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German Pages 687 [692] Year 1971
Gerd Brand, Die Lebenswelt
w DE
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Gerd Brand
Die Lebenswelt Eine Philosophie des konkreten Apriori
Walter de Gruyter & Co. Berlin 1971
Archiv-Nummer 3576701
©
1971 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Str. 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdriidslidie Genehmigung des Verlages ist es audi nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomedianisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Franz Spiller, 1 Berlin 36
Inhaltsübersicht X
Inhaltsverzeichnis
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Verzeichnis der Abkürzungen TEIL I: KRITIK DER PHÄNOMENOLOGIE
1. Kapitel: Die Krise der Moderne und die Entdeckung Lebenszeit als konkretes Apriori
der
§ 1 Zur gegenwärtigen Lage der Philosophie als Motiv einer Kritik der Phänomenologie § 2 Die Krisis der Wissenschaften als Krisis des modernen Lebens in Husserls Sicht § 3 Der Ursprung der modernen Wissenschaft § 4 Das Ideal von Allwissenheit und Allmacht und dessen Scheitern § 5 Lebenswelt und Weltbild § 6 Das Weltbild der modernen Wissenschaft und dessen Verhältnis zur Lebenswelt § 7 Die Krise der Wissenschaften und der Zusammenbruch der Philosophie § 8 Die Philosophie heute und ihre Aufgabe § 9 Die Lage aus der Sidit Heideggers § 10 Das Problem der Geschichtlichkeit der Philosophie § 11 Das formale und das materiale oder konkrete Apriori 2. Kapitel:
3 6 9 12 16 21 29 35 43 45 49
Husserl
§ 12 Die erste Bekundung des konkreten Apriori in der Wesenschau § 13 Die originäre Anschauung als Rechtsquelle aller Erkenntnis und die Frage nach Selbstgegebenheit und Wahrheit § 14 Die Widersprüchlidikeit des Husserlschen Wahrheitsbegrifis und das MißVerständnis von Intention und Erfüllung § 15 Intentionalität, Wahrheit, Enthüllung, Adäquation § 16 Evidenz, Adäquation, Apodiktizität
56 62 65 70 77
VI
Inhaltsübersicht
§ 17 Konkreter Gang zur Einlösung der Forderung nach Evidenz 80 § 18 Horizonthaftigkeit der Erfahrung 82 § 19 Welt und Evidenz 89 § 20 Methodische Erfassung des konkreten Apriori in der Intentional-Analyse 92 § 21 Verschiedene Auffassungen von IntentionalAnalyse 94 § 22 Widersprüchlichkeiten, Mehrdeutigkeiten, transzendentale Paradoxie und Naivität 104 § 23 Lübbes Darstellung der Husserlschen Paradoxie . . 109 § 24 Die Lebenswelt als Problem der zeitgenössischen Philosophie 112 3.
Kapitel:
Heidegger
§ 25 Das Problem der Lebenswelt, der hermeneutisdie Zirkel und die Philosophie als Phänomenologie . . § 26 Die Formalisierung des Verstehens § 27 Die Welt und ihre Subjektivierung § 28 Die "Wahrheit und der Triumph der Subjektivität Exkurs über das Verfehlen der Praxis bei Heidegger 4.
118 127 128 133 135
Kapitel: Sartre § 29 Das konkrete Apriori der Lebenswelt als zentrales Problem der Philosophie Sartres § 30 Das Phänomen und das transphänomenale Ansich- und Für-sich-Sein § 31 Die Beziehung zwischen dem Für-sich und dem An-sich als Nichtung § 32 Der Versuch der Uberwindung der transzendentalen Paradoxie durch das Für-andere-Sein § 33 Der fundamentale Widerspruch in der Philosophie Sartres
5. Kapitel:
138 143 147 150 156
Merleau-Ponty
§ 34 Problemstellung und der Weg der destruktiven Freilegung der Lebenswelt § 3 5 Wissenschaft § 3 6 Reflexionsphilosophie und Sensualismus § 3 7 Wesenschau § 3 8 Sein und Nichts
164 166 173 176 179
Inhaltsübersicht
§39 § 40 §41 § 42
Dialektik Die Welt als Boden der Wahrheit Der Unterschied zwischen Sehen und Wissen . . . . Die doppelte Widersprüchlichkeit meiner uneinholbaren Distanz zur Welt und der Gemeinsamkeit der Welt, die Abkehr vom Cogito §43 Der Leib als Ur-Element § 44 Die Forderung nach einem neuen Cogito
VII
181 184 185
190 193 197
TEIL II: PHILOSOPHIE DER LEBENSWELT
§ 1 Das Verfangensein im kausalen Denken seit Aristoteles 205 § 2 Das Problem des Anfangs der Philosophie 211 § 3 Das Erstaunen und die Frage 217 § 4 Das Unterscheiden als letzte Voraussetzung des konkreten Apriori 220 § 5 Die Erhellung des Unterscheidens in seiner auf sich selbst bezogenen Dreifalt 222 § 6 Das Unterscheiden in seiner radikalen und ursprünglichen Vermitteltheit 224 § 7 Das ursprünglichste Unterscheiden als Verneinung und die Affektivität des Unterscheidens 227 § 8 Das Unterscheiden als Bejahung und Identifizierung 232 § 9 Verneinung und Erfahrung 234 § 10 Die ent- und re-totalisierende Bewegung des Unterscheidens 242 § 11 Die wortlos-worthaftige Letztgegebenheit von Vereinzeltem 246 § 12 Das aufweisende Eingrenzen und das enthüllende Sehen 249 § 13 Die offene Exaktheit und notwendige Unscharfe allen ursprünglichen Verständnisses 254 § 14 Die geführte Willkür des Unterscheidens 258 § 15 Das Zwischen des Unterscheidens im Greifbaren als Zwischenraum 260 § 16 Das Zwischen des Unterscheidens im Ungreifbaren und die Aufdeckung des Mangels als Grundgegebensein des materialen Apriori der Lebenswelt 263 § 17 Gradualität in Polarität, Steigerung, In-sidi-verglichen-Sein und Gerichtet-Sein 268
VIII
Inhaltsübersicht
§ 18 Das Unterscheiden als Vergegenwärtigung im Ansatz § 1 9 Das Als und die Hinsicht § 20 Das Woran und das Wovon § 21 Der Begriff § 22 Die grundsätzliche Metaphorik § 23 Die grundsätzliche Metaphorik und die Sedimentierung § 24 Die Welt in ihrer Konkretion § 25 Die Welt in Objektivität und Formalisierung . . . . § 26 Die Rückbezogenheit der Phänomenologie auf sich selbst § 27 Kommunikation und Ausdruck § 2 8 Rede und Sprache § 29 Die Anderen, die Ur-Metapher des Gesichts und die Affektion § 30 Das Gefühl § 31 Die Verschränkung von Ich und Welt in der Leiblichkeit § 3 2 Verhalten und Gerichtet-Sein § 3 3 Tun und Können § 34 Wollen und Wert § 3 5 Leben § 3 6 Die Arbeit und der Kreis der Selbigkeit § 3 7 Die Produktion und die Mittelhaftigkeit meiner selbst und der Anderen § 38 Mangel und Knappheit § 39 Wahl, Wollen, Freiheit und Situation § 4 0 Ziel, Pragma, Zielvorstellungen § 4 1 Ziele und Motive § 42 Alternative, Zögern, Wählen, Entscheidung, Entschluß § 4 3 Absicht und Zweck-Mittel-Bezüge § 44 Vorsatz, pragmatisches Feld und Welthorizont . . § 4 5 Pragmatisches Feld, Zielfunktion, Zweckfunktion, Handlungs- und Entscheidungslehre § 46 Freiheit und Angst § 4 7 Das Brauchen und die Gewohnheit § 4 8 Die Entwicklung des Mit-den-Anderen-Sein . . . . § 4 9 Das ursprüngliche Einrichten im Geben, Nehmen, Befehlen, Gehorchen und Folgen
271 274 281 286 294 302 304 308 320 328 335 340 348 354 372 376 380 383 386 395 398 400 410 413 421 427 431 437 443 444 455 458
Inhaltsübersicht
§ 50 § 51 § 52 § 53 § 54 § 55 §56 §57 § 58 § 59 §60 § 61 § 62 §63 § 64 § 65 § 66 §67 §68 § 69 § 70 § 71
Die Angehörigen Abhängig-Sein und Müssen Das Sollen und die Ordnung Heimwelt und Fremde Konflikt und Identifizierung Konflikt und Als-obPraxis Praxis, Gruppe, Öffentlichkeit Praxis, instrumentale und menschlich-geschichtliche Rationalität, Ent- und Vermenschlichung Sex, Eros und Liebe Das Ich im Rückkehren auf sich Das Ich als Einziger Der Unterschied zwischen mir und mir selbst . . . . Bewußtsein, Selbst-Bewußtsein und Zeitlichkeit . . Selbst-Vermittlung und Selbst-Bestimmung in Sein, Tun und Haben Das Innen-Leben, das Doppel-Leben und das IchSelbst Das Ich in der Selbst-Rede und der Rede der Anderen Die Selbst-Affektion Die Selbst-Geschichte Der persönliche Mythos Vernunft, Redlichkeit, Vernunftglaube Schuld, Angst, Haß, Liebe, Verzweiflung, Hoffnung
IX
467 473 475 484 490 504 509 514 526 548 581 584 586 588 598 604 607 620 622 625 632 636
Literaturverzeichnis
641
Personenregister
649
Inhaltsverzeichnis TEIL I: KRITIK DER P H Ä N O M E N O L O G I E
1. Kapitel: Die Krise der Moderne und die Entdeckung Lebenswelt als konkretes Apriori
der
§ 1 Zur gegenwärtigen Lage der Philosophie als Motiv einer Kritik der Phänomenologie Philosophie und Antwort auf Grundfragen. Philosophie und Wissenschaft. Wirkungskraft der Phänomenologie in Frankreich und USA. Rechtfertigung einer Kritik der Phänomenologie. Freilegung ihres Ansatzes als Grundlage ihrer Weiterführung. Konkrete Durchführung des Versuchs und seine Spannweite.
§ 2 Die Krisis der Wissenschaften als Krisis des modernen Lebens in Husserls Sicht Sinn und Zweck der Philosophie für Husserl. Ursprung des Husserlschen Philosophierens in der Krise der europäischen Wissenschaften als Krise der Moderne. Verlust der Lebensbedeutung der Wissenschaften. Verschleierung des Verhältnisses des Menschen zur Wirklichkeit, in der er tatsächlich lebt. Zuspitzung der Krise.
§ 3 Der Ursprung der modernen Wissenschaft Durdischaubarmachung der undurchschauten Spannung zwischen Wissenschaft und Wirklichkeit. Frage nach dem Ursprung der modernen Wissenschaft. Ideal eines rational unendlichen Seinsalls und einer systematischen rationalen Wissenschaft, mit der dieses Seinsall beherrscht werden kann. Mathematisierung und „Idealisierung" der Natur. Vergessen des Prozesses der Idealisierung.
§ 4 Das Ideal von Allwissenheit und Allmacht und dessen Scheitern Erfolg der Naturwissenschaften und Ausweitung des Ideals in das von Allwissenheit und Allmacht. Konsequenzen der Objektivierung der Wissenschaften. Verlust der Einheit der Wissenschaften und Scheitern des Ideals der Allwissenheit. Scheitern des Ideals der Allmacht der Wissenschaft. Übergang von Objektivierung zu Formalisierung und Operationalisierung.
§ 5 Lebenswelt und Weltbild Entdeckung der Lebenswelt als unmittelbarer Voraussetzung. Verdeckung des Problems und Schwierigkeiten bei seiner Lösung. Die Lebenswelt mißverstanden als eine einmal histo-
Inhaltsverzeichnis risch gegebene Welt. Vorgreifende Interpretation der Lebenswelt. Nichtthematisierte „Anschaulichkeit" und Konkretion der Lebenswelt. Kontrastierung der Lebenswelt und der sie artikulierenden Zwedcgebilde. Lebenswelt als vorgängig nicht expliziertes Ganzes. Zurückströmen der Zweckgebilde in die Lebenswelt. Spannung zwischen konkreter Welt und „Weltbild".
§ 6 Das Weltbild der modernen Wissenschaft und dessen Verhältnis zur Lebenswelt Vergegenständlichung und Verdinglichung. Quantifizierung und Formalisierung. Beliebigkeit. Operationalisierung. Vertausdiung des Zweckgebildes Wissenschaft mit der Lebenswelt selbst. Metapher des Ideenkleides. Verwechslung von Sein und Methode. Konsequenzen dieser Vertauschung. Habermas. Volkmann-Schluck. Merleau-Ponty.
§ 7 Die Krise der Wissenschaften und der Zusammenbruch der Philosophie Verschärfung der Krise der Wissenschaften durch die Krise der Philosophie. Husserls Begründung f ü r den Zusammenbruch der Philosophie. Naturalismus. Historizismus. Weltanschauungsphilosophie. Forderung einer Philosophie als strenger Wissenschaft.
§ 8 Die Philosophie heute und ihre Aufgabe Husserls Kampf gegen Verdinglichung und Operationalisierung und die Präokkupationen der Neo-Marxisten. Zwischenstellung von Habermas. Objektivismus, Historizismus und Weltansdiauungsphilosophie heute. Europäisierung der Menschheit und Aktualität der Husserlschen Analyse. H . Blumenberg. F. Wagner. Lebenswelt als zentraler Begriff der jüngsten Anthropologie als Wissenschaft von „fremden Kulturen". Die Aufgabe einer Versöhnung der Lebenswelt mit den Wissenschaften. Wege zur Lösung. Holzkamp. Befreiung der Wissenschaften zu sich selbst. Philosophie und Praxis.
§ 9 Die Lage aus der Sicht Heideggers Das Unumgänglidie. Seine Unzugänglichkeit f ü r und durch die Wissenschaften. Besinnung auf den Weg zum eigentlidien Aufenthaltsort des Menschen.
§ 1 0 Das Problem der Geschichtlichkeit der Philosophie Aktualität und Perennität der Philosophie f ü r Husserl. Geschichtliches und kulturelles Apriori der Lebenswelt. I n varianz der Lebenswelt und ihre jeweilige konkrete geschichtliche Gegebenheit. Inadäquation der Reflexion über das lebensweltliche Apriori. Schwierigkeiten dieser Reflexion.
§11 Das formale und das materiale oder konkrete Apriori Die Losung „zu den Sachen selbst". Phänomenologie als eine Philosophie der Erfahrung. Phänomenologie als Philo-
XII
Inhaltsverzeichnis sophie der ständigen Annäherung. Phänomenologie als Philosophie des konkreten Apriori. Abhebung des Apriorismus der Phänomenologie gegen den formalen Apriorismus. Drei Kennzeichen des formalen Apriorismus und deren Widerlegung durch die Phänomenologen. Der phänomenologische Begriff der Erfahrung. Phänomenologie als Philosophie des Vernehmens.
2.
Kapitel:
Husserl
§ 12 Die erste Bekundung des konkreten Apriori in der Wesenschau
56
Gegebenheit idealer Gegenständlichkeiten. Apriorität des „Wesens". Drei Stationen der Wesenschau. Kritische Bemerkungen. Die nur vorklärende Rolle der Wesensdiau. Phänomenologie mißverstanden als Philosophie der Wesensdiau.
§13
Die originäre Anschauung als Rechtsquelle aller Erkenntnis und die Frage nach Selbstgegebenheit und Wahrheit
62
Das Prinzip aller Prinzipien. Leitgedanke der phänomenologischen Reduktion. Gegebenes als Reditsquelle der Erkenntnis und Problem des Irrtums. Evidenz und Selbstgegebenheit. Selbstgegebenheit und reine Selbstgegebenheit. Problem der Wahrheit.
§14
Die Widersprüchlichkeit des HusserIschen Wahrheitsbegriffs und das MißVerständnis von Intention und Erfüllung
65
Interpretation des Husserlschen Wahrheitsbegriffes bei Tugendhat. Mißverstandene Intention. Konsequenzen.
