1. 1935, Bl. 655 f.; BArch R 4901/2130: Abschrift, Der Direktor des Chemischen Instituts der Universität Rostock an das Mecklenburgische Staatsministerium, Abt. Unterricht und Medizinalangelegenheiten vom 28. 2. 1936, Bl. 82. Zu den Investitionen in die Institute siehe auch Anm. 21. 48 UAR 2.04.1/786: Der Rektor der Universität Rostock, Professor Brill, und der Vorsitzende der Pharmazeutischen Prüfungskommission, Professor Maurer, an das Reichs- und Preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Abt. Medizinalangelegenheiten vom 4. 6. 1937, Bl. 21 f. 49 UAR 2.04.1/786: Studentenführung der Universität Rostock, Amt Studentenführer vom 11. 6. 1937, Bl.  23 – 25. 50 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 23, 31 f., 35, 49 – 51 und 478; Deinert 2010, S. 66, 86 – 97, 108 – 110, 146 f., 164, 167, 198, 207, 280 – 287, 312, 335 – 342, 346, 349, 352 f., 389, 393 f. und 420. 51 BArch R 4901/2130: Mecklenburgisches Staatsministerium, Abt. Unterricht an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 24. 6. 1937, Bl. 118. 52 BArch R 4901/2130: Der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an das Mecklenburgische Staatsministerium, Abt. Unterricht vom 23. 7. 1937, Bl. 121. 53 Der Neubau der Zahnklinik wurde 1938 eröffnet. Jedoch ging auch

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die Zahl der Zahnmediziner bis zum Sommersemester 1939 zurück, sodass eine Kompensation für den entfallenden Pharmaziestudiengang nicht erfolgte. Siehe Deinert 2010, S. 200, 280 und 390. UAR 2.04.1/786: undatierter Vermerk, Bl. 27. Da der Vermerk inhaltlich eng mit dem nachfolgenden Schreiben vom 21. 6. 1937, Bl. 31 – 33 zusammenhängt, ist anzunehmen, dass die Notiz von Professor Kollath nach seinem Gespräch im REM angefertigt worden ist. UAR 2.04.1/786: Der Dekan der Medizinischen und der Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock an den Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 21. 6. 1937, Bl. 31 – 33. Kintzel 1993, S. 81 und 101 – 108. UAR 2.04.1/786: Mecklenburgisches Staatsministerium, Abt. Unterricht an den Herrn Reichs- und Preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 22. 7. 1936, Bl. 47 f.; ebd.: Medizinische Fakultät der Universität Rostock an Seine Magnifizenz vom 4. 6. 1937, Bl. 11 – 13; ebd.: Der Rektor der Universität Rostock, Professor Brill, und der Vorsitzende der Pharmazeutischen Prüfungskommission, Professor Maurer, an das Reichs- und Preußische Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, Abt. Medizinalangelegenheiten vom 4. 6. 1937, Bl. 21 f. Alles zit. nach BArch R 4901/2130: Dr. Friedrich Scharf, Mecklenburgischer

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Staatsminister an Staatsminister Otto Wacker vom 12. 8. 1937, Bl. 160 – 162. Nagel 2012, S. 66 f., 108 f. und 112 – 115. Heiber 1992, S. 153 f. BArch R 4901/2130: Dr. Friedrich Scharf, Mecklenburgischer Staatsminister an Staatsminister Otto Wacker vom 12. 8. 1937, Bl. 160 – 162. BArch R 4901/2130: Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an Herrn Staatsminister Dr. Friedrich Scharf vom 9. 12. 1937, Bl. 163. UAR 2.04.1/786: Der Rektor an Herrn Oberregierungsrat Parteigenosse Klitzing vom 17. 7. 1937, Bl. 35. Oberregierungsrat Klitzing war der persönliche Referent des Gauleiters und Reichsstatthalters Friedrich Hildebrandt. Buddrus 2009, S. 1033. BArch R 4901/2130: Notiz für Herrn Prof. Groh vom 13. 11. 1937, Bl. 188; ebd., Staatsminister Dr. Scharf an Herrn Reichsminister Rust vom 20. 1. 1938, Bl. 189. BArch R 4901/2130: Dem Herrn Reichsminister ergebenst auf dem Dienstwege vom 6. 1. 1938, Bl. 186; Nagel 2012, S. 40; John/Möller/ Schaarschmidt 2007, S. 464. BArch R 4901/2130: Der Reichs- und Preußische Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an den Herrn Staatsminister Dr. Scharf vom 16. 3. 1938, Bl. 191. LHAS 5.12.7/1, Nr. 1198: Mecklenburgisches Staatsministerium, Abt. Unterricht an den Herrn Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 25. 6. 1938, Bl. 285; Kintzel 1993, S. 18.

69 UAR 1.03.0/R 01 C 01: Niederdeutscher Beobachter, Folge 124 vom 30. 5. 1938, S. 4: „NB-Besuch bei Rostocker Wissenschaftlern. Die Bedeutung des Pharmazeutischen Instituts. Mecklenburg bezog aus Rostock seine Apotheker – Unterredung mit Prof. Dr. Maurer und Prof. Dr. Hofmann“. 70 Eintrag zu Julius Aumüller in Grewolls 2011, S. 322. 71 UAR 2.04.1/786: Bezirksapothekenkammer Nordmark an das Mecklenburgische Ministerium, Abt. Unterricht vom 16. 6. 1938, Bl. 49 – 51. 72 UAR 2.04.1/786: Der Sekretär der Universität Rostock vom 8. 8. 1938, Bl. 53. 73 UAR 2.04.1/786: Der Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung an das Mecklenburgische Staatsministerium, Abt. Unterricht vom 28. 8. 1939, Bl. 55. 74 Kintzel 1993, S. 14 – 18 und 25 f. 75 Heiber 1992, S. 149. 76 Nagel 2012, S. 81 – 85, 90, 100 und 317 – 329. 77 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 167 f. und 478 – 485. 78 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 193 f., 211 – 214, 248 – 250, 268 f. und 333 – 336. 79 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 197 f., 339 – 341. Zu Peter Holtz siehe auch Moser 2012, S. 115 – 130. 80 LHAS 05.23.07/01, Nr. 568: Mecklenburgisches Staatsministerium, Abteilung Unterricht an den Herrn Reichsminister der Finanzen vom 24. 3. 1941, Bl. 213. 81 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 372 f., 484 und 493.

Die Existenz der Universität in Gefahr?

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

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Volksbildung (R 4901): 2130. LHAS : Ministerium für Unterricht, Kultur, geistliche und

Medizinalangelegenheiten (5.12.7/1): 568, 631, 1198, 1202. UAR Rektorat (1.03.0): R 01 C 01. UAR Kurator (1.07.0): K 022 – 0057, K 023 – 1174.2, K 090 – 0529.2. UAR Medizinische Fakultät (2.04.1): Nr. 786.

Gutachten des Reichssparkommissars über die Landesverwaltung Mecklenburg-­Schwerin, Berlin 1930.

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Florian Detjens

Heiber, Helmut: Universitäten unterm Hakenkreuz. Teil II : Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen, Bd. 1. München u. a. 1992. Jarausch, Konrad H.: Deutsche Studenten 1800 – 1970. Frankfurt a. M. 1984 (= Edition Suhrkamp 1258, Neue Folge, Bd. 258). John, Jürgen/Möller, Horst/Schaarschmidt, Thomas (Hrsg.): Die NS -Gaue. Regionale Mittelinstanzen im zentralistischen „Führerstaat“, München 2007 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer). Kintzel, Birger: Zur Geschichte der Hochschulpharmazie im nationalsozialistischen Deutschland, dargestellt an ausgewählten pharmazeutischen Ausbildungseinrichtungen Mittel- und Ostdeutschlands. Greifswald, Univ. Diss. 1993. Moser, Gabriel: Forschungsförderung im Nationalsozialismus. Der Rostocker Pharmakologe Peter Holtz und Andere, in: Giesela Boeck/Hans-­Uwe Lammel (Hrsg.): Die Universität Rostock in den Jahren 1933 – 1945. Referate der interdisziplinären Ringvorlesung des Arbeitskreises „Rostocker Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte“ im Sommersemester 2011. Rostock 2012 (= Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte Bd. 21), S. 115 – 130. Nagel, Anne C.: Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934 – 1945. Frankfurt a. M. 2012. Rosbach, Hans-­Joachim: Die Entwicklung des Pharmakologischen Instituts Rostock von ihren Anfängen bis zur Gegenwart und die Bedeutung für die Medizinische Fakultät, Teil I. Univ. Rostock Diss, Rostock 1969. Schagen, Udo: Wer darf studieren? Ausgrenzung und Chancengleichheit 1933 und 1945, in: Sabine Schleiermacher/Udo Schagen (Hrsg.), Wissenschaft macht Politik. Hochschulen in den politischen Systembrüchen 1933 und 1945, Stuttgart 2009 (= Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Bd. 3), S. 49 – 61.

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Uni unterm Hakenkreuz Die Studierenden an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock im „Dritten Reich“ Juliane Deinert

Einleitung Nachdem Adolf Hitler Ende Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt worden war, wurde auf dem Gebiet der Medizin ein gesundheitspolitisches Programm vorangetrieben, das den nationalsozialistischen Weltanschauungen gerecht zu werden suchte. Bereits in seinem 1925 erstmals erschienen Buch „Mein Kampf “ hatte Hitler angekündigt, dass die Vermischung „niederer Rassen“, zu denen er u. a. die Juden zählte, mit denen der „höheren deutsche Rasse“ verhindert werden müsse. Darüber hinaus sollten Kranke, erblich Belastete und Krüppel möglichst zeugungsunfähig gemacht werden, um eine „Gesundung“ des „deutschen Volkskörpers“ voranzutreiben.1 Die hier vorgezeichneten Ansichten einer antisemitischen Rassenideologie gepaart mit der sogenannten Erbgesundheitslehre bzw. Rassenhygiene führten nach der Machtergreifung zur Rechtfertigung von Kontrolle und Selektion bis hin zur Vernichtung der Betroffenen.2 Im Rahmen dieser „Weltanschauung“ kam es zu einem Paradigmenwechsel in der Medizin von der Behandlung körperlicher und psychischer Erkrankungen Einzelner zum Erkennen und Ausmerzen erbbiologischer Krankheiten zum Wohl des gesamten Volkes.3 Die Konformität der Ärzteschaft beabsichtigten die Nationalsozialisten durch die Einführung einer Reihe von Gesetzen und Verordnungen, wie das „Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ 4 oder auch das „Reichsbürgergesetz“ 5 zu erreichen. Ferner wurden ab 1934 die Zulassungsbedingungen zum ärztlichen Beruf an die Bedingung geknüpft, „Reichsangehöriger“ zu sein.6 Gemeinhin war es für die Durchsetzung der neuen NS -ideologischen Pläne erforderlich, die ärztliche Ausbildung auf die Ziele einer neuen Gesundheitspolitik auszurichten, die eine wichtige Säule des politischen Systems des Nationalsozialismus bildete. Ziel war die Schaffung eines gesunden, hochwertigen „Volkskörpers“, bei dem der Staat die Kontrolle über Geburt, Fortpflanzung, Ehe und in letzter Konsequenz sogar über Leben und Tod ausübte. In diesem Sinne wurde das Medizinstudium den Reformkonzepten der nationalsozialistischen Ideologie angepasst. Auch an der Universität Rostock veränderten sich die Lehr- und Lerninhalte sowie die gesamte Situation der Studierenden und die ihrer Lehrer im akademischen Hochschulbetrieb nach 1933 erheblich, ohne dass sich ein nennenswerter Protest erhob.

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Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Werteverschiebungen – Veränderungen des Medizinstudiums durch die Nationalsozialisten Die Nationalsozialisten kritisierten die medizinische Ausbildung – so Hendrik van den Bussche – als zu „liberal“ und „organisatorisch“ wie „weltanschaulich“ überholungsbedürftig. Die Spezialisierung auf mehrere Disziplinen und Therapieansätze sollte von nun an einer „Ganzheitlichkeit“ weichen, die im Sinne der „Volksgemeinschaft“ und der erbbiologischen Ausrichtung zu stehen hätte.7 Entsprechende Reformkonzepte lagen wohl bereits 1933 fertig ausgearbeitet vor, sie sind allerdings nicht überliefert worden. Laut anderen parteiinternen Dokumenten lässt sich aber nachvollziehen, dass eine Zusammenführung spezieller klinischer Fächer durchaus angestrebt wurde, ebenso wie ein größerer Zeitaufwand für ideologische Lehrveranstaltungen und wehrsportliche Übungen auf Kosten der Pflichtstunden vorgesehen war.8 Doch nicht nur die NSDAP entwickelte entsprechende Pläne zur Reform des Medizinstudiums, auch das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (REM ), dass sich im Mai 1934 unter der Leitung von Bernhard Rust (1883 – 1945) herausgebildet hatte 9, wollte bei der Erneuerung der Universitäten eine gewichtige Rolle spielen. Praktisch im Alleingang verkündete das Ministerium 1934 seinen eigenen – immerhin vom Reichsinnenministerium abgesegneten – Unterrichtsplan, der an allen Universitäten des Reiches umgesetzt werden sollte.10 In der Praxis kam dieser jedoch kaum oder nur zögerlich in Gang. Vielmehr verlief die Umgestaltung des Medizinstudiums eher schleppend, was sich beispielhaft an der Einführung des Fachs „Rassenhygiene“ nachvollziehen lässt, das erst 1936 übergreifend und verbindlich eingeführt wurde. Mithilfe der sogenannten „Bestallungsordnung“, die die bis dato gültige „Prüfungsordnung für Ärzte“ ablöste, wurde die Einführung des Fachs „Rassenhygiene“ als Prüfungsfach festgelegt, soweit ein entsprechender Prüfer ernannt worden war.11 An der Rostocker Universität waren die inhaltlichen Themenbereiche zur Rassenlehre zunächst am Institut für Hygiene und Mikrobiologie angesiedelt. Vor allem der seit 1935 berufene Direktor des Instituts, Werner Kollath (1892 – 1970), setzte sich für einen Ausbau dieses Schwerpunkts an seinem Lehrstuhl ein und bot entsprechende Veranstaltungen an 12, wie beispielsweise das Seminar „Arbeiten auf dem Gebiete der Hygiene, einschließlich Rassenhygiene, Wehrhygiene, Mikrobiologie und Immunitätslehre“ 13. Zum Wintersemester 1936/37 organisierte er überdies eine „Gemeinschaftsvorlesung über Erb- und Rassefragen für Mediziner“, an der sich zahlreiche Lehrende der Fakultät beteiligten (Abb. 1).14 Ein Jahr später, zum Wintersemester 1937/38 wurde – wohl auch durch den Einsatz von Kollath – Hermann Alois Boehm (1884 – 1962), dem Direktor des Erbbiologischen Forschungsinstituts der Führerschule der Deutschen Ärzteschaft in Alt-­Rehse bei Neubrandenburg 15, eine Honorarprofessur für den Lehrstuhl „Rassenhygiene“ (ab dem Sommersemester 1938 umbenannt in „Erb- und Rassenpflege“) angeboten.16 Bis dahin hatte vor allem der „außerordentliche“ Professor Friedrich Winkler, der ebenfalls am Lehrstuhl von Kollath beschäftigt war, die Themenbereiche mit Veranstaltungen wie „Menschliche Vererbungslehre und Rassenhygiene“ oder „Rassenbiologische Grundlagen des politischen und kulturellen Völkerlebens“ abgedeckt.17 Da die von Boehm angestrebte Übernahme einer ordentlichen Professur letztendlich nicht zustande kam, wechselte er zum 1. Januar 1943 an die Universität Gießen.18 Im Oktober 1944 folgte ihm der Rassenhygieniker Hans Grebe (1913 – 1999) als außerordentlicher Professor und Direktor des neuen „Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene“ an die Universität Rostock.19

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Aus heutiger Sicht ist es nicht immer möglich, zuverlässige Aussagen über die genauen Unterrichtsinhalte zu machen, da die überlieferten Vorlesungstitel häufig nur unzureichende Rückschlüsse auf ihre inhaltlichen Schwerpunkte geben können. Dennoch lässt sich festhalten, dass wohl in fast allen Fachbereichen der Lehrstoff mehr oder weniger auf die Bildungsideale der Nationalsozialisten abgestimmt war. So wurde auch im Fachbereich Anatomie eine Veranstaltung zur „Rassenkunde und Konstitutionslehre“ (Heinrich von Hayek) angeboten, im Fach Innere Medizin lernten die Studierenden etwas über die „Probleme der Luftfahrtmedizin“ (Arthur Jores, für alle Hörer) und in der Chirurgie die Gesichtspunkte zum „Heeressanitätswesen, Sanitätstaktik“ (Heinrich Gißel) kennen.20 Ab 1937 sollte der Aufbau einer obligatorischen luftfahrtmedizinischen Vorlesungsreihe angekündigt werden.21 Entsprechend der örtlichen Verbindung mit Wehrmacht (Reichs-Flakartillerieschule Wustrow) und Flugzeugindustrie (Heinkelwerke) wurden demnach auch lokale geopolitische Gegebenheiten berücksichtigt. Ferner veränderten sich die Schwerpunkte im zeitlichen Verlauf, so dass im Zuge des Zweiten Weltkrieges zunehmend von der „kriegswichtigen Wissenschaft“ gesprochen wurde. In einem Erlass vom Oktober 1940 äußerte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung die Notwendigkeit, Vorlesungen über chemische Kampfstoffe bzw. Kampfstofferkrankungen zu berücksichtigen.22 Auch die spätere Rostocker Universitätswoche vom 22. bis 29. Januar 1944 stand unter der Maxime, jedem Volksgenossen Sinn, Ziel und Zweck wissenschaftlich-­forscherischer Kriegsleistung für das Volksganze aus dem Arbeitsgebiet der einzelnen Hochschulfächer zu vermitteln.23 Dabei sollte in der Hauptsache dem „Außenstehenden“ nahegelegt werden, dass auch „in einer Zeit militärisch höchster Beanspruchung“ die Zurückstellung junger Menschen zum Studium notwendig sei.24 An dieser Stelle ergibt sich die Frage, inwieweit die jungen Studierenden tatsächlich bereit waren, die propagierten Ideale mitzutragen und sich dem angeblichen Gesamtzweck einer Volksgemeinschaft unterzuordnen. Vor allem nach dem Ausbruch des Krieges 1939 rückten die Probleme der ohnehin schon starken außeruniversitären Vereinnahmung durch Arbeitseinsätze, Pflichtleibesübungen und nicht zuletzt durch den bloßen Überlebenskampf in den Vordergrund.

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Abb. 1  Ausschnitt aus dem Personalund Vorlesungsverzeichnis.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Medizinstudenten zwischen ­Universität und Kriegsgeschehen Mit Ausbruch des Krieges wurden vorübergehend alle Hochschulen geschlossen. Rostock zählte zu einer der letzten Universitäten, die ihren Hochschulbetrieb wiederaufnahm. Erst nach dem Wintersemester 1939/40 konnten die Studierenden in die Hörsäle zurückkehren.25 Zur Verkürzung der Ausbildung sollte von nun an eine dreigliedrige Aufspaltung des Studienjahres in Trimester gelten, von der jedoch wegen der deutlichen Mehrbelastung der Lehrenden und Lernenden zum Sommer 1941 bereits wieder Abstand genommen wurde, zumal sich der Abfall des Leistungsniveaus immer deutlicher abzuzeichnen begann.26 Dies hing allerdings auch mit den bereits genannten außeruniversitären Verpflichtungen zusammen, die für die angehenden Mediziner durch den zusätzlichen Krankenpflegedienst besonders belastend waren.27 Ferner verschob sich das Wertesystem für viele Studenten, die ihr Studium gerne so lange wie möglich hinausgezögert hätten, um einem drohenden Fronteinsatz zu entgehen. Der Medizinstudent Josef Gieles etwa, ein Angehöriger des Freundeskreises der Widerstandsgruppe Weiße Rose, hielt 1942 in einem Brief fest: „[…] je mehr ich studiere, je älter ich werde, je näher das Examen rückt, desto mehr tut es mir leid, dass die Sache schon zu Ende gehen soll.“ 28 Zu dem Zeitpunkt waren bereits zahlreiche junge Menschen zum Fronteinsatz eingezogen worden und demnach nur noch vorübergehend „zum Studium abkommandiert“ oder „beurlaubt“. In Rostock betraf dies im Frühjahr 1940 bereits 68,6 % der Erstsemester.29 Folglich lichteten sich die Reihen der männlichen Studierenden, die den Unterricht von da an – wenn überhaupt – nur noch vorübergehend absolvieren konnten.30 Andererseits benötigte das Deutsche Reich mehr denn je ausgebildete Akademiker, allen voran Mediziner und Ingenieure.31 Daher wurden vorzugsweise angehende Ärzte und Techniker zum Studium beurlaubt. Ab 1941 wurden schließlich Medizinstudenten, die beim Heer dienten, zu „Studentenkompanien“ zusammengefasst, d. h. sie durften mit Erlaubnis des Kompaniechefs vorübergehend weiterstudieren.32 In Rostock entstand so eine Heereskompanie, die bereits 1941 138 Studenten umfasste.33 Gegen Ende 1943 wurde eine zweite Studentenkompanie (Med.) aufgestellt 34, die sich später „San. Offz. Erg. Abt. Rostock“ nannte.35 Doch schon im darauffolgenden Jahr beklagte sich der Rektor beim Kommandeur dieser Abteilung, dass sich eine große Anzahl Kompanieangehöriger nicht zum Sommersemester 1944 zurückgemeldet hätten, obgleich die Frist längst abgelaufen sei.36 Die Zahl der Kompaniestudenten reduzierte sich demnach, vermutlich durch den wachsenden Bedarf an Frontsoldaten zum Ende des Krieges. Eine weitere Maßnahme zur Aufrechterhaltung studentischen Lernens im Krieg war die Einführung eines sogenannten „Fernunterrichts“.37 In Rostock zeigte man sich der Idee des Oberbefehlshabers der Luftwaffe gegenüber zunächst eher skeptisch.38 Der Historiker Professor Otto Graf zu Stolberg-­Wernigerode beispielsweise urteilte barsch, „[e]in Fernunterricht in Medizin [sei] ebenso unmöglich, wie man durch Fernunterricht fliegen lernen“ könne.39 Tatsächlich blieb der gewünschte Erfolg weit hinter den Erwartungen zurück. Nach Einschätzungen des Dekans der Medizinischen Fakultät kamen kaum Antworten auf die Schreiben der Universität zurück, vielmehr hätten die meisten Angeschriebenen sich die Fernbetreuung so gedacht, „dass man ihnen einen Weg zeigen sollte, wie sie zum Medizinstudium abkommandiert werden könnten.“ 40 Dessen ungeachtet wurde das Projekt weitergeführt: Hatte die Universität Rostock im Mai 1942 noch 116 an der Front stehende Studenten (davon 29 Mediziner) betreut 41, erhöhte sich ihre Zahl im darauf-

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folgenden Jahr bereits auf 198 Soldaten 42 und im April 1944 sogar auf 264 Teilnehmende, wovon allein 88 den Arztberuf anstrebten.43 Insgesamt galt die Tatsache, dass diese Form des Unterrichts in keiner Weise ein reguläres Studium ersetzen konnte. Auch die Planung nachträglicher Prüfungen zur Anerkennung von Semestern wurde schließlich aufgegeben, so dass das Projekt am Ende kaum mehr als eine Einführungsmöglichkeit in das zukünftige Studium blieb.44 Doch nicht nur die Fernbetreuung, auch die Lehre der „zum Studium abkommandierten“ Hochschüler stellte die Lehrkräfte vor neue, gewichtige Herausforderungen. Folglich war die Professorenschaft immer wieder darum bemüht, eine allgemeingültige Regelung des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW ) zu erwirken, um der nach Belieben erteilten und häufig zeitlich unzureichenden Urlaubserlaubnis einzelner Truppenteile entgegenzutreten.45 Als dies nicht gelingen wollte, versuchte man den „tropfenweise“ von der Front kommenden Hochschülern durch wiederholte Einführungsvorlesungen einen bestmöglichen Einstieg zu bieten. Gleichwohl – so urteilte schließlich der Rostocker Dermatologe Ernst Heinrich Brill – sei der „Eifer [zwar] sehr groß“, aber es fehle „das Auffassungsvermögen“.46 Hinzu kam, dass bei vielen Betroffenen kurz vor ihrem Fortgang an die Front auch der Fleiß nachließ.47 Die Angst vor dem Kriegsgeschehen, das für die Meisten zum Überlebenskampf wurde, entwertete schließlich die Bedeutung des Lernens. Demnach gelang es den Lehrkräften trotz zusätzlicher Einführungs- und Nachtragsvorlesungsangebote sowie der genannten Fernbetreuung nicht, die Lücken, die bei den meisten Kriegsstudenten eingerissen waren, zu schließen. Dabei wurde der dafür aufgewendete Arbeitsanstieg für viele Professoren zur Belastungsprobe. Bereits im Frühjahr 1942 hob Brill hervor, dass allein das Schreiben der Briefe an die Soldaten einen erheblichen Zeitaufwand bedeute, der neben der anderen Arbeit kaum noch zu leisten sei.48 Nichtsdestotrotz sollte sich das Angebotskontingent durch zusätzliche Kurse für Kriegsteilnehmer 49 in den Semesterferien sowie einer „Fachlichen Grundausbildung“ 50 noch verstärken, wobei die Teilnehmerzahlen enttäuschend gering blieben. Der Verantwortliche für die Grundausbildung in Rostock, Dr. Gustav Lange, gab zu, dass „das Bedürfnis für die fachliche Grundausbildung […] im Zeichen des totalen Krieges, wie nicht anders zu erwarten, gering“ wäre.51 Hinzu kam, dass auch infolge der starken Inanspruchnahme der Studierenden durch Pflichtvorlesungen, Leibesübungen und Arbeitseinsätze ein Interesse für Lehrveranstaltungen, deren Besuch freigestellt war, verständlicherweise dürftig ausfiel.52

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Abb. 2  Aufnahme der Krämerstraße im Jahre 1942, nach den Luftangriffen durch die britische Royal Airforce.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Abb. 3  Hans Moral um 1932. Unter der Leitung Morals war die Universitätsund Poliklinik für Mund- und Zahnkrankheiten der Universität Rostock zu einer der renommiertesten Einrichtungen der Zahnmedizin in Deutschland aufgestiegen

Alles in allem konnte die Professorenschaft nur eingeschränkt Abhilfe schaffen, zumal sich die Rahmenbedingungen immer mehr verschlechterten. Schon auf den Senatssitzungen von 1942 monierten viele Lehrkräfte die unzureichend zur Verfügung stehenden Hilfskräfte und Lehrmittel.53 Allein die Wiederbesetzung von Lehrstühlen gestalte sich – schon wegen der frühen Bombenangriffe (ab April 1942) – als schwierig54 (Abb. 2). Ebenso fanden Studierende immer schlechter Unterkünfte, so dass die Universität in sämtlichen Zeitungen und Kinos um entbehrliche Zimmer für Studenten warb 55. Hinzu kamen knapper werdende Nahrungsmittel und Kleidung. Ferner hatte die Rostocker Universität – wie vielerorts – mit unzureichender Stromversorgung und fehlendem Heizmaterial zu kämpfen. An der Medizinischen Fakultät wurde in den letzten Kriegswochen der Leichenwagen der Anatomie auf „Holzgas umgebaut“, so dass er „für Transporte von Akten, Büchern usw. zur Verfügung“ stand.56 Ende 1944 erging ein Rundschreiben des Rektors, Professor Kurt Wachholder (1893 – 1961)57, an alle Fakultätsmitglieder der Rostocker Universität mit der Bitte, „die Vorlesungen und Übungen soweit wie nur möglich, auf die Tagesstunden zu konzentrieren“, um Strom- und Heizkosten zu sparen.58 Hinzu kamen fehlende Bücher, geschlossene Bibliotheken, zerstörte Gebäude, überlastete Professoren und traumatisierte Studenten.59 Auf der 525-Jahrfeier der Universität im November 1944 gedachte Wachholder bereits 112 an der Front gefallener Angehöriger der Universität.60 Dennoch blieb der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund, der sich in Rostock im Dezember 1928 als studentische Gliederung der Partei gegründet hatte, bis zum Schluss in seiner Funktion bestehen. Vermutlich war es für die körperlich wie seelisch zerrütteten Studierenden, die häufig als „Kriegsversehrte“ in die Hörsäle zurückkehrten, kaum zu ertragen, ihr Tun an der Front als vergeblich zu akzeptieren.61 Anderseits dürfte sich bei vielen Hochschülern mit zunehmender Kriegsdauer und der damit einhergehenden militärischen Okkupierung wohl eine Art Politikmüdigkeit ergeben haben, die im auffallenden Widerspruch zur anfänglichen Dynamik der NS -Studenten steht.

„Der Politische Student“ – Ausschreitungsaktionen Obgleich sich die Ziele der nationalsozialistischen Hochschulpolitik erst um 1936 endgültig herauszubilden begannen, zeigte sich bereits kurz nach der Machtergreifung eine politische Zäsur im Bereich der Personal- und Berufungspolitik sowie der Immatrikulationszulassungen. Dabei wurde ein radikaler Antisemitismus zum wesentlichen Bestandteil im umfassenden Umstrukturierungsprozess nach den Prinzipien der Gleichschaltung und der Führertreue. Mithilfe von Gesetzen legten die Machthaber fest, wer als Jude bzw. Mischling verschiedenen Grades zu gelten hatte und somit in das Raster der „politischen Auslese“ fiel. In Rostock zählen die jüdischen Professoren Hans Moral (1885 – 1933, Abb. 3) und ­David Katz (1884 – 1952, Abb. 4) zu den bekannten frühen Opfern der Säuberungsaktion.62 Durch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 konnten nun jüdische Bürger, so auch Wissenschaftler und Ärzte, aus den Universitäten und Krankenhäusern entfernt werden.63 Schon bald wurden ihnen die Kassenzulassungen entzogen. Fünf Jahre später setzten die Nationalsozialisten mithilfe der vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz den Entzug der Approbation durch, was einem Berufsverbot gleichkam.64 An der Medizinischen Fakultät entfaltete sich wie an allen Fakultäten der „nationalsozialistisch-ideologische Geist“. Zahlreiche Studierende bekundeten ihre Sympathie mit

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Hitler und seiner Regierung durch den Eintritt in die NSDAP sowie ihre Gliederungen, allen voran dem „Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund“ (NSDS tB) und der „Sturmabteilung“ (SA ). Dementsprechend hatten sich zum Ende des Jahres 1933 allein 71 % aller männlichen Studierenden in der SA organisiert.65 Auch dem NSDS tB trat innerhalb kürzester Zeit mehr als die Hälfte der männlichen Gesamtstudentenschaft bei, d. h. die Mitgliederzahlen stiegen von 123 im Januar 1933 auf 844 bis zum Ende des Jahres, wobei sich ihr Anteil nahezu gleichmäßig aus Vertretern aller Fakultäten zusammensetzte.66 Insofern waren die Studierenden der Medizinischen Fakultät – jedenfalls in Rostock – nicht überproportional in den nationalsozialistischen Organisationen vertreten.67 Im weiteren Verlauf sollte sich vielmehr zeigen, dass sie – gleich ihren Kommilitonen aus den anderen Fachbereichen –, ernüchtert über die politischen Entwicklungen, immer seltener einer Gliederung der Partei beizutreten bereit waren.68 Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass sich viele junge Menschen nach der anfänglichen Euphorie der ersten Monate bald mit der ernüchternden Realität konfrontiert sahen, systematisch vereinnahmt worden zu sein.69 Der rückläufige Trend verstärkte sich noch einmal – bei den Männern wie Frauen gleichermaßen 70 – nach Ausbruch des Krieges, der eine Werteverschiebung durch die schlechter werdenden Lebensbindungen bis hin zum Überlebenskampf mit sich brachte. Einzig die NSDAP konnte ihr Ansehen wahren. Hier blieben die Eintrittszahlen bis 1945 annährend gleich stark.71 Dennoch steht, rückblickend betrachtet, die Abkehr vieler Studierender von den NS -Organisationen in einer markanten Divergenz zu den anfänglichen Erwartungen, getragen von der stürmischen Euphorie, die einige Hochschüler zeitweilig zu übereifrigen, grenzüberschreitenden Handlungen trieb. Unmittelbar nach der Machtergreifung wurde zunächst der NSDS tB, der in Rostock wie vielerorts bereits 1930 zur stärksten Studentengruppe avanciert war 72, zum Ansprechpartner für die gleichgeschalteten Kultusministerien. Nachdem sein Reichsführer, Oskar Stäbel (1901 – 1977), die „Einführung des Numerus clausus für Juden“ propagierte und gleichzeitig zum Boykott jüdischer Hochschulangehöriger zum 1. April 1933 aufgerufen hatte, herrschte an den meisten Universitäten der Ausnahmezustand.73 An der Medizinischen Fakultät Rostock hatte sich vor allem der Zahnmediziner Hans Moral 74 einer aufgebrachten Gruppe von NS -Studenten zu erwehren. Sein späterer Nachfolger, Max Matthäus Reinmöller (1886 – 1977), erinnerte sich: Es ging so weit, daß Fenster, Türen, Praxisschilder und sonstiges in den Nächten zerschlagen wurden. Moral selbst wurde öfters des Nachts grundlos telefonisch geweckt, seine Hausklingel stundenlang in Bewegung gehalten. Es kam sogar soweit, dass ihm öffentlich gedroht wurde, und es ist sehr oft vorgekommen, dass ich oder sonst irgendein Mitarbeiter aus der Klinik ihn, namentlich im Winter 1932/33, nach Hause begleiten mussten.75

Im August 1933 nahm sich Moral das Leben, gleich dem deutsch-­jüdischen Medizinalpraktikanten der Rostocker Kinderklinik, Gustav Posner (1906 – 1933), der sich am 8. Juli 1933 erhängt hatte.76 Auch der Medizinprofessor Georg Ganter (1885 – 1940) fiel den politischen Umständen zum Opfer. Er wurde im Herbst 1935 vorzeitig aus dem Hochschuldienst entlassen, da er trotz des Verbotes jüdische Patienten in seiner Klinik behandelte.77 Am Ende verlor die Rostocker Fakultät hochgeschätzte Wissenschaftler. In dieser ersten Phase der inneruniversitären Umgestaltung traten vor allem die Studierenden selbstbewusst und kämpferisch auf. Sie sahen ihre Chance auf mehr Mitbestimmung und Mitgestaltung gekommen, dabei hatten die Kultusminister nie vor, sie maßgeblich an der hochschulpolitischen Lenkung teilhaben zu lassen. Vielmehr wurden nun die Rektoren als Ansprechpartner und Führungsfiguren aufgebaut. In Rostock war der

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Abb. 4  David Katz um 1930. Katz war 1919 auf den neu gegründeten Lehrstuhl für Psychologie und Pädagogik der Universität Rostock berufen worden. 1933 entlassen, ging Katz mit seiner Frau Rosa schließlich nach Schweden. Er gilt als Begründer der Psychologie an der Universität Stockholm. Das Jahr 1919 gilt als das Gründungsjahr des Instituts für Pädagogische Psychologie an der Universität Rostock.

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Rektor, Paul Schulze (1887 – 1949), bereits im Juni 1933 wegen anhaltender Streitigkeiten zwischen Vertretern der Theologischen Fakultät und ihren nationalsozialistischen Kommilitonen mit außerordentlichen Befugnissen ausgestattet worden.78 Am Ende sollte sich das radikale politische Klima, das durch studentische Ausschreitungen wie die „Aktion wider den undeutschen Geist“ oder die Boykottaktionen getragen wurde, durch gezielte Repressionen „von oben“ wandeln.79 Eine Zeitenwende markiert auch die schrittweise, bürokratisch unterfütterte und nun deutlich lautlosere Vertreibung jüdischer Studierender aus den Medizinischen Fakultäten. Als die Studentenrechtsverordnung im April 1933 schließlich die nach dem Führerprinzip strukturierte Deutsche Studentenschaft (DS t) als alleinige Gesamtvertretung aller Studierenden „deutscher Abstammung und Muttersprache“ legitimierte, bedeutete dies auch die Gleichschaltung der medizinischen Fachschaften.80 In diesem Sinne lösten sich – mit Ausnahme des NSDS tB – schon bald alle hochschulpolitischen Gruppierungen wie der Verband Deutscher Medizinerschaften (VDM ) auf.81 In Rostock trieb der NSDS tB unter der Leitung des Hochschulgruppenführers Werner Rühberg (1907 – 1985) seinerseits den Rücktritt des alten Vorstandes voran und begann mit der Neubesetzung NS -konformer Vertreter.82 Durch den personellen Zusammenschluss des Nationalsozialistischen Studentenbundes mit der Deutschen Studentenschaft sollte ferner eine Befriedung um die Zuständigkeitsbereiche erreicht und eine bessere Kontrolle gesichert werden. Bis dahin hatten viele einzelne Organisationen einen direkten Eingriff auf die Hochschulpolitik angestrebt, woraus sich nicht selten Kompetenzkämpfe ergaben, die ein Durcheinander von Zielsetzungen und Beschlüssen zur Folge hatten. Spätestens mit der Errichtung des REM wurde schließlich eine zentrale Stelle geschaffen, die als maßgebende Instanz allgemeingültige Richtlinien veranlassen konnte. Von offizieller behördlicher Seite erfolgte nun auch die Verfolgung der Juden an den deutschen Hochschulen, die neben den leidvollen Anfeindungen durch Kommilitonen oder Kollegen ferner im zunehmenden Maße durch diskriminierende Gesetze und Verordnungen ausgegrenzt und vertrieben wurden.

Immatrikulationsbeschränkungen und Vertreibung: das Profil der Studentenschaft an der Medizinischen Fakultät Mithilfe des „Gesetz(es) gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen“ vom 25. April 1933 wurden reichsweit Zulassungsbeschränkungen geregelt, die vor allem jüdische Nachwuchsakademiker aber auch Frauen treffen sollten.83 Von nun an durfte die prozentuale Anzahl der neuimmatrikulierten Juden keinesfalls den jüdischen Anteil in der deutschen Bevölkerung (damals ca. 1,5 %) übersteigen. Für bereits immatrikulierte Betroffene galt das maximale Kontingent von 5 %.84 In Rostock studierten im Sommersemester 1933 insgesamt noch 28 jüdische Hochschüler (einschließlich der sogenannten „Halbjuden“). Damit lag ihre Quote weit unter dem veranschlagten Höchstsatz.85 Dies veranlasste das Ministerium für Unterricht in Mecklenburg-­Schwerin wohl zu der Angabe, dass es „nicht im Interesse der Universität“ liegen könne, den Anteil jüdischer Hochschüler zu erhöhen.86 Daraufhin wurden zunächst alle jüdischen Anwärter in einer besonderen Liste nur als vorläufig immatrikuliert festgehalten, bis nach Rückmeldung der jeweiligen Fakultät ein interner Immatrikulationsausschuss über die endgültige Zulassung entschieden hatte.87 Vor allem versuchte man hierdurch zu verhindern, dass sich die nach dem neuen Gesetzentwurf betroffenen jüdi-

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schen Hochschüler, die nun gezwungen waren, ihre Universität zu verlassen, in Rostock einschrieben.88 Tatsächlich nahm die Zahl der entsprechenden Antragsteller nach dem April 1933 vehement zu. Die Mehrheit von ihnen kam aus Berlin und hegte den Wunsch, sich an der Rostocker Medizinischen Fakultät einschreiben zu können.89 Nach Angaben Michael H. Katers war der Anteil der jüdischen Studierenden bereits gegen Ende der Weimarer Republik vor allem in diesem Bereich überdurchschnittlich hoch.90 In den meisten Fällen wurden die Gesuche abgelehnt,91 häufig mit der Begründung, dass es für Juden nicht ratsam sei, sich an einer so kleinen Universität einzuschreiben.92 Dies mag wohl auch ein Grund dafür gewesen sein, dass von den eingangs 28 jüdischen Hochschülern zum Wintersemester 1933/34 bereits 18 die Rostocker Universität verlassen hatten.93 Im darauffolgenden Semester verblieben an der Mecklenburgischen Landesuniversität nur noch vorübergehend einzelne ausländische Juden und „Mischlinge 2. Grades“ 94, so beispielsweise im Wintersemester 1936/37, in dem sich vier sogenannte „nichtarische“ Studierende an der Medizinischen Fakultät eingeschrieben hatten. Drei von ihnen verließen jedoch die Universität bereits im Dezember wieder.95 Die Gründe für die vorzeitige Unterbrechung können hier nur spekulativ aufgezeigt werden. So dürften Anfeindungen nationalsozialistisch-­ideologisierter Kommilitonen oder Benachteiligungen im Unterricht durch Dozenten nicht auszuschließen sein. Dies betreffend hatte das Mecklenburgische Ministerium bereits im Sommer 1933 eingeräumt, dass es „unter den jetzigen Spannungen innerhalb der Studentenschaft“ für Nichtarier wünschenswerter sei, eine größere Universität aufzusuchen, da „Belästigungen nicht immer zu verhindern seien“.96 Fakt ist, dass die wenigen an den Universitäten verbliebenen Hochschüler sich fortlaufender diskriminierender Maßnahmen zu erwehren hatten. So wurden sie sukzessiv von der Approbation, der Promotion und der Famulatur ausschlossen (Abb. 5).97 Hinzu kamen Streichungen von Gebührenerlassen und Stipendien.98 Am Beispiel der in Rostock eingeschriebenen Jüdin Regina Fischelsohn wird klar, dass die zum Teil voneinander abweichenden Reglementierungen oder auch Umsetzungsmaßnahmen nicht selten Probleme nach sich zogen. Folglich kollidierte die für Mediziner geforderte Famulatur mit der Aussage des Regierungsbevollmächtigten, Juden dürften grundsätzlich nicht zur Behandlung von Kranken in den Kliniken zugelassen werden.99 Am Ende wurde der jungen „Halbjüdin“ die Beendigung des Studiums nicht verwehrt, wohl auch deshalb, weil sie keine „Volljüdin“ war, darüber hinaus bereits seit 1931 in Rostock studiert hatte 100 und ihre Auswanderungsabsicht nach dem Examen unterstrich 101 (Abb. 6, 7). Nach der sogenannten Pogromnacht im November 1938 wies Rust die Rektoren aller Hoch- und Fachschulen – so auch in Rostock – dazu an, inländischen jüdischen Studierenden die Teilnahme an den Vorlesungen und das Betreten der Universitätsgebäude zu untersagen.102 Angesicht dieser Maßnahme war ein Studieren für die wenigen an den Universitäten verbliebenen Juden nicht mehr möglich. Nach 1939 richteten sich die Erlasse und Bestimmungen auch gegen die bis dahin noch weitgehend verschont gebliebenen „Mischlinge“.103 Neben dieser Gruppe wurden auch Immatrikulationsbeschränkungen für Frauen verhängt. Auf der Grundlage des Gesetzes vom 25. April 1933 sollte die Zahl der Studienanfänger auf maximal 15.000 begrenzt werden, wovon lediglich 10 % weiblich sein durften.104 Folglich reduzierte sich an der Rostocker Universität der Anteil der Studentinnen sichtbar. Entsprechend fielen die Zahlen der weiblichen Neuzugänge gemessen an den männlichen Kommilitonen von 24 % im Sommersemester 1933 auf 12,7 % zum Wintersemester 1935/36.105 Eine Kehrtwende dieses absteigenden Trends zeichnete sich erst nach Ausbruch des Krieges ab, der einen wachsenden Bedarf möglichst aller verfügbaren Arbeitskräfte nach sich

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Abb. 5  Promotionsordnung der Medizinischen Fakultät Rostock von 1938, Juden durften fortan nicht mehr an der Fakultät promovieren.

zog und einen Anstieg von Studenteninnen auf 31,9 % im zweiten Trimester 1940 bis hin zu 55,8 % zum Sommersemester 1942 begünstigte. Die meisten von ihnen schrieben sich an der Medizinischen Fakultät ein.106 Gemeinhin zählte die Rostocker Medizinische Fakultät in der Zeit des Nationalsozialismus zur hochschüler- und gebäudeentwicklungsstärksten Fakultät. So war unter anderem der Ausbau der Augenklinik und der Ohrenklinik vorangetrieben worden. Weiterhin wurde nach 1933 eine Erweiterung der Frauenklinik 107 sowie der Neubau der Zahnklinik und der Kinderklinik umgesetzt.108 Eine völlige Erneuerung der Kliniken, beginnend mit der Dermatologischen Klinik, sollte sich den Verbesserungsmaßnahmen anschließen, wurde jedoch vom Ausbruch des Krieges vereitelt.109

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Abb. 6  Regina Fischelsohn (ca. 1931).

Abb. 7  Matrikelbuch mit Einschreibung von Regina Fischelsohn zum Sommersemester 1931.

„Die großen ‚Gewinner‘ des ‚Dritten Reiches‘“, so konstatierte Konrad H. Jarausch „waren die Mediziner“.110 Auch in Rostock stieg der Anteil der Medizinstudierenden von 53,7 % im Sommersemester 1933 auf 73,65 % zum ersten Trimester 1940. In den kommenden Kriegssemestern konnte diese ungewöhnlich hohe Studentenpräsenz gehalten werden.111 Für viele hing die Wahl für die Aufnahme eines Medizinstudiums jedoch nicht unbedingt mit den Neigungen zusammen, sondern war eher dem Ziel geschuldet, dem drohenden Einsatz an der Front zu entkommen.

Schlussgedanken Hält man sich noch einmal die anfänglichen Erwartungen der Studierenden vor Augen, die sich mehr Mitsprache an hochschulpolitischen Entscheidungen, bessere Lernbedingungen und Förderprogramme erhofft hatten, so bleibt die Bilanz ernüchternd. In den Jahren der Weimarer Zeit waren viele Studierende durch die Inflation, die Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit politisch verunsichert und materiell unterversorgt.112 Den Weimarer Regierungen trauten sie – wie viele Bevölkerungsteile – keine Wende zum Besseren mehr zu. Insofern hatten sich bei großen Teilen der Studentenschaft bereits in dieser Zeit wachsende nationalistische Tendenzen herausgebildet, die nicht selten mit antisemitischen Ressentiments verbunden waren.113 Anzumerken bleibt an dieser Stelle, dass auch inhaltliche Themenbereiche wie die Rassenhygiene keineswegs erst nach 1933 ins Bewusstsein der Zeitgenossen traten, sie waren bereits vorher Bestandteil des Unterrichts an der Medizinischen Fakultät. So bot Hans Reiter 114 (1881 – 1969)115 beispielsweise schon im Sommersemester 1930 eine Veran-

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staltung für die Hörer aller Fakultäten mit dem Titel: „Fortpflanzung und Rassenhygiene“ an.116 Zu klären bliebe an dieser Stelle, inwieweit hier schon antisemtisch-­rassistische Tendenzen einflossen, wie sie später von den Nationalsozialisten propagiert wurden.117 Dies lässt sich im Nachhinein nur unzureichend klären.118 Spätestens nach der Machtergreifung sollten die Studierenden zur Erfüllung der neuen medizinischen Ideologie, d. h. zur gesundheitlichen Fürsorge des „deutschen Volkes“ herangebildet werden. In diesem Zusammenhang wurde im Medizinstudium die „Exklusivität“ der arischen Rasse hervorgehoben, die „erbkranke“, „jüdische“ und in gewisser Weise auch „ausländische“ Menschen ausschloss. Dementsprechend wurden eine Reihe von Pflichtveranstaltungen eingeführt, die dies zum Inhalt hatten. Ferner hatten die Studierenden weitere, umfassende Verpflichtungen zu leisten wie den Reichsarbeitsdienst, den Krankenpflegedienst, den Land- oder Fabrikdienst, die studentische Dienstpflicht, die sportliche Grundausbildung und im Fall des Medizinstudiums auch die Pflichtfamulatur sowie in den späteren Jahren den Kriegshilfsdienst. In Anbetracht dieser Fülle wogen die Belastungen schwer, weshalb sich auf der anderen Seite eine Art Politikmüdigkeit bei vielen durchzusetzen begann und ferner die Tendenz, kurze Momente der Zerstreuung zu suchen und ungebremst auszuleben. Insofern häuften sich Beschwerden wegen undisziplinierten Verhaltens, so beispielsweise auch beim „Winterfest“ der Rostocker Mediziner im Dezember 1937. Wegen des großen „Tumults“ und des lauten Gekreisches, wie es „in dieser Art sonst nur aus Nachtlokalen zu hören“ war, verließ der Dekan verärgert die Veranstaltung, ohne seine übliche Rede gehalten zu haben.119 Am Ende blieben für das Studium in der NS -Zeit letztlich die zahlreichen Verpflichtungen, denen man nachkommen musste, entscheidend.

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Benz/Graml/Weiß 1997, S. 10 – 14. Auf landespolitischer Ebene wurde am 13. Dezember 1935 die „Reichsärzteordnung“ verabschiedet, die wiederum 1936 die „Reichsärztekammer“ ins Leben rief, an deren Spitze der „Reichsärzteführer“ stand. Hierdurch wurden Ärzte aus der Gewerbeordnung herausgenommen und zur Zwangsmitgliedschaft genötigt. Dazu Möhrle 1996, Bl. A-2768 (46). Köhler 2013, S. 21. Siehe dazu auch das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933, RGBl. 1933, Teil I, S. 529. Gesetz vom 3. Juli 1934, RGBl. 1934, Teil 1, S. 531. Gesetz vom 15. September 1935, auch bekannt unter dem Namen „Blutschutzgesetz“. Es zählte zu den „Nürnberger Rassegesetzen“, die auf dem 7. Parteitag der NSDAP beschlossen worden waren. RGBl. 1935, Teil I, S. 1146.

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Ab 1934 erhielten nur noch „Reichsbürger“ die Approbation. Siehe dazu die Verordnung über die Änderung der Prüfungsordnung für Ärzte, der Prüfungsordnung für Zahnärzte und der Prüfungsordnung für Apotheker, 5. April 1934, RMBl. 1934/15; Köhler 2013, S. 25 und 55. 7 van den Bussche 1989a, S. 65 ff. 8 Köhler 2013, S. 26; bezieht sich hierbei auf van den Bussche 1989b, S. 117 – 128, hier S. 122. 9 Zur Errichtung des Reichsministeriums: RGBl. 1934, Teil I, S. 365; Kasper/Huber u. a. 1942, S. 5 und 34 f. 10 Die Reformbestrebungen des REM zeigen beispielhaft, dass es vor allem in den Anfangsjahren auch Rivalitäten zwischen der Partei und den zuständigen staatlichen Stellen gab. Der Reichsärzteführer Gerhard Wagner (1888 – 1939), der bis dahin das Reformkonzept der Partei vorantrieb, soll sich daraufhin auf Themen der ärztlichen Fortbildung und Fach-

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schaftsarbeit konzentriert haben. van den Bussche 1989b, S. 122. Änderung der Prüfungsordnung für Ärzte vom 25. März 1936, RMBl. 1936/13, S. 55. Viereck 2012, S. 107 – 113. Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Universität Rostock, 2. Trimester 1940, S. 55. Im ersten Semester nach seiner Berufung unterrichtete er das Fach noch zusammen mit seinem Fachkollegen Prof. Dr. Friedrich Winkler. Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Universität Rostock, Wintersemester 1936/37, S. 42. Die Führerschule der Deutschen Ärzteschaft war am 1. Juni 1935 eröffnet worden. Hier wurden vor allem Ärztefunktionäre, aber auch andere Ärzte bzw. Ärztinnen in zwei- bis vierwöchigen Kursen parteipolitisch geschult. Möhrle 1996, Bl. A-2770 (48). Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Universität Rostock, Wintersemester

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1937/38, S. 44 und 2. Trimester 1940, S. 24. Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Universität Rostock, Wintersemester 1935/36, S. 35. Zapnik 1999, S. 47 – 50. In den Vorlesungsverzeichnissen ab Sommersemester 1943 wurde Grebe als Lehrender geführt, der „mit [der] Vertretung beauftragt“ worden war. Dazu Personal- und Vorlesungsverzeichnisse der Universität Rostock, Sommersemester 1943–Sommersemester 1945. Zu Institutsgründung Viereck 2012, S. 109. Für die Errichtung des Instituts hatte sich auch wiederholt Gauleiter Friedrich Hildebrand ausgesprochen, der dafür lieber Lehrstühle der Theologen abgeschafft sehen wollte. LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 1453, Bl. 84; Akte 1334, Bl. 102 und 166; Akte 632: Protokoll einer durch den Gauleiter anberaumten Sitzung im Amtszimmer des Rektors im Februar 1943; Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Universität Rostock, Wintersemester 1944/45, S. 21. UAR: Vorlesungsverzeichnis zum Wintersemester 1935/36. UAR K5a/62: Schreiben des Ministeriums in Schwerin vom 27. Juli 1937. LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 1199, Bl. 2 – 4. Rostocker Anzeiger vom 21. Januar 1944, „Kriegswichtige Wissenschaft“. Rostocker Anzeiger vom 22. Januar 1944, „Forscher, Soldat und Arbeiter in einer Front“. Zum Januar 1940 (Vorlesungsbeginn am 8. Januar) eröffnete die Universität ihren Lehrbetrieb erneut. Dazu UAR R11B1/2: Schreiben des Rostocker Universitätssekretärs, Karl Hans Krüger, vom 20. Dezember 1939. Lediglich die Universitäten in Wien, Leipzig, Jena und Berlin hatten schon im September 1939 den Lehrbetrieb wieder aufnehmen dürfen. Huber 1940, S. 18; Hoppe 1942, S. 12 – 29; Heiber 1991, S. 250. Der Krankenpflegedienst war nach der Bestallung für Ärzte vom 17. Juli 1939 für sämtliche Studierende der Medizin vorgeschrieben. Dazu LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 1453, Bl. 263, RGBl., Teil I, 1937, S. 1273. Für die Einführung hatte die Studentenschaft, Amt med. Fachschaft, mit Unterstützung des Rektors, Prof. Dr. Brill, bereits im Vorfeld gekämpft.

Dazu UAR K13/224: Schreiben des Rektors vom 23. Februar 1937. Über die Richtlinien zur Ableistung des Krankenpflegedienstes herrschte an der Rostocker Universität zuweilen Uneinigkeit. Aus einem Schreiben vom Juli 1940 geht hervor, dass ein dreimonatiger Dienst vor Beginn des Studiums als Immatrikulationsvoraussetzung von allen angehenden Medizinstudenten abverlangt wurde. Ein anderer Brief des Studentenführers wies jedoch darauf hin, dass diese Handhabung nur für Wehrdienstuntaugliche gelte, während die wehrtauglichen Kommilitonen erst am Ende der Dienstzeit dazu hinzugezogen werden sollten. Faktisch war die Umsetzung jedoch von Hochschule zu Hochschule verschieden und wurde darüber hinaus an einigen Universitäten erst gar nicht praktiziert (so beispielsweise in Göttingen und Münster) bzw. als Studienvoraussetzung abverlangt. Der Vater eines betroffenen Studienanwärters, Bruno Greiner, machte den Rostocker Oberinspektor Jördens auf diese Unstimmigkeiten aufmerksam. Im Zuge dessen verständigte der Rektor das Reichserziehungsministerium darüber, dessen Reaktion aus den Quellen leider nicht mehr hervorgeht. In einer Pressenotiz meinte der Oberinspektor schließlich erfahren zu haben, dass eine „sofortige freiwillige Meldung“ als richtungsweisend zu gelten habe. Trotzdem hielt die Universität Rostock vorläufig an ihrer bisherigen Regelung fest. Gegen Ende des „Dritten Reiches“ wurde ein viermonatiger Krankenpflegedienst erst im Zuge der Physikumsanmeldung verlangt. Dazu UAR 11B1/7: Schreiben des Rostocker Studentenführers vom 18. Juni 1940; Schreiben Bruno Greiners aus Bremen vom 18. Juli 1940; R11B1/7: Schreiben Bruno Greiners aus Bremen vom 18. September 1940; Schreiben des Sekretärs der Universität vom 21. September 1940; Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Universität Rostock, Sommersemester 1945, S. 10. 28 Gieles 1992, S. 191, Eintragung vom 8. Januar 1942. 29 UAR R11B1/4: Schreiben des stellvertretenden Rektors vom 29. März 1940. 30 Propagandistisch überhöht dargestellt in Scheel 1941, S. 5; Rostocker

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Anzeiger vom 25. Januar 1943, „Der Student im Kriegseinsatz“. UAR R2Q2: Mitteilung und Bekanntgabe des „Soldatendienstes des Reichsstudentenführers“ vom Januar 1944, S. 3. Köhler 2013, S. 291. Im Zuge dessen bat der Studentenschaftsführer den Rektor darum, die von ihm vorgeschlagenen 300 Zimmer beim Oberbürgermeister für die Beschlagnahme zurückstellen zu lassen. UAR R14D2: Schreiben des Studentenführers vom 22. August 1941. Diese sollte am 25. November 1943 in Rostock eintreffen. Geplant war im Zuge dessen die Unterbringung von rund 70 Kompanieangehörigen sowie die Einrichtung von zwei Schreibstuben im Studentenheim am Rosengarten. UAR K14/566: Schreiben der Studentenkompanie (Med.) Rostock vom 23. November 1943 und vom 3. Dezember 1943; UAR R2K2: Schreiben vom 30. November 1943; dazu auch UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 25. März 1943. UAR R2K2: Schreiben der Studentenabteilung Med. vom 4. April 1944. Eine verspätete Rückmeldung sollte jetzt nur noch angenommen werden, wenn der Betreffende eine Bescheinigung des Kommandeurs vorlegen konnte. UAR R2K2: Schreiben des Rektors vom 26. April 1944. Hoppe 1942, S. 12 – 29, S. 12 f.; LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 2582: Schnellbrief des REM vom 18. Februar 1943. Der Fernunterricht sollte in erster Linie für Studenten in Frage kommen, die einer Geisteswissenschaftlichen Fakultät angehörten. UAR R2Q3: Schreiben des Oberbefehlshabers der Luftwaffe vom 11. September 1941. Am 20. Oktober 1941 antwortete der Rektor, dass die Universität bereit sei, „die Bestrebungen des Oberbefehlshabers der Luftwaffe zu unterstützen und an dem Fernunterricht für die Angehörigen der Luftwaffe in jeder Weise mitzuwirken“. UAR R2K2: Schreiben des Rektors vom 20. Oktober 1941. Die Studienbetreuung erfolgte durch die Studentenführung, den Beratungsdienst des Studentenwerkes und die Hochschule. UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 9. März 1942, S. 5.

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40 UAR R2Q3: Schreiben des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 22. August 1942; dazu auch UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 8. Dezember 1943. 41 UAR R2Q3: Schreiben des Rektors an das REM vom 19. Mai 1942. 42 UAR R2Q3 und K13/989: Schreiben des Rektors an das REM vom 22. März 1943. 43 UAR R4C8/3: Schreiben des Rektors vom 13. April 1944. Im September 1943 wuchs der Anteil der zu betreuenden Kriegsteilnehmer sogar übergangsweise auf 310 Personen an. Dazu UAR R2Q3 und K13/989: Schreiben des Rektors an das REM vom 24. September 1943. Eine Darstellung der Zahlen ist nur punktuell möglich, da der Anteil der Fernimmatrikulationsteilnehmer – bzw. derer, die als solche angemeldet waren – stetig variierte. Dies geht auch aus den hierfür von der Universität auszufüllenden Listen hervor, in denen zahlreiche Streichungen, Zurücknahmen der Streichungen usw. vorgenommen wurden. In manchen Fällen wusste die Lehrerschaft nicht, ob der Student noch lebte oder einer anderen Einheit angehörte. Dennoch zeigen die im Text dargestellten Zahlen, dass ein tendenzieller Zuwachs an zu betreuenden Teilnehmenden stattfand. UAR R11B1/7: mehrere Listen, die über den Stand der Fernimmatrikulation berichten. 44 Dazu Raith 2006, S. 561 – 579 und 568. 45 UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 22. Januar 1942; Senatssitzungsprotokoll vom 9. März 1942, S. 2. 46 UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 9. März 1942, S. 4. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch der Historiker Norbert Giovannini bei seinen Untersuchungen zur Universität Heidelberg. Giovannini 1990, S. 220. 47 Diese Beobachtung wurde auf einer Senatssitzung vor allem vom ehemaligen Rektor, Prof. Dr. Paul Schulze, hervorgehoben. UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 9. März 1942, S. 4. 48 UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 9. März 1942, S. 5. Dementsprechend wurde die Einstellung einer zusätzlichen Arbeitskraft im Sekretariat erwogen, die für die Betreuungsarbeit zuständig sein sollte.

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Dazu UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 8. Dezember 1943. Nach einem aus Berlin kommenden Vorschlag des REM, sollten in der vorlesungsfreien Zeit zwischen dem Sommersemester 1943 und dem Wintersemester 1943/44 ausschließlich für Kriegsteilnehmer gehaltene Kurse angeboten werden. In Rostock fiel das Interesse zunächst sehr gering aus. Immerhin kam zwischen dem Sommersemester 1944 und dem Wintersemester 1944/45 ein Lehrgang für Chemiker zustande, der mit einem hohen Beteiligungsgrad aufwarten konnte und am Ende eine ausgesprochen positive Resonanz erhielt. Dazu UAR R2Q3: Schnellschreiben des REM vom 17. Juli 1943; Schreiben des Rektors vom 23. August 1943; Schreiben des Rektors vom 15. Dezember 1944. UAR R7A7: Schreiben des Obmanns für Grundausbildung, Dr. Lange, vom 29. Oktober 1943 und vom 20. November 1943. UAR R7A7: Schreiben des Obmanns für Grundausbildung vom 28. Februar 1945. Dies sah auch der Obmann für Grundausbildung. UAR R7A7: Schreiben des Obmanns für Grundausbildung vom 11. August 1944. UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 9. März 1942, S. 3 f.; Senatssitzungsprotokoll vom 17. Juni 1942, S. 3 f.; Senatssitzungsprotokoll vom 8. Dezember 1943. „Selbst Privatdozenten“ lehnten häufig ab. UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 17. Juni 1942, S. 3. UAR R14D2: Aufruf des Rektors, Kreisleiters, Oberbürgermeisters u. a. vom 12. April 1939; Schreiben des Studentenwerks Rostock vom 25. November 1942; Rostocker Anzeiger vom 10., 28. November 1942 und vom 7. Oktober 1943 (Zimmer für Studenten); Niederdeutscher Beobachter vom 20. November 1942. Bereits gegen Ende 1942 waren in aller Eile zwei Wohnbaracken am Rosengarten errichtet worden, in denen 80 Studierende untergebracht werden konnten. Dazu UAR R14D2: Schreiben des Studentenwerks Rostock vom 4. November 1942; UAR K14/1259: Schreiben der Rostocker Studentenschaft vom 24. November 1942; UAR

R14D6: Belegschaftsliste vom 15. Mai 1943. 56 UAR R3A8: Senatssitzungsprotokoll vom 23. Januar 1945. 57 Als Prof. Kurt Wachholder das undankbare Amt des Rektors übernahm, schrieb Friedrich Hildebrandt nach Berlin, dass er nun der Entwicklung der Universität „mit schwerer Sorge entgegensehe“. Der neue Universitätsführer war kein Parteimitglied und schien auch sonst dem Nationalsozialismus wenigstens gleichgültig gegenüberzustehen. Doch nicht nur sein Vorgänger, auch der amtierende Dozentenschaftsführer, präferierten Wachholder als neuen Rektor. Folglich beugte sich der Reichstatthalter dem Vorschlag. LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 579, Bl. 216. 58 UAR R7F1: Rundschreiben des Rektors Wachholder vom 25. November 1944; selbiges Schreiben auch in UAR R7A1/1 und UAR R7F1: Rundschreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät vom 5. Dezember 1944. Diese Auflage konnte nicht immer eingehalten werden – auch wenn die Mehrzahl der Universitätsmitglieder darum bemüht war – da sich unter den Studierenden zahlreiche Berufstätige befanden, die auf den Unterricht in den Abendstunden angewiesen waren. 59 Ebd. 60 UAR R2A16: Auszug aus der Begrüßungsansprache des Rektors anlässlich der 525-Jahrfeier 1944; bereits bis zum 31. Mai 1943 waren allein sechs Vertreter des Lehrkörpers und vier weitere Angestellte im Wehrdienst gefallen oder verstorben. LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 1132: Statistikbogen, ohne Blattangabe. 61 Grüttner 1995, S. 426. 62 Dazu Heinrich von Schwanewede, Hans Moral (1885 – 1933) – Leben, Wirken und Schicksal eines bedeutenden Vertreters der Zahnheilkunde, in: Die Universität Rostock in den Jahren 1933 – 1945. Hrsg. von Gisela Boeck und Hans-­Uwe Lammel, S. 25 – 44 und Christoph Perleth, David Katz – Eckpfeiler der deutschen Psychologie der Weimarer Republik, in: ebd., S. 45 – 60. Vgl. auch den Beitrag von Schwanewedes in diesem Band. 63 RGBl. 1933, Teil I, S. 175.