§15
Intentionalität, Wahrheit, Enthüllung, Adäquation
70
Ursprüngliche Intentionalität des Bewußtseins. Uneinholbare Nicht-Immanenz des Bewußtseins. Erfassung des Bewußtseins auf einer ersten Stufe der Reflexion. Ursprung des falsch verstandenen Begriffspaares Intention und Erfüllung. Zweite Stufe der Reflexion. Reflexion in ihrer NichtTransparenz und im Nidit-Einholen ihres Ursprungs. Vermittelnde Intentionalität. Wahrheit als Wirklichkeit. Intentionalität in ihren verschiedenen Modi. Eigentlicher Gehalt der Adäquation. Adäquation und Inadäquation, Fülle und Leere.
§16
Evidenz, Adäquation, Apodiktizität Frage, ob Evidenz als Grundprinzip überhaupt einen sich bewährenden Sinn hat. Inadäquation aller Adäquation. Ersetzen der Evidenz nur durch neue Evidenz. Frage der Adäquation und der Gewißheit. Apodiktische Evidenz. Apodiktizität und Adäquation.
77
XIII
Inhaltsverzeichnis
Konkreter Gang zur Einlösung der Forderung nach Evidenz Suche nach einem apodiktisdi hebung dieses Vorhabens.
Selbstgegebenen.
80
Selbstauf-
Horizonthaftigkeit der Erfahrung
82
Mitgemeintheit und Verwiesenheit. Innenhorizont und Außenhorizont. Horizonthaftigkeit und Welthaftigkeit. Frage nach der Welt. Welt als allen Horizonten transzendenter Totalhorizont. Welt-Habe als ein „Idi-kann". Transzendenz als Bewegung. Welt-Begriff als „In-Begriff" aller Erfahrung. Welterfahrendes Leben.
Welt und Evidenz
89
Welt als Lösung des Problems der Wahrheit und der Evidenz. Wahrheit als Bewahrheitung. Reine Selbstgebung als Konstruktion. Relative Apodiktizität.
Methodische Erfassung des konkreten Apriori in der Intentional-Analyse
92
Fungierende Intentionalität und Akt-Intentionalität. Anonymität. Auseinanderlegung der anonym-fungierenden Intentionalität als Intentional-Analyse.
Verschiedene Analyse
Auffassungen
von
Intentional-
94
Ansatz der Intentional-Analyse beim Einzelnen. Gegenstand als Meinung. Ver-meinen und Meinen. Nicht auseinander gehaltene Mehrdeutigkeit von Meinung. Gegenstand als Bewußtseins-Korrelat. Gegebenes als Synthese von Bewußtsein mit Bewußtsein. Gegebenes in seinem subjektiven Wie der Gegebenheit. Intentional-Analyse als genetisch-historische Analyse. Urstiftung von Wahrheit. Konstitution und Institution. Bewegung der Bewahrheitung: sich selbst überlagernde Ausweitung von Wahrheitserwerben und Sedimentierung. Tradierte Wahrheiten als Vor-Meinungen. Geschichtlichkeit jeden Wahrheitserwerbs. "Die Dimension der Sprache. Lebenswelt, Menschenwelt, Sprachgemeinschaft. U r Stiftung der Wahrheit als Verleiblichung in der Sprache.
Widersprüchlichkeiten, Mehrdeutigkeiten, szendentale Paradoxie und Naivität
tran-
104
Ursprung der Gegensätzlichkeit in Husserls Denken. Transzendentale Paradoxie. Versuch der Auflösung der Paradoxie durch Unterscheidung des Menschen-Ich und des transzendentalen Ich. Scheitern der Auflösung und Verschärfung der Paradoxie als Paradoxie des ego und alter ego. Transzendentale Naivität.
Lübbes Darstellung der Husserlschen Paradoxie . . Husserls Exposition der Aufgabe ohne ihre Lösung. Antworten auf Lübbe.
109
XIV
Inhaltsverzeichnis
§ 24 Die Lebenswelt als Problem der zeitgenössischen Philosophie 112 Wittgenstein. Foucault.
3. Kapitel:
Heidegger
§ 25 Das Problem der Lebenswelt, der hermeneutische Zirkel und die Philosophie als Phänomenologie . . 118 Lebenswelt als Ausgangspunkt des Heideggerschen Philosophierens. Seinsfrage und Analytik der Lebenswelt. Heideggers Philosophie vor der „Kehre". Konkretion des Apriori und hermeneutischer Zirkel. Philosophische Auslegung als „Phänomenologie". Das Da des Daseins und die Welt seines In-der-Welt-seins. Gegebenheit der Subjektivität in Befindlichkeit und Stimmung. Heideggers Übergehen der Leiblichkeit. Verstehen als ursprünglichstes Sein-Können. Dasein als seine Möglichkeit. Entwurf. Absetzung gegen Husserl. Wesen des Daseins als Existenz.
§ 2 6 Die Formalisierung des Verstehens
127
Überaktivierung der Subjektivität. Verstehen als reines Sich-selbst-Vollziehen. Nicht aufgewiesener Zusammenhang zwischen Verstehen und dem Als. Bekundung des konkreten Apriori im Widerspruch der Freiheit.
§ 2 7 Die Welt und ihre Subjektivierung
128
Der Ausgang vom Zeug und das Verfehlen der Welt. Unmittelbare Verankerung des welthaft Begegnenden im Subjekt Geworfenheit als aktives Gründen. Transzendenz als Überstieg zu sich selbst. Rückwirkung auf die Phänomene der Befindlichkeit. Heideggers transzendentaler Widerspruch.
§ 2 8 Die Wahrheit und der Triumph der Subjektivität 133 Wahrheit und Eigentlichkeit. Unverbindlichkeit des Heideggerschen Wahrheitsbegriffs. Unwahrheit und Uneigentlichkeit. Wahrheit als Ubereinstimmung mit sidi selbst. Welt als Arbeitsmaterial des Willens. Welt als Zeugwelt. Exkurs über das Verfehlen der Praxis bei Heidegger.
4. Kapitel:
Sartre
§ 29 Das konkrete Apriori der Lebenswelt als zentrales Problem der Philosophie Sartres 138 Philosophie als Frage. Vorfraglidie Vertrautheit mit dem Sein. Das Konkrete als Lebenswelt. Verhalten als Gegebenes. Verhalten, das wir Fragen nennen, und was es offenbart. Vor fragliche Vorgängigkeit als Möglichkeit von ja und nein. Verbindungen zu Husserls Begriffen der Intentionalität. Sein und dreifaches Nicht-Sein. Bemerkung über Sartres Denkstil.
Inhaltsverzeichnis
XV
§ 30 Das Phänomen und das transphänomenale sidi- und Für-sich-Sein
An-
143
Reduzierung des Seienden auf die Serie der Erscheinungen, die dieses bekundet. Verschwinden alter Dualismen und Entstehen eines neuen zu überwindenden Dualismus. Notwendigkeit eines den Erscheinungen transzendenten Seins. Transphänomenalität des Seins als An-sich-Sein. An-sich-Sein als Bedingung der Enthüllung. Bewußtsein als Bewußtsein (von). Transphänomenale Seinsstruktur des Bewußtseins. Bewußtsein als Für-sich. Zweideutigkeit der Beziehungen zwischen Für-sich und An-sich.
§31
Die Beziehung zwischen dem Für-sich und dem An-sich als Nichtung 147 Gegebensein des Pontys Kritik.
Nichts.
Herkunft
des Nichts.
Merleau-
§ 32 Der Versuch der Überwindung der transzendentalen Paradoxie durch das Für-andere-Sein 150 Sartres Versuch, das Gegebensein der Subjektivität zu erhalten. Wie kann das Für-sich An-sich sein, ohne sich selbst zu konstituieren? Der ursprünglich und der nicht-ursprünglich begegnende Andere. Auftreten des Objekt-Anderen und Desintegration meiner Welt. Der Subjekt-Andere. Gesehen werden. Weltjenseitigkeit des Subjekt-Anderen. Meine Objektität. Der Blick des Anderen als Verweisung auf mich selbst. Die Scham. Anerkenntnis. Transzendenz und Faktizität. Verlagerung des Für-sich ins An-sich durch das Für-andereSein.
§ 33 Der fundamentale Widerspruch in der Philosophie Sartres 156 Unhaltbarkeit der Welt-jenseitigkeit des Anderen. Modifizierung der Welt-jenseitigkeit in der „Critique de la raison dialectique". Die radikale und disjunktive Gegenüberstellung von Ich und Welt als Grundschwierigkeit von Sartres Philosophie. Drei daraus resultierende Widersprüche. Kritik.
5.
Kapitel:
Merleau-Ponty
§ 34 Problemstellung und der Weg der destruktiven Freilegung der Lebenswelt 164 Lebenswelt als zentrales Thema und ihre Problematik. Merleau-Pontys doppelte Methode.
§35
Wissenschaft Wissenschaft als Zweitaussage von der Welt. Verwechselung von Zweitaussage und Erstanschauung. Wissenschaft und neue Frage nach dem Sinn des Seins. Diskussion zwischen Einstein und Bergson. Psychologie und objektivistisches Seinsdenken. Gestaltpsydiologie. Sozialpsychologie.
166
XVI
Inhaltsverzeichnis
§ 3 6 Reflexionsphilosophie und Sensualismus
173
Ersetzen der Welt durch das Gedacht-Sein. Paradoxie des die Welt konstituierenden Ich und des Ich in der Welt. Ignorierung der Welt und der Anderen in der Reflexionsphilosophie. Naivität der Reflexionsphilosophie, die im Vergessen ihres Ursprungs liegt. Sensualismus und Reduktion auf Zustände meiner selbst.
§ 37 Wesenschau
176
Die Abkehr vom Ob und die Hinwendung zum Wie. Herkunft der Auffassung vom Wesen als „einzig authentischem Sein". Voraussetzung der Wesensmöglichkeiten in der Welterfahrung. Falsche Antithese von Wesen und Tatsache. Mythos der Wesenschau. Husserl und die Wesenschau. Das „solide" Wesen.
§ 3 8 Sein und Nichts
179
Welt als Sein ohne Tiefe gegenüber einem Fragenden, der nichts ist. Das rein Negative bietet keinen Ausgangspunkt für die Philosophie. Scheinversöhnung des immanenten Bewußtseins mit dem transzendenten Sein. Negation als leerer Grundsatz. An-sich als bildloses Bild der reinen Abwendung. Das Nichts kann nur auf dem Grunde von Welt erfahren werden.
§ 3 9 Dialektik
181
Destruktion der Dialektik. Dialektik als Methode und nicht als Doktrin.
§ 40 Die Welt als Boden der Wahrheit
184
Das Argument des Falschen. Unriickführbarkeit der Welt auf Wahrscheinlichkeit.
§ 4 1 Der Unterschied zwischen Sehen und Wissen . . . · 185 Die Erstaussage der Philosophie als ein Zweites gegenüber dem konkreten Leben. Schöpfen des Wissens von der Welt aus dem Sehen der Welt. Voraussetzungslosigkeit. Spannung von Sehen und Wissen als Frage. Fragen als ständige Struktur des Welterfahrens. Unerreichbarkeit des Unmittelbaren als Unmittelbaren im Wissen. Horizonthaftigkeit des Unmittelbaren. Wahrheit als Zusammenfallen (Übereinstimmen) „von weitem". Grenze der Philosophie.
§ 42 Die doppelte Widersprüchlichkeit meiner uneinholbaren Distanz zur Welt und der Gemeinsamkeit der Welt, die Abkehr vom Cogito 190 Widersprüdilichkeit einer mit den Anderen gemeinsamen Welt. Die Unerschütterlichkeit der Welt-Gewißheit als nur lebbar und nicht formulierbar. Versuch und Verwerfung der Lösung durch ein „schweigendes Cogito".
Inhaltsverzeichnis
XVII
§ 4 3 Der Leib als Ur-Element
193
Verleiblichung als Auflösung der Schwierigkeiten, die aus dem Gegenüber von Idi und Welt stammen. Verleiblidiung als Von-der-Welt-Sein (en etre). Distanz nicht mehr Hindernis, sondern Mittel. Welt als universaler Leib. Aufgehen des Idi in der Welt. Welt-Inseitigkeit. Leib und Welt ohne Grenzen untereinander. Leib als Ur-Element. Das Band zwischen Leib und Idee. Sublimation des Leibs. Sprache.
§ 44 Die Forderung nadi einem neuen Cogito
197
Fundamentale Zweideutigkeiten der Welt als Leib und des Leibs als Welt. Nicht-Aufklärung des Widerspruchs des Gegenüber von Ich und Welt. Entschärfung der Gegensätzlichkeiten und Aufweisung des Ortes, an dem die Dualität sich ständig gebiert. Der Widerspruch im Herzen der Philosophie. Suche nach einem neuen Cogito. Ein drittes Element zwischen der Welt und mir.
TEIL II: PHILOSOPHIE DER LEBENSWELT
§ 1 Das Verfangensein Aristoteles
im
kausalen
Denken
seit 205
Die implizite Seinsauffassung, die von den Philosophien des konkreten Apriori nicht vollständig in ihrer anonymen Herrschaft aufgedeckt wurde. Der Ursprung dieser Seinsauffassung bei Aristoteles. Der Vorrang der techne. Auswirkungen. Kausalitätsdenken. Schwanken zwischen Verdinglidiung und reiner Prozeßhaftigkeit. Das formale Apriori wird zum nachträglichen. Phänomenologie als eine Philosophie des Vernehmens.
§ 2 Das Problem des Anfangs der Philosophie
211
Die Suche nach dem Anfang und die Vermitteltheit alles Ersten. Vier Feststellungen dazu. Die unumstößliche Gewißheit eines Urkontaktes mit der Wirklichkeit. Letztlidikeit des Sehens und Verstehens. Ausdrücklichmachung der Übereinstimmung, die aller Übereinstimmung zugrunde liegt. Zweierlei Gestalt des Noch-nicht-Einsichtigen. Das Warum des Anfangs. Problem der Beziehung zwischen den beiden Modi des Noch-Uneinsichtigen. Welt der Fraglosigkeit als „positive Welt".
§ 3 Das Erstaunen und die Frage Das Sich-Hervordrängen aus der nivellierenden „Positivität" der Welt. Das Erstaunen bei Aristoteles. Das Weiterführen des Erstaunens im Verfolg des wesentlichen Hinweises von Aristoteles. Mißverständnisse über das Staunen. Die im Erstaunen liegende doppelte Frage. Das Fragen als seine eigene Möglichkeit.
217
XVIII
Inhaltsverzeichnis
§ 4 Das Unterscheiden als letzte Voraussetzung des konkreten Apriori 220 Fragendes Erstaunen als Unterscheiden. Absetzung von Heideggers Begriff der Differenz. Letzte Voraussetzung und Voraussetzungslosigkeit.
§ 5 Die Erhellung des Unterscheidens in seiner auf sich selbst bezogenen Dreifalt 222 Entfaltung des Erstaunens in der Form der Nachzeichnung, der Übersichtlichkeit und der Selbstüberholung.
§ 6 Das Unterscheiden in seiner radikalen und ursprünglichen Vermitteltheit 224 Unmöglichkeit, hinter das Unterscheiden zurückzugehen. MitAuftauchen des Un-Unterschiedenen im Unterschiedenen. Bewegung des Unterscheidens. Auftauchen aus der Indifferenz. Differenzieren und Definieren. Unterscheiden überhaupt und einzelnes Unterscheiden. Unmittelbare Vermitteltheit des Untersdieidens.
§ 7 Das ursprünglichste Unterscheiden als Verneinung und die Affektivität des Unterscheidens 227 Schwierigkeiten beim Unterscheiden des Untersdieidens. Die ursprüngliche und umfassende Mit-Verschmelzung. Unterscheiden und Ent-zweiung. Das ursprünglichste Erstaunen in der unterscheidbaren Form der Verneinung. Freuds Studie über die Verneinung. Die ursprüngliche Verneinung in ihrer unmittelbaren Vermittlung. Der affektive Ursprung aller Logik. Affektivität des Urteils bei Husserl.
§ 8 Das Unterscheiden als Bejahung und Identifizierung 232 Das Sein-bei-etwas als Identifizierung. Identifizierung und Imitation. Graduelle Modi der Identität und Identifizierung.
§ 9 Verneinung und Erfahrung
234
Verneinung und Bejahung. Ent- und Re-totalisierung. Unterscheiden als bestimmte Verneinung. Erfahren als Widerfahren. Erfahren und Welterfahrung. Gültigkeit und Endgültigkeit. Welterfahrung und Weltmeinung. Die Erfahrung im ständigen Ändern ihrer selbst. Negation und Negatives. Neuerfahren und Anpassung. Urmodus der Verdrängung. Welterfahrung im Modus der Welt-offenheit.