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64 Vierte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. Juli 1938, in: RGBl. 1933, Teil I, S. 969. 65 Zum Mitgliedschaftsanteil der Rostocker Studenten: Deinert 2010, Anhang, Tab. 25, S. 414. Zu dieser Zeit gab es im eigentlichen Reichsgebiet nur noch 3.152 jüdische Ärztinnen bzw. Ärzte. Möhrle 1996, Bl. A-2770 (48). 66 UAR R13N8: Schreiben des NSDStB – Hochschulgruppe Rostock eingegangen am 23. Januar 1933 und vom 6. Dezember 1933. Prozentsätze errechnet nach dem Anteil der in Rostock im Wintersemester 1933/34 immatrikulierten männlichen „volksdeutschen“ Studenten. 67 Zum NS-Organisierungsgrad an den einzelnen Fakultäten Deinert 2010, S. 335 ff. 68 Ebd.; Zahlen auf der Grundlage des aus den Studentenkarteien erhobenen Datenmaterials errechnet. 69 Interessant ist, dass auch im – ansonsten propagandistisch überzogenen – Deutschen Hochschulführer 1943 erstmalig dieses Problem angesprochen wurde. Hier gerieten vor allem diejenigen Hochschüler in die Kritik, die in den Organisationen und ihren Aufgabenfeldern „einen lästigen Zwang“ sahen und sich lieber ausschließlich auf ihr Examen vorzubereiten suchten. Es wird deutlich, dass eine übergreifende Desillusionierung und Abwendung von studentischen Einrichtungen stattfanden. Dazu Ulrich Gmelin (­Bevollmächtigter Vertreter des Reichsstudentenführers im Kriege), In der Stunde der Entscheidung, in: Der Deutsche Hochschulführer, Jg. 1943, S. 31 – 36, hier S. 34. 70 Tendenziell traten die Studentinnen erst später einer Organisation – wie der NS-Frauenschaft oder der „Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen“ (ANSt) – bei, was mit ihrer verzögerten Einflussnahme an den Universitäten zu tun hat. Doch mit der immer deutlicher werdenden Notwendigkeit ihrer Arbeitskraft stieg auch das Selbstbewusstsein vieler Frauen, politisch aktiv zu werden. In diesem Sinne vollzog sich der rückläufige Trend bis zum Ausbruch des Krieges nicht so vehement wie

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bei den männlichen Kommilitonen. Nach 1939 konnte jedoch auch bei den weiblichen Studierenden eine geringe NS-Organisationsbereitschaft festgestellt werden. Dazu genauer Deinert 2010, S. 333 ff.; Rosina Neumann, Geschichte des Frauenstudiums in Rostock von den Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, Rostock 1999, S. 134. Dies wiederum spricht dafür, dass sich die Hochschüler zwar in zunehmendem Maße von den studentischen Organisationen distanzierten, jedoch weniger die Nationalsozialisten und ihre politischen Ziele selbst verurteilten. Auf dem Grazer Studententag im Juli 1931 hatte der NSDStB bereits die Führung der Deutschen Studentenschaft (DSt) übernommen. „An die deutschen Studenten“, Oskar Stäbel, 29. 3. 1933, in: Schottlaender 1988, S. 28; zu Oskar Stäbel siehe Grüttner 2004, S. 164 f. Zu den Lebensstationen von Hans Moral: Schwanewede, Hans Moral, in: Die Universität Rostock 2012, hier v. a. S. 36 ff. LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 2237, Bl. 35 – 38: Bericht des Prof. Matthäus Reinmöller vom 5. Februar 1946; abgedruckt auch in: Carlsen 1965, S. 137 f. und Koch 1989, S. 83 – 88, hier S. 84 f. UAR: Personalakte Hans Moral; Kreutz 1995, S. 235 – 254, hier S. 237. Carlsen 1965, S. 171. Der Beschluss wurde auf der Konzilssitzung am 21. Juni 1933 mit 34 gegen 18 Stimmen bei 3 Stimmenthaltungen angenommen. Von nun an sollte allein der Rektor „nach eigenem Ermessen Senat und Konzil zur Informierung und Mitarbeit einberufen und Ausschüsse […] bilden [können], denen er von ihm zu bestimmende Aufgaben“ übertragen konnte. UAR R1B60: Schreiben vom 19. Juni 1933; Geschichte der Universität Rostock 1969, S. 240. Zur „Aktion wider den undeutschen Geist“ in Rostock siehe Deinert 2013, S. 75 ff. „Reichsgesetz über die Bildung von Studentenschaften an wissenschaftlichen Hochschulen“ vom 22. April 1933, in: RGBl. 1933, Teil I, S. 215 f.

81 Ferdinand 2014, S. 117 – 148, hier S. 127. 82 Die Leitung übernahm der Jurastudent Werner Trumpf, der schon bald zum Kreisleiter Westdeutschland der DSt aufsteigen sollte. Grüttner 1995, S. 513 (Anhang); Laut Grüttner soll Trumpf in Rostock Geschichte studiert haben. 83 RGBl. 1933, Teil I, S. 225 f. 84 Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April 1933, in: RGBl. 1933, Teil I, S. 226; UAR R11B1/3, Immatrikulationsbestimmungen, Mai 1933. Davon unberücksichtigt blieben zunächst jüdische Studierende, deren Väter an der Front gekämpft hatten, aber auch ausländische Juden sowie „Halb- und Vierteljuden“. 85 UAR R11B11/2: Zählerkarten jüdischer und ausländischer Studierender. Kreutz 1995, S. 237. 86 UAR R11B11/1: Schreiben vom 7. September 1933, im Auftrag gez. Dehn; selbiges Schreiben auch in: UAR R11B1/3: Bereits auf der im Mai 1933 stattfindenden außerordentlichen Hochschulkonferenz hatten die Vertreter der reichsdeutschen Universitäten unterstrichen, dass die festgeschriebenen Richtwerte nur Höchstsätze seien. LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 617, Bl. 189 und 209. 87 In Rostock zogen die Mitglieder des Ausschusses unter anderem einen vom Führer der Studentenschaft benannten Vertreter hinzu. Den Vorsitz führte der Rektor. Als Auswahlkriterien dienten u. a. Überprüfungen der Beziehungen zum „Deutschtum“ und die Anzahl der Semester. UAR K13/218: Erlass des REM vom 16. Juni 1933 und Schreiben des Ministeriums in Schwerin vom 7. September 1933. 88 LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 2584: Zusammenfassung der Bestimmungen für Immatrikulationen an der Universität Rostock, die seit März 1933 erlassen wurden vom 22. März 1933. 89 In den überlieferten Briefen kommt vielfach die unglaubliche Verzweiflung der Bewerber deutlich zum Ausdruck. Akte UAR R11B11/1. 90 Kater 1985, S. 82 – 104, hier S. 95. 91 UAR R11B11/1. 92 UAR R11B11/1: Schreiben des Rektors vom 2. Mai 1934; Schreiben des Uni-

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versitätssekretärs vom 3. September 1934; Schreiben des Rektors vom 5. September 1936. Nur fünf von ihnen zählten zu den sogenannten „Volljuden“. UAR R11B11/2: Zählerkarten jüdischer und ausländischer Studierender. UAR R11B11/2: Zählerkarten jüdischer und ausländischer Studierender. Für die Immatrikulation von „Mischlingen 2. Grades“ war – einem Runderlass vom 22. Juni 1942 zufolge – von der Gauleitung die politische Beurteilung einzuholen. LHAS MfU 5.12 – 7/1, Akte 2584: Schreiben des REM vom 7. Dezember 1942. UAR R11B4/2: Statistiken über Immatrikulationen von 1936 – 1942. UAR R11B11/1: Schreiben des Ministeriums in Schwerin vom 8. Mai 1933. Das Preußische Kultusministerium verfügte am 20. Oktober 1933 per Erlass ein Approbationsverbot für „nichtarische“ Mediziner – nicht betroffen blieben Mischlinge 1. Grades und Kinder von Frontkämpfern. Ende des Jahres wurde durch die Beschränkung der Approbationszulassungen für Juden auf 1 % die Regelung etwas abgemildert. Seit 1934 wurde schließlich die Approbation nur noch „Reichsangehörigen“ erteilt. Eine endgültige Regelung erfolgte auf der Grundlage der Nürnberger Gesetzte 1936. Dazu Anordnung (13. 2. 1936) des Reichsärzteführers Gerhard Wagner, in Bussche, im Dienste, 1989, S. 39; Verordnung über die Änderung der Prüfungsordnung für Ärzte, der Prüfungsordnung für Zahnärzte und der Prüfungsordnung für Apotheker, 5. April 1934, RMBl. 1934/15. Im April 1937 wurde Juden deutscher Staatsangehörigkeit die Doktorprüfung verwehrt. Runderlass des REM vom 15. April 1937, in: Albrecht Götz von Olenhusen, Die „nichtarischen“ Studenten an den deutschen Hochschulen, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd. 14, Berlin 1966, S. 175 – 206, S. 191. von Ohlenhusen 1966, S. 183 f. Hilfsbedürftige Juden durften beispielsweise auch nicht mehr durch das Winterhilfswerk des Deutschen Volkes betreut werden. Dazu UAR R1C9: Schreiben des REM vom 15. Februar 1937; Giovannini 1990, S. 183. UAR R1C9: Brief des Mecklenburgischen Ministeriums für

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Unterricht vom 15. November 1935; K13/325: Schreiben des Direktors der Chirurgischen Klinik vom 16. August 1935. UAR: Studentenkarte, Regina Fischelsohn. Hinzu kommt, dass Frau Fischelsohn polnischer Abstammung war, obwohl laut den gesichteten Quellen diesem Punkt bei der Frage, ob sie in Rostock famulieren dürfe, keine Bedeutung beigemessen wurde. UAR K13/325: Schreiben des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 18. Juni 1937; Schreiben des Direktors der Chirurgischen Klinik vom 16. August 1935. UAR R1C9: Telegramm des REM vom 11. November 1938. So mussten ab Anfang 1940 Immatrikulationsanträge von Mischlingen dem REM vorgelegt werden. Grüttner 1995, S. 221 ff. RGBl. 1933, Teil I, S. 226. Dabei waren die Zulassungsbeschränkungen bereits im Februar 1935 wieder zurückgenommen worden, da der Rückgang der studierwilligen Frauen sich stärker als erwartet einstellte. Prozentzahlen berechnet auf der Grundlage der im Rostocker Universitätsarchiv gesichteten Studentenkarteien und Matrikelbücher. UAR K05/978: Schreiben des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 31. Mai 1934. Zum veralteten Zustand des Zahnmedizinischen – darüber hinaus auch Hygienischen und Pharmakologischen – Instituts vor dem Umbau: UAR K05/978: Schreiben des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 2. Februar 1934. UAR R2A16: Ansprache des Mecklenburgischen Ministers, Dr. jur. Friedrich Scharf, anlässlich der 525-Jahrfeier der Universität Rostock 1944. Jarausch 1989, S. 184. Prozentzahlen nach eigenen Berechnungen auf der Grundlage der Daten von Lorenz 1943, S. 268 – 275. Bei Lorenz sind die Fachbereiche Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie unter der Rubrik Gesundheitswesen zusammengefasst. Letztere Abteilung war jedoch bis zu ihrem Abbau 1938 der Philosophischen Fakultät Rostock angeschlossen, weshalb sie bei der veranschlagten Berechnung

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unberücksichtigt blieb. Leicht abweichende Prozentsätze berechnet auf der Grundlage der Studentenkarteien und Matrikelbücher (Universitätsarchiv Rostock) bei Deinert 2010, Tab. 10, S. 389 (Anhang). Die Inflation, die ihren Höhepunkt 1923 erreichte, löste vermutlich einen Rückzug durch Unterbrechung oder Abbruch des Studiums aus. Demgegenüber könnte die Weltwirtschaftskrise mit der katastrophalen Arbeitsmarktsituation zu einem sogenannten „Überwintern“ auf den Universitäten geführt haben. Chroust 1994, S. 40; Reulecke 1989, S. 86 – 110, hier S. 91. Grüttner 1995, S. 25; Jarausch 1982, S. 345 ff. Bereits 1878 verweigerte die Wiener Burschenschaft ihren jüdischen Kommilitonen den Zutritt, egal ob sie christlich getauft waren oder nicht. Diese Handhabung, die sich – laut Kater – zunächst im habsburgischen Raum etablierte und dann auf das Deutsche Reich übergriff, hatte zur Folge, dass bereits bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges die meisten Korporationen judenfrei waren. Dazu Kater 1975, S. 145. Vgl. zu Reiter den Beitrag von Schmuhl in diesem Band. http://cpr.uni-­rostock.de/indexbrowser (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Personal- und Vorlesungsverzeichnis, Universität Rostock, Sommersemester 1930. Wie bereits eingangs angemerkt, ist es aus heutiger Sicht nur unzureichend möglich, aus dem Titel der Veranstaltungen auf die vorgetragenen Inhalte zu schließen. Fakt ist, dass es auch lange vor 1933 im Zuge der Evolutionstheorie von Charles Darwin Diskussionen über das „Überleben des Stärkeren“ und damit einhergehend auch das „Ausmerzen des Lebensuntüchtigen“ gab. Bereits 1885 veröffentlichte der Publizist Adolf Jost einen Aufsatz „Das Recht auf den Tod“, in dem er die Tötung rechtfertigte und den „Wert“ bzw. „Unwert“ eines Menschen an seinem Nutzen für die Gesellschaft maß. Jost 1895. UAR R12C6: Schreiben des Dekans der Medizinischen Fakultät vom 20. Dezember 1937.

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Die Institutionalisierung der Rassenhygiene an der Universität Rostock Robert Martin Hackbarth Der Dekan der Medizinischen Fakultät in Rostock, Otto Steurer (1893 – 1959), teilte dem Staatsministerium für Unterricht in Schwerin bereits am 4. August 1933 mit, dass erhebliche Umstrukturierungen in der Gesundheitspolitik nach dem Machtwechsel vom 30. Januar 1933 auch für den Lehrbetrieb an der Universität Rostock entsprechende Konsequenzen haben sollten. In diesem Zusammenhang forderte Steurer die Einrichtung eines rassenhygienischen Seminars zum Wintersemester 1933/34 sowie die dafür notwendigen finanziellen Mittel. Die Umstellung des gesamten öffentlichen Gesundheitswesens auf die Gesichtspunkte der Rassenhygiene, der Bevölkerungs- und Rassenpolitik erfordert die möglichst schnelle Schaffung einer Forschungs- und Unterrichtsstätte im Rahmen der Medizinischen Fakultät, […].1

Insbesondere die Rassenhygiene erlangte in der Folgezeit eine deutliche Aufwertung ihrer Reputation in der Gesellschaft und im wissenschaftlichen Diskurs, da sie als „Leitwissenschaft“ des NS -Regimes von gesteigerter materieller und personeller Zuwendung profitieren konnte. Die nationalsozialistischen Machthaber benötigten für die strikte „Gesundheitsführung“ zur Schaffung eines reinen „Volkskörpers“ das Expertenwissen und die Forschungsarbeit von Praktikern und Wissenschaftlern, um ihre „Gesundheitspolitik“ zu legitimieren. Diese stellten im Gegenzug ihr Wissen bereitwillig in den Dienst des NS -Regimes, um so die Möglichkeit zu erhalten, ihr „Fach“ als angewandte Wissenschaft zu begründen, auch bis zur Entgrenzung ins Verbrecherische.2 Die vorliegende Darstellung befasst sich mit der Etablierung des „Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene“ an der Universität Rostock. In Anlehnung an die im 19. Jahrhundert tradierten rassenhygienischen Ideen soll der Fragestellung nachgegangen werden, wie diese nach 1933 Eingang in die universitären Strukturen fanden. Der Schwerpunkt soll auf der Gründung und Arbeit des „Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene“ liegen.

Die Genese „rassenhygienischer“ Prämissen Der Arzt Alfred Ploetz (1860 – 1940) war zu Beginn des 20. Jahrhunderts maßgeblich an der begrifflichen Konstituierung der Rassenhygiene beteiligt und stellte in seiner Schrift „Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen. […]“ von 1895 Grundregeln zur Schaffung einer gesunden, leistungsfähigen und somit „hochwertigen“ Rasse auf.3 Im Prozess der Abgrenzung von anderen Disziplinen und dem fortlaufenden Streben der Rassenhygiene um Wissenschaftlichkeit galt es, deren Vorzüge explizit darzulegen. Nach

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Abb. 1  Propagandaplakat des Rassenpolitisches Amtes der NSDAP. Die zugrundeliegenden rassenhygienischen Ideen waren schon vor 1933 präsent und populär.

dem Verständnis ihrer Befürworter lagen diese vor allem in der praktischen Anwendung. Ziel war die Entwicklung eines biopolitischen Organisationsgeflechts, welches rassenhygienische Prinzipien durch Forschung zu legitimieren suchte und die staatliche Exekutive zu deren Umsetzung bewegen sollte.4 Mit Hilfe von Ärzten sollten vererbungswissenschaftliche Kenntnisse über jedes Mitglied der Gesellschaft erworben werden, um so die Qualität der „Erbmasse“ der Bevölkerung bewerten und schließlich steigern zu können. Menschen mit einem vermeintlich geringem „Erbwert“ sollten das Recht auf Nachwuchs verlieren.5 Die Unterwerfung der Fortpflanzung unter eine als wissenschaftlich proklamierte Methode entmündigte allerdings auch diejenigen Menschen, die als „erbgesund“ kategorisiert wurden, da sie die Partnerwahl für die Nachkommenschaft allein unter dem Aspekt der genetischen „Aufartung“ zu treffen hatten. Die Rolle der Frauen war weitgehend auf das Kinderkriegen zur „Arterhaltung“ beschränkt, ohne Entscheidungsgewalt über das eigene Leben.6 Die Diskrepanz zwischen der „Machbarkeitsutopie“ einer makellosen Menschheit und dem Bedrohungsszenario ihres stetigen Verfalls radikalisierte und ideologisierte den eugenischen bzw. rassenhygienischen Diskurs um die Wende zum 20. Jahrhundert. Die genetischen Anlagen des Menschen wurden von vielen Wissenschaftlern folglich als alleinige Ursache für dessen Leistungen angesehen.7 Die Diskussionen um rassenhygienische Ideen sollten allerdings nicht auf der theoretischen Ebene verharren, sondern eine Praxis entfalten, die sich den vermeintlich „kontraselektorischen“ Folgen des zeitgenössischen Gesundheitswesens entgegenzustellen hatte. Die im Zuge des Ersten Weltkriegs hohen personellen und materiellen Verluste und die damit einhergehenden katastrophalen Zustände in der Weimarer Republik, insbesondere der gescheiterte Versuch, ein System der Sozialfürsorge zu installieren, verhalfen der Rassenhygiene noch vor 1933 zu einer verstärkten Popularität (Abb. 1). Die Reduktion Darwin’scher Theorien lieferte in diesem Kontext ein Motiv, endlich nach den Leitlinien der Rassenhygiene zu handeln: Der Sozialstaat ziehe, indem er die Gesetze der natürlichen Selektion außer Kraft setze, ein Heer von erblich Minderwertigen, Krüppeln, Idioten, Geisteskranken, Neurasthenikern, Psychopathen und Rentenneurotikern heran, die die Systeme sozialer Sicherung hoffnungslos zu überlasten und die Erbgesundheit des Volkes binnen weniger Generationen unrettbar zu schädigen drohten.8

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Im Jahr 1920 erhielt der sozialistisch orientierte Eugeniker Alfred Grotjahn (1869 – 1931) den ersten Lehrstuhl für Sozialhygiene in Berlin. 1923 wurde die erste außerordentliche Professur für Rassenhygiene an der Universität München eingerichtet, die Fritz Lenz (1887 – 1976) übernahm. Abgesehen von diesen ersten Vertretungen konnten sich in der Weimarer Republik die eugenischen bzw. rassenhygienischen Vorstellungen nicht über allgemeine Vorlesungen und Seminare hinaus an den deutschen Universitäten etablieren, sodass sie in der Gesamtgesellschaft unterrepräsentiert blieben.9 Die basale Forschungsarbeit, die die Rassenhygiene wissenschaftlich fundieren sollte, nahm an außeruniversitären Institutionen ihren Anfang. So spielte das „Institut für Genealogie und Demographie“, das Ernst Rüdin (1874 – 1952) an der „Deutschen Forschungsanstalt für Psychiatrie“ in München leitete, eine ebenso integrale Rolle wie das „Kaiser-­ Wilhelm-­Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“, welches am 15. September 1927 in Berlin gegründet wurde und unter der Leitung von Eugen Fischer (1874 – 1967) stand. Als das Institut im Oktober 1927 seinen Wissenschaftsbetrieb aufnahm, hatte Fischer auch die Abteilungsleitung für Anthropologie inne. Die Abteilung für Eugenik unterstand dem Jesuiten Hermann Muckermann (1877 – 1962). Otmar Freiherr von Verschuer (1896 – 1969) wurde von seinem Mentor Eugen Fischer als Abteilungsleiter für Menschliche Erblehre eingesetzt.10

Die Errichtung eines Lehrstuhls für Erb- und Rassenkunde Auch aus der Perspektive vieler Wissenschaftler, die schon in der Weimarer Republik rassenhygienischem Gedankengut anhingen sowie „positive“ und „negative“ eugenische Maßnahmen forderten, wie z. B. den nicht in Kraft getretenen Gesetzesentwurf zur freiwilligen Sterilisierung vom 30. Juli 1932, stellte der 30. Januar 1933 eine tiefgreifende Zäsur dar.11 Nun bot sich die Gelegenheit, umfassende und privilegierte Forschungsmöglichkeiten zu erhalten, vorausgesetzt man akzeptierte das politisch-­ideologische Deutungsmonopol der NSDAP . In diesem Zusammenhang konstatierte von Verschuer 1934 zu Ehren von Eugen Fischer: Wir stehen in einer Zeitenwende. Der Führer Adolf Hitler setzt zum ersten Male in der Weltgeschichte die Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen der Entwicklung der Völker – Rasse, Erbe, Auslese – in die Tat um. Es ist kein Zufall, daß Deutschland der Ort dieses Geschehens ist: Die deutsche Wissenschaft legt dem Politiker das Werkzeug in die Hand.12

Unter dem Leitmotiv der „Gleichschaltung“ erfolgte nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eine massive Zentralisierung der Hochschul- und Forschungspolitik. Zu den ersten Maßnahmen zählte die Schaffung des „Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung“ per Erlass vom 1. Mai 1934 durch Adolf Hitler. Unter der Leitung von Bernhard Rust (1883 – 1945) war es das Ziel des Ministeriums, alle Aspekte der Pädagogik und Wissenschaft auf die Interessen der „Volksgemeinschaft“ auszurichten und somit politische und uneingeschränkte Akzeptanz zu schaffen. Ab dem 1. April 1935 sollte aufgrund der „Richtlinien zur Vereinheitlichung der Hochschulverwaltung“, die Rust initiiert hatte, die Belegschaft aller Universitäten in NS -Dozentenschaften und NS -Studentenschaften eingeteilt werden. Dem Reichsministerium oblag es hierbei, die Leiter der genannten Gremien sowie die Rektoren, Prorektoren und Dekane ohne Wahlen einzusetzen. Diese Vorgehensweise bedeutete u. a. eine Politisierung des Lehrbetriebes, die neben der wissenschaftlichen Qualifikation durchgesetzt wurde.13

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Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933 hatte zur Folge, dass an den Universitäten das jüdische Personal sowie politisch „Untragbare“ aus ihren Ämtern entlassen wurden. Die Besetzungs- und Ernennungspolitik, die die erzwungenen Abgänge kompensieren sollte, hing dabei nicht nur vom Reichserziehungsministerium ab, sondern wurde zusätzlich vom Rassenpolitischen Amt der NSDAP unter Walter Groß (1904 – 1945) beeinflusst.14 Der Chirurg Heinrich Gißel (1902 – 1944) etwa wandte sich am 20. März 1936 mit einem Empfehlungsschreiben für seinen Vorgänger in der Führung der Hochschulgruppe Rostock des NS -Dozentenbundes, Enno Freerksen (1910 – 2000, Institut für Anatomie), an den Rektor der Universität Paul Schulze (1887 – 1949) und den Regierungsbevollmächtigten der Universität Rostock Otto Dehns (1876 – 1943). Hierin bekräftigte Gißel, dass Freerksen auch ohne Habilitation für einen vorübergehenden Lehrauftrag an der Universität geeignet sei, denn er „bietet auf Grund seiner ganzen Entwicklung, seiner wissenschaftlichen Betätigung und seiner politischen Einstellung die Garantie für eine einwandfreie Vertretung unserer Nationalsozialistischen Weltanschauung an der Hochschule.“ 15 Nach Erhalt der erforderlichen Zustimmung des Rassenpolitischen Amtes der NSDAP erteilte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung am 12. Mai 1936 die Genehmigung für die Abhaltung der Vorlesung „Rassische Weltanschauung, Wege und Abwege“ durch Freerksen im Sommersemester 1936 in Rostock.16 Dieser Vorgang veranschaulicht in gewissen Grenzen die Entscheidungsgewalt von nationalsozialistischen Interessenverbänden bei universitären Personalfragen und Lehrplangestaltungen. Schließlich war Gißel ab dem 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP , Führer der Hochschulgruppe Rostock des NSDDB von 1936 bis 1944, Führer der Dozentenschaft der Universität Rostock von 1934 bis 1944 sowie Führer des NSDDB des Gaues Mecklenburg der NSDAP in den Jahren 1937 bis 1944.17 Andererseits kam es ab 1933 nicht zu einer konsequenten Implementierung von rassenhygienischen Lehr- und Forschungsprogrammen an der Universität Rostock, wie die Ideologisierung des Hochschulbetriebes z. B. durch die symbolhafte Auflösung des Lehrstuhls für semitische und ägyptische Philologie eventuell vermuten ließ. Der durch den Mecklenburgischen Staatsminister für Unterricht, Wilhelm Bergholter (1897 – 1982), am 16. Januar 1934 an den Dekan Steurer kommunizierten Aufforderung zur Einrichtung und Besetzung eines Lehrstuhls für Rassenbiologie und Rassenpflege zum Sommersemester 1934 konnte lange Zeit nicht entsprochen werden.18 Nachdem sich Steurer in der Besetzungsfrage an den Sachverständigenbeirat für Volksgesundheit der Reichsleitung der NSDAP in München gewandt hatte, erfolgte zur Verschleierung der politischen Motivation eine öffentliche Ausschreibung der Stelle. Der Chemnitzer Pathologe Martin Staemmler (1890 – 1974) nannte in einem Antwortschreiben an Steurer vom 5. Februar 1934 die Ursachen für die äußerst schwierige Anwerbung kompetenten Personals. Staemmler vermutete: Die Zahl der für einen Lehrstuhl für Rassenpflege vorzuschlagenden Herren ist augenblicklich sehr gering, und zwar besonders deshalb, weil […] auf einen solchen nicht rein wissenschaftlichen, sondern wissenschaftlich-­politischen Lehrstuhl nur ein Mann gehört, der voll und ganz Gewähr dafür bietet, dass er die von der Staatsregierung verfolgte Richtung in fester Geschlossenheit einhält.19

Die interdisziplinäre Anschlussfähigkeit der Rassenhygiene, die in großem Maße zu ihrem Aufstieg beigetragen hatte, verkomplizierte nun in der Folge den Prozess der fachlichen Ausrichtung auf eine Professur, da ein geeigneter Kandidat fundierte theoretische und

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praktische Kenntnisse u. a. in der Anthropologie, „Erblehre“ und Hygiene vorweisen sollte. So musste Rektor Schulze noch am 24. Januar 1935 an den Direktor des „KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik“, Eugen Fischer, als Reaktion auf die von ihm versandten Fragebögen an alle Universitäten melden, dass sich in Rostock weder ein ordentlicher noch ein außerordentlicher Lehrstuhl für Rassenlehre bzw. Rassenhygiene oder ein angeschlossenes Institut befinden würden.20 Die ersten Vorlesungen und Kurse zu Fragen der Eugenik und Rassenhygiene wurden in den ersten Jahren des NS -Regimes dann auch von Vertretern unterschiedlicher Fachrichtungen abgehalten. In der „Gemeinschaftsvorlesung über Erb- und Rassenfragen“ vom 1. Dezember 1936 bis zum 17. Februar 1937 referierte der Oberarzt der Heil- und Pflegeanstalt Gehlsheim, Wolf Skalweit (1900 – 1986), über die „Erbgesundheitsgerichte“, der Hygieniker und Bakteriologe Werner Kollath (1892 – 1970) informierte über die „Ursachen der Rassenverschlechterung“ und der Dermatologe Ernst-­Heinrich Brill (1892 – 1945) las über „Rasse und Weltanschauung“.21 Erst dem Arzt Hermann Boehm (1884 – 1962, Abb. 2) gelang es, die wissenschaftliche Präsenz der Rassenhygiene in Verbindung mit Erbbiologie an der Universität Rostock zu festigen. Die Bemühungen von Boehm machten deutlich, in welchem Maß die Zugehörigkeit zu parteinahen Verbänden und der Kontakt zu einflussreichen Personen dazu führen konnten, dem eigenen Fach zu „Prestige“ zu verhelfen. Als Leiter der Abteilung für Vererbungslehre und Rassenhygiene beim Reichsausschuss für Volksgesundheitsdienst sowie als Angehöriger des Sachverständigenbeirates für Bevölkerungs- und Rassenpolitik 22 wandte sich Boehm am 3. Februar 1937 an Kurt Blome im Berliner „Haus der Deutschen Ärzteschaft“ und am 29. Juni 1937 an den Dekan der Medizinischen Fakultät in Rostock, Werner Kollath, um die Schaffung einer ordentlichen Professur beim Reichserziehungsministerium durchzusetzen. Der Grund ist der, dass ich bei der ausserordentlichen Bedeutung der Rassenhygiene darauf bestehen muss, dass sie durchaus voll gewertet werden muss, und dazu gehört ein ordentlicher Lehrstuhl und nicht ein Lehrauftrag.23

Nach Genehmigung des Reichserziehungsministeriums wurde Boehm schließlich am 28. März 1938 zum Honorarprofessor für Erb- und Rassenkunde ernannt, nachdem er seine Lehrtätigkeit bereits aufgenommen hatte. Ab dem Sommersemester 1938 gab er Vorlesungen über „Bevölkerungspolitik“, „Menschliche Erblehre als Grundlage der Rassenhygiene“, „Rasse und Volk“ oder „Erb- und Rassenkunde“.24 Während sich die Rassenhygiene als Fach an der Universität konsolidierte, um jungen Ärzten, Biologen, Ökonomen und Juristen als Anwendungswissenschaft für die Verwirklichung einer „reinen Volksgemeinschaft“ präsentiert zu werden, kam die rassenhygienisch motivierte Gesetzgebung des NS -Regimes bereits zur folgenschweren Anwendung. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN)“, das am 14. Juli 1933 erlassen wurde, sah die Sterilisierung von Menschen vor, bei denen die „Gefahr“ krankhafter Erbanlagen und damit die Übertragung auf ihre Nachkommenschaft bestand. Zu den Krankheiten, die im Sinne der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik als „zwingend“ erblich angesehen wurden, zählten u. a. „angeborener Schwachsinn“, „manisch-­depressives Irresein“ sowie „erbliche Blindheit“ und „schwerer Alkoholismus“.25 Nach Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1934 hatten alle Angestellten im Gesundheitswesen die Pflicht, diejenigen Personen anzuzeigen, die an den genannten Krankheiten litten und fortpflanzungsfähig waren. Um den Prozess der Erfassung und Bearbeitung zu intensivieren, wurden ab dem 1. April 1935 zwölf Gesundheitsämter in Mecklenburg eingerichtet.26 In den Jahren von 1934 bis 1939

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Abb. 2  Hermann Alois Boehm, Fotografie aus dem Jahr 1935.

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mussten sich circa 5.000 Menschen diesem Zugriff unterziehen, wobei die Unfruchtbarmachungen für das Rostocker Einzugsgebiet an der Chirurgischen Universitätsklinik und an der Universitäts-­Frauen­klinik vorgenommen wurden.27

Die gescheiterte Etablierung eines Instituts für Erbbiologie

Abb. 3  Alt Rehse „Führerschule“, Blick über den Appellplatz auf das Friesenhaus (Schlafhaus III), ca. 1937.

Das wissenschaftliche Fundament der als erblich definierten Krankheiten fehlte trotz intensiver Forschungen allerdings, sodass die nationalsozialistische „Gesundheitsführung“ überwiegend auf ideologischer Indoktrination basierte. Diesem Miss­verhältnis zwischen propagandistischem Anspruch und wissenschaftlichem „Fundament“ wollte Hermann Boehm mit dem Aufbau und der Leitung eines „Forschungsinstituts für Erblehre und Erbpflege“ entschieden entgegentreten. Dieses Institut wurde im März 1937 durch die Genehmigung des „Reichsärzteführers“, Gerhard Wagner (1888 – 1939), in der „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse eingerichtet (Abb. 3).28 Mit Hilfe eines sogenannten „Vererbungsgartens“ und populationsgenetischen Versuchen an Drosophila-­Fliegen beabsichtigte Boehm, „Lehrgangsteilnehmer an Vererbungslehre zu interessieren“. Boehm äußerte sich des Weiteren zur Funktion seiner Einrichtung: „Es war von vornherein mein Plan, in dem Institut Nachwuchs auf dem Gebiet der Erbbiologie und Rassenhygiene heranzuziehen.“ 29 Dieses Projekt wurde von Wagner und der von ihm geführten „Reichsärztekammer“ unterstützt und mitfinanziert. Leonardo Conti (1900 – 1945), der Nachfolger von Wagner im Amt des „Reichsärzteführers“, erwog die Schließung des Forschungsinstituts, da es eine zu große finanzielle Belastung für die deutsche „Ärzteschaft“ darstellen würde. Zudem hatte es Meinungsverschiedenheiten mit dem ersten Leiter der „Führerschule“, Hans Deuschl (1891 – 1953), gegeben (Abb. 4). Boehm, der von der Übertragbarkeit der Ergebnisse aus der Tier- und Pflanzenzucht auf den Menschen ausging und erbbiologische Abstammungsgutachten erstellte, richtete in diesem Zusammenhang die Bitte an den Rektor der Universität Rostock, Otto Steurer, das Forschungsinstitut in Alt Rehse an die Universität anzugliedern.30 Doch die ungeklärte Finanzierungsfrage verhinderte im Verlauf des Jahres 1942, dass das Institut von der „Reichsärztekammer“ weitergetragen oder von der Universität Rostock übernommen wurde. Nach Aufforderung von Kurator Dehns, ein finanzielles Konzept für die Übernahme des Instituts vorzulegen, schlüsselte Boehm den Etat am 3. Juli 1942 wie folgt auf: Die Universität müsse in jedem Fall mit einem Grundbetrag von 12.461 RM

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rechnen. „Wenn das Institut nur Forschungszwecken dienen soll“ sowie bei „gleichzeitiger Nachwuchsförderung“ kämen 21.184 bzw. 32.507 RM auf die Universität zu.31 Obwohl Steurer und der Dekan der Medizinischen Fakultät, Gustav Haselhorst (1893 – 1955), nach ihrer Besichtigung von Alt Rehse gegenüber dem Staatsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung in Schwerin am 15. Juli 1942 bekräftigten, dass sich das Inventar des Forschungsinstituts bestens für den Aufbau einer vergleichbaren Einrichtung an der Universität eigne, erfolgte aus Mangel an Räumlichkeiten keine Verlegung des Instituts.32 In der Hoffnung auf diese Weise die Universitätsleitung zum Handeln zu motivieren, kündigte Boehm am 27. September 1942 in einem Schreiben an Steurer an, Rostock zu verlassen, wenn es nicht gelänge, das Institut in Alt Rehse zu erhalten.33 Aber weder die „Reichsärztekammer“ in Berlin noch die Landesregierung in Schwerin waren unter den Bedingungen des Krieges interessiert, die erbbiologische Grundlagenforschung in Rostock kostenintensiv zu unterstützen. Als Folge dieser Politik wechselte Boehm an die Universität Gießen, um dort ab dem 1. Januar 1943 eine Professur für Erb- und Rassenpflege zu übernehmen und als Direktor eines „Instituts für Erb- und Rassenpflege“ zu fungieren.34 Als sich der Weggang von Boehm abzeichnete, erließ das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung mit Verfügung vom 23. Dezember 1942 eine Sperre der außerordentlichen Professur für Rassenkunde. Das Extraordinariat, welches „unter Kriegsverhältnissen nicht besetzt werden kann“, ging bis zum erneuten Bedarf an die „Physikalische Chemie“.35 Im Zuge der Stellenausschreibung zur Nachfolge von Hermann Boehm teilte von Verschuer Haselhorst am 4. Januar 1943 mit, dass er aufgrund der Ermangelung eines Lehrstuhls und Instituts für Vererbungslehre und Rassenkunde in Rostock seinen Assistenten Hans Grebe (1913 – 1999) zur Vertretung der genannten Fachrichtung vorschlage. Verschuer versicherte dem Dekan: „Herr Grebe besitzt eine sehr gute Lehrbefähigung“.36 Daraufhin erhielt Verschuer am 30. Januar 1943 die Mitteilung von der Universität Rostock, dass Grebe im laufenden Wintersemester die Vorlesungsthemen von Boehm, „Vererbungslehre und Rassenkunde“ sowie „Menschliche Erblehre als Grundlage der Rassenhygiene“ im Hörsaal des Instituts für Anatomie fortführen solle. Es ist in diesem Zusammenhang wenig verwunderlich, dass Dekan Haselhorst am 29. März 1943 an von Verschuer meldete, dass sich Hans Grebe in der Vertretung hervorragend bewährt habe und somit für die Nachfolge Boehms vorgesehen war.37 Hans Grebe hatte sich während seines Medizinstudiums in Frankfurt a. M. umfassende Kenntnisse zur Vererbung von Krankheiten, die unter rassenhygienischer Fragestellung von besonderem Interesse waren, angeeignet. So promovierte er im April 1937 zum Thema „Die Häufigkeit der erblichen und nichterblichen Blindheitsursachen“.38 Hans Grebe arbeitete ab März im Institut von Verschuers in Frankfurt a. M. Sie forschten intensiv im Auftrag des Reichsarbeitsministeriums über den Erbeinfluss bei Berufs-

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Abb. 4  Hans Deuschl bei der Rede zur Einweihung der „Führerschule“ Alt Rehse am 1. Juni 1935.

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krankheiten. Dazu machten sie Zwillingsuntersuchungen, außerdem beschäftigten sie sich mit der Vererbung von Zwergwüchsigkeit, der sogenannten Chondrodysplasie. Im Juli 1942 habilitierte sich Grebe zum Thema „Die Chondrodysplasie, ihre Klinik, Differentialdiagnose und Erbpathologie“.39 Im Jahre 1942 kehrte von Verschuer nach Berlin zurück, um den Direktor des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, Eugen Fischer, zu „beerben“. Hans Grebe folgte seinem Mentor dorthin und war künftig sein Assistent am KWI sowie Dozent an der Berliner Universität. Damit sollte der Personalmangel in der erbbiologischen und rassenhygienischen Forschung aufgrund der Kriegseinsätze der Wissenschaftler am KWI kompensiert werden.40

Der Aufbau des „Instituts für ­Erbbiologie und Rassenhygiene“ Nachdem Grebe die Rassenhygiene im Wintersemester 1942/43 erfolgreich an der Universität Rostock vertreten konnte, teilte das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung dem Mecklenburgischen Staatsministerium am 21. April 1943 mit, dass er auch im Sommersemester in Rostock unterrichten solle, was eine Koordination mit von Verschuer erforderte.41 Diese Aufforderung des Reichserziehungsministeriums war eine Reaktion auf die Tatsache, dass die Universität Rostock zu diesem Zeitpunkt immer noch kein Institut oder einen Lehrstuhl für Erbbiologie und Rassenkunde besaß. Der Dekan der Medizinischen Fakultät Haselhorst begrüßte die Entscheidung, Grebe an die Universität zu binden. Er führte dazu gegenüber Otmar von Verschuer aus: „Rostock ist ja unter den gegebenen Verhältnissen darauf angewiesen, einen jungen Kollegen zu bekommen, der mit eigener Initiative das Fach, welches er vertritt, von Grund aus aufzubauen.42 Als hauptamtlicher Mitarbeiter der „Abteilung für menschliche Erblehre“ des KWI in Berlin forschte und publizierte Grebe in den Jahren 1942 bis 1944 intensiv über die Zwergwüchsigkeit und Vererbung bei Zwillingen. In diesem Zusammenhang fanden am KWI auch Versuche an Häftlingen von Berliner Gefängnissen und dem Konzentrationslager Auschwitz statt. In der Methode orientierte sich die erbpathologische Forschung am KWI an den Vererbungsgesetzen von Mendel. Insbesondere Grebe weitete hierbei seine „Sippenforschung“ auf die Vererbung physischer Missbildungen aus.43 In diesem Kontext schilderte Grebe am 9. September 1943 dem Dekan Haselhorst die Umstände seiner akademischen Doppelbelastung in Berlin und Rostock. Außerdem erkundigte er sich nach einer festen Anstellung an der Rostocker Universität, da sein Institut in Berlin am 23. August ausgebombt worden war und er seine Familie aus Frankfurt a. M. nachholen wollte.44 Das Reichserziehungsministerium sah die prinzipielle Notwendigkeit der Schaffung einer außerordentlichen Professur für Erbbiologie und Rassenhygiene in Rostock zwar ein, wie der Kurator Rudolf Krüger (1898 – 1968) in Rostock durch einen Erlass vom 29. Oktober 1943 erfuhr, jedoch wurden diese Ambitionen durch administrative Differenzen mit dem Chef der Reichskanzlei, Hans Heinrich Lammers (1879 – 1962), der die Schaffung einer neuen Planstelle in der Kriegssituation ablehnte, vereitelt.45 Daraufhin wandte sich Krüger am 5. November 1943 an Haselhorst und teilte ihm mit, dass Grebe eine planmäßige Oberassistentenstelle erhalten solle, die besser bezahlt werden würde und ihn bis zur Aufhebung der Lehrstuhlsperre fester an Rostock binden könnte. Das zwangswirtschaftliche Haushalten der Verwaltungsbeamten höchster Ministerien des NS -Regimes verhinderte im Verlauf eines verheerenden „Vernichtungskrieges“, des-

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sen Konsequenzen nun auch das „Dritte Reich“ im zunehmenden Maße zu tragen hatte, dass die Rassenhygiene als „Leitwissenschaft“ an der Rostocker Universität über eine repräsentative Rolle hinausgelangte und verstärkt finanziert wurde. Der einzige Ausweg aus dieser Situation lag in der Rotation vorhandener Planstellen. Und so setzte Kurator Krüger Dekan Haselhorst am 16. Dezember 1943 davon in Kenntnis, dass Grebe für den Aufbau und die Leitung eines „Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene“ vorgesehen war, was durch die Freigabe eines Extraordinarats der Praktischen Theologie ermöglicht wurde, welches vorübergehend an die Medizinische Fakultät gehen könnte.46 Um die nötigen verwaltungstechnischen Schritte zur Errichtung des genannten Instituts zu veranlassen, machte Haselhorst das Reichserziehungsministerium und das Mecklenburgische Staatsministerium am 5. Januar 1944 darauf aufmerksam, dass eine außerordentliche Professorenstelle sowie Räume im Institut für Anatomie für die Vertretung der Rassenhygiene sowie den Aufbau eines angeschlossenen Instituts vorhanden seien. Außerdem stünden die Gelder für eine Assistenzstelle und eine Hilfskraft zur Verfügung.47 Am 14. Januar 1944 informierte Grebe den Kurator der Universität und die Abteilung für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im Mecklenburgischen Staatsministerium darüber, wie er die Arbeitsschwerpunkte des zukünftigen Instituts gewichten wolle. Die Aufmerksamkeit galt hierbei der Aufrechterhaltung des Lehrbetriebs, insbesondere den Vorlesungen über Vererbungslehre, Volk und Rasse. Zudem sollten zur Beantwortung allgemeiner wissenschaftlicher Fragestellungen z. B. im Auftrag des Reichsministeriums oder der Gauleitung Mecklenburgs umfangreiche Forschungen durchgeführt werden.48 Als wichtigsten Aspekt hob Grebe jedoch die praktische Arbeit des geplanten Instituts hervor, um wiederholt dessen Notwendigkeit zu betonen und relevante staatliche und universitäre Ämter zur Kooperation zu bewegen. Unter praktischer Arbeit verstand Grebe das Anfertigen von „erbbiologischen Abstammungsprüfungen“. Zu diesen zählte er „Vaterschaftsbegutachtungen“ und „Rassegutachten“. Des Weiteren sollten am Institut sogenannte „Erbgesundheitsverfahren“ durchgeführt werden. In Hinblick auf die katastrophale Versorgungslage aufgrund der Kriegshandlungen und der damit verbundenen Rationierung der Finanzen und Materialien insistierte Grebe auf den anzustrebenden Status des erbbiologischen Instituts als „oberste Gutachterstelle für den Gau Mecklenburg in Fragen der Erb- und Rassenpflege“.49 In dieser exponierten Funktion hatte es den zahlreichen Gesundheitsämtern beratend zur Seite zu stehen und eng mit dem Rassenpolitischen Amt der NSDAP zu kooperieren. Das Mecklenburgische Staatsministerium beabsichtigte fortan, die Planungen bezüglich des Institutsaufbaus zu unterstützen, wie aus einem Schreiben vom 17. März 1944 hervorging. Besonders die Durchsetzung der anfallenden Baumaßnahmen bedurfte dabei guter Kontakte zu einflussreichen Ämtern. Hans Grebe schien sie knüpfen zu können, als es ihm gelang, das Hochbauamt Mecklenburg in Verhandlungen mit Baurat Hans Mester für die Umbauarbeiten im Pathologischen Institut sowie die Ausstattung der Räume mit Möbeln und Geräten gewinnen zu können.50 Als sich Grebe aus Berlin am 21. März 1944 erneut an den Kurator Krüger wandte, erweiterte er die Liste der „kriegswichtigen“ Tätigkeiten, die das Rostocker Institut nach der Fertigstellung vorzunehmen habe. So sollten „erbärztliche“ Beratungen und die Ausstellung von „Ehetauglichkeitszeugnissen“ sowie die Bescheinigung der „Bauernfähigkeit“ die lokalen Gesundheitsämter und Erbgesundheitsgerichte, die sich im Gau Mecklenburg in Schwerin, Neustrelitz, Rostock und Güstrow befanden, zusätzlich entlasten.51 Das engagierte Vorgehen Grebes ermöglichte zwar einerseits die behelfsmäßige Unterbringung eines Rassenhygienischen Instituts. Jedoch ergab sich dabei ein entschiedenes Missverhält-

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nis zwischen ideologisch-­wissenschaftlichem Anspruch und den tatsächlich umgesetzten Plänen in Rostock unter den Bedingungen des Krieges. Vergleichbare Phänomene waren auch in der Anwendung von Zwangssterilisationen feststellbar. Die Verwirklichung einer vollständigen erbbiologischen Erfassung der Bevölkerung und deren Behandlung nach rassenhygienischen Aspekten überlastete die zuständigen Behörden dermaßen, dass sie zu Gunsten der medizinischen Grundversorgung zurückgefahren werden musste.52 Um drohende Einsparungen am Lehrbetrieb abzuwenden, berief sich Grebe mit anhaltender Vehemenz auf den Status der „Kriegswichtigkeit“ bei allen seinen Vorhaben. So konstatierte Grebe gegenüber Kurator Krüger: „Schließlich ist ja auch der Vorlesungsbetrieb insofern kriegswichtig, als das Fach Erbbiologie Prüfungsfach für Mediziner und Philologen (z. B. Psychologen) ist.“ 53 In seiner Zeit als Leiter der „Abteilung für Anthropologie“ am KWI in Berlin-­Dahlem vom Dezember 1942 bis September 1944 fand Grebe nahezu optimale Bedingungen vor, um sich der wissenschaftlichen Beantwortung erbpathologischer Fragestellungen zu widmen, deren Relevanz für das kriegführende NS -Regime vom „Reichsforschungsrat“ anerkannt wurde.54 In Rostock musste er sich derweilen neben seiner Lehrtätigkeit mit pragmatischen Problemen wie der Institutseinrichtung befassen. So forderte er neben schwer zu beschaffenden technischen Geräten auch Fachpersonal bei den zuständigen Behörden an. Unterstützend teilte der Kurator der Universität dem Arbeitsamt Rostock am 31. März 1944 mit, dass das „Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene“ unter der kommissarischen Leitung Hans Grebes eingerichtet worden sei und unbedingt Hilfskräfte für umfangreiche zeichnerische und fototechnische Aufgaben benötige. Die Begründung mit der der Kurator die Anwerbung der Fachkräfte erreichen wollte, lässt vermuten, dass Grebe verstärkt auf die „wehrwissenschaftliche“ Nachwuchsförderung setzte, um bis zur Aufnahme der erbbiologischen Arbeit am Institut in Rostock den Status der „Unabkömmlichkeit“ zu erreichen, den er bereits in Frankfurt innehatte. Kurator Krüger versicherte dem Arbeitsamt: „Im Interesse der Ausbildung des medizinischen Nachwuchses, zurzeit in erster Linie der Wehrmachtsmediziner, ist dieses Institut sehr wichtig.“ 55 Am 16. Mai 1944 wurden die Planstellen für eine Fotografin und eine „Volkspflegerin“ bewilligt. Daraufhin übermittelte am 23. Mai 1944 der Mecklenburgische Staatsminister an Grebe: Um jedoch im Interesse der Wissenschaft nicht noch mehr Zeit zu verlieren, beauftrage ich Sie, ab sofort die Dienstgeschäfte des Leiters des Instituts für Erbbiologie und Rassenhygiene an der Universität Rostock wahrzunehmen.56

Dieser Ernennung war eine Aufforderung vom Reichserziehungsministerium am 6. April 1944 an das Rektorat und Kuratorium der Universität Rostock vorausgegangen, nach dem Wegfall des Forschungsinstituts Alt Rhese ein universitätseigenes Institut aufzubauen, um den Lehrstuhl für Erbbiologie und Rassenhygiene wieder besetzen zu können. Durch einen entsprechenden Erlass des Reichserziehungsministeriums und der Genehmigung des Reichsministers für Finanzen wurde am 19. Juni 1944 das Extraordinariat für praktische Theologie rückwirkend auf den 1. April in einen außerordentlichen Lehrstuhl für Erbbiologie und Rassenhygiene umgewandelt. Hans Grebe erhielt am 7. August 1944 die Nachricht, ab dem 1. Oktober die Professur für Erbbiologie und Rassenhygiene anzutreten.57 Mit der Absicht, den Betrieb des KWI in der fortgeschrittenen Kriegssituation aufrecht zu erhalten, erhob Otmar von Verschuer am 31. Mai 1944 gegen die zusätzlichen Verpflichtungen Grebes in Rostock Einspruch, da sie erheblich mit der Forschungs- und Lehrtätigkeit am KWI konfligierte, für die Grebe zu diesem Zeitpunkt noch zuständig war.58

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Medizin unterm Hakenkreuz

In der Folge engagierte sich Grebe allerdings zunehmend in Rostock, um sein Institut fertigzustellen. Die Beschaffung von Büromaterial – insbesondere Schreibmaschinen – bei der Gauwirtschaftskammer Mecklenburg bereitete Schwierigkeiten. So wurden seine Anträge auf Bezugsscheine wegen der Bevorzugung von Rüstungsbetrieben mehrmals abgelehnt. Außerdem musste das Erbbiologische Institut wiederholt seine Räumlichkeiten wechseln. So wurde Grebe im Oktober aufgefordert, vom Universitätskrankenhaus am Schröderplatz ins Universitätshauptgebäude zu ziehen.59 Die Tatsache, dass das Erbbiologische Institut noch im November 1944, von den grundlegenden Vorlesungen einmal abgesehen, praktisch handlungsunfähig war, wird durch eine Einmalzahlung von 31.200 RM bestätigt, die am 23. November 1944 „für die erstmalige Errichtung und Ausbau des Instituts“ gezahlt wurde. Es erging zusätzlich die Genehmigung für die „Kriegsaushilfskr[ä]ft[e]“ Elisabeth Jähne und Erika Hennemann sowie für die Halbtagskraft Grete Plath. Die prekäre Personallage wurde in diesem Kontext von Grebe mehrmals hervorgehoben, indem er die Umwandlung der vorhandenen Besoldungsstellen forderte, um den minimalen Betrieb des Instituts aufrecht zu erhalten. Der Reichsforschungsrat delegierte zur Unterstützung eine Medizinstudentin nach Rostock, die vormals für Fritz Lenz in der „Abteilung für Rassenhygiene“ gearbeitet hatte.60 Die Stellengenehmigungen für eine anthropologische Fotografin, eine „Volkspflegerin“ sowie drei Bürokräften und einer wissenschaftlichen Assistentin erfolgte erst am 15. Januar 1945. Mit seinem Personal konnte Grebe die Gutachtertätigkeit jedoch nach wie vor nicht aufnehmen, sondern organisierte umständliche und genehmigungspflichtige Reisen nach Berlin zur Ausrüstungsbeschaffung und Ausbildung. So stellte Frl. Neuhäuser Bibliothekslisten zusammen und bestellte am KWI für Anthropologie diverse Bücher. Frl. Querhammer musste in die Anthropologische Fototechnik eingearbeitet werden.61 Während sich Grebe im Januar 1945 weiterhin vergeblich beim Gauwirtschaftsamt um Bezugsscheine für Mobiliar bemühte, erhielt sein Institut am 24. Februar 1945 eine Vergütung von 900 RM für eine Medizinstudentin vom Reichsforschungsrat, die bei der Bearbeitung des „Asozialenproblems“ sowie „Aufträgen über Frühsterblichkeit“ aushalf. Dies kann als Indiz dafür angesehen werden, dass das Erbbiologische Institut 1945, bis zur Flucht von Grebe aus Rostock im April 1945, an begrenzten Forschungsprojekten arbeitete und somit die Investitionen rechtfertigte.62 Das Inventar, zu dem u. a. „Tastenzirkel“, „Gleitzirkel“, „Augenfarbetafeln“, „Haarfarbentafeln“ und „Hautfarbentafeln“ gehörten, entstammte dabei der Kinderklinik in Rostock sowie den Instituten in Frankfurt a. M. oder Berlin.63

Schlussbetrachtung Während der Zeit des Nationalsozialismus erlebten die Rassenhygiene und die ihr zuarbeitenden Fachrichtungen einen erheblichen Aufschwung. Diejenigen Forschungseinrichtungen, die schon in der Weimarer Republik zu eugenischen bzw. rassenhygienischen Fragen arbeiteten, konnten ihre Arbeit nach 1933 unter verbesserten Bedingungen fortsetzen und dabei – vom Staat gedeckt – auf ein steigendes Kontingent an „Menschenmaterial“ zurückgreifen. Die Schaffung einer gesunden und leistungsfähigen „Volksgemeinschaft“ durch „Ausmerze“ von „artfremden“ und kranken „Elementen“ wurde in diesem Zusammenhang von der NS -Propaganda als eine der höchsten Priorität proklamiert. Jedoch ergab sich in der faktischen Umsetzung dieser Utopie die Situation, dass die Gesundheitspolitik im NS -Regime in vielen Aspekten hinter ihre eigenen Ziele und Vorhaben zurückfiel. So

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verhinderten auch in Rostock widerstreitende Behördeninteressen und kriegsbedingte Zwangslagen, dass die Rassenhygiene als „die“ exponierte Legitimationswissenschaft an der Universität Rostock installiert wurde, wie es dem Geltungsanspruch des Faches zu dieser Zeit entsprochen hätte. Und so ist es in diesem Sinne durchaus beachtlich, wie Rassenhygieniker wie Hermann Boehm und Hans Grebe um die Integration ihres Faches in die NS -Hochschulbildung stritten, obwohl sie eigentlich auf bevorzugte Behandlung gehofft hatten. Erst in der letzten Kriegsphase ist es Grebe gelungen, in Kooperation mit diversen Fürsprechern und Behörden das „Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene“ aufzubauen. Eine effektive Forschungsarbeit wird er an diesem Institut vermutlich auf die Zeit nach dem „Endsieg“ projektiert haben, da sie während des Krieges hochgradig eingeschränkt wurde. Das Institut kann somit als ein Beispiel dafür gelten, wie die ideologische Zielsetzung auch in der ausweglosen Situation eines verlorenen Krieges nicht aufgegeben wurde, obwohl die nationalsozialistische „Gesundheitsführung“ zu dieser Zeit bereits von keiner ­umfassenden Entsprechung mehr ausgehen konnte.

Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 375. Schmuhl 2003, S. 7 f. Zankl, S. 54, in Henke 2008. Schmuhl 2005, S. 19. Weingart 1992, S. 33. Klee 2001, S. 19. Henke 2008, S. 13 f. Ebd., S. 25. Weingart 1992, S. 239 f. Schmuhl 2005, S. 68 f. Roelcke S. 41 f., in Schmuhl 2003. Zit. nach Massin, S. 194, in Schmuhl 2003. 13 Weingart 1992, S. 396 f. 14 Schmuhl 2005, S. 174 ff. 15 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 378. 16 Ebd. 17 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 152 ff. 18 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 374. 19 Ebd. 20 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 377. 21 Ebd. 22 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 71. 23 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 377.

24 Vorlesungsverzeichnisse der Universität Rostock SS. 1941–SS. 1945. 25 Miesch, S. 4, in Zeitgeschichte 1998. 26 Ebd., S. 5. 27 Miesch 1996, S. 50 ff.; vgl. auch den Beitrag von Haack „Zwangssterilisationen und „Euthanasie“ – Zur Beteiligung von Ärzten der Psychiatrischen und Nervenklinik Rostock an den Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten“ in diesem Band. 28 Stommer 2008, S. 24. 29 UAR Kurator K 56 907. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 373. 34 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 72. 35 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 378. 36 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 373. 37 Ebd. 38 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 167. 39 Ebd.

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40 Schmuhl 2005, S. 362 f. 41 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 375. 42 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 373. 43 Schmuhl 2005, S. 375 ff. 44 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 373. 45 UAR Kurator K 56 907. 46 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 375. 47 Ebd. 48 UAR Kurator K 56 907. 49 Ebd. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Miesch 1996, S. 53 f. 53 UAR Kurator K 56 907. 54 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 167. 55 UAR Kurator K 56 907. 56 Ebd. 57 UAR: Medizinische Fakultät, Nr. 378. 58 UAR Kurator K 56 907. 59 Ebd. 60 Ebd. 61 Ebd. 62 Buddrus/Fritzlar 2007, S. 167. 63 UAR Kurator K 56 907.

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Literaturverzeichnis Quellen UAR :

Medizinische Fakultät. Nr. 373. Besetzung des Lehrstuhls für Erbbiologie und Rassenhygiene 1942 – 1944; Medizinische Fakultät. Nr. 374. Besetzung des Lehrstuhls für Rassenbiologie 1933 – 1936; Medizinische Fakultät. Nr. 375. Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene 1933 – 1953; Medizinische Fakultät. Nr. 377. Ernennung des Prof. Dr. Böhm zum Honorarprofessor für Erb- und Rassenkunde 1934 – 1938; Medizinische Fakultät. Nr. 378. Lehrstuhl für Erbbiologie und Rassenhygiene 1939 – 1946; Kurator K 56 907. Rassenbiologie und Rassenhygiene 1934 – 1945; Vorlesungsverzeichnisse der Universität Rostock SS . 1941–SS . 1945.

Literatur Buddrus, Michael/Fritzlar, Sigrid: Die Professoren der Universität Rostock im Dritten Reich. Ein biographisches Lexikon. München 2007. Henke, Klaus-­Dietmar (Hrsg.): Tödliche Medizin im Nationalsozialismus. Von der Rassenhygiene zum Massenmord. Köln 2008. Klee, Ernst: Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945. 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2001.

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Klee, Ernst: „Euthanasie“ im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Vollständig überarbeitete Neuausgabe, Frankfurt a. M. 2010. Miesch, Ines: Die Heil- und Pflegeanstalt Gehlsheim. Von den Anfängen bis 1946. Universität Rostock. Rostock 1996. Miesch, Ines: Zwangssterilisation in Mecklenburg während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Zeitgeschichte Regional. Mitteilungen aus Mecklenburg-­Vorpommern. Jg. 2 (1998). Nr. 1, S. 4 – 9. Mitscherlich, Alexander/Mielke, Fred (Hrsg.): Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Durchgesehene und neugesetzte Ausgabe, Frankfurt a. M. 1995. Schmuhl, Hans-­Walter: Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-­ Wilhelm-­Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927 – 1945. Göttingen 2005. Schmuhl, Hans-­Walter (Hrsg.): Rassenforschung an Kaiser-­ Wilhelm-­Instituten vor und nach 1933. Göttingen 2003. Schmuhl, Hans-­Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890 – 1945. 2. durchgesehene Auflage, Göttingen 1992. Stommer, Rainer (Hrsg.): Medizin im Dienste der Rassenideologie. Die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse. Lizenzausgabe für die Landeszentrale für politische Bildung Mecklenburg-­Vorpommern, Berlin 2008. Weingart, Peter/Kroll, Jürgen/Bayertz, Kurt: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland. Frankfurt a. M. 1992.

Die Institutionalisierung der Rassenhygiene an der Universität Rostock

Zwangssterilisationen und „Euthanasie“ Zur Beteiligung von Ärzten der Psychiatrischen und Nervenklinik Rostock an den Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten Kathleen Haack Die Gesundheits- und Rassenpolitik bildeten wichtige Säulen des politischen Systems des Nationalsozialismus. Sie sollten das Fundament für eine Gesellschaft frei von psychisch Kranken, Behinderten, Asozialen sowie sogenannten fremdstämmigen und fremdvölkischen Personen bereiten. Ziel war die Schaffung eines gesunden, hochwertigen „Volkskörpers“, bei dem der Staat die Kontrolle über Geburt, Fortpflanzung, Ehe und in letzter Konsequenz über Leben und Tod ausübte. Die Rechte und Freiheiten des Individuums spielten dabei eine untergeordnete Rolle. Für Kranke und als rassenbiologisch definierte „Volksschädlinge“ sollte der Zugang zu medizinischen und sozialen Ressourcen erschwert bzw. auf ein Minimum reduziert werden, bevor diese unter dem Bedingungsrahmen des Zweiten Weltkrieges schließlich vernichtet wurden. Wie kaum eine andere Berufsgruppe hatten sich Mediziner in dieser Zeit mit den Zielen einer eugenisch motivierten und auf Ausgrenzung ausgerichteten Gesundheits- und Gesellschaftspolitik identifiziert und in der Konsequenz aktiv umgesetzt. Auch wenn eine historische Wende im gesellschaftlichen Umgang mit Behinderten und Kranken schon im Zuge der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelnden Rassenhygiene erkennbar ist und u. a. im Hungersterben 1 während und nach dem Ersten Weltkrieg in psychiatrischen Anstalten des Deutschen Reiches und der Weimarer Republik gipfelte, erreichte die Ausgrenzung und schließlich Tötung sogenannter „Ballastexistenzen“ ab 1933 eine nie dagewesene Dimension. Ärzten kam bei dem, wie es Schmuhl treffend formuliert hat, „sozialsanitären Großprojekt von welthistorischer Bedeutung“ 2, bei dem die Idee der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ kein Tabu mehr war, ein fundamentaler Einfluss zu; nicht wenige stellten ihre Aufgaben ganz bewusst in den Dienst der NS -Gesundheitspolitik. Auch Ärzte und Pflegende der Medizinischen Fakultät Rostock waren an den Verbrechen an psychisch Kranken und Behinderten während der Zeit des Nationalsozialismus beteiligt. Im Zuge des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) war es ab 1934 zu mehr als tausend Zwangssterilisationen unter der Beteiligung von Psychiatern, Gynäkologen, Chirurgen, Pädiatern, Orthopäden u. a. Fachärzten gekommen, spätestens ab 1941 auch zur Verlegung aus Rostocker Kliniken und schließlich zur Tötung von Patientinnen und Patienten im Rahmen der „Euthanasie“-Maßnahmen.

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Ausschluss aus der ­Fortpflanzungsgemeinschaft – NS-Zwangssterilisationen Eines der ersten Gesetze, welches die neuen Machthaber auf den Weg gebracht hatten, war das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) vom 14. Juli 1933. Dies unterstreicht, welch wichtige Säule des politischen Systems des Nationalsozialismus die Gesundheits- und Bevölkerungspolitik mit dem Ziel der „allmähliche[n] Reinigung des Volkskörpers und [der] Ausmerzung von kranken Erbanlagen“ 3 darstellte. Die Grundlage bildete ein preußischer Gesetzesentwurf aus dem Jahr 1932, bei dem, im Gegensatz zum nationalsozialistischen Erlass, die Anwendung von Zwang nicht vorgesehen war. Prinzipiell war die Idee der Exklusion von der Fortpflanzung bestimmter Gruppen mit dem Ziel der Verbesserung des Genpools der Bevölkerung keineswegs eine deutsche Erfindung. Eugenische Theorien waren in zahlreichen Ländern Europas, Nord- und Südamerikas, in Australien u. a. m. seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verbreitet. In Deutschland rückte eugenisches Gedankengut und hier vor allem die die negative Eugenik präferierende Rassenhygiene spätestens seit den 1920er-­Jahren ins Umfeld der Psychiatrie und psychiatrischen Genetik.4 Damit verfügte sie über ein wissenschaftliches Fundament, dass es erlaubte, rassenhygienische Maßnahmen nun bald auch in der Medizin und vor allem der praktischen Psychiatrie anzuwenden.5 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde eine entsprechende Gesetzesgrundlage geschaffen, die das rassenhygienische Paradigma mit dem Anspruch, allgemeine Gültigkeit zu besitzen, zur Staatsdoktrin erhob. Der ab 1933 als Präsident des Reichsgesundheitsamtes und zuvor an der Universität Rostock tätige Sozialhygieniker Hans Reiter 6 hatte das Ziel der Erb- und Rassenpflege programmatisch auf den Punkt gebracht: Die Pflege der Gesundheit von Volk und Rasse sollte die vornehmste Aufgabe jeder Verwaltung sein, die, von erbbiologischer Warte gesehen, das entwickelt, was „Gesundheit“ und „Leistung“ fördert und das unterdrückt, was „Gesundheit“ und „Leistung“ schmälert. Wir müssen lernen, in allen bevölkerungspolitischen Vorgängen biologisch zu sehen und biologisch zu denken.7

In diesem Sinne sollten Erbbiologie und Rassenhygiene integraler Bestandteil des Unterrichts sowohl im Schul- als auch Hochschulwesen werden und vor allem eine fundamentale Bedeutung bei der Aus- und Weiterbildung von Ärzten und Amtsärzten mit dem Ziel der Umstrukturierung des öffentlichen Gesundheitswesens spielen.8 Die Legitimität und Legalität der Maßnahmen fußte auf zwei Säulen: Zum einen auf der scheinbar genetisch fundierten 9 und somit objektiven Erhebung des medizinischen Befunds. Als erbkrank im Sinne des GzVeN galten all jene, die an „angeborenem Schwachsinn, Schizophrenie, manisch-­depressivem Irresein, erblicher Fallsucht (Epilepsie), erblichem Veitstanz (Chorea Huntington), erblicher Blindheit, erblicher Taubheit, schweren erblichen körperlichen Missbildungen sowie schwerem Alkoholismus“ 10 litten (Abb. 1). Zum anderen galt es, einen strikten Instanzenweg einzuhalten, um die Rechtmäßigkeit zu unterstreichen: Approbierte Ärzte, Anstaltsleiter und auch „sonstige Personen, die sich

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Zwangssterilisationen und „Euthanasie“

Abb. 1  Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Abb. 2  Schreiben über die Absprache des Assistenzarztes der Psychiatrischen Klinik Gehlsheim, Dr. Haug, mit der Kriminalpolizei Rostock mit dem Ziel der zwangsweisen Untersuchung.

mit der Heilbehandlung, Untersuchung und Beratung von Kranken befass[t]en“, hatten eine Anzeigepflicht, Zuwiderhandlungen sollten bestraft werden.11 Der Anzeige folgte im Allgemeinen eine Untersuchung in einer Klinik, meist einer psychiatrischen. Beim Vorliegen der oben genannten Diagnosen bzw. Kriterien wurde der Antrag zur Unfruchtbarmachung gestellt und damit das Verfahren beim Erbgesundheitsgericht offiziell eingeleitet. Im Verfahrensverlauf konnte auch polizeilicher Zwang (Abb. 2) angewendet werden: bei der Vorführung der oder des zu Sterilisierenden beim Arzt, bei Nichterscheinen vor dem Erbgesundheitsgericht (EGG ) oder zur Operation, bei bestehender Fluchtgefahr. Auch eine Zwangseinweisung konnte vorgenommen werden. Über die Anträge entschieden reichsweit ca. 220 Erbgesundheitsgerichte, davon vier in Mecklenburg: in Rostock, Schwerin, Neustrelitz und Güstrow. In Rostock war zudem das Erbgesundheitsobergericht (EGOG ) eingerichtet worden, welches als letzte Instanz bei strittigen Angelegenheiten fungierte. Die Berufung gegen die Beschlüsse der Erbgesundheitsgerichte war prinzipiell möglich, in den meisten Fällen jedoch erfolglos. Allein zwischen 1934 und 1936 wurden im Deutschen Reich beinahe 200.000 Sterilisationsanträge gestellt, von denen 85 % positiv beschieden wurden. Männer waren stärker betroffen (Tab. 1 und 2). Man schätzt, dass zwischen dem 1. Januar 1934, dem Inkrafttreten des GzVeN, und Mai 1945 im Deutschen Reich und den annektierten Gebieten ca. 400.000 Menschen sterilisiert worden sind, die große Mehrheit von ihnen zwangsweise. Die Mehrzahl der Sterilisationen wurde allerdings zwischen 1934 und 1937 durchgeführt.12 Die Erbgesundheitsgerichte waren aus einem vorsitzenden Amtsrichter, einem beamteten sowie einem in Erbgesundheitslehre vertrauten Arzt zusammengesetzt. Bei der Rekrutierung der Ärzte, die in enger Zusammenarbeit mit dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB ) stattfand, sollten nur diejenigen Beachtung finden, die

Kathleen Haack

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Medizin unterm Hakenkreuz Nach Geschlechterverhältnis durchgeführte Zwangssterilisationen 1934 bis 1936

Zwangssterilisationen im Deutschen Reich zwischen 1934 und 1936 Gesamt

198.869

1936

64.646

1935

62.463

0

1936

63.547

71.760

1934

Jahr

168.989

1935

73.714

100.000

150.000

200.000

250.000

300.000

350.000

400.000

Tab. 1  Durchgeführte Sterilisationen in den Jahren 1934 – 1936 im Deutschen Reich (blau: Anzahl der Anträge, rot: befürwortete Anträge).

30.524

37.834

1934

32.268

50.000

32.887

16.238

0

10.000

16.030

20.000

30.000

40.000

50.000

60.000

70.000

80.000

Tab. 2  Nach Geschlechterverhältnis durchgeführte Sterilisationen in den Jahren 1934 – 1936 im Deutschen Reich (blau Anzahl der sterilisierten Männer, rot: Anzahl der sterilisierten Frauen).

neben der erbbiologischen Sachkenntnis dem Staat treu ergeben waren. Der Gauobmann des NSDÄB , Kurt Blome (1884 – 1969), hatte beim Reichsstatthalter für Mecklenburg und Lübeck, Friedrich Hildebrandt (1898 – 1948), eine entsprechende Anweisung gegeben: „Es ist darauf Wert zu legen, dass […] diese Ärzte einwandfreie Nationalsozialisten sind.“ 13 Neben den Amtsärzten, die im Zuge des „Gesetzes zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens“ (GVG ) vom 3. Juli 1934 als Exekutivorgane der nationalsozialistischen „Erb- und Rassenpflege“ fungierten, kam den Psychiatern eine besonders wichtige Rolle beim Selektionsprozess zu. Auch wenn alle Ärzte an der Psychiatrischen und Nervenklinik Rostock-­Gehlsheim Anzeigen und Anträge im Rahmen des GzVeN regelmäßig ausfertigten, wie aus den Kranken- und Poliklinikakten hervorgeht, sticht ein Verfechter der rassenhygienischen Gesetzgebung besonders hervor: Wolf Skalweit (1900 – 1986, Abb. 3). Er war ab 1926 an der Rostocker Klinik tätig, später Oberarzt und ab 1939 außerplanmäßiger Professor. Am 1. Januar 1934 wurde Skalweit zum ärztlichen Mitglied des Erbgesundheitsobergerichtes berufen. Zudem wurde er mit Verfügung des Mecklenburgischen Staatsministeriums vom 3. März 1934 ermächtigt, „den Amtsarzt auf dem Gebiete der Erbgesundheitspflege, insbesondere bei der Bearbeitung der Anträge gemäß § 3 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses zu unterstützen.“ 14 Zu den medizinischen Sachverständigen am EGOG Rostock gehörte neben Skalweit auch der Direktor der Dermatologischen Klinik und Rektor der Universität Rostock, Ernst Brill (1892 – 1945). Skalweit sah in der Umsetzung des GzVeN […] den Wendepunkt in der gesundheitspolitischen Gesetzgebung überhaupt, die sich grundsätzlich und kompromisslos abwendet von einer Anschauung, die in der Hauptsache nur dem Einzelwesen Recht und Schutz zuerkannte, ohne zuerst an das Interesse der Allgemeinheit, vor allem aber ohne an die Zukunft des Volkes zu denken.15

In der festen Überzeugung an ein solch übergeordnetes Interesse im Dienst des gesunden „Volkskörpers“ war er der Meinung, auch in Zweifelsfällen eine „prophylaktische“ Zwangssterilisation vertreten zu können.16 Seinen Kollegen bescheinigte Skalweit, dass „von dieser Berufspflicht noch keineswegs alle Ärzte durchdrungen“ 17 seien. Sehr viele der in den Poliklinkakten des heutigen Zentrums für Nervenheilkunde erhalten gebliebenen Anträge zur Sterilisation tragen seine Unterschrift (Abb. 4 und 5).

335

35.340

Zwangssterilisationen und „Euthanasie“

Abb. 3  Wolf Skalweit um 1939.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Abb. 4 und 5  Anträge zur Sterilisation von Patienten der Nervenpolklinik Rostock.

Bis zum 31. Mai 1935 waren laut Skalweit im Bereich des EGOG Rostocks 2.207 Anträge gestellt worden 18, zwischen 1934 und 1937 musste die Universitätsnervenklinik sowie die ihr angeschlossene Poliklinik jährlich ca. 1.000 Untersuchungen im Rahmen des GzVeN durchführen 19. Die tatsächliche Zahl der Menschen, die zwischen 1934 und dem Ende des „Dritten Reichs“ in Mecklenburg zwangssterilisiert worden sind, lässt sich aufgrund der schlechten Quellenlage nur vage beziffern. Es ist davon auszugehen, dass es mindestens 5.00020 waren, andere Überlegungen gehen von mehr als 9.00021 aus. Der § 11 GzVeN sowie der Artikel 5 der ersten Durchführungsverordnung GzVeN legten bestimmte Einrichtungen und das ausführende Personal fest, das sich nur aus nicht am Prozess beteiligten Medizinern rekrutieren durfte. Die „Sterilisanden“ mussten nach dem Gerichtsbeschluss durch das EGG bzw. EGOG innerhalb von 14 Tagen sterilisiert werden. Im Einzugsbereich Rostocks und teilweise auch des Erbgesundheitsgerichts Güstrow waren die Gynäkologische Klinik für Frauen und die Chirurgische für Männer der Universität Rostock für die Durchführung zuständig.22 Dementsprechend ist davon auszugehen, dass die Mehrzahl der Betroffenen in Mecklenburg an den Rostocker Universitätskliniken operiert worden sind, auch wenn die entsprechenden Krankenakten nicht mehr vorhanden sind. Die unfreiwillige Sterilisation stellte in zweifacher Hinsicht eine Verletzung dar: zum einen den Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und zum anderen das ihr zugrundeliegende Unwerturteil. Doch dies genügte den nationalsozialistischen Machthabern bald nicht mehr. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs änderten sich die Rahmenbedingungen. Aus Ausgrenzung wurde Vernichtung: Die als unwert und „Ballastexistenzen“ deklassierten Menschen hatten entsprechend der Wertehierarchie der Nationalsozialisten nunmehr keine Berechtigung zur Teilhabe an den immer knapper werdenden Ressourcen. Insofern stellt der „Euthanasie“-Komplex die perfide Konsequenz einer auf Rationalität, Kosten-­ Nutzen-­Rechnung und allein auf Kriegswirtschaft ausgerichteten Politik dar, bei der der medizinischen Versorgung von Soldaten und in zweiter Linie der Bevölkerung – nicht jedoch der chronisch Kranken und Behinderten – Priorität eingeräumt wurde.

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Medizin unterm Hakenkreuz

Ausschluss aus der Lebensgemeinschaft – Tötungen im Rahmen des „Euthanasie“-Komplexes: „Aktion T4“ 1940 – 1941 Die unter dem Begriff „Euthanasie“ begangenen Tötungen an psychisch kranken und behinderten Menschen stellten den ersten systematisch und zentral organisierten Massenmord in der Zeit des Nationalsozialismus dar. Ihm fielen zwischen 1939 und 1945 ca. 300.000 Menschen zum Opfer, darunter sowohl Erwachsene als auch Kinder und Jugendliche.23 Ihr Tod war, wie das Wort Euthanasie suggeriert, keineswegs ein leichter oder guter. Im Gegenteil: Sie wurden erschossen, vergast, mit Tabletten oder Injektionen getötet oder mussten verhungern. Konkrete Überlegungen für einen zentral gelenkten Kranken- und Behindertenmord gab es spätestens seit Mitte 1939, zunächst in Verantwortung des Reichsinnenministeriums. Schon bald ging die Zuständigkeit auf Hitlers „Begleitarzt“, Karl Brandt (1904 – 1948), sowie den Chef der Kanzlei des Führers, Philipp Bouhler (1899 – 1945), über. Der zunächst mündlich gegebene Auftrag wurde von Hitler im Oktober oder November 1939 schriftlich fixiert, auf den 1. September (Kriegsbeginn) rückdatiert und als „Geheime Reichssache“ deklariert.24 Hierin wurde verfügt, dass „die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern [seien], daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann.“ 25 Der Inhalt des Dokuments hatte mit der Realität nichts gemein. Primäres Ziel war die Entlastung der Gesundheits- und Sozialsysteme von sogenannten Ballastexistenzen. So wurden ab Ende 1939 all jene Patienten erfasst, die sich seit mehr als fünf Jahren in Anstalten oder Heimen befanden, forensische Patienten sowie diejenigen, die an „Schizophrenie, Epilepsie (wenn exogen, Kriegsdienstbeschädigung oder andere Ursachen angeben), senile[n] Erkrankungen, Therapie-­refraktäre[r] Paralyse und andere[n] Lues-­Erkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, Encephalitis, Huntington und andere[n] neurologische[n] Endzustände[n]“ litten.26 Neben den Diagnosen, in erster Linie Schizophrenie, gefolgt von sogenanntem Schwachsinn, galten als ausschlaggebende Selektionskriterien die ökonomische Unbrauchbarkeit sowie ein großer Pflegeund Überwachungsaufwand. Mecklenburg wurde ab 1940 in die zentral von der Kanzlei des Führers in Berlin gelenkten Tötungen eingebunden.27 Zuvor waren mit dem Erlass IV g 3487/39 – 5100 des Reichsministeriums des Innern vom 21. September 1939 alle „im Reichsgebiet befindlichen Anstalten, in denen Geisteskranke, Epileptiker und Schwachsinnige nicht nur vorübergehend verwahrt werden“ 28 erfasst worden. Der Leiter der Abteilung Medizinalangelegenheiten des Mecklenburgischen Staatsministeriums, Karl-­Erich Marung (1876 – 1961), hatte die Anstaltsleiter sowie Amtsärzte in den zwölf Gesundheitsämtern aufgefordert, ihm die entsprechenden Zahlen zu übermitteln. Damit hatte die „planwirtschaftliche Erfassung“ der psychisch Kranken und Behinderten auch in Mecklenburg begonnen (Tab. 3).

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Zwangssterilisationen und „Euthanasie“

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Name der Anstalt

Besitzer/Träger

Anzahl der Plätze (Betten)

Heil- und Pflegeanstalt Gehlsheim

Land Mecklenburg

450 (220 für Wehrmacht freizuhalten)

Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg

Land Mecklenburg

800

Kinderheim Lewenberg

Land Mecklenburg

280

Heil- und Pflegeanstalt Domjüch

Land Mecklenburg

370

Diakonissenhaus Lobetal

selbst

 52 Kinderbetten

Altersheim Kuhstorf

Kreisausschuss Hagenow

 50  47

Altersheim Kalsow

Kreisausschuss Wismar

Alters- und Pflegeheim Wismar

Oberbürgermeister Wismar

 83

Kreispflegeheim Rehna

Kreisausschuss Schönberg

 61

Altersheim Piehl

Otto Piehl

 25

Altersheim Hoppenrade

Kreisausschuss Güstrow

 57

Krankenhaus des Landes­ fürsorgehauses

Land Mecklenburg

112

Städtisches Altersheim Waren

Bürgermeister Waren

 32

Krankenhaus Woldegk

Krankenverein zu Woldegk

 40

Städtisches Versorgungsheim Neustrelitz

Stadt Neustrelitz

 40

Emmi Mass-­Stiftung

Emmi Mass-­Stiftung

  6

Altersheim Lübbersdorf

Landratsamt Kreis Stargard

 65

Altersheim Hohenzieritz

Land Mecklenburg

 13

Altersheim Malchin

Stadt Malchin

 13 (davon 12 privat)

Kreisaltersheim Teterow (Pflegeheim) Kreisausschuss Malchin

 80

Altersheim Teterow

Stadt Teterow

 18  10

Altersheim Gnoien

Stadt Gnoien

Gemeindeheim Dargun

Stadt Dargun

 10

Altersheim Stavenhagen

Stadt Stavenhagen

 16

Altersheim Neukalen

Stadt Neukalen

  5

Tab. 3  Bestandsaufnahme mecklenburgischer Anstalten mit psychisch Kranken, Behinderten und „Siechen“ (BArch R 96 I, Bl. 125298, Stand 12. 10. 1939).

Am 14. Juni 1940 erging an die Leiter der gemeldeten Anstalten die Aufforderung, „an Hand des beiliegenden Merkblattes je einen Meldebogen 2 und die in Frage kommende Anzahl an Meldebogen 1 nach dem Stichtag vom 1. Juli 1940 auszufüllen und mir bis spätestens 1. August 1940 einzusenden.“ 29 Der Absender, Herbert Linden (1899 – 1945), Leiter der Unterabteilung Erb- und Rassenpflege im Reichsinnenministerium, war eine der Schlüsselfiguren bei den Vorbereitungen und der späteren Umsetzung sowohl der Kinder- als auch der Erwachsenen-„Euthanasie“, ein „Scharnier“ zwischen dem Innenministerium und den „Euthanasie“-Tarnorganisationen.30 An ihn sandten die Leiter der jeweiligen Einrichtungen die Meldebögen zurück. In der Zentrale in der Tiergartenstraße 431 in Berlin wurden diese dann kopiert und an jeweils drei der insgesamt ca. 40 Gutachter gesandt, danach einem Obergutachter vorgelegt.32 Anhand dieser Meldebögen entschieden die Gutachter über den „Lebenswert“ eines Menschen, den sie selbst niemals gesehen hatten: Ein rotes Plus bedeutete den Tod, ein blaues Minus das Weiterleben. Anhand der positiv entschiedenen „Plusfälle“ wurden Transportlisten erstellt und den betroffenen Anstalten

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Medizin unterm Hakenkreuz

die Verlegung der entsprechenden Patienten als Weisung des zuständigen Reichsverteidigungskommissars (in der Regel der Gauleiter) mitgeteilt. Gut ein Jahr nachdem die Meldungen aus den Mecklenburger Anstalten und Heimen nach Berlin zurückgesandt worden waren, erfolgte der erste Tötungstransport psychisch Kranker. Zirka 100 Patienten wurden am 11. Juli 1941 aus der Anstalt Domjüch (bei Neustrelitz) sowie dem Gefängnis Altstrelitz in die „Euthanasie“-Anstalt Bernburg gebracht und dort getötet.33 Aus der Schweriner Anstalt Sachsenberg folgten 275 Patienten in zwei Transporten.34 Nach der Ankunft der zur Ermordung Selektierten in Bernburg kam es, so das übliche Vorgehen, zur Registrierung und Entkleidung. Die Kranken wurden fotografiert und schließlich dem Arzt vorgeführt, der noch einmal eine oberflächliche Untersuchung vornahm, die vor allem dem Zweck diente, die Identität der Todeskandidaten zu überprüfen und eine fingierte, aber plausible Todesursache zu benennen. Sie wurde den Angehörigen in einem Trostbrief und der beiliegenden Sterbeurkunde später mitgeteilt. Und die Patienten der Psychiatrischen und Nervenklinik Rostock? Auch hier erfolgte aufgrund der Meldebögen ein Transport im Rahmen der „Aktion T4“. Die Besonderheit war jedoch, dass dieser erst nach dem Stopp der zentralen Aktion 35 am 29. September 1941 stattfand. In der Folge wurden 23 Rostocker Patienten abgeholt und in die Zwischenanstalt Uchtspringe (Altmark) gebracht, nicht jedoch nach Bernburg weiterverlegt. Die im Vergleich zu den übrigen Mecklenburger Anstalten relativ kleine Zahl der zur Tötung Vorgesehenen hatte zwei Gründe: Zum einen war es zwischen dem 4. und 7. September 1939 bereits zur Verlegung von 210 Patienten 36 aus der Rostocker Klinik nach Domjüch und zum Sachsenberg im Rahmen kriegsbedingter Maßnahmen 37 gekommen, sodass viele der von dort nach Bernburg Verlegten und Getöteten ursprünglich Rostocker Patienten waren. Es ist davon auszugehen, dass die Ärzte der Psychiatrischen und Nervenklinik Rostock zu diesem Zeitpunkt (1939) noch nichts von den geplanten Patiententötungen wussten. Zum anderen hatte der Direktor der Klinik und Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Rostock, Ernst Braun (1893 – 1963, Abb. 6), Rückstellungen von in der Berliner T4-Zentrale selektierten Patienten mit dem Hinweis, es handle sich um einen „Fall von hohem wissenschaftlichen Interesse“ 38 (Abb. 7) vorgenommen. Wie viele Patienten es insgesamt waren, denen Braun damit das Leben – zumindest vorerst – gerettet hatte, lässt sich aufgrund der in der Mehrzahl fehlenden Krankenakten nicht mehr feststellen.39 Von den nach Uchtspringe verlegten Patienten verstarben 19 in der dortigen Anstalt. Es ist davon auszugehen, dass sie durch Morphiumspritzen, Tabletten und Nahrungs-

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Zwangssterilisationen und „Euthanasie“

Abb. 6  Ernst Braun, ohne Jahr. Abb. 7  Krankenakte Alfred W.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

entzug getötet worden sind.40 Zwei wurden in die Tötungsanstalt Hadamar verlegt, zwei weitere Patienten überlebten. Braun hatte in dem gegen ihn 1950 geführten Prozess zugegeben, dass er „erriet […], dass es sich bei dem Fragebogenausfüllen um das Euthanasieverfahren, und bei den verlegten Personen schon um solche, die hierfür bestimmt waren, handelte.“ 41 Sein Standpunkt zu den Tötungsmaßnahmen lässt sich aus heutiger Sicht schwer einordnen, zumal sich rückblickend wenig über Brauns objektive Handlungsspielräume sagen lässt. Sein Kollege August Bostroem 42 (1886 – 1944), Ordinarius für Psychiatrie an der Leipziger Universität, sah in Braun eher einen potentiellen Gegner der Tötung von psychisch Kranken. Braun selbst äußerte in einem Schreiben an diesen jedoch, dass er „gegen eine Euthanasie bei Unheilbaren […] bei solchen, die sich selbst quälen u[nd] mit Einverständnis der Angehörigen […] keine allzu großen Bedenken habe.“ 43 Die Form der Selektion und die Einbeziehung der Schizophrenen lehnte er ab.44 Inwieweit hier auch die Angst, sich schriftlich zu äußern, eine Rolle spielte, muss Spekulation bleiben. Die Aussagen Brauns, auch wenn nur aus zweiter Hand über Bostroem an Karsten Jaspersen (1896 – 1968)45 überliefert, scheinen glaubwürdig und bieten zudem einen interessanten Einblick in die Einstellung der jüngeren Ärzte an der Psychiatrischen und Nervenklinik Rostock. Braun habe bei einer vorsichtigen Sondierung seiner Assistenten den Eindruck gewonnen, dass diese sehr positiv zu den geplanten Maßnahmen stehen.46 Bei zwei von ihnen ist dies aufgrund des weiteren Werdegangs nachzuvollziehen: Wilhelm Schuhmacher (1908–?) war ab August 1940 selbst als T4-Gutachter tätig 47, bevor er 1942, genau wie sein vormaliger Rostocker Kollege Arnold Asmussen (1912 – 2005), bei der Euthanasie-­Forschungsabteilung in Brandenburg-­Görden unter der Leitung des T4-Gutachters und Direktors der ersten Kinderfachabteilung Hans Heinze (1895 – 1983) angestellt wurde. Dafür wurde er „von der Kanzlei des Führers der NSDAP bis auf weiteres beurlaubt.“ 48 Anhand hirnanatomischer Untersuchungen von Opfern der Krankentötungen sollten in der Forschungsabteilung und in Zusammenarbeit mit dem Kaiser-­Wilhelm-­Institut für Hirnforschung in Berlin Korrelationen psychischer Normabweichungen mit objektivierbaren Veränderungen des Gehirns untersucht werden. Ein Teil dieser Ergebnisse floss in die von Asmussen 1943 in Kiel vorgelegte Dissertation ein. Ab dem Wintersemester 1950/51 war Asmussen wieder Assistent, ab 1955 bis 1957 Oberarzt der Universitätsnervenklinik Rostock.49

Ausschluss aus der Lebensgemeinschaft – Tötungen im Rahmen des „Euthanasie“-Komplexes: Regionalisierter Krankenmord und Kinder-„Euthanasie“ 1941 – 1945 Mit der Beendigung der „Aktion T4“ im August 1941 war das Töten psychisch Kranker und Behinderter keineswegs beendet. Noch stärker als in der ersten „Euthanasie“-Phase, bei der es bereits 1939 in vielen Gebieten des Deutschen Reiches, wie auch in Rostock, zur Zweckentfremdung psychiatrischer Betten für Reservelazarette sowie den zivilen Luftschutz gekommen war, wandelte man ab 1941 die Heil- und Pflegeanstalten sukzessive in 1. Krankenhäuser, 2. Tuberkuloseheilstätten, 3. Alterskrankenhäuser und Pflegeheime und 4. Altenheime um.50 Psychiatriepatienten wurden nun vor Ort mit Tabletten, Injektionen oder durch Verhungernlassen ermordet. Einzelne Kliniken fungierten als regionale Tötungszentren. Zudem ging man ab 1943 wieder stärker dazu über, Psychiatriepatienten in Kliniken wie etwa Hadamar, Großschweidnitz oder Meseritz-­Obrawalde zu verlegen,

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Medizin unterm Hakenkreuz

um sie dort gezielt zu töten. Dies war zwar zentral von Berlin aus koordiniert, wurde aber dezentral von einzelnen Anstaltsträgern umgesetzt. Hintergrund war die ab 1943 unter dem Namen „Aktion Brandt“ einsetzende Verlegung von Patienten, in der es darum ging, Betten für Ausweichkrankenhäuser und Lazarette in Heil- und Pflegeanstalten in nicht vom Luftkrieg bedrohten Regionen zu schaffen. Innerhalb dieser von Süß als „Verdrängungsketten“ 51 bezeichneten Abläufe kam es dazu, dass die leer gemordeten Heil- und Pflegeanstalten die dazu benötigten Plätze boten – ein fataler Teufelskreis. Denn obwohl die „Aktion Brandt“ wohl nicht als gezielte Vernichtungsaktion angelegt war, hatte sie im Ergebnis genau dies zur Folge: die Wiederaufnahme der „Euthanasie“ in großem Maßstab. Insbesondere in den mittel-, nordost- und süddeutschen Regionen sowie in den besetzten Gebieten (Österreich, Warthegau, Generalgouvernement) wurden die Anstaltsträger und Verantwortlichen in den Ministerien permanent dazu angehalten, entsprechende Bettenkapazitäten zu schaffen.52 Die Zahl der in der zweiten „Euthanasie“-Phase zwischen September 1941 und dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur getöteten Psychiatriepatienten beläuft sich auf mehr als 200.00053; am Ende des Krieges kamen zunehmend tuberkulöse und psychisch kranke Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion hinzu. Und auch nach Kriegsende verstarben viele tausende an Unterernährung und mangelnder Pflege.54 Nachweislich kam es an der Rostocker Klinik während der Zeit des Nationalsozialismus nicht zu erhöhten Sterberaten 55 wie etwa auf dem Schweriner Sachsenberg, jene Anstalt, die als Schaltzentrale des regionalisierten Patientenmordes in Mecklenburg fungierte. Es ist davon auszugehen, dass etwa 1.900 Patienten in Schwerin zwischen 193956 und 1945 ermordet worden sind.57 Aber auch hier muss für die Rostocker Klinik konstatiert werden, dass psychisch Kranke häufig weiterverlegt wurden, bis 1943 neben Schwerin auch nach Domjüch 58, danach nur noch zum Schweriner Sachsenberg. Dies war keine freiwillige Entscheidung Brauns, auch wenn es von jeher zwischen den einzelnen Anstalten zu Patientenverlegungen gekommen war und er „ahnte, dass auf dem Sachsenberg etwas nicht in Ordnung war, und dass man dort womöglich Leute umbringt.“ 59 Nun aber fehlten entsprechend der oben erwähnten Priorisierung des Reichsbeauftragten für die Heil- und Pflegeanstalten, Herbert Linden, in Rostock schlicht die Kapazitäten. Neben der eingerichteten Lazarettabteilung hatte die Medizinische Klinik der Universität 30 Betten übernommen. Nach den Bombenangriffen auf Rostock zwischen dem 23. und 27. April 1942, bei denen die Dermatologische Klinik fast vollständig zerstört worden war, zog diese in die Gehlsheimer Anstalt ein. Hinzu kam, dass auch ein Gebäude auf dem Anstaltsgelände durch Bombentreffer unbrauchbar war. Am 3. Dezember 1942 wurden die Frauenabteilungen C und D aufgelöst sowie eine halbe Männerabteilung. Am 1. November 1943 resümierte der Leiter der Abteilung Medizinalangelegenheiten des Mecklenburgischen Staatsministeriums Marung: […] lediglich etwa 70 alte defekte Geisteskranke, die einer besonderen Pflege und Wartung nicht benötigen, [sind] in Gehlsheim verblieben. Zu etwa 90 % finden akute Kranke Aufnahme, die als Klinikfälle behandelt werden müssen […]. Die Anstalt Gehlsheim kann […] als Heil- und Pflegeanstalt kaum noch angesprochen werden.60

Spätestens zu diesem Zeitpunkt kann für Rostock nur noch von einer restpsychiatrischen Versorgung gesprochen werden. Es ist davon auszugehen, dass etwa 400 Rostocker Patienten der Psychiatrischen und Nervenklinik zwischen 1941 und 1945 in die Schweriner Anstalt verlegt und dort gezielt getötet worden sind.61 Doch nicht nur Erwachsene, auch zahlreiche psychisch auffällige oder geistig behinderte Kinder und Jugendliche wurden von Rostock nach Schwerin, hier speziell in die 1941

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Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

eingerichtete Kinderfachabteilung gebracht.62 Neben den Ärzten der Psychiatrischen und Nervenklinik, waren es vor allem Pädiater aber auch Ärzte der Orthopädischen Klinik, die im Zuge der Kinder-„Euthanasie“ (Reichsausschussverfahren) „missgestaltete usw. Neugeborene“ an den Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ nach Berlin meldeten,63 all jene, die an folgenden Krankheiten litten: 1. Idiotie sowie Mongolismus (besondere Fälle, die mit Blindheit und Taubheit verbunden sind), 2. Mikrocephalie, (abnorme Kleinheit des Kopfes, besonders des Hirnschädels), 3. Hydrocephalus (Wasserkopf) schweren bzw. fortschreitenden Grades, 4. Mißbildungen, 5. Lähmungen einschl. Littlescher Erkrankung.64

Die Verantwortlichen in der Kanzlei des Führers hatten ein bürokratisches Netzwerk mit dem Ziel der Erfassung, Aussonderung und Tötung der als „lebensunwert“ klassifizierten Kinder und Jugendlichen geknüpft.65 Unterstützung erhielten sie von Fürsorge-, Gesundheits- und Wohlfahrtsämtern, Heimen, Kliniken, niedergelassenen Ärzten, Hebammen und vielen anderen mehr. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Umsetzung der „Euthanasie“ und speziell der „Kindereuthanasie“ auf freiwillige Zuarbeit angewiesen war, und viele Ärzte dies scheinbar bedenkenlos im Rahmen kollegialer Kontakte taten.66 So ist auch die Studie von Lothar Pelz sehr eindrücklich, der nachweisen konnte, dass Mecklenburger Kinderärzte, sowohl niedergelassene als auch an der Pädiatrischen Universitätsklinik Rostock tätige, aber auch Jugendärzte, Schulärzte, ärztliche Leiter oder Betreuer von Kinderheimen in diesem Netzwerk mitwirkten und zahlreiche Betroffene in die Kinderfachabteilung nach Schwerin überwiesen.67 Etwa 450 bis 500 Kinder und Jugendliche sind zwischen 1941und 1945 auf dem Schweriner Sachsenberg verstorben, in der Mehrzahl sind sie bewusst getötet worden.68 Der Mythos vom Missbrauch der Medizin durch den Nationalsozialismus ist einer differenzierten historischen Sichtweise gewichen. Mediziner, unter ihnen viele Psychiater, waren nur allzu leicht bereit, ihre Patienten einem höheren, kaum hinterfragten Wissenschaftsideal zu opfern. Auch wenn Karrieredenken, Mitläufertum, Opportunismus eine Rolle gespielt haben mögen, leitend waren sie nicht. Das ideologische Fundament war längst vor 1933 bereitet, eng verknüpft an einen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert einsetzenden Prozess der Biologisierung des Sozialen. Vererbungstheorien, getragen von eugenischen Lösungsstrategien zur Verbesserung und Gesundung des kollektiven Ganzen, prägten die wissenschaftlichen, sozialen und ökonomischen Debatten. Der Wert des Einzelnen wurde aus der jeweiligen biologischen und ökonomischen Teilhabe am „Volkskörper“ abgeleitet.69 Viele der Täter sind niemals zur Rechenschaft gezogen worden. Viele erhielten milde Strafen oder wurden freigesprochen. Die Gerichte erkannten die Argumentation an, sie hätten aus Pflichtgefühl oder Sabotageabsicht gehandelt. Das Vermächtnis von Nürnberg hatte unter den Vorzeichen des Kalten Krieges seit den 1950er-­Jahren an Bedeutung verloren und war einer „Schlussstrichmentalität“ 70 gewichen. Begangenes Unrecht wurde verdrängt. Das neue Feindbild des Kommunismus ließ in Westdeutschland die Kriegsverbrechen in den Hintergrund treten. Und auch in der DDR war man an einer umfassenden Aufarbeitung nicht interessiert.71

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Anmerkungen 1 2 3 4 5 6

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Vgl. Faulstich 1998. Schmuhl 2011, S. 10. Preußischer Staatsanzeiger Nr. 172, 26. Juli 1933. Vgl. Roelcke 2004 sowie ders. 2007. Vgl. Schmuhl 2005. Vgl. Schmuhl, „Vom engagierten Sozialhygieniker zum Parteigänger des Nationalsozialismus. Hans Reiters Rostocker Jahre, 1919 – 1933“ in diesem Band. Zit. nach Reiter, in: Pohlen 1936, ohne Seitenangabe. 1936 wurde Rassenhygiene zum Prüfungsfach an deutschen Universitäten und durch die Studienreform von 1939 zum Pflichtfach für Medizinstudenten. Vgl. auch den Beitrag von Hackbarth: „Die Institutionalisierung der Rassenhygiene an der Universität Rostock“ in diesem Band. Trotz der akribischen Suche nach der erblichen Bedingtheit vieler geistiger Störungen war es in Prinzip nicht gelungen, bis zum Ende des „Dritten Reiches“ entsprechende Nachweise zu finden. Dennoch war es der Glaube an die Wissenschaftlichkeit der Maßnahmen, der das gesamte System von Selektion und Ausgrenzung trug. Nur so konnte der Verdacht auf etwaige Willkür oder gar Ungerechtigkeit zerstreut werden. Vgl. Müller-­Hill 1991. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 (GzVeN), in: RGBl. 1933, Teil 1, S.  529 – 531. Verordnung zur Ausführung des GzVeN vom 5. Dezember 1933, in: RGBl. 1933, Teil 1, S. 1021 – 1036. Bock 1986. LHAS 5.12 – 7/1, Nr. 11129. LHAS 5.12 – 7/1, Nr. 2513. Skalweit/Schiersmann 1935. Vgl. Skalweit 1935a. Skalweit 1935b, S. 402. Ebd., S.  401 – 420. UAR Kc/837. Miesch 1996, S. 6. Harms 2004, S. 253. Stadtarchiv Wismar, Ratsakte 2.2.8.8, Nr. 39. Vgl. Schmuhl 2011. BArch Berlin, DP 3/859, B. 15, H. 2/72. Zit. nach Schmuhl 1987, S. 190. Zit. nach Klee 2001, S. 93.

27 Vgl. Haack et al. 2016, hier vor allem S.  15 – 20. 28 LHAS 5.12 – 7/1, Nr. 10055. 29 LHAS 5.12 – 7/1, Nr. 10055. 30 Süß 2003, S. 49. 31 In der historischen Forschung wurde die zentrale Tötung der psychisch Kranken und Behinderten zwischen 1940 und 1941 nach dem Sitz in der Tiergartenstraße „Aktion T4“ benannt, währenddessen die Nationalsozialisten selbst nur von „der Aktion“ sprachen. 32 Vgl. Harms 2010. 33 Vgl. Witzke 2012; Haack/Kumbier 2013, S. 276 f. 34 LHAS 5.12 – 7/11, Nr. 13968: Aufnahmeund Entlassungsbuch der Heil- und Pflegeanstalt Sachsenberg 1941. 35 Am 21. August 1941 hatte Hitler Karl Brandt angewiesen, den Patientenmord zumindest vorerst zu stoppen. Interne Proteste – so predigte etwa der Münsteraner Bischof Graf Clemens von Galen am 3. August 1941 offen gegen die „Euthanasie“ – wie auch mahnende Stimmen aus dem Ausland mögen Gründe gewesen sein. Das technische Know-­how einschließlich des Personals wurde nun genutzt, um jüdische Patienten sowie KZ-Häftlinge zu ermorden, bevor man dazu überging, die in den „Euthanasie“-Anstalten gemachten Erfahrungen auf die Konzentrationslager auszuweiten. Vgl. Süß 2004, S. 327 ff. 36 UAR Jahresbericht, Datierung: 1903 – 1942, Bl.  105. 37 Die psychiatrischen Betten wurden für ein Reservelazarette sowie den zivilen Luftschutz zweckentfremdet. 38 Krankenblattarchiv Zentrum für Nervenheilkunde, UMR. 39 Leider sind die Mehrzahl der Krankenakten der Gehlsheimer Klinik aus der Zeit des Nationalsozialismus in den 1970er-­Jahren kassiert worden. Immerhin konnte in vier von insgesamt 391 erhalten gebliebenen Akten ein solcher Vermerk gefunden werden. 40 Synder 2001, S. 73 – 95. Vgl. auch den Aufsatz von Haack in diesem Band „Veränderung des Blickwinkels: Opfer von Zwangssterilisationen

und „Euthanasie“ an der Universität Rostock“. 41 BStU, AR 8, Bl. 14. 42 Bostroem wollte auf Anregung von Karsten Jaspersen, Chefarzt der psychiatrisch-­neurologischen Abteilung des Diakonissenhauses Sarepta der Bodelschwingschen Anstalten Bethel, Psychiater gewinnen, die sich öffentlich gegen die „Euthanasie“-Maßnahmen wendeten, neben Braun auch den früheren Rostocker Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie Oswald Bumke (1877 – 1950) sowie den Rassenhygieniker und Vorsitzenden der Gesellschaft deutscher Psychiater und Neurologen, Ernst Rüdin (1874 – 1952). Dies gelang jedoch nicht. 43 Bostroem, zit. nach Peters 2013, S. 112. 44 Ebd. 45 Jaspersen war einer der wenigen Ärzte, die sich offiziell gegen die Tötungen psychisch Kranker und behinderter Menschen aussprachen. Vgl. Peters 2013. 46 Bostroem, zit. nach Peters 2013, S. 112. 47 https://de.wikipedia.org/wiki/T4-Gutachter (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 48 UAR: Jahresbericht, Datierung: 1903 – 1942, Bl.  84. 49 http://rosdok.uni-­rostock.de/data/ Preview-­PuV/PDF/1955_SS_VV.pdf (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). 50 BArch R 96/I/7. 51 Süß 2004, S. 327 ff. 52 Ebd.; Schmuhl 2011. 53 Faulstich 1998. 54 Zu den Bedingungen in psychiatrischen Anstalten des Landes Mecklenburg 1946 vgl. Haack 2018. 55 Die Auswertung der Diagnosekarten ergab eine Mortalitätsrate von etwa 5 %. Das entspricht der Vorkriegsund auch Vor-­NS-Zeit. Erst die katastrophalen Verhältnisse nach dem Krieg hatten zwischen 1946 und 1948 eine erhöhte Sterberate zwischen 15 und 20 % zur Folge. Vgl. Haack et al. 2009. 56 Schon vor Beginn der „Aktion T4“ und später parallel dazu soll der Arzt Alfred Leu (1900 – 1975) in der Schweriner Anstalt mit Medikamenten ge-

Zwangssterilisationen und „Euthanasie“

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

mordet haben. Vgl. Rüter-­Ehlermann et al. 1974. 57 Vgl. Haack et al. 2016. 58 Am 26. März 1943 kam für Domjüch das endgültige Aus als psychiatrische Einrichtung. Der Gauleiter und Reichsverteidigungskommissar für den Reichsverteidigungsbezirk Mecklenburg, Friedrich Hildebrandt, verfügte, die Anstalt aufzulösen und „[…] die dort befindlichen Geistesund Nervenkranken in die Anstalten Sachsenberg und Gehlsheim“ zu verlegen (LHAS 5.12 – 7/11, Nr. 10566). Fortan fungierte die Einrichtung

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als Tuberkulosekrankenhaus. Am 11. April und 17. Mai 1943 wurden insgesamt 95 Frauen und 89 Männer zum Sachsenberg gebracht (LHAS 5.12 – 7/11, Nr.  375). BStU AR 8, Bl. 14. LHAS 5.12 – 7/11, Nr. 10063. Nach Auswertung der von mir im LHAS aufgenommenen Krankenakten sowie der Zu- und Abgangsbücher der Anstalt Schwerin-­Sachsenberg während der NS-Zeit. Vgl. den Beitrag von Haack zu den Opfern von Zwangssterilisation und „Euthanasie“ in diesem Band.

63 Vgl. Haack et al. 2016, S. 96 – 101 sowie vor allem Pelz 2009. 64 Runderlass des Reichsministerium des Innern vom 30. Mai 1941–IV W I 9/41 – 7805. 65 Beddies/Hübener 2004. 66 Schmuhl 2011. 67 Pelz 2009. 68 Vgl. Haack et al. 2016, hier vor allem S.  96 – 101. 69 Roelcke 2010. 70 Kersting/Schmuhl 2004, S. 55. 71 Vgl. Wanitschke 2005.

Literaturverzeichnis Quellen

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Zwangssterilisationen und „Euthanasie“

Veränderung des Blickwinkels Opfer von Zwangssterilisationen und „Euthanasie“ an der Universität Rostock Kathleen Haack

Abb. 1  Kopie der Krankenakte einer Patientin, die von Rostock-­Gehlsheim nach Schwerin-­Sachsenberg verlegt wurde, darauf der Vermerk der Sterilisation sowie die von der T4-Zentrale in Berlin vergebene Z-Nummer, die zeigt, dass die Patientin zur Deportation und Tötung ausgewählt wurde.

Wer waren die Menschen, die wegen einer psychischen Erkrankung oder einer Behinderung als „Ballastexistenzen“ und „minderwertig“ etikettiert wurden? Welche Spuren haben diejenigen hinterlassen, deren Ausschluss aus der Fortpflanzungsgemeinschaft als Reinigung der menschlichen Gesellschaft proklamiert wurde? Und welche Kriterien sprachen dafür, dass vielen von ihnen das Recht auf Leben abgesprochen wurde, sie durch eine sechsstellige, zentral von Berlin vergebene Nummer als „lebensunwert“ klassifiziert wurden (Abb. 1)? Im Folgenden soll der Versuch einer Annäherung an einen kleinen Teil jener Menschen unternommen werden, deren existentielle Spuren sich zunächst nur in einer Krankenakte erhalten haben. Diese Dokumente vermögen wenig über den Einzelnen in seiner Individualität auszusagen. Selbst wenn sie teilweise persönliche Belege enthalten, können sich Krankenakten ihrer Herkunft nicht entziehen: Sie sind zweckorientiert angelegte Dokumentationsmittel innerhalb der Medizin. Erschwerend kommt hinzu, dass die Sprache des „Dritten Reiches“ nicht nur, wie Victor Klemperer (1881 – 1960)1 eindrucksvoll dargestellt hat, eine veränderte war; nein: Man brauchte kaum noch eine Sprache für die „Minderwertigen“ und „Unnützen“. Die immer seltener werdenden Einträge in den Krankenakten erschöpften sich in wenigen Worten über deren Nutzen. Und dennoch sind sie häufig genug die einzig verbliebenen Zeugnisse eines Lebens und manchmal, wenn auch selten, der Ausgangspunkt für eine (kurze) Lebensgeschichte. Im Folgenden sollen Einzelschicksale von Menschen und Gruppenschicksale dargestellt werden, die durch die Beteiligung von Ärzten der Medizinischen Fakultät Rostock Opfer der nationalsozialistischen Gesundheitspolitik wurden. Zugleich soll der bereits seit den 1980er-­Jahren geforderten Veränderung des Blickwinkels innerhalb der Medizinhistoriografie Rechnung getragen werden, die Entwicklung medizinischer Theorien und Techniken und die auf große Männer zentrierte Geschichtsschreibung durch die Patientenperspektive zu ergänzen.2 Die wenigen vorhandenen Selbstzeugnisse können nur einen kleinen Einblick in die Sorgen und Ängste der erwachsenen Patienten gewähren. Noch schwieriger wird es bei den Kindern, die häufig zu klein waren und/oder nicht die intellektuellen Fähigkeiten hatten, Briefe, Zeichnungen o. Ä. zu hinterlassen.

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„In Sachen meiner Frau wegen ­Unfruchtbarmachung“: Auguste B.

Abb. 2  Überweisung von Auguste B. in die Psychiatrische und Nervenklinik Gehlsheim aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses.

Nicht selten gerieten Menschen mit geringem Bildungsniveau in den Fokus derjenigen, die durch den „fortschreitende[n] Verlust wertvoller Erbmasse […] eine schwere Entartung aller Kulturvölker“ 3 vorhersahen. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) am 1. Januar 1934 schien endlich eine Handhabe, dieser „verhängnisvollen Bevölkerungsentwicklung“ entgegenwirken und durch den Einsatz der selektionistischen „praktischen Rassenhygiene” die biologische Gesundung des „Volkskörpers“ herbeiführen zu können. In den Fokus gerieten Menschen, die vermeintlich an sogenanntem Schwachsinn, auch moralischem (Psychopathie), litten; eine Diagnose, die wegen ihrer Unschärfe und somit Vieldeutigkeit ein breites Spektrum von Normabweichungen zu erfassen vermochte.4 Eine erste systematische Durchsicht der Poliklinikakten der Psychiatrischen und Nervenklinik Gehlsheim bestätigt einen solchen Befund. In diesen Akten sind zahlreiche Dokumente über die Verfahren im Rahmen des GzVeN erhalten geblieben. Die am häufigsten gestellte Diagnose, die zu einer Anzeige bzw. dem Antrag auf Unfruchtbarmachung führte, war „Schwachsinn“ mit beinahe 40 %.5 Bei genauerer Durchsicht verstärkt sich zudem der Eindruck, dass dabei häufig Menschen mit mangelnder Bildung in den Fokus gerieten, nicht selten gekoppelt an Armut und der Notwendigkeit, schon als Kind zum Lebensunterhalt beigetragen haben zu müssen. Dass diese Menschen lebenstüchtig und sich des damit verbundenen Unwerturteils durchaus bewusst waren, beweist eindrücklich ein Schreiben des Ehemanns der Patientin Auguste B., welches in ihrer Poliklinikakte erhalten geblieben ist.6 Auguste B. wurde 1896 geboren. In den Fokus der Psychiatrie geriet sie 1934 im Zuge ihrer Schwangerschaft, bei der sie sich auch beim zuständigen Amtsarzt Walter Buschmann (1879–?) vorstellen musste. Er diagnostizierte bei Auguste B. eine Intelligenzminderung („angeborener Schwachsinn“). Daraufhin wurde sie zunächst in die Nervenpoliklinik und schließlich in die Psychiatrische und Nervenklinik Gehlsheim zur Beobachtung überwiesen (Abb. 2). Die Diagnose wurde von den zuständigen Ärzten bestätigt. Und auch ihre Kinder gerieten so in den Fokus der gesundheitspolitischen Überwachung. Der Direktor der Klinik, Max Rosenfeld (1871 – 1956), konstatierte: „Die Unfruchtbarmachung scheint berechtigt. Ein Ausnahmefall nach Artikel 1 Abs. 2 […] zum Erb-

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gesundheitsgesetz liegt nicht vor.“ 7 Aufgrund ihrer Schwangerschaft wurde die Sterilisation zunächst ausgesetzt. Erst im Herbst 1935, wohl nach der Geburt des Kindes, wurde diese wiederum thematisiert. Aus dieser Zeit stammt das Schreiben des Ehemanns, Paul B., an den Klinikleiter. In dem am 15. September 1935 verfassten Brief bittet er, von einer Sterilisation abzusehen. Paul B. führt an, dass seine Frau aufgrund der Armut der Familie schon in jungen Jahren in Stellung gehen musste und für die Schule kaum Zeit war. Dennoch ist sie im Alltag sehr lebenstüchtig. Aus den Zeilen spricht ein sehr liebevoller und anerkennender Ton: In Sachen meiner Frau wegen Unfruchtbarmachung fühle ich mich veranlasst Ihnen von mir aus ein klares Bild meiner Frau darzustellen. Weil es jetzt auf ihr Gutachten ankommt, ob meine Frau normal ist, ebenso meine Kinder und wir weiterhin glücklich zusammenleben können. Oder ob meine Frau unfruchtbar gemacht wird, und wir von da an unglücklich sind. Meine Frau hat mit 9 oder 10 Jahren Ihren Vater […] verloren, bekam mit 11 Jahren einen Dienstschein vom Pastor ausgestellt, damit ging sie in Stellung […]. Durch den Dienstschein kam sie nur 3 Tage in der Woche zur Schule […]. Und heute kann sie solches nicht nachholen. […] Und wir können auf eine glückliche Ehe zurückblicken. Und war bisher stolz auf unsere Kinder. Sehr geehrter Herr Professor. Ich gebe als Zeugnis für die Kinder die Schulzeugnisse mit. Und damit es zu sehen ist die Leistung meiner Frau, gebe Ich ein Kleid und eine Schürze mit. Solches hat meine Frau selbst gemacht, sie macht fast sämtliches Zeug […]. Ich möchte dringend bitten dieses Schreiben auch mit Ihr [sic] Gutachten beim Erbgesundheitsgericht zu überweisen.

All dies half nichts. Auguste B. wurde 1936 in der Frauenklinik der Universität Rostock zwangssterilisiert. Danach verlieren sich ihre Spuren.

Unter Generalverdacht der erblichen Belastung: Die Kinder und Jugendlichen des Michaelshofes Rostock Bereits seit dem beginnenden 20. Jahrhundert lässt sich eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Vertretern der staatlichen Fürsorge und der Psychiatrie konstatieren. In Rostock spiegelte sich dies vor allem beim Aufbau einer sogenannten Psychopathenfürsorge wider, bei der die Insassen der Rettungsanstalt Gehlsdorf (ab 1931 Michaelshof), eine Einrichtung für „verwahrloste“ Kinder und Jugendliche und Waisen, zunehmend in den Fokus der Psychiatrie gerieten.8 Bereits 1927 war es auf Initiative der in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Psychiatrischen Klinik Gehlsheim zur Eröffnung einer „Abteilung für Heilerziehung psychopathischer Minderjähriger beiderlei Geschlechts im Alter von mindestens 6 Jahren“ 9 im Erziehungsheim gekommen – ein Projekt, welches durch staatliche Mittel finanziert worden war, in ärztlicher Kooperation stand und dem Geist der Zeit entsprach. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde das Paradigma eines erbbiologisch fundierten gesunden „Volkskörpers“ endgültig auf dem Michaelshof umgesetzt. Nun wurden all jene Zöglinge herausgefiltert, die unter das GzVeN fielen. Darüber hinaus sollte entschieden werden, ob eine aktive Erziehung, „ein Wiederwertigmachen für die Volksgemeinschaft“ 10, welche personelle, zeitliche und damit enorme finanzielle Ressourcen erforderte, überhaupt sinnvoll sei oder ob lediglich „eine Bewahrung des betreffenden Jugendlichen 11 anzuordnen war. Prinzipiell standen die Kinder und Jugendlichen unter dem „Generalverdacht“ der erblichen Belastung, sodass die Verantwortlichen bei der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV ) von Anfang an insistierten, alle „Schüler der dortigen Anstalt, die […] zur Entlassung kommen […] zu melden, da der dringende Verdacht einer Erbkrankheit best[ünde].12 Diese Schreiben wurden auch immer in Kopie

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Abb. 3  Benachrichtigung an den Oberarzt der Psychiatrischen Klinik Gehlsheim, Wolf Skalweit, durch Pastor Karsten über die Vorstellung zweier Mädchen in der Poliklinik zur Untersuchung im Rahmen des GzVeN. Abb. 4  Aufforderung zur Vorstellung von Fürsorgezöglingen in der Psychiatrischen Klinik Gehlsheim zur Untersuchung im Rahmen des GzVeN.

der Psychiatrischen Klinik Gehlsheim übersandt, deren Ärzte die Untersuchungen der Zöglinge in der Nervenpoliklinik vornahmen bzw. die Betroffenen zur Beobachtung in die Anstalt einweisen ließen (Abb. 3, 4). Nicht wenige der Kinder und Jugendlichen, bei denen zuvor eine Psychopathie diagnostiziert worden war, erhielten durch die Ärzte der Gehlsheimer Klinik nun zusätzlich die Diagnose Schwachsinn und fielen damit unter das GzVeN. Nach derzeitigem Kenntnisstand sind zwischen dem 1. Januar 1934, dem Inkrafttreten des Gesetzes, und Frühjahr 193613 mindestens 88 Kinder und Jugendliche des Michaelshofes angezeigt worden, wenigstens 22 wurden in dieser Zeit zwangssterilisiert, darunter mindestens ein Junge unter 14 Jahren. Spätestens ab 1941 und der Einrichtung einer Kinderfachabteilung in der Anstalt Schwerin-­ Sachsenberg war der Wechsel von der fürsorgerischen in die psychiatrische Instanz mehr denn je zuvor mit dem Risiko der aktiven Tötung verbunden.14 Zwischen 1933 und Anfang 1940 waren neun Zöglinge in Gehlsheim untersucht und nach Schwerin verlegt worden, zwischen 1940 und 1945 nachweislich 53; mit hoher Wahrscheinlichkeit waren es mehr, zumal der Michaelshof in dieser Zeit viele Kinder aus Heimen aufnehmen musste, die geschlossen worden waren – so u. a. aus dem Feodoraheim Rostock, dem Katholischen Kinderheim Parchim oder den Lobetaler Anstalten bei Lübtheen. Von 62 nachweisbar vom Michaelshof in die Schweriner Anstalt Verlegten sind 54 Krankenakten erhalten geblieben, 21 von ihnen sind direkt in die Kinderfachabteilung gebracht und mit hoher Wahrscheinlichkeit gezielt getötet worden.15 Insgesamt wissen wir kaum etwas über die Kinder und jungen Erwachsenen. Was bleibt, sind lediglich ihre Krankenakten, die nur wenige Spuren ihres kurzen Lebens aufzuzeigen vermögen, ihr Tod ist jeweils dokumentiert.

Günter L.16 6. April 1933 – 9. Mai 1943 Günter wird als „freundlicher, williger und zutraulicher Junge“ beschrieben, der selbstständig und manierlich isst und völlig sauber ist. Sein Intelligenzalter wird auf vier Jahre geschätzt. Seine Lernerfolge werden jedoch als zu gering bewertet, sodass schließlich konstatiert wird: „Er belastet völlig zwecklos die Klasse und wird deshalb ausgeschult und der Kinderstation Sachsenberg überwiesen.“ Der Leiter der Kinderfachabteilung in der

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Schweriner Anstalt, Dr. Alfred Leu (1900 – 1975), beschreibt Günter als „ruhig […] aber fast ohne Antrieb“. „Er lächelt freundlich, wenn er angesprochen wird.“ Ab Ende April 1943 nehmen die Einträge nur noch Bezug auf das körperliche Befinden: Er hustete häufig, klagte über Schmerzen, der Puls war klein, er hatte Atemnot. Am 9. Mai 1943 starb der Junge. Als offizielle Todesursache wird ein Darmverschluss angegeben.

Franz R.

29. April 1930 – 17. Februar 1945

In der Krankenakte heißt es: „Sein Vater sei zu Hause, die Mutter gehe auf Arbeit, deshalb seien die jüngeren Geschwister und er nach Michaelshof gekommen […]. Er habe die Schule in Bastorf besucht […,] glaube etwa ½ Jahr in Michaelshof gewesen zu sein. […] Es sei Krieg mit den Russen u. den Anderen […] ‚Ich meine die Fliegers [sic], die immer abends kommen.‘ Er ist sprachlich sehr ungewandt u. unbeholfen. Bei der Untersuchung aber zugänglich, freundlich u. zutraulich […]“. Ab Mai 1944 erfolgen die Einträge von Alfred Leu: „recht stumpf und unbeteiligt. Kommt beim Spielen mit den anderen Kindern nicht recht mit. 10.2.45 starke Erkältung, deutliche Pneumonie re. o. 17. 2. 1945 heute an Pneumonie verstorben.“

Paul R.