§ 10 Die ent- und re-totalisierende Bewegung des Unterscheidens 242 Verstehen bei Husserl, Heidegger, Sartre als totalisierender Prozeß. Verdeckung der vorgängigen Bewegung der Enttotalisierung. Sartres Darstellung. Ent- und Re-totalisierung
Inhaltsverzeichnis
XIX
bei Gadamer. Die Welt als das Eine, das ständig uneins wird und doch Eins bleibt. Die Welt als Grund der Selbigkeit und als untersdieidbare Einheit aller Unterschiedenen. Welt ist nidit das „In" der Indifferenz.
Die wortlos-worthaftige Vereinzeltem
Letztgegebenheit
von 246
Die Frage nach dem Ende der Bewegung, der Enttotalisierung und das Einzelne als Ent-Totalisiertes. Das Vereinzelte als Selbstgegebenes. Circulus definiendo et demonstrando. Unhintergehbare Selbstgegebenheit und Folgen für die erfassende Beschreibung. Das aussagende „Wort" und die in ihm erscheinende Ursprünglichkeit und gleichzeitige NichtUnmittelbarkeit des Selbstgegebenen. Wertlosigkeit und Worthaftigkeit des ursprünglich Gegebenen. Wittgensteins Aufweisung der Verwobenheit von wortloser und worthafter Selbstgegebenheit.
Das aufweisende Eingrenzen und das enthüllende Sehen 249 Die Einkreisung des Vorgegebenen durch das, was es nicht ist. Aufweisung als Blicklenkung. Vergleich mit Bergsons „Intuition". Die scheinbar tautologische Wiederholung phänomenologischer Analysen. Die Aufweisung der Voraussetzungen des „Wissens" im „Sehen". Wittgensteins Ersetzung von „Erklärung" durch Beschreibung. Erklärung im üblichen Sinne und phänomenologisches Verstehen. Die dem Vereinzelten immanente Ent- und Re-totalisierung.
Die offene Exaktheit und notwendige Unscharfe allen ursprünglichen Verständnisses 254 Das Problem der Ent-totalisierung auf Vereinzeltes und der Exaktheit. Exaktheit und Strenge. Die notwendige Unexaktheit bei Wittgenstein. Der Ursprung des Begriffs der Exaktheit in der herstellenden Praxis. Die Inadäquation aller Adäquation und die Artikulation des Verstehens in Vorverständnis und ausgelegtes Verständnis. Scheinbare Adäquation der Exaktheit. Verstehendes Sagen und verstellendes exaktes Aussagen.
Die geführte Willkür des Unterscheidens
258
Unwillkürliche Willkür und die Metapher von Lesen und Schreiben. Das unbeschreibbare Weil. In-die-Welt-Treten des Unterscheidens. Verschiedenes Unterscheiden Desselben.
Das Zwischen des Unterscheidens im Greifbaren als Zwischenraum 260 Die Entdeckung des Zwischenraums im Erstaunen. Trennende und verbindende Kontinuität des Zwischen. Nähe und Ferne. Zwischenraum und Leiblidikeit. Die Lebendigkeit des Raums. Hylozoismus als „natürlichste Weltanschauung".
Inhaltsverzeichnis
Das Zwischen des Unterscheidens im Ungreifbaren und die Aufdeckung des Mangels als Grundgegebensein des materialen Apriori der Lebenswelt . . 263 Unterschied als zwiespältige Einheit. Das nie einholbare Zwischen als mein uneinholbarer Mangel. Die Vermittlung des Zwischen vom Unmittelbaren ins Mittelbare. Der Mangel und das Mangeln. Der Mensch als Mangelwesen im Vergleich zu Gehlens Definition. Der Unterschied zwischen Mangel und Fehlen. Mangel als das trennende und vermittende Zwischen des Unterscheidens und des Unterschiedenen. Das Mißverständnis Sartres über den Mangel. Der Mangel als Möglichkeit und Grund von Wünschen, Wollen und Tun. Nicht-Subjektivität des Mangels.
Gradualität in Polarität, Steigerung, In-sich-verglichen-Sein und Geriditet-Sein 268 Gradualität (Nidit-Nivellierung) als Urmodalität des konkreten Apriori. Optisches Beispiel. Bekundung der Vermittlung als ständiger Übergang und ständige polare Vermittlung in der Gradualität. Gradualität als Steigerung. Gradualität und Komparativität alles Seienden mit sich selbst. Komparativ vercfoppelte Selbstbeziehung des Unterscheidens.
Das Unterscheiden als Vergegenwärtigung im Ansatz 271 In-sich-verglichen-Sein alles Unterschiedenen. Vergegenwärtigung im Ansatz. Ausdrückliche Verdoppelung des unterscheidenden Erfassens als zur Sprache kommen. Unterscheiden als Kundgabe und Kundnahme ineins. Ge-wärtigung und nicht Wahrnehmung als ursprünglichste Art der Erfahrung.
Das Als und die Hinsidit
274
Die Verwiesenheit des Unterscheidens auf sich selbst und auf anderes. Artikulation der Differenz im Als. Zunächst unausdrückliches Als. Ausdrücklichmachung des Als. Im Erfassen des Als liegt zugleich ein Sehen und Deuten. Wittgensteins entsprechende Aufweisung. Ausdrücklidiwerden der SelbstDifferenz und Selbst-Abhebung im Als. Sehen und Deuten als zwei Leitfäden. Hinsichtlichkeit und Perspektivität. Vorgegebenheit des Horizonts. Der Gegenstand als das Implizite aes Horizonts. Horizont und Hinsicht. Hinsicht als jeweilige Relevanz meines Unterscheidens. Diskontinuierlidikeit der Hinsichten. Gradualität in gradueller Diskontinuierlidikeit. Dreieinigkeit des Unterscheidens.
Das Woran und das Wovon Leitfaden des sehenden Deutens. Halb-sehendes, halb-deutendes Abheben des Als. Das Woran. Woran und Was. Was und Wovon. Ursprüngliche Verdoppelung. Noesis und Noema. Bedeuten, Bedeutetes und Gedeutetes. Wittgensteins Beispiel zur graduellen Abhebung des Als.
281
Inhaltsverzeichnis
§ 2 1 Der Begriff
XXI
286
Gegenüberhalten des Als. Begreifen als Unterscheiden meines Unterscheiden im Unterschied zum Unterscheiden des Unterschiedenen. Vergegenständlichung des Als und Wiederholbarkeit des Begriffs. Verleiblichung von Bedeutung und Idealität im Wort. Wort als ausgedrücktes und dabei sich selbst mangelndes Unterscheiden. Derrida. Gadamer. Idealität als unendliche Wiederholbarkeit. Idealität als Idee. Vermittlung des Singularen und Universalen. Okkasionalität oder Situationsgebundenheit aller Bedeutungen und Begriffe bei Husserl, Wittgenstein und Gadamer. Begriff als Index des Begreifens und als vergegenständlichte Reflexion. Der Ausdruck eines vielfachen Zwischen im Wort. Gradualität als Zwischen zwischen dem Konkreten und dem Begriff in den von Goldstein und Scheerer beobachteten pathologischen Fällen. Vermittlung des konkreten Gegenstands und des allgemeinen Begriffs im Wort. Der im Begriff liegende Hinweis auf meine eigene Abwesenheit.
§ 22 Die grundsätzliche Metaphorik
294
„Vor"-gegebenheit des konkreten Apriori. Beziehung zwischen konkretem Apriori und Aposteriori. Die In-Varianz des konkreten Apriori in den Varianten des konkreten Aposteriori. Gegebenes Vorverständnis und sich-bildende Erfahrung. Überlagernde Ausweitung und Übertragung des ursprünglich Sinnhaften. Konstitution und Institution. Wittgensteins „Familienähnlichkeit". Gadamers grundsätzliche Metaphorik. Löwiths grundlegende Analogie. Ähnlichkeit als Urphänomen bei Günther Anders.
§ 23 Die grundsätzliche Metaphorik und die Sedimentierung 302 Messen und Idealisieren als Vereinfachungsleistung der Metaphorik. Sedimentierung und Extrapolation zugleich. Sedimentierung und Vergessen. „Falsche" Metaphern. Leitfaden und Rückgang zu den Ur- und Matrizen-Metaphern.
§ 24 Die Welt in ihrer Konkretion
304
Die Parallele der Vermittlung des situationsgebundenen Einzelnen mit dem Universalen in Hinsicht auf die Welt als Vermittlung der „Erde" und der „objektivierten Welt". Situiertheu. Das Um-mich-herum, das Erreichbare, die Reichweite. Wohnen. Dort, Da. Himmel und Erde. Hier und Dort. Gegenwärtigkeit der Welt. Meine Gegenwart. Einmaligkeit und Undeklinierbarkeit der Welt.
§ 25 Die Welt in Objektivität und Formalisierung . . . . Das Andere als Nicht-eigenes. Vermittlung der Jeeigenheit der Situiertheit durch die Jeeigenheit der Anderen. Gotthard Günthers Asymmetrie des Reflexionsprozesses. Jemeinigkeit und gemeinsame Welt. Abstraktheit des allen Gemeinsamen als des Niemand-Eigenen und zugleich allen Eigenen. Subjekt als abstrakter Leerpol. Das „Objektive" als das von der Gemeinschaft der in abstrakter Hinsicht betrachteten Subjekte „gültig ausdrückbar gemachte". Tren-
308
xxn
Inhaltsverzeichnis nung von Objektivität und Gültigkeit. Unterschied zwischen Objektivem und Vergegenständlichtem. Objektivität, Entperspektivierung und Entsituierung. Graduelle Formalisierung in ihrer impliziten Rückbeziehung auf den materialen Gehalt bei Husserl, Wittgenstein, Gurvitsch. Formalisierende Formalisierung. Formalisierung als Mathematisierung der Geisteswissensdiaften bei Kojeve. Auswirkungen des Formalismus auf die gegenwärtige Zeit. Formalisierung und grundsätzliche Metaphorik. Formalisierung und Wissenschaften. Verdeutlichung der in den Wissenschaften formalisierten Hinsichten. Immunisierung gegen Erfahrung.
§ 2 6 Die Rückbezogenheit der Phänomenologie auf sich 320 selbst Paradoxe Schwierigkeit der Neigung über das Vor-AugenLiegende hinauszugehen und das zugrunde Liegende nocheinmal zu interpretieren. Wittgensteins Kennzeichnung der Philosophie durch diese Schwierigkeit. Verdecktheit. Eigentümlichkeit des phänomenologischen Vernehmens. Rückbeziehung der Phänomenologie auf sich selbst. Das „Sprachspiel", das man nicht lernen kann. Implikationen der Rückbeziehung, dargestellt bei einer Reihe von Autoren. Allgemeine und formale Definition der Philosophie von Kojeve. Überwindung des axiomatischen Scheins. Rapaport. Axelos. Adorno. Vorrang des Inhalts als Insuffizienz der Methode. Wissenschaft und Philosophie als „kritische Wissenschaft". Das Eingehen des philosophisch Redenden in die Rede. K o jeves Definition des Hegeischen Begriffs der Philosophie. Restriktion des Ausgangs vom Redenden als positive N o t wendigkeit bei Heidegger. Wahrheit und Kommunizierbarkeit. Nicht aufzuholende Unvollendung und inchoativer Charakter der Philosophie. Vorläufige Endgültigkeit philosophischer Ergebnisse. Inadäquation aller Adäquation und der Charakter philosophischer Besinnung.
§27
Kommunikation und Ausdruck
328
Vorgegebenheit der Kommunikation im konkreten Apriori. Allgegenwart Anderer in meiner Gegenwart. Kommunikation als Zwischen der Menschenwelt. Kommunikation und Information. Mit-teilen und mit-einander-teilen. Heraustreten aus sich selbst. Aus-druck, Innen und Außen. Äußeres, Ausgedrückt-Sein, Ausdruck-Haben. Ich bin selbst nur Selbst als ständig in und außer mir. Selbst-bekundung als Selbstäußerung. Leib als Ausdruck. Gradualität des Ausgedrücktseins. Leib, Geste, Wort. Selbstbekundung und Welt-bekundung durch das Wort. Wort als Medium der unmittelbaren Einmaligkeit und der unmittelbaren Universalität.
§28
Rede und Sprache Rede im Wort als dessen Verwiesenheit. Umfassend-Sein der Rede. Nicht-verbale Rede. Wahre und falsche Rede. Rede als Rede über. Rede und Beredetes. Rede als diskontinuierliche Einheit, als Dis-kurs. Hinsichtlichkeit der Rede. Sprache. Sprache als Ur-Medium. Verdoppelung der Verweisung der Rede auf die Sprache. Verstehen und Verstelltheit des Verstehens in der Sprache.
335
Inhaltsverzeichnis
XXIII
§ 29 Die Anderen, die Ur-Metapher des Gesichts und die Affektion 340 Vermittlung des singularen Ich aus der All-gemeinheit der Sprache und der Allgeraeinheit der Menschenwelt heraus. Konkrete Vermittlung durch konkrete Andere. Vorfindlichkeit der Anderen. Allein-sein. Das Sich-unterscheiden-vonAnderen. Vielfältigkeit der Anderen. Okkasionalität des Du. Die Ur-Anderen. Ursprünglichkeit der Anderen als Gesicht. Der Andere ist nie mein alter ego. Ur- und Eigenmächtigkeit des Gesichts. Das Sich-Entziehen der Einmaligkeit des Anderen in der Sprache. Vermittlung des Gesidits in seinem Mich-mir-Bedeuten. Weitervermittlung in die Ab-sicht. Das Sein-Lassen durch die Anderen. Gesicht als ultime Gestalt des konkreten Apriori und das Aus-sehen der Welt. Affektivität und Affektion. Unmittelbares Vermittelt- und unmittelbares Selbstsein des Selbst in der Affektion.
§ 3 0 Das Gefühl
348
Affektion und Gefühl. Unmittelbarkeit von Empfinden und Fühlen. Fühlen als unmittelbare Vermittlung meiner selbst. Analysen von Straus und Landgrebe. Gefühl als Irreduktibilität des Selbst. Das An-mich-selbst-gebunden-Sein in meinem Affiziert-Sein. Umgekehrte Intentionalität des Gefühls. Ur-Passivität. Unwahrnehmbarkeit und Unerhellbarkeit des Gefühls. Es gibt keine wahren oder falschen Gefühle. Vorstellungen von Gefühlen im Modus des Als-ob. Quasi-Vergegenständlichung des Gefühls und Selbst-verstellt-Sein.
§31 Die Verschränkung von Ich und Welt in der Leiblichkeit 354 Vermittlung von Innen und Außen durch den Leib. Leiblichkeit als Zwischen. Zentrierung und Dezentrierung. Leibliche Befindlichkeit in der Vermittlung von Wohlbefinden und Mißbefinden. Wohlbefinden als quasi unbemerkbare Vermittlung zwischen mir und der Welt. Mißbefinden und Innerleiblichkeit. Der Leib in seinen „Teilen". Leib und Körper. Passives Leibschema. Leib als zweideutige Mitte. Leib im Tun und Können. Abwehr der Auffassung des Leibs als Instrument. Bildung des Spielraums meiner Tätigkeit durch den Leib. Exzentrierung meiner selbst und Konzentrierung der Welt im Leib. Leib als Weltknotenpunkt. Umsetzung von Welt und Ich im Leib. Kompression und Ausdehnung als Problem der Leiblichkeit. Auswahl und Entlastung in der Welt-Konzentration. Leibliche und geistige Mobilisierung. Mobilisierte Konzentration und Einstellung. Dynamisches Leibschema. Zwischenmenschliche Aspekte der Leiblichkeit. Leiblichkeit als „bedeutender" Ausdruck für die Anderen. Die Erfahrung der eigenen Ausdrücklichkeit als durch die Anderen vermittelte Zweiterfahrung. Das Sichhalten in der Differenz des Ausdrückens und die sprechende Stimme.
XXIV
Inhaltsverzeichnis
§ 32 Verhalten und Gerichtet-Sein
372
Ins-Verhältnis-gesetzt-Sein. Verhalten ist Sich-Verhalten. Verhalten und Stellungnahme. Selbstvermittlung und SichVerhalten. Ich selbst als Mittel meiner selbst. Das Gute als das Darauf-aus-Sein meiner selbst. Gut-für und Gut-zu. Nicht-wissen des Gut-für-mich. Zwiespältigkeit und Anonymität meines Gerichtetseins.
§33 Tun und Können
376
Gerichtetsein als Horizont des Tuns. Tun als Selbst-Bewegung. Tun und Mangel. Tun und Unterscheiden. Die das Tun durchwaltende Differenz zwischen Tun und Können. Können als Differenz zwischen Tun und Tun. Differenz zwischen Können und Können. Potentia secunda und potentia prima bei Thomas von Aquin. Das Zwischen von Können und Tun als Widerstand. Akt und Potenz.
§ 3 4 Wollen und Wert
380
Mangel als Grund von Tun, Wünschen, Wollen und Handeln. Wollen als Bestimmtsein durch den Mangel. Mangel als Grund des „Wertvollen". Wert als unfaßbarer Horizont. Verwechselung von einzelnen Werten mit dem Wert. Nichtwissen der mich bestimmenden Werte. Mangel, Wert und Unterschied.
§ 3 5 Leben
383
Vermittlung des Selbst in seiner Bewegung als vermittelter Ausdruck zwischen dem Selbst und Anderen. Leben. Leben als ständiges Auf-anderes-aus-Sein als auf sein Mehr und Immer-mehr. Bewußtes Leben als Brauchen und Wollen seiner selbst. Selbsterhaltungstrieb und Selbsterhaltungswille. Leben als Geschehnis einigender Differenzierung. Leben und Widerstand. Leben als brauch-bar Madien.
§ 36 Die Arbeit und der Kreis der Selbigkeit Überwindung des Mir-Widerstehenden als Arbeit. Arbeit als anstrengende Umwandlung von anderem für mich selbst. Konkrete Arbeit und konkrete Aufgabe. Aufgabe und Gerichtetsein. Integrierende und iterative Differenzierung der Arbeit als Kreis der Selbigkeit. Das Schließen des Kreises der Selbigkeit in der Ein-nahme des vorgängig von mir Unterschiedenen und Getrennten. Das Schließen des Kreises der Selbigkeit in meiner Bestimmung durch die Aufgabe. Lösungszwang der Aufgabe. Aufgaben- und Mittelstruktur meines Weltlebens. Ent-werfen auf das Vor-werfen der Aufgabe als pro-ballein, Problem. Ich selbst als Problem. Grundproblem, Problematik und Problem. Alltägliche Problematik und Grundproblematik. Das Schließen des Kreises der Selbigkeit in der Vermittlung meiner Fähigkeiten durch die Aufgabe. Stärke und Kraft. Das Schließen des Kreises der Selbigkeit in der Aufgabe der Erneuerung der inneren Kraft. Zusammenfassung.
386
Inhaltsverzeichnis
XXV
Die Produktion und die Mittelhaftigkeit meiner selbst und der Anderen 395 Lösung der Aufgabe als Produktion. Hervor-holen, Hinausführen, Produziertes. Innewohnen meiner Kraft in von mir Aus-geführtem, Produziertem. Arbeit. Eigen-tum und Eigenheit. Problematik der Marxsdien „Entfremdung". Uneinholbare Mittelhaftigkeit meiner selbst und der Anderen. Problematik der Benutzung der Anderen als Mittel.
Mangel und Knappheit
398
Mangel und Knappheit. Knappheit als „Zu-wenig". Vermittlung des Endlidi-Seins. Un-endlichkeit. Zeit als Unterschied des Mangels selbst.
Wahl, Wollen, Freiheit und Situation
400
Mangel und Knappheit als Grund des Wählen-Müssens. Mangelhaftigkeit des Zu-Wählenden und Bekundung der Freiheit. Wahlmöglichkeit ist nicht Möglichkeit der reinen Wahl. Liberum arbiter indifferentiae. Zwei Grundirrtümer über das Wollen. Wollen ist nichts Punktuelles. Freiheit ist nicht total. Ständigkeit und Beständigkeit des Wollens. Vorgegebenheit meines Möglich-Seins und gebundene Freiheit. Situation. Unübersteigbarkeit meines Standpunktes und Unmöglichkeit, frei einen Standpunkt einzunehmen. Immer-inSituation-Sein. Situation ist nicht Lage. Ich selbst als FixPunkt meiner Situation und meine Fixierung an midi selbst. Situation als AfFektion. „Da" meines „Dazwischen". Unübersteigbarkeit meines ständigen Übersteigens. Aufgabenstruktur der Situation. Freiheit als ursprünglich situierte. Umstände der Situation. Verfügbares und Gefüge. NichtErhellbarkeit der Situation von außen. Hinsiditlichkeit der Situation und Aussicht. Situationsraum und lokaler Raum. Freiheit-von und Freiheit-zu. Verwerfung der Unterscheidung der Freiheit nadi einem inhaltlichen und einem formalen Moment. Verniedlichung des Gegensatzes zwischen freiheitlichen und unfreiheitlidien Forderungen.
Ziel, Pragma, Ziel Vorstellungen
410
Gerichtet-Sein und Streben, Spannung des Strebens. Strebensimmanente Ziele. Ziel als Anders-Sein von etwas. Ziel als zu realisierendes Pragma. Anders-sein-Sollen und Andersmachen. Grundsätzliches Offenbleiben des Ziels als Pragma. Willensziel, Zielvorstellung, Zielinhalt, Zielbewußtsein.
Ziele und Motive Pragma und Motiv. Motiv als das Ziel durdiherrschende Differenz. Woraufhin und Anlaß. Widerständigkeit des Anders-sein-Sollens als Motiv. Motiv als immer schon ergriffenes. Verquickung von Ziel, Entwurf, Motiv. Verwechselung der Motive mit Ursadien. Tun-Wollen in nicht-vollziehbarer Differenz von Entscheidung, Entsdiluß und Motiv. Einzel-motiv und umfassendes Motiv. Nidit-Begrifflidikeit umfassender Motive. Verwechselung von Motiv mit Um-
413
Inhaltsverzeichnis
XXVI
stand. Schutz' Unterscheidung zwischen Um-zu-Motiven und Darum-Motiven. Darum-Motiv und Umstand. Motiv mißverstanden als Zustand, der auf seine eigene Reduzierung geht. „Schub"- und „Zug"-Theorien über Motive.
§ 42
Alternative, Zögern, Wählen, Entscheidung, Entschluß 421 Gegenseitige Implikation von Entschluß und Motiv und das Phänomen des Zögerns. Motiv und ergriffene Möglichkeit. Vielfalt des Möglich-Seins. Das Un-eins-Sein des Ich im Zögern. Zögern als versuchtes Entwerfen auf versuchte Motive. Das Entwerfen des Motivs als immanente Veränderung des Entwurfs selbst. Wählen nicht als wählen-zwischen-, sondern als wählen-von-, Unexaktheit der Mehrfältigkeit meiner Möglichkeiten. Auswählen und deliberatio. NichtKoexistenz der Möglichkeiten, ν ο ί ο η ΐ έ antecedente, volonte moyenne, volonte finale bei Leibniz. Wählen als Ent-scheiden. Entscheidung und Entschluß. Möglichkeit als ergriffene und nicht gesetzte Ereignismöglichkeit. Entschluß und Selbstverantwortung.
§ 43
Absicht und Zweck-Mittel-Bezüge
427
Entscheidung, Entschluß und Absicht. Differenz von Motiv und umfassender Motivation. Worum-willen. Absicht als Hinsicht des Wollens. Ziele und Zielrichtungen. Undeutlichkeit der Zielrichtungen. Artikulation der Hinsicht durch die Absicht als ein Feld von Zweck-Mittel-Bezügen. Drei miteinander vermittelte Phasen des zweckhaften Wollens. Doppelte Labilität und Starrheit der Zweck-Mittel-Struktur.
§44
Vorsatz, pragmatisches Feld und Welthorizont . .
431
Absicht, Beabsichtigung und Vorsatz. Pragmatisches Feld, Milieu, Umwelt. Facienda, manipulanda, utilitanda. Dienlichkeit und Zweckdienlichkeit. Das Fraglich-Werden der offenen Möglichkeiten in der Absicht. Problematisch gewordenes pragmatisches Feld als Grundlage der Entscheidungstheorie. Entscheidungslehre des Aristoteles. Pragmatisches Feld und Plan. Ablauf-plan und geplante Strategie, pragmatische Planung. Die abstrakten Grenzfälle des vorgegebenen Ziels und der völligen Indifferenz. Problematisch-Werden des pragmatischen Feldes in sich selbst und hinsichtlich anderer pragmatischer Felder. Unmöglichkeit der Hierarchisierung und Thematisierung der pragmatischen Felder in einem umfassenden Wert-Horizont. Un-gleichwertigkeit und Un-gleichartigkeit.
§ 45
Pragmatisches Feld, Zielfunktion, Zweckfunktion, H a n d l u n g s - und Entscheidungslehre 437 Beschränkung des Tun-Wollens auf das Tunliche. Möglichkeiten in der Welt und Möglichkeiten in mir. Artikulation des pragmatischen Feldes durch Einzelentscheidungen als Zielfunktion. Implikationsfunktion, Suffizienzfunktion. Gestaltungsfunktion. Finis operis, finis operationis, finis operantis. Zweckfunktion. Zwecksetzungsfunktion. Die Mittelfunktion
χχνπ
Inhaltsverzeichnis
und ihre Gegenläufigkeit zur Implikationsfunktion. MittelExploration. Ziel- und Zweckfunktion in der Oberschaubarmachung des pragmatischen Feldes. Theoretische Artikulation des pragmatischen Feldes und praktisches Rechnungtragen. „Theoretisch" und „praktisch". „Wesentlich" und „unwesentlich". Uneinholbare Ungenauigkeit und Partialität von Wollen und Tun.
Freiheit und Angst
443
Die Bekundung der ungebundenen Bindung des Wollens an sich selbst als Freiheit in der Angst. Freiheit und Endlichkeit.
Das Brauchen und die Gewohnheit
444
Die Frage nadi der Vermittlung des konkret „Wertvollen" und ihre Rückführung auf die vier Grundfragen Kants. Hinzufügung einer fünften Frage: „Was ist die Welt?" Vorzeichnung des weiteren Wegs durch die doppelte Vermittlung meines Leibs und meiner Geschichtlichkeit. Geschichtliche Vermittlung in dreifachem Sinn. Leiblich-befindliches GerichtetSein und die konkrete Vermittlung des Mangels als Brauchen. Über-sich-hinaus-für-sich-Sein im leiblich-ichlichen Getriebensein. Trieb als getriebenes Brauchen des Leibs. U n freiheit des Brauchens und Selbstbesitz. Einverleiben, verbrauchen und ge-brauchen. Ein-ver-leiben des Leibs im Schlaf. Brauchen als Ermangeln von Bestimmtem. Allgemein Bestimmtes und konkret Bestimmtes als beliebig Bestimmtes. Der Leib als erster Enthüller von Werten. Periodizität leiblicher Bedürfnisse und Einrichtung in ein Wertsystem durch die Gewohnheiten. Ichlich-leibliches Eingerichtet-Sein in sich selbst und in die Welt hinein als Gewohnheit. Gewohnheit als Erwerb neuer Bedeutungen in der Welt selbst. Erleichterung und Entlastung und gleichzeitige Festlegung und Beschränkung durch die Gewohnheit. Selbstverständlichkeit und Selbstfremdheit der Gewohnheit. Mehr leibliche und mehr affektive Gewohnheiten. Gradualität von Ekstase und Affekt. Mangel, Affekt und Unangepaßtheit. Gewohnheiten als Aktionsschemata und Affektionsthemata.
Die Entwicklung des Mit-den-Anderen-Sein
....
455
Genesis des Hineinwachsens in das Mit-den-Andcren-Sein. Phänomenologie ist immer genetische Phänomenologie. Ich als ein Anderer unter Anderen. All-eins-Sein des Kleinkindes. Ursprüngliche Affektivität des Unterschieds bei Erikson. Das Unterscheiden von Anderen ohne sich selbst zu unterscheiden. Ur-Sozialisation und Personalisation. Das Zusammenmit.
Das ursprüngliche Einrichten im Geben, Nehmen, Befehlen, Gehorchen und Folgen 458 Normativität der ersten Erfahrungen. Normativ und normal. Normativer Normalfall der Familie. Verwandtschaftsstrukturen als Grundstrukturen der Gesellschaft. Geben, Nehmen, Befehlen. Das Sith-selbst-Mangeln des Leibes beim Kleinkind. Das Haben des Leibes der Anderen. Ich-Unter-
XXVIII
Inhaltsverzeichnis Scheidung und Unterscheidung des eigenen Leibes. Vor-Identifizierung. Ur-Egozentrismus. Ur-Sympathie. Vor-Identifizierung, Ur-Sympathie und Mit-vollzug bei Scheler. Empfangen. Hinnehmen. Nehmen als Wegnehmen. Erstes Auftauchen von Gegensätzlichkeit. Abhängigkeit. Geben als Hinhalten und Machen. Erster Unterschied der Zeit als Wartezeit. Das Madien des Anderen als Unterscheiden und Ordnen. Zeigen und Befehlen. Einrichtung durch den Anderen. Vorzeigen, vormachen, machen und nachmachen. Besetzende Identifizierung. Folgen und Gehorchen. Besetzung durch den Anderen und Abnehmen der eigenen Aufgabe.
§ 50 Die Angehörigen
467
Hören als fundamentale Metapher. Kontinuierliche Präsenz des Anderen im Rhythmus des Fort-da. Die Anderen-zusammen-mit-mir als meine Einrichtung. Die Affektion durch die Anderen. Hören auf mich als Antwort-Geben. Lieb und böse als erste mittelbare affektive Unterschiede. Vergegenständlichung der Beziehung zu den Anderen. Ur-Situation und Primitivität. Mutter und Ursprung. Erstes Unterscheiden der Liebe. Liebe und Abhängigkeit. Liebe und Notwendigkeit meiner selbst. Liebe und reines Mittel-Sein. Vater. Vermittlung von Typisierung und Individualisierung. Kern-Familie. Vater als Autor des Einrichtens. Autorität. Strenge.
§51 Abhängig-Sein und Müssen
473
Müssen und es selbst nicht können. Müssen als Dringlichkeit des Selbst-Seins. Sein-Müssen, Haben-Müssen, Tun-Müssen. Sollen. Es-sollte. Selbstheit und Unabhängigkeit. Umkehr des Hörens. Verantwortung. Angewiesen-Sein.
§ 52 Das Sollen und die Ordnung
475
Zwang der Autorität. Zwang als doppelt blinder. Das Einrichten der Autorität im Rechten. Autorität als gerechte. Einrichten, Ortung und Ordnung. Ur-Struktur der Ordnung. Ordnung in dreifachem Sinn. Lieb, böse und gut, schlecht. Das Sollen von außen und innen. Vermittlung von Autorität und Sollen als doppelter Zwang. Sanktion, Strafe, Belohnung, Lob, Tadel und Selbst-Unterscheidung. Aktives und passives Sollen. Sein-Lassen. Tabu. Doppelter Widerstand des Sollens. Sollen f ü r mich. Er-halten und er-ziehen. Selbständigkeit und Unabhängigkeit.
§ 53 Heimwelt und Fremde Unterscheidendes Durchwandern der Genesis. Unterscheiden der Anderen und meiner selbst in Gruppen. Ur-gruppe. Klein- und großräumige Sozietät bei Bergstraesser. Unmittelbare Vermittlung der Zusammengehörigkeit. In-group, out-group. Ur-gruppe, Heim, Heimat. Heimwelt. Vier Funktionen der Ur-gruppe nach Parsons. Fremde. Die Fremde, und das Fremde. Das Unheimliche.