19. August 1921 – 18. September 1943

Paul war vom Michaelshof zunächst nach Gehlsheim verlegt worden, wo er mehrfach ausriss und sich immer wieder auf den Boden des Michaelshofes versteckte. In seiner Krankenakte ist ein kurzer Brief vom 12. Februar 1940 an seine Eltern erhalten geblieben: „Liebe Eltern, Euer Sohn Paul […] teilt euch mit, daß er Palmarum zu Hause gewesen (!) Es ist sonst eigentlich nicht schlecht gefallen, das Essen ist gut gewesen, und hat garnicht schlecht geschmeckt. Die Kirche hat euren Sohn Paul, […] Am 26. September (!) Paul […] nach Gehlsheim gekommen mit einer Überführung. Es dauert nicht lange ist R[.] frei, vielleicht noch vor Weihnachten […]. Seid herzlich gegrüßt von euren Sohn Paul […].“ Er wird nicht mehr nach Hause kommen, bleibt in der Gehlsheimer Klinik, wird am 7. Januar 1943 im Zuge einer ministeriellen Anordnung in die Anstalt Domjüch verlegt, nach deren Schließung kommt er im Mai 1943 auf den Sachsenberg. Die letzten Einträge von Dr. Leu ab Juli 1943 lauten: „liegt im Bett […] ohne Antrieb, 12.9. Atemnot, klagt über Schwäche, Puls klein und schwach, 18.9. heute an Lungenentzündung verstorben.“

„Späte Gerechtigkeit“: Anna Möller (1886 – 1942) „Sie im Zusammenhang mit den Gräueltaten des NS -Regimes zu nennen, ist ja genau die Art von später Gerechtigkeit, die man ihr noch erweisen kann.“ (Walter Möller, Enkelsohn von Anna Möller in einem Brief vom 23. 1. 2014)17 Anna Möller (Abb. 5) gehört zu jenen Patienten, die im Rahmen der „Aktion T4“ ermordet worden sind. Am 18. September 1886 in Schwaan geboren, war sie seit 1905 mehrfach in psychiatrischer Behandlung in Rostock-­Gehlsheim, ab 1924 dauerhaft dort verwahrt. Den therapeutischen Möglichkeiten der Zeit entsprechend wurden Bäder verordnet und medikamentös Isopral gegeben, ein zur Beruhigung verabreichtes Derivat, welches u. a. bei Psychosen Anwendung fand. Ab den 1930er-­Jahren sind keine Einträge über mögliche Therapien in der Krankenakte vorhanden. Anna Möller wird als antriebslos beschrieben. Ihre Diagnose, die lange Aufenthaltsdauer sowie die Tatsache, dass sie sehr selten zu

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Arbeiten in der Anstalt eingesetzt werden konnte, sind für Ihre Selektion im Rahmen der „Euthanasie“ ausschlaggebend. Sehr wahrscheinlich hätte schon eines der Kriterien dafür ausgereicht. Am 29. September 1941 wird sie, gemeinsam mit 22 weiteren Patienten der Rostocker Klinik, durch die Busse der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH (Gekrat), einer Unterabteilung der Zentralstelle T4, abgeholt und in die Zwischenanstalt nach Uchtspringe in der Altmark verlegt. Durch die Beendigung der zentral gesteuerten Aktion durch Adolf Hitler Ende August 1941 erfolgte keine Weiterlegung in die Tötungsanstalt Bernburg. Dies jedoch war nur ein Aufschub des längst beschlossenen Todes von Anna Möller. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde sie mit Morphiumspritzen, Tabletten oder Nahrungsentzug getötet 18, auch wenn die offizielle Todesursache am 25. Mai 1942 mit Altersschwäche angegeben wurde.19 Walter Möller, Enkelsohn von Anna Möller, hatte jahrelang keine Gewissheit über das Schicksal seiner Großmutter. Das Schweigen innerhalb der Familie war kein Einzelfall und steht exemplarisch für ein gesamtgesellschaftliches Phänomen von Verschweigen, Vertuschen und (innerer) Abwehr der Verbrechen.

Abb. 5  Anna Möller um 1920.

Eine eigentlich unglaubliche Tatsache ist das Schweigen, das in unserer Familie über Jahrzehnte zu diesem Thema gewahrt wurde. Ein oder zwei Male kam es zu punktuellen Enthüllungen, die über Umwege zu mir gedrungen sind. Sehr spät, ich war schon Student, hätte sich eine Gelegenheit ergeben, aus erstklassiger Quelle etwas zu erfahren. Meine Eltern waren verreist, und ich besuchte alleine unseren „Opa Möller“ in der Wohnung am Waldschlößchen. Dort stand, solange ich denken kann, das oben eingefügte Foto auf dem Klavier, von dem ich aber nur wusste, dass es meine Großmutter darstellte. Im Gespräch ging es um Opas gute finanzielle Lage als Angestellter der Knappschaft. Dann sagte er sinngemäß: „Sonst hätte ich das ja auch gar nicht schaffen können, mit meiner Frau.“ Ich weiß, dass mir viele Fragen in diesem Moment im Kopf herumschwirrten. Ich studierte Geschichte! Gestellt habe ich sie nicht. Das Thema war tabu. Ein Familiengeheimnis, wie es in vielen Familien existiert, das aber auch vielleicht Wirkungen für das gemeinsame Leben und für das Seelenleben jedes Familienmitglieds gehabt hat. Zu gerne hätte ich noch mehr Licht in dieses Dunkel gebracht […]. Die Erinnerung an unsere Großmutter und ihr trauriges Schicksal wach zu halten erscheint mir aber umso notwendiger. Wer die Aktion T4 allein als Verbrechen „der Nationalsozialisten“ oder „der Täter“ begreift, verschließt die Ohren vor den Botschaften der Ermordeten. Die Opfer der Euthanasie galten vielen als Last. Sie starben gewaltsam und von aller Welt verlassen (Walter Möller, 2015, mit freundlicher Genehmigung).

„Es empfiehlt sich jedenfalls, die Sippenuntersuchung durchzuführen“: Günter Nevermann (1933 – 1942) Günter Nevermann 20, 1933 in Wismar geboren, verbrachte viel Zeit seiner ersten Lebensjahre in Rostocker Kliniken. Schon bald nach der Geburt hatte sich herausgestellt, dass der Junge die Beine kreuzte, nur schwer sitzen und ohne Hilfe nicht stehen konnte. Dies verbesserte sich im Lauf der Zeit kaum. Die behandelten Ärzte der Orthopädischen und Pädiatrischen Klinik sowie der Psychiatrischen Poliklinik in Rostock konstatierten im September 1935: Es ist möglich, daß es sich […] um Störungen handelt, die in der Richtung einer Little’schen Erkrankung liegen und die dann sehr wahrscheinlich exogen bedingt sind und ihre Ursache vielleicht in cerebralen Blutungen durch die Zangengeburt haben.21 (Abb. 6)

Günter Nevermann wurde konservativ mit Spreizbett und -gips behandelt. Eine Einweisung in ein Altersheim lehnte die Mutter 1939 ab. Um die Beschulung des Jungen zu gewährleisten,

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sollte er dauerhaft in das Elisabethheim Rostock, der ehemaligen Krüppelanstalt der Stadt, aufgenommen werden. Neben der fachärztlichen Betreuung erhielten die Kinder dort eine schulische und, soweit möglich, auch eine berufliche Ausbildung. Zunächst schien dieses Unterfangen erfolgreich zu sein. Am 27.  Februar 1942 wurde dem Wohlfahrtsamt in Wismar durch den leitenden Arzt und späteren Ordinarius für Orthopädie an der Medizinischen Fakultät Rostock, Paul-­Friedrich Scheel (1883 – 1959), mitgeteilt: An und für sich kann Günter Nevermann aufgenommen werden, da es uns gelungen ist, für den Patienten ein Bett frei zu machen […]. Ich empfehle die Aufnahme zunächst zum Zwecke der Beobachtung […], um festzustellen, wie weit der Junge förderungswürdig ist. Vielleicht ist es inzwischen möglich, wie angeregt worden war, durch Sippenuntersuchung festzustellen, wie weit die Familie als förderungswürdig zu betrachten ist. Es empfiehlt sich jedenfalls, die Sippenuntersuchung durchzuführen, bevor der Junge auf die Dauer zur Erziehung und Beschulung aufgenommen wird.22

Es ging hier also nicht mehr um das Wohl des einzelnen Kindes. Die Förderungswürdigkeit sollte anhand der Sippe, der kleinsten Zelle der „Volksgemeinschaft“, festgestellt werden. Nationalsozialistische Erziehung stellte nicht das Wohl des einzelnen Kindes mit seinen Bedürfnissen und Wünschen in den Mittelpunkt, sondern das Volksganze: „aus volkseigener (arteigener, rassemäßiger) Bildsamkeit ist durch artgemäße Erziehungsweisen und Erziehungsinhalte der völkische Mensch zu formen.“, so Ernst Krieck (1882 – 1947), einer der führenden Erziehungswissenschaftler im „Dritten Reich“.23 Platz für kranke und schwache Kinder war dabei nicht vorgesehen, denn bei „möglichst geringer Pflege“ bedürfe es derjenigen, die „am leistungsfähigsten und widerstandsfähigsten sind.“ 24 Diejenigen, die sich diesem Diktat nicht unterordnen wollten oder konnten, galten als Schädlinge der Volksgesundheit. Dass unter diesen Vorzeichen das 1924 in Kraft getretene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz, welches „jedem deutschen Kind […] das Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ (§ 1) zubilligte, auf der Strecke blieb, kann kaum verwundern. Recht war nicht mehr originär, sondern hatte sich dem Dienst an der „Volksgemeinschaft“ unterzuordnen. Und so kam es erst gar nicht zur Beobachtung von Günter Nevermann im Elisabethheim. Obwohl die Erkrankung als exogen angesehen wurde, die Familie noch zwei weitere gesunde Kinder hatte (Abb. 7), ergab die Sippenforschung, dass die „Förderungswürdigkeit des Nevermann nicht angenommen werden kann […]“. Es wurde empfohlen, „[…] den Jungen unter diesen Umständen nicht zur Beschulung aufzunehmen […].“ 25 Ohne je eine Chance gehabt zu haben, konstatierte das Büro des Oberbürgermeisters in Wismar am 17. Juni 1942 kurz und knapp: „Wegen Bildungsunfähigkeit aus Schulpflicht entlassen.“ 26 Mit dieser Etikettierung war das Schicksal des Jungen vorherbestimmt. „Bildungsunfähigkeit“ galt als Aussonderungskriterium, nicht selten entschied es über Leben und Tod.

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Abb. 6  Auszug aus der Poliklinikakte Nervenklinik Rostock (1935).

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Wie viele andere Kinder und Jugendliche, die zunächst in Rostocker Kliniken behandelt worden waren, war die Prognose letztendlich ausschlaggebend, die Bildungsfähigkeit und damit potentielle „Brauchbarkeit“ zu beurteilen. Der Junge wurde abgeschrieben, da er für künftige Generationen nicht tragfähig erschien. Er wurde abgeschoben wie viele andere in die Kinderfachabteilung nach Schwerin. Seine Eltern kämpften verzweifelt für seine Entlassung. Die Mutter holte den Jungen ohne Zustimmung aus der Schweriner Anstalt, sodass von Seiten des Jugendamtes Wismar angedroht wurde, das Sorgerecht zu entziehen. Vergebens schrieb der zu dieser Zeit an der Ostfront kämpfende Vater von Günter, dass „der Junge nicht geistesschwach, sondern nur gelähmt ist“.27 Die Antwort erfolgte am 10. November: Ihr Sohn wurde […] in das Kinderheim Lewenberg in Schwerin gebracht, nachdem Herr Dr. Scheel erklärte, dass das Kind in ein Krüppelheim nicht aufgenommen werden könne […]. Es ist dort gut aufgehoben, es wird dort gut betreut und steht unter ärztlicher Aufsicht. Im Interesse des Kindes ist ein Verbleiben in Lewenberg notwendig, da es nur dort die nötige Beschulung erhalten kann […]. So, wie jetzt, ist die Angelegenheit für ihren Sohn als auch für ihre Ehefrau am besten geregelt.28 (Abb. 8)

Abb. 7  Günter Nevermann gemein­ sam mit seinen zwei Schwestern. Abb. 8  Günter Nevermann im Garten des elterlichen Hauses in Wismar kurz vor seinem Tod.

Gut einen Monat später war Günter Nevermann tot. Der Nationalsozialismus hatte das hybride Ziel, eine neue, nach Erbwert geschichtete Gesellschaft zu schaffen. Dies ist im sogenannten Dritten Reich zwar real gescheitert. Ebenso real sind und bleiben die im Zuge dieser Erbgesundheits- und Rassenpolitik billigend in Kauf genommenen Opfer, bei der der „Wert“ des Einzelnen keine Rolle mehr spielte. Ärzte und Wissenschaftler wirkten an der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ anscheinend bereitwillig mit. Die daraus in der historischen Forschung lange Zeit abgeleitete These, den Nationalsozialismus als eine „Zeit ohne Ethik“, als abgetrennte Ära darzustellen, vermag allenfalls „emotional zu befriedigen“ 29, so die berechtigte Intervention in der wegweisenden Studie zur Ethik im Nationalsozialismus von Florian Bruns. Gerade weil die Grausamkeit der Verbrechen der NS -Medizin so einzigartig erscheinen, fragen neuere Untersuchungen stärker nach deren Vor- und Nachgeschichte. Die praktisch umgesetzte Gesundheitspolitik während der Zeit des Nationalsozialismus stellt, wie Volker Roelcke zurecht hervorhebt, „nicht einfach eine abgegrenzte Epoche aus der gesamten Geschichte der Medizin dar, die mit der heutigen Medizin praktisch nichts mehr zu tun hat. Vielmehr sind in der Zeit zwischen 1933 und 1945 problematische Potenziale, die der gesamten modernen Medizin inhärent sind, wie unter einem Vergrößerungsglas besonders deutlich sichtbar geworden.“ 30 Es geht also nicht um eine rein formelhaft wiederholte Verurteilung der NS -Geschichte, sondern um Versuche, Nahtstellen und Verknüpfungen zwischen der Vergangenheit und Gegenwart herzustellen. Dies beinhaltet neben aktuellen Diskussionen zur Präimplantationsdiagnostik, zur Sterbehilfe oder zur Reproduktionsmedizin auch, die „kaum gehörten Stimmen, die die Hypothek einer noch unerledigten Vergangenheit einklagen“ 31 wahrnehmbar zu machen. Die Leiden und Beeinträchtigungen der Opfer und ihrer Familien haben sich mit der Zeit nicht einfach aufgelöst. Sie reichen in die Gegenwart, sollten aufgedeckt und bearbeitet werden.

Kathleen Haack

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Medizin unterm Hakenkreuz

Anmerkungen 1 2 3 4

Vgl. Klemperer 1947. Vgl. vor allem Porter 1985. Gütt et al. 1934, S. 16. Die noch immer maßgebliche Studie zum Thema Zwangssterilisation im Nationalsozialismus wurde von ­Gisela Bock 1986 veröffentlicht, vgl. Bock 1986. 5 Krankenblattarchiv (Poliklinikakten), Zentrum für Nervenheilkunde (KblA, Pol), UMR, unsortiert. Nicht in allen Fällen lässt sich nachvollziehen, ob der Antrag auch umgesetzt und die Sterilisation tatsächlich ausgeführt worden ist. Die schlechte Quellensituation erschwert die systematische Aufarbeitung der Vorgänge. Weder in der Chirurgischen noch Frauenklinik der Universitätsmedizin Rostock sind die entsprechenden Krankenakten noch vorhanden, ebenso wenig im Universitätsarchiv. Hinzu kommt, dass Unterlagen des Gesundheitsamtes Rostock bei den Bombenangriffen auf die Stadt ab 1942 zerstört worden sind. 6 KblA, Pol. Auguste B. 7 Ebd.

8

Zur Psychopathenfürsorge in Mecklenburg und spezifisch Rostock vgl. Haack 2014. 9 LHAS 5.12 – 7/1, Nr. 10068. 10 So ein Zitat von Heinz Vagt, Hauptreferent im Hauptamt für Volkswohlfahrt der NSDAP, auf dem Allgemeinen Fürsorgeerziehungstag 1935. Zit. nach Historisches Archiv Michaelshof 1845 – 1990, Nr. 92. 11 Historisches Archiv Michaelshof 1845 – 1990, Nr.  92. 12 Ebd. 13 Weiterführende Aussagen lassen sich anhand der Akten des Michaelshofes nicht machen, da die Jahresberichte ab dem zweiten Halbjahr 1936 nicht überliefert sind. Auch wenn ein Abgleich mit den Poliklinikakten der Gehlsheimer Klinik sowie den Krankenakten der Schweriner Anstalt Sachsenberg erfolgt ist, müssten Untersuchungen in den Akten der Erbgesundheitsgerichte weitere Aufschlüsse geben. 14 Haack 2015. 15 Vgl. LHAS 5.12 – 7/11: Patientenakten. 16 Alle Angaben zu den Kindern ebd.

17 Mein Dank gilt Walter Möller, der mich aktiv bei der Ausarbeitung des Schicksals seiner Großmutter unterstützt hat und das Schweigen gebrochen hat. 18 Vgl. Synder 2001. 19 Die Krankenakte von Anna Möller ist in der Anstalt Uchtspringe erhalten geblieben und befindet sich mittlerweile im Landesarchiv Sachsen-­ Anhalt, Abteilung Magdeburg. 20 Insbesonders möchte ich mich bei der Schwester von Günter Nevermann, Irmgard Munkwitz, für ihre Unterstützung bedanken. 21 Poliklinikakten, Zentrum für Nervenheilkunde, UMR, unsortiert. 22 Stadtarchiv Wismar: Ratsakte 2.2.8.8, Nr. 39: Wohlfahrt/Sozialfürsorge. 23 Krieck 1938, S. 95. 24 Staemmler 1933, S. 92. Vgl. auch Haack/Kumbier 2013. 25 Stadtarchiv Wismar. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Bruns, F.: Medizinethik, S. 15. 30 Roelcke 2008, S. 67. 31 Assmann 2013, S. 89.

Literaturverzeichnis Quellen Historisches Archiv Michaelshof 1845 – 1990, Nr. 92. LHAS 5.12 – 7/1: Mecklenburg-­Schwerinsches Ministerium für Unterricht, Kunst, geistliche und Medizinalangelegenheiten, Nr. 10068: Errichtung einer Anstalt für psychopathische Kinder. KblA: (Poliklinikakten), Zentrum für Nervenheilkunde, UMR (unsortiert). Stadtarchiv Wismar, Ratsakte 2.2.8.8, Nr. 39: Wohlfahrt/ Sozialfürsorge.

Literatur Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur: Eine Intervention. Beck, München 2013. Bock, Gisela: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. Westdeutscher Verlag, Opladen 1986.

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Bruns, Florian: Medizinethik im Nationalsozialismus. Entwicklungen und Protagonisten in Berlin (1939 – 1945). Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2009. Gütt, Arthur/Rüdin, Ernst/Ruttke, Falk: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933. Mit Auszug aus dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933. Lehmann, München 1934. Haack, Kathleen/Kumbier, Ekkehardt (2013): Verbrechen an Kindern und Jugendlichen in der NS -Zeit. Z Kinder Jugendpsychiatr Psychother. 41 (Sonderheft), S. 12 – 19. Haack, Kathleen: „Vor der Verwahrlosung und dem … Verbrechertum gerettet“ – Psychopathenfürsorge in Rostock. Beiträge zur Geschichte der Stadt Rostock 33 (2014), S. 81 – 103. Haack, Kathleen: „Kindereuthanasie“ in Mecklenburg (1941 – 1945) – Die Kinderfachabteilung Lewenberg-­ Sachsenberg (Schwerin). Der Festungskurier. (Beiträge zur Mecklenburgischen Landes- und Regionalgeschichte vom Tag der Landesgeschichte 2015), Bd. 15, S. 77 – 94.

Veränderung des Blickwinkels

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Klemperer, Victor: LTI  – Notizbuch eines Philologen. Aufbau-­ Verlag, Berlin 1947. Koch, Julius Ludwig August: Die psychopathischen Minderwertigkeiten, 3 Bde. Maier, Ravensburg 1891 – 1893. Krieck, Ernst: zit. nach Sturm, K. F.: Deutsche Erziehung im Werden. Zickfeldt, Osterwieck/Berlin 1938. Porter, Roy: The patient’s View: Doing Medical History from Below, Theory and Society 14 (2), Heidelberg 1985, S. 175 – 198. Roelcke, Volker: Politische Zwänge und individuelle Handlungsspielräume: Karl Bonhoeffer und Maximinian de Crinis im Kontext der Psychiatrie im Nationalsozialismus, in: Udo Schagen/Sabine Schleiermacher (Hrsg.): Die Charité im Dritten Reich. Zur Dienstbarkeit medizinischer Wissenschaft im Nationalsozialismus. Schöningh, ­Paderborn 2008, S. 67 – 84.

Kathleen Haack

Staemmler, Martin: Rassenpflege im völkischen Staat. Lehmanns, München 1933. Synder, Krimhild: Die Landesheilanstalt Uchtspringe und ihre Verstrickung in nationalsozialistische Verbrechen. In Hoffmann, U. (Hrsg.): Psychiatrie des Todes. NS -Zwangssterilisation und „Euthanasie“ im Freistaat Anhalt und in der Provinz Sachsen. Landeszentrale für politische Bildung des Landes Sachsen-­Anhalt. Magdeburg 2001, S. 73 – 95.

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Medizin in der DDR

Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958 Notwendige Fächerdifferenzierung oder politisches Kalkül? Ekkehardt Kumbier

Einleitung Im November 1958 übergab das Staatssekretariat für Hochschulwesen in (Ost)Berlin dem Rektor der Universität Rostock die Urkunden für die neu eingerichteten Lehrstühle für Psychiatrie, Kinderpsychiatrie (Abb. 1) und Neurologie. Damit waren in der DDR erstmals separate Lehrstühle für diese Fachgebiete entstanden. Doch die Entscheidung, den bisherigen Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie in drei eigenständige aufzuteilen, war weder eine einvernehmliche noch eine primär an fachlichen Interessen ausgerichtete. Noch wenige Monate zuvor, am 23. Dezember 1957, hatte sich der Dekan der Medizinischen Fakultät beschwert, dass die Fakultät hinsichtlich der Trennung des Lehrstuhls nicht befragt worden sei: Sie muß annehmen, daß bei der ohne vorherige Befragung oder auch nur Verständigung der Fakultät erfolgten Verfügung ein Versehen im Geschäftsgang vorgelegen hat, da sie sonst in einer solchen Übergehung den Ausdruck einer ihr nicht gebührenden kränkenden Nichtachtung erblicken müßte.1

Ebenso hatten sich verschiedene Fachvertreter wie auch der Lehrstuhlinhaber und Direktor der Rostocker Universitätsnervenklinik, Franz Günther Ritter von Stockert (1899 – 1967), und weitere in der DDR tätige Ordinarii für Psychiatrie und Neurologie, wie auch der Vorstand der Fachgesellschaft klar gegen die Trennung ihres Fachgebietes ausgesprochen. Die Teilung des Lehrstuhls hingegen war längst beschlossen. Das Vorgehen zeigt, wie gering die Einflussnahme von Institutionen oder gar einzelnen Personen vor dem Hintergrund der zentralistischen Hochschulpolitik der DDR war.2 Zwar hatte sich in den 1950er-­Jahren in Deutschland im Bereich der Neurologie die Spezialisierung inhaltlich und fachlich, nicht aber akademisch und institutionell vollzogen.3 Erst etwa 15 bis 20 Jahre später kann man von einer eigenständigen universitären Etablierung der Neurologie sprechen, und dies auch nur in der BRD . So entstanden u. a. 1951 in Freiburg und 1955 in Düsseldorf die ersten neurologischen Lehrstühle, denen in den 1960er-­Jahren weitere folgten. Selbst 1962 gab es in der BRD nur zwei eigenständige Ordinariate und zwei Extraordinariate für Neurologie. In der DDR kam es an den Universitäten und Medizinischen Hochschulen später nur vereinzelt zur Aufteilung in separate psychiatrische und neurologische Lehrstühle.4 Eine Befürchtung war, dass durch die Loslösung von der Neurologie der Psychiatrie die naturwissenschaftliche Basis ent-

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Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Abb. 1  Urkunde des Staatssekretariats für Hochschulwesen der DDR über die Errichtung des Lehrstuhls für Kinderpsychiatrie vom 6. November 1958.

zogen werden könnte und somit ein breiter Raum für „hypothetische und metaphysische Spekulationen“ eröffnet sei.5 Das mag ein Grund dafür sein, dass in der DDR stärker als in der BRD an der Einheit von Psychiatrie und Neurologie festgehalten wurde. Für das Prinzip der Einheit des Fachgebiets stand exemplarisch die 1956 gegründete Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR . Auch wenn hier 1980 sogenannte Sektionen für Neurologie, Psychiatrie, Kinderneuropsychiatrie und Medizinische Psychologie entstanden, die die eigenständige Entwicklung der Neurologie und Kinderneuropsychiatrie widerspiegelten, so wurde die Einheit des Fachgebiets nicht in Frage gestellt.6 Betrachtet man die Entwicklung der Kinderund Jugendpsychiatrie, so lässt sich auch hier feststellen, dass diese von dem Streben nach Autonomie geprägt wurde. So waren bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland an den psychiatrischen Universitätskliniken erste Abteilungen für Kinder und Jugendliche entstanden.7 Doch als selbstständige Fachdisziplin trat die Kinder- und Jugendpsychiatrie erst nach dem Zweiten Weltkrieg in Erscheinung und etablierte sich in vielen europäischen Ländern mit der Schaffung eigener Lehrstühle und der Gründung wissenschaftlicher Zeitschriften und Fachgesellschaften. Ein wichtiger Schritt für die universitäre Kinderpsychiatrie in Deutschland war vor allem die Gründung der ersten Lehrstühle in den 1950er-­Jahren, in der BRD 1954 in Marburg, in der DDR 1958 in Rostock. Die Zeit zwischen 1945 bis 1958 kann treffend als Etappe der Orientierungssuche und Reorganisation bezeichnet werden.8 In der DDR war bereits 1952 in Jena eine selbstständige Kinderpsychiatrische Abteilung an der Universitätsnervenklinik geschaffen und 1956 eine Professur mit Lehrauftrag für Kinderpsychiatrie eingerichtet worden.9 1970 entstand ein Lehrstuhl an der Berliner Charité und in Leipzig erhielt die Klinik für Kinderneuropsychiatrie 1976 ein eigenes Ordinariat.10 Bis 1980 waren an fünf der insgesamt neun medizinischen Hochschulen eigenständige Lehrstühle entstanden, in Rostock aber der erste.11 Somit bildete die Universität Rostock wie auch schon in der Neurologie eine Ausnahme, denn schon 1958 wurden hier eigenständige Lehrstühle für beide Fachgebiete eingerichtet. Aber warum? Dahinter stand eindeutig politisches Kalkül; übrigens ein Beispiel dafür, wie gesellschaftspolitische Einflüsse bedeutsame Folgen für die Disziplingenese haben können, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.

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Medizin in der DDR

Die Universitätsnervenklinik Rostock nach 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Situation an der Nervenklinik Rostock-­Gehlsheim desolat. Wie in allen Teilen Deutschlands hatten die zahlreichen personellen und materiellen Verluste nach Kriegsende zu einer katastrophalen medizinischen Versorgungslage geführt. In Mecklenburg-­Vorpommern (ab 1947 Land Mecklenburg) gab es 1946 nur 24 Psychiater und Neurologen, an der Universitätsnervenklinik Rostock lediglich drei.12 Hinzu kam, dass einzelne Gebäude nicht genutzt werden konnten, da diese durch Bombentreffer beschädigt worden waren und weitere Räumlichkeiten von der Infektionsabteilung der Medizinischen Klinik genutzt wurden.13 Trotz der schwierigen Umstände hatte sich der kommissarische Leiter, Hans Heygster (1905 – 1961), habilitieren können und wurde 1949 zum Professor mit vollem Lehrauftrag und zum Direktor der Universitätsnervenklinik ernannt. Nachdem sich 1952 nach der dritten Parteikonferenz der SED der politische Druck auch auf die medizinischen Fakultäten in der DDR erhöht hatte, schloss sich Heygster einem Protest gegen die zweite Hochschulreform von 1951/52 an. Daraufhin wurden ihm, wie auch weiteren Hochschullehrern an der Universität Rostock, auf Betreiben der SED öffentlich staatsfeindliche Handlungen vorgeworfen (Abb. 2).14 Schließlich verließ er 1953 die DDR .15 Nach Heygsters Weggang stand die Universität Rostock vor dem Problem, den psychiatrischen Lehrstuhl neu besetzen zu müssen. Wie weit dabei Vorstellung und Realität auseinandergingen, zeigt sich darin, dass es nicht gelang, für die Neubesetzung einen geeigneten Kandidaten aus den „eigenen Reihen“ zu finden. Zwar hatte sich Anfang der 1950er-­Jahre die Zahl der Lehrkräfte an den Universitäten in der DDR erhöht, doch bestand gerade an den Medizinischen Fakultäten nach wie vor ein ausgeprägter Mangel an Dozenten. Hier waren 1952 an den Universitäten Rostock, Greifswald, Halle, Jena, Leipzig und in Berlin (Ost) 33 Lehrstühle vakant.16 Der zu diesem Zeitpunkt kommissarische Leiter der Rostocker Nervenklinik, Gerhard Göllnitz (1920 – 2003), brachte die Situation in einem Schreiben an den Dekan der Medizinischen Fakultät zum Ausdruck: Sämtliche habilitierte Oberärzte an den Universitäts- und Nervenkliniken der Deutschen Demokratischen Republik kommen nach meiner Überzeugung rein fachlich noch nicht für die Besetzung eines Ordinariats in Frage.17

Nun standen ausschließlich westdeutsche Wissenschaftler auf der Vorschlagsliste. An erster Stelle Franz Günther Ritter von Stockert von der Frankfurter Universität, secundo loco Walter Ritter von Baeyer (1904 – 1987) von der Universität Erlangen und Karl Leonhard (1904 – 1988), ebenfalls aus Frankfurt am Main. An dritter Stelle folgte Carl Riebeling (1900 – 1961) von der Universität Hamburg. Bis zur „Verordnung über die weitere sozialistische Umgestaltung des Hoch- und Fachschulwesens“ vom 13. Februar 1958 war es noch üblich, dass die Fakultät eine Berufungsliste erstellte, die auch westdeutsche Wissenschaft-

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Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958

Abb. 2  Schlagzeile eines Artikels in der Ostseezeitung vom 28. April 1953.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Abb. 3  Franz Günther Ritter von Stockert (1899 – 1967).

ler berücksichtigte. Die endgültige Entscheidung oblag dennoch dem Staatssekretariat für Hochschulwesen in Berlin. Aus Mangel an „ostdeutschen Alternativen“ berief man schließlich am 1. September 1954 von Stockert auf den Rostocker Lehrstuhl. Franz Günther Ritter von Stockert (Abb. 3), humanistisch geprägt und mit einem bildungsbürgerlichen Bewusstsein ausgestattet, verkörperte das Gegenteil der propagierten „neuen sozialistischen Intelligenz“. Der Enkel des bekannten Wiener Psychiaters und Hirnforschers, Theodor Meynert (1833 – 1892), beschäftige sich mit allen Bereichen der Neurologie und Psychiatrie, vorwiegend aber mit kinderpsychiatrischen Themen.18 Von Anfang an kam es zu Problemen, die vor allem auf gesellschaftspolitischer Ebene lagen.19 Dem Staatssekretariat für Hochschulwesen war der konservative Professor schon bald ein Dorn im Auge. Das sollte nicht ohne Folgen bleiben. Denn Ende der 1950er-­Jahre führte die SED eine erneute Säuberungs- und Einschüchterungskampagne mit dem Ziel durch, die Lehrkräfte an allen Fakultäten der Universitäten zur bedingungslosen Einhaltung der Parteilinie anzuhalten.20 Infolge der Vorbereitungen zur dritten Hochschulkonferenz (28.2. – 2. 3. 1958) nahmen die Repressalien gegen von Stockert zu. Er hatte sich wiederholt kritisch über die gesellschaftlichen Verhältnisse in der DDR geäußert. 1958 wurde er schließlich verhaftet und wegen Staatsverleumdung angeklagt. Dass von Stockerts Entscheidung, in die DDR zu gehen, bereits eine schwierige gewesen war, ist aus seinen persönlichen Äußerungen bekannt. Sein Vorgänger hatte aus politischen Gründen das Direktorat aufgeben müssen. Viele seiner „Kollegen mit entsprechender Ost-­Erfahrung (hatten ihn) dringend gewarnt“.21 Der 17. Juni 1953 hatte gezeigt, wozu die kommunistischen Machthaber fähig waren. Auf wissenschaftspolitischer Ebene war die Umsetzung der zweiten Hochschulreform unter dem Motto „Erstürmt die Festung Wissenschaft“ in vollem Gang. Andererseits, und dies mag seine Entscheidung ebenso beeinflusst haben, gab es sichtbare Tendenzen der Entspannung: Das politische Klima hatte sich nach Stalins Tod am 5. März 1953 geändert. Der von der Sowjetunion initiierte „Neue Kurs“ war das Resultat unübersehbarer Krisenmerkmale in allen Staaten des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“. Unabhängig von den politischen Verhältnissen war ein entscheidender Grund für den Enkel und Schwiegersohn 22 berühmter Fachvertreter das „erste Ordinariat, das sehnsüchtig erhoffte Ziel der akademischen Laufbahn, die erste selbstständige Stellung als Leiter einer großen Klinik“.23 Entsprechend der relativ ruhigen politischen Lage 1955 und 1956 verlief auch von Stockerts erste Zeit in Rostock. Der eigentliche Bruch kam im Juli 1957. Mit Wirkung vom 31. August 1957 wurde der Einzelvertrag mit ihm von Seiten des Staatssekretariats in Berlin fristlos gekündigt. Die offizielle Erklärung war, er habe sich geweigert, die Staatsbürgerschaft der DDR anzunehmen. Eine solche Klausel war jedoch im Vertrag nicht vorgesehen. Ziel der Machthaber war eine politische Standortbestimmung von Stockerts. Und so war man nicht mehr gewillt, den Schwebezustand bei der Frage um die Staatsbürgerschaft zu erdulden. Rückendeckung erhielt von Stockert von Seiten der Medizinischen Fakultät. Durch ihre Unterstützung konnte eine Übersiedlung noch einmal um ein Jahr verschoben werden, spätestens im Herbst 1958 sollte sie jedoch endgültig vollzogen sein. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, denn der politische Druck auf ihn erhöhte sich massiv. Von Stockert, der für seine spöttische Art bekannt war, hatte sich wiederholt kritisch über die DDR geäußert. Er geriet nun zunehmend ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Das endgültige Aus kam für ihn durch die Denunziation eines Assistenzarztes der Klinik, der als Geheimer Informant (GI , später als IM bezeichnet) für die Staatssicherheit tätig war. Es ist davon auszugehen, dass eine gezielte Aktion gegen von Stockert vorlag, dessen Instrument dieser GI war. Am 31. März 1958 wurde von Stockert verhaftet und in die Rostocker Untersuchungshaftanstalt des

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Medizin in der DDR

Ministeriums für Staatssicherheit gebracht. Das Verfahren wurde am 7. Mai 1958 eröffnet. Franz Günther von Stockert wurde beschuldigt: […] staatsgefährdende Hetze gegen unsere volksdemokratische Ordnung betrieben zu haben, indem er fortgesetzt gegen andere Rassen, gegen die Arbeiter- und Bauernmacht sowie gegen ihre Organe und gesellschaftlichen Organisationen und gegen Bürger wegen ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit hetzte… Weiterhin hat er wahrheitswidrig behauptet, daß die DDR bald pleite sei, weil sie sich mit der Herstellung von Atombomben beschäftigt. Darüber hinaus bezeichnete er führende Mitglieder unserer Regierung als Lumpen und Lügner und machte abfällige Äußerungen gegen Mitglieder der Partei der Arbeiterklasse.24

Die Mehrzahl der Anklagepunkte erwies sich bei der Verhandlung als nicht haltbar. Von Stockert wurde schließlich vom Bezirksgericht Rostock am 20. Mai 1958 wegen Staatsverleumdung zu einem Jahr Gefängnis unter Auferlegung einer Bewährungsfrist von zwei Jahren verurteilt. Dem Druck in- und ausländischer Wissenschaftler war es zu danken, dass es zu keinem härteren Urteil kam.25 Dem Gericht lagen Briefe von ehemaligen, noch teilweise in der DDR ansässigen Assistenten sowie von zahlreichen bekannten Fachvertretern und Institutionen vor, die sich für von Stockert einsetzten. Darunter waren auch Schreiben aus Frankreich, Schweden, Belgien, den USA , Großbritannien, Österreich und der Schweiz. Die DDR , ein Staat, der nach internationaler Anerkennung strebte, konnte es sich nach außen nicht leisten, einen international renomierten Wissenschaftler einzusperren. Nicht nur in der westdeutschen Presse erregte der Prozess enormes Aufsehen. Auch international wurde davon berichtet. Am 25. Juli 1958 verließ von Stockert schließlich die DDR und ging zurück nach Frankfurt. Die Staatssicherheit konstatierte nach seinem Weggang über die Arbeit ihres geheimen Informanten: Er beschaffte uns alle interessierenden Krankengeschichten, berichtete unumwunden über seine Kollegen und Vorgesetzten. Sein Hauptverdienst ist die Verhaftung und Verurteilung des damaligen Leiters der Univ.Nervenklinik Prof. Dr. Franz Günther von Stockert, der Bundesbürger der Westzone war.26

Wieder zurückgekehrt an die Universität Frankfurt wurde von Stockert Leiter der Kinderpsychiatrischen Abteilung und erhielt im Januar 1964 den außerordentlichen Lehrstuhl für Kinderpsychiatrie.27 Er wurde am 25. Januar 1967 emeritiert und verstarb einen Monat später in Frankfurt am Main. Der Umgang mit ihm verunsicherte auch andere medizinische Hochschullehrer in Rostock, die daraufhin die Universität verließen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der Direktor der Hautklinik, Werner Schulze (1903 – 1978), der 1952 aus Westdeutschland nach Rostock gekommen war.

Die Teilung des Lehrstuhls für Psychiatrie Ein „Nebeneffekt“ des Vorgehens gegen von Stockert war die Tatsache, dass es in Rostock bereits 1958 zur Teilung des psychiatrischen Lehrstuhls in drei eigenständige für Psychiatrie, Neurologie und Kinderpsychiatrie kam. Und dies, obwohl die DDR zu diesem Zeitpunkt gar nicht die Ressourcen für einen solchen Schritt hatte. Das Vorgehen gegen von Stockert und weitere Rostocker Hochschullehrer wurde in einem Bericht des Staatssekretariats an den Ministerrat der DDR als positives Beispiel für das Zurückdrängen bürgerlicher Einflüsse genannt.28 Hanns Schwarz (1898 – 1977), Ordinarius für Psychiatrie und Neurologie an der benachbarten Universität in Greifswald, gab zu bedenken:

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Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Rein praktisch dürfte es im Raum der Deutschen Demokratischen Republik so sein, daß uns überhaupt nicht genügend Kräfte zur Verfügung stehen, um der Frage Neurologie oder Psychiatrie personell näher zu treten. Rein praktisch dürfte es in den Nervenkliniken der kleinen Universitäten so sein, daß eine räumliche Trennung der beiden zusammengehörenden Disziplinen schier undurchführbar ist.29

Selbst Dietfried Müller-­Hegemann (1910 – 1989) von der Neurologisch-­Psychiatrischen Klinik der Karl-­Marx-­Universität Leipzig, bis dato einer der wenigen ideologiekonformen Lehrstuhlinhaber, kritisierte den Beschluss des Staatssekretariats. Als Hauptgrund führte er an, „dass auf Jahre hinaus ein solcher Mangel an qualifizierten Kräften in unserer Republik bestehe, dass es gar nicht möglich wäre, die grosse Zahl der Universitätskliniken bzw. Extraordinariate vollwertig zu besetzen.“ 30 Und auch der Direktor der Nervenklinik der Berliner Charité und zugleich Vorsitzender der Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie der DDR , Karl Leonhard (1904 – 1988), sprach sich gegen die Aufteilung aus und konstatierte für sein Fachgebiet: „Nachwuchs ist aber im Bereich der DDR gar nicht vorhanden“.31 In der Tat gab es bis in die 1960er-­Jahre in der DDR nicht genügend qualifiziertes Personal. Der nicht abreißende Strom der Abwanderer in die BRD tat sein Übriges. Trotzdem ordnete das Staatssekretariat am 5. Dezember 1957 an, eine selbstständige Klinik für Neurologie unter Leitung von Karl-­Heinz Elsaesser (1912 – 1975) und eine Klinik für Kinderpsychiatrie unter Leitung von Gerhard Göllnitz (1920 – 2003) zu bilden.32 An der Rostocker Klinik begannen Umstrukturierungen. Am 1. März 1958 nahmen die Abteilungen für Neurologie und Kinderpsychiatrie ihre Arbeit auf, und schon kurze Zeit später wurden die entsprechenden Lehrstühle geschaffen.33 Im September 1958 hatte sich die Medizinische Fakultät auf Drängen des Staatssekretariats einverstanden erklärt, Lehrstühle für Psychiatrie, Neurologie und Kinderpsychiatrie einzurichten.34 In diesem Zusammenhang fehlte es nicht an kritischen Stimmen innerhalb der Medizinischen Fakultät. So sprach sich beispielsweise der Direktor der Universitätskinderklinik, Fritz Thoenes (1891 – 1974), gegen die Trennung in drei eigenständige Abteilungen aus, da er „gegen eine solche Regelung in überstürzter Form statt einer vernünftigen Entwicklung“ war.35 Auch der Dekan beschwerte sich, dass die Fakultät in Sachen Trennung des Lehrstuhls nicht befragt worden sei.36 Elsaesser und Göllnitz drangen hingegen auf eine rasche Besetzung der Lehrstühle, da „es im Interesse der Klinik und Forschung, ganz besonders aber in Hinblick auf das Neue und Erstmalige dieses Schrittes in der Deutschen Demokratischen Republik, außerordentlich wichtig wäre, den schwebenden Zustand, […] baldmöglichst durch definitive Anordnungen zu beenden.“ 37 Am 6. November 1958 war es dann soweit. Das Staatssekretariat übergab dem Rektor der Universität Rostock die Gründungsurkunden für die Lehrstühle für Psychiatrie, Kinderpsychiatrie und Neurologie. Göllnitz wurde mit Wirkung vom 1. November 1958 als Vertreter für den Lehrstuhl für Kinderpsychiatrie benannt.38 Mit hoher Wahrscheinlichkeit spielten die genannten politischen Begleitumstände eine große Rolle. Inwieweit es weitere Gründe für die Teilung gerade des Rostocker Lehrstuhls gab oder ob man, wie auch an anderen deutschen Universitäten, dem Trend zur Spezialisierung folgte, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Ein Aspekt jedoch spielte eine wichtige Rolle. Die Wahl fiel vor allem auf die Rostocker Klinik, um den „unliebsamen“ von Stockert mit der Aufteilung des Lehrstuhls zu entmachten. Eine entsprechende Äußerung findet sich in einer Stellungnahme des Staatssekretariats für Hochschulwesen zur Frage der Trennung von Psychiatrie und Neurologie: „Politischer Gewinn dieser Maßnahme sollte sein, den Machtbereich des Prof. v. Stockert einzuschränken, der allen als ausgemachter Reaktionär bekannt ist.“ 39 Für von Stockert, der entschieden für die Einheit von Psychiatrie und Neurologie eintrat, war diese Entscheidung bitter. Die Würfel jedoch waren gefallen.

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Medizin in der DDR

Dass es sich bei der Aufteilung des Lehrstuhls und der Klinik tatsächlich um eine überstürzte Entscheidung statt einer vernünftigen Entwicklung handelte, zeigt der weitere Fortgang. Zwar hatte man an der Universität Rostock und damit erstmalig in der DDR neben einem separaten kinderpsychiatrischen auch einen neurologischen Lehrstuhl geschaffen. De facto bestand die Trennung jedoch nur auf dem Papier. Elsaesser war bereits nach kurzer Zeit wieder an die Universität Greifswald zurückgegangen, um dort die neu gegründete Abteilung für Neurohistopathologie und ab 1965 auch die Leitung der Universitätsnervenklinik zu übernehmen 40, und von Stockert war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Rostock, so dass Göllnitz alle drei Bereiche vertrat. Damit waren der psychiatrische und neurologische Lehrstuhl vakant, denn es fand sich zunächst kein geeigneter Kandidat. Karl Leonhard sollte mit seiner Prognose von 1959 für den Rostocker Lehrstuhl Recht behalten: „Eine Neubesetzung der Psychiatrie ist […] unmöglich, da im gesamten Bereich der DDR kein qualifizierter Mann für solch eine Stellung vorhanden ist.“ 41 Erst 1961 gelang es, den 38-jährigen Johannes Sayk (1923 – 2005) aus Jena auf den neurologischen Lehrstuhl zu berufen. Für den psychiatrischen Lehrstuhl fand man erst zehn Jahre später mit Alphons Herbst (1918 – 1997) einen geeigneten Kandidaten. Die Weichen für eine notwendige Spezialisierung der Fächer Neurologie und Kinder- und Jugendpsychiatrie waren – wenn auch zwangsweise und überstürzt – nichtsdestotrotz gestellt worden.

Die weitere Entwicklung: Die Neurologie an der ­Universität Rostock auf dem Weg zur Eigenständigkeit Nachdem Johannes Sayk (Abb. 4) auf den neurologischen Lehrstuhl berufen worden war, gelang es ihm, eine zeitgemäße klinische Neurologie mit den entsprechenden diagnostischen Verfahren zu etablieren. Zudem förderte er die sich entwickelnden Spezialgebiete durch Schaffung klinischer und wissenschaftlicher Arbeitsgruppen. Dazu gehörten neben der Liquorologie auch die Neuroimmunologie, Neuroradiologie und Neurophysiologie. Sayk war zunächst Professor mit vollem Lehrauftrag, dann Professor mit Lehrstuhl, und 1969 wurde er zum ordentlichen Professor für Neurologie berufen. 1989 ging Sayk in den Ruhestand und starb am 4. Dezember 2005 in Rostock. Bekannt wurde er aufgrund seiner Arbeiten zur Liquordiagnostik und der Entwicklung der später nach ihm benannten Zellsedimentierkammer (Abb. 5). Dank dieser Methode erfuhr die Zytodiagnostik des Liquor zerebrospinalis weltweit einen Aufschwung, denn es war nun möglich, Liquorzellen schonend anzureichern und darzustellen.42 Sayk gelang es aber auch, in Rostock eine eigene Schule zu bilden, aus der viele bedeutende Arbeiten

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Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958

Abb. 4  Johannes Sayk.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

zur Liquorologie hervorgingen, die international Anerkennung fanden. Neben Sayk waren es vor allem sein Nachfolger, Hans-­Joachim Meyer-­Rienecker (1930 – 2014) und Rose-­Marie Olischer (1925 – 2006), die die Liquorzytologie und die zytochemischen Methoden weiterentwickelten und neue Arbeits- und Forschungsrichtungen wie die Neuroimmunologie einführten. Sayk war Gründungsmitglied der CSF Research Group der World Federation of Neurology und der Arbeitsgemeinschaft (Sektion) für Klinische Neurochemie und Liquorforschung in der Gesellschaft für Neurologie und Psychiatrie der DDR , aus der die Deutsche Gesellschaft für Liquordiagnostik und Klinische Neurochemie (DGLN ) hervorging.43 Obwohl beide Fachgebiete, Psychiatrie und Neurologie, auch in der Rostocker Nervenklinik institutionell eng verbunden blieben, so war die Neurologie als Fachgebiet in Wissenschaft, Lehre und Krankenversorgung doch erkennbar vertreten. Folgerichtig wurde die bisherige Abteilung für Neurologie mit Bildung des Zentrums für Nervenheilkunde im Jahre 1995 dann auch in eine eigenständige Klinik für Neurologie und Poliklinik umgewandelt.

Die universitäre Kinderneuropsychiatrie in Rostock als Vorreiterin in der DDR

Abb. 5  Zell­sedimentier­kammer nach Sayk ca. 1960. Medienzentrum der Universität Rostock. Datei: „Sedimentationskammer nach Sayk 8542a“.

In Rostock wurden Kinder und Jugendliche mit neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen bis zu Beginn der 1950er-­ Jahre zumeist noch auf den Erwachsenenstationen mitbehandelt. Doch Gerhard Göllnitz (Abb. 6), der in Rostock Medizin studiert hatte und hier seit 1946 an der Universitätsnervenklinik tätig war, setzte sich schon bald für eine altersgerechte Betreuung ein und schuf 1953 eine kleine Kinderpsychiatrische Abteilung mit zunächst 14 Betten, die in den folgenden Jahren immer wieder erweitert wurde.44 Am 1. März 1958 entstand daraus schließlich eine selbstständige Abteilung, die von der Psychiatrischen und der Neurologischen Abteilung räumlich getrennt war. Bereits 1959 verfügte diese über eine Ambulanz und 50 Betten auf drei Stationen und 1960 konnte eine Schule integriert werden. 1995 erhielt die Abteilung den Status einer selbstständigen Klinik innerhalb des Zentrums für Nervenheilkunde.45 Göllnitz setzte sich zielstrebig für eine eigenständige Kinderneuropsychiatrie ein.46 Seit Anfang der 1950er-­Jahre hatte er sich mit kinderpsychiatrischen Themen beschäftigt und konnte sich mit einem Beitrag zur Hirnschadensforschung im Kindes- und Jugendalter habilitieren.47 Ab dem 1. November 1958 vertrat er den neugegründeten Lehrstuhl für Kinderpsychiatrie, am 1. Februar 1963 erfolgte die Ernennung zum Professor mit Lehrstuhl für das Fachgebiet Kinderpsychiatrie. Schließlich wurde Göllnitz am 1. September 1969 zum ordentlichen Professor für Kinderneuropsychiatrie berufen. Obwohl zunächst der Begriff Kinderpsychiatrie für die Bezeichnung des Lehrstuhles verwendet wurde, setzte er sich schon bald für die Bezeichnung „Kinderneuropsychiatrie“ ein und bemühte sich

Ekkehardt Kumbier

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Medizin in der DDR

in der Begriffsbestimmung um die Eingrenzung des Zuständigkeitsbereichs, wobei er die Einheit von Neurologie und Psychiatrie des Kindes- und Jugendalters im Sinne einer Neuropsychiatrie vertrat.48 Diese neuropsychiatrische Tradition, die auf den Einfluss der Psychiatrie und Neurologie zurückgeht, war in den ehemaligen sozialistischen Ländern einschließlich der DDR besonders stark ausgeprägt.49 Der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit lag auf dem Gebiet der frühkindlichen Hirnschädigung, welche er als Syndrom auffasste. Zudem arbeitete er an verschiedenen Lehrbüchern mit, die zum Standardrepertoire für die Ausbildung von Studenten und auch von Neurologen, Psychiatern und Kinderärzten in der DDR gehörten.50 Göllnitz war Vorsitzender der Sektion Kinder-­Psychotherapie in der Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie der DDR , Vorsitzender der Sektion Kinderneuropsychiatrie in der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR und Vorstandsmitglied der Arbeitsgemeinschaft „Das geschädigte Kind“ der Gesellschaft für Rehabilitation der DDR , weiterhin Vizepräsident der Union Europäischer Kinderpsychiater und Ehrenmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Kinderneuropsychiatrie. Die Rostocker Klinik war maßgeblich an der Verwirklichung zentraler Forschungsprojekte wie „Das defekte Kind“ (seit 1969) und „Hirngeschädigte Kinder“ (seit 1981) beteiligt und fungierte hierbei als Leiteinrichtung in Zusammenarbeit mit kinderneuropsychiatrischen Einrichtungen in Magdeburg, Berlin, Dresden und Leipzig. Die konsequente Entwicklung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Rostock war aber nicht nur dem Engagement von Göllnitz, sondern auch dem von von Stockert zu verdanken. Bereits in seinen Berufungsverhandlungen hatte dieser den „Ausbau einer den modernen Anforderungen entsprechenden heilpädagogischen Kinderstation mit Beobachtungsabteilung“ gefordert.51 Seit den frühen 1930er-­Jahren hatte er sich mit kinderpsychiatrischen Themen befasst, wobei sein Interesse vor allem der psychischen Entwicklung und insbesondere den Sprachentwicklungsstörungen galt. Von Stockert gehörte zur Gründergeneration und zu den Wegbereitern der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland und Europa.52 Er verfasste mit der „Psychopathologie des Kindesalters“ 53 eines der wichtigsten deutschsprachigen Lehrbücher und war u. a. Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Jugendpsychiatrie und Präsident der Union Europäischer Pädopsychiater (heute European Society for Child an Adolescent Psychiatry). Trotz der für ihn schwierigen Umstände war von Stockert auch während seiner Zeit in Rostock wissenschaftlich aktiv. So erschien 1956 eine vielbeachtete Monografie über die Sexualität des Kindes und 1957 die neubearbeitete Auflage seines Lehrbuches.54 Im selben Jahr wurde er zum Vizepräsidenten der Union Europäischer Pädopsychiater gewählt. Für die Entwicklung der Kinderneuropsychiatrie hin zu einem autonomen medizinischen Fachgebiet war u. a. die Einsicht erforderlich, dass neben einer altersentsprechenden Diagnostik und Therapie vor allem die Forschung mit der Ausbildung eigener Methoden neue Wege gehen musste. Durch die Etablierung eines Lehrstuhls und einer selbstständigen Kinderneuropsychiatrischen Abteilung an der Universität Rostock wurden die Voraussetzungen für die einheitliche Lehre, Forschung, medizinische Betreuung und Ausbildung in der DDR geschaffen. Heute ist es unbestritten, dass sowohl von Stockert als auch Göllnitz für diese Entwicklung eine wichtige Rolle spielten, wenngleich ihre Vorstellungen darüber unterschiedlich waren.

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Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958

Abb. 6  Gerhard Göllnitz.

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Anmerkungen 1 2 3

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UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Abt. Kinder-­Neuro-­Psychiatrie 1957 – 1977:  1682. Vgl. Kumbier et al. 2009. Zur Disziplingenese der Neurologie vgl. Karenberg 2008 und den Beitrag von Kumbier/Karenberg in diesem Buch und zur Geschichte der Neurologie in der BRD vgl. Eisenberg 2008. Vgl. Schmiedebach 1999; Wagner 2008. So äußerte sich beispielsweise Jochen Quandt (Bernburg) 1969 in einem Vortrag auf dem Kongress der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie der DDR; vgl. Quandt 1971. In diesem Sinne sprach sich 1971 auch der Vorsitzende der DDR-Fachgesellschaft für Neurologie und Psychiatrie auf einem Kongress klar gegen die Trennung von Psychiatrie und Neurologie aus; vgl. Schulze 1972. Vgl. Kumbier 2009. Vgl. Nissen 2005; Castell et al. 2003; Castell 2008. Vgl. Nissen 2005; Castell et al. 2003; Remschmidt 2008. Vgl. Gerhard et al. 2007. Gebelt 1978; Neumärker 1982. Kumbier 2010. BArch DQ1 – 0146, Bl. 358. Vgl. Miesch 1996. Dem von den Dekanen der Medizinischen, Theologischen, Philosophischen, Mathematisch-­ Naturwissenschaftlichen, Landwirtschaftlichen und Schiffbautechnischen Fakultät organisierten Widerstand schlossen sich 58 Hochschullehrer der Universität Rostock an, in dem sie im März 1952 in einem Schreiben an das Staatssekretariat für Hochschulwesen der DDR gegen die Neuregelungen der Hochschulreform protestierten und ihre Rücknahme in fast allen Punkten verlangten. Neben Heygster waren in der Folge auch der Direktor des Pharmakologischen und Physiologisch-­Chemischen

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Ekkehardt Kumbier

Instituts, Peter Holtz (1902 – 1970), und der Direktor der Medizinischen Poliklinik, Robert Mark (1898 – 1981), den Angriffen der SED ausgesetzt; vgl. Ammer 1969; Jakubowski und ­Urbschat 1994. Der vollständige Wortlaut des Protestschreibens findet sich in Müller/Müller 1953, hier S.  382 – 384. Vgl. zu den näheren Umständen und zunehmenden Repressalien gegen Heygster auch Kumbier/Haack 2011. Vgl. Müller/Müller 1953 (Reprint 1994). UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Besetzung des Lehrstuhls für Neurologie und Psychiatrie 1948 – 1954: 1679. Zu Biografie und Werk von Stockert vgl. Kumbier 2007. Vgl. zu den Vorgängen um von Stockert an der Universität Rostock auch Kumbier et al. 2009. Diese Kampagne gegen Hochschullehrer in der DDR zwischen 1957 und 1959 hatte zum Ziel, die in der Folge des XX. Parteitages der KPdSU einsetzende Entstalinisierung zu begrenzen und Tendenzen eines „demokratischen Sozialismus“ entgegen zu wirken. Die Folge waren politisch-­ ideologische Disziplinierungsmaßnahmen; vgl. Laitko 2002. Nachlass F. G. von Stockert. Von Stockert war der Enkel des bekannten und einflussreichen Psychiaters Theodor Meynert (1833 – 1892), der an der Universität Wien wirkte und die Psychiatrie als naturwissenschaftliche Disziplin verstand; außerdem war er mit einer Tochter von Gabriel Anton (1858 – 1933) verheiratet, der u. a. die Lehrstühle für Psychiatrie an den Universitäten in Innsbruck, Graz und Halle innehatte; vgl. Kumbier et al. 2005. Bumke 1952, S. 75. BStU, Archiv der Außenstelle Rostock.; AU 44/58 BA, Bd. 2. Vgl. Kumbier et al. 2009 BStU 1006/65, „Schneider“ I. UAF Abt. 4, Nr. 203: Stockert, Franz Günther Ritter von (Rektoratsakte)

und Kurator Abt. 13, Nr. 194, Med. Fak., Kinderpsychiatrie, Besetzung von Lehrstühlen. 28 BArch DR3 1. Schicht – 0158. 29 UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Strukturelle Veränderungen 1957 – 1959: 1685. 30 BArch DR3 1. Schicht-5154. 31 UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Besetzung der Lehrstühle für Neurologie und Psychiatrie 1958 – 1960: 1683. 32 UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Strukturelle Veränderungen 1957 – 1959: 1685. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Abt. Kinder-­Neuro-­Psychiatrie 1957 – 1977:  1682. 37 UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Strukturelle Veränderungen 1957 – 1959: 1685. 38 Ebd. 39 BArch DR3 – 11122. 40 Vgl. Schmiedebach 1999. 41 UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Besetzung der Lehrstühle für Neurologie und Psychiatrie 1958 – 1960: 1683. 42 Dahlmann et al. 2017. 43 Zur Weiterentwicklung der Neurologie an der Universität Rostock nach 1958 vgl. Meyer-­Rienecker 1983. 44 Zu den Anfängen einer kinderpsychiatrischen Versorgung in der Klinik Rostock-­Gehlsheim vgl. Haack/ Kumbier 2016. 45 Kumbier/Häßler 2010. 46 Die biografischen Angaben einschließlich der beruflichen Entwicklung entstammen der Personalakte der Universität Rostock (UAR: PA Prof. Göllnitz, Gerhard, Teil I bis III). 47 Göllnitz 1954. 48 Göllnitz 1963; ders. 1972; ders. 1978. 49 Vgl. hierzu Remschmidt 1988. 50 Seidel et al. 1987; Göllnitz 1992. 51 UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Besetzung des Lehrstuhls für Neurologie und Psychiatrie 1948 – 1954: 1679. 52 Vgl. Castell et al. 2003. 53 von Stockert 1967. 54 von Stockert 1956.

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Medizin in der DDR

Literaturverzeichnis Quellen BA rch DR 3 1. Schicht–0158. BA rch DR 3 – 11122. BA rch DQ 1 – 0146. BA rch DR 3 1. Schicht–5154. BS tU 1006/65, „Schneider“ I. BS tU Archiv der Außenstelle Rostock.; AU 44/58 BA , Bd. 2. UAF Abt. 4, Nr. 203: Stockert, Franz Günther Ritter von

(Rektoratsakte). UAF Kurator Abt. 13, Nr. 194, Med. Fak.: Kinderpsychiatrie,

Besetzung von Lehrstühlen. UAR Med. Fak.: Nervenklinik – Besetzung des Lehrstuhls für

Neurologie und Psychiatrie 1948 – 1954: 1679. UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Abt. Kinder-­Neuro-­Psychiatrie

1957 – 1977: 1682. UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Besetzung der Lehrstühle für

Neurologie und Psychiatrie 1958 – 1960: 1683. UAR Med. Fak.: Nervenklinik, Strukturelle Veränderungen

1957 – 1959: 1685. UAR : PA Prof. Göllnitz, Gerhard, Teil I bis III .

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Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958

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Ekkehardt Kumbier

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Verweigerung und Widerstand gegen das SED-Regime durch Studenten der Medizin in Rostock im Spiegel der MfS-Überlieferung Christian Halbrock

Quellenüberlieferung Gibt es ein Dokument, das exemplarisch den Umgang der Staatssicherheit mit politisch abweichendem Verhalten aufzuzeigen vermag? Die Suche nach einem solchen Schriftstück gestaltet sich ambivalent. Zwar sind in den vergangenen Jahren immer wieder skurrile Funde aus dem Fundus der Staatssicherheitsüberlieferung präsentiert worden. Dazu zählten auffällig bizarre Formulierungen, die aus heutiger Sicht nahezu lächerlich erscheinen. Oder auch Schreibfehlern, die, da sie die eigentliche Absicht offenlegen, demaskierend anmuten. Ein solches Fundstück, dass sich so aus der Gesamtheit der kaum überschaubaren Überlieferung abhebt und dem, der sich durch die Akten kämpft, einen kurzen Moment der Heiterkeit gewährt, kann als Pars pro Toto aber nur bedingt für das Ganze stehen. Nicht wenige haben in den Jahren nach der Öffnung der Akten auf die feindbilddurchtränkte Sprache, die viele Dokumente durchzieht, hingewiesen und sie als Ausdruck des perfiden Denkens ihrer Autoren charakterisiert. Allzu häufig generierten sich die Berichte und Analysen jedoch nur wichtigtuerisch. Sie gaben mehr vor, als sie substantiell im Kern Neues enthalten. Unter dem Siegel des bedeutungswichtig Geheimen offerieren sie nur das, was auf anderen Wegen ebenso leicht zu erfahren gewesen wäre. So wenn einer der geheimen Genossen in seiner Analyse zur Evangelischen Studentengemeinde in Rostock 1984 feststellt, dass „eindeutig belegt werden“ könne, dass der „Studentenpfarrer […] Inspirator und Organisator aller Aktivitäten innerhalb der ESG ist.“ 1 Richtig erstaunt kann man darüber nicht sein, schließlich war dies die Aufgabe eines jeden Studentenpfarrers. Fraglich ist auch, ob es des massiven Einsatzes von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM ) bedurft hätte, um solches zu erfahren. Tatsächlich berichteten die sechs zu jenem Zeitpunkt in der ESG eingesetzten IM aber auch Brisantes. Für die Betroffenen war dies nicht ungefährlich. Gelangten die Informationen weiter an die Universitätsleitung, folgten darauf Aussprachen und schlimmstenfalls der Studienausschluss. So, wenn ein IM berichtete, welche Studenten sich in der Friedensarbeit der Studentengemeinde engagierten und wer sich von den Medizinstudenten in den Leitungskreis der ESG wählen ließ. Die Mehrzahl der von der Staatssicherheit hinterlassenen Berichte folgen dem gleichen Muster. Die benutzten Umschreibungen entspringen einem vorgegebenen Zuordnungskatalog, der abgeklärte Objektivität vortäuscht und mit entsprechenden Begriffen operiert.

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Verweigerung und Widerstand gegen das SED-Regime im Spiegel der MfS-Überlieferung

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Abb. 1  Eine Verdrehung der eigentlichen Umstände, begünstigt durch das sprichwörtliche „Brett vor dem Kopf“, spiegelt sich auch in der von Studenten angefertigten Zeichnung über die eingeschränkte Sichtweise von SED-Parteigenossen wider.

Das inflationär verwandte Attribut „feindlich negativ“ meint zunächst nur politisch abweichendes kritisches Denken, mitunter auch Handeln. Vieles wirkt durch die Wiederholung typisiert, schließlich sollten die Auswertungs- und Informationsgruppen der Staatssicherheit die Berichte als Ausgangsmaterial nutzen, um Personenprofile erstellen und Fahndungsmaßnahmen effektiv durchführen zu können. Für den heutigen Leser erweist sich die Lektüre angesichts der fortwährenden Dramatisierung und Ausgrenzung jedweder Abweichung nicht selten als ermüdend. Zugleich ist sie Ausdruck einer nicht nur den Entscheidungsträgern in Diktaturen eigenen Selbstüberschätzung, gepaart mit einem als psychiatrisch zu charakterisierenden Kontroll- und Bestimmungszwanges: Immer geht es auch um Macht und Kontrolle und um den Liebesentzug, der jenen droht, die sich gegenüber den vermeintlichen generösen Zuwendungen des Souveräns nicht hinreichend dankbar erwiesen, weil sie bestimmte Anpassungsleistungen nicht erbrachten, nicht im erwünschten Moment die offiziellen Ausführungen beklatschten oder die Feinde nicht ebenso leidenschaftlich, wie es von ihnen erwartet wurde, verurteilt hatten. In dem Maße, wie der Staat die von ihm Regierten agitiert, einschüchtert und drangsaliert, sieht sich dieser bei Zuwiderhandlung um seine Gefolgschaft geprellt und in Verdrehung der eigentlichen Umstände nicht als Täter, sondern als Geschädigter (Abb. 1). Wer sich politisch abweichend verhielt, zwang die Vollstrecker der staatlichen Macht, so suggerieren es viele der Quellentexte, die Abweichler zu bestrafen. Auch wenn in vier Jahrzehnten Staatssicherheit viele Dokumente entstanden, in denen vom politisch abweichenden Verhalten unter Medizinstudenten und Medizinern die Rede ist, so kam dies eher selten vor. In der Regel blieb es bei versteckter Kritik; die eigene Meinung wurde, wenn sie von der offiziellen abwich, nur im internen Kreis preisgegeben. Die Medizinstudenten sahen sich, indem man ihnen fortwährend erklärte, dass sie ihr Studium als Auszeichnung der Arbeiter- und Bauern-­Macht zu begreifen und sich dessen als würdig zu erweisen hatten, unter einen gewissen Erwartungsdruck. Von der Herkunft her – bevorzugt werden sollten zunächst die Bewerber aus Arbeiter- und Bauernfamilien – entsprachen sie nicht dem Idealtypus eines DDR -Absolventen.2 Viele stammten selbst aus Medizinerfamilien und die spezifischen Anforderungen des Medizinstudiums sorgten dafür, dass es vielen Bewerbern aus bürgerlichen Familien gelang, einen der mit einem Arbeiterund Bauerkindern nicht zu besetzenden Studienplätze zu erhalten. Wie andernorts war auch unter den Medizinstudenten die Maxime weitverbreitet, dass es, bis man seinen Abschluss in der Tasche hat, besser sei, sich ruhig zu verhalten. Wer dies geschafft und beruflich etwas erreicht habe, hieß es, könne später gegebenenfalls eher den Mund aufmachen. Auch wenn sich die Suche nach einem exemplarischen Dokument mehr als schwierig gestaltet, so soll hier doch ein Schriftstück aus dem Bestand der Staatssicherheit angeführt werden. Die geheimen Genossen aus Rostock informierten in dem 1979 entstandenen Dokument die SED -Bezirksleitung und die Zentrale Auswertung und Kontrollgruppe des MfS in Berlin über politisch nichtangepasste Jugendliche in ihrem Zuständigkeitsbereich.

Christian Halbrock

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In der Information Nr. 19/79 sprachen die Autoren über „eingeleitete Maßnahmen zur Zerschlagung und Zersetzung negativ-­feindlicher Gruppierungen unter Jugendlichen“.3 Neben den Lehrlingen und sogenannten Jungfacharbeiter, die sich in den verschiedensten Kneipen regelmäßig trafen, beschäftigt sich der Bericht mit mehreren studentischen „Gruppierungen mit politisch-­negativem bis feindlichem Charakter“. Meist umfassten diese „Gruppierungen“ nicht mehr als zwei bis drei Personen. Sie bestanden „vorrangig aus Studenten der Medizin, Theologie und Physik“. Eine dieser „Gruppierungen“ existierte in einem der Studentenwohnheime. Privat trafen sich hier „drei Studenten der Humanmedizin“, die sich mit in der DDR nicht erwünschten Büchern, „mit BRD -Literatur“, beschäftigten und über das Gelesene diskutierten. Sie setzten sich mit den politischen Verhältnissen kritisch auseinander und führten, wie es die Staatssicherheit insgeheim erfahren haben wollte, „negative Diskussionen“. Man unterstellt ihnen, dass sie, wenn sie „die Möglichkeit [dazu] hätten, […] die DDR verlassen“ würden. Eine weitere Gruppe bestand nach den vorliegenden Erkenntnissen in der Rostocker Kröpeliner Vorstadt. Einmal in der Woche trafen sich „acht Studenten der Humanmedizin und Stomatologie“ hier in der Kneipe „Frosch“ am Patriotischen Weg, tranken Bier und diskutierten miteinander. Der „Frosch“ galt als eine Kneipe, in der man langhaarige und an westlicher Musik interessierte Jugendliche treffen konnte, als eine Art Szenetreff, indem nicht nur manch ein Bier geleert, sondern auch so manch offenes Wort ausgetauscht wurde. Wie unter Jugendlichen üblich, sprach man die alltäglichen Probleme, auch die politischen offen an, und wusste sich nicht selten darin einig, dass die Verhältnisse in der Bundesrepublik mehr Freiheiten böten. Häufig arbeiteten sich die Diskutanten an der Besatzungsmacht, den „Russen“ ab. Neben dem Ärger über die offiziell verordnete Freundschaft zur Sowjetunion, deren politisches System die SED kopierte und die DDR politisch bevormundete, schuf dies einen eigenen Sprachcode, über den sich die Gleichgesinnten verständigten. Es hieß, im „Frosch“ würden „politisch-­negative Diskussionen“ geführt. Man mutmaßte, dass sich die Gespräche „vorrangig gegen die deutsch-­sowjetische Freundschaft und die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte“ richteten. Was im „Frosch“ tatsächlich geschah, muss darüber hinaus offen bleiben. Die Staatssicherheit hatte trotz alledem ihr klares Bild, von dem, was hier vor sich ging. Allein die Form des selbstorganisierten Beisammenseins – alarmiert sprach man von Gruppenbildung – die fehlende Kontrolle und die wohl nicht unzutreffende Annahme, dass die, die hier am Tisch saßen, ihre Meinung ungefiltert kundtaten, beflügelte die Phantasien der Staatsschützer. Könnte man heute die damals daran Beteiligten befragen, so würden sich diese wohl unterschiedlich an das Geschehen erinnern. Wie in anderen Fällen auch würde der eine darauf verweisen, nichts Außergewöhnliches getan haben zu wollen. Ein anderer würde anführen, dass sich hier am wöchentlichen Stammtisch nur das vollzog, was gemeinhin als Teil des Studentenlebens anzusehen sei. Ein Weiterer könnte dies als widerständiges Verhalten, als sein ganz persönliches Erlebnis, wie er der DDR entgegengetreten ist, auslegen. Bestärkt werden würde er in seiner Interpretation durch die Berichte der Staatssicherheit. Die Staatssicherheit beschloss darauf hin, so hält es der Bericht fest, „Maßnahmen zur Prüfung der strafrechtlichen Relevanz und zur vorbeugenden Verhinderung weiterer Aktivitäten durch Kontrolle und Zersetzung“ einzuleiten. Was verbarg sich konkret dahinter? Offiziere der Staatssicherheit traten in beiden Fällen an die Universitätsleitung und die Universitätsparteileitung heran und veranlassten, dass diese aktiv wurden. Sowohl die FDJ , das Studentenbüro als auch der SED nahestehende Dozenten drängten die betreffenden Studenten, sich fortan politisch loyal zu verhalten und nicht mehr zu den entsprechenden Treffen zu gehen und wiesen sie darauf hin, dass sie im Fall der Zuwiderhandlung ihr Studium aufs Spiel setzten würden. Wie in

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anderen Fällen auch kam hier den universitären Gremien eine entscheidende Rolle bei der Stigmatisierung, Ausgrenzung und Bestrafung von politisch unangepassten Studenten zu. Die vom MfS erstellten Texte werfen grundsätzliche Fragen auf. Im Kern spiegelt sich in ihnen zunächst die Sicht der Staatssicherheit wider, die die Vorgänge nach ihrer Agenda auswertete und ein entsprechendes Narrativ erstellte. Die angeführten Eckdaten und die übermittelten Zitate, die nicht unbedingt den tatsächlichen Wortlaut widergeben müssen, liefern so lediglich ein Gerüst, um das Geschehen zu rekonstruieren. Genutzt werden muss diese Überlieferung vor allem dann, wenn keine anderen Quellen zur Verfügung stehen, was bedauerlicherweise häufig der Fall ist. Im folgenden Beitrag geht es nicht um Vollständigkeit. Ausgewählt wurden hier einige Fallbeispiele, die aufzeigen sollen, welche unterschiedlichen Formen des politisch abweichenden Verhaltens es gab. Jedoch ist zu fragen, was die Akten der Staatssicherheit darüber an einem Ort wie der Universität, an dem sich vieles sehr subtil vollzog, auszusagen vermögen: Einiges deutet darauf hin, dass die Staatssicherheit von manch einem abweichenden Verhalten keinerlei Kenntnis erhielt oder nur eher vage informiert wurde. Die Information erreichte nicht in jedem Fall oder auch nur in reduzierter Form die Staatssicherheit. Zum einen schritten beizeiten die Universitätsleitung und die Universitätsparteileitung, der Prorektor für Studienangelegenheiten, die FDJ und der FDGB ein und gingen gegen die vermeintlichen Delinquenten vor, dies mitunter, ohne das MfS zu informieren. Zum anderen gewährleistete das Netz aus Geheimen und Inoffiziellen Informanten keine allumfassende Kontrolle. Nicht immer war ein Spitzel zugegen und nicht jeder Spitzel meldete tatsächlich alles, was er wusste, pflichtergeben oder der Realität entsprechend weiter. In einer Analyse zum obligatorischen Ernteeinsatz der Rostocker Studenten im Jahr 1966 kam die Staatssicherheit zu dem Schluss, dass „negative Vorkommnisse“ von den Betreuern häufig verschwiegen würden, „weil sie den guten Ruf der Gruppe nicht gefährden wollten“.4 Ausufernde, aber wenig konkrete Schilderungen, in den Vordergrund gerückte persönliche Animositäten und Wertungen der Spitzel bewirkten andererseits, dass vieles verfälscht wurde. Bei der Stellenbesetzung, dem Kampf um knappe Ressourcen wie dem Reiseprivileg oder einfach aus Neid und Missgunst, die in Wissenschaftskreisen allezeit ständige Begleiter sind, wandten sich Universitätsmitarbeiter vertrauensvoll an staatliche Stellen und machten Kollegen „madig“. Nicht selten beschäftigten sich in der Folge die Staatssicherheit mit der Angelegenheit und erstellte entsprechende Berichte. Dies konnte auch Konsequenzen haben. So im Jahr 1958 bei der Inhaftierung von Professor Franz Günther von Stockert, Direktor der Universitäts-­Nervenklinik.5 Die Staatssicherheit warf ihm vor, sich der „Hetze […] gegen die DDR , gegen Staatsfunktionäre und Mitglieder der SED “ schuldig gemacht zu haben. Laut dem Ermittlungsbericht betitelte er „einen Staatssekretär als […] ‚Kommunisten‘ und einen Kollegen als ‚rotes Schwein‘ und bezeichnete die DDR als ‚Konkursmasse‘.“ Ein missgünstig eingestellter Kollege berichtete der Staatssicherheit allerlei Diffamierendes über von Stockert. Doch sagten die Berichte mitunter nur wenig über die so Denunzierten aus, in manch einem Falle verweisen sie eher auf den Gemütszustand des Informanten. In abschätzigem Unterton berichtete dieser, von Stockerts Vorlesungen würden „weniger ihres wissenschaftlichen Inhalts wegen besucht“. „Umso mehr“, so echauffierte er sich, wundere es ihn, dass „das Staatssekretariat jetzt wieder Zugeständnisse macht und [von Stockert] bis Jahresende noch Westmark zahlen will […]. Auf keinen Fall wird St. Partei für den Sozialismus nehmen, sondern versuchen zu lavieren.“ 6 Warum die Studenten, wenn nicht aus wissenschaftlichem Interesse, in die

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Vorlesungen von Professor Stockert kamen, ergibt sich aus dem Bericht des übereifrigen Neiders nicht. Gab es in den Vorlesungen unmissverständliche politische Anspielungen, versteckte Kritik am System, gingen die Studenten zu von Stockert, weil er ein Stück gelebte Bürgerlichkeit repräsentierte und sich so von anderen abhob oder handelte es sich schlichtweg um Pflichtvorlesungen? Die Akten vermögen darüber keine Auskunft zu geben. Jedoch wurde die Denunziation von Stockert zum Verhängnis. Er verbrachte mehrere Wochen in der MfS-Untersuchungshaft und wurde im Mai 1958 wegen „staatsgefährdender Propaganda und Hetze“ zu einer Haftstrafe von zwölf Monaten verurteilt.7

Nonkonformität, Verweigerung, Protest, ­Widerstand von Medizinstudenten und Medizinern Die Sozialistische Einheitspartei betrachtete die Universitäten zuallererst als Kaderschmiede. Aus ihnen sollte ein linientreuer naturwissenschaftlicher Nachwuchs – und was die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften betraf – die zukünftige Funktionselite hervorgehen. Dagegen regte sich in den ersten Jahren nach 1945 noch vielerorts offener Widerstand. Auch bei den Medizinstudenten und Medizinern hielten Einzelne am Recht fest, sich unabhängig von den parteipolitischen Vorgaben artikulieren und zusammenschließen zu können, und gerieten so in Haft. Nachweisen lassen sich im Bereich der Universitätsmedizin in Rostock zwischen 1947 und 1958 neben der Inhaftierung von Franz Günther von Stockert 18 weitere Inhaftierungen. In der Regel handelte es sich um Studenten, die unter den damals geläufigen Anklagen wie Boykotthetze, Spionage und Diversion mitunter noch vom Sowjetischen Militärtribunal zu vier bis 20 Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. In sieben Fällen lautete das Urteil 25 Jahre Arbeitslager.8 Einen Medizinstudenten verurteilte das Militärtribunal in Schwerin 1951 zum Tode. Die Richter wandelten das Urteil anschließend in eine 25-jährige Haftstrafe um. Nach dem Tode des sowjetischen Diktators Josef Stalin 1953 und der in der Sowjetunion einsetzenden Entstalinisierung wurde der Betreffende im Dezember 1955 vorzeitig aus der Haft entlassen. Auch viele der anderen Verurteilten konnten vor Ende der Haftstrafe die Arbeitslager und Zuchthäuser verlassen. Was die Betreffenden konkret getan hatten, lässt sich angesichts der ungenügenden Aktenlage nur zum Teil rekonstruieren. Hinzu kommt die Frage, unter welchen Bedingungen die Vernehmungsprotokolle entstanden sind. Einer der angeblich der Spionage überführten Medizinstudenten, Gerald Joram, hatte Namenslisten von politischen Funktionären erstellt und politische Schriften verteilt. Nach der Verurteilung zu 25 Jahren in Schwerin 1951 und der anschließenden Deportation in das Arbeitslager Workuta in der Sowjetunion erfolgte am 16. Oktober 1955 seine Entlassung.9 Die Festnahmen und hohen Haftstrafen dienten nicht zuletzt der Abschreckung und Einschüchterung. Nach dem Aufbäumen in den ersten Jahren kam es später an der Universität nur noch vereinzelt zu Widerstandstaten. Protest und Kritik äußerten sich eher verhalten.

„Aufruhr“ 1960 im Studentenwohnheim Thierfelderstraße Nicht immer war der Auslöser für studentisches Aufbegehren ein politischer. Auch der studentische Aufruhr vom Juni 1960, der als „Widerstand gegen staatliche Maßnahmen“ aktenkundig werden sollte und für Gesprächsstoff nicht nur an der Universität sorgte,

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entstand aus einem unpolitischen Anlass heraus. Anstößig genug schien den Verantwortlichen bereits der Umstand, dass hier die zukünftige DDR -Funktionselite rebellierte. Dies ließ die Sache zum Politikum werden. Höchstwahrscheinlich steuerte das Datum des Ereignisses seinen Anteil zur Skandalisierung mit bei. Der Vorfall ereignete sich ausgerechnet in den Abendstunden des 14. Juni – nur wenige Tage vor dem 17. Juni, der als Jahrestag des niedergeschlagenen Volksaufstandes von 1953 als neuralgisches Datum im Terminkalender der Sicherheitsbehörden stand. Rund um den 17. Juni kam es regelmäßig zu Widerstandsaktionen in der DDR ; die Polizei und die Staatssicherheit befanden sich im Zustand erhöhter Anspannung. Dass sich der bereits 1957 aus politischen Gründen verurteilte Schiffbaustudent, Christian Töpfer, an dem Aufruhr beteiligte, mochte die Phantasie derer, die darin eine politische Aktion sehen wollten, ebenso beflügelt haben. Die Staatssicherheit und die Staatsanwaltschaft erblickten in Christian Töpfer dementsprechend den „Rädelsführer“. Am Geschehen beteiligt waren laut Polizeibericht angeblich etwa 150 Studenten, unter ihnen offensichtlich auch einige angehende Mediziner. Begonnen hatte alles mit einem spontanen und nicht so ernst gemeinten Fußballspiel auf der Wiese zwischen den Wohnblöcken des Studentenwohnheimes. Dem schloss sich eine ebenso spontane, wilde wie ausschweifende Feier an, in deren Verlauf der vollkommen überforderte wie genervte Hausmeister schließlich die Volkspolizei alarmierte. Diese schickte einen Funkstreifenwagen zum Studentenwohnheim. Mehrere Studenten „rotteten“ sich, wie es später in den Staatssicherheitsakten hieß, zusammen und versuchten die Festnahme eines ihrer Kommilitonen zu verhindern. Dieser war den Polizisten zuvor besonders lautstark entgegengetreten. Die Zahl der anwesenden Studenten wuchs, folgt man den Akten der Staatssicherheit, schnell auf zweihundert an. Das Gerangel um die Festnahme heizte die Stimmung weiter an: „Pfui“-Rufe und Sprüche wie „Freiheit für Kohlberg“, „Schweinerei“ und „Nieder mit dem Kishi-­Regime“ erklangen.10 Die Studenten umstellten den Funkstreifenwagen und hinderten ihn an der Abfahrt.11 Das MfS nahm nachfolgend vier Studenten als vermeintliche Rädelsführer fest und überstellte sie in die Untersuchungshaft. Unter ihnen befand sich auch ein Medizinstudent. Nach zweieinhalb Monaten Stasi-­Untersuchungshaft verurteilte das Kreisgericht Rostock die Festgenommenen zu Haftstrafen zwischen sechs und achtzehn Monaten. Der mitangeklagte Medizinstudent erhielt eine sechsmonatige Haftstrafe, die in eine einjährige Bewährungsstrafe umgewandelt wurde.12

Nonkonformität Gab es Nonkonformität (als Form der gelebten Bürgerlichkeit) und wie sah diese aus? Den Studierenden wurde stets ein erhöhtes Maß an Loyalität abverlangt. Im Ergebnis bewirkte dies, dass dem subtilen unterschwelligen Protest eine weitaus größere Bedeutung zukam als andernorts, und er feinsensorisch als solcher auch wahrgenommen wurde. Oft lässt sich erst anhand verschiedener Überlieferungen ausloten, wie die Stimmung im Einzelfall war und ob es insgeheim oder verdeckt Widerspruch gab (Abb. 2 und 3). Bis zur dritten Hochschulreform von 1967 bis 1969 gelang es der FDJ und der SED nur zum Teil, die von ihr verabscheuten bürgerlichen Konventionen in allen Fakultäten zurückzudrängen. Einzelne Fachbereiche bewahrten sich trotz vieler Zugeständnisse ein Stück des alten universitären Geistes; dies nicht zuletzt aufgrund der Autorität, die einzelnen Professoren in ihrem Fach zukam. Als Rückzugsort galten die Theologie und lange Zeit die Veterinärmedizin und Medizin. Aber auch in einigen technischen Fächern hielt

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Abb. 2 und 3  Einblicke in Zimmer eines Rostocker Wohnheims für Medizinstudenten, Anfang der 1970er-­Jahre.

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sich von der SED beargwohnt lange eine Kultur der Bürgerlichkeit, die dem Aufbruch in die neue Zeit im Wege stand. Für jene Form der gelebten Bürgerlichkeit, die auch nach außen ausstrahlte, angeführt werden kann hier ein Abteilungsleiter der Universitätskinderklinik. Trotz seiner Position bekannte er sich offen zur Kirche und hängte in dem von ihm bewohnten Haus im Klosterhof an der Universitätskirche im Flurfenster den Herrnhuter-­Adventsstern auf. Der in einer kirchlichen Werkstatt der Brüdergemeinde in der Oberlausitz gefertigte Adventsstern diente in der DDR nicht nur als Adventsschmuck, sondern als probates Mittel, um den kirchlichen Beharrungswillen in einer sozialistischen Gesellschaft zu bezeugen. Folglich konnte er auch nur über kirchliche Kanäle bezogen werden und kam lediglich im kirchlichen und privaten Rahmen zum Einsatz. Unter den Universitätsmitarbeitern war dies eher selten; die meisten hielten sich, auch wenn sie kirchliche Bindungen hatten, um ihre Karriere nicht zu gefährden, von der Kirche fern. Um den betreffenden Mediziner herum bildete sich Ende der sechziger Jahre ein Gesprächskreis bürgerlicher Intellektueller, in dem im Westen veröffentlichte Bücher ausgetauscht, besprochen und philosophische Fragen diskutiert wurden. Der betreffende Mediziner, hieß es bei der Staatssicherheit, vertrete eine „negative politische Position“, die sich in der Diskussion zur DDR -Verfassung äußere. „Darüber hinaus“, so weiter, lehne er „jegliche gesellschaftliche Tätigkeit ab.“ 13 Zum Hauskreis zählte die Staatssicherheit auch einen katholischen Akademiker. Unter anderem wegen seiner Teilnahme am Hauskreise lehnte ihn die Abteilung XX des MfS auf Anfrage der Universität als Reisekader ab.14 Argwöhnisch registrierten die Staatssicherheit und die Universitätsparteileitung ebenso, dass Medizinstudenten die Veranstaltungen der Evangelischen Studentengemeinde besuchten, diese mit vorbereiteten oder sich sogar als Vertrauensstudenten wählen ließen. Neben den Theologen und Sonderschulpädagogen bildeten die angehenden Mediziner eine wichtige Stütze der studentischen Gemeindearbeit. Unter den sechs Vertrauensstudenten, die in einem internen MfS-Bericht für das Wintersemester 1983/84 namentlich aufgeführt wurden, befanden sich zwei Medizin- und eine Medizinfachschulstudentin.15 Zu den im Herbstsemester 1984 nachfolgend gewählten Vertrauensstudenten zählten ein Medizinstudent und ein Forschungsstudent der Sektion Stomatologie.16

Flugblätter im Anatomischen Institut und in der Universitätspoliklinik Äußerst selten kam es zu Aktionen, die sich eindeutig als Widerstandsaktionen anführen lassen. Am 27. Oktober 1962 tauchten 35 „von unbekannten Tätern“ mit Schreibmaschine gefertigte Flugblätter unvermittelt im Hörsaal des Anatomischen Instituts auf. Sie enthielten das bekannte Rosa-­Luxemburg-­Zitat über die „Freiheit“ der Andersdenkenden, die, wenn sie „nur für die Anhänger der Partei [und] nur für die Anhänger der Regierung“ gelte, keine echte Freiheit sei (Abb. 4).17 Die Flugblätter lagen auf fast allen Plätzen und auf dem Vorlesungspult; eines der Flugblätter hing am Schwarzen Brett. Wenig später wiederholte sich die Aktion: Diesmal fand man sieben Flugblätter mit dem Luxemburgzitat im Hörsaal.18 Mehrere Medizinstudenten und Angestellte wurden daraufhin verdächtigt, die Flugblätter in Umlauf gebracht zu haben. Ob es der Staatssicherheit, die alle Schreibmaschinen am Institut überprüft und verdeckt Informationen über die Verdächtigten sammelte, gelang, die Verfasser zu finden, ist nicht bekannt.

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Zu einer weiteren Widerstandaktion kam es einen Monat später. Unbekannte verstreuten in der Universitätspoliklinik 110 Flugblätter, die sie mit einem Kinder-­Druckkasten der Marke „Famos“ gefertigt hatten. Ihr Text lautete: „Der soz. Staat kann nur gerechte Kriege führen – W. I. Lenin – 1939 Angriff auf Polen und Finnland – Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten – Walter Ulbricht“.19

Flucht und Ausreise Auch Flucht und Ausreise zählten per definitionem in der DDR als politisch abweichendes Verhalten. Mit ihnen ging stets eine Gesetzesverletzung einher, deren Ausgangspunkt meist die politisch widrigen Verhältnisse in der DDR waren. Auch wenn sich die Mediziner, wenn auch nicht so stark wie die Pfarrer, mit der Mahnung auseinanderzusetzen hatten 20, trotz aller Widrigkeiten ihrem Diensteid getreu im Lande zu bleiben, häuften sich gerade in ihren Reihen die Abgänge. Die Aufforderung zum Bleiben nahm sich in der Theorie gut aus; in der alltäglichen Arbeitspraxis verlor sie schnell an Bindekraft. Zu frustrierend erwiesen sich häufig die Verhältnisse vor Ort, zu nennen sind nicht nur der allgegenwärtige Materialmangel 21, die fehlenden Investitionen, durch die der Anschluss an internationale Entwicklungen verloren zu gehen drohte und die lästige politische Indoktrination am Arbeitsplatz. Einer der geflüchteten Mediziner, Professor Bruno Karitzky, gab als Grund für seine Flucht in einem Interview 1955 an, in Rostock keine Wohnung erhalten und für seine Kinder keine geeigneten Ausbildungsplätze gefunden zu haben.22 Insbesondere vor dem Mauerbau von 1961 erreichte die Fluchtwelle ungeahnte Dimensionen. „Wenn man früh in eine Klinik kam“, erinnerte sich der Mediziner Professor Kurt Ziegler an jene Jahre, „dann wusste man nicht, ob dieser oder jener Arzt noch da war.“ 23 Auch wenn mit der Schließung der Grenze in Berlin die Abwanderung zum Erliegen kam, wagten einige weiterhin – nun unter erheblich größeren Risiken – die Flucht. Einer der Gründe dafür mag in der verschärften innenpolitischen Gangart unmittelbar nach dem Mauerbau zu suchen sein und in dem Umstand, dass sich in den Folgejahren innenpolitisch nur wenig verbesserte. Von den Zustimmungs- und Verpflichtungserklärungen, die unmittelbar nach dem Mauerbau an der gesamten Universität eingefordert wurden, blieben die angehenden Mediziner und Mediziner nicht verschont. Im Sommer 1962, so hieß es an der Universität, seien am Anatomischen Institut „einige Studenten republikflüchtig“ geworden. Einige seien verhaftet worden; zwei wären, so erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, „von den Grenzorganen erschossen worden.“ 24 Den Hintergrund für das Gerücht bildete die missglückte Flucht des Medizinstudenten

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Abb. 4  Auszüge aus den Flugblättern, die vom Ministerium für Staatssicherheit ausgewertet wurden.

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Peter Gruner und der Studentin Lilli Gruner. Wie die Historikerin Anita Krätzner in ihren Veröffentlichungen zur Flucht unter den Medizinstudenten schildert, wurde die Leiche von Lilli Gruner 1962 an der Küste von Schleswig-­Holstein angespült; Peter Gruner, der mit ihr zusammen per Faltboot über die Lübecker Bucht floh, blieb verschwunden und wurde später für tot erklärt. Im März und April 1962 gelang demgegenüber den Medizinstudenten Heinrich S., Franz M. und Heinz Block mit dem Faltboot die Flucht über die Ostsee.25 Auch in den folgenden Jahren kam es immer wieder zu Fluchtversuchen (Abb. 5). Die Staatssicherheit berichtet so in den siebziger Jahren, dass zwei Ärzte der Universität die DDR „illegal“ verlassen hätten.26 Die politisch Verantwortlichen wussten sehr wohl, dass sich viele der Fluchten nicht monokausal begründen ließen: Meist kamen mehrere Ursachen zusammen. Als im Jahr 1987 ein wissenschaftlicher Assistent nach einem Auslandsaufenthalt nicht mehr in die DDR zurückkehrte, verwies die Staatssicherheit intern auf sein angespanntes Verhältnis zum Direktor seines Instituts. Die „Atmosphäre am Institut“ sei, so hatte es das MfS erfahren, durch das „autoritäre Verhalten“ des Professors de facto vergiftet. „Ständige Schikanen“ und die fehlende berufliche Entwicklung hätten letztlich die Gründe für die Flucht geliefert.27 In den siebziger Jahren stieg auch unter dem medizinischen Personal an der Universität die Zahl der Ausreiseantragsteller.28 Im Dezember 1976 nahm die Staatssicherheit, um nur ein Beispiel zu nennen, einen Hilfskrankenpfleger der Universitätsklinik fest, der am Grenzübergang Friedrichstraße in Ost-­B erlin seinen Personalausweis abgab und anschließend seine sofortige Ausreise nach West-­B erlin einforderte. Die DDR -Behörden hatten zuvor mehrere von ihm gestellte Ausreiseanträge abgelehnt. Das Kreisgericht Rostock verurteilte ihn nach sechs Monaten in der Untersuchungshaft in der August-­B ebel-­Straße zu zwei Jahren Freiheitsentzug.29 Im April 1978 berichtete die Staatssicherheit, dass inzwischen schon sechs Medizinstudenten „gesetzwidrige Anträge auf Übersiedlung in die BRD bzw. in andere nichtsozialistische Staaten gestellt“ hätten. Über andere Medizinstudenten erfuhr die Staatssicherheit von Zuträgern, dass sie sich mit dem Gedanken trügen, die „DDR auf ungesetzlichem Wege zu verlassen.“ 30

Unmutsäußerungen und Kritik Politisch abweichendes Verhalten vollzog sich an der Universität meist in niederschwelliger, wenig anstößiger Form. Dazu zählten verbale Kritik, die Nichtbeachtung bestimmter Verbote oder das Nichterscheinen bei obligatorischen Veranstaltungen. Die Motive dafür konnten unterschiedlicher Natur sein, die Wirkung blieb in der Regel die gleiche. Unterstellt wurde den Nicht-­Handelnden meist eine politisch „negative“ Intension. Das Nicht-­Mitmachen, das Nicht-­Handeln, es vorzuziehen, etwas nicht zu tun, das I-would-­ prefer-­not-­to-­do, standen unter Generalverdacht. Häufig bleibt die Frage, ob nicht erst die Reaktion der offiziellen Stellen manch eine Äußerung zum politisch abweichenden Verhalten erhob. Andererseits erfolgt manch eine Unterlassung, abweichende Kommentierung oder auch kritische Anmerkung gerade in dem Wissen, dass sie bei den politischen, universitären und staatlichen Stellen jene Betriebsamkeit auslöste, die uns in die Lage versetzt, dies heute nachlesen zu können. Manch einer zeigte sich einfach nur genervt angesichts der allgegenwärtigen permanenten Erfolgsmeldungen und der trostlosen Realität im Lande. Ein Arzt in der Klinik für Kinderheilkunde brachte es auf den Punkt, indem er darauf verwies, dass „in der DDR der Kommunismus verkündet würde wie […] das Paradies, glauben dürfe man [dies jedoch] nicht.“ 31 Erstaunlich ist, dass selbst anscheinend

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Abb. 5  Propagandaplakat „Wie ein Dieb in der Nacht so verläßt er sein Vaterhaus – die DDR“ von 1958.

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belanglose Bemerkungen Eingang in Berichte und Akten fanden. Dies sagt aber zugleich etwas darüber aus, welche Bedeutung jede Form von Kritik damals beigemessen wurde. Einschneidende politische Ereignisse, wie die Schließung der Grenze in Berlin im August 1961, sorgten auch an den Universitäten dafür, dass es zu emotional geführten Diskussionen kam. In ihrem Gefolge gab es immer wieder Kritik und offen geäußerte Ablehnung. Andererseits reagierten die Universitätsparteileitung, die FDJ und die Sektionen in solchen Zeiten besonders sensibel auf jedwede Abweichung. Doch nicht nur dies. Von den Studenten wurde deren politische Loyalität über Unterschriftlisten und Selbstverpflichtungen eingefordert. Nach dem Mauerbau 1961 drängte die Universität Rostock die Studenten zur Unterschrift unter einen von ihr vorgefertigten Brief an SED -Chef Walter Ulbricht, im Kern eine devote Zustimmungserklärung und gefällige Lobhudelei des Regierungshandels, die einige Studenten trotz massiver Einschüchterungen nicht unterschrieben. Die Unterschriftsleistung sollte, so lautete der Plan, in den Seminargruppen geschlossen erfolgen. Auf Schwierigkeiten stieß die Universitätsparteileitung dabei nicht nur bei den angehenden Theologen, Germanisten und Schiffbauern, sondern ebenso bei den Medizinern. Nicht mal ein Fünftel der Medizinstudenten unterschrieb die Akklamation.32 Einige Studenten äußerten sich öffentlich unmissverständlich und kritisierten die innenpolitische Entwicklung. Im Jahr 1961 wurden aus diesem Grunde acht Studenten der Medizinischen Fakultät exmatrikuliert.33 Zugleich ging die Universität gegen einen Assistenzarzt der Frauenklinik vor und erteilte ihm wegen seiner unerwünschten Äußerungen eine strenge Rüge.34 Im Alltag, fern der großen Ereignisse, vollzog sich die Kritik meist weniger spektakulär. Ein Bericht aus der Feder der Staatssicherheit aus dem Jahr 1978 vermittelt einen Eindruck, was viele Medizinstudenten tatsächlich dachten und wie sich ihr Unmut artikulierte. Viele der Studenten standen so der Vorbereitungswoche für das Studienjahr 1977/78, in der es vor allem um die politische „Erziehung“ und die Vermittlung des Marxismus-­Leninismus ging, ablehnend gegenüber. Der Bericht spricht vom „Desinteresse an diesen politischen Lehrveranstaltungen“ und moniert, dass aus den Sektionen Chemie und Medizin nur die Hälfte der Studenten zur abfällig „roten Woche“ betitelten Unterweisung erschien. Die zu politischen Fragen angesetzten Diskussionen nähmen, klagte der Bericht weiter, in den Seminaren nicht den gewünschten Verlauf – man sprach nebulös von „politisch-­ideologischen Unklarheiten bzw. negativen Diskussionen.“ Unzufrieden zeigten sich die Autoren auch mit dem Umstand, dass die Studenten in den Wohnheimen nicht wie gefordert DDR -Radio hörten, sondern „überwiegend“ den in der feindlichen Bundesrepublik produzierten „Norddeutschen Rundfunk“.35 Nicht viel anders fiel ein Bericht der Bezirksverwaltung Rostock aus dem Jahr 1987 aus. Auf sechs Seiten finden sich hier kritische bis ablehnende politische Äußerungen von „Wissenschaftlern, Hochschullehrern und Angehörigen der medizinischen Intelligenz der Wilhelm-­Pieck-­Universität Rostock“. Neben dem Problem der fehlenden Reisefreiheit und der Kritik am Reformunwillen der Regierenden ging es meist um die allgegenwärtigen Versorgungsprobleme, schöngerechnete Wirtschaftsbilanzen und die schlechte Situation am Arbeitsplatz in den Universitätskliniken.36 Zu ähnlichen Schlüssen kam ebenso ein Bericht der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit aus dem Jahr 1988. Auch hier heißt es, dass im Bereich der Medizin neben „ideologischen Problemen auch materielle Schwierigkeiten“ massive Kritik hervorriefen. Dazu zählte ganz konkret die „zum Teil ungenügende Bereitstellung von medizinischer Ausrüstung.“ 37 Die angespannte Wohnraumsituation für Absolventen und Studenten spielte ebenso eine Rolle. Eben jener Wohnraummangel sowie die beengten Verhältnisse und fehlende Freiräume in den Studentenwohnheimen stellten ein permanentes Ärgernis dar. Einige Medizinstu-

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denten gerieten auch deshalb in den Fokus der Überwachung. Aufmerksam verfolgten die Staatssicherheit, die FDJ und die Rostocker Universitätsleitung die Vorgänge in der östlichen Altstadt rund um die Petrikirche, wo Jugendliche ab Mitte der achtziger Jahre zunehmend leerstehende Wohnungen besetzten.38 Unter den Besetzer befanden sich auch einige Studenten der Medizin. Was als handgreifliche Form der Selbsthilfe begann, hätte an sich keinen Grund zur Observierung liefern müssen. Doch ging die Initiative hier nicht von der Freien Deutschen Jugend aus. Allein schon die Eigeninitiative ließ die Vorgänge in den Augen der Staatsschützer suspekt erscheinen. Zudem bildete sich in den vom Verfall gezeichneten Straßen mit der Zunahme der Besetzungen eine Subkultur heraus, die sich der politischen Bevormundung zu entziehen drohte. In den Hausfluren in der Gärtner-, Gruben- und Faulen Straße hatten Informanten der Staatssicherheit bereits unerwünschte pazifistische Losungen und Aufschriften, die sich für Reformen nach sowjetischem Vorbild aussprachen, erspäht. Und in der Bundesrepublik hatten, was den Vorwurf des politisch Unerlaubten zu bestätigen schien, der Norddeutsche Rundfunk, die Stuttgarter Zeitung und ein Life-­Style-­Magazin über die „Schwarzbesetzer“ im Osten berichtet. Die Staatssicherheit drängte die Bezirksverwaltung, die Deutsche Volkspolizei, den Oberbürgermeister und die Universitätsleitung gegen jene Form der Selbsthilfe vorzugehen.39 Mehr noch trieb die Staatsschützer der Umstand um, dass einer der Medizinstudenten in den achtziger Jahren sogenannte Baumpflanzaktionen – eine Art politisches Happening der unabhängigen Umweltbewegung – mitorganisierte. Einen anderen Medizinstudenten zählte das MfS „zum harten Kern der staatlich unabhängigen Friedensbewegung in Rostock“. Nochmals erinnerte die Staatssicherheit die Universitätsleitung daran, dass sie es zu verhindern habe, „daß politisch-­indifferente Personen zum Studium zugelassen werden“. „Politisch-­negative Medizinstudenten“ seien – hieß es unmissverständlich – „zu exmatrikulieren“.40

Fazit Obwohl sich leicht weitere Beispiele anführen ließen, die vom politisch abweichenden Verhalten unter den Studenten zeugen, blieb dies doch stets die Ausnahme. Die Studenten und Mitarbeiter der Universität und am Bereich Medizin verhielten sich – von Ausnahmen abgesehen – entsprechend den politischen Vorgaben der SED , die die Universität als Kaderschmiede ansah, nach außen hin systemloyal. Durch eine dezidiert gelebte Bürgerlichkeit oder durch kleine Zeichen der Unangepasstheit im Alltag bekannten Studenten und Universitätsmitarbeiter am Fachbereich Medizin und an den universitären medizinischen Einrichtungen demgegenüber aber auch, dass sie sich den Vorgaben der SED , wenn schon, dann nur widerwillig unterzuordnen bereit waren. Ebenso gab es vereinzelt Verweigerung, Widerspruch und Aufbegehren, auch wenn sich dies mit Hilfe der Staatssicherheits-­Akten nur bedingt rekonstruieren lässt. Die Gremien der Universität, die FDJ , die SED und der FDGB gingen gegen politische Abweichungen im vorauseilenden Gehorsam – meist mit Übereifer – vor und erledigten die Arbeit, die andernorts der Staatssicherheit zufiel. Die Staatssicherheit ihrerseits schritt nicht nur in „strafrechtlich relevanten“ Fällen ein. Gleichzeitig öffnete sie insgeheim Briefe und las die Korrespondenz von Studenten und Professoren, sammelte belastendes Material und fertigte Berichte über die Stimmung an den Fachbereichen.

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Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Anmerkungen 1

MfS, BV Rostock, Abt. XX/4: Analyse des Standes der operativen Aufklärung und Bearbeitung der Evangelischen Studentengemeinden Rostock und Greifswald, Rostock, 28. 3. 1984, BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, 1168, Bd. II, Bl. 329 – 364, hier 329. 2 Seils 1998, S. 8 – 15. Hierzu auch ­Krüger 2011, S. 281 – 295. 3 MfS, BV Rostock: Information Nr. 19/79 über eingeleitete Maßnahmen zur Zerschlagung und Zersetzung negativ-­feindlicher Gruppierungen unter Jugendlichen des Bezirkes Rostock, Rostock, 26. 4. 1979, BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 92, Bd. 1, Bl. 183 – 186. 4 Gesamtbericht über politisch-­ operative Probleme beim Ernteeinsatz der Studenten 1966, Rostock, 21. 10. 1966, BStU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV, Nr. 103, Bl. 344 – 355, hier Bl. 353. 5 Von Stockert, österreichischer und deutscher Staatsbürger, war an der Universität Rostock von 1954 bis 1958 Professor für Psychiatrie und Neurologie. Vgl. Kumbier 2006; Castell/Gerhard/Jasper/Bussiek 2003, S. 482; Wockenfuß (ohne Jahr), S. 81; Verband ehemaliger Rostocker Studenten e. V. (VERS) 1994, S. 152. Vgl. auch den Aufsatz von Kumbier, „Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls“ in diesem Band. 6 MfS, BV Rostock, GI Bericht, BStU, MfS, BV Rostock, AU 44/58, Bl. 8. 7 Urteil, ebd., Bl. 260 – 269. Ammer 1969, S. 171. Verband ehemaliger Rostocker Studenten e. V. (VERS) 1994, S. 152. 8 Verband ehemaliger Rostocker Studenten (VERS) 1994, S. 147 – 152. Ammer 1969, Reprint 1990, S.  168 – 173. 9 BStU, MfS, AOP 18/51, Bl. 70 – 78. 10 Der Spruch war der Berichterstattung über den japanischen Premierminister Nobusuke Kishi entlehnt und war als Analogie zu verstehen. Am 15. 6. 1960 berichtet das Neue Deutschland aus Japan: „In panischer Angst vor den Massenaktionen greift das Kishi-­Regime immer häufiger zu brutaler Gewalt.“

11 MfS, BV Rostock, Abt. IX: Sachstandsbericht, Rostock, den 24. 6. 1960 sowie MfS, BV Rostock, der Leiter, Schreiben an Generaloberst Mielke, Rostock, 15. 6. 1960, BStU, MfS, AU 95/60, HA, Bd. I, Bl. 23 – 28 und Bl.  242 – 245. 12 Kreisgericht Rostock-­Stadt, Urteil, Rostock, den 10. 9. 1960, BStU, MfS, AU 95/60, GA, Bd. III, Bl. 131 – 142. 13 MfS, BV Rostock, VSH AKG xxx (Name anonymisiert); VSH Dipl. Physiker xxx (Name anonymisiert). BStU, MfS, BV Rostock, AOP 189/63, Beiakte, Bl. 125; MfS, BV Rostock, Abt. XX/8: Ermittlungsbericht zum Antrag auf Reise in dringenden Familienangelegenheiten, 28. 5. 1984, BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, ZMA 2197, Bl. 4 f. 14 Kerblochkartei, BV Rostock, AOP 189/63: Beiakte, Bl. 124 f. 15 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4: Analyse des Standes der operativen Aufklärung und Bearbeitung der Evangelischen Studentengemeinde Rostock (ESG), Rostock, 16. 8. 1984, BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1168, Bd. 2, Bl. 357 – 364, hier 357. Eröffnet wurde in diesem Zusammenhang die OPK „Baum“ und „Lager I“. Vgl. hierzu auch: Karl Wolckenfuß: Die Universität Rostock im Visier der Stasi. Einblicke in Akten und Schicksale. Rostock 2004, S. 144 f. 16 MfS, BV Rostock, Abt. XX/4: Analyse des Standes der operativen Aufklärung und Bearbeitung der Evangelischen Studentengemeinde Rostock und Greifswald, Rostock, 28. 3. 1984, BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 1168, Bd. 2, Bl. 329 – 353. 17 MfS, BV Rostock, Abt. V/6: Sachstandsbericht zur Operativen Vorlaufakte I/1913/62, Rostock, 8. 1. 1963, BStU, MfS, HA XX, Nr. 6490, Bl. 10 – 40. 18 Ebd. 19 MfS, BV Rostock: Deliktekerblochkartei, schriftliche Hetze unbekannt, LMN 154, Sammelkarte, BStU, MfS, BV Rostock, DKK, Bl. 195. 20 Christoph Dieckmann spricht vom Pathos beharrlicher Pflichterfüllung und führt den Satz an, Schriftsteller, Ärzte und Pastoren sollten im Lande bleiben und verweist in diesem Zusammenhang auf eine Äußerung der Schriftstellerin Christa Wolf.

Christian Halbrock

Dieckmann 2017, S. 67; Winter 2000, S. 139 f. 21 Krüger 2011, S. 281 – 295. 22 Wockenfuß 2002, S. 22. 23 Zeitzeugenbericht von Prof. Dr. Kurt Ziegler am 15. Dezember 2006, in: Krüger 2007, S. 356. 24 MfS, BV Rostock, Abt. V/6: Sachstandsbericht zur Operativen Vorlaufakte I/1913/62, Rostock, 8. 1. 1963, BStU, MfS, HA XX, Nr. 6490, Bl. 10 – 40, hier S. 17. 25 Krätzner 2011 sowie dies. 2014, S. 133. 26 BStU, MfS, BV Rostock, Abt. XX, Nr. 604, Bl. 95 – 97. 27 MfS, BV Rostock: Information Nr. 45/87 über den Verdacht des Verbleibens im Ausland durch Angehörige der medizinischen Intelligenz, Rostock, 3. 7. 1987, BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 153, Bl. 95 – 101. 28 Unter anderem MfS, BV Rostock, Abt. XX: Information zu einer beabsichtigten Antragstellung auf ständige Ausreise, Rostock, 27. 10. 1989, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 166, Bd. 2, T. 1, Bl. 33. 29 BStU, MfS, BV Rostock, AU 1447/77. 30 MfS, BV Rostock: Information Nr. 31/78 über einige Probleme zur poltisch-­ideologischen Situation unter den Studenten der Wilhelm-­ Pieck-­Universität Rostock, Rostock, 26. 4. 1978, BStU. MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 173, Bd. 1, Bl. 230 – 237, hier S. 234. 31 MfS, BV Rostock: Information über die Entwicklung der Reaktion von Wissenschaftlern, Hochschullehren und Angehörigen der medizinischen Intelligenz der Wilhelm-­Pieck-­ Universität Rostock auf politische Ereignisse und Sachverhalte, Rostock, 4. 11. 1987, BStU, MfS, AKG, Nr. 195, Bd. 1, Bl. 119 – 124, hier S. 123. 32 Krätzner 2014, S. 132 – 141. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 135. 35 MfS, BV Rostock: Information Nr. 31/78 über einige Probleme zur politisch-­ideologischen Situation unter den Studenten der Wilhelm-­ Pieck-­Universität Rostock, Rostock, 26. 4. 1978, BStU, MfS, AKG, Nr. 173, Bd. 1, Bl. 230 – 237. 36 MfS, BV Rostock: Information Nr. 87/87 über die Entwicklung der

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Medizin in der DDR

Reaktion von Wissenschaftlern, Hochschullehren und Angehörigen der medizinischen Intelligenz der Wilhelm-­Pieck-­Universität Rostock auf politische Ereignisse und Sachverhalte, Rostock, 4. 11. 1987, BStU, MfS, AKG, Nr. 195, Bd. 1, Bl. 119 – 124, hier S. 123. 37 MfS, BV Rostock: Information Nr. 128/88 über einige Schwerpunkte der Diskussion gesellschaftlicher Probleme unter Studenten und

wissenschaftlichen Mitarbeitern der Wilhelm-­Pieck-­Universität Rostock, Rostock, 22. 11. 1988, BStU, MfS, Abt. XX, Nr. 602, Bd. 2, Bl. 31 – 36. 38 In einem Bericht der Staatssicherheit ist von 70 Studenten die Rede, die sich an den Besetzungen beteiligten. MfS, BV Rostock: Information Nr. 83/88 über die unberechtigte Wohnsitznahme von Studenten der Wilhelm-­Pieck-­Universität Rostock in Abrißhäusern der Rostocker

Altstadt, Rostock, 15. 6. 1988, BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 282, Bd. 1, Bl.  32 – 50. 39 MfS, BV Rostock: Information Nr. 83/88 über die unberechtigte Wohnsitznahme von Studenten der Wilhelm-­Pieck-­Universität Rostock in Abrißhäusern der Rostocker Altstadt, Rostock, 15. 6. 1988, BStU, MfS, BV Rostock, AKG, Nr. 282, Bd. 1, Bl.  32 – 50. 40 Wockenfuß 2004, S. 144 f.

Literaturverzeichnis Quellen MfS, BV Rostock, Abt. XX /4: Analyse des Standes der operativen Aufklärung und Bearbeitung der Evangelischen Studentengemeinden Rostock und Greifswald, Rostock, 28. 3. 1984, BS tU, MfS, BV Rostock, Abt. XX , 1168, Bd. II , Bl. 329 – 364. MfS, BV Rostock, Information Nr. 19/79 über eingeleitete Maßnahmen zur Zerschlagung und Zersetzung negativ-­ feindlicher Gruppierungen unter Jugendlichen des Bezirkes Rostock, Rostock, 26. 4. 1979, BS tU, MfS, BV Rostock, AKG , Nr. 92, Bd. 1, Bl. 183 – 186. Gesamtbericht über politisch-­operative Probleme beim Ernteeinsatz der Studenten 1966, Rostock, 21. 10. 1966, BS tU, MfS, BV Rostock, Leiter der BV , Nr. 103, Bl. 344 – 355. MfS, BV Rostock, GI Bericht, BS tU, MfS, BV Rostock, AU 44/58, Bl. 8. BS tU, MfS, AOP 18/51, Bl. 70 – 78. MfS, BV Rostock, Abt. IX , Sachstandsbericht, Rostock, den 24. 6. 1960 sowie MfS, BV Rostock, der Leiter, Schreiben an Generaloberst Mielke, Rostock, 15. 6. 1960, BS tU, MfS, AU 95/60, HA , Bd. I, Bl. 23 – 28 und Bl. 242 – 245. BS tU, MfS, AU 95/60, GA , Bd. III , Bl. 131 – 142. MfS, BV Rostock, VSH AKG xxx (Name anonymisiert); VSH Dipl. Physiker xxx (Name anonymisiert). BS tU, MfS, BV Rostock, AOP 189/63, Beiakte, Bl. 125; MfS, BV Rostock, Abt. XX /8, Ermittlungsbericht zum Antrag auf Reise in dringenden Familienangelegenheiten, 28. 5. 1984, BS tU, MfS, BV Rostock, Abt. XX , ZMA 2197, Bl. 4 – 5. Kerblochkartei, BV Rostock, AOP 189/63, Beiakte. MfS, BV Rostock, Abt. XX /4: Analyse des Standes der operativen Aufklärung und Bearbeitung der Evangelischen Studentengemeinde Rostock (ESG ), Rostock, 16. 8. 1984, BS tU, MfS, BV Rostock, Abt. XX , Nr. 1168, Bd. 2, Bl. 357 – 364. MfS, BV Rostock, Abt. XX /4: Analyse des Standes der operativen Aufklärung und Bearbeitung der Evangelischen Studentengemeinde Rostock und Greifswald, Rostock,

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28. 3. 1984, BS tU, MfS, BV Rostock, Abt. XX , Nr. 1168, Bd. 2, Bl. 329 – 353. MfS, BV Rostock, Abt. V/6: Sachstandsbericht zur Operativen Vorlaufakte I/1913/62, Rostock, 8. 1. 1963, BS tU, MfS, HA XX , Nr. 6490, Bl. 10 – 40. MfS, BV Rostock: Deliktekerblochkartei, schriftliche Hetze unbekannt, LMN 154, Sammelkarte, BS tU, MfS, BV Rostock, DKK , Bl. 195. BS tU, MfS, BV Rostock, Abt. XX , Nr. 604, Bl. 95 – 97. MfS, BV Rostock: Information Nr. 45/87 über den Verdacht des Verbleibens im Ausland durch Angehörige der medizinischen Intelligenz, Rostock, 3. 7. 1987, BS tU, MfS, BV Rostock, AKG , Nr. 153, Bl. 95 – 101. MfS, BV Rostock, Abt. XX : Information zu einer beabsichtigten Antragstellung auf ständige Ausreise, Rostock, 27. 10. 1989, MfS, BV Rostock, AKG , Nr. 166, Bd. 2, T. 1. BS tU, MfS, BV Rostock, AU 1447/77. MfS, BV Rostock: Information über die Entwicklung der Reaktion von Wissenschaftlern, Hochschullehren und Angehörigen der medizinischen Intelligenz der Wilhelm-­ Pieck-­Universität Rostock auf politische Ereignisse und Sachverhalte, Rostock, 4. 11. 1987, BS tU, MfS, AKG , Nr. 195, Bd. 1, Bl. 119 – 124. MfS, BV Rostock: Information Nr. 31/78 über einige Probleme zur politisch-­ideologischen Situation unter den Studenten der Wilhelm-­Pieck-­Universität Rostock, Rostock, 26. 4. 1978, BS tU, MfS, AKG , Nr. 173, Bd. 1, Bl. 230 – 237. MfS, BV Rostock: Information Nr. 128/88 über einige Schwerpunkte der Diskussion gesellschaftlicher Probleme unter Studenten und wissenschaftlichen Mitarbeitern der Wilhelm-­Pieck-­Universität Rostock, Rostock, 22. 11. 1988, BS tU, MfS, Abt. XX , Nr. 602, Bd. 2, Bl. 31 – 36. MfS, BV Rostock: Information Nr. 83/88 über die unberechtigte Wohnsitznahme von Studenten der Wilhelm-­Pieck-­ Universität Rostock in Abrißhäusern der Rostocker Altstadt, Rostock, 15. 6. 1988, BS tU, MfS, BV Rostock, AKG , Nr. 282, Bd. 1, Bl. 32 – 50.

Verweigerung und Widerstand gegen das SED-Regime im Spiegel der MfS-Überlieferung

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Literatur Ammer, Thomas: Universität zwischen Demokratie und Diktatur. Ein Beitrag zur Nachkriegsgeschichte der Universität Rostock. Köln 1969. Castell, Rolf/Gerhard, Uwe-­Jens/Jasper, Gotthard/Bussiek, Dagmar: Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 bis 1961. Göttingen 2003. Dieckmann, Christoph: „Hörnse druff!“ Weltliche Erinnerungen an das Theologische Seminar Leipzig, in: Wolfgang Ratzmann/Thomas A. Seidel (Hrsg.): Eine Insel im roten Meer. Erinnerungen an das Theologische Seminar Leipzig. Leipzig 2017, S. 56 – 69. Krätzner, Anita: Verraten. Verhaftet. Vermisst. Das Schicksal der Rostocker Studenten Lilli und Peter Gruner nach dem Mauerbau (Diktatur in Deutschland; 8). Rostock 2011. Krätzner, Anita: Die Universitäten der DDR und der Mauerbau 1961. Leipzig 2014. Krüger, Kersten (Hrsg.): Die Universität Rostock zwischen Sozialismus und Hochschulerneuerung. Zeitzeugen berichten, Teil 1 (Rostocker Studien zur Universitätsgeschichte; 1). Rostock 2007. Krüger, Kersten: Universitätsgeschichte und Zeitzeugen. Die Universität Rostock zwischen Sozialismus und Hochschulerneuerung, in: Detlev Brunner/Mario Niemann (Hrsg.): Die DDR  – eine deutsche Geschichte. Wirkung und Wahrnehmung. Paderborn/München/Wien 2011, S. 281 – 295.

Christian Halbrock

Kumbier, Ekkehardt (Hrsg.): Zum Wirken und Leben von Franz Günther Ritter von Stockert: Symposium am 7. Juli 2006 an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Johann Wolfgang von Goethe-­Universität Frankfurt. Rostock 2006. Seils, Markus: Die SED und die Universitäten in Mecklenburg-­ Vorpommern. Wie alles begann, in: Horch und Guck, 1998 (3), S. 8 – 15. Verband ehemaliger Rostocker Studenten e. V. (VERS ): Namen und Schicksale der von 1945 bis 1962 in der SBZ /DDR verhafteten und verschleppten Professoren und Studenten Rostock 1994. Winter, Friedrich: Auf dem Weg zur missionarischen Kirche. Christliche Existenz in der sozialistischen säkularen Welt. Die Region Ost, in: Werner Radatz/Friedrich Winter: Geteilte Einheit. Die Evangelische Kirche Berlin-­Brandenburg 1961 bis 1990. Berlin 2000, S. 91 – 236. Wockenfuß, Karl: Einblicke in Akten und Schicksale Rostocker Studenten und Professoren nach 1945, Rostock (ohne Jahr). Wockenfuß, Karl: Streng vertraulich. Die Berichte über die politische Lage und Stimmung an der Universität Rostock 1955 bis 1989. 2. Auflage, Rostock 2002. Wolckenfuß, Karl: Die Universität Rostock im Visier der Stasi. Einblicke in Akten und Schicksale. Rostock 2004.