484
Inhaltsverzeichnis
XXIX
§ 54 Konflikt und Identifizierung
490
Fremdwelt im Konflikt mit der Heimwelt. Erstes unvergegenständlidites Auftaudien des Konflikts in der Gestalt des Gegners. Konflikt ursprünglich erscheinend als Gruppen-Konflikt. Konflikt zwischen Heimwelt und Fremde als Normalsituation. Verdeckung des Konflikts in der Heimwelt, ö d i pus-Konflikt. Ausbruch des Konflikts als Einbruch der Fremde. Konflikt als Ur-modus meines Mangels. Die Urtäusdiung über die Anderen als nicht-im-Mangel-seiend. Selbst-täuschung als Nicht-Mangel. Vergegenständlichung des Mangels und der Andere als scheinbarer Grund des Mangels und des Konflikts. Konflikt-Grund-Suchen. Doppelte Blindheit im Unterscheiden von Anderen als Konflikt-grund. Verstellung des Konflikt-grund-sudiens. Konflikt im Konflikt mit sidi selbst. Das Unangenehme des Konflikts. Personalisierung des Widerstreitenden. Der Andere im Konflikt als böse. Der Andere als Auch-Gegner. Doppelung des Konflikts in sidi selbst. Konflikt, Sein-Müssen und Abhängigkeit. Das Weg-haben-Wollen des Anderen. Schein-auflösung des Konflikts durch das Töten des Anderen. Weiter-bestehen der Konfliktsituation. Im Konflikt liegende Tendenz zu seiner Selbsterhaltung. Grundlosigkeit des Konflikts. Das Böse des Anderen als Vorwand des Konflikts. Konflikt als ständig ausweglos. Mein Selbst im Konflikt mit sich selbst. Eros und Thanatos. Verfremdung und Identifizierung. Identifizieren des Anderen mit den Anderen. Mangelnde Eindeutigkeit der Identität als-. Vor-bedeuten des Anderen durch Andere. Der Andere als Typ. Unter-untersdieiden. Rolle der Rolle in der Soziologie. Popitz. Formen der Identifizierung. Identifizierungen in Identität in Erweiterung oder Auflösung der Identität. Wir. Masse. Gemeinschaft. Solidarität. Teilnahme. Partizipation. Konflikt im Mangel seiner selbst.
§ 55 Konflikt und Als-ob-
504
Absetzung vom „als ob" Vaihingers. Verwechslung des Als-obmit einem Als. Unbestimmtheitsstruktur des Als-ob-, Erweiterung der grundsätzlichen Metaphorik im Als-ob-. Artikulation des Als-ob-. Als-ob-, Neurose und Psychose. Ausdrück lichmadiung des Als-ob- in der Gruppentherapie. Als-ob-Verwirklichung. Konflikt als zwiespältige Einheit. Unaufhebbare zwiespältige Einheit des Lebens. Konflikt als geregelter im Kompromiß. Grundsätzliche Unklarheit des Unterschieds des Konflikts in Verfremdung und Identifizierung. Ursprüngliches Für-den-Anderen-als-Anderen. Zärtlichkeit, Verantwortung, Respekt. Identifizierung in der Dynamik des Handelns. Verzerrung meines Tun und Handelns im Hinblick auf die Anderen und auf midi selbst. Konflikt, Ausdruckskrankheiten und Bereitstellungkrankheiten bei Uexküll.
§56 Praxis Vorfinden als eingerichtet in einer Gemeinschaft, die ein Gefüge von Verhältnissen, Bedingungen und Aufgaben ist. Die Frage nach dem, was die Gesellschaft in ihrem Eingerichtetsein einrichtet. Rüdekehr zum Mangel und zur Knappheit, zum Leben als Arbeiten im Kreise der Selbigkeit. Umgestal-
509
XXX
Inhaltsverzeichnis tung der Welt für midi und Gestaltung meiner selbst. Umgestalten in der Differenz von Unterscheiden und Tun. Arbeit als Theorie und Praxis. Mangel als Bedarf des Daseins an sich selbst und Arbeit als Bewältigung dieses Mangels. Von der Gemeinsamkeit vorgegebener Spielraum und Gemeinsamkeit der Bewältigung meiner Aufgaben. Definition der Praxis. Vielfältiges Zwischen der Praxis. Vermittlung von Schaffen, Erschaffenem, Schaffendem. Erschaffen als Darstellung. Erschaffen der Gemeinsamkeit. Die die Arbeit durchwaltende Differenz von Herstellen und Handeln.
§ 5 7 Praxis, Gruppe, Öffentlichkeit
514
Praxis als Öffentlichkeit. Differenz zwischen der Öffentlichkeit und den Anderen. Differenz von Herstellen und Handeln in der Öffentlichkeit als Apparat und Projekt. Praxis entwickelt sich selbst als Gemeinsamkeit durch die und als die Geschichte der in ihr Handelnden. Die Gruppe als „Miniaturpraxis". Vermittlung der Gruppe im zu Schaffenden. Vermittlung von Gemeinsamkeit und Gegnerschaft in der Gruppe. Vermittlung der Praxis im Konflikt. Die Ordnung des Zueinander und die Regelung des Konflikts. „Gesetzte" Konfliktregelung. Gesetz im allgemeinsten Sinn. Gesetzgeber. Gesetzeshüter. Hervorrufung der Ungleichheit durch das Gesetz. Autorität und Unabhängigkeit des Gesetzes. Das Nichtganz-Sinnvolle der bestehenden Ordnung. Das Durchbrechen der „gesetzten" Konfliktregelung durch die Affektion. Die Gabe. Einheit der Praxis als Einheit der Identifizierung. Vorgegebenheit dieser Einheit als Öffentlichkeit. Öffentlichkeit. Anonymität der Allgemeinheit. Praxis als Apparat und Projekt oder die Institutionen der Bürokratie und des Rollenplans. Technik der Praxis als Mittelsystem. System der Automation. Das beharrende Element der Praxis. Die Praxis als Reproduktion und Repetition.
§ 5 8 Praxis, instrumentale und menschlich-geschichtliche Rationalität, Ent- und Vermenschlichung 526 Apparat, Projekt und Rollenplan. Die Freiheit in der Praxis. Entwurf eines neuen und Negation eines bestimmten Gegebenen. Fraglichkeit der Mittel und grundsätzliche SubOptimierung. Die Feststellung der Zeit in der „berechnenden" Praxis. Die tatsächliche Offenheit des Entwurfs als Negation einer bestehenden Knappheit. Prinzipielle Schrankenlosigkeit des Handelns. Verdinglichende Kunstlehren. Umkehrbare Zweck-Mittel-Relation von Herstellen und Handeln. Das Machen, das Stoffliche und das Ding. Ding als das Isolierte, das Fertige, das eindeutig Faßbare in seinen klaren Konturen. Die Nicht-Isoliertheit des Handelns und das „Produkt" des Handelns als Geschichte. Nie-fertig-Sein der Geschichte. Bedingte Freiheit und Geschichtlichkeit. Verschiedene Versuche, der geschichtlichen Rationalität habhaft zu werden. Schwierigkeit der Problemstellung als Schwierigkeit, das der Notwendigkeit Gegenübergestellte zu definieren. Ungenügen des Marxschen Freiheitsbegriffs. Vermitteltheit der Not des Daseins. Überwindung der Knappheit schafft neue Knappheit. Vermittlung der konkreten Bedürfnisse durch die sozio-kulturelle Situation. „Anspruchsniveau". Der
Inhaltsverzeichnis
XXXI
Zwang der Anderen. Die Frage der Ent-menschlichung der Praxis. Versachlichung, Vergegenständlichung, Entfremdung und Verdinglichung. Modi der Verdinglichung. Beispiel Sartres. Ent-menschlidiende Wirkung verdinglichter Theorien des sozialen Handelns nach Berger und Pullman. In-differenz der Praxis und Entmachtung des Ich. Serialität als Grundtyp der Gesellsdiaftlichkeit bei Sartre. Beispiel echter Aufklärung bei Plessner anhand der Rolle. Sinnvolles Tun in der Praxis als Raumöffnen für das Handeln in der Schaffung der eigenen Einheit in einer Gemeinsamkeit. Aufhebung der Verdinglichung. Utopie und bedingte Freiheit. Negation und Bewahrung.
§ 59 Sex, Eros und Liebe Das Private als das am meisten von der öffentlichen Praxis Unterschiedene. Sex, Eros und Liebe als Kernformen des Privaten. Mittelhaftigkeit der Praxis und Mittellosigkeit der Sexualität. Sexualität als fleischgewordene Differenz. In der Sexualität findet der Mangel seinen auffallendsten Modus. Genetische Aufweisung der Sexualität als in sich konfliktuell. Die zu enge Behandlung des Ödipus-Komplexes in der Psychoanalyse. Herausgestoßen-Werden aus der Identifizierung mit der Mutter durch den Vater. Ent-Identifizierung. Mittelbare Identifizierung im Dreiecksverhältnis Eltern-Kind. Identifizierung als Vereinigung und Imitation. Der Vater als „Modell" und „Rivale" ineins. Die Formen der Identifizierung und Entdeckung der geschlechtlichen Differenz. Die Identifizierung mit dem Elternteil, der dem Verlangen entgegensteht. Stellung des Kindes in der entdeckten Differenzierung. Die Entdeckung, daß das, was ist, audi nicht sein könnte, und der sogenannte „ K a s t r a t i o n s - K o m p l e x D i e Entdeckung des Nicht-Wissens neben der Entdeckung der Möglichkeit des Nicht-Seins. Die Entdeckung der sexuellen Differenz als Entdeckung des Mangels als Grund der Begierde. Vermittlung durch den Mangel des Nicht-Wissens. Die Anerkennung des vorgängigen Wissens des Vaters. Die Vermittlung der Anders-Geschlechtigkeit in einem vielfältigen Mangel. Vorgriff auf die Zweideutigkeit der Sexualität: die Perversion. Ihr Ursprung in der Verleugnung des Mangels. Assoziationen mit der Dialektik des Herrn und des Knechts bei Hegel. Aufweisung der Sexualität des Erwachsenen. Leiblichkeit und Fleischlichkeit. Vermittlung und Verfleischlichung durch die Leiblichkeit des Anderen. Begierde als Entwurf auf den fremden Leib und ineins als Entwurf, im eigenen Leib zu versinken. Das „Trübsein" der Begierde bei Sartre und das beginnende Zusammenfallen des Leibes mit sich selbst in der Begierde. Fortsetzung der Begierde in der möglichen Fleisdhwerdung mit dem Anderen. Liebkosung. Genommen-werden als Benommensein. „Befreiung" des Leibes von sich selbst. Das Auftreten der Leiblichkeit des Anderen als Ergänzung. Die fleisdiwerdende Ergänz-ung im Eingeschlossen-Sein und Umfassen, im Umschlingen und Umsdilossen-Sein. Gemeinsame Fleischwerdung als Leib-zuzweit. Aktivität und Passivität des Leib-zu-zweit. Begierde und Ekstase. Leib-sein-Wollen als Begierde und Lust. Wollust als Quasi-Reflexion des Leibes. Verleiblichte Re-
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Inhaltsverzeichnis flexion der AfFektivität. Die affektive Unterschiedslosigkeit. Aufhebung der zeitlichen Ek-stasen in der Ekstase. Auslöschen meiner selbst. Meine Leiblichkeit überwindet midi, und dadurch werde idi vom Wollen-Müssen befreit. Blinde Heftigkeit. Getrieben-Sein nicht als Arbeit, sondern als reine Verschwendung. Arbeit, Fleischlichkeit, Menschlichkeit. Die fundamental untechnische Beziehung Person-FleischFleisch-Person. Vermittlung des Gegensatzes von Leben und Tod in der Fleischwerdung. Überwindung und Überschreitung des Verbots in der Fleischwerdung. Befreiung der Fleischwerdung und Gewaltsamkeit, Kampf, Aggression. Drei Gründe für die Heimlichkeit der sexuellen Vereinigung. Das Phänomen der Obszönität. Ein Gedankenexperiment von Bataille. Entfremdung der Sexualität in der Hervorkehrung der eigenen Autonomie gegenüber der Öffentlichkeit. Abgleiten des Eros zum reinen Sex. Das Zwischen, in dem sich Eros und Sex halten. Der verleiblichte Andere als das Begehrte. Reiner Sex als Besitzen-Wollen des Leibs des Anderen als Instrument für den eigenen Leib. Der entfremdete Leib als Leib-Organ. Differenz zwischen Brauchen und Begierde. Im reinen Sex wird die Begierde zum reinen Braudien. Möglichkeit des Gewährens und Versagens des Begehrten. Reiner Sex als Krise in der Differenz zur gemeinsamen Fleischwerdung. Reiner Sex als Masturbation zu zweit. Der Einbruch der Instrumentalität im reinen Sex. Maskulinität und Feminität als Differenz der Geschlechter. Das Begehrte der Begierde. Geschichtlich vermittelte Differenz des Begehrten und des Begehrenden. Grundlage der Prostitution. Das aktive Mangelnd-Machen des sexuellen Mangels. „Privilegierung" des Femininen. In-Ersdieinungtreten-Lassen der Leiblichkeit des Anderen als Weckung der Begierde durch das Gesicht. Verhüllung und Enthüllung des Leibs des Anderen. Das Scheitern der Einholung des Mangels in Sex und Eros. Das Sidi-selbst-Mangeln der Verleiblidiung. Das in der Begierde selbst angelegte Scheitern bei Sartre. Die Leugnung des Scheiterns der Aufhebung des Mangels. Erste Leugnung in der Leidenschaft. Zweite Leugnung in der ständigen Suche nach der Anderen. Der erotische Reiz der Fremdheit. Sexualität als Grundmetapher der Lebenswelt. Benutzung der Begierde zum Begehrlichmachen der Dinge. Verliebtheit und Liebe. Das Unterscheiden des Anderen „als-ob" er mein Mangel überhaupt wäre. Das Aufgehen meiner selbst in der Leiblichkeit des Anderen. Der Andere, „als-ob" er Ursprung und Ziel meiner Geschichte wäre. Ur-Bekanntheit und Ur-Vertrautheit des Anderen in der Verliebtheit. Ur-Konkretion meiner Affektion. Verdinglichung des Mangels in der Liebe als Geschichte zu zweit. Liebe als ständige gegenseitige Identifizierung ohne Praxis. Liebe als ständige Anstrengung, die keine Arbeit ist. Liebe als ihr eigener Mangel und ihre eigenene Unsicherheit bei Merleau-Ponty.
§ 60 Das Idi im Rückkehren auf sich Die Frage nach dem Zwischen zwischen mir und mir selbst. Reflexion als die Selbigkeit Erfassen im Unterscheiden vom Anderen beim Anderen. Das Ich als unterscheidendes, als das, wodurch der Unterschied in die Welt kommt. Aus-derWelt-Sein. Zurüdt-kommen.
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§61
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Das Ich als Einziger
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Das Ich als Unterscheidungsvermögen. Das Sich-selbstUntersdieiden als Nicht-das-Andere, sondern als anders. Anders-Sein und Einzig-Sein. Vermittlung von Individuellem und Allgemeinem in der Einzigkeit.
§ 62
Der Unterschied zwischen mir und mir selbst . . . .
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Erste Stufe der Reflexion: das Andere unterscheiden und midi davon. Zweite Stufe der Reflexion: midi von mir selbst unterscheiden. Mein Vorher und mein Jetzt. Das Vor-her als anders vermittelt. Das Zwischen des Untersdieidens zwischen mir und mir selbst als die Zeit. Zeit als Unterscheiden, das mir passiv geschieht. „Zeitlose" Zeit. Das Zwischen zwischen mir und mir selbst als Raum. Raum. Raum und Zeit als Widerstand des Unterscheidens.
§63
Bewußtsein, Selbst-Bewußtsein und Zeitlichkeit . . 5 8 8 Das Ich als der Einzige, der sich selbst zum Anderen hat. Bewußt-sein als anders gewesen und jetzt noch sein. Das Ich in seinem Im-manere. In-der-Welt-Sein des Bewußtseins als Im-manere als ursprüngliches Nicht-in-der-Welt-sein. Schwierigkeit, das Bewußtsein zu „sagen". Bewußtsein zunächst und zuerst nicht Selbst-Bewußtsein. Unterscheiden meiner Selbigkeit. Evaneszenz des Selbst-Bewußtseins. Ständigkeit des Selbst-Bewußtseins als nur ständig konkrete Möglichkeit. Die Problematik Bewußtsein-Unbewußtsein und das Selbst-Bewußtsein als sekundäres. Fünf Stufen der Reflexion. Anonymität des Selbst-Bewußtseins als außerhalb-des-unterschieden-seins Bleiben. Nicht-einholen der Reflexion. Wiedererkennen meiner selbst in Anonymität. Anonymität und Affektion. Anonymität bleibt über das Unterschiedene hinaus. Unmittelbares Vermittelt-Sein als unmittelbares Nur-durch-anderes-Sein. Unmittelbar als „sofortig". Unmittelbar als unmittelbar durch Nicht-Zeitliches vermittelt. Anonymität als Offen-Bleiben meines Zu-künftigseins. Die Illusion der totalen Reflexion und ihr Ursprung. Das Mißverstehen der Differenz der Zeitlichkeit als Differenz zwischen Sein und Seiendem. Identisch-Sein als Immersdion-von-mir-identisdi-gemacht. Anonymität ist selbst anonym. Bestimmen des Selbst als Gegenüber in Anonymität.
§ 64
Selbst-Vermittlung und Selbst-Bestimmung in Sein, Tun und Haben 598 Vieldeutigkeit von Bestimmen. Unmittelbare Vermittlung als Selbst-Bestimmung. Meine Bestimmung als ständig Bestimmt-sein und ständiges Bestimmen ineins. Selbst-Bewußtsein als ausgezeichneter Modus meiner Selbst-Vermittlung. Passives Wiedererkennen und aktives Unterscheiden meiner selbst. Unterschied zwischen ursprünglichem und ausgezeichnetem Modus. Zurückschlagen der Offenheit des zukünftigen Ich auf das Vorher. Freiheit als offen-bleibendes und sich ständig übersteigendes Bestimmtsein des Ich. Das Ich ist in Gradualität frei auch als vergangenes. Noch-Sein und Noch-und-noch-Sein des Ich. Frage nach dem Noch als
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Inhaltsverzeichnis Frage nach dem Getan-Haben und Gewesen-Sein in ihrer gegenseitigen Vermittlung. Frage nach dem Sein, Tun und Haben. Mein Sein bin ich, indem ich es tue und habe. Tun als ständig zweifache Habe. Habe als Verfügbares und Verfügendes. Bewußtsein-von- als Habe. Ich bin, wie ich midi habe. Das Selbst-Bewußtsein als sich zu sich selbst verhaltendes Bewußtsein.
§ 65 Das Innen-Leben, das Doppel-Leben und das IchSelbst 604 Mein Leben als Außen-Leben und Innen-Leben. Vermitteltheit von Außen und Innen und das Sich-Beziehen des Innen-Lebens auf sein Außerhalb. Ich-Bezogenheit des „Draußen"-seins. Ego-Zentrismus. Doppel-Leben. Lebnis und Erlebnis. Verinnerlichung und Egoismus. Verdoppelung des Außenlebens. Frage nadi dem „innerlichsten" Ich. Abstraktion des „reinen" Ich. Transzendierendes Bewußtsein als sich selbst mangelnd. Idi und Selbst in ihren Vermittlungen.
§ 66 Das Ich in der Selbst-Rede und der Rede der 607 Anderen Haben und Sein des Ich im ständigen Sich-Äußern. SichÄußern, Rede und Lebens-Rede. Selbst-Rede, Gegen-Rede, Wider-Rede und Antwort. Vorrang der Rede der Anderen zu Beginn meiner Lebens-Rede. Was ich bin, bedeuten mir zunächst die Anderen. Das Zwischen des Entwurfs der Lebens-Rede zwischen der Stellung, die ich als Bedeuteter der Rede von Anderen und derjenigen, die ich im „IchSagen'' einnehme. Verbalisierung meiner Lebens-Rede. Zentrale Bedeutung des Anderen im Aufbau meiner Rede. Erfassung meiner selbst durch die Anerkennung. Im-Unterschied-sein-Wollen als Grund des Anerkannt-sein-Wollens. Unterschieden-Sein des Idi in einem doppelten „Vor". Differenz als Distinktion. Mißverstehen meines Einzig-Seins. Sicherung meines Unterschieden-Seins durch die Liebe einer absoluten Person. Anerkannt-Sein, Selbst-Bildnis und SelbstVergessenheit. Selbst-Bildnis im Modus der Latenz. SelbstBildnis als latente und permanente Selbst-Entzweiung des Selbst. Die erste Erfahrung des Spiegel-Bilds. Möglichkeit des Ideal-Bilds. Ideal-Ich und Über-ich Freuds. Meta-Hinsicht und Meta-Perspektive bei Laing, Phillipson, Lee. Faszination des Selbst-Bildnisses. Narzißtische Grundsituation. Verlust meiner Selbst in der Identifizierung mit dem Selbst-Bildnis. Die verschiedenen Verdoppelungen in den Vermittlungen durch das Selbst-Bildnis. Verweigern der Meta-Hinsiait. Aktiver und passiver Konformismus. Leugnung der Meta-Hinsicht. Alle Verdoppelungen sind sekundäre Modi von Identifizierungen. Die Mit-Konstituierung meiner Rede durch die Anderen und der Versuch, den Anderen durch eine falsche Rede zu verführen. Falsche Rede ist Neurose in gradueller Intensität. Unaufhebbare und unnötige Entzweiung. Selbst-Rede und Selbst-Vergessenheit. Selbst-Vergessenheit, Un- und Unterbewußtes. Selbst-Vergessenheit und uneinholbare Selbst-Verlorenheit. „Mauvaise foi". Primäres Auseinandergefallen-Sein meiner
Inhaltsverzeichnis
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Identität und der Ursprung von Scham, Schüchternheit und Verlegenheit. Die „mauvaise foi" des hinter die mauvaise foi Zurückgehens. Einfachheit und Echtheit meiner Rede als nur graduelle. Mißverstehen des Als-ob- als ein Als. „Mauvaise foi" im Erfassen des Anderen. Als-ob- als Mangel des Als.
§ 67 Die Selbst-Affektion
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Das Selbst ist kein Bewußtsein mit einem eigenen Gehalt. Das Selbst ist sein eigenes Sich-Fühlen. „Zeitlose" Zeitlichkeit der Pasivität und Affektivität. Macht der Selbst-Affektion als Ohn-macht des Selbst. Selbst als Passion seiner selbst. Der G r u n d von Freude und Leid im affektiven A n sich-selbst-gebunden-Sein. Doppelsinn von „leiden". SelbstAffektion und Affektion. Leidenschaft und Welt-Passion.
§ 6 8 Die Selbst-Geschichte
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Selbst-Affektion als lebendige Gegenwart im H o r i z o n t ihrer eigenen Geschichte. Zweierlei Art, meine Geschichte zu unterscheiden: Erzählen und den Augenblick als geschichtlich sinnhaften erleben. Sinngebung der Geschichte durch die in ihr auftretenden Ereignisse und Gestalten. Ereignis, Bruch, Einbruch, Konversion. Gestalt als Konkretion meiner Geschichte. Gestalt und einzelne Geschichte. Geschichte, Einheit und Einheitlichkeit.
§ 69 Der persönliche Mythos
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Dreifach miteinander vermittelte Differenz meiner Geschichte. Lebens-Geschichte in der Form des Schicksals. Schicksalhafter Zusammenhang als Mythos. Persönlicher Mythos. Mythos und ursprünglichste Wahrheit. Tautegorische, allegorische und symbolische Form des Mythos im allgemeinen. Symbol. Symbol als verdichtete Geschichte. Symbol als mich in eine umfassende Geschichte einbeziehende Kraft. Steigerung der ursprünglichen Metaphorik im Symbol. P r o zeßhaftigkeit des persönlichen Mythos. Umkehrung, Verkehrung, Gegenwendung. Ich selbst als mythischste Gestalt meines persönlichen Mythos. Die ungelöste Aufgabe als eine der stärksten mythischen K r ä f t e . Mythos als als-ob-Vergegenständlichung der Affektion. Vernunft und Mythos. Absetzung von der Auffassung Freuds. Persönlicher Mythos und Mythos überhaupt. Umfassend-Bleiben des Mythos.
§ 70 Vernunft, Redlichkeit, Vernunftglaube Persönlicher Mythos und erlittene Einheit meiner Geschichte. Selbst-Sein als auf Mehr-mit-mir-eins-Sein aus. Mehr Selbigkeit und Vernunft. Rede und Redlichkeit als ursprünglichste Vernünftigkeit. Das Tätigen meiner Einheitlichkeit in der Einheit und Einsicht der Vernunft. Gegenseitige Vermittlung von Mythos und Vernunft. Transzendente Einheit als unendliches Telos. Konkretion des Wegs zum unendlichen Telos im Glauben. Vernunft und Glaube. Unterschied des Vernunftglaubens vom Chaos und vom religiösen Glauben. Der Glaube und sein Anspruch auf Entscheidung f ü r ihn. Absetzung gegen den Voluntarismus und Dezisionismus.
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§ 71 Schuld, Angst, Haß, Liebe, Verzweiflung, Hoffnung 636 Affektive Grundmodi des Wegs zum unendlichen Telos. Schuld, Grund-tabu des Sein-Lassens und Konflikt. Angst, Mangel und Konflikt. Angst vor dem Nichts und zugleich Furcht vor jemand. Die unmittelbare Vermitteltheit des unendlichen Telos durch Anderes und Andere. Liebe und Haß. Mangel des Selbst in der Differenz von Verzweiflung und Hoffnung. Verzweiflung als die Unabänderlichkeit und Unwiderruflichkeit des Bei-sich-selbst und Über-sich-hinaus des Selbst. Kierkegaard. Verwiesen-Sein der Verzweiflung auf die Hoffnung. Die Negierung der Zeitlidikeit durch die Hoffnung. Gegenständliche Hoffnung und Erfüllbarkeit. Unerfüllbarkeit der Hoffnung. Das Überschreiten der Welt in der Hoffnung. Unmöglidikeit, die Hoffnung zu negieren. Hoffnung, gegenständliche Hoffnung und falsche Hoffnung. Klinische Aufweisung der Un-Weltlidikeit der Hoffnung bei Plügge. Selbst-Gegenwart als Warten und als Hoffnung. Hoffnung als Hoffnung auf sich selbst. Gegenseitige Vermittlung von Vernunft, Glaube und Hoffnung.
Verzeichnis der Abkürzungen CRD EN E. Ph. I, II EU FTL Ideen I, II, III Κ LU I, I I / l , II/2 Phän. Psych. PP PS PsW PU RdC SdC SG SZ UG Vel Ζ
Sartre: Critique de la raison dialectique Sartre: L'etre et le neant Husserl: Erste Philosophie, 1. und 2. Teil Husserl: Erfahrung und Urteil Husserl: Formale und transzendentale Logik Husserl: Ideen zu einer Phänomenologie, Band I, II, III Husserl: Die Krisis der europäisdien Wissenschaften Husserl: Logische Untersuchungen, Band I und Band II 1. und 2. Teil Husserl: Phänomenologische Psychologie Merleau- Ponty: La phenomenologie de la perception Husserl: Analysen zur passiven Synthesis Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen Merleau-Ponty: Resumes de Cours Merleau-Ponty: La structure du comportement Sartre: Saint Genet Heidegger, Sein und Zeit Husserl: Vom Ursprung der Geometrie Merleau-Ponty: Le visible et l'invisible Wittgenstein: Zettel
KRITIK DER P H Ä N O M E N O L O G I E
1. Kapitel: Die Krise der Moderne und die Entdeckung der Lebenswelt als konkretes Apriori § 1 Zur gegenwärtigen Lage der Philosophie als Motiv einer Kritik der Phänomenologie Die Philosophie befindet sich heute in einer umstrittenen, ja man kann sagen, gedemütigten Lage. Einstmals galt sie als die „Königin der Wissenschaften", bei ihr suchte man, wenn wir von der religiösen Sphäre absehen, die Antworten auf die großen Fragen der Menschheit. In der Jetztzeit werden mehr und dringlichere Fragen gestellt als je. Die Wissenschaft, die unsere Existenzbedingungen schafft, hält keine Antworten bereit für die Fragen unserer Existenz. Die Antworten sucht man bei allen möglichen Disziplinen, nur nicht bei der Philosophie. Wie aber sieht es mit diesen Antworten aus? Ideologie und Ideologiekritik zum Beispiel sagen uns, daß die Dinge nicht das sind, als was sie uns erscheinen, Linguistik, Strukturalismus und Soziologie, daß wir Gesetzen unterworfen sind, die wir nicht erfassen, Psychoanalyse, daß wir das sind, was wir gar nicht wissen. Eingezwängt von der Hyper-Sprache der Wissenschaften und der Hypo-Sprache von Rundfunk und Fernsehen, wissen wir nicht mehr, wohin wir hören können und auf was. Leiden, Spannung und Ratlosigkeit bleiben. Und wie steht es dabei mit der Philosophie? Sie scheint im wesentlichen durch das bestimmt, was sie nicht tut, nämlich Antworten auf Grundfragen zu geben. Die akademische Philosophie erscheint, wie es sich aus einer Reihe von Beobachtungen ergibt, dem Außenstehenden als ein Privatspiel, ein reichlich esoterisches noch dazu, zwischen Professionellen, die sich nicht einmal untereinander verstehen. In der wissenschaftlichen Welt, wenn man Philosophie nicht als Esoterik, als säkularisierten Glauben und unverbindliche Weltanschauung betrachtet und sie als gültige Disziplin anerkennen will, gesteht man ihr allenfalls noch eines zu: die Beschäftigung mit den Wissenschaften. „Heute, im Zeitalter der immer weiter um sich greifenden wissenschaftlichen Durchdringung und Lenkung unseres Lebens, scheint nur noch eine einzige wirkliche ι
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§ 1: Motiv einer Kritik der Phänomenologie
Basis für das öffentliche Interesse an der Philosophie zu existieren, und das ist ihre Bedeutung und ihr Nutzen für die Wissenschaft." (HansGeorg Gadamer: Die Stellung der Philosophie in der heutigen Gesellschaft. In: Das Problem der Sprache, München 1967, S. 11) Im Mittelalter war die Philosophie „ancilla theologiae", heute soll sie, wenn überhaupt etwas, wieder nur ancilla sein, Magd der Wissenschaft. Diese Situation scheint besonders ausgeprägt und damit besonders schwerwiegend in einem Land, das einige der größten unter den Philosophen hervorgebracht hat, Philosophen, die, ob wir es wahrhaben wollen oder nicht, die Gegenwart mit vorbereitet haben. Nicht lange ist es her, eine Generation, da stand auch in Deutschland noch die Philosophie in Blüte. Mit der Phänomenologie hatte sie ihre letzte große Zeit der Eigenständigkeit, und zwar mit einer Ausstrahlungskraft, die in die ganze geistige Welt hineinreichte. Während sie in Deutschland mehr oder weniger erloschen ist, wirkt diese Kraft in anderen Ländern weiter, ja kommt heute erst zu ihrer eigentlichen Wirkung. So sind zum Beispiel alle bedeutenden Denker Frankreichs von der Phänomenologie beeinflußt. Pierre Trotignon schreibt in einer 1967 erschienenen Arbeit: „Der gemeinsame Ursprung aller philosophischen Entwicklungen seit 20 Jahren ist die Husserlsche Phänomenologie. Alle zeitgenössischen französischen Philosophen tragen mittelbar oder unmittelbar das Mal der Husserlsdien Werke und werden durch diese ausgerichtet, und selbst diejenigen, die eine Rede führen wollten, deren Inhalt und Absicht letzten Endes nicht husserlianisch waren, sind gezwungen gewesen, die Sprache und die Methode Husserls zu benutzen." (Pierre Trotignon: Les Philosophes F r a n c i s d'Aujourd'hui, Paris 1967, S. 8) Selbst in den Vereinigten Staaten, in denen bekanntlich die analytische Philosophie die wesentliche Rolle spielt, breitet sich das phänomenologische Denken immer mehr aus. „Die ,Association for Phenomenology and Existential Philosophy' hat nun 250 Mitglieder. Sie hat auch eine Zeitschrift. Wichtige Universitäten haben Vorlesungen über diese Gebiete eingeführt, und eine Universität ist gewissermaßen spezialisiert darin, Professoren für diese Gebiete zu liefern. Kurzum, Phänomenologie und Existentialismus wachsen nicht nur schnell in ihrer Bedeutung, sondern werden dabei auch dem unterzogen, was solches Wachstum allgemein bedeutet, der Institutionalisierung." (Rollo Handy: Existential
§ 1: Motiv einer Kritik der Phänomenologie
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Phenomenology. In: Philosophy and Phenomenological Research, Vol. XXVII, March 1967, No. 3, S. 408) Für die Beurteilung der Lage in Frankreich scheint uns die oben zitierte Feststellung Trotignons wichtig, die paradigmatisch für viele andere steht, sowie eine Bemerkung Ricoeurs, daß die Fruchtbarkeit der Phänomenologie in ihren Häresien liege. „Das Werk Husserls ist der Typ des Werkes, das nicht geklärt ist, das voll von Verlegenheiten ist, immer wieder durchgestrichen und korrigiert, verästelt und verzweigt ist; darum haben viele Denker ihren eigenen Weg gefunden, indem sie ihren Meister verlassen haben, weil sie eine Linie verfolgten, die vom Begründer der Phänomenologie meisterhaft begonnen und nicht weniger meisterhaft wieder durchgestrichen wurde. Die Geschichte der Phänomenologie ist zum großen Teil die Geschichte der Husserlschen Häresien." (Paul Ricoeur: Sur la phenomenologie. In: Esprit, Nr. 12, Dezember 1963, S. 836) Wir könnten also sagen, daß die philosophische Lage in Frankreich dadurch bestimmt ist, daß dort die Phänomenologie ein zentrales, wenn auch nicht immer transparent artikuliertes Bezugssystem darstellt. In den Vereinigten Staaten hingegen sucht die Phänomenologie noch sich selbst zu thematisieren und zu fundieren und das natürlich nur, insoweit sie sich jetzt dort langsam durchsetzt. Dies geht aus der Einleitung eines Sammelbandes über „Phänomenologie in Amerika" hervor, der 1967 von James M. Edie herausgegeben wurde. Die sechziger Jahre werden nach der Meinung Edies einmal als die Periode gelten, in der die phänomenologische Bewegung im Boden Amerikas fest Wurzeln geschlagen hat und zu einer aktiven und schöpferischen Kraft geworden ist. Zum ersten Mal sind die Hauptwerke der europäischen Phänomenologen in Ubersetzungen zugänglich, obwohl auf diesem Gebiet noch viel getan werden müßte. Die Essays, die Edie in einem Sammelband herausgibt, betrachtet er als einen Teil der jüngsten und besten phänomenologischen Arbeiten. Sie geben allerdings kein systematisches Bild einer vereinheitlichten Phänomenologie. Wichtig ist auch die Bemerkung Edies, daß sie praktisch keinen Bezug auf eine transzendentale, konstituierende Subjektivität nehmen, sondern phänomenologische Analysen allgemeinerer Art darstellen, bei der die Diskussion um die Methodenreinheit in den Hintergrund rückt. (Vgl. James M. Edie: Phenomenology in America, Chicago 1967) Betrachtet man die gegenwärtige Lage der Philosophie, dann erscheint eine große Anstrengung gerechtfertigt, wenn nicht erforderlich: eine Durchleuchtung der Phänomenologie auf ihre Grundeinsichten hin.