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Ethische und rechtliche Grundlagen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln in den beiden deutschen Staaten in den 1980er-­Jahren Ein Überblick 1 Emil C. Reisinger, Andreas Büttner und Sebastian Klammt

Ethische Grundlagen Ausgehend von den in der Urteilsverkündung der Nürnberger Ärzteprozesse erstmalig formulierten international anerkannten ethischen Grundsätzen für die Durchführung von medizinischen Versuchen am Menschen („Nürnberger Code“) entwickelte der Weltärztebund diese Grundsätze weiter, die dann zu der im Jahre 1964 durch den Weltärztebund akzeptierten Deklaration von Helsinki führte.2 Im Jahr 1975 wurde in Tokyo diese grundlegende Deklaration u. a. um die Notwendigkeit der Überprüfung von biomedizinischer Forschung am Mensch durch unabhängige Komitees und die ausführliche Darstellung der Anforderungen an die Einwilligung der Studienteilnehmer erweitert.3 Abgesehen von geringfügigen Überarbeitungen in den Jahren 1983, 1989 und 1996 stellte diese in Tokyo verabschiedete Fassung der Deklaration von Helsinki die ethische Grundlage des Handelns für biomedizinische Untersuchungen am Menschen für mehr als ein viertel Jahrhundert dar. In den folgenden Jahren bis heute wurden eine Vielzahl von Empfehlungen oder Richtlinien zur Durchführung von Untersuchungen am Menschen wie z. B. durch das Council for International Organizations of Medical Sciences (CIOMS ), die International Conference on Harmonisation (ICH ) oder die Europäische Union veröffentlicht. Diese „anwendungsorientierten“ Empfehlungen beziehen sich jedoch auch auf die in der Deklaration von Helsinki dargestellten Grundlagen und stellen Erweiterungen bzw. konkrete Anwendungsmöglichkeiten dieser ethischen Prinzipien dar.4 Diese fundamentale Bedeutung der Deklaration von Helsinki ist sicherlich auf die herausgebende Institution, den Weltärztebund, zurückzuführen. Dieser repräsentiert jetzt den größten globalen Zusammenschluss von nationalen Ärztegesellschaften.5 Diese Repräsentation der Mehrzahl der Ärzte weltweit durch den Weltärztebund war jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht gegeben. Im Jahre 1985 waren nur 35 institutionelle Mitglieder im Weltärztebund verblieben, während es 14 Jahre zuvor noch über 60 waren.6 Auch einige Gründungsmitglieder, wie z. B. die Medizinischen Gesellschaften aus Amerika, Kanada, Großbritannien und Norwegen hatten zwischen 1973 und 1995 zeitweise den Weltärztebund verlassen. Medizinische Gesellschaften aus Ländern, die dem kommunistischen System angehörten (mit Ausnahme von Jugoslawien), waren aufgrund der Satzung des Weltärztebundes ausgeschlossen.7

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Ethische und rechtliche Grundlagen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Die DDR war jedoch bereits Ende der 1970er-­Jahre aktiv an den CIOMS -Beratungen beteiligt.8 Diese internationale Organisation intensivierte in enger Zusammenarbeit mit der WHO in den 1970er-­Jahren die Vorbereitung von Richtlinien zur Umsetzung der grundlegenden ethischen Prinzipien der Deklaration von Helsinki in der biomedizinischen Forschung und veröffentlichte 1982 die „International Guidelines for Biomedical Research involving Human Subjects“.9 In der DDR wurde zu Beginn der 1980er-­Jahre eine Arbeitsgruppe „Ethik in der Medizinischen Forschung“ des Rates für Medizinische Wissenschaften beim Minister für Gesundheitswesen der DDR gebildet, die auch Empfehlungen zur Wahrung ethischer Grundsätze bei der Erprobung neuer medizinischer Verfahren und Maßnahmen veröffentlichte.10 Diese zentrale Organisationsstruktur stellt nach Bettin die erste zentrale deutsche Ethikkommission dar, deren Arbeitsgrundlage auch die in Tokio beschlossene Neufassung der Deklaration von Helsinki ebenso wie das CIOMS -Dokument darstellte.11 Neben dieser Zentralen Arbeitsgruppe wurde aber auch die Notwendigkeit von landesweiten dezentralen Ethikgruppen oder -komitees gesehen. Diese „nicht als Organe der Rechtspflege, sondern als Organe kollektiver Beratung, also bestenfalls der Moralpflege“ zu verstehende Gruppen sollten jedoch einheitlich angeleitet und koordiniert werden.12 In der Bundesrepublik Deutschland hatte im Jahre 1974 die Deutsche Forschungsgemeinschaft ausgewählte Sonderforschungsbereiche um die Gründung von Ethikkommissionen gebeten, und im Jahre 1979 in einem Schreiben an die Dekane der Medizinischen Fakultäten die allgemeine Gründung solcher Kommissionen angeregt.13 Durch die Bundesärztekammer wurde am 12. Januar 1979 die Einrichtung von Ethikkommissionen bei den Landesärztekammern empfohlen, deren Aufgabe die Beratung und Beurteilung ethischer und rechtlicher Aspekte von biomedizinischen Forschungen am Mensch sein sollte.14 Nicht nur bei den Medizinischen Fakultäten und den Landesärztekammern angesiedelte Ethikkommissionen waren in den 80er-­Jahren in Deutschland vorhanden; es gab auch Ethikkommissionen bei pharmazeutischen Unternehmen und andere privatrechtliche Kommissionen wie z. B. die mit der Universität Freiburg in keinerlei Weise verbundene „Freiburger Ethik-­Kommission“.15

Arzneimittelrechtliche Situation in den beiden deutschen Staaten in den 1980er-­Jahren Es gibt zahlreiche Empfehlungen und Richtlinien für die Durchführung biomedizinischer Forschung, die auf den z. B. in der Deklaration von Helsinki 1964 beschriebenen ethischen Grundprinzipien beruhen, aber in den Interpretationen und konkreten Anwendungen dieser Grundprinzipien unterschiedliche Formulierungen und Schwerpunkte aufweisen. Eine Aussage, ob die Durchführung biomedizinischer Forschung am Menschen die ethischen Grundprinzipien berücksichtigt, ist meist möglich. Eine allgemeingültige Aussage, ob dieser oder jener konkrete Aspekt der Studiendurchführung im Einklang mit den ethischen Richtlinien stand oder nicht, ist aufgrund der Vielzahl von Empfehlungen und der unterschiedlichen Anforderungen an die Dokumentation nicht immer möglich. Dieses ist insbesondere in der jetzigen Debatte um die Arzneimittelprüfungen in den beiden deutschen Ländern vor 1990 zu spüren. Gegenüber dem empfehlenden Charakter der ethischen Grundprinzipien biomedizinischer Forschung sind die in den einzelnen Ländern geltenden Rechtsvorschriften verbindlich, deren subjektive Interpretationsmöglichkeiten sind gegenüber den allgemeinen

Emil C. Reisinger | Andreas Büttner | Sebastian Klammt

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Medizin in der DDR

ethischen Empfehlungen deutlich eingeschränkt. Daher sollen im Folgenden die rechtlichen Rahmenbedingungen für Studien mit Arzneimitteln in der DDR und in der BRD in den 80er-­Jahren dargestellt werden. In der Bundesrepublik Deutschland galt das Arzneimittelgesetz in der Fassung von 1976.16 In diesem wurde geregelt, dass ein Fertigarzneimittel nur in den Verkehr gebracht werden konnte, wenn es durch die Bundesoberbehörden zugelassen wurde. Medikamente, die in klinischen Prüfungen vor einer Zulassung untersucht wurden, benötigten keine spezielle Genehmigung. Zu den Zulassungsunterlagen mussten Gutachten eingereicht werden, die neben einer Zusammenfassung und Bewertung der analytischen, pharmakologisch toxischen Rückstands- und klinischen Prüfungsergebnisse auch Aussagen enthalten sollten, dass das wissenschaftliche Erkenntnismaterial in sinngemäßer Anwendung der Arzneimittelprüfrichtlinien erarbeitet wurde. In den folgenden Jahren gab es Anpassungen des Arzneimittelgesetzes, diese „dienten entweder weiteren Anpassungen an das EG Recht, der Verdeutlichung ursprünglicher Intentionen durch Abänderung bestehender und Einführung neuer Tatbestände oder Verfahrensvereinfachungen“.17 Wenn und solange die im § 40 des Arzneimittelgesetzes dargestellten allgemeinen Voraussetzungen für klinische Prüfungen erfüllt waren, konnte die Prüfung am Mensch beginnen bzw. durchgeführt werden. Die Risiken, die mit der Prüfung verbunden waren, sollten gemessen an der voraussichtlichen Bedeutung des Arzneimittels ärztlich vertretbar sein und die betroffene Person musste nach erfolgter Aufklärung ihre Einwilligung zur Teilnahme schriftlich erklärt haben. Die Leitung musste durch einen Arzt erfolgen, der bereits mindestens zwei Jahre Erfahrung in der Prüfung von Arzneimitteln nachweisen konnte. Eine Genehmigung bei der zuständigen Bundesoberbehörde war nicht notwendig, lediglich die Unterlagen über die pharmakologisch-­toxikologische Prüfung mussten hinterlegt werden. Erst 1986 im Rahmen der zweiten AMG -Novelle wurde auch das Vorliegen eines dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprechenden Prüfplanes als notwendige Voraussetzung für die klinische Prüfung in das Gesetz aufgenommen. Weitere Voraussetzungen beinhalteten das Vorhandensein einer Versicherung, die auch Leistungen gewährt, wenn kein anderer für den Schaden haftet. Es gab keine Genehmigungspflicht für klinische Studien in der Bundesrepublik Deutschland, jedoch mussten Betriebe und Einrichtungen, die klinische Studien durchführten, dieses zuvor bei der zuständigen Landesbehörde anzeigen (§ 67 Arzneimittelgesetz). Mit der „Bekanntmachung von Grundsätzen für die ordnungsgemäße Durchführung der klinischen Prüfung von Arzneimitteln“ vom 9. Dezember 1987 durch den Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit wurde u. a. das Ziel verfolgt, bereits vorhandene Empfehlungen von Verbänden über die klinische Prüfung von Arzneimitteln zu vereinheitlichen und die seit 1986 bestehende gesetzliche Forderung nach einem Prüfplan zu konkretisieren.18 Eine gesetzlich verpflichtende Beratung vor der Studiendurchführung gab es in den 1980er-­Jahren in der Bundesrepublik Deutschland nicht. In die (Muster-)Berufsordnung für Ärzte wurde im Jahre 1985 die Empfehlung aufgenommen, dass sich jeder Arzt vor Beginn eines klinischen Versuches durch eine Ethikkommission auf der Grundlage der Deklaration von Helsinki beraten lassen soll. Im Jahre 1988 wurde das „soll“ in ein „muss“ umgewandelt. Eine Studie aus dem Jahre 1989 zeigte, dass neun von zwölf Landesärztekammern dieses umgesetzt hatten, eine Kammer bei dem „soll“ geblieben war, eine Kammer die die Formulierung „Hat zu […]“ wählte und eine Kammer keine Auskunft dazu gegeben hatte.19 Da Berufsordnungen durch Behörden bestätigt werden müssen, sehen einige Autoren diese auch als rechtlich bindend an.20

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Ethische und rechtliche Grundlagen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

Erst ab August 1995 war, als Voraussetzung für den Beginn einer klinischen Prüfung, eine zustimmende Bewertung einer nach Landesrecht gebildeten unabhängigen Ethikkommission im Arzneimittelgesetz definiert (BGBL I, 1994: 73, 3018). Im deutschen Arzneimittelrecht ist bis zum heutigen Tag kein expliziter Verweis auf die Deklaration von Helsinki zu finden. Jedoch finden sich z. B. im § 40 des Arzneimittelgesetzes direkte Referenzen auf europäische Richtlinien (wie z. B. 2001/20 EC und 2005/28 EC ), welche wiederum auf die Deklaration von Helsinki in der Fassung von 1996 verweisen.21 In der DDR waren bereits im Jahre 1976 mit der 12. Durchführungsbestimmung des Arzneimittelgesetzes von 1964 und der Richtlinie für die Prüfung von Arzneimitteln zur Anwendung in der Humanmedizin vom 18. Mai 1976 konkrete Anforderungen an die klinische Prüfung von Arzneimitteln gesetzlich festgelegt worden, die auch in der 20 Jahre später akzeptierten Richtlinie der „Guten klinischen Praxis“ der International Conference on Harmonisation (ICH ) enthalten waren.22 Spezielle Anforderungen waren z. B. Angaben zur Festlegung der Dosierung und Dosierungsintervalle, zu den Kontroll- und Sicherheitsmaßnahmen sowie zu der in Abhängigkeit von der Aufgabenstellung der jeweiligen Stufe der klinischen Prüfung spezifischen Methodik, einschließlich der vorgesehenen statistischen Modelle und die Festlegung, dass Änderungen der Schriftform bedürfen. Bereits zu dieser Zeit wurde eine vertragliche Absicherung zwischen dem Hersteller und der Einrichtung, an der die Prüfung durchgeführt wird, gefordert. Der in Anlage der Durchführungsbestimmung angefügte Vertrag enthält Angaben zu Anzahl der Probanden, zum Zeitraum, eine namentliche Nennung der Prüfärzte (die Facharztstandard aufweisen mussten) sowie die Angabe des Leiters der klinischen Prüfung. Ebenso war in dieser Vertragsvorlage die Anforderung enthalten, dass die Prüfung nur durch entsprechend qualifizierte Mitarbeiter durchgeführt wird und dass die für die Prüfung notwendigen Voraussetzungen vorhanden sind. Auch die Weiterbehandlung der Patienten nach Ende der klinischen Prüfung war zu diesem Zeitpunkt schon thematisiert. Eine ethische Überprüfung durch speziell dafür eingerichtete Strukturen wie z. B. die Institutional Review Boards, die zu dieser Zeit in den USA entstanden, war zwar nicht explizit vorgesehen – jedoch war eine Überprüfung des Prüfplanes hinsichtlich der Gewährleistung der notwendigen Sicherheit für die Probanden und der notwendigen personellen und sachlichen Voraussetzungen als Bestandteil des Begutachtungsprozesses durch den Zentralen Gutachterausschuss gesetzlich festgelegt. Diese Begutachtung hatte durch zwei in Zusammenwirken mit den medizinisch-­wissenschaftlichen Gesellschaften auszuwählenden Gutachtern zu erfolgen. Dieser Verweis auf die medizinischen Gesellschaften ist in der ab 1986 gültigen Fassung der Durchführungsbestimmung zum Arzneimittelgesetz der DDR nicht mehr enthalten, hier wird jedoch explizit erwähnt, dass diese Gutachter nicht an der Entwicklung des Arzneimittels beteiligt sein durften.23

Zusammenfassung Mitte der 1980er-­Jahre stellte die Deklaration von Helsinki in der Fassung von 1975 (Tokio) die grundlegenden ethischen Prinzipien der biomedizinischen Forschung am Menschen dar. Darauf aufbauend wurden durch zahlreiche Institutionen und Organisationen verschiedene Richtlinien wie z. B. die CIOMS Richtlinie für biomedizinische Forschung am Mensch oder die Richtlinie der „Guten Klinischen Praxis“ (ICH -E6R1) Guidelines erarbeitet, die eine Übertragung der grundlegenden Prinzipien in einen anwendungsorientierten Kontext anstrebten.

Emil C. Reisinger | Andreas Büttner | Sebastian Klammt

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Medizin in der DDR

Abb. 1  Wesentliche Anforderungen an die vertragliche Vereinbarung klinischer Prüfungen zwischen dem Hersteller und der durchführenden Einrichtung entsprechend der 12. Durchführungsbestimmung (1976) in der DDR, die schon zentrale Elemente der „Guten klinischen Praxis“ bzw. der Deklaration von Helsinki enthalten hat.

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Ethische und rechtliche Grundlagen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln

Die Rostocker Universitätsmedizin im 20. Jahrhundert

In beiden deutschen Staaten waren in den 1980er-­Jahren grundlegende Anforderungen der Deklaration von Helsinki wie z. B. die wissenschaftliche Grundlage der biomedizinischen Forschung, die Leitung durch einen erfahrenen Arzt ebenso wie die freiwillige Zustimmung des Teilnehmers nach einer Aufklärung gesetzlich verankert. In der Deutschen Demokratischen Republik waren schon seit der 12. Durchführungsbestimmung im Jahre 1976 konkrete Anforderungen an die Planung und Durchführung klinischer Studien gesetzlich festgelegt. Eine Beratung vor Beginn klinischer Studien durch eine entsprechende unabhängige Kommission war zwar nicht explizit im Arzneimittelgesetz erwähnt, jedoch musste jede klinische Prüfung durch ein Gutachtergremium begutachtet und dann durch entsprechende Stellen genehmigt werden. In der Bundesrepublik Deutschland wurde 1985 die Empfehlung zur Beratung durch eine unabhängige Ethikkommission in die Berufsordnung für Ärzte aufgenommen. Im Jahre 1987 wurden wesentliche Anforderungen an die klinische Prüfung entsprechend der „Guten Klinischen Praxis“ und damit die Umsetzung der Prinzipien der Deklaration von Helsinki durch eine entsprechende Bekanntmachung des zuständigen Bundesministeriums umgesetzt. Mit der 12. Novelle des Arzneimittelgesetzes im Jahre 2004 in Umsetzung der europäischen Direktive 20/2001 sind sowohl die ethischen Grundlagen der Durchführung klinischer Studien als auch die Genehmigung durch eine Behörde und die zustimmende Bewertung einer unabhängigen Ethikkommission im deutschen Arzneimittelgesetz festgelegt worden. Ziel dieser Arbeit war die Darstellung der ethischen und rechtlichen Grundlagen für klinische Studien vor 1990 anhand der veröffentlichten Literatur. Ob und wie jedoch die bestehenden Anforderungen umgesetzt wurden, ist eine zentrale Frage, die in weiteren Untersuchungen geklärt werden wird.24 Dass oft eine Diskrepanz zwischen den vorhandenen Regularien und der tatsächlichen Durchführung besteht, wird nicht zuletzt deutlich, wenn man sich die Richtlinie des Reichsministers des Inneren aus dem Jahre 1931 vor Augen führt, in der bereits eine Aufklärung und Einwilligung vor neuartigen Heilbehandlungen gefordert wird (22), die bis in die 1990er-­Jahre sowohl in Ost- als auch Westdeutschland nicht vollumfänglich umgesetzt worden ist. Für Rostock stellt sich die Frage, in welchem Umfang, unter welchen Bedingungen und mit welchen konkreten Zielen Versuchsreihen westlicher Pharmakonzerne an Kliniken und Einrichtungen der Medizinischen Fakultät der Universität stattgefunden haben, auch wenn es nach derzeitigem Kenntnisstand keine Hinweise darauf gibt, dass ethische Standards bei klinischen Arzneimittelstudien westlicher Pharmafirmen in der DDR verletzt worden sind.25

Anmerkungen 1

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Vgl. Bettin 2010. Vgl. ebd. sowie Richards 1994. Vgl. Tanneberger 1988. Vgl. Bettin 2010. Vgl. Tanneberger 1986. Vgl. Fischer 1990. Vgl. Losse 1990. Vgl. Deutsch 1990 sowie Görlich/ Schmedding 1990. Vgl. Bass et al. 1990. Vgl. ebd. Vgl. Bekanntmachung von Grundsätzen 1987. Vgl. Görlich/Schmedding 1990.

20 Vgl. Sprumont et al. 2007. 21 Vgl. ebd. 22 Vgl. Zwölfte Durchführungsbestimmung 1976 sowie Richtlinie für die Prüfung 1976. 23 Vgl. Erste Durchführungsbestimmung 1986. 24 Vgl. etwa Erices 2014. 25 Nachweislich fungierten die Innere Medizin, Urologie, Gynäkologie, ­Pädiatrie, Psychiatrie, Arbeitsmedizin und HNO als Prüfeinrichtungen für westdeutsche Pharmakonzerne. Vgl. Hess et al. 2016, S. 246.

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Bei dem vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine leicht überarbeitete Version des Artikels „Klinische Prüfung von Arzneimitteln in DDR und BRD: Unterschiedliche Rechtsrahmen“. Vgl. Deutsches Ärzteblatt 2014; 111(46): A–2008/B–1710/C–1636. Vgl. Gerst 1996 sowie Carlson et al. 2004. Vgl. Carlson et al. 2004. Vgl. ebd. sowie Human/Fluss 2001. Vgl. Carlson 2004. Vgl. Richards 1994. Vgl. WMA 1977.

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Medizin in der DDR

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Ethische und rechtliche Grundlagen der klinischen Prüfung von Arzneimitteln

Zahnmedizin in Rostock: Eine lange und beinah gebrochene Tradition

Emil C. Reisinger | Andreas Büttner | Sebastian Klammt

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Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Universität Von den Anfängen bis zur Gegenwart Heinrich von Schwanewede Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein war ein abgestimmtes Studium der Zahnheilkunde an deutschen Universitäten noch nicht möglich.1 Zunächst entwickelten sich in den meisten Ländern des damaligen Deutschen Reiches aus privaten Praxen oder Kliniken provisorische Ausbildungsstätten, ohne dass man von einem planmäßigen Unterricht sprechen konnte.2 Das galt auch für Rostock. Im Jahr 1825 wurde in Preußen mit der Einführung der Medizinalordnung die Zahnheilkunde als selbstständige medizinische Fachdisziplin anerkannt. Außerdem erfolgte die Festlegung der Prüfungsvoraussetzungen für Zahnärzte. Diese durften danach zunächst nur aus Wundärzten oder an Universitäten ausgebildeten Vollärzten hervorgehen.3 Fünf Jahre später, im Frühjahr 1830, folgte in Rostock – einhergehend mit einer neuen Medizinalordnung – die Bildung einer Medizinalkommission. Zu ihren Aufgaben gehörten die Beaufsichtigung und Anleitung aller mecklenburgischen Medizinal-Anstalten und -Personen sowie deren Prüfung, darunter auch die der angehenden Zahnärzte.4 Diesen wurde der glaubwürdige Nachweis einer bestimmten Lehrzeit in den technischen Fächern abgefordert. Die Prüfung selbst erstreckte sich auf die für Zahnärzte erforderlichen anatomisch-chirurgischen Kenntnisse. Sie war schriftlich und mündlich abzulegen. Außerdem hatten die Kandidaten unter Aufsicht und Kontrolle von Examinatoren ihre Fertigkeiten im technischen Teil der Zahnarzneikunde nachzuweisen. Als Voraussetzung im Sinne einer wissenschaftlichen Vorbildung galt der Abschluss der Tertia eines Gymnasiums oder Realgymnasiums.5 Überraschend stößt man im Matrikelportal der Universität Rostock bereits im Jahr 1849 auf die Eintragung eines Studenten namens Eduard Benjamin Jantzen im Studienfach „Zahnarznei“.6 Allerdings sucht man vergebens nach einer Studentenakte, Belegen zum Ablauf des Studiums oder zur Ablegung des Staatsexamens. Faktisch lässt das den Schluss zu, dass es einen derartigen Nachweis wohl nicht gibt. Dafür spricht ebenfalls, dass auch danach – von 1850 bis 1881 – keinerlei Eintragungen zum Studium der Zahnmedizin im Rostocker Matrikelportal erfolgt sind. Erst am 25. September 1869 wurde die bereits 1825 in Preußen erlassene Prüfungsordnung für den Norddeutschen Bund in leicht veränderter Form eingeführt und im Regierungsblatt für Mecklenburg-Schwerin veröffentlicht.7 Damit war für Studierende oder Interessenten der Zahnheilkunde die theoretische Ausbildung erstmalig an eine Universität gebunden. Ihnen wurde nun ein zweijähriges Universitätsstudium neben der praktischen Ausbildung bei einem Zahnarzt vorgeschrieben. Die ersten Studenten standen in Rostock jedoch noch nicht unter akademischer Jurisdiktion.8

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Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Universität

Zahnmedizin in Rostock: Eine lange und beinah gebrochene Tradition

Anton Witzel – der erste Student der ­Zahnheilkunde in Rostock (1881 – 1883)

Abb. 1  Anton Witzel – erster Student der Zahnheilkunde an der Universität Rostock.

Als am 19. Dezember 1881 mit Anton Witzel (1861 – 1933) erstmalig unter den Bedingungen der 1869 für den Norddeutschen Bund eingeführten Prüfungsordnung einem Studenten der Zahnheilkunde an der Universität Rostock die kleine Matrikel gewährt wurde, war damit ein wichtiger Schritt zur Entwicklung der Zahnmedizin getan (Abb. 1). Allerdings mussten sich die Studierenden in Ermangelung eines eigenständigen Instituts noch fast drei Jahrzehnte an der Philosophischen Fakultät immatrikulieren lassen. Mit dem Wintersemester 1886 galt dann bereits die große Matrikel. Anton Witzel kam 1881 als Zwanzigjähriger und eines von sieben Kindern des Barbiers und Heilgehilfen Friedrich Witzel (1822 – 1905) und seiner Ehefrau Justine Sophie (geb. Weiß, 1823 – 1895) zum Studium nach Rostock. Er gehörte zu der in Langensalza ansässigen „Witzel-­Dynastie“, die sich später über den mitteldeutschen Raum und darüber hinaus verteilen sollte. Die Witzelbrüder Adolph, Oscar, Karl, Anton und Julius studierten mit Ausnahme Oscars Zahnmedizin in Berlin, Halle und Rostock. Sie gehörten mit zu den Pionieren der moderneren deutschen Zahnheilkunde. Oscar Witzel (1856 – 1925), späterer Geheimrat Prof. Dr., studierte Medizin und war ein bekannter Chirurg, auf den die Witzel-­Fistel zurückgeht. Adolph (1847 – 1906), der Älteste der Brüder Witzel, führte nach Beendigung seines Studiums (1866 – 1868) in Berlin eine renommierte Praxis in Essen, unterstützte und förderte die schulische und studentische Ausbildung seiner Brüder Karl, Anton und Julius, die zeitweise bei ihm wohnten und später in seinem Laboratorium ihre weiteren Arbeiten ableisteten. Im Jahr 1891 wurde Adolph Witzel aufgrund seiner wissenschaftlichen Reputation an die Universität Jena berufen. Dort erfolgte 1896 seine Ernennung zum außerordentlichen Professor. Er gilt als einer der Wegbereiter der wissenschaftlichen Zahnheilkunde in Deutschland.9 Der jüngste Bruder Julius (1863 – 1914) übernahm 1890 die Aufgabe, das Zahnärztliche Institut an der Universität Marburg einzurichten, das er über sieben Jahre leitete.10 Er wurde 1897 zum außerordentlichen Professor ernannt. Alle Brüder haben die moderne Zahnmedizin maßgeblich beeinflusst.11 Ein Blick in den Lebenslauf und die Studentenakte Anton Witzels gibt interessante Einblicke in seine persönliche Entwicklung und sein Umfeld zu jener Zeit. Am 4. Mai 1861 in Langensalza geboren, gibt er später in seinem Lebenslauf u. a. Folgendes zur Kenntnis: Ich besuchte zuerst die Elementarschule, alsdann die höhere Bürgerschule in meinem Heimatort. Nach Erlangung der Reife für Prima daselbst, besuchte ich noch die Prima des Realgymnasiums in Mülheim an der Ruhr. Die Zahntechnik erlernte ich bei meinem Bruder Adolph, Zahnarzt in Essen a. d. Ruhr. Meine Studien absolvierte ich an der Universität Rostock von Herbst 1881 – Herbst 1883, wo ich nach 4 Semestern mein Staatsexamen mit „sehr gut“ bestand. Die Namen meiner Rostocker akademischen Lehrer waren: Prof. Dr. Merkel für Anatomie, Prof. Dr. Nasse für Pharmakologie, Prof. Dr. Aubert für Physiologie, Prof. Dr. Thierfelder für innere Medizin, Prof. Dr. Madelung für Chirurgie, Priv. Doz. Dr. Schiefferdecker für Histologie und Pathologie, Zahnarzt Paulsen für Zahnheilkunde 12

Anton Witzel verpasste dabei im Herbst 1881 den Beginn seines Studiums offenbar um mehrere Wochen. Er wäre „durch dringende Familienverhältnisse leider verhindert

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worden, rechtzeitig die Hochschule zu beziehen“, schrieb sein Vater an „die Wohllöbliche Immatriculationscommission der Großherzoglichen Universität zu Rostock“.13 Die Gründe waren wohl mehr finanzieller Art, wie man der handgeschriebenen Notiz eines Gesprächs des damaligen Rektors, Prof. Dr. Friedrich Merkel (1845 – 1919), das dieser mit Anton Witzel am 15. Dezember 1881 führte, entnehmen kann. Offensichtlich zeigte sich der Rektor diesem aber geneigt, denn er äußerte: „Da Herr Witzel in diesem Semester praktische Übungen zu belegen gedenkt […], bin ich dafür, Herrn Witzel ausnahmsweise auch jetzt noch zur Immatrikulation zuzulassen“.14 So konnte dann Anton Witzel noch am 19. Dezember 1881 sein Studium in Rostock beginnen.15 Nach „sehr gut“ bestandenem Staatsexamen im Herbst 1883 verließ Anton Witzel Rostock und arbeitete bis zum Herbst 1884 als Assistent bei seinem Bruder Adolph in Essen und dem Zahnarzt Dr. Walter in Wiesbaden. Dort ließ er sich 1885 in eigener Praxis nieder. Er blieb Zeit seines Lebens wissenschaftlich interessiert und arbeitete mit seinem jüngeren Bruder Julius namentlich auf dem Gebiet der Defektprothetik zusammen. Dafür und für weitere wissenschaftliche Bemühungen spricht eine beachtliche Anzahl von Veröffentlichungen und Vorträgen.16 Da es bis in das erste Drittel des 20. Jahrhunderts eine spezielle zahnärztliche Promotion noch nicht gab, mussten Zahnärzte, die promovieren wollten, in der Regel ein medizinisches Vollstudium mit Rigorosum in allen Fächern absolvieren.17 Dieser Aufgabe stellte sich auch Anton Witzel, wie aus seinem Lebenslauf hervorgeht: „Behufs Erlangung der Doktorwürde begann ich im Herbst 1920 ein neues Studium an der Universität Marburg. Meine akademischen Lehrer daselbst waren: Prof. Dr. Hofmann für Physiologie, Prof. Dr. Gürber für Pharmakologie, Prof. Dr. Seidel für Zahnheilkunde.“ 18 Noch im Jahr 1921 promovierte er zum „Doktor der Zahnheilkunde“ (Dr. med. dent.) mit der Dissertationsschrift: „Die Behandlung wurzelkranker Zähne mit Jodkristallen und Jodoform.“ 19 Im Alter von 60 Jahren war das ein höchst anerkennenswerter und vielbeachteter Schritt. Anton Witzel starb am 16. September 1933. Anton Witzel blieb nicht der einzige Student der Zahnmedizin in Rostock. Bis zum Jahr 1909 wurden insgesamt 219 Studienanfänger der Zahnheilkunde an der Philosophischen Fakultät immatrikuliert. 1884 begründete man sowohl in Berlin als auch in Leipzig erstmals Ausbildungsstätten für Zahnärzte, die bereits eine staatliche Anerkennung besaßen. Mit der neuen Prüfungsordnung vom 26. Juli 1889 umfasste die zahnärztliche Ausbildung eine mindestens einjährige Tätigkeit in einer zahnärztlichen höheren Lehranstalt oder bei einem approbierten Zahnarzt und ein zahnärztliches Studium von mindestens vier Halbjahren an Universitäten des Deutschen Reiches.20 Unter diesen Vorgaben und ständig steigenden Studentenzahlen folgte Schritt für Schritt neben Berlin und Leipzig nach 1890 an anderen Universitäten die Einrichtung zahnärztlicher Institute. Das erwies sich in Rostock auch deswegen als notwendig, weil bis zu diesem Zeitpunkt die Absolvierung des vollständigen Studiums aufgrund nicht ausreichender praktischer Ausbildungsgelegenheiten nur eingeschränkt möglich und die Anzahl der Studierenden der Zahnheilkunde dadurch begrenzt war. Daher reichte die Universität Rostock u. a. am 16. Februar 1906 ein Gesuch zur Errichtung einer zahnärztlichen Poliklinik für sieben Studenten unter Leitung des Zahnarztes Paul Birgfeld ein.21 Dieser hatte schon über Jahre hinweg Studenten in seiner Praxis die Gelegenheit geboten, ihre praktische Ausbildung zu absolvieren, und selbst auch Interesse bekundet, als Lektor für Zahnheilkunde an der Medizinischen Fakultät zu wirken. Das Gesuch für eine Poliklinik unter Leitung Paul Birgfelds fand im Schweriner Ministerium jedoch keine Berücksichtigung.

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Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Universität

Zahnmedizin in Rostock: Eine lange und beinah gebrochene Tradition

Abb. 2  Johannes Reinmöller – Nestor der universitären Zahnheilkunde in Rostock. Abb. 3  Die klinische Fachkrankenanstalt Ecke Bismarck-/St. Georgstraße.

Johannes Reinmöller – Begründer der universitären Zahnheilkunde in Rostock (1907 – 1920) Die Medizinische Fakultät bestand weiterhin auf der Errichtung eines zahnärztlichen Instituts. Jetzt rückte Johannes Reinmöller (1877 – 1955) in ihr Blickfeld (Abb. 2). Dieser hatte 1907 in der damaligen Bismarckstraße 28 eine privat finanzierte „Klinische Fachkrankenanstalt“ eingerichtet, in der ambulante Behandlungen, aber auch die stationäre Versorgung von Patienten mit Erkrankungen im Zahn-, Mund- und Kieferbereich möglich waren. So entstand mit anfangs sechs Betten die erste ambulant-­stationäre Einrichtung dieser Art in Deutschland (Abb. 3). Das reibungslose Zusammenspiel von Praxis und Klinik überzeugte die Fakultät. Noch im Jahr 1907 erhielt Johannes Reinmöller auf Antrag der Medizinischen Fakultät vom Großherzoglich-­Mecklenburgischen Ministerium die Zulassung als „Lektor der Zahnheilkunde“ 22. Seitens des Ministeriums wurde jedoch gleichzeitig jede finanzielle Unterstützung abgelehnt. So finanzierte Reinmöller das nunmehr in Rostock entstandene „Zahnärztliche Institut“ selbst. Da seiner Privatklinik die notwendigen räumlichen Voraussetzungen fehlten, mietete er noch 1907 in der Schröderstraße 36 die erste Etage des Hauses und richtete dort die Chirurgische und die Konservierende Abteilung sowie den gesamten Unterrichtsbetrieb ein. Die technische und die klinisch-­stationäre Abteilung verblieben zunächst in der Bismarckstraße.23 Damit waren die Voraussetzungen zum Aufbau einer leistungsstarken Zahnklinik und eines geordneten Studiengangs Zahnheilkunde an der Universität Rostock geschaffen. Zum Sommersemester 1908 hatte sich die Anzahl der Studenten bereits auf 28 erhöht, im Wintersemester kamen weitere 29 hinzu. Die anhaltende studentische Nachfrage zwang zur Erweiterung der Räumlichkeiten um die zweite und dritte Etage und zum Umbau des Gebäudes in der Schröderstraße 36. Die Studentenzahlen, aber auch die

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jährlichen Unkosten stiegen weiter. Mehrere Anträge auf Subventionen durch Fakultät und Ministerium verhallten ungehört. Als Reinmöller nach zwei Anträgen auf Eröffnung des Habilitationsverfahrens über Wochen zunächst nur Schweigen erntete, war seine Geduld offensichtlich erschöpft.24 Im Januar 1909 teilte er dem Dekan mit, dass er sofort sein Lektorat niederlege und den Lehrbetrieb einstelle.25 Daraufhin drohten einige Studenten mit ihrem Weggang. Dekan Prof. Dr. Dietrich Barfurth (1849 – 1927) informierte ohne zu zögern das Ministerium und wies mit Nachdruck auf den bedrohlichen Schaden für die Fakultät und die Universität hin. Johannes Reinmöller wurde nun stärkere Unterstützung durch die Fakultät zuteil. Im Mai 1909 erteilte man ihm nach mit großem Lob bedachten Kolloquium die Venia Legendi für das Fach Zahnheilkunde.26 Die noch im Jahr 1909 ausgegebene und sich auch auf Johannes Reinmöller stützende „Prüfungsordnung für die Zahnärzte des Deutschen Reiches“ 27 bewirkte, dass von den Studierenden nun das Abitur und sieben Semester Studium an einem zahnmedizinischen Universitätsinstitut verlangt

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Abb. 4  Blick in den „Füllsaal“ des Instituts.

Zahnmedizin in Rostock: Eine lange und beinah gebrochene Tradition

Abb. 5  Aus dem Amtlichen Bericht über die Fünfhundertjahrfeier der Universität Rostock im Jahre 1919.

wurden. Das Studium gliederte sich erstmalig in einen vorklinischen und einen klinischen Abschnitt.28 Die Zahl der Studenten stieg in Rostock weiter an. Das Zahnärztliche Lehrinstitut in der Schröderstraße 36 musste daher um das Nachbargrundstück Nr. 37 erweitert und ausgebaut werden (Abb. 4). Zum Sommersemester 1910 erreichte Johannes Reinmöller, dass die Einschreibung der Studenten der Zahnheilkunde endlich an der Medizinischen Fakultät erfolgen konnte. Seinen wiederholten Anträgen um finanzielle Unterstützung durch das Ministerium wurde weiterhin nicht stattgegeben. In dieser Situation kam ihm ein großzügiges Angebot aus Greifswald, ein neu zu gründendes universitäres Institut zu übernehmen und eine Professur zu erhalten, sehr gelegen, so dass er beim Dekan vorstellig wurde, der mit Erfolg in Schwerin intervenierte. Das Ministerium stimmte einer gewissen finanziellen Anbindung an die Universität zu, daraus resultierte noch im Jahr 1910 die Umbenennung der Einrichtung in „Zahnärztliches Universitäts-­Institut“. Am 31. Dezember 1910 wurde Johannes Reinmöller zum außerordentlichen Professor an der Medizinischen Fakultät in Rostock bestallt.29 Daraufhin lehnte er den Ruf nach Greifswald ab. Seine Publikationen zur Trigeminusneuralgie und zu dentogenen Kieferhöhlenerkrankungen hatten ihm inzwischen deutschlandweit auch wissenschaftliche Anerkennung verschafft. In den folgenden Jahren erhöhten sich die Studentenzahlen in Rostock auf 50 pro Semester – eine für die räumlich beengte Klinik gewaltige Zahl. Auch aus diesem Grund erweiterte man 1911 das ärztliche Personal um Dr. Matthäus Reinmöller (1886 – 1977), den jüngeren Bruder des Direktors, und 1913 um Dr. med. et phil. Hans Moral (1885 – 1933). Beide sollten noch von sich reden machen. Hans Moral, im ersten Jahr seines Wirkens vorrangig wissenschaftlich und in der Patientenbetreuung tätig, reichte bereits im Mai 1914 sein Gesuch um Zulassung zur Habilitation ein. Der Annahme der Arbeit wurde nach einem Gutachten des anerkannten Anatomen, Prof. Dr. Dietrich Barfurth, zugestimmt und Hans Moral die Venia Legendi erteilt. Gleichzeitig wurde er zum Privatdozenten berufen. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs versetzte man Johannes Reinmöller und seinen Assistenzarzt in Sanitätseinrichtungen des Heeres. Hans Moral als „ungedienter Landsturm“ erhielt keine Einberufung. Gerade habilitiert, übernahm der 28-Jährige am 1. August 1914 die kommissarische Leitung des Instituts. Ein reduzierter Mitarbeiterstamm, ständig steigende Patientenzahlen und die alleinige Verantwortung für die Lehre forderten ihn bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. In Würdigung seiner Arbeit verlieh ihm das Groß-

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herzogliche Ministerium auf Antrag der Medizinischen Fakultät 30 daher 1917 eine Titulatur-­Professur. Dazu findet sich in der Akte die handschriftliche Mitteilung vom 16. Juli 1917: „Seine königliche Hoheit der Großherzog haben geruht, dem Privatdozenten Dr. med. et phil. Hans Moral zu Rostock den Charakter ‚Professor‘ zu verleihen.“ 31 Nach dem Ersten Weltkrieg, zum Wintersemester 1918/19, übernahm Johannes Reinmöller wieder die Leitung des Instituts. Im Jahr 1919 – anlässlich der 500-Jahr-­Feier der Universität Rostock (Abb. 5) – wird mit ihm erstmals an einer deutschen Universität ein Zahnmediziner zum ordentlichen Professor ernannt.32 Unter dem Direktorat Johannes Reinmöllers und unter seiner wesentlichen Mitwirkung wurde am 3. Januar 1920 durch die Medizinische Fakultät die Zahnärztliche Promotionsordnung verabschiedet.33 Nachdem bis dahin das Promotionsrecht bei der Philosophischen Fakultät gelegen hatte, konnte nunmehr durch die Medizinische Fakultät der akademische Grad Doctor medicinae dentariae (Dr. med. dent.) verliehen werden.34 Doch verschiedene Ereignisse der Nachkriegsjahre führten bald zu Veränderungen in der Struktur des Zahnärztlichen Instituts. Insbesondere ein Disziplinarverfahren (Abb. 6) der Universität belastete Johannes Reinmöller und zwang ihn, im Sommer 1920 die Alma Mater zu verlassen und eine Berufung nach Erlangen anzunehmen. In Erlangen wie später auch in Würzburg kam er als Rektor beider Universitäten gleichfalls zu hohem Ansehen.

Hans Moral – Wissenschaftler mit ­internationaler Reputation (1920 – 1933) Zum 1. Oktober 1920 erhielt Moral die Bestallung zum außerordentlichen Professor der Medizinischen Fakultät. Darüber hinaus erging an ihn die Aufforderung des Ministeriums für Unterricht, die Leitung der Klinik zu übernehmen, die von der Mecklenburgischen Landesregierung verstaatlicht und in „Universitätsklinik und Poliklinik für Mund- und Zahnkrankheiten“ umbenannt wurde.35 Am 4. November 1920 legte Moral seinen Amtseid ab.36 Diese Zeit gehörte mit zu Morals fruchtbarsten Schaffensperioden. Davon zeugt eine Vielzahl von Publikationen wie z. B. zur Speicheldrüsenentwicklung, zur Leitungsanästhesie im Ober- und Unterkiefer und zur Alveolarpyorrhoe. Die 1. Auflage des Standardwerks „Einführung in die Klinik der Zahn- und Mundkrankheiten“ fand besondere Wertschätzung. In Anerkennung seiner Leistungen wurde Hans Moral 1923 im Alter von 37 Jahren zum ordentlichen Professor für das Fach Zahnheilkunde ernannt. Er ist damit der zweite Lehrstuhlinhaber in Rostock. Da das Ministerium nicht in der Lage war, in Zeiten der Inflation und Geldnot die Einrichtung einer Krankenstation finanziell zu unterstützen, ergriff Hans Moral in privater Mission die Initiative. Es gelang ihm, Schenkungen und Stiftungen zu mobilisieren, so dass in der Schröderstraße die Einrichtung einer eigenen Bettenstation der Klinik mit Genehmigung des Ministeriums möglich wurde. Die Eröffnung der ersten stationären Abteilung unter dem Dach einer Universitätszahnklinik in Deutschland (Abb. 7) war 1924 Anlass, Hans Moral zum Dr. med. dent. honoris causa zu ernennen.37 Wissenschaftlich arbeitete und publizierte er zwischen 1925 und 1930 auf dem Gebiet der Wurzelkanalbehandlung, der Chirurgie und speziellen Pathologie der Mundhöhle, der Herstellung und Untersuchung künstlicher Zähne sowie der Kieferbrüche, Tumoren und psychosomatischen Grenzfälle.38

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Abb. 6  Pressebericht vom 19. Mai 1920 zum Disziplinarverfahren gegen Johannes Reinmöller.

Zahnmedizin in Rostock: Eine lange und beinah gebrochene Tradition

Abb. 7  Hans Moral als Dekan der Medizinischen Fakultät im Jahre 1929. Abb. 8  Krankenzimmer der 1924 eröffneten ersten stationären Abteilung einer Universitäts-­Zahnklinik in Deutschland.

Im Jahr 1929 wurde Hans Moral einstimmig zum Dekan der Medizinischen Fakultät gewählt – für den Vertreter eines noch jungen Faches eine hohe Anerkennung (Abb. 8). Moral erhielt neun Ehrenmitgliedschaften und Auszeichnungen ausländischer Gesellschaften (Bulgarien, Dänemark, Finnland, Italien, Japan, Lettland, Polen, Triest, Ungarn), hinzu kam die der Berliner zahnärztlichen Gesellschaft. Seine wissenschaftlichen Arbeiten machten ihn zu einem international gefragten Referenten. Doch mit der Zunahme nationalsozialistischen Einflusses – Mecklenburg wurde bereits seit Juli 1932 von einer nationalsozialistischen Alleinregierung geführt – war Hans Moral infolge seiner jüdischen Herkunft bald besonderen Repressalien ausgesetzt. Physische Bedrohungen und psychische Torturen in den Jahren 1932/33 erschütterten seinen bis hin zu Depressionen beeinträchtigten Gesundheitszustand. Die ultimative Aufforderung des Regierungskommissars und Gauleiters Friedrich Hildebrandt (1898 – 1948), von seinem Lehrstuhl zurückzutreten, und insbesondere das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom April 1933 ließen keinen Zweifel darüber zu, dass die Nationalsozialisten beabsichtigten, ihn aus seinem Amt zu entfernen. Dieses Gesetz bildete die Handhabe, Beamte nicht arischer Abstammung zu entlassen. Die Universität war aufgefordert zu berichten, auf wen diese Bestimmung anzuwenden ist.39 Am 18. April 1933 erfolgte dann Morals Beurlaubung, die sich bald als endgültig erweisen sollte. Hinzu kamen die Untergrabung seiner moralischen Integrität und seine Kriminalisierung durch NS -Zahnärztevertreter mit haltlosen, später widerlegten Anschuldigungen, Versuche, ihm seine beruflichen Leistungen abzusprechen, der Verlust des für ihn wichtigen Deutschtums und nicht zuletzt der fehlende Rückhalt durch die Universitätsleitung und die der Medizinischen Fakultät.40 Die Erkenntnis dieser tiefen Ausweglosigkeit war es wohl, die in Hans Moral im Alter von knapp 48 Jahren den Entschluss reifen ließ, in der Nacht vom 4. zum 5. August 1933 aus dem Leben zu scheiden.

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Von nicht zu unterbietender Kürze waren die Mitteilungen der Universität zum Tod Hans Morals an das Ministerium 41 (Abb. 9). Hans Moral gebührt ohne Zweifel das Verdienst, dass sich das Zahnärztliche Institut bzw. die Klinik in den insgesamt 17 Jahren seines Direktorats selbst unter den schwierigen Kriegsverhältnissen zu einer leistungsfähigen, national und international anerkannten Lehr- und Forschungsstätte fortentwickelte. Moral setzte auch mit der Errichtung der ersten universitären Bettenstation, des wissenschaftlichen Labors und der Abteilung für Alveolarpyorrhoe unübersehbare Zeichen an seiner Wirkungsstätte. Seine Anstöße und Vorschläge für einen Klinikneubau waren mit die Voraussetzung dafür, dass nur fünf Jahre nach seinem Tod die Vollendung und Einweihung der neuen Klinik, für die er schon sehr lange mit klugen Argumenten gestritten hatte, erfolgte.42 Eine Gedenktafel im Universitätshauptgebäude erinnert seit 1991 an Hans Moral.

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Abb. 9  Benachrichtigung des Ministeriums für Unterricht durch die Universität zum Tod Hans Morals.

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Abb. 10  Matthäus Reinmöller – ­Klinikdirektor von 1933 bis 1955. Abb. 11  Die neue Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten der Mecklenburgischen Landes-­ Universität Rostock im Jahr 1938.

Die Ära Matthäus Reinmöller (1933 – 1955) Die Medizinische Fakultät war 1933 bestrebt, den durch den Tod Hans Morals frei gewordenen Lehrstuhl für Zahnheilkunde zu erhalten 43 und schnell wieder zu besetzen. Am 18. Oktober wurde dem Konzil eine vierköpfige Vorschlagsliste zur Abstimmung vorgelegt, unter den vier Kandidaten Matthäus Reinmöller (1886 – 1977), der jüngere Bruder des Gründungsdirektors Johannes Reinmöller. Am 14. November wurde Matthäus Reinmöller zum ordentlichen Professor und zum Klinikdirektor berufen 44 (Abb. 10). Unmittelbar nach seiner Berufung bemühte er sich um den Neubau einer Klinik, der sich als dringend notwendig erwies, denn die alte Klinik entsprach keinesfalls mehr den Anforderungen. Unterstützung fand er dabei durch Hans Schlampp (1900 – 1962), der 1926 unter Hans Moral an die Klinik gekommen war, die Prothetisch-­Orthodontische Abteilung reorganisiert hatte und 1935 zum nichtplanmäßigen außerordentlichen Professor ernannt wurde. Entschlossen forderte Matthäus Reinmöller ein baupolizeiliches Gutachten an. Das Ergebnis war verheerend. Über kurz oder lang war mit der Schließung der Klinik zu rechnen, ein vernichtendes Urteil in Anbetracht von inzwischen schon 356 Studenten. Es kam jedoch nicht ganz ungelegen, konnte man damit doch den Neubau der Klinik überzeugend begründen. Eine Denkschrift vom November 1934 erging an alle Amtsträger der Universität und der Fakultät. Auch die Presse erfuhr von den Unzulänglichkeiten. Ein Streitpunkt war insbesondere die veranschlagte Bausumme in Höhe von einer Million Reichsmark. Im Februar 1936 kam dann positiver Bescheid aus Schwerin. Noch im gleichen Monat begannen die Erschließungsarbeiten. Am 1. März 1938 wurde die neue „Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten“ der Universität Rostock in Betrieb genommen und am 31. Mai 1938 feierlich eröffnet 45 (Abb. 11). Es war eine großzügig angelegte Fachklinik entstanden, auf die man mit Recht stolz sein konnte.46 Die Presse feierte die „modernste Klinik Europas“ (Abb. 12). Nach 18 Monaten, mit Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939, änderten sich die Bedingungen schlagartig. Schon am 13. September wurde die Klinik zu einem Lazarett umgerüstet. Matthäus Reinmöller konnte, als Oberfeldarzt der Reserve zum Wehrdienst berufen, neben der Leitung des Lazaretts die Aufgaben an der Klinik und Poliklinik

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wahrnehmen. Trotz alledem lief die studentische Ausbildung weiter. Allmählich wurde allerdings der Großteil der Räume vom Lazarett genutzt. Das Haus überstand die schweren Bombenangriffe in den Jahren 1942, 1943 und 1944, die große Teile der Stadt Rostock in Schutt und Asche legten, unbeschadet. Nachdem am 1. Mai 1945 sowjetische Armeeverbände Rostock eingenommen hatten, wurde bereits am 2. Mai die Klinik der sowjetischen Kommandantur unterstellt. Mit der Auflösung des Lazaretts wurde das vorhandene Inventar systematisch ausgeräumt – eine mehr als traurige Bilanz nach der einst komfortablen Ausstattung. Hans Schlampp hatte inzwischen Rostock gen Westen verlassen. Trotzdem wagte Matthäus Reinmöller mit wenigen Mitarbeitern den schwierigen Neubeginn.47 Reinmöller, der nicht der NSDAP , aber einigen ihr angeschlossenen Gliederungen angehörte, erhielt im Sommer 1946 eine Unbedenklichkeitserklärung durch den Block antifaschistischer Parteien. Er hatte nach der Entlastung durch die Landesentnazifizierungskommission wieder das Klinikdirektorat inne und war für alle Vorlesungen und Kurse allein verantwortlich.48 „Der Chef der Klinik sah sich in den ersten Nachkriegsjahren von den meisten seiner ehemaligen Mitarbeiter verlassen. Der größte Teil des Hauses wurde zunächst der Chirurgischen Klinik zugewiesen, da deren Räume für andere Zwecke frei gemacht werden mussten. Der verbliebene Rest der Geräte und Einrichtungsgegenstände war in wenigen Räumen der Klinik zusammengedrängt. Die verheerenden Kriegsauswirkungen hatten auch den Mangel an gut ausgebildetem Fachpersonal zur Folge“, äußerte dazu später sein Mitarbeiter Jochen Zimmermann.49 Der Drang nach einer allseitigen Verbesserung der Bedingungen war dennoch überall deutlich zu spüren. National und international zeichneten sich gerade auch in der Zahnmedizin gravierende Veränderungen ab. Es bedurfte immenser Anstrengungen Matthäus Reinmöllers, um die Herausbildung der verschiedenen Fachgebiete sicherzustellen und Assistenten an die Klinik zu binden. Über Jahre hinweg war infolge politischer und vor allem besserer wirtschaftlicher Alternativen die Abwanderung in den Westen Deutschlands an der Tagesordnung. Häufiger Wechsel des ärztlichen Personals und Mangel an Kontinuität waren die Folge. Umso mehr war Matthäus Reinmöller bemüht, die Fachgebiete weiterzuentwickeln, und die Lehrverpflichtungen allmählich auf breitere Schultern zu verteilen. Inzwischen konnte die Klinik zumindest teilweise mit moderneren Geräten ausgestattet werden. Sichtlich zufrieden konstatierte Matthäus Reinmöller kurz vor Ende seiner Amtszeit, dass die Fachabteilungen sich deutlich profiliert hätten und die Assistentenschaft, drei Lehrbeauftragte sowie zwei Oberärzte, eine optimale Besetzung darstellten, um notwendige Aufgaben einwandfrei zu lösen.50 Inzwischen war die Zeit jedoch nicht stehengeblieben. Das Zahnmedizin-­Studium zeigte sich als nicht mehr zeitgemäß. Der Studienplan aus dem Jahr 1909 hatte mit Ausnahme von zwei geringfügigen Änderungen (1914, 1939) bis in die 1940er-­Jahre seine Gültigkeit behalten. Es bedurfte daher zweifellos

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Abb. 12  Pressestimmen zur Einweihung der Klinik.

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Abb. 13  Oskar Herfert als Klinikdirektor.

umfassender Veränderungen. Zunächst wurde zum Wintersemester 1949/50 die Studiendauer von sieben auf acht Semester erhöht. Das Studium gliederte sich nun in vier vorklinische (vorher drei) und vier klinische Semester. Diese Maßnahme erwies sich jedoch als unzureichend, vielmehr war eine generelle Studienreform nach der Wiedereröffnung der Universitäten einfach unumgänglich. Vor allem die forschungsbedingte Prägung der zahnmedizinischen Fachgebiete machte eine Neuregelung notwendig. Nicht zuletzt brachte die Gründung der DDR Veränderungen mit sich. So kam es 1951/52 und 1953 zu Neufassungen des Studienplans für die Zahnmedizin, die dessen Erweiterung auf zehn Semester festlegten. Zugleich wurde geregelt, dass alle Lehrveranstaltungen und Prüfungen bis zum Physikum gemeinsam mit den Studierenden der Medizin absolviert werden. Parallel dazu musste der Studierende der Zahnheilkunde das zahnärztliche Physikum ablegen.51 Das klinische Studium sah eine wesentliche Erweiterung der medizinischen Fächer vor. Weiterhin waren Fremdsprachen sowie das gesellschaftswissenschaftliche Grundlagenstudium im Gegensatz zu allen vorangegangenen Studienplänen obligatorisch. Berufspraktika wurden zum festen Bestandteil der studentischen Ausbildung. Das waren insgesamt für die zahnmedizinische Ausbildung gravierende Schritte. Im Jahr 1954, als sich die Amtszeit Matthäus Reinmöllers ihrem Ende zuneigte, hatte sich die Zahl der Studierenden gegenüber dem Jahr 1938, dem Zeitpunkt der Einweihung der neuen Klinik (68 Studenten), auf das Dreifache erhöht (203 Studenten). Die hohe Studentenquote und die bis ins Unübersehbare wachsenden Patientenzahlen sowie die nach wie vor nicht vorhandene ursprüngliche Raumkapazität ließen eine zeitgemäße Normalisierung des Klinik- und Unterrichtsbetriebs in Rostock damals noch nicht zu. Doch stimmten die Entwicklungstendenzen von Forschung, Lehre und Krankenversorgung in der Zahnmedizin optimistisch. Für die Umsetzung in die Praxis bedurfte es weiterer organisatorischer, räumlicher und personeller Veränderungen an der Klinik. Diese zu erreichen, blieb den nachfolgenden Verantwortlichen vorbehalten. Damit endete die dritte Amtsperiode eines Lehrstuhlinhabers in Rostock. In dieser hatte sich Matthäus Reinmöller wissenschaftlich vor allem mit Untersuchungen zur Alveolarpyorrhoe, mit der Therapie der Osteomyelitis und Fragen der odontogenen Herdinfektionen beschäftigt. Die Medizinische Fakultät verlieh ihm im Jahr 1960 den Grad eines Dr. med. dent. honoris causa und würdigte damit seine großen Verdienste um die Entwicklung der Zahnheilkunde in Rostock.

Oskar Herfert als Klinikdirektor (1955 – 1960) Das Staatssekretariat für Hochschulwesen der DDR teilte dem Rektor der Universität Rostock, Prof. Dr. Erich Schlesinger, mit Schreiben vom 10. August 1955 mit, dass Doz. Dr. med. dent. Dr. med. Oskar Herfert (1908 – 1983) aus Halle mit Wirkung vom 1. September als Professor mit Lehrauftrag für das Fach Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an die Medizinische Fakultät berufen werde.52 Darüber hinaus unterrichtete es den Rektor über die Anordnung, dass Oskar Herfert die Geschäfte des Ordinariats wahrnehmen und die Leitung der Klinik übernehmen solle. Daraufhin ernannte ihn der Rektor mit Wirkung vom 12. September 1955 zum Direktor der Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten an der Universität Rostock.53 Damit trat Herfert (Abb. 13) ab September 1955 die Nachfolge Matthäus Reinmöllers an. Er erreichte trotz seiner relativ kurzen Amtszeit in Rostock (1955 – 1960) wesentliche Fortschritte. So schaffte er es schnell, die Bettenkapazität der Kieferchirurgischen Abteilung zu erhöhen und den Operationstrakt zu reaktivieren. Die Therapie der Lippen-,

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Kiefer- und Gaumenspalten erfolgte jetzt wieder in der Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten – ebenso die chirurgische Behandlung von Dysgnathien. Im Sommer 1958 gelang es Herfert, dank seiner Hartnäckigkeit und seines Durchsetzungsvermögens einen Teil der leihweise überlassenen Räume von der Medizinischen Poliklinik zurückzuerhalten. So konnten die Kieferorthopädie räumlich und personell mit Ursula Heckmann (1928 – 2015) integriert und eine Abteilung für Parodontologie unter Herbert Sponholz (1929 – 2012) eingerichtet werden. Insgesamt erfuhren alle Abteilungen der Klinik eine deutliche Profilierung.54 Ab 1. September 1957 wurde Oskar Herfert zum Fachrichtungsleiter für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde und am 1. Januar 1959 zum Professor mit Lehrstuhl an der Universität Rostock berufen.55 Seine wissenschaftlichen Arbeiten auf dem Gebiet der Gaumenverschlussplastiken und auf dem der sprachverbessernden Operationen in der Spaltchirurgie haben ihn in der internationalen Literatur bekannt gemacht und sind bis heute von Bedeutung. Herferts Impulse haben sich auch nach seinem Weggang nach Mainz, wo er auf den Lehrstuhl für „Zahnärztliche Chirurgie“ berufen wurde, noch positiv ausgewirkt. Eine längere Amtszeit Herferts erwies sich aus politischen Gründen als unmöglich: „Ich musste feststellen, daß mein fachliches Bemühen auf die Dauer nicht ausreichen würde, um mich und meine Angehörigen zu schützen, weil ich es nie fertiggebracht hätte, wider mein besseres polit. Gewissen und Wissen zu zeugen und zu handeln.“ 56 Sein Weggang nach Mainz, den er 1960 mit Schreiben an den Rektor vom 1. September kundtat, war daher eine unausweichliche Folge. Oskar Herfert starb am 20. März 1983 im Alter von 75 Jahren.

Eberhart Reumuth als Klinikdirektor (1960 – 1970) Nachfolger Oskar Herferts wurde dessen Stellvertreter im Amt des Klinikdirektors, Eber­ hart Reumuth (1925 – 1970), der auf Betreiben Herferts zum 1. Januar 1958 als Professor mit Lehrauftrag ebenfalls aus Halle nach Rostock berufen worden war.57 Mit Wirkung vom 1. September 1960 wurde Reumuth zum Professor mit vollem Lehrauftrag für Prothetische Zahnheilkunde ernannt.58 Es war unverkennbar, dass Reumuths Leistungen ihre Ausstrahlung auf die Fakultät und die Universität nicht verfehlten. Daher verwunderte es nicht, dass Eberhart Reumuth (Abb. 14), nachdem Herfert Rostock verlassen hatte, auf Antrag der Medizinischen Fakultät und mit Zustimmung des Senats durch das Staatssekretariat mit dem 1. März 1961 zum Direktor der Klinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten und zum Fachrichtungsleiter für Zahnmedizin ernannt wurde. Gleichzeitig bestätigte man mit diesem Schreiben die von Reumuth vorgeschlagene Struktur der Klinik.59 Seine Ernennung zum Professor mit Lehrstuhl für das Fachgebiet Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde erfolgte zum 1. September 1963.60 Damit waren Entscheidungen von erheblicher Bedeutung gefallen. Erstmalig wurde in Rostock ein Zahnmediziner ohne die medizinische Approbation zum Direktor der Klinik ernannt. Es zeigte sich bald, dass dies in Deutschland kein Einzelfall war. Die Entwicklung in der deutschen Zahnmedizin berücksichtigend und die Zeichen der Zeit erkennend hatte Reumuth bereits als kommissarischer Direktor fünf Fachabteilungen eingerichtet und diese wie folgt mit den Oberärzten Ursula Heckmann Albrecht Schönberger Eva-­Maria Sobkowiak Herbert Sponholz

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– Kieferorthopädische Abteilung – Kieferchirurgische Abteilung – Konservierende Abteilung – Parodontologische Abteilung

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Abb. 14  Eberhart Reumuth – ­Klinikdirektor von 1960 bis 1970.

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Abb. 15  Eva-­Maria Sobkowiak – ­Klinikdirektorin von 1970 bis 1983.

besetzt. Die Prothetische Abteilung leitete Reumuth selbst. Nach der Berufung Albrecht Schönbergers (1927 – 2011) zum Professor und Direktor der Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten in Greifswald übernahm Armin Andrä (1926 – 2018) per 1. Oktober 1963 die Leitung der Kieferchirurgischen Abteilung. Im Jahr 1965 erhielt die Klinik die Bezeichnung Universitätsklinik und Poliklinik für Stomatologie. Im gleichen Jahr konnte die nach modernen Gesichtspunkten eingerichtete Parodontologische Abteilung eingerichtet werden, die Reumuth ein besonderes Anliegen war.61 Die Entwicklung der Spezialdisziplinen der Zahnmedizin führte schließlich im Jahr 1969 zur Einrichtung der Lehrstühle für Prothetische und Orthopädische Stomatologie, auf die die Professoren Dr. Eberhart Reumuth bzw. Dr. Ursula Heckmann berufen wurden. Mit Ursula Heckmann hatte in Rostock erstmals eine Frau einen zahnmedizinischen Lehrstuhl inne. Im September 1970 berief man Prof. Dr. Dr. Armin Andrä auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Chirurgische Stomatologie und Kiefer-­Gesichtschirurgie und Prof. Dr. Eva-­Maria Sobkowiak auf den Lehrstuhl für Konservierende Stomatologie. Kurz vorher – am 4. Juni 1970 – war Eberhart Reumuth, dem eine Kriegsverletzung und die Folgen von Unglücksfällen zu schaffen machten, im Alter von 45 Jahren freiwillig aus dem Leben geschieden. Er hatte in seiner 10-jährigen Amtszeit mit dem ihm eigenen Organisationstalent eine in Lehre und Forschung auf die neuen Herausforderungen beispielhaft ausgerichtete Klinik etabliert. Vor allem durch seine Arbeiten zur funktionellen Gestaltung des Kauflächenkomplexes, zum Kauvorgang und zum Rostocker Mineralischen Verblend-­System hat er, zum Teil gemeinsam mit seinen Mitarbeitern, vielfältige Belege für sein wissenschaftliches Leistungsvermögen erbracht. Mit Eberhart Reumuths Direktorat endete nach gut 50 Jahren die jeweils direkte Folge auf den Lehrstuhl für die gesamte Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, der erstmals mit Johannes Reinmöller im Jahr 1919 besetzt worden war.

Eva-­Maria Sobkowiak als Klinikdirektorin (1970 – 1983) Am 1. Dezember 1970 trat Eva-­Maria Sobkowiak die Nachfolge Reumuths im Amt des Klinikdirektors an, nachdem sie bereits seit 1960 die Leitung der Konservierenden Abteilung, 1965 in Abteilung für Konservierende Stomatologie umbenannt, innehatte (Abb. 15). Unter ihrer Leitung erfolgte der Aufbau der Abteilung für Kinderstomatologie, die mit ihrer Gründung im Jahr 1973 von Dr. Eckhard Beetke, bis dahin Oberarzt der Abteilung für Konservierende Stomatologie, geleitet wurde. Die 1968/69 in der DDR durchgeführte 3. Hochschulreform führte in den 1970er-­Jahren an den Universitäten zu gravierenden Veränderungen. Das betraf sowohl den Studienplan als auch neue Strukturen mit einem „Prorektor für Medizin“ 62 und die „Fakultät für Medizin“, die vom Dekan geleitet wurde.63 Neuerungen gab es auch bei den akademischen Graduierungen. So hatten die Studenten aller Fächer, auch der Zahnmedizin und Medizin, zum Ende ihres Studiums neben der Absolvierung des Staatsexamens mit einer schriftlichen Arbeit zu diplomieren. Die Promotion und die Habilitation wurden jetzt als Promotion A bzw. Promotion B tituliert. Als Voraussetzung für die Wahrnehmung von Lehrverpflichtungen war die „Facultas Docendi“, die Lehrbefähigung, vor einer Fakultätskommission nachzuweisen. Die Forschung konzentrierte sich nunmehr auf sogenannte Hauptforschungsrichtungen. Entsprechende Forschungsmittel wurden nach erfolgreicher Antragstellung vergeben. Die Projekte waren nach ihrem Abschluss zu verteidigen.64 Die meisten dieser Veränderungen sollten allerdings nicht lange Bestand haben und das Jahr 1989 nicht überstehen.

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Im Jahr 1975 folgte Doz. Dr. Eberhard Laetzsch, seit 1970 kommissarischer Leiter der Abteilung für Prothetische Stomatologie an der Rostocker Klinik, einem Ruf an die Ernst-­ Moritz-­Arndt-­Universität Greifswald. Dort wurde er per 1. September ordentlicher Professor für Prothetische Stomatologie und gleichzeitig Abteilungsdirektor. Im gleichen Jahr nahm Doz. Dr. Günter Knak aus Berlin die Berufung auf die Professur und den Lehrstuhl für Prothetische Stomatologie an der Universität Rostock an. Einem Ruf auf den neu eingerichteten II . Lehrstuhl für Prothetische Stomatologie an der Charité nachkommend, wechselte Knak im Jahr 1982 zurück nach Berlin. Im September 1977 wurde Professor Armin Andrä zum Dekan der Fakultät für Medizin gewählt.65 Nach Hans Moral war Armin Andrä der zweite Dekan aus der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Er wurde 1980 auf weitere drei Jahre in seinem Amt bestätigt. Für das Profil der Klinik war die 1978 erfolgte Ernennung von Herbert Sponholz zum außerordentlichen Professor auf dem Gebiet der Parodontologie sowohl wissenschaftlich als auch im Rahmen der Weiterbildung von wesentlicher Bedeutung. Im Jahr 1981 wurde Peter Paul Hahn (1927 – 2008) zum außerordentlichen Professor für Prothetische Stomatologie berufen. Er hat über Jahrzehnte die vorklinische Ausbildung in Rostock vorbildlich geprägt. Klinisch und wissenschaftlich lag sein Hauptaugenmerk auf dem Gebiet der Modellgussprothetik, das ihn auch international bekannt machte. Nach dem Weggang von Günter Knak wurde mit Wirkung vom 1. September 1982 Heinrich von Schwanewede, am 1. Februar des gleichen Jahres zum Hochschuldozenten berufen, kommissarischer Leiter der Abteilung für Prothetische Stomatologie. Die Amtszeit Eva-­Maria Sobkowiaks als Klinikdirektorin endete mit ihrer Emeritierung im Jahr 1983. Mit staatlichen und fachlichen Auszeichnungen geehrt, wurde sie mit einem Symposium in den Ruhestand verabschiedet. Wissenschaftlich hat sie sich besonders mit der Pulpitistherapie im Sinne der Pulpaerhaltung, klinisch und experimentell mit der Füllungstherapie und mit der Problematik traumatisch geschädigter Zähne einen Namen gemacht.

Armin Andrä als Sektions- und Klinikdirektor (1983 – 1991) Im Rahmen einer Festveranstaltung in der Aula des Universitätshauptgebäudes fand am 7. September 1983 in Anwesenheit des stellvertretenden Ministers für Hoch- und Fachschulwesen der DDR , Prof. Dr. Klaus Thielmann, die Gründung der „Sektion Stomatologie“ des Bereichs Medizin an der Rostocker Universität statt. Grundlage dieser Sektionsgründung waren Festlegungen des Ministeriums vom 13. November 1979, auf deren Basis der Rektor der Universität, Prof. Dr. Wolfgang Brauer, die Gründung im Juni 1983 beantragt hatte. Nach der Übergabe der Gründungsurkunde an den Rektor ernannte der stellvertretende Minister den bisherigen Leiter der Abteilung für Chirurgische Stomatologie und Kiefer-­Gesichtschirurgie, Prof. Dr. Dr. Armin Andrä (Abb. 16), zum Direktor der Sektion Stomatologie.66 Diese gliederte sich in folgende Struktureinheiten: • Klinik und Poliklinik für Chirurgische Stomatologie und Kiefer-­Gesichtschirurgie (Direktor: Prof. Dr. Dr. A. Andrä), • Poliklinik für Konservierende Stomatologie einschl. Periodontologie (Direktor: Prof. Dr. E. Beetke, Neuberufung), • Poliklinik für Orthopädische Stomatologie und Kinderstomatologie mit Zahntechnischem Labor (Direktorin: Prof. Dr. U. Klink-­Heckmann), • Poliklinik für Prothetische Stomatologie mit Zahntechnischem Labor (komm. ­Direktor: Doz. Dr. H. von Schwanewede).

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Abb. 16  Armin Andrä – Sektionsund Klinikdirektor von 1983 bis 1991.

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Mit der Sektionsgründung in Rostock wurde gleichzeitig der erste Lehrstuhl für Kinderstomatologie in der DDR eingerichtet, auf den Prof. Dr. Hans-­Joachim Maiwald aus Erfurt berufen wurde, der nun die Abteilung für Kinderstomatologie leitete, nachdem Prof. Beetke zum Direktor der Poliklinik für Konservierende Stomatologie ernannt worden war. Eckhard Beetke fungierte außerdem als Stellvertreter des Sektionsdirektors. Die jetzt sogenannte Abteilung für Periodontologie leitete weiterhin Prof. Dr. Sponholz. Am 1. September 1984 wurde Heinrich von Schwanewede als ordentlicher Professor auf den Lehrstuhl für Prothetische Stomatologie berufen. Gleichzeitig übertrug man ihm das Direktorat der Poliklinik für Prothetische Stomatologie.67 Nach wie vor bestimmten die Therapie und Rehabilitation der Patienten mit Lippen-­ Kiefer-­Gaumenspalten das Profil der Kiefer-­Gesichtschirurgie des Hauses. Auch die anderen Struktureinheiten der Klinik und eine Reihe medizinischer Fächer waren daran beteiligt. Schon 1966 hatte Armin Andrä dem Dekan der Medizinischen Fakultät die Gründung einer „Arbeitsgemeinschaft Rehabilitation der Spaltträger – Kommission Rostock“ mitgeteilt.68 Aus ihr entstand später das „Spaltzentrum Nord“. Die Spaltproblematik bot reichlich Stoff für Publikationen, Dissertationen und Habilitationsschriften. Die im „Spaltzentrum Nord“ gewonnenen Erfahrungen veranlassten Armin Andrä und Hans-­ Joachim Neumann zur Herausgabe des Buches „Lippen-­Kiefer-­Gaumenspalten. Ätiologie, Morphologie, Klinik, komplexe Rehabilitation“, das im Jahr 1989 unter Mitwirkung aller beteiligten Fachgebiete erschien.69 Am 27. Mai 1988 fand in der Klinik eine würdige Feierstunde zur 50. Wiederkehr der Eröffnung der Universitätsklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten in der Strempelstraße statt. Alle Fachvertreter zeichneten ein interessantes Bild der Entwicklung und des Leistungsvermögens ihrer Fachbereiche in Gegenwart vieler Gäste und Kollegen auf.70 Mit der Emeritierung Frau Prof. Dr. Klink-­Heckmanns zum 1. September 1988 endete ihre 30-jährige Tätigkeit an der Rostocker Klinik, in der sie vor allem durch ihre Längsschnittstudien zur Gebissentwicklung und zum Gesichtsschädelwachstum national und international Anerkennung gefunden hat. Auf den damit frei gewordenen Lehrstuhl für Orthopädische Stomatologie wurde ihre langjährige Mitarbeiterin Prof. Dr. Rosemarie Grabowski mit Wirkung vom 1. September berufen.71 Das vakante Direktorat der Poliklinik für Orthopädische Stomatologie und Kinderstomatologie übernahm 1988 Prof. Maiwald, bis die Kinderzahnheilkunde 1991 wieder der Konservierenden Zahnheilkunde zugeordnet wurde. Im Jahr 1989 kündigte sich in der DDR die „politische Wende“ als unumkehrbarer Prozess an und wurde am 3. Oktober 1990 mit dem wiedervereinten Deutschland Realität. Die Ära Andrä an der Universität Rostock ging mit der Versetzung in den Ruhestand am 1. Oktober 1991 zu Ende. Ein Jahr zuvor war ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Riga verliehen worden. Mit einer akademischen Feierstunde und einem internationalen Kongress wurden seine beeindruckenden Leistungen im Fachgebiet Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie besonders gewürdigt.72

Die Entwicklung der Zahnmedizin an der Universität Rostock nach der politischen Wende von 1989 Das Jahr 1991 brachte mit dem Hochschulerneuerungsgesetz (HEG ) vom 19. Februar und der „Vorläufigen Ordnung der Medizinischen Fakultät“ vom 24. September wichtige Veränderungen an der Universität Rostock. Um die grundlegende Erneuerung der Strukturen zu ermöglichen, hatten sich zunächst auf Beschluss der Vertreterversammlung der Me-

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dizinischen Fakultät alle im Amt befindlichen Direktoren und ihre Stellvertreter einem geheim abgegebenen Vertrauensvotum der gesamten Belegschaft ihrer Einrichtung zu stellen.73 Nach dem Vertrauensvotum war die Wahl von Geschäftsführenden Direktoren und ihrer Stellvertreter aus dem Kreis der für die Übernahme zum Hochschulrahmengesetz(HRG )-Professor in Betracht kommenden Kandidaten notwendig. Diese beschränkte sich nicht nur auf die bisherigen Direktoren. Sie erfolgte durch die Gruppe des hauptberuflichen wissenschaftlichen Personals und war auch dann vorzunehmen, wenn einem Direktor vorher das Vertrauen ausgesprochen worden war.74 Ein solches Vorgehen war bis dahin einmalig und das blieb es auch. Um die Wahl ohne Verzug zu ermöglichen, berief der Rektor, Prof. Dr. Gerhard Maeß (1937 – 2016), mit Wirkung vom 15. November 1991, alle Direktoren von ihrer Funktion ab. Die vorzunehmenden Wahlen sollten bis zum 30. November durchgeführt werden.75

Heinrich von Schwanewede als ­Geschäftsführender Direktor (1991 – 2008) Der geheimen Wahl zum Geschäftsführenden Direktor der Klinik und Polikliniken für Zahn- Mund- und Kieferheilkunde stellten sich drei ordentliche Professoren. Sie erfolgte am 15. November 1991 unter Aufsicht einer aus den Reihen der wissenschaftlichen Mitarbeiter gewählten Wahlkommission. Wahlberechtigt war wiederum das hauptberuflich wissenschaftliche Personal. Insgesamt nahmen 65 wissenschaftliche Mitarbeiter an der Wahl teil, bei der Professor Dr. Heinrich von Schwanewede (Abb. 17) deutlich mit absoluter Mehrheit gewählt wurde. Er sollte dieses Amt insgesamt 18 Jahre bis zu seinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst Ende 2008 ausfüllen. Zu seiner Stellvertreterin wurde Professorin Dr. Rosemarie Grabowski gewählt.76 An der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie fand die Wahl eines Direktors noch nicht statt, da das Verfahren zur Wiederbesetzung des Lehrstuhls und des Direktorats in vollem Gange war. Die kommissarische Leitung der Einrichtung nahm im Zeitraum von Oktober 1991 bis September 1992 Doz. Dr. Michael Sonnenburg wahr. Gemäß Hochschulerneuerungsgesetz Mecklenburg-­Vorpommern hatte die neu gebildete Ehrenkommission der Universität Rostock die Aufgabe, die persönliche Integrität, d. h. das Verhalten der hauptberuflichen Mitglieder der Hochschule, insbesondere gegenüber Kollegen und Studenten vor Inkrafttreten des Gesetzes zu überprüfen. Dazu war eine schriftliche Erklärung über eine etwaige Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit abzugeben und ein Fragebogen auszufüllen. Die Mitwirkung am Ehrenverfahren galt als gesetzliche Pflicht. Dieses schloss entweder mit der Erklärung der Kommission, dass kein Fehlverhalten festgestellt werden konnte, oder mit einer Empfehlung ab, die von einer Missbilligung bis zur Kündigung des Arbeitsverhältnisses wegen mangelnder persönlicher Eignung reichen konnte.77 War eine Erklärung oder Empfehlung der Ehrenkommission ergangen, so galt sie immer vorbehaltlich der Auskunft durch die Behörde des Sonderbeauftragten der Bundesregierung für personenbezogene Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes. Erst wenn der Bescheid dieser Behörde vorlag, war das Ehrenverfahren abgeschlossen. Für die Direktoren und alle infrage kommenden Mitarbeiter war im „Überleitungsverfahren“ zum HRG -Professor die hochschulrechtlich erforderliche wissenschaftliche Qualifikation von den Betreffenden nachzuweisen.78 Damit wurden die Hochschullehrer sowohl einer persönlichen Überprüfung als auch einer fachlichen Bewertung unterzogen.

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Abb. 17  Heinrich von Schwanewede – Geschäftsführender Direktor von 1991 bis 2008.

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Mit Schreiben vom 5. Dezember 1991 forderte der Dekan dazu auf, innerhalb eines Monats nach Eingang der Erklärung der Ehrenkommission den endgültigen Antrag auf Überleitung an das Kultusministerium zu richten. So konnte dann im Januar 1992 die endgültige Antragstellung zur Überleitung bei der zuständigen Kommission erfolgen. Gutachter mussten Klinik- oder Institutsdirektoren von Universitäten der alten Bundesländer sein. Im Falle eines positiven Ergebnisses der fachlichen Begutachtung schlug die Kommission der Kultusministerin die Überleitung in die mitgliedschaftsrechtliche Stellung eines Professors vor. Diese leitete nach Prüfung des Vorschlags dann in die Stellung eines HRG -Professors unter Berücksichtigung der Entscheidung der Ehrenkommission über. Eine Entscheidung über die dienstrechtliche Stellung erfolgte auf entsprechenden Antrag hin im „Übernahmeverfahren“. Dieses entschied über die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses in der neuen Personalstruktur an einer Hochschule im Lande Mecklenburg-­ Vorpommern und darüber, ob und in welchem Rechtsverhältnis zum Land und auf welcher Stelle oder Planstelle der Antragsteller übernommen werden konnte. Die Übernahme bestimmte sich nach persönlicher und fachlicher Eignung und nach dem Bedarf.79 Die ordentlichen Professoren Dr. Eckhard, Beetke, Dr. Rosemarie Grabowski und Dr. Heinrich von Schwanewede sowie die außerordentlichen Professoren Dr. Peter Paul Hahn und Dr. Herbert Sponholz wurden nach entsprechenden Anträgen im Jahr 1992 in die neue Personalstruktur als Universitätsprofessoren übernommen. Mit Beginn des Jahres 1993 waren die infolge der Überprüfung durch die Ehrenkommission vorhandenen Vorbehalte bei den Mitarbeitern der Zahnmedizin aufgehoben. Alle Hochschullehrer der Zahnmedizin in Rostock hatten sich dem Ehrenverfahren gestellt und wurden nach der fachlichen Begutachtung entsprechend des Hochschulerneuerungsgesetzes (HEG ) übergeleitet. Mit seinem Inkrafttreten kam es in der Zahnmedizin zur Reduzierung von bisher fünf auf vier C4-Stellen – betroffen davon war der Lehrstuhl für Kinderstomatologie – und von bisher drei auf zwei C3-Stellen. Die nach der Wende vorübergehend existierenden sechs Struktureinheiten wurden auf die vier großen Fachgebiete reduziert. Zum 1. Oktober 1992 wurde Karsten Gundlach aus Hamburg als Nachfolger Armin Andräs auf den Lehrstuhl und das Direktorat der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Geschichtschirurgie berufen. Die Übernahme der Lehrstuhlinhaber und die positiven Signale des Wissenschaftsrates gaben zunächst allen Anlass, optimistisch in die Zukunft zu sehen. Insbesondere galt dies für die Empfehlungen des Wissenschaftsrats vom 27. Januar 1991, die vorsahen, an der Medizinischen Fakultät in Rostock „die Räume in der Stomatologie, die derzeit von der Klinik für Innere Medizin genutzt werden, wieder freizugeben.“ 80 Die Empfehlungen bildeten die Basis für die schwer erkämpfte, schrittweise Rückführung und Instandsetzung der zur Klinik gehörenden Räume im Jahr 1993. Damit bestanden beste räumliche und technische Voraussetzungen, die Studierenden nach der nunmehr geltenden Approbationsordnung für Zahnärzte konkurrenzfähig auszubilden. So stellte im Jahr 1994 Kultusministerin Schnoor fest, dass die Universität Rostock eine leistungsfähige, räumlich und apparativ hervorragend ausgestattete Zahnmedizin ausgebaut habe. Und in einer Kabinettsvorlage vom 8. November 1994 wurde vorgetragen, „daß sich die Zahnmedizin in Rostock zwischenzeitlich in hervorragendem Zustand befindet, sowohl in Hinblick auf die baulichen und infrastrukturellen Gegebenheiten als auch im Hinblick auf ihre fachliche Repräsentanz sowie ihre Akzeptanz bei Studienbewerbern“.81 Alsbald wurde jedoch der Erhalt und Ausbau der Zahnmedizin als Studiengang und Forschungsstätte an der Universität Rostock Gegenstand einer beispiellosen hochschulpolitischen Auseinandersetzung im Land Mecklenburg-­Vorpommern. Trotz aller guten

Heinrich von Schwanewede

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Zahnmedizin in Rostock: Eine lange und beinah gebrochene Tradition

Voraussetzungen war das bittere Resultat wider alle Gutachten externer Berater und Experten die Schließung des Studiengangs an der Universität Rostock im Jahr 1997.82 Als Zeitzeuge des Fortgangs der Ereignisse um die Zahnmedizin schilderte später Prof. Dr. Wildenhain, von 1991 bis 1993 Hochschulabteilungsleiter im Kultusministerium und von 1998 bis 2002 Rektor der Universität Rostock, seine Eindrücke folgendermaßen: „… was danach folgte, hat auf mich großen Eindruck gemacht. In Rostock gab man nicht auf. Prof. von Schwanewede schmiedete um sich eine verschworene Gemeinschaft und organisierte den Widerstand gegen die Landespolitik und den Kampf um die Revision der Schließungsentscheidung.“ 83 Nach jahrelangen Bemühungen gelang auf der Grundlage der Landesverfassung im Jahr 2002 endlich die Wiedereinrichtung des Studiengangs Zahnmedizin. Das war nur möglich nach dem erklärten Willen und mit Unterstützung der Leitung der Medizinischen Fakultät, der Universität, der Zahnärzte- und Ärztekammer, der Bevölkerung und des Landtags von Mecklenburg-­Vorpommern, des Deutschen Hochschulverbandes, des Deutschen Fakultätentages u. a. Inzwischen haben bereits wieder 16 Jahrgänge von Zahnmedizin-­ Absolventen die Universität Rostock nach erfolgreichem Abschluss ihres Studiums verlassen. Im Jahr 2003 erfuhr das Haus in der Strempelstraße 13 nach einhelligem Beschluss der Klinik-, Fakultäts- und Universitätsleitung und einer würdigen Feier mit der Benennung in Klinik und Polikliniken für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde „Hans Moral“ eine angemessene Namensgebung. Mit ihr fanden die herausragenden Leistungen Hans Morals, die ihnen gebührende Anerkennung. Ein historischer Höhepunkt war im Jahr 2007 das Jubiläum aus Anlass von 125 Jahre Studium der Zahnmedizin und 100 Jahre Zahnklinik an der Universität Rostock. Der Festakt (Abb. 18) hatte durch die Anwesenheit des Bildungsministers Tesch, wie dieser als Vertreter der Landesregierung betonte, eine besondere Symbolik 84 und hinterließ damit nicht zuletzt einen optimistischen Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der Zahnmedizin in Rostock.

Abb. 18  2007 – Studiengang und Klinik feiern Jubiläum (Norddeutsche Neueste Nachrichten vom 30. November 2007).

Anmerkungen 1

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Hasselfeld, Werner: Die Entwicklung der Zahnheilkunde in Mecklenburg und ihre amtliche Regelung, Med. Diss. Rostock 1934. Hahn, Peter Paul/Heckmann, Ursula/ Reumuth, Eberhart: Die historische Entwicklung und der gegenwärtige Stand der Stomatologie an der Universität Rostock, (unveröffentlichtes Manuskript) 1966, (UAR), Med. Fak. 1763, S. 3. Andrä, Armin: Vom Barbieramt bis zur Sektion Stomatologie, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Rostock, Universität Rostock 1990, Heft 15, S.  5 – 12.

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Medizinalordnung und Bildung der Medizinalkommission Rostock, 18. Februar 1830, LHAS. Peter, Uwe: Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in fünf politischen Systemen – 100 Jahre Kieferchirurgie in Rostock, Universitätsdruckerei Rostock 2007, S. 9. http://matrikel.uni-­rostock. de/id/200004545?_searcher=1b39ff58 – 511c-4446-be8b-­ f688d03f729b&_hit=4 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Regierungsblatt für Mecklenburg-­ Schwerin, Nr. 82, Jahrgang 1869.

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Hahn/Heckmann/Reumuth a. a. O., S. 5. 9 Hesse, Liselotte: Die Gebrüder Witzel im Dienste der Zahnheilkunde, Med. Diss. Köln 1954, S. 14 – 16. 10 Archiv Bernd Witzel, Bad Langensalza, Lauer, Hans: Zur Geschichte der Klinik für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde der Universität Marburg, S. 1 f. 11 Wolf, Gottfried: Der Zahnärztliche Verein für Mitteldeutschland, in: Die Mitteldeutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde zu Erfurt e. V., City Druck & Verlag Erfurt GmbH, Erfurt 2015, S. 37 – 39.

Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Universität

Zahnmedizin in Rostock: Eine lange und beinah gebrochene Tradition

12 Archiv Bernd Witzel, Bad Langensalza, Lebenslauf Anton Witzels, S. 1. 13 UAR: Studentenakte Witzel, Anton, Brief des Vaters mit der Bitte um nachträgliche Immatrikulation vom 19. Dezember 1881. 14 UAR: Studentenakte Witzel, Anton, handschriftliche Notiz des Rektors, Prof. Dr. Friedrich Merkel, zur Immatrikulation Anton Witzels vom 15. Dezember 1881. 15 Matrikelportal der Universität Rostock, Immatrikulation von Anton Witzel WS. 1881. 16 Hesse a. a. O., S. 68. 17 Lauer a. a. O., S. 4. 18 Archiv Bernd Witzel, Bad Langensalza, Lebenslauf Anton Witzels, S. 2. 19 Witzel, Anton: Die Behandlung wurzelkranker Zähne mit Jodkristallen und Jodoform, Med. Diss. Marburg 1921. 20 Regierungsblatt für das Großherzogtum Mecklenburg-­Schwerin, Nr. 21, Jahrgang 1889. 21 Gesuch der Universität Rostock an die Großherzogliche Regierung vom 16. Februar 1906, LHAS. 22 UAR: Personalakte Reinmöller, ­Johannes, Ernennung zum Lektor vom 3. Juni 1907. 23 Peter a. a. O., S. 23 f. 24 UAR: Personalakte Reinmöller, Johannes, MD 26 07/08 Habilitationsverfahren. 25 UAR: Personalakte Reinmöller, ­Johannes, Schreiben an den Dekan vom 16. Januar 1909 zur Rückgabe des Lektorats. 26 UAR Med. Fak.: Zahnklinik 1910 – 1938, Schreiben vom Ministerium an den Dekan zwecks Venia Legendi an Johannes Reinmöller. 27 Regierungsblatt für das Großherzogtum Mecklenburg-­Schwerin, Nr. 14, Jahrgang 1909, Schwerin am 20. April 1909. 28 Lauer a. a. O., S. 5. 29 LHAS 1509: Bestallung Reinmöllers zum a. o. Professor, 31. Dezember 1910. 30 UAR: Personalakte Reinmöller, Johannes, Brief des Dekans vom 18. April 1917 an das Großherzogliche Ministerium. 31 UAR: Personalakte Moral, Hans, Verleihung des Titels „Professor“ durch den Großherzog am 16. Juli 1917. 32 Schwanewede, Heinrich von/Andrä, Armin: Die Entwicklung des ersten

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deutschen Lehrstuhls für Mund- und Zahnkrankheiten an der Universität Rostock, in: Traditio et Innovatio (2010), Heft 2, S. 51 – 53. UAR: Personalakte (Beilage) Reinmöller, Johannes, Neue Promotionsordnung vom 3. Januar 1920. Andrä, Armin/von Schwanewede, Heinrich: Vom Barbieramt zur modernen Klinik – Ein Beitrag zur Geschichte der Zahnheilkunde an der Universität Rostock, Bd. 1, 1. Auflage, Ingo Koch Verlag Rostock 2008, S. 96 f. UAR Med. Fak.: 212 (Zahnklinik 1910 – 1938): Schreiben des Regierungsbevollmächtigten an Rektor und Konzil vom 2. Oktober 1920. UAR: Personalakte Moral, Hans, Amtseid Morals als außerordentlicher Professor vom 4. November 1920. UAR MD 200/24: Ehrenpromotion Morals zum Dr. med. dent. Schwanewede, Heinrich von: Hans Moral, Sonderausgabe, 1. Auflage, Ingo Koch Verlag Rostock 2008, S. 22. UAR: Personalakte Moral, Hans, Teil II, Abschrift des Briefes des Regierungskommissars Friedrich Hildebrandt an Moral vom 5. April 1933. UAR: Personalakte Moral, Hans, Teil II, Schreiben Morals an Prof. Elze vom 22. Juli 1933. UAR: Personalakte Moral, Hans, Teil II, Aktennotiz des Regierungsbevollmächtigten der Universität Rostock, Dr. Siegfried, vom 5. August 1933 sowie Schreiben des Rektors an das Ministerium für Unterricht zum Tod Hans Morals. UAR Med. Fak.: 220 (Studium der Zahnmedizin 1906 – 1944): Schreiben Morals an den Dekan der Medizinischen Fakultät vom 17. Mai 1930 zur Raumnot in der Klinik. UAR: Personalakte Reinmöller, Matthäus, Schreiben des Ministeriums an den Regierungsbeauftragten der Universität vom 28. August 1933 mit Genehmigung der Wiederbesetzung der ordentlichen Professur. UAR: Personalakte Reinmöller, Matthäus, Bestallung zum ordentlichen Professor mit Datum vom 14. November 1933. Rostocker Anzeiger, Wirtschaftsblatt für Mecklenburg, Vorpommern, Prignitz, Nr. 124 vom 30. Mai 1938, 58. Jahrgang, Rundgang durch Rostocks neue Zahnklinik.

Heinrich von Schwanewede

46 Ebd. 47 Zimmermann, Jochen: Zur Geschichte der Zahnheilkunde in Rostock, in: Zahnärztliche Rundschau 67 (1958) Heft 9, S. 201 f. 48 UAR: Personalakte Reinmöller, Matthäus, Entnazifizierungsangelegenheit, Bescheid der Landesentnazifizierungskommission. 49 Zimmermann a. a O., S. 203. 50 Ebd. 51 Hahn/Heckmann/Reumuth a. a. O., S. 10. 52 UAR: Personalakte Herfert, Oskar, Ernennungsurkunde zum Professor mit Lehrauftrag vom 10. August 1955. 53 UAR: Personalakte Herfert, Oskar, Ernennung Herferts zum Klinikdirektor durch den Rektor vom 12. September 1955. 54 Andrä, Armin/von Schwanewede, Heinrich: Vom Barbieramt zur modernen Klinik – Ein Beitrag zur Geschichte der Zahnheilkunde an der Universität Rostock, Bd. 2, 1. Auflage, Ingo Koch Verlag, Rostock 2011, S. 42 f. 55 UAR: Personalakte Herfert, Oskar, Ernennung zum Fachrichtungsleiter 1957 und Berufung zum Professor mit Lehrstuhl 1959. 56 UAR: Personalakte Herfert, Oskar, Teil II, Brief Herferts an Prof. Dr. Mehlan vom 2. Oktober 1960. 57 UAR: Personalakte Reumuth, Eber­ hart, Schreiben Herferts vom 2. April 1957 an Prof. Dr. Dr. Schulze zwecks Ernennung Reumuths. 58 UAR: Personalakte Reumuth, Eber­ hart, Schreiben des Stellvertreters des Staatssekretärs Tschersich vom 7. Juli 1960 an Reumuth. 59 UAR: Personalakte Reumuth, Eber­ hart, Schreiben des Stellvertreters des Staatssekretärs Tschersich vom 17. Mai 1961 an den Rektor der Universität Rostock. 60 UAR: Personalakte Reumuth, Eber­ hart, Schreiben des Stellvertreters des Staatssekretärs vom 28. August 1963 an Reumuth zwecks Ernennung zum Professor mit Lehrstuhl. 61 UAR Med. Fak.: 1775 Stomatologische Klinik, Parodontologische Abteilung 1963 – 1965. 62 Ministerium für Gesundheitswesen der DDR, Verfügungen und Mitteilungen, Nr. 3 vom 14. Februar 1983. 63 UAR Med. Fak.: 3. Hochschulreform.

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Zahnmedizin in Rostock: Eine lange und beinah gebrochene Tradition

64 Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen, Gesetzblatt der DDR, 1968. 65 UAR: Personalakte Andrä, Armin, Wahl zum Dekan am 22. September 1977. 66 UAR Med. Fak.: 1762 Gründungsurkunde „Sektion Stomatologie“ vom 20. August 1983. 67 UAR: Schwanewede, Heinrich von, Berufung zum ordentlichen Professor 1984. 68 UAR Med. Fak.: 1761 Arbeitsgemeinschaft „Rehabilitation der Spaltträger“. 69 Andrä, Armin/Neumann, Hans-­Joachim: Lippen-­Kiefer-­ Gaumenspalten. Ätiologie, Morphologie, Klinik, Komplexe Rehabilitation, 1. Auflage Johann Ambrosius Barth Verlag, Leipzig 1989. 70 Gedenkfeier zur 50. Wiederkehr der Eröffnung der Klinik in der Strempel­str. 71 BArch DR3 B 5627: Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR, Berufungsakte Grabowski, ­Rosemarie.

72 Andrä/von Schwanewede a. a. O., S. 172. 73 Schreiben des Dekans der Medizinischen Fakultät, Prof. Dr. Gottfried Benad, an alle Direktoren der Kliniken und Institute sowie anderer selbstständiger Einrichtungen vom 5. November 1991. 74 Ebd. 75 Schreiben des Rektors der Universität Rostock, Prof. Dr. Gerhard Maeß, zur Abberufung der Direktoren der Kliniken, Institute und selbstständigen Einrichtungen an der Medizinischen Fakultät vom 11. November 1991. 76 Protokoll der Wahl zum Geschäftsführenden- und Stellvertretenden Geschäftsführenden Direktor der Klinik und Polikliniken für ZMK vom 19. November 1991. 77 Mitteilung des Vorsitzenden der Ehrenkommission der Universität Rostock vom 27. Juni 1991. 78 Information des Dekans der Medizinischen Fakultät über die Verordnung zur Durchführung der Überleitung zum HRG-Professor vom 21. Mai 1991.

79 Information des Dekans der Medizinischen Fakultät zum Entwurf der Übernahmerichtlinien für die Hochschullehrer an den Hochschulen des Landes Mecklenburg-­Vorpommern vom 10. März 1992. 80 Wissenschaftsrat, Empfehlungen zur Hochschulmedizin in den neuen Ländern und Berlin, Drucksache 406/91, Köln, 27. September 1991. 81 Kabinettsvorlage vom 8. November 1994. 82 Rostocker Zahnmedizin abgemeldet, in: Deutsche Presseagentur (dpa) Schwerin, Rostock vom 26. Juni 1997. 83 Wildenhain, Günther: Aus dem Berufsleben eines Mathematikers – Forschung, Lehre und Hochschulpolitik in zwei Gesellschaftssystemen, Forum-­Reihe Verlag Deutscher Hochschulverband, Bonn 2017. 84 Tesch, Henry: Grußworte in: 125 Jahre Studium der Zahnmedizin – 100 Jahre Zahnklinik an der Universität Rostock, Rostocker Universitätsreden, Neue Folge, Heft 21 Universitätsdruckerei Rostock 2008, S. 21 – 26.

Literaturverzeichnis Andrä, Armin: Vom Barbieramt bis zur Sektion Stomatologie, in: Beiträge zur Geschichte der Universität Rostock, Universität Rostock 1990, Heft 15, S. 5 – 12. Andrä, Armin/von Schwanewede, Heinrich: Vom Barbieramt zur modernen Klinik – Ein Beitrag zur Geschichte der Zahnheilkunde an der Universität Rostock, Bd. 1, 1. Auflage. Ingo Koch Verlag, Rostock 2008, S. 96 – 97. Andrä, Armin/von Schwanewede, Heinrich: Vom Barbieramt zur modernen Klinik – Ein Beitrag zur Geschichte der Zahnheilkunde in Rostock, Bd. 2, 1. Auflage. Ingo Koch Verlag, Rostock 2011, S. 42 – 43. Hahn, Peter Paul/Heckmann, Ursula/Reumuth, Eberhart: Die historische Entwicklung und der gegenwärtige Stand der Stomatologie an der Universität Rostock, (unveröffentlichtes Manuskript) 1966, (UAR ), Med. Fak. 1763. Hasselfeld, Werner: Die Entwicklung der Zahnheilkunde in Mecklenburg und ihre amtliche Regelung, Med. Diss. Rostock 1934. Hesse, Liselotte: Die Gebrüder Witzel im Dienste der Zahnheilkunde, Med. Diss. Köln 1954, S. 14 – 16. Peter, Uwe: Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde in fünf politischen Systemen – 100 Jahre Kieferchirurgie in Rostock. Universitätsdruckerei Rostock 2007, S. 9.

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Schwanewede, Heinrich von/Andrä, Armin: Die Entwicklung des ersten deutschen Lehrstuhls für Mund- und Zahnkrankheiten an der Universität Rostock, in: Traditio et Innovatio (2010) Heft 2, S. 51 – 53. Tesch, Henry: Grußworte in: 125 Jahre Studium der Zahnmedizin – 100 Jahre Zahnklinik an der Universität Rostock, Rostocker Universitätsreden, Neue Folge, Heft 21 Universitätsdruckerei Rostock 2008, S. 21 – 26. Wildenhain, Günther: Aus dem Berufsleben eines Mathematikers – Forschung, Lehre und Hochschulpolitik in zwei Gesellschaftssystemen, Forum-­Reihe Verlag Deutscher Hochschulverband, Bonn 2017, S. 233 – 239. Witzel, Anton: Die Behandlung wurzelkranker Zähne mit Jodkristallen und Jodoform, Med. Diss. Marburg 1921. Wolf, Gottfried: Der Zahnärztliche Verein für Mitteldeutschland, in: Die Mitteldeutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde zu Erfurt e. V., City Druck & Verlag Erfurt GmbH, Erfurt 2015, S. 37 – 39. Zimmermann, Jochen: Zur Geschichte der Zahnheilkunde in Rostock, in: Zahnärztliche Rundschau 67 (1958) Heft 9, S. 201 – 204.

Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Universität

Aktuelle Einblicke

Heinrich von Schwanewede

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Die Medizinische Fakultät Rostock 2018 Emil C. Reisinger, Attila Altiner, Bernd J. Krause, Robert Mlynski, Wiebke Schlensog, Katrin Borowski, Annett Müller, Harald Jeguschke Mit dem Mauerfall am 9. November 1989 und der darauf folgenden politischen Wende wurden auch für die Universitätsmedizin Rostock die Weichen für das neue Jahrtausend gestellt. Seitdem definiert das Landeshochschulgesetz Mecklenburg-Vorpommern die Strukturen der Medizinischen Fakultät/Universitätsmedizin. Die Aufarbeitung der Zeit um und nach der Wende bedarf im geschichtlichen Kontext einer zeitlichen Schonfrist, die Bewertung ist dann vorzunehmen, wenn handelnde Personen nicht mehr tangiert werden.

Gremien der Universitätsmedizin Der Aufsichtsrat beschließt über die betrieblichen Ziele der Universitätsmedizin und überwacht die Geschäftsführung des Vorstandes. Er trägt dafür Sorge, dass die Universitätsmedizin die ihr zur Gewährleistung von Forschung, Lehre und Krankenversorgung obliegenden Aufgaben erfüllt. Dem Vorstand der Universitätsmedizin gehören laut LHG 2011 an: der Wissenschaftliche Vorstand, der Ärztliche Vorstand, der Kaufmännische Vorstand, der Pflegevorstand und ein Mitglied der Hochschulleitung mit beratender Stimme. Der Wissenschaftliche Vorstand ist für die Angelegenheiten in Forschung und Lehre zuständig, soweit nicht die Zuständigkeit der Fachbereichsleitung oder des Fachbereichsrates gegeben ist. Der Ärztliche Vorstand ist für die Organisation der medizinischen Angelegenheiten der Universitätsmedizin zuständig. Der Kaufmännische Vorstand ist für die wirtschaftlichen und administrativen Angelegenheiten der Universitätsmedizin zuständig. Der Pflegevorstand ist für die Organisation des Pflegedienstes sowie für die Weiterbildung der Pflegeberufe verantwortlich. Das Mitglied der Hochschulleitung hat im Vorstand die Belange der Universität als Ganzes zu sichern. Organe der Universitätsmedizin für den Bereich Forschung und Lehre sind der Fakultätsrat und die Fakultätsleitung. Der Fakultätsrat ist zuständig für den Beschluss von Ordnungen der Fakultät, die Entscheidung über grundsätzliche Angelegenheiten von Studium und Lehre sowie für die sonstigen im Landeshochschulgesetz genannten Angelegenheiten. Im Fakultätsrat verfügt die Statusgruppe der Professoren über zwölf Sitze, die Statusgruppe der akademischen Mitarbeiter über vier Sitze, die Studierenden über vier Sitze und das sonstige Personal über zwei Sitze. Für alle übrigen Angelegenheiten für den Bereich Forschung und Lehre ist die Fakultätsleitung zuständig. Das sind insbesondere folgende Aufgaben: Erstellung des den Bereich Forschung und Lehre betreffenden Beitrages

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Die Medizinische Fakultät Rostock 2018

Aktuelle Einblicke

zum Wirtschaftsplan, zum Jahresabschluss, zum Lagebericht und zum Voranschlag des Landeshaushalts, insbesondere der zugewiesenen Stellen und Mittel, der Aufstellung von Grundsätzen für die leistungsorientierte Verteilung der Haushaltsmittel, der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der Gleichstellung von Frauen und Männern. Die Fakultätsleitung und der Fakultätsrat werden in ihren Entscheidungsfindungen durch die Forschungskommission, die Strukturkommission, die Kommission für Studium und Lehre sowie die Promotions- und die Habilitationskommission unterstützt. Die Fakultätsleitung besteht aus dem Dekan (vom Aufsichtsrat zum Wissenschaftlichen Vorstand bestellt), dem Studiendekan, dem Prodekan für Forschung und Wissenschaftsentwicklung sowie dem Prodekan für Haushalt, Planung und Struktur. Die Mitglieder der Fakultätsleitung sind Hochschullehrer/innen im Sinne des Landeshochschulgesetzes, also berufene Professorinnen und Professoren. Sie werden durch den Fakultätsrat gewählt. Für den Studiendekan haben die studentischen Vertreter des Rates das Vorschlagsrecht. Im Oktober 2018 wurden der Dekan, die Prodekane und der Studiendekan turnusmäßig neu gewählt.

Finanzen und Personal Der Bereich Forschung und Lehre hat auch das Geschäftsjahr 2018 mit einem positiven Ergebnis abgeschlossen. Aus dem Landeszuschuss wurden im Jahr 2018 434,8 Haushaltsstellen für Forschung und Lehre finanziert, davon 245 Ärzte und Wissenschaftler, 169 Nichtwissenschaftler und 20 Nichtwissenschaftler in der Verwaltung der Fakultät (Dekanat, Studiendekanat, Prodekanate) und den Bibliotheken. Für die leistungsorientierte Verteilung der Haushaltsmittel (LOM ) werden u. a. Publikationen, eingeworbene Drittmittel und angemeldete Patente herangezogen.

Bauliche Situation Die Universitätsmedizin Rostock nutzt die vom Land Mecklenburg-­Vorpommern zur Verfügung gestellten Grundstücke und Gebäude. Sie ist derzeit auf acht Standorte verteilt und besitzt teilweise erheblich sanierungsbedürftige Bestandsgebäude. Der Bereich Forschung und Lehre nutzt ca. 25 % dieser Flächen (ca. 25.000 m²). Nach einer Zielflächenanalyse des Jahres 2012 wurde vom Land Mecklenburg-­Vorpommern der Bedarf weiterer Forschungsflächen anerkannt. So wurde am 22. Oktober 2018 der Grundstein für das Forschungs- und Lehrgebäude BIOMEDICUM mit rd. 3.000 m² Nutzfläche am Standort Schillingallee gelegt (Abb. 1, 2). Die Finanzierung des BIOMEDICUM erfolgt aus dem Hochschulbaukorridor, den jährlichen Zuweisungen aus dem Landeshaushalt, über EFRE -Förderung und aus Hochschulpaktmitteln. Die Fertigstellung ist für 2021 geplant. Das moderne Gebäude mit Laboratorien, Lehrräumen und einer im Land einzigartigen Simulationsarena wird die Studienbedingungen für den ärztlichen und wissenschaftlichen Nachwuchs verbessern und ermöglichen, dass Forschung und Lehre unmittelbar auch den Patienten zugutekommen. Mit dem Neubau eines Forschungs- und Lehrgebäudes am Standort Gertrudenstraße soll die Konzentration der vorklinischen Institute am „Campus Vorklinik“ vorangetrieben werden, die eine Optimierung der Lehrveranstaltungen im vorklinischen Studienabschnitt ermöglichen soll und die Reaktion auf die stetig steigende Zahl an Studierenden darstellt.

Reisinger | Altiner | Krause | Mlynski | Schlensog | Borowski | Müller | Jeguschke

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Aktuelle Einblicke

Mit der Inbetriebnahme des Neubaus der Zentralen Medizinischen Funktionen (ZMF ), die für das Jahr 2021 geplant ist, besteht auch die Möglichkeit, die räumlich angespannte Situation in Forschung und Lehre zu verbessern, indem diagnostische Bereiche aus dem Institutsgebäude Schillingallee 70 in das ZMF verlegt werden und das 70 Jahre alte Institutsgebäude saniert und die weitere Nutzung geplant werden kann.

Lehre Im Jahr 2018 waren 2.360 Studierende an der Universitätsmedizin in den Studiengängen Humanmedizin, Zahnmedizin und Medizinische Biotechnologie eingeschrieben. Zusätzlich haben sich im Bachelorstudiengang Biomedizinische Technik, der als gemeinsamer Studiengang mit der Fakultät für Maschinenbau und Schiffstechnik der Universität Rostock betrieben wird, zum WS 2017/18 33 Studienanfänger immatrikuliert. Der Bachelorstudiengang Medizinische Biotechnologie ist nach 13-jährigem Bestehen einer der gefragtesten Studiengänge an der Universität Rostock. Insgesamt beendeten im Jahr 2017 252 Studierende einen der Studiengänge an der Universitätsmedizin Rostock. Die Ausbildung der Studierenden im Praktischen Jahr (PJ ) erfolgt außer im Universitätsklinikum in den 15 Akademischen Lehrkrankenhäusern, den 23 PJ -Lehrpraxen für Allgemeinmedizin und im Rahmen der PJ -Mobilität an anderen Universitäten. Im Jahr 2017 begannen 241 Studierende der Universitätsmedizin Rostock mit dem Praktischen Jahr. 48 Studenten anderer Universitäten nutzten die Möglichkeit, PJ -Tertiale an der Universitätsmedizin Rostock oder deren Lehrkrankenhäusern abzuleisten. Die Universitätsmedizin pflegt zahlreiche internationale Kooperationen im Bereich der studentischen Ausbildung. Im Rahmen des ERASMUS -Programms existieren bilaterale Verträge mit 23 Partnern bzw. Ländern. Darüber hinaus bestehen enge Kooperationen und ein Studentenaustausch mit der Brown-­University in Providence (USA ), mit der East Tennessee State University (USA ), mit der Universität La Plata (Argentinien), den Universitäten Juiz de Fora und Minas Gerais (Brasilien), zwei Universitäten in Bogota

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Die Medizinische Fakultät Rostock 2018

Abb. 1  Grundsteinlegung für das Forschungs- und Lehrgebäude BIOMEDICUM (von links nach rechts: Mathias Brodkorb, ehemaliger Finanzminister Mecklenburg-­ Vorpommerns, Prof. Wolfgang Schareck, Rektor der Universität Rostock, Prof. Emil C. Reisinger, Dekan der UMR und wissenschaftlicher Vorstand, Uwe Sander, im BBL M-V verantwortlich für den Hochschulund Klinikbau). Abb. 2  Die Zeitkapsel, in diesem Fall passenderweise eine Kartusche der Rohrpost, wie sie in der Universitätsmedizin Rostock auf dem Campus Schillingallee verwendet wird, wird vom ehemaligen Finanzminister Mathias Brodkorb in den Grundstein des neuen Gebäudes gelegt (von links nach rechts: Harald Jeguschke, Kaufmännischer Vorstand der UMR, Prof. Emil C. Reisinger, Mathias Brodkorb, Uwe Sander, Prof. Wolfgang Schareck).

Aktuelle Einblicke

(Pontificia Universidad Javeriana, Fundaciòn Universitaria de Ciencias de la Salud, Kolumbien), der Medizinischen Fakultät der Universität Concepción (Chile) und mit der Universität Santiago de Cuba (Kuba). Neue Konzepte zur Stärkung der kompetenzorientierten Wissensvermittlung für Studierende und auch für Lehrende werden im klinischen Studienabschnitt der Humanmedizin weiterentwickelt. Jährlich werden zwei kompetenzorientierte Prüfungen (OSCE : Objective Structured Clinical Examination) mit verschiedenen Fach-­Stationen für Studierende des 8. und 10. Semesters durchgeführt, wöchentliche PJ -Studientage werden interdisziplinär und von Dozenten unterschiedlicher Standorte gestaltet, und Vertreter der Lehrkrankenhäuser unterstützen nach dem Besuch von M3-Prüferworkshops die Universitätsmedizin Rostock bei der Durchführung der mündlichen Staatsexamensprüfungen. Zwei speziell geschulte Medizindidaktiker und fünf Absolventen des Master of Medical Education (MME ) schulen Tutoren und vermitteln Lehr- und Untersuchungstechniken im Rahmen des Peer-­Teachings. Ausgehend vom Rostocker Mediziner Trainingszentrum (RoMeTz) werden auch Simulationspatienten in der Ausbildung und in speziellen Prüfungsformaten eingesetzt. Beim jährlichen Rostocker „Tag der Lehre“ entstand 2015 eine enge Kooperation zwischen den Universitätsmedizinen Rostock und Greifswald auf dem Gebiet der medizindidaktischen Weiterbildung. Eine gemeinsame Arbeitsgruppe bietet nun Workshops für Lehrende an beiden Standorten im MedizinDidaktikNetz (MDN ) an. Im Rahmen der Erhöhung der Studierendenzahl in der Rostocker Zahnmedizin und in Hinblick auf die Novellierung der Zahnärztlichen Approbationsordnung wurde ein Konzept für die Erweiterung der Ressourcen in der Zahnmedizin entwickelt. Das Konzept beinhaltet umfangreiche Umbaumaßnahmen der Hörsäle, die Erweiterung des Vorklinischen Labors und die Einrichtung eines weiteren Klinischen Kursraumes.

Forschung: Schwerpunkte 2018 Das Zusammenwirken von Medizin und Technik stellt den Wettbewerbsvorteil des Standortes Rostock und das Bindeglied zwischen der Universitätsmedizin und der Universität Rostock dar. Dabei sind die klinische Anwendung und angewandte Forschung als Ideenund Impulsgeber für die Grundlagenforschung zu sehen. Etwa 240 Professorinnen und Professoren, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an über 60 Kliniken, Instituten und Zentren nehmen jährlich rund 15 Mio. € Drittmittel ein. Ohne ausreichende Finanzierung der Grundlagenforschung aus dem Landeszuschuss wären künftig Einwerbungen von großen Verbundprojekten wie zum Beispiel RESPONSE mit 45 Mio. Euro, dem Sonderforschungsbereich (SFB ) Elaine oder die INSEMA -Studie, aber auch Beteiligungen, wie die am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in der Helmholtz-­Gemeinschaft (DZNE ) oder an der Fraunhofer Arbeitsgruppe „Extrakorporale Immunmodulation“ nicht möglich. An der Universitätsmedizin waren 2017 ca. 500 laufende Forschungsprojekte, davon acht EU - und 41 DFG -Projekte sowie 80 mit Bundesmitteln geförderte Projekte mit einem Gesamtfinanzierungsvolumen von ca. 58 Mio. € vertraglich gebunden. Dieses Finanzierungsvolumen hat sich gegenüber den Vorjahren erhöht und ist u. a. auf die erfolgreiche Einwerbung des SFB Elaine, die Bewilligung der zweiten Förderphase der von der Deutschen Krebshilfe finanzierten INSEMA -Studie und weitere Förderbescheide im Rahmen des RESPONSE -Projektes zurückzuführen.

Reisinger | Altiner | Krause | Mlynski | Schlensog | Borowski | Müller | Jeguschke

418

Aktuelle Einblicke

Zur Stärkung des Forschungsschwerpunkts Regenerative Medizin wurde im Herbst 2015 an der Universitätsmedizin ein Profilbildungsprozess initiiert. Dieses Bestreben steht im Einklang mit Empfehlungen des Wissenschaftsrats vom 21. Oktober 2016, in denen die Bildung von Profilbereichen als „Indikatoren für die Leistungs- und Reformfähigkeit einzelner Standorte wie auch der deutschen Universitätsmedizin insgesamt“ betrachtet wird. Die folgenden, vom Fakultätsrat bestätigten drei Schwerpunkte resultierten aus dem Profilbildungsprozess, bauen auf bestehenden interdisziplinären Strukturen, Kooperationen und Drittmittelprojekten auf und integrieren den bisherigen Schwerpunkt Regenerative Medizin.

Biomedizintechnik und Biomaterialien Das übergeordnete Ziel ist die Erforschung und Realisierung neuartiger Therapieansätze in der Regenerativen Medizin. So kann der Schwerpunkt in enger Kooperation unterschiedlicher wissenschaftlicher Einrichtungen und regionaler sowie überregionaler Firmen zur Lösung wesentlicher medizinischer Herausforderungen beitragen, die mit der zunehmenden Alterung der Gesellschaft einhergehen.

Neurowissenschaften Ziel dieses transdisziplinären Profilschwerpunkts ist die Erforschung von Resilienzfaktoren bei Neurodegeneration zur Implementierung von innovativen therapeutischen Konzepten für neuroregenerative Prozesse. Durch die enge Verknüpfung von Grundlagenforschung mit versorgungsmedizinischen Bedarfen, den Einbezug ingenieurswissenschaftlicher und psychosozialer Forschung und die enge Vernetzung mit dem DZNE bestehen bereits wesentliche Grundlagen für diesen Schwerpunkt.

Onkologie Im Zentrum stehen die zielgerichtete Intervention bei Tumoren und die Prädiktion der erreichbaren Effekte auf subzellulärer, zellulärer und systemischer Ebene. Starke Publikationsleistungen, Drittmittelakquisition und interdisziplinäre Integration verschiedener Fachrichtungen bilden die Grundlage für diesen Schwerpunkt. Beispielsweise steht im Bereich der medizinischen Bioinformatik die Prädiktion optimaler, synergistisch wirksamer Substanzen im Vordergrund. Seit 2018 vergibt die Universitätsmedizin im Rahmen des Strukturprogramms „Clinician Scientist“ 15 ärztliche Weiterbildungsstellen. Das Clinician Scientist Programm umfasst ein Weiterbildungscurriculum zum Facharzt eines klinischen Faches und eine durchgehende wissenschaftliche Qualifizierung u. a. mit einer Forschungszeit von ca. zwei Jahren zur Durchführung eines eigenen Forschungsprojektes in Abstimmung mit einem klinischen und einem nichtklinischen Mentor. Zur Etablierung eines Clinician Scientist Programmes an der UMR wurde 2018 eine Rostock Academy for Clinicians Scientists (RACS ) errichtet. Die Universitätsmedizin unterstützt drei der vier Profillinien der Universität Rostock – „Leben, Licht & Materie“, „Altern des Individuums und der Gesellschaft“ und „Wissen – Kultur – Transformation“ – ganz wesentlich durch die Einbringung von eigenen Forschungsthemen, von Forschungsprojekten und von Forschungsgeldern. Ein herausragendes Beispiel eines neu eingeworbenen Verbundprojekts (Start: 1. 7. 2017) zur Stärkung zweier Forschungsschwerpunkte (Biomedizintechnik/Biomaterialien und

419

Die Medizinische Fakultät Rostock 2018

Aktuelle Einblicke

Neurowissenschaften) ist der DFG -Sonderforschungsbereich 1270 „Elektrisch aktive Implantate – Elaine“, der von Wissenschaftlern der Fakultät für Informatik und Elektrotechnik und der Medizinischen Fakultät auf Basis des Graduiertenkollegs „Welisa“ eingeworben wurde. Fünf Einrichtungen der UMR zusammen mit Einrichtungen der Universitäten Rostock, Greifswald, Erlangen und Leipzig erhalten eine Zuwendung von insgesamt über 11 Mio. €. Das Konsortium RESPONSE  – Partnerschaft für Innovation in der Implantattechnologie, unter Führung des Instituts für Biomedizinische Technik, koordiniert eines der zehn herausragenden Forschungskonsortien, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung bis 2020 mit insgesamt 500 Mio. € gefördert werden. Auf RESPONSE entfallen 45 Mio. €. Die 2016 angelaufenen Forschungsvorhaben widmen sich vor allem der Erarbeitung medizinisch relevanter Therapiekonzepte mit innovativen Implantaten. Das Ziel ist eine Entlastung des Gesundheitssystems bei der Behandlung von Volkskrankheiten und der Versorgung multimorbider Patienten. Die Forschung orientiert sich am medizinischen Bedarf, berücksichtigt die Herausforderungen der demografischen Entwicklung und leistet wichtige Beiträge für eine bessere Patientenversorgung und mehr Lebensqualität bis in das hohe Alter. Mitte 2017 wurde die zweite Förderphase der von der Deutschen Krebshilfe finanzierten INSEMA -Studie (Intergroup-­Sentinel-­Mamma: Comparison of axillary sentinel lymph node biopsy versus no axillary surgery in patients with early-­stage invasive breast cancer and breast-­conserving surgery: a randomized prospective surgical trial) bewilligt. Die INSEMA -Studie ist mit einem Gesamt-­Förderrahmen von 4,588 Mio. € eines der größten von der Deutschen Krebshilfe finanzierten Studienprojekte. Die Leitung und die Verantwortung zur Durchführung der Studie liegt bei der Universitätsmedizin Rostock. Das Ziel der Studie ist zu zeigen, ob bei einem bis zu fünf Zentimeter großen Brustkarzinom bei unauffälligem Befund der Achselhöhle und geplanter brusterhaltender Therapie auf die Entnahme der Lymphknoten verzichtet werden kann. Ende 2017 konnten in Deutschland und Österreich an 156 Prüfzentren ca. 3.500 von 6.800 geplanten Patientinnen eingeschlossen werden. Darüber hinaus ist die Universitätsmedizin Rostock maßgeblich an mehreren Projekten der Landesexzellenzinitiative MV beteiligt. Ein besonderes wissenschaftliches Ereignis ist der jährliche Forschungsworkshop der Universitätsmedizin Rostock, der am 9. November 2018 zum neunten Mal stattgefunden hat und in jedem Jahr ein attraktives Leitthema besetzt. In diesem Jahr wurden Forschungsvernetzungen mit international renommierten Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland dargestellt, im letzten Jahr wurden Vertreter aller universitären und extrauniversitären Forschungseinrichtungen aus Mecklenburg-­ Vorpommern eingeladen, im Jahr davor standen wissenschaftliche Kooperationen mit der Wirtschaft im Vordergrund.

Forschungsergebnisse Die Einnahmen im wichtigen Bereich der DFG -Förderung wurden deutlich gesteigert, was auf erste Mittelzuflüsse im Rahmen des SFB Elaine, aber auch auf einen Zuwachs an bewilligten Sachbeihilfen infolge der Profilbildung der Medizinischen Fakultät zurückzuführen ist. Dazu kommen Leistungen von Fakultätsmitgliedern, wie die Beteiligung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen oder die Ansiedlung einer Fraunhofer-­Arbeitsgruppe für Extrakorporale Immunmodulation.

Reisinger | Altiner | Krause | Mlynski | Schlensog | Borowski | Müller | Jeguschke

420

Aktuelle Einblicke

Der Mittelwert der Impact-­Faktoren hat in den vergangenen vier Jahren kontinuierlich zugenommen (2015: 2,78, 2016: 3,00, 2017: 3,08, 2018: 3,09; Abb. 3). Dies ist Ausdruck einer höheren Qualität der publizierten Forschungsergebnisse und geht einher mit der Forderung der DFG nach mehr Qualität statt Quantität in der Wissenschaft. Für die kommenden Haushaltsjahre steht die Universitätsmedizin Rostock vor innovativen Herausforderungen im Bereich Forschung und Lehre, die mit einem erheblichen finanziellen Aufwand verbunden sind: • Weiterentwicklung des Profilbildungsprozesses, • Etablierung des „Clinician Scientist Programs“, • Einrichtung des Studienganges Intensivpflege, • Einrichtung eines gemeinsamen Studienganges „Medizinische Informationstechnologien“ zusammen mit der Fakultät für Informatik und Elektrotechnik der Universität Rostock, • Masterplan Medizinstudium 2020, • Änderung der Zahnärztlichen Approbationsordnung (voraussichtlich 2020), • bauliche Entwicklung der Forschungs- und Lehrflächen.

3.500

Wissenschaftliche Publikationen – Summe der Impactfaktoren 2.973

3.000

2.647 2.500

2.314

2.733

2.629

2.660

2016

2017

2.375

2.109 2.000

1.500

1.582

1.592

1.645

2006

2007

2008

1.800

1.923

1.350

1.000

500

0 2005

2009

2010

2011

2012

2013

2014

Abb. 3  Entwicklung der Impactfaktoren der wissenschaftlichen Publikationen.

421

Die Medizinische Fakultät Rostock 2018

2015

2018

Jahr

Anhänge

Reisinger | Altiner | Krause | Mlynski | Schlensog | Borowski | Müller | Jeguschke

422

Dekane der Medizinischen Fakultät 1 Vorname

Name

Rembertus (Rempert) Giltzheim (Gilsheim)

Zeitraum Dekan

Lebensdaten

Professur

um 1520

?–1532

Medizin

Matthäus

Röseler

nach 1557

1527/28 – 1569

Jura, Medizin

Gerhard

Nennius

1563

?–1566

Medizin und höhere Mathematik

M

Warenus

1581

Levinus

Battus

1579 und 1586/87, 1587

1545 – 1591

Medizin

Wilhelm

Lauremberg

1584/85, 1594, 1606

1547 – 1612

Medizin und höhere Mathematik

Heinrich

Brucaeus

1588/89

1530 – 1593

Medizin und höhere Mathematik

Johannes

Bacmeister (d. Ä.) 1602, 1606/07, 1623

1563 – 1631

Medizin

Jakob

Fabricius

1619, 1620/21, 1627, 1628, 1632, 1635

1576 – 1652

Medizin und höhere Mathematik

Johannes

Bacmeister (d. J.)