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§ 2 : Krisis der Wissenschaften und der Moderne
Diese Kritik muß unter folgender Leitfrage stehen: Wenn die Phänomenologie einerseits und besonders im deutschen Sprachbereich heute weitgehend als überholt, wenn nicht als gescheitert gilt, sie aber andererseits ihre offene oder unterschwellige Wirkungskraft noch nicht verloren hat, welche Mißverständnisse oder Selbstmißverständnisse der Phänomenologie liegen dem zugrunde? Aus dieser Fragestellung entwickelt sich eine weitere. Wenn bei der kritischen Durchleuchtung der Phänomenologie bleibende Einsichten aufgewiesen werden, könnte es dann nicht sein, daß ein Ansatz freigelegt wird, der es der Philosophie audi in der gegenwärtigen geschichtlichen Situation ermöglicht, die von ihr geforderte grundlegende Rolle zu spielen, anstatt lediglich einige Hilfsdienste zu leisten? Die vorliegende Arbeit will in ihrem ersten Teil eine Kritik der Phänomenologie versuchen. In ihrem zweiten Teil wird es unternommen, die Phänomenologie weiter zu führen, und zwar indem versucht wird, zunächst die phänomenologische „Problembehandlung" darzulegen — wir wählen diesen Begriff, weil die Begriffe „phänomenologische Methode" oder „Technik" mit einseitigen Assoziationen belastet sind. Dann wird gemäß der entfalteten Problembehandlung, dies sei hier im Vorgriff gesagt, die Lebenswelt darzustellen sein. Nur die konkrete Durchführung dieses Versuches kann sein Gelingen oder Scheitern erweisen. Soll der Versuch aber überhaupt gemacht werden, dann muß er die Spannweite auf sich nehmen, die ihn bedingt. Dabei ist es sowohl notwendig wie genügend, die Lebenswelt durch die Phänomenologie so weit in die Sicht zu bringen, daß deutlich wird, wie man jeweils weiter gehen könnte.
§ 2 Die Krisis der Wissenschaften als Krisis des modernen Lebens in Husserls Sicht Die erste Aufgabe, die sich dem Vorhaben der Kritik einer Phänomenologie stellt, besteht darin, zu untersuchen, was für Husserl - den Begründer der Phänomenologie - Sinn und Zweck der Philosophie ist. Wir müssen zunächst fragen, was gewissermaßen seine „Philosophie-Politik" ist und dann erst analysieren, wie er diese Politik befolgt. Die Frage ist: Von wo aus philosophiert er und wo will er hin? Gewiß ist im Ausgangspunkt und im Ziel der Weg beschlossen, und im Weg wiederum sind Ziel und Ausgangspunkt erschlossen. Doch kann und muß man gleichwohl aus drei Gründen diese Frage zuerst stellen: sie macht
§ 2: Krisis der Wissenschaften und der Moderne
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deutlich, was in dem von Husserl vollzogenen Denken eigentlich geleistet worden ist; sie ist wichtig für das Verständnis der Nachfolger Husserls; sie macht möglich, das Ziel im Auge zu behalten, ohne ganz denselben Weg zu gehen. Ursprung und Antriebskraft findet Husserls Philosophieren darin, daß es eine tiefgreifende Krise bewußt macht und daraus einen Ausweg sucht. Es ist die Krise der europäischen Wissenschaften als derjenigen Wissenschaften, durch deren Anwendung die Welt zur modernen technischen Welt umgewandelt wurde. So wird die Frage nach der Krise dieser Wissenschaften zur Frage nach der Krise der modernen technischen Welt. Die Wissenschaften sind in eine Krise geraten, durch „Sinnentleerung" sind sie nicht mehr in der Lage, über den Sinn ihres Tuns Rechenschaft abzulegen. Die Krise liegt in der Änderung dessen, was die Wissenschaft dem menschlichen Dasein bedeutet hatte und bedeuten kann. Sie betrifft nicht die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft, von den Wissenschaften her gesehen ist sie verdeckt, denn sie ist „eine Krisis, welche das Fachwissenschaftliche in seinen theoretischen und praktischen Erfolgen nicht angreift und doch ihren ganzen Wahrheitssinn durch und durch erschüttert." (Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Husserliana VI, Hsg. W. Biemel, Den Haag 1954, S. 10; wir zitieren: K) Landgrebe wehrt ein Mißverständnis ab, das trotz dieser Aussage auftreten könnte: „daß es sich hierbei nicht um eine theoretische Grundlagenkrise der Wissenschaften handelt, sondern um eine Krisis des modernen Lebens überhaupt, das ist mittlerweile ins allgemeine Bewußtsein gedrungen ( . . . ) . " (Ludwig Landgrebe: Das Methodenproblem der transzendentalen Wissenschaft vom lebensweltlichen Apriori. In: Phänomenologie und Geschichte, Gütersloh 1968, S. 150) Hier ist ein Erstes und Wichtiges festzustellen: Die Wissenschaft hat ihre Lebensbedeutung verloren. Weder stellt noch beantwortet sie Fragen, die für den Sinn des Lebens des Individuums und der Gemeinschaft entscheidend sind. „Die Ausschließlichkeit, in welcher sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die ganze Weltanschauung des modernen Menschen von den positiven Wissenschaften bestimmen und von der ihr verdankten ,prosperity' blenden ließ, bedeutete ein gleichgültiges Sichabkehren von den Fragen, die für ein echtes Menschentum die entscheidenden sind. Bloße Tatsachenwissenschaften machen bloße Tatsachenmenschen. ( . . . ) Was hat über Vernunft und Unvernunft, was hat über uns
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§ 2 : Krisis der Wissenschaften und der Moderne
Menschen als Subjekte dieser Freiheit die Wissenschaft zu sagen? Die bloße Körperwissenschaft selbstverständlich nichts, sie abstrahiert ja von allem Subjektiven. Was andererseits die Geisteswissenschaften anlangt, die doch in allen besonderen und allgemeinen Disziplinen den Menschen in seinem geistigen Dasein betrachten, also im Horizont seiner Geschichtlichkeit, so fordert, sagt man, ihre strenge Wissenschaftlichkeit, daß der Forscher alle wertenden Stellungnahmen, alle Fragen nach Vernunft und Unvernunft des thematischen Menschentums und seiner Kulturgebilde sorgsam ausschalte. Wissenschaftliche, objektive Wahrheit ist ausschließlich Feststellung dessen, was die Welt, wie die physische so die geistige Welt, tatsächlich ist. Kann aber die Welt und menschliches Dasein in ihr in Wahrheit einen Sinn haben, wenn die Wissenschaften nur in dieser Art objektiv Feststellbares als wahr gelten lassen?" (K, S. 3 f.) Der Verlust der Lebensbedeutung, ja die Lebensverfälschung durch die Wissenschaft, liegt für Husserl darin, daß sie das Wahre mit dem Objektiven verwechselt. In dieser Verwechslung, so unscheinbar, trivial und gar irrelevant sie auf den ersten Blick anmuten mag, liegt der tiefste Grund der heutigen Krise. Was ist Wahrheit, wird man fragen. Dieser Frage können wir hier noch nicht nachgehen, doch läßt sich immerhin sagen, daß zum Begriff der Wahrheit, wie immer man ihn auch auslegen mag, der Begriff der Ubereinstimmung gehört. Wenn wir mit dem übereinstimmen sollen, was ist und wenn das, was ist, nur das Objektive, das von den Wissenschaften Herausgestellte und Geregelte ist, wenn das Wahre, das Erschlossene, das Wirkliche nur das Objektive ist, dann bedeutet der Verlust der Lebensbedeutung der Wissenschaften schließlich den Verlust der Lebensbedeutung des Lebens selbst. Die moderne Welt, in der wir leben, ist eine von den Wissenschaften gestaltete, umgewandelte und interpretierte Welt. Sie ist eine Welt, in der der Mensch als Mensch, so wie er sich selbst gegeben ist, nicht mehr vorkommt. „Die Welt als Gegenstand der wissenschaftlichen Theorie entzweit sich der Welt, in der der Mensch sozusagen zu Hause ist." (Hermann Lübbe: Die geschichtliche Bedeutung der Subjektivitätstheorie Edmund Husserls. In: Neue Zs. f. systematische Theol., 2. Bd., H. 3, 1960, S.318) Die objektivistische Wissenschaft erfüllt also nicht mehr die Funktion, die einstmals die der Wissenschaft war, das Verhältnis des Menschen zu jener Wirklichkeit transparent zu machen, in der er tatsächlich lebt. Vielmehr verstellt und verschleiert sie dieses Verhältnis, macht es zu einem undurchschaubaren Spannungsverhältnis. Die Wissenschaft verliert
§ 3: Der Ursprung der modernen Wissenschaft
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ihren sie tragenden Lebenssinn, und diese Lage ist kritisch, nicht für die Wissenschaften, sondern für den Menschen. Die Krise spitzt sich zu, weil der Mensch der Neuzeit sich in der Entbehrung des Lebenssinnes, den die wissenschaftliche Theorie ihm nicht mehr bietet, der ihn „beherrschenden Theorie" und der Rationalität überhaupt zu entledigen droht.