1658, 1667/68, 1670/71

1624 – 1686

Medizin und höhere Mathematik

Stephan

Schultetus

1647

1602 – 1654

Medizin und höhere Mathematik

Caspar

March

1664/65

1629 – 1677

Medizin und höhere Mathematik

Sebastian

Würdig (Wirdig)

1671

1613 – 1687

Medizin

Johann Ernst

Schaper

1695,1698/99,1701, 1705/06, 1712/13, 1714/15, 1720

1668 – 1721

Medizin

Wilhelm David

Habermann

1714 – 1715

Christoph Martin

Burchard

1718, 1719,1727, 1736, 1737, 1737/38

1680 – 1742

Medizin

Georg

Detharding

1718, 1723, 1725, 1726, 1729/30

1671 – 1747

Medizin und höhere Mathematik

Georg Christoph

Detharding

1739, 1741/42, 1743/44, 1746, 1747/48, 1749, 1753/54, 1754/55, 1756, 1759/1760

1699 – 1784

Medizin und höhere Mathematik

Medizin

Gustav Christian

Handtwig von

1747/48, 1755/56, 1757, 1758/59

1712(?)–1767

Medizin

Johann Bernhard

Quistorp

1752

1692 – 1761

Medizin

Christian Ehrenfried

Eschenbach

ab 1760

August

Schaarschmidt

1768/69 (Bützow)

1720 – 1791

Medizin

Samuel Gottlieb

von Vogel

1789 – 1790, 1791 – 1792, 1794 – 1795, 1797 – 1798, 1800 – 1801, 1803 – 1804, 1806 – 1807, 1808 – 1809, 1811 – 1812, 1814 – 1815, 1817 – 1818, 1820 – 1821, 1823 – 1824, 1825 – 1826, 1828 – 1829, 1831 – 1832, 1834 – 1835

1750 – 1837

Medizin

August Gottlob

Weber

1790/91, 1792/93, 1795/96, 1798/99, 1801/02, 1804/05,

1762 – 1802

Medizin

Wilhelm

Josephi

1793/94, 1796/97, 1799/1800, 1802/03, 1763 – 1845 1805/06, 1807/08, 1809/10, 1812/13, 1815/16, 1818/19, 1821/22, 1824/25, 1826/27, 1829/30, 1832 – 1833, 1836, 1838, 1841, 1843 – 1844

Medizin

Georg Heinrich

Masius

1813/14, 1816/17, 1819/20, 1820/23

Medizin

423

Medizin und niedere Mathematik

1771 – 1823

Dekane der Medizinischen Fakultät 

Anhänge

Vorname

Name

Zeitraum Dekan

Lebensdaten

Professur

Heinrich

Spitta

1827/28, 1830/31, 1833/34, 1837, 1839, 1841 – 1842, 1844 – 1845, 1848 – 1849, 1852 – 1853, 1857 – 1858

1799 – 1860

Medizin

Johann Karl Friedrich

Strempel

1839 – 1840, 1842 – 1843, 1845 – 1846, 1849 – 1850, 1853 – 1854

Medizin

Hermann

Stannius

1846 – 1847, 1851 – 1852, 1854 – 1855, 1858 – 1859, 1861 – 1862

Vergleichende und Pathologische Anatomie und Physiologie

Christian

Krauel

1847 – 1848, 1850, 1851

Karl Georg Lucas Christian

Bergmann

1855 – 1856, 1860 – 1861, 1862 – 1863

Gustav

von Veit

1856, 1859, 1863

Theodor

Thierfelder

Gustav

Simon

Franz

1800 – 1854

Medizin/Geburtshilfe Medizin/Anatomie

1824 – 1903

Medizin/Gynäkologie

1864, 1865, 1866, 1867, 1879 – 1880

1824 – 1904

Medizin/innere Medizin

1865

1824 – 1876

Medizin/Chirurgie und Augenheilkunde

von Winckel

1866, 1868

1837 – 1911

Medizin/Gynäkologie

Hermann

Aubert

1869 – 1870, 1880 – 1881, 1890 – 1891

1826 – 1892

Physiologie

Wilhelm

von Henke

1870

1834 – 1896

Medizin/Anatomie

Theodor

Ackermann

1871

1825 – 1896

Medizin/pathologische Anatomie und Pharmakologie

Wilhelm

Zehender von

1872 – 1873, 1881 – 1882, 1883, 1888 – 1889 1819 – 1916

Augenheilkunde

Franz

König

1873

1832 – 1910

Medizin/Chirurgie

Friedrich

Schatz

1874, 1882 – 1883, 1889 – 1890

1841 – 1920

Gynäkologie und Geburtshilfe

Friedrich

Merkel

1875 – 1876, 1883 – 1884

1845 – 1919

Medizin/Anatomie

Emil

Ponfick

1876

1844 – 1913

Medizin/pathologische Anatomie

Karl

Gaehtgens

1877

1839 – 1915

Medizin/Pharmakologie und Pharmakognosie

Friedrich

Trendelenburg

1878

1844 – 1924

Medizin/Chirurgie

Albert

Thierfelder

1879, 1884 – 1885, 1887 – 1888, 1891 – 1892, 1842 – 1908 1907

Medizin/pathologische Anatomie

Otto

Nasse

1883 – 1884, 1892 – 1893

1839 – 1903

Medizin/Pharmakologie und physiologischen Chemie

Otto

Madelung

1885 – 1886, 1893 – 1894

1846 – 1926

Medizin/Chirurgie

Albert

von Brunn

1886 – 1887, 1894 – 1895

1849 – 1895

Medizin/Anatomie

Rudolf

Berlin

1895 – 1896

1833 – 1897

Medizin/Augenheilkunde

Oskar

Langendorff

1896 – 1897, 1908

1853 – 1908

Medizin/Physiologie

Carl

Garré

1897 – 1898

1857 – 1928

Medizin/Chirurgie

Fedor

Schuchardt

1898 – 1899, 1908, 1909

1848 – 1913

Medizin/Psychiatrie und gerichtliche Medizin

Dietrich

Barfurth

1899 – 1900, 1908 – 1909

1849 – 1927

Medizin/Anatomie

Theodor

Axenfeld

1900 – 1901

1867 – 1930

Medizin/Augenheilkunde

Rudolf

Kobert

1901 – 1902, 1909 – 1910

1854 – 1918

Pharmakologie und physiologischen Chemie; Geschichte der Medizin und Pharmazie

Friedrich

Martius

1902, 1911, 1912 – 1913

1850 – 1923

Medizin/innere Medizin

Ludwig

Pfeiffer

1903, 1912

1861 – 1945

Medizin/Hygiene

Otto

Körner

1904 – 1905, 1915 – 1916

1858 – 1935

Medizin/Ohren-, Nasen-, Kehlkopf-­krankheiten

Wilhelm

Müller

1905 – 1906, 1913 – 1914

1855 – 1937

Chirurgie

Albert

Peters

1906 – 1907, 1914 – 1915

1862 – 1938

Augenheilkunde

Ernst

Schwalbe

1916 – 1917

1871 – 1920

allgemeine Pathologie und pathologische Anatomie

Hans

Winterstein

1917 – 1918

1879 – 1963

Physiologie

Karl

Kleist

1918 – 1919

1879 – 1960

Psychiatrie

Dekane der Medizinischen Fakultät

424

Anhänge

Vorname

Name

Zeitraum Dekan

Lebensdaten

Professur

Theodor

von Wasielewski

1919 – 1920

1868 – 1941

Hygiene

Paul

Trendelenburg

1920 – 1921

1884 – 1931

Pharmakologie

Hermann

Brüning

1920 – 1921

1873 – 1955

Kinderheilkunde

Max

Rosenfeld

1922 – 1923

1871 – 1956

Psychiatrie und Neurologie

Walter

Frieboes

1923 – 1924

1880 – 1945

Dermatologie und Histologie

Hans

Curschmann

1925 – 1926, 1946

1875 – 1950

Innere Medizin

Curt

Elze

1926 – 1927

1885 – 1972

Anatomie

Ernst

Frey

1927

1878 – 1960

Pharmakologie

Walther

Fischer

1928, 1945 – 1946

1882 – 1969

Anatomische Pathologie

Hans

Moral

1929 – 1930

1885 – 1933

Zahnheilkunde

Kurt

Poppe

1930 – 1931

1880 – 1960

Pathologie, Tierhygiene und Mikrobiologie

Friedrich Wilhelm

Fröhlich

1931 – 1932

1879 – 1932

Physiologie

Wilhelm

von Gazen (Gaza)

1932 – 1933

1883 – 1936

Chirurgie

Otto

Steurer

1933 – 1934

1893 – 1959

Otiatrie, Rhinologie und Laryngologie

Wilhelm

Comberg

1934 – 1937, 1956

1885 – 1958

Augenheilkunde Hygiene und Bakteriologie

Werner

Kollath

1937

1892 – 1970

Johann Carl

Lehmann

1937 – 1939

1885 – 1950

Chirurgie und Orthopädie

Kurt

Wachholder

1940 – 1941

1893 – 1961

Physiologie

Gustav

Haselhorst

1941 – 1944

1893 – 1955

Gynäkologie und Geburtshilfe

Ernst

Braun

1944 – 1945

1893 – 1963

Psychiatrie und Neurologie

Karl

Klinke

1945 – 1947

1897 – 1972

Kinderheilkunde

Hans-­Hermann

Schmid

1947/48, 1949/50, 1953 – 1955

1884 – 1963

Geburtshilfe und Gynäkologie

Walter

Hesse

1948/49

1894 – 1984

Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde

Peter

Holtz

1950, 1951

1902 – 1970

Pharmakologie

Robert

Mark

1951, 1952

1898 – 1981

Innere Medizin

Hans Hermann

Schmid

1953 – 1955

1884 – 1963

Gynäkologie und Geburtshilfe

Karl-­Heinz

Mehlan

1957 – 1960, 1962 – 1966

1916 – 2003

Sozialhygiene

Harald

Dutz

1960 – 1961

1914 – 2010

Innere Medizin

Alfred

Kaeding

1966 – 1969

1919 – 1985

Innere Medizin

Dietrich

Mücke

1969 – 1978

1920 – 2014

Biochemie

Günter

Naumann

1926 – 1991

Medizinische Mikrobiologie

Hartmut

Schill

1989 – 1990

1928 – 2015

Pathologie

Gottfried

Benad

1990 – 1996

*1932

Anästhesiologie und Intensivtherapie

Gerhard

Hennighausen

1996 – 2000

*1939

Pharmakologie und Toxikologie

Rudolf

Guthoff

2000 – 2004

*1948

Augenheilkunde

Gabriele

Nöldge-­ Schomburg

2004 – 2006

*1951

Anästhesiologie und Intensivtherapie

Emil Christian

Reisinger

seit 2006

*1958

Innere Medizin, Infektions- und Tropenmedizin

425

Dekane der Medizinischen Fakultät 

Anhänge

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

1

Onlinenachweise

Die Angaben sind folgenden Quellen entnommen: Catalogus Professorum Rostochiensium (http://cpr.uni-­ rostock.de/); Wandt 1962, 1963; Etwas von Gelehrten 1737 ff. (http://purl.uni-­ rostock.de/rosdok/ppn528859277); Hofmeister/Schäfer 1886 – 1922; Krabbe 1854; Grewolls 2011; Vorlesungsverzeichnisse der Universität Rostock 1615 – 1972. (http://rosdok. uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV). Die Liste der Dekane ist nicht vollständig und bedarf weiterer Recherchen.

Catalogus Professorum Rostochiensium. (http://cpr.uni-­ rostock.de/; letzter Aufruf 14. 04. 2019). Etwas von gelehrten Rostockschen Sachen (1737 ff. (http://rosdok.uni-­rostock.de/resolve/id/rosdok_ bundle_0000000005; letzter Aufruf 14. 04. 2019). Vorlesungsverzeichnisse der Universität Rostock 1615 – 1972. (http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/; letzter Aufruf 14. 04. 2019).

Literatur Grewolls, Grete: Wer war wer in Mecklenburg und Vorpommern. Das Personenlexikon. Hinstorff, Rostock 2011. Hofmeister, Adolph/ Schäfer, Ernst: Die Matrikel der Universität Rostock 1419 – 1830. 5 Bände und 2 Registerbände, Rostock, Schwerin 1886 – 1922. Band I (Mich. 1419–Mich. 1499), Band II (Mich. 1499–Ost. 1611), Band III (Ost. 1611– Mich. 1694), Band IV (Mich. 1694–Ost. 1789), Band V (Ost. 1789 – 30. Juni 1831), Band VI (Personen- und Ortsregister A-O), Band VII (Personen- und Ortsregister P–Z. Anhang: Sachregister). Krabbe, Otto: Die Universität Rostock im 15. und 16. Jahrhundert, Bd. 1. Adlers Erben, Rostock 1854. Wandt, Bernhard: Verzeichnis des Lehrkörpers der Universität Rostock. Bd. 1: 1419 – 1882. Diss. Universität Rostock, 1963. Wandt, Bernhard: Verzeichnis des Lehrkörpers der Universität Rostock. Bd. 2: 1882 – 1945. Diss. Universität Rostock, 1962.

Dekane der Medizinischen Fakultät

426

Abkürzungsverzeichnis AAUW American Association of University Women Abt. Abteilung ADB Allgemeine Deutsche Biographie AHR Archiv der Hansestadt Rostock AKG Auswertungs- und Kontrollgruppe ANS t Arbeitsgemeinschaft Nationalsozialistischer Studentinnen APS Archive of the American Philosophical Society, Philadelphia AU Abteilung Auskunft BA rch Bundesarchiv (Berlin) BBL Betrieb für Bau und Liegenschaften BRD Bundesrepublik Deutschland BS tU Die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes BV Bezirksverwaltung CIOMS Council for International Organizations of Medical Sciences CSF Cerebrospinal fluid (Gehirn-­Rückenmarks-­Flüssigkeit) DDR Deutsche Demokratische Republik DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft DGLN Deutsche Gesellschaft für Liquordiagnostik und klinische Neurochemie Dipl. Diplom DMSG Deutsche Multiplen Sklerose Gesellschaft DS t Deutsche Studentenschaft DZNE Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen in der Helmholtz-­Gemeinschaft d. Ä. der Ältere der Jüngere d. J. Ebd. Ebenda ECTS European Credit Transfer and Accumulation System EFRE Europäischer Fonds für regionale Entwicklung EGG Erbgesundheitsgericht EGOG Erbgesundheitsobergericht eigtl. eigentlich ERASMUS EuRopean Community Action Scheme for the Mobility of University Students ESG Evangelische Studentengemeinde FDGB Freier Deutscher Gewerkschaftsbund FDJ Freie Deutsche Jugend fol. Folium

427

Gekrat Gemeinnützige Krankentransport GmbH gen. genannt GI Geheimer Informant GVG Gesetz zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens Gesetz zur Verhütung erbkranken GzVeN Nachwuchses HNO Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde HRG Hochschulrahmengesetz IM Inoffizieller Mitarbeiter IFUW International Federation of University Women INSEMA Intergroup-­Sentinel-­Mamma KblA, Pol Krankenblattarchiv (Poliklinikakten), Zentrum für Nervenheilkunde, UMR KWI Kaiser-­Wilhelm-­Institut LA Landesarchiv LHAS Landeshauptarchiv Schwerin LHG Landeshochschulgesetz LMU Ludwig-­Maximilians-­Universität München LOM Leistungsorientierte Mittel MBA Master of Business Administration MDN MedizinDidaktikNetz Med. Fak. Medizinische Fakultät MfS Ministerium für Staatssicherheit Ministerium für Unterricht MfU MME Master of Medical Education MPH Master of Public Health MedSt Mediziner Statuten Mss manuscripts (handwritten documents) MV Mecklenburg-­Vorpommern NDB Neue Deutsche Biographie ns/NS nationalsozialistisch/Nationalsozialismus NSDÄB Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSDDB Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund NSDS tB Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt OKW Oberkommando der Wehrmacht OP Operation OSCE Objective Structured Clinical Examination PJ Praktisches Jahr RACS Rostock Academy for Clinicians Scientists

Abkürzungsverzeichnis

Anhänge

REM

Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung RGB l. Reichsgesetzblatt RKA Reichskolonialamt RM Reichsmark RMB l. Reichsministerialblatt Rostocker Mediziner Trainingszentrum RoMeTz SED Sozialistische Einheitspartei Deutschlands SFB Sonderforschungsbereich SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands StA Staatsarchiv StaHH Staatsarchiv Hamburg TH Technische Hochschule

Abkürzungsverzeichnis

UAF UAH UAR UBR UMR

Universitätsarchiv Frankfurt a. M. Universitätsarchiv Heidelberg (Bildarchiv) Universitätsarchiv Rostock Universitätsbibliothek Rostock Universitätsmedizin Rostock Statutenbuches der Universität Rostock UniSt USA Vereinigte Staaten von Amerika VDM Verband Deutscher Medizinerschaften VLZ Vorlesungsverzeichnis WMA World Medical Association WS Wintersemester ZMA Zentrale Materialablage ZMF Zentrale Medizinische Funktionen

428

Abbildungsnachweis Vorwort Abb. 1

LHAS : HAS 1.6 – 1, Nr. 3 (bereitgestellt durch das UAR ).

Einleitung: Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock Abb. 1

Lisch, Georg CF : Meklenburg in Bildern, 1844.

Von der Gründung der Bürgeruniversität zur mecklenburgischen Hochschule Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6

Foto K. Haack. ENCHIRIDION POETARVM CLARISSIMORVM (Sign. 4 Art.lib.9,1; Liber secundus Bogen B (­Handschriften und Sondersammlungen, Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena). IT - und Medienzentrum Universität Rostock. IT - und Medienzentrum Universität Rostock. IT - und Medienzentrum Universität Rostock. Schumacher, Gert-­Horst: Anatomie im Wandel der Jahrhunderte an der Universität Rostock. Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock. Mathematisch-­naturwissenschaftliche Reihe, Bd. 17. Rostock 1968, S. 48.

Die ersten Statuten der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock Abb. 1

UAR RIA 1.

Die Promotion zum Doktor der Medizin an der mittelalterlichen Universität Rostock Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3

UAR RIA 1. UAR RIA 1. UAR RIA 1.

Die Rostocker Mondino-­Ausgabe im europäischen Kontext Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3

429

UBR ; online verfügbar unter http://rosdok.uni-­rostock.de/mcrviewer/recordIdentifier/

rosdok_ppn1016163908/iview2/phys_0007.iview2 (letzter Abruf 14. 4. 2019). http://rosdok.uni-­rostock.de/mcrviewer/recordIdentifier/rosdok_ppn1016163908/iview2/ phys_0015.iview2 (letzter Abruf 14. 4. 2019). UBR ; online verfügbar unter http://rosdok.uni-­rostock.de/mcrviewer/recordIdentifier/rosdok_ ppn1016163908/iview2/phys_0010.iview2 (letzter Abruf 14. 4. 2019).

Abbildungsnachweis

Anhänge

„Gedoppeltes Amt“ und „unverdiente Verurtheilung“ Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4

UBR .

Porträtsammlung PORT _00072132_01, Österreichische Nationalbibliothek. UAR . Titelblatt des Buches von Weber, August Gottlob: Briefe an Aerzte und Weltweise über Angelegenheiten und Bedürfniß der Zeitzeugen. Hendel, Halle 1788.

Exkurs: Zwischen Stagnation und Neubeginn Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3

UAR 8.10.0: Photo-­Eschenburg Archiv, Nr. 04255.

http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/PDF /1776_WS _BU .pdf, S. 5 (letzter Abruf 14. 4. 2019). UBR .

Architektur des Rostocker Stadtkrankenhauses Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6

Porträtsammlung UAR . Original Privatsammlung B. J. Krause, Rostock. Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin der UMR . Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin der UMR . Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin der UMR . Original Privatsammlung B. J. Krause, Rostock.

„Man könne nicht allen Wünschen entsprechen“ Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4

Abb. 5

Fotographie 1875, UAR . UAR , Nr. 165. Porträtsammlung, UAR . von Zehender, Karl Wilhelm: Die projectierte Augenheil-­Anstalt in Rostock. nebst einem ­Promemoria des Herrn Professor Boehlau über deren rechliches Verhältnis. Adler, Rostock 1881, Titelblatt. Porträtsammlung, UAR .

dann Infobox: Abb. 1

Abb. 2

Vicke-­Schorler-­Rolle („Die wahrhaftige Abcontrafactur der hochloblichen und weitberumten alten See-­und Hensestadt Rostock – Heuptstadt im Lande zu Meckelnburgk“) https://de.wikipedia.org/ wiki/Vicke_Schorler#/media/File:Vicke_Schorler_Rolle.jpg (letzter Abruf 14. 4. 2019). Porträtsammlung, UAR .

Die Medizinische Fakultät der Universität Rostock Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3

Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 und 9

UBR , RA 26, Kupferstich, 1790 (Ansichten Rostock 7.7.1.06 – 01/B 24).

Schumacher, Anatomie, S. 12. Aubert, Hermann: Die Universität Rostock. Rede, gehalten am 28. Februar 1871 am Geburtstage seiner Königl. Hoheit des Großherzogs Friedrich Franz von Mecklenburg-­Schwerin. Ernst Kuhn’s Verlag, Rostock, 1871, Titelblatt. UAH Pagel, Julius: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Urban und Schwarzenberg, Berlin/Wien 1901, S. 1755. UAR . UBR . UAR sowie Privatbesitz.

Abbildungsnachweis

430

Anhänge

Abb. 10 und 11 Abb. 12 und 13 Abb. 14 Abb. 15 und 16 Abb. 17 und 18

UAR sowie Archiv der Augenklinik, UMR . Zentrum für Nervenheilkunde, UMR sowie privat, 2018. UAR .

Archiv der Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde, Kopf- und Halschirurgie „Otto Körner“, UMR . UAR sowie Privatbesitz.

„Einen Lehrauftrag für Neurologie hat Herr C. ja nicht“ Abb. 1 – 4

UAR .

Von Seekühen, Sammlungen und der Physiologie an der Universität Rostock im 19. Jahrhundert Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4

Foto K. Kühner, mit freundlicher Genehmigung des Zoologischen Instituts der Universität Rostock. Porträtsammlung, UAR . Stannius, Friedrich Hermann: Observationes de speciebus nonullis generis Mycetophila vel novis, vel minus cognitis, Breslau 1831, Anhang. Foto K. Haack.

Ein Rundgang durch die Ethnographische Sammlung des Instituts für Anatomie der Universitätsmedizin Rostock Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4

Privatbesitz. Foto: B. Tamm. Foto: B. Tamm. Foto: B. Tamm.

Der Rostocker Absolvent Max Girschner (1861 – 1927) als Kaiserlicher Regierungsarzt in der Südsee Abb. 1

Abb. 2 – 4

http://dfg-­viewer.de/show/?set%5Bmets%5D=http%3A%2F%2Frosdok.uni-­rostock.de %2Ffile%2Frosdok_document_0000000181  %2Frosdok_​­derivate_0000004416  %​ 2Fmatrikel1864ws-1888ss.mets.xml&set%5Bimage%5D=230 (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). Privatbesitz der Urenkelin Lydia Düsterbeck, Hamburg, mit freundlicher Genehmigung.

Exkurs: Die medizinischen Sammlungen an der Universität Rostock Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6

Institut für Anatomie, UMR . Institut für Toxikologie und Pharmakologie, UMR . Klinik und Poliklinik für Dermatologie und Venerologie, UMR . Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde, UMR . Rocktäschel, S. 91. Institut für Physiologie, UMR .

Ernst Schwalbe als Pathologe in Rostock und die Ursprünge einer pluralistischen Medizin Abb. 1 und 2: Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5

431

UAR .

Institut für Pathologie, UMR . Porträtsammlung, UAR . Brüning, Hermann/Schwalbe, Ernst (Hrsg.): Handbuch der allgemeinen Pathologie und der pathologischen Anatomie des Kindesalters, Bergmann, Wisbaden 1912, Titelblatt.

Abbildungsnachweis

Anhänge

Fakultät im Kriegszustand? Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6

Kulturhistorisches Museum Rostock. Archiv Orthopädische Klinik und Poliklinik, UMR . UAR . Rostocker Stadtanzeiger, August 1914. UAR R15 A1/2. Schumacher, Anatomie, S. 15.

Erste Frauen an der Medizinischen Fakultät Rostock Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6

UMR .

Besitz von Hella Reuter-­Pettenberg, Köln; mit freundlicher Genehmigung der Familie. Fotoarchiv von Peter Bennett, mit freundlicher Genehmigung. Fotoarchiv von Peter Bennett, mit freundlicher Genehmigung. Besitz von Dr. Judy Elsley, Enkeltochter von Edith Josephy, Ogden (USA ); mit freundlicher Genehmigung. 0095a-0117a Thomas Rahr, ITMZ UR , Denksteine, Tim Peppel.

Vom engagierten Sozialhygieniker zum ­Parteigänger des Nationalsozialismus Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6

Deutsches Bergbaumuseum, Bochum. Deutsches Bergbaumuseum, Bochum. UAR . Deutsches Hygienemuseum Dresden. Privatbesitz. Deutsches Hygienemuseum Dresden.

Die Existenz der Universität in Gefahr? Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3

UAR 2.04.1: Akte 786, Bl. 55. UAR 2.04.1: Akte 786, Bl. 3. UAR 2.04.1: Akte 786, Bl. 35.

Uni unterm Hakenkreuz Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5

Abb. 6 Abb. 7

http://rosdok.uni-­rostock.de/data/Preview-­PuV/PDF /1936_WS _VV .pdf, (letzter Aufruf am 14. 4. 2019). BA rch 183 – 1985 – 0306 – 032, Fotografie von Hildegard Levermann. UAR . UAR . http://rosdok.uni-­rostock.de/mcrviewer/recordIdentifier/rosdok_ppn81244891X/iview2/ phys_0001.iview2 sowie http://rosdok.uni-­rostock.de/mcrviewer/recordIdentifier/ rosdok_ppn81244891X/iview2/phys_0004.iview2 (letzter Abruf 14. 4. 2019). UAR . http://purl.uni-­rostock.de/matrikel/200025704 (letzter Abruf 14. 4. 2019).

Abbildungsnachweis

432

Anhänge

Die Institutionalisierung der Rassenhygiene an der Universität Rostock Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4

Bildarchiv Deutsches Historisches Museum. Sammlung EBB Alt Rehse. Sammlung EBB Alt Rehse. Sammlung EBB Alt Rehse.

Zwangssterilisationen und „Euthanasie“ Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 und 5 Abb. 6 Abb. 7

Gütt, Arthur/Rüdin, Ernst/Ruttke, Falk: Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, S. 56. KblA Zentrum für Nervenheilkunde, Universität Rostock, Poliklinikakten. UAR . KblA Zentrum für Nervenheilkunde, Universität Rostock, Poliklinikakten. UAR . KblA Zentrum für Nervenheilkunde, UMR .

Veränderung des Blickwinkels Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8

BA rch R179/7358.

KblA, Zentrum für Nervenheilkunde, Pol. Auguste B. Historisches Archiv Michaelshof 1845 – 1990, Nr. 92. Historisches Archiv Michaelshof 1845 – 1990, Nr. 92. Privatbesitz Walter Möller, mit freundlicher Genehmigung. KblA, Zentrum für Nervenheilkunde, Pol. Günter Nevermann. Privatbesitz der Familie, mit freundlicher Genehmigung. Privatbesitz der Familie, mit freundlicher Genehmigung.

Die Aufteilung des psychiatrischen Lehrstuhls 1958 Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6

UAR .

Mit freundlicher Genehmigung der Chefredaktion Ostseezeitung. Privatbesitz von Dr. Theodor R. von Stockert, mit freundlicher Genehmigung. Archiv der AG Philosophie und Geschichte der Psychiatrie – Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, UMR . Privatbesitz Dr. rer. nat. Reinhard Lehmitz, mit freundlicher Genehmigung. UAR .

Verweigerung und Widerstand gegen das SED-Regime durch Studenten der Medizin in Rostock im Spiegel der MfS-Überlieferung Abb. 1 Abb. 2 und 3 Abb. 4 Abb. 5

MfS BV Rostock AU 1927 – 67 GA , Bd. 2, Bl. 154. MfS BV Rostock AU 1927 – 67 GA , Bd. 2, Bl. 065 und 066. BS tU, MfS BV Rostock AOP 1058 – 66, Bl. 107. BA rch Plak 100 – 053 – 021.

Ethische und rechtliche Grundlagen der klinischen Prüfung von ­Arzneimitteln in den beiden deutschen Staaten in den 1980er-­Jahren Abb. 1

433

Gesetzblatt der DDR , 12. Durchführungsbestimmung: Vereinbarung über die Prüfung von Arzneimitteln am Menschen, 1976.

Abbildungsnachweis

Anhänge

Die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Universität Abb. 1 Abb. 2, 4, 8, 10 Abb. 3, 7, 12 – 15 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 9 Abb. 11 Abb. 16 Abb. 17 Abb. 18

M. Witzel, Offenburg. UAR . Fotoarchiv der Klinik und Polikliniken für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Aus dem Amtlichen Bericht über die Fünfhundertjahrfeier der Universität Rostock im Jahr 1919, S. 69. UAR : Personalakte Reinmöller, Johannes. UAR : Personalakte Moral, Hans. Die neue Klinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten der Mecklenburgischen Landesuniversität Rostock, Adler, Rostock 1938, S. 2. Privateigentum Prof. Dr. mult. Andrä. Privateigentum Prof. Dr. von Schwanewede. Foto Scharnweber.

Die Medizinische Fakultät Rostock 2018 Abb. 1 – 3

UMR .

Abbildungsnachweis

434

Autorenverzeichnis Prof. Dr. med. Altiner, Attila Arzt, Professor für Allgemeinmedizin, Studiendekan, ­Universitätsmedizin Rostock

Jeguschke, Harald Diplom-Betriebswirt, Kaufmännischer Vorstand ­Universitätsmedizin Rostock

Dr. rer. nat. Boeck, Gisela Chemikerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Chemie, Universität Rostock

apl. Prof. Dr. med. Karenberg, Axel Arzt für Neurologie und Psychiatrie, apl. Professor für Geschichte der Medizin an der Universität zu Köln, Professeur titulaire an der Université du Luxembourg

Borowski, Katrin Referentin der Fakultätsleitung im Dekanat der Universitätsmedizin Rostock Prof. Dr. med. habil. Büttner, Andreas Arzt, Professor für Rechtsmedizin, Universitätsmedizin Rostock Dr. phil. Deinert, Juliane Historikerin, Bibliotheks- und Informationswissenschaftlerin, Kinderbuchautorin, Uslar Detjens, Florian Historiker (M. A.), wissenschaftlicher Mitarbeiter am ­Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Universität Rostock und an der Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland Grosse, Sophie Historikerin (M. A.), wissenschaftliche Mitarbeiterin (Europäische Geschichte vom 17. bis zum 19. Jahrhundert) an der Universität Vechta Dr. rer. hum. Haack, Kathleen Medizinhistorikerin, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsmedizin Greifswald, freie Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Rostock Hackbarth, Robert Martin Historiker (M. A.), Verleger in Rostock Dr. phil. Halbrock, Christian Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundes­ beauftragten für die Stasiunterlagen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BS tU), Berlin Imberh, Anastasia Ärztin, Mitarbeiterin an der Klinik und Poliklinik für ­Nuklearmedizin, Universitätsmedizin Rostock

435

PD Dr. med. habil. Klammt, Sebastian

Arzt für Innere Medizin und klinische Pharmakologie, Leiter der Geschäftsstelle des KKS -Netzwerks e. V., Berlin Prof. Dr. med. habil. Krause, Bernd Joachim Arzt, Professor für Nuklearmedizin, Universitätsmedizin Rostock Kühner, Kerstin ärztliche Gutachterin beim ISBF GmbH (Institut für Sozialmedizinische Begutachtung und Fortbildung) in Leipzig apl. Prof. Dr. med. habil. Kumbier, Ekkehardt Arzt, apl. Professor für Psychiatrie, Leiter des Arbeitsbereichs Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Rostock apl. Prof. Dr. med. habil. Lammel, Hans-­U we Medizinhistoriker, bis September 2018 apl. Professor für Geschichte der Medizin und Leiter des Arbeitsbereiches Geschichte der Medizin der Rostocker Universitätsmedizin Dr. phil. Michael, Susi-­H ilde Historikerin (M. A.), Altphilologin, seit 2019 in der freien Wirtschaft tätig Prof. Dr. med. Mlynski, Robert Arzt, Professor für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Prodekan für Forschung und Wissenschaftsentwicklung, Universitätsmedizin Rostock Müller, Annett Diplom-Chemikerin, Leiterin Studiendekanat, Universitätsmedizin Rostock apl. Prof. Dr. phil. habil. Münch, Ernst Historiker, apl. Professor für Geschichte des Mittelalters / Mecklenburgische Landesgeschichte, Universität Rostock Dr. rer. nat. Peppel, Tim Chemiker, Leibniz-­Institut für Katalyse e. V., Rostock

Autorenverzeichnis

Anhänge

PD Dr. med. Prüll, Lydia

Ärztin, Historikerin, Institut für Funktionelle und Klinische Anatomie, Johannes-­Gutenberg-­Universität Mainz Prof. Dr. med. univ. Reisinger, Emil Christian Arzt, Professor für Innere Medizin, Infektions- und Tropenmedizin, Dekan und Wissenschaftlicher Vorstand der Universitätsmedizin Rostock Rudolph, Marcus Assistenzarzt, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medius Klinik Kirchheim Prof. Dr. med. habil. Schareck, Wolfgang Arzt, Professor für Gefäß- und Transplantationschirurgie, Rektor der Universität Rostock

Autorenverzeichnis

Schlensog, Wiebke Juristin, Referentin der Fakultätsleitung im Dekanat der Universitätsmedizin Rostock apl. Prof. Dr. phil. Schmuhl, Hans-­W alter Historiker an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld Schulz, Hauke Assistenzarzt, Kliniken im Theodor-­Wenzel-­Werk e. V., Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie in Berlin Prof. Dr. med. habil. Schwanewede von, Heinrich Zahnarzt, Professor (em.) für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde, Medizinische Fakultät Universität Rostock Tamm, Beatrice Historikerin (M. A.), Rostock

436

Personenregister A Abel, John Jacob ​239 Abu Salib Mansur b. Ishaq ​44 Ackermann, (Carl) Theodor ​139, 170, 172, 287, 297, 424 Adelphus, Johannes ​68 Aëtios von Amida ​27 Alban, Johann Ernst Heinrich ​113 Albrecht V., Herzog zu Mecklenburg ​ 11, 16, 25 – 26 Althoff, Friedrich ​149 Alzheimer, Alois ​149, 156 Andrä, Armin ​406 – 408, 410, 434 Anna von Hessen-­Darmstadt, Großherzogin von Mecklenburg-­ Schwerin ​133 Ante, Elisabeth ​250 Antyrius ​66 Arlt von, Carl Ferdinand ​115 Aschoff, Ludwig ​219, 221, 229, 240 Asmussen, Arnold ​340 Assverus, Johannes (Johannes Assuerus Ampzing) ​74 – 76, 78, 82, 86 – 87 Aubert, Hermann ​107, 129, 131, 141 – 142, 170 – 171, 394, 424, 430 Aumüller, Julius ​295, 299 Averroes (Ibn Ruschd) ​67 Avicenna (Abdullah ibn Sina) ​26, 34, 41, 44, 54, 58, 67 Axenfeld, Theodor ​123 – 124, 126, 205, 424

B B., Auguste ​348 – 349 Bachér, Franz ​289, 293, 298 Bacmeister d. Ä., Johann ​18, 29, 423 Bacmeister d. J., Johann ​18, 30, 75 – 77, 86, 423 Baebler (Dr.) ​233, 240 Baeyer von, Walter ​359 Barca, Hertha ​247 Bardenhewer (Zetkin), Gertrud(e) (Anna Maria) ​250 – 252, 258 Bardenhewer, Thea ​258

437

Barfurth, Dietrich ​10, 19, 23, 210, 228 – 229, 231, 235, 237 – 238, 240 – 242, 397 – 398, 424 Barnstorff, Bernhard ​75, 77, 86 Barth, Adolf ​142 Bartholin, Thomas ​31, 34 Battus, Levinus ​28, 32, 69, 74, 423 Beck, Karl Joseph ​114 Beetke, Eckhard ​406 – 408, 410 Behring von, Emil ​235 Benad, Gottfried ​413, 425 Bergholter, Agnes ​247 Bergholter, Wilhelm ​322 Bergmann, Karl (Georg Lucas Christian) ​ 9, 169 – 171, 424 Berlin, Rudolph (Rudolf) ​10, 122, 125, 205, 424 Bernhöft, Elisabeth ​246 Bernstorff zu Wedendorf von, Arthur Friedrich Karl ​109 Beselin, Johann Joachim ​80, 87 Beselin (Dr.) ​180 Beutin ​232 – 235 Birgfeld, Paul ​395 Bismarck von, Otto ​136, 141 Bitter, Marie ​250 Black, William ​92 Block, Heinz ​378 Blome, Kurt ​23, 323, 335 Blumenbach, Johann Friedrich ​92 Bodecker, Bernhard ​26 Boedecker, Elisabeth ​249 Boeder, Gustav ​194, 199 Boehlau, Hugo ​119, 123 – 124, 430 Boerhaave, Hermann ​30 Boehm, Hermann Alois ​20, 302, 323 – 325, 330 Börner (Abraham), Marie ​250 Boers (Beckmann), Maria ​250 Bonifaz VIII . (Benedetto Caetani) ​61 Bording d. Ä., Jacob ​9, 17, 18, 28 – 29, 32, 69, 72, 74 Bostroem, August ​340, 343

Both von, Carl Friedrich ​115, 118, 123 – 124, 171 Bouhler, Philipp ​337 Brahe de, Tycho ​29 Brandenburg, Carl Ernst Theodor ​73, 77 – 78, 86, 113, 115 Brandt, Karl ​337, 341, 343 Brauer, Wolfgang ​407 Braun, Ernst ​339 – 341, 343, 425 Brekewoldt, Wernerus (Werner Brekewolt) ​26 Bremme, Herta ​250 Breu, Anna ​238, 242 Breuer, Emil ​297 Brill, Ernst Heinrich ​291, 292 – 294, 298 – 299, 305, 313, 323, 335 Brodie, (Sir) Benjamin ​266 Brodkorb, Mathias ​417 Brucaeus (Brucäus), Heinrich ​9, 17, 28 – 29, 74, 423 Brüning, Hermann ​10, 210, 222 – 226, 425, 431 Brugsch-­Pascha, Heinrich ​181 Brunn von, Albert ​180, 183 – 184, 246, 424 Brunn von, Gertrud ​246 Brunn von, Walter ​180, 183 – 184 Bruns, Ludwig ​149 Buchka von, Hermann ​124, 141 Burchard, Christoph Martin ​86, 423 Buschmann, Walter ​348 Büntgen (Licht), Eva ​247, 250 – 251, 258 Bumke, Oswald ​138, 153, 157 – 158, 250, 343, 366 – 367

C Carstens (Dr.) ​180 Casserius, Julius ​31 Charcot, Jean-­Martin ​150 Chelius, Maximilian Joseph ​114 Chiari, Hans ​219 Christian III . von Dänemark und Norwegen ​9 Christian IV . von Dänemark ​9, 29

Personenregister

Anhänge

Christian Ludwig, Herzog zu Mecklenburg-­Schwerin ​30, 95 Classen, Georg August ​114 Comberg, Wilhelm ​287 – 288, 297, 425 Conti, Leonardo ​324 Corbeil de, Gilles (Aegidius von Corbeil) ​ 41, 44 Cornarius, Janus ​9, 27, 28 Credé, Carl Siegmund Franz ​133, 141 Curschmann, Hans ​10, 97, 132, 141, 143, 145, 153, 154 – 159, 250, 425 Curschmann, Heinrich ​148, 155, 265

D da Carpi, Berengario Jacopo ​63, 68 Daniel, Georg (Benedict Friedrich Wilhelm) ​124 Danneel, Theodora ​247 Darwin, Charles ​316, 320 Dehmel (Coblenz), Ida ​263, 284 Dehmel, Richard ​263 Dehns, Otto ​297, 322, 324 Demmler, Georg Adolph ​168 Dernburg, Bernhard ​186 Desmarres, Louis-­Auguste ​115 Detharding, Georg ​9, 18, 141, 423 Detharding, Georg Christoph ​9, 18, 30, 91 – 93, 423 Deuschl, Hans ​324 – 325 Dieckmann, Christoph ​382, 384 Dieffenbach, Friedrich Johann ​9 Dietz, Ludwig ​68, 75 Dioskurides, Pedanios ​27, 28 Döbel (Doebelius), Johann Jacob ​ 74 – 75 Döderlein, Christian Albrecht ​89 Dricksen (Dr.) ​179 Dryander, Johannes ​68, 70 – 71 Dutz, Harald ​425 Dyckerhoff, Julius ​232 – 235

E Edinger, Ludwig ​149 Ehrlich, Paul ​191, 197, 200, 235 Einstein, Albert ​10 Elsaesser, Karl-­Heinz ​362  –  363 Elze, Curt ​180, 183 – 184, 412, 425 Erb, Wilhelm ​147 – 148, 150, 154 – 155, 157 – 159 Erichson, F. W. ​123, 136 Erxleben, Dorothea Christiane ​244, 261 Erzberger, Matthias ​271 Esch, Arno ​213

Fabricius, Jacob ​29, 75, 423 Felke (Nietz), Hildegard ​250 Fibelkorn, Anna ​247 Ficker, Martin ​275 Fischelsohn, Regina ​309, 311, 316 Fischer, Eugen ​321, 323, 326, Fischer, Walther ​10, 206, 226, 250, 425 Flügge, Carl ​266 Frank, Johann Peter ​91, 98, 143 Franke, Ernst ​250 Frankl-­Hochwart von, Lothar ​149 Freerksen, Enno ​322 Frey, Ernst ​425 Fricke, Hedwig ​247 Frieboes, Walter ​250, 425 Friedberger, Ernst ​265 Friedreich, Nikolas ​148 Friedrich, Herzog zu Mecklenburg, genannt der Fromme oder der Gütige ​79 Friedrich Franz I., Herzog von Mecklenburg ​77 – 78, 86 – 87, 89 – 90, 180 Friedrich Franz II ., Großherzog von Mecklenburg ​173, 180 – 181 Friedrich (Frederik) III ., König von Dänemark und Norwegen ​9 Frisch von, Karl ​10 Fröhlich, Friedrich Wilhelm ​255, 425 Fueter, Emanuel Eduard ​116

Georg von Mecklenburg-­Strelitz ​115  –  116 Gieles, Josef ​304, 313, 317 Giltzheim (Gilsheim), Rhembertus ​33, 68, 72, 423 Girschner, Anna ​188 Girschner, Emma ​188 Girschner, Max ​6, 163 – 164, 185 – 200, 431 Gißel, Heinrich ​303, 322 Göllnitz, Gerhard ​359, 362 – 368 Goethe, Johann Wolfgang ​11 Golther, Wolfgang ​248, 257 Gonnermann, Max ​234, 235 Grabowski, Rosemarie ​408 – 410, 413 Gradowski, Gertrud ​247 Graefe von, Albrecht ​97, 115 – 116, 126 Gräfenberg, Ernst ​258 Graf zu Stolberg-­Wernigerode, Otto ​304 Graumann, Peter Benedikt Christian ​91, 93, 123 Grebe, Hans ​21, 302, 313, 325 – 330 Gregoriis de, Gregorius ​63 Gregoriis de, Johannis ​63 Greiner, Bruno ​313 Griesinger, Wilhelm ​148 – 149 Groh, Wilhelm ​299 Groß, Walter ​322 Grotjahn, Alfred ​281 – 282, 321 Gruner, Lilli ​378, 384 Gruner, Peter ​378, 384 Gryphius, Johannes Albert ​78 Gürber, August ​395 Gürtler, Katharina ​250 Gütschow, Marga (Margaretha) ​245, 249, 257 Gütschow, Minna ​245, 257 Gundlach, Karsten ​410 Gustav Adolph, Herzog zu Mecklenburg ​ 95 Guthoff, Rudolf (F.) ​425

G

H

Gaehtgens, Karl ​132, 287, 297, 424 Galen (Galenos von Pergamon) ​26 – 29, 41, 44 – 45, 47, 58 – 59, 63, 66 – 68, 70 – 72 Galen von, Graf Clemens ​343 Ganter, Georg ​307 Garling von Deventer, Hans ​74 Garré, Carl ​133, 424 Gaster, August ​103 Gazen (gen. Gaza) von, Wilhelm ​255, 259, 425 Gebhard, Bruno ​264, 281, 282, 284 Geismar von, Heinrich ​36, 43, 46

Habermann, Wilhelm David ​423 Hahl, Albert ​187, 192, 194 – 196, 199 – 200 Hahn, Martin ​266 Hahn, Peter Paul ​407, 410 – 413 Hali, Abbas ​44, 58, 67 Hambruch, Paul ​194, 198, 200 Hamme, Hermann ​36, 43, 46 Hammond, William Alexander ​150 Handtwig von, Gustav Christian ​30, 423 Hanmann, (Heinrich Friedrich) Carl ​ 114 – 116, 123, 125, 139, 142 Hanmann, Christian ​142 Harvey, William ​29, 34, 144

Eschenbach, Christian Ehrenfried ​ 75 – 80, 86 – 88, 91 – 93, 130, 141, 143, 423 Essbach, Harro ​224, 226 Esquirol, Jean Étienne Dominique ​137 Eugen IV . (Gabriele Condulmer) ​37, 43, 47 Evers. A. ​86

F

Personenregister

438

Anhänge

Haselhorst, Gustav ​325 – 327, 425 Hayek von, Heinrich ​303 Heckmann (Klink-­Heckmann), Ursula ​ 405 – 408, 411 – 413 Heinrich II . von Nauen ​16, 25 Heinrich V. von Mecklenburg-­Schwerin ​ 29 Heinroth, Christian August ​137 Heinze, Hans ​340 Helmholtz von, Hermann ​131 Hempel, Adolph Friedrich ​166 Henke von, Wilhelm ​424 Hennemann, Erika ​329 Hennemann, Wilhelm, Johann Conrad ​ 141 Henninghausen, Gerhard ​425 Herbst, Alphons ​363 Herfert, Oscar ​404 – 405, 412 Heygster, Hans ​22, 359, 366 – 367 Heymann, Bruno ​266 Hildebrandt, Friedrich ​279, 287, 294, 297, 299 – 300, 314, 335, 344, 400, 412 Himly, Karl Gustav ​114 Hippel von, Arthur ​114, 123, 126 Hippokrates (von Kos) ​27, 44, 47, 58, 72 Hirschberg, Else ​253 – 256, 259 – 261 Hirschberg, Hertha ​256 Hirschberg, Margot ​256 Hitler, Adolf ​279, 301, 307, 321, 337, 343, 352 Hitzig, Eduard ​149, 158 Hölscher, Uvo ​90, 93 Hoffmann, Friedrich ​92 Hofmann, Ulrich ​299 Hofmeister, Adolph ​36, 43, 46, 426 Holtz, Peter ​10, 296, 299 – 300, 366, 425 Hübener, Erich August ​266 Huebner, Eva ​247 Hunain ibn Ishāq, Abū Zaid (Johannitius) ​66 Hundt, Magnus ​64, 70 – 71 Huth von, Auguste ​188 Hutter, Johann Jacob (Johann Urban Hutterus) ​80, 87

I Isidor von Sevilla ​67

J Jäger, Christoph Friedrich ​115 – 116 Jähne, Elisabeth ​329 Jantzen, Eduard Benjamin ​393 Jaspersen, Karsten ​340, 343, 345 Jode (Yode), Hermann ​36 – 37, 43

439

Jördens, Georg ​313 Johann IV ., Herzog zu Mecklenburg ​11, 16, 25 – 26 Joram, Gerald ​373 Jores, Arthur ​303 Josephi, Johann Wilhelm ​99 – 100, 106, 111 – 113, 123, 127, 129 – 130, 141, 423 Josephy (Zimmt), Edith ​250, 253, 259, 261, 432 Josephy, Franz ​253, 261 Jost, Adolf ​316 – 317 Jourdan, Sophie ​246 – 247, 249 – 250, 258, 260 Jrisawa ​238 Jugler, Johann Heinrich ​86 Jungius, Joachim ​9 Just, Günther ​265

K Kaeding, Alfred ​425 Kapp, Wolfgang ​216, 225 Karitzky, Bruno ​377 Karl V. ​29 Karsten, Hermann ​168, 171 – 172 Kathe, Johannes ​10 Katz, David ​254, 306 – 307, 314, 318 Kersting, Hermann ​195, 199 Ketham von, Johannes ​63 Kishi, Nobusuke ​382 Kisskalt, Karl ​266 Klemperer, Victor ​346, 356 Kleist, Karl ​19, 97, 138, 145 – 146, 154, 156 – 159, 232, 250, 424 Klink-­Heckmann, Ursula  siehe Heckmann, Ursula Klinke, Karl ​425 Klinkmann, Horst ​213 Klitzing, Ferdinand ​100, 102 Klitzing, Willy ​294, 299 Knak, Günter ​407 Knauff, Felice ​247 Kobert, Rudolf ​132, 210, 232 – 235, 241, 243, 246, 250 – 251, 254, 257, 260, 287, 297, 424 Koch, Julius Ludwig August ​356 Koch, Robert ​163, 185, 188, 197, 199 – 200, 209, 225 – 226 Koeber von, Gerd ​294 Köln von, Friedrich ​44, 57 König, Franz ​130, 133, 424 Königsmarck von Günther ​251 Königsmarck Gräfin von (Fromm), Johanna ​247, 250 – 251 Königsmarck Gräfin von, Margot ​251

Köppen, Max ​137, 142 Körner, Otto ​10, 17, 23, 138 – 140, 142 – 143, 154, 229, 240, 242 – 243, 424, 431 Kollath, Werner ​291 – 293, 298 – 299, 302, 318, 323, 425 Korff-­Petersen, Arthur ​266 Kossel, Albrecht ​10, 132, 209 Krabbe, Otto Karsten ​12, 33 – 34, 36, 43, 46 – 47, 78, 93, 426 Krantz, Albert ​66, 71 Krauel, (Heinrich) Christian (Friedrich) ​ 113, 130, 424 Krieck, Ernst ​291, 353, 355 – 356 Krüger, Karl Hans ​313 Krüger, Rudolf ​326 – 328

L L., Günter ​350 – 351 Laënnec, René ​128 Laetzsch, Eberhard ​407 Lammers, Hans Heinrich ​326 Lange, Gustav ​305, 314 Lange, Samuel Gottlieb ​78, 88 Langendorff, Oscar ​132, 173, 202, 246, 424 Lauremberg, Peter ​17 – 18, 29, 34, 161 Lauremberg, Wilhelm ​9, 18, 29, 73, 75 – 77, 86, 88, 423 Lautenschläger, Nina ​266 Lehmann, Johann Carl ​425 Lehmkuhl, Martha ​248, 257 Lehmkuhl, Wilhelm ​257 Lehmus, Emilie ​245 Lemcke, Johann Christian ​139, 142 – 143 Lenin, Wladimir Iljitsch ​377 Lenz, Fritz ​321, 329 Leonhard, Karl ​359, 362 – 363 Lesenberg, Johann Friedrich Wilhelm ​ 100, 114 Leu, Alfred ​343, 351 Leyden von, Ernst ​148 Lichtheim, Ludwig ​148 Lideren, Helmold (von Uelzen) ​26, 33 – 34 Liebeherr von, Maximilian ​124 – 125 Liebig von, Justus ​132 Lindau, Valerie ​272, 283 – 284 Linden, Herbert ​338, 341 Lindenberg, Peter ​15 Liuzzi dei, Mondino ​27, 32, 61, 70 – 71 Louise Friederike von Mecklenburg ​91 Lubarsch, Otto ​219, 221, 227

Personenregister

Anhänge

Lundborg, Herman ​278 Luxemburg, Rosa ​258, 376

M M., Franz ​378 Madelung, Otto (Wilhelm) ​103, 106, 108, 133, 394, 424 Maeß, Gerhard ​409, 413 Malpighi, Marcello ​30 Manilio, Sebastiano ​63 Mainz von, Adolf ​44, 58 Maiwald, Hans-­Joachim ​408 March, Caspar ​423 Mark, Robert ​22, 366, 425 Marquard (Neuhaus), Elli ​250 Marschalk, Nikolaus ​12, 17, 27, 32, 61 – 71 Martin V. (Oddo/Oddone Colonna) ​11, 25 – 26, 37, 43, 46 Martius, Friedrich ​132, 151 – 152, 155, 236, 250, 254, 424 Martius, Friedrich Franz ​236 Marung, Karl-­Erich ​337, 341 Marung, Max ​187, 200 Masius, Georg Heinrich ​33 – 34, 98, 141, 143, 423 Maßmann, Magnus ​123, 125 Matthes, Max ​141, 143 Maurer, Kurt ​299 Maybaum, Heinz (Heinrich) ​287, 291, 293, 297 Mehlan, Karl-­Heinz ​412, 425 Meinertz, Joseph ​254 Melanchthon, Philipp ​27 Memmius, Peter (Petrus) ​28, 73 – 74, 77 Mentzel, Rudolf ​293 Merkel, Friedrich (Sigmund) ​107, 162, 173, 183 – 184, 202, 394 – 395, 412, 424 Mester, Hans ​327 Mettenheimer von, Carl ​133 Meyer, Robert ​226 Meyer-­Rienecker, Hans-­Joachim ​364, 366, 368 Meynert, Theodor ​360, 366 Michaelis, August ​246, 251, 260 – 261 Michaelis, Leonor ​254 Michaelsen, Elisabeth ​247 Mielke, Erich ​382 – 383 Mischke, Hildegard ​280, 283 – 284 Möbius, Paul Julius ​149 Möller, Anna ​351 – 352 Möller, Walter ​351 – 352, 355 Mönnich, Paul ​137 Mohr, Anna ​247 Monakow von, Constantin ​149

Moral, Hans ​20, 202, 306 – 307, 314 – 315, 317 – 318, 398 – 402, 407, 411 – 412, 425, 434 Moro, Ernst ​222, 226 Most, Georg Friedrich ​137 Muckermann, Hermann ​321 Mücke, Dietrich ​425 Mühlenbruch, Heinrich Gottlieb Matthias ​79 Mühlenbruch, Christian Friedrich Simon ​ 79 Müller, Wilhelm ​151, 250, 424 Müller-­Hegemann, Dietfried ​362

N

Peters, Albert ​229, 231, 239 – 240, 242 – 243, 250, 424 Petri, Olav ​66 Pfalz von der, Ruprecht ​44, 57 Pfeiffer, Ludwig ​231 – 232, 424 Pflug (Lehmann), Eva ​249, 257 Philaret(os) ​41, 44 Pinel, Philiipe ​142 – 143 Planck, Max ​10 Plath, Grete ​329 Ploetz, Alfred ​319 Ponfick, Emil ​424 Poppe, Kurt ​425 Posner, Gustav ​307 Prehn, Michael Eberhard ​77, 86 Puls, Adolf ​280

Nasse, Otto ​107, 394, 424 Natterer, Johann Baptist ​165, 172 Naumann, Günter ​425 Nennius, Gerhard ​423 Nettelbladt, (Daniel) ​86 Neuhäuser (Frl.) ​329 Neumann, Hans-­Joachim ​408, 413 Nevermann, Günter ​352 – 355 Nöldge-­Schomburg, Gabriele ​425 Nolde, Adolph (Adolf) Friedrich ​79, 88, 93, 127 – 128 Nonne, Max ​150, 157, 159 Noyes, William A. ​255 – 256, 259 – 260

Quandt, Jochen ​366 Queckenstedt, Hans ​151, 153 – 155, 157 – 159 Querhammer (Frl.) ​329 Quincke, Heinrich Irenaeus ​148, 155 Quistorp, Johann Bernhard ​76, 79, 86 – 87, 423 Quittenbaum, Carl (Karl) Friedrich ​92, 113 – 115, 130, 141, 162, 166, 171, 173, 183 – 184, 202

O

R

Ohlerich, Luise ​246 Oldenburg (Ministerial-­A ssessor) ​124 Olischer, Rosemarie ​364 Oppenheim, Hermann ​149, 158 Ortmann, Christian Friedrich Wilhelm ​ 257 Ortmann, Fri(e)da ​246 Ortmann (Runge), Maria Ulrike ​257

R., Franz ​351 R., Paul ​351 Ramzow, Nicolaus ​26 Rau, Wilhelm ​116 Rebien, Martha ​250 Reggio da, Niccolò (Nicolaus von) ​41, 44 Reinmöller, Johannes (Albert) ​19, 210, 231, 396 – 399, 406, 412, 434 Reinmöller, Matthäus ​307, 315, 398, 402 – 404, 412 Reisinger, Emil C. ​417, 425 Reiter, Hans ​6, 20, 210 – 211, 262 – 275, 277 – 284, 311, 316, 333, 343, 345 Reiter, Margarete (Steib) ​265 Reiter, Richard ​265 Reuber, Thekla ​248 Reumuth, Eberhart ​405 – 406, 411 – 413 Rhazes (Muhammad ibn Zakariya Ar-­Razi) ​26, 41, 44, 58 Richter, Hanna ​250 Richter, August Gottlieb ​113 – 115 Rickmann, Christian ​98 Riebeling, Carl ​359

P Paasch, Irma ​250 Paracelsus (Theophrastus Bombast von Hohenheim) ​28 – 29, 158 Partikel, Johannes Friedrich ​257 Pasteur, Louis ​209, 265 Paul Friedrich, Großherzog von Mecklenburg ​167 Paulos von Aigina ​27 Paulsen (Zahnarzt) ​394 Pauli, Heinrich ​73 – 77, 86 Pauli (Paulli) d. J., Simon ​9, 17, 29 – 34, 69, 75 – 76 Pauw, Peter ​29

Personenregister

Q

440

Anhänge

Rieger, Bernhard ​251 Riolan, Jean ​31 Ritter, Robert ​265 Robert (Dr.) ​177 Rönnberg, Jacob Friedrich ​76 Röseler, Matthäus ​243 Romberg, Moritz Heinrich ​97, 148, 154 – 155 Rona (eigtl. Rosenfeld), Peter ​254 Rosenfeld, Max ​157, 250, 348, 425 Rüdin, Ernst ​321, 343 – 344, 355, 433 Rühberg, Werner ​308 Ruickoldt, Ernst ​289, 295 – 296, 298 Runkwitz (Dr.) ​180 Rust, Bernhard ​294, 299, 302, 309, 321,

S S., Heinrich ​378 Sahachirō, Hata ​191 Sänger, Alfred ​149 Sander (Schnock), Meta ​256, 259 Sander, Uwe ​417 Sarwey, Otto ​250 Sayk, Johannes ​363 – 364, 367 Schaarschmidt, August ​91, 423 Schäffer, Dorothea ​246 Schaper, Johann Ernst ​30, 141, 423 Schareck, Wolfgang ​417 Scharf, Friedrich ​278, 287 – 288, 293 – 294, 297 – 299, 316 Schatz, Friedrich ​107, 133 – 134, 141, 143 – 144, 424 Scheel, Gustav Adolf ​313, 318 Scheel, Paul-­Friedrich ​353  –  354 Scheven, Karl ​233, 240 Schiefferdecker, Paul ​394 Schiemann, Hanna ​250 – 251 Schill, Hartmut ​425 Schilling, Viktor ​10, 132, 210 Schimmel, Oscar ​105, 108, 111 Schirmer, Rudolph ​125 Schlampp, Hans ​402 – 403 Schlesinger, Erich ​404 Schlosser, Hermann ​103 Schlotheim Freiin von, Amelie ​247 Schmid, Hans Hermann ​425 Schmidt, Bernhard (Heinrich Gustav Theodor) ​101 Schnitzler, Elisabeth ​36 – 38, 43, 46 Schnoor, Steffie ​410 Schönberger, Albrecht ​405 – 406 Schomann, Peter ​78 Schroeder (Jacobs), Gertrud ​247, 250 – 251, 258, 260

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Schröder, Johann ​123, 136 – 137, 141, 144 Schröder, Robert ​10, 250 Schroter (Schröder), Albert ​26 Schwarz, Hanns ​361, 368 Schwedler, Theodor ​100 Schwemer, Emmy ​250 Schubel (Kammradt), Anne Lise ​256, 259 Schubel, Johannes ​256 Schuchardt, Fedor ​137 – 138, 141 – 142, 144, 151, 153, 424 Schuhmacher, Wilhelm ​341 Schultetus, Stephan ​30, 423 Schultze, Friedrich ​148 Schulze, Franz Eilhard ​169 – 172 Schulze, Paul ​308, 314, 322 – 323 Schulze, Werner ​361 Schwaar, Hans ​298 Schwalbe, Ernst ​6, 19, 206 – 207, 210 – 211, 215 – 227, 248, 424, 431 Schwanewede von, Heinrich ​314, 407 – 413, 434 Seidel (?) ​395 Semmelweis, Ignaz ​141 Severin (Degner), Gertrud ​247, 250 Siebold von, Carl Theodor Ernst ​169, 171 – 172 Siebold von, Charlotte Heidenreich ​244 Siebold von, Regina Josepha ​244 Sieburg, Ernst ​232 – 236, 241 – 242 Simon, Gustav ​102, 112, 114, 123, 125, 424 Skalweit, Wolf ​323, 335 – 336, 343, 345, 350 Sobkowiak, Eva-­Maria ​405  –  407 Soeken, Gertrud ​250, 252 – 253, 261 Sonnenburg, Michael ​409 Sophie (Sophia) von Mecklenburg ​75, 86 Soumadau en Sokehs ​194 – 195 Spangenberg, Peter Ludolph ​91 Spemann, Hans ​10 Spitta, Heinrich (Helmrich Ludwig) ​ 99 – 100, 106, 111, 123, 127, 130, 141, 166, 171, 424 Sponholz, Herbert ​405, 407 – 408, 410 Stäbel, Oskar ​307, 315 Staemmler, Martin ​322, 355 – 356 Stahl, Georg Ernst ​92 Stauffer, E. ​239 Stalin, Josef ​213, 360, 373 Stannius, Friedrich Hermann ​6, 10, 161, 163, 165 – 172, 424, 431 Staudinger, Paul ​188

Steinert, Hans ​156, 159 Steudel, Emil ​196 Steurer, Otto ​319, 322, 324 – 325, 425 Stever, Christian Michael ​86 Sthamer, Johann Georg Bernhard ​132 Stockert von, Franz Günther ​22, 357, 359 – 363, 365 – 368, 372 – 373, 382, 433 Stockmann, Jacob ​86 Stockmann, Joachim ​75, 86 Strempel, Johann Karl (Carl) Friedrich ​ 9, 80, 87 – 88, 99 – 100, 106, 111, 113 – 114, 116, 130, 132 – 133, 141, 167, 171, 424 Stresemann, Gustav ​271, 278 Strümpell, Adolf ​148, 159 Sundelin, Carl ​92 Susemiehl (Kaufmann) ​77 Sweder, Reginarus (Reimar) ​26 Sydenham, Thomas ​30 Synwoldt, Ina ​247

T Teleky, Ludwig ​263, 284 Thielmann, Klaus ​407 Thierfelder, Albert ​106, 125, 206, 424 Thierfelder, Theodor ​10, 102 – 103, 106, 108, 132, 169 – 171, 394, 424 Thilenius, Georg (Christian) ​194, 198 – 200 Thomsen, Ulrich ​292 Thoenes, Fritz ​362 Töpfer, Christian ​374 Traeger, Gudrun ​250 Trautz, Max ​287 – 288, 291, 297 Trendelenburg, Friedrich ​10, 133, 424 Trendelenburg, Paul ​235, 250, 425 Trendelenburg, Wilhelm ​207 Tricht de (von), Arnold ​26 Trier von, Kuno ​44, 57 Trumpf, Werner ​255, 259, 315 Tschersich, Hermann ​412 Tügel, Lukas ​252 Tügel, Otto Tetjus ​251 Tunnichäus, Johannes ​74

U Uffelmann, Julius ​108, 122, 140 – 141, 144, 209 Ulbricht, Walter ​367, 377, 380 Ulrich III ., Herzog zu Mecklenburg ​28, 74 Ulrich II . (Prinz) von Dänemark ​86

Personenregister

Anhänge

V Vagt, Heinz ​355 Vahlen, Theodor ​293 Veit von, Gustav ​133, 141, 144, 424 Verschuer Freiherr von, Otmar ​282, 284, 321, 325 – 326, 328 Vesal, Andreas ​29, 63, 70 Vesling, Johann ​31 Virchow, Rudolf ​131, 133, 144, 217 – 221, 223 – 227 Vogel, Rudolf Augustin ​128 Vogel von, Samuel (Gottlieb) ​9, 78, 88, 127 – 128, 165 – 166, 171, 423 Vogt, Oskar ​252 Voigt, Anna ​247, 250 – 251, 258, 260 Voigt (Schrader), Kaethe ​250 Vollmer, Gertrud ​250 Voss, Johannes ​36, 43, 46

W Wachholder, Kurt ​132, 255, 306, 314, 425 Wacker, Otto ​293, 296, 297 – 299 Waetke (Fräulein) ​232 Wagner, Gerhard ​312, 316, 324 Wagner, Günther (Firma Pelikan) ​263 Wagner, Wolfgang E. ​36 – 38, 43

Wallenstein (Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein) ​29 Walter (Dr., Zahnarzt) ​395 Warenus, M. ​423 Wasielewski von, Theodor ​209, 267 – 268, 272, 274 – 275, 282 – 283, 425 Wassermann von, August ​277 Weber, August Gottlob ​73, 75, 77 – 79, 84, 86 – 88, 127 – 128, 423, 430 Weinholtz, Carl ​136 Wellcome, Henry ​225 – 226 Wendroth (Adolf) ​241 – 242 Wentzler, Ernst ​253 Wernicke, Carl ​148, 156 Westenhoefer, Max ​219, 227 Wiese, W. (Lehrerin) ​245 – 246 Winckel von, Franz ​133, 424 Wildberg, Ludwig Christian Friedrich ​ 77, 86 – 87, 143 Wildenhain, Günther ​411, 413 Willis, Thomas ​163 Winkler, Friedrich Wolfgang ​278, 283, 302, 312 Winterstein, Hans ​132, 254 – 255, 424 Witte, Friedrich ​203 Witzel, Adolph ​394

Personenregister

Witzel, Anton ​394 – 395 Witzel, Friedrich ​394 Witzel Julius ​394 Witzel (Weiß), Justine Sophie ​394 Witzel, Karl ​394 Witzel, Oscar ​394 Wolf, Christa ​382 Wolff, Bruno ​219 – 220, 223, 225, 227 Wolff, Hans Julius ​219, 227 Wollenberg, Robert ​137, 142 Wolters, Maximilian ​204, 210, 248 Wright, (Sir) Almroth Edward ​266 Würdig (Wirdig), Sebastian ​30, 33 – 34, 423

Z Zehender von, (Karl oder Carl) Wilhelm ​ 17, 97, 107, 109, 112, 114 – 126, 135, 139, 205, 424, 430 Zetkin, Clara ​258 Zetkin, Gertrud(e) ​260 Zetkin, Kostja ​252, 258, 260 Ziegler, Ernst ​223, 225, 227 Ziegler, Kurt ​377, 382 Zukov, Dietrich ​38, 43 – 44, 46

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