§ 3 Der Ursprung der modernen
Wissenschaft
Husserl will mit seiner Phänomenologie zur Wendung der Krise beitragen. Wie kann dieser Beitrag geleistet werden? Die undurchschaute Spannung muß durchschaubar gemacht werden, das ist das erste Problem. Dies geschieht, indem die moderne Wissenschaft selbst auf ihren Ursprung hin befragt wird: Was ist ihr Sinn, was hat sie möglich gemacht, wie ist sie entstanden? Die Methode, die Husserl dabei anwendet, ist die systematische Erforschung von Sinnesimplikationen, und zwar so, wie sie geschichtlich motiviert sind. Es wird einerseits nicht einfach nach historischen „Tatsachen" gefragt, sondern es wird zurückgefragt nach ihrem Sinn. Andererseits wird auch nicht lediglich nach Sinnesimplikationen gefragt, sondern nach deren Ursprung in historischer Motivation. Zum Gesamtsinn der Analysen „gehört das Ineinander von historischer und durch sie motivierter systematischer Untersuchung." (K, S. 364) Wenn wir nach dem Ursprung der modernen Wissenschaft und der modernen Welt fragen, dann müssen wir mit dem Ideal beginnen, das seit Descartes unsere Geschichte bestimmt. Dabei ist zu zeigen, wie dieses Ideal auf doppelte und verdeckte Weise von sich selbst weggeführt hat zur Sinnentleerung von Wahrheit und zur Sinnverschiebung von Wissenschaft überhaupt. Dieses Ideal ist dasjenige einer allumfassenden Wissenschaft. Es ist das der Einheit eines theoretischen Systems, innerhalb dessen alle überhaupt sinnvollen Fragen streng wissenschaftlich erfaßt werden können und das in einem zwar unendlichen, aber rational geordneten Prozeß der Forschung fortschreitet. „Ein einziger, von Generation zu Generation ins Unendliche fortwachsender Bau endgültiger, theoretisch verbundener Wahrheiten sollte also alle erdenklichen Probleme beantworten — Tatsachenprobleme und Vernunftsprobleme, Probleme der Zeitlichkeit und der Ewigkeit." (K, S. 6)
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§ 3: Der Ursprung der modernen Wissenschaft
Dies ist in der Geschichte etwas „unerhört Neues", wie Husserl sagte: die Idee eines rational unendlichen Seins-Alls und das Ideal einer systematischen rationalen Wissenschaft, mit der dieses Seins-All beherrscht werden kann. (Vgl. K, S. 19) Allerdings wurde dieses Ideal erst möglich nach dem Vorbild der neu gestalteten Mathematik und Naturwissenschaften. Wir müssen es also im engen Zusammenhang mit dieser Entwicklung sehen und uns fragen: Was geschieht in der Mathematisierung und Idealisierung der Natur und schließlich in der Technisierung der Welt? Die Naturwissenschaften „abstrahieren" von den Subjekten als Personen eines personellen Lebens, von allem in jedem Sinne Geistigen, von allen in der menschlichen Praxis den Dingen zuwachsenden Kultureigenschaften. Diese Abstraktion ergibt die Dinge als pure körperliche Dinge. Obwohl sie aus einer Abstraktion resultieren, werden sie wie konkrete Realitäten genommen und in ihrer Totalität als eine Welt thematisch gemacht. Dabei ist zu beachten, daß wir selbst in der abstrakten Blickrichtung auf die bloßen raumzeitlichen Gestalten diese als anschauliche Körper sehen, nicht als geometrisch-ideale Figuren, sondern als Körper, wie wir sie tatsächlich und wirklich wahrnehmen. Die nächste Stufe, die nun zu explizieren ist, hat sich aus der Meßkunst entwickelt. Die Meßkunst entdeckte uns praktisch die Möglichkeit, gewisse empirische Grundgestalten, die man konkret an faktisch allgemein verfügbaren empirisch-starren Körpern festlegen konnte, als Maß auszuwählen. Mit dieser Festlegung privilegierter empirischer Grundgestalten vollzieht sich bereits eine erste „Idealisierung", eine erste Konstruktion von Ideal-Objekten. Wichtig ist nun weiter, daß mittels der Beziehungen, die zwischen diesen Maßen und anderen Körpergestalten bestehen oder zu entdecken sind, es möglich wird, diese anderen Gestalten intersubjektiv und praktisch eindeutig zu bestimmen. Zuerst in engeren Sphären, ζ. B. in der Feldmeßkunst, und dann in immer neuen und erweiterten Sphären. Das Messen erfordert eine gewisse Technik, es hat verschiedene Grade der Vollkommenheit, die jeweils durch das praktische Interesse bestimmt sind. Durch das praktische Interesse wurden im Fortschritt der Menschheit Verbesserungen der Meßtechnik erzielt, und aus den ständigen Verbesserungen erwuchs dann die Idealisierung. Diese ergibt sich in der Tat aus der Vervollkommnungspraxis: indem ich immer wieder vollkommener und reiner messen kann, indem ich immer wieder in die Hori-
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zonte erdenklicher Vervollkommnung eindringe, zeichnen sidi Limesgestalten vor, und zwar als diejenigen, auf die die jeweilige Vervollkommnungsreihe hinläuft. Dabei bleiben in der Vervollkommnungspraxis die Limesgestalten invariante und nie zu erreichende Pole. Diese Limesgestalten werden als „reine", als „ideale" Gestalten genommen, indem wir uns als „Geometer" mit ihnen beschäftigen, sie bestimmen wollen und evtl. aus den schon bestimmten neue bestimmen. Wenn wir die Dimension der Zeit hinzufügen, dann sind wir Mathematiker der „reinen" Gestalten, deren universale Form die selbst mitidealisierte Raumzeitform ist. „Anstelle der realen Praxis — sei es also der handelnden oder die empirischen Möglichkeiten bedenkenden, die es mit wirklichen und realmöglichen empirischen Körpern zu tun hat — haben wir jetzt eine ideale Praxis eines ,reinen Denkens', das sich ausschließlich im Reiche reiner Limesgestalten hält." (K, S. 23) Der Prozeß der Idealisierung gerät nun auf eine merkwürdige, wenn auch natürliche Art, in Vergessenheit. Die reinen Gestalten, die eine Idealisierung der Limesgestalten sind, werden durch die immer wieder geübte Methode der Idealisierung und Konstruktion, die sich in intersubjektiver Vergemeinschaftung vollzieht, zu habituell-verfügbaren Erwerben. Mit diesen kann man immer wieder Neues erarbeiten, und so ergibt sich ein „vorgegebenes" Arbeitsfeld: eine unendliche und doch in sich geschlossene Welt idealer Gegenständlichkeiten. Diese werden nun vorgefunden, sie sind da, sie sind objektiv erkennbar, und zwar ohne daß die Sinnesleistungen, durch die sie entstanden sind, aufs neue vollzogen werden müßten. „Wie alle durch menschliche Arbeitsleistung entspringenden Kulturerwerbe bleiben sie objektiv erkennbar und verfügbar, auch ohne daß ihre Sinnbildung stets wieder expliziert erneuert werden müßte; sie werden aufgrund sinnlicher Verkörperungen, ζ. B. durch Sprache und Schrift, schlicht apperzeptiv erfaßt und operativ behandelt. In ähnlicher Weise fungieren die sinnlichen ,Modelle', zu welchen insbesondere gehören die während der Arbeit beständig verwendeten Zeichnungen auf dem Papier, für das Lesend-Lernen die gedruckten Zeichnungen im Lehrbuch und dergleichen. Es ist ähnlich, wie sonst Kulturobjekte (Zangen, Bohrer usw.) verstanden, schlicht gesehen' werden in ihren spezifischen Kultureigenschaften, ohne jedes Wiederanschaulichmachen dessen, was solchen Eigenschaften ihren eigentlichen Sinn gab." (K, S. 23 f.) Daraus wiederum ergibt sich, daß das gesamte Feld der formalisierten reinen Gegenständlichkeiten als unabhängig und
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§ 4: Scheitern des Ideals der modernen Wissenschaft
autonom betrachtet wird, in dem Sinn, daß außerhalb ihrer selbst keine Voraussetzungen für sie gemacht werden müssen. Fassen wir die soeben explizierten Sinnesleistungen zusammen, dann finden wir den folgenden, in sich verstuften Prozeß: Abstraktion vom Geistigen und Hinsicht auf die rein körperlichen Dinge, Bevorzugung gewisser empirischer Grundgestalten durch die Meßkunst, die erlaubt, andere Gestalten, mit denen sie in Beziehung stehen, intersubjektiv eindeutig zu bestimmen, auf der Grundlage der ständigen Verbesserungspraxis, der Technik, Entstehen einer gedanklichen Vervollkommnung von reinen Limesgestalten, deren Ursprung in Vergessenheit gerät und die als objektiv erkennbar und verfügbar betrachtet werden; schließlich die Idee einer voraussetzungslosen geschlossenen, wenn audi unendlich explizierbaren Welt reiner Gegenständlichkeiten.
j 4 Das Ideal von Allwissenheit und Allmacht und dessen Scheitern Auf dem Grund der hier skizzierten Sinnesleistung, die als faktische Bewußtseinsleistung in Vergessenheit geraten ist, wurde der ungeheure Erfolg der Naturwissenschaften möglich, mit dem sie zum Prototyp der Wissenschaften überhaupt geworden sind. Das Ideal Descartes' und der Erfolg der Naturwissenschaften bringen das eigentliche Neue in das Verhältnis des neuzeitlichen Menschen zur Welt; das Ideal weitet sich praktisch aus in das von Allwissenheit und Allmacht. Allwissenheit ist zu erreichen, weil an sich, so meint man, die Welt eine rationale systematische Einheit sei, in welcher alle Einzelheiten bis ins letzte rational determiniert sein müßten. Ihre systematische Form ist bekannt; sie ist nur in Besonderheit zu bestimmen auf einem freilich unendlichen Weg — dessen Ziel allerdings als Ideal, wie wir gesehen haben, bereits substruiert ist — dem Weg zur Allwissenheit. Die Mathematik als Lehrmeisterin hat einmal gezeigt, daß man in die unbestimmt allgemeinen Mannigfaltigkeiten der Lebenswelt eine objektive Welt hineinfingieren kann, d. h. eine Totalität von für jedermann eindeutig bestimmbaren idealen Gegenständlichkeiten. „Sie hat damit zum ersten Male gezeigt, daß eine Unendlichkeit von subjektiv-relativen und nur in einer vagen Allgemeinvorstellung gedachten Gegenständen in einer a priori allumfassenden Methode objektiv bestimmbar und als an sich bestimmte wirklich zu denken sei; genauer: als eine an sich nach
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allen ihren Gegenständen und nach allen Eigenschaften und Relationen derselben bestimmte, im voraus entschiedene. Zu denken sei - sagte ich; nämlich eben dadurch, daß sie ex datis in ihrem objektiv wahren An-sichSein konstruierbar ist durch ihre nicht bloß postulierte, sondern wirklich geschaffene, apodiktisch erzeugende Methode." (K, S. 30) Dann aber fürs Zweite hat die Mathematik gezeigt, nun von den Idealitäten zur anschaulich-wirklichen Welt zurückkehrend, daß man an den Dingen dieser anschaulichen Welt eine objektiv reale Erkenntnis von den Dingen gewinnen kann, die darin liegt, daß diese, wenn auch nur approximativ, auf ihre eigenen Realitäten bezogen werden. Es ergab sich die Idee der Möglichkeit, die Welt „von dem geringen Bestand des jeweils in direkter Erfahrung und nur relativ Festzustellenden aus systematisch, gewissermaßen im voraus zu konstruieren und diese Konstruktion trotz der Unendlichkeit zwingend zu bewähren." (K, S. 29) Dieser Weg zur Allwissenheit ist zugleich der Weg der Allmacht. Einer der Gründe dazu liegt eben darin, daß man von jeweils gegebenen und gemessenen Vorkommnissen unbekannte und direkter Messung nicht zugängliche Vorkommnisse „berechnen" konnte. Die weltentfremdete ideale Geometrie wurde zur angewandten Geometrie. Man gelangte zur Idee, daß Ähnliches überhaupt für die ganze konkrete Welt möglich sei. (Vgl. K, S. 31 und Edmund Husserl: Erste Philosophie, II, Husserliana VIII, Hsg. R. Boehm, Den Haag 1959, S. 230 f.; wir zitieren: E. Ph., II) So entstand die Idee einer nach allen Seiten konstruktiv bestimmbaren und beherrschbaren N a t u r ; die Idee der Erkenntnismacht führte zur praktisch unbeschränkten Herrschaft des Menschen über die Natur, die Gesellschaft und sich selbst, d. h. zur Idee der Macht überhaupt. „Mit der fortwachsenden und immer vollkommneren Erkenntnismacht über das All erringt der Mensch auch eine immer vollkommenere Herrschaft über seine praktische Umwelt, eine sich im unendlichen Progressus erweiternde. Darin beschlossen ist auch die Herrschaft über die zur realen Umwelt gehörigen Menschheit, also auch über sich selbst und die Mitmenschheit, eine immer größere Macht über sein Schicksal, und so eine immer vollere — die für den Menschen überhaupt rational denkbare — ,Glückseligkeit'. Denn auch hinsichtlich der Werte und Güter kann er das an sich Wahre erkennen. Das alles liegt im Horizont dieses Rationalismus, als seine für ihn selbstverständliche Konsequenz. Der Mensch ist so wirklich Ebenbild Gottes. In einem analogen Sinn, wie die Mathematik von unendlich fernen Punkten, Geraden usw. spricht, kann man hier im Gleichnis sagen: Gott ist der ,unendlich ferne Mensch'. Der Philosoph
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hat eben, korrelativ mit der Mathematisierung der Welt und Philosophie, sich selbst und zugleich in gewisser Weise Gott mathematisch idealisiert." (K, S. 67) Gerade aber am Ideal von Allwissenheit und Allmacht zeigte sich bald sehr deutlich die Ohnmacht der objektivierten Wissenschaften. Zwei Konsequenzen ergaben und ergeben sich aus der Objektivierung: Der Verlust der Einheit der Wissenschaften selbst und damit das Scheitern der Allwissenheit; der Verlust der Sinnhaftigkeit und die Verwandlung des Menschen in einen unfreien Tatsachenkomplex und damit das Scheitern der Allmacht als wissenschaftliche „Anweisung zu einem seligen Leben". Es hat sich gezeigt, daß es die in objektiven Einzeldisziplinen sich entwickelnde „Weltwissenschaft" gar nicht gab. Die Welterkenntnis hat sich zersplittert, in die Mannigfaltigkeit objektiven Einzelwissens ohne verständlichen Zusammenhang. Es entwickelte sich keine zusammenhängende, einstimmige, verständliche Welterkenntnis, vielmehr wurde die Welt verwandelt in eine Anzahl von zwar geregelten, aber doch „sinnlosen" Tatsachenkomplexen. Damit war und ist es auch vorbei mit der Allmacht der Wissenschaft. Diese Idee hatte eine ganz ursprüngliche Lebensbedeutung, die Macht der Wissenschaft sollte den Menschen zu einem besseren, immer freieren Leben führen. Durcli die Entwicklung der objektivistischen Wissenschaft hat sich diese Lebensbedeutung geradezu umgekehrt. „Wissenschaft ist Macht, und Wissenschaft macht frei, und Freiheit durch wissenschaftliche Vernunft ist der Weg der .Seligkeit', d. i. der Weg zu einem wahrhaft befriedigenden Menschenleben, zu einem neuen Menschentum, das seine Welt mit der Macht echter Wissenschaft beherrscht und durch diese Macht sich zu einer Vernunftwelt umschafft. D a s ist der Grundgedanke der »Aufklärung', und die ganze neuzeitliche Wissenschaft ist von diesem Grundgedanken getragen und verdankt ihm ihre praktische Triebkraft. Aber die entstehende große Wissenschaft erschafft für den Verstand eine Welt, die den treibenden Gedanken aus praktischer Vernunft aufzuheben scheint; statt dem Menschen die Pforten echter Freiheit zu öffnen und ihr Machtmittel beizustellen, scheint sie ihn selbst in einen unfreien Tatsachenkomplex zu verwandeln und einer sinnlosen Weltmaschinerie als Teilmaschine einzuordnen. Statt ihm wissenschaftliche ,Anweisungen' zu einem ,seligen Leben' zu geben, statt ihm die in tiefsten Gefühlsevidenzen geborgene religiöse Wahrheit der Gotteskindsdiaft und eines Gottesreiches in eine wissenschaftliche Wahrheit zu verwandeln und die Wege eines echt humanen Lebens mit dem lumen naturale der theoretischen Vernunft
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zu erleuchten, macht sie aus Natur und Freiheit eine unverständliche Antinomie." (E. Ph., II, S. 229 ff.) Zum Verlust der Lebensbedeutung und zur durch die objektiven Wissenschaften hervorgerufenen Lebensentfremdung gehört ein weiteres entscheidendes Element, das in der entsprechenden Literatur bislang nicht genügend gesehen wurde: der Ubergang von der Objektivierung zur Formalisierung und schließlich zur veräußerlichenden Operationalisierung. Die Entstehung der objektivierten Wissenschaften führt zur Sinnentleerung der konkreten Welt und zur Überhöhung der Arithmetisierung bis hin zu einer völligen Formalisierung. Die Wissenschaften versuchen, in leer formaler Allgemeinheit alle konstruierbaren Sinngestalten als „Etwas überhaupt" zu erfassen. Damit bleibt aber Wissenschaft eigentlich noch immer auf Wahrheit gerichtet, sie sucht zu sagen, was ist, selbst wenn dieses nur noch die praktisch leere Sinngestalt des „Etwas überhaupt" hat. Die objektive Wissenschaft erweitert sich aber selbst wieder auf alle ihre eigenen formalen Mannigfaltigkeiten und in dieser Weise ist sie auf sich selbst zurückbezogen. Damit wird der entscheidende Schritt vollzogen: weg von der Wahrheit hin zu reinen Tedinik —, so daß wir nunmehr vor einer unbemerkten und verdeckten Verschiebung des Sinnes von Wissenschaft überhaupt stehen. Objektivierung ist eine Sache der Methode, und zwar einer solchen, die formale Gegenständlichkeiten konstruiert und versucht, diese operativ zu behandeln. (Vgl. K, S. 361) Zum Wesen aller Methode gehört die Tendenz, sich durch ihre Technisierung zu veräußerlichen. Die objektivierte und formalisierte Wissenschaft „wird dabei, wie schon die Arithmetik, ihre Methodik kunstmäßig ausbildend, von selbst in eine Verwandlung hineingezogen, durch die sie geradezu zu einer Kunst wird; nämlich zu einer bloßen Kunst, durch eine rechnerische Technik nach technischen Regeln Ergebnisse zu gewinnen, deren wirklicher Wahrheitssinn nur in einem an den Themen selbst und wirklich geübten sachlich-einsichtigen Denken zu gewinnen ist. Bloß jene Denkweisen und Evidenzen sind nun in Aktion, die einer Technik als solcher unentbehrlich sind. Man operiert mit Buchstaben, Verbindungs- und Beziehungszeichen ( + , χ = usw.) und nach Spielregeln ihrer Zusammenordnung, in der Tat im wesentlichen nicht anders wie im Karten- oder Schachspiel. Das ursprüngliche Denken, das diesem technischen Verfahren eigentlich Sinn und den regelrechten Ergebnissen Wahrheit gibt (sei es auch die der formalen mathesis universalis eigentümliche, .formale Wahrheit'), ist hier ausgeschaltet." (K, S. 46)
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§ 5: Lebenswelt und Weltbild
5 5 Lebenswelt und Weltbild Wir haben nun gesehen, was die objektivistische Wissenschaft nach Husserl „leistet", wie sie die Welt interpretiert. Dabei ist ein Problem halb angedeutet und halb verdeckt geblieben, die Aufklärung des Verhältnisses zwischen der Wissenschaft und der Welt. Deutlich wurde, daß die Sinnesleistungen, durch die die moderne Wissenschaft entstanden ist, sich von der anschaulichen, konkreten Welt, in der wir leben, entfernen, jedoch das Problem dieser Welt selbst, der Lebenswelt, wurde nicht behandelt, ebensowenig wie die Rückbeziehung der Wissenschaft zur Lebenswelt. Obwohl der Ausdruck „Lebenswelt" von Husserl erst relativ spät gebraucht wird — literarisch zum erstenmal in dem schon 1936 veröffentlichen Teil der „Krisis"-Abhandlung — ist das Problem mindestens seit der Zeit der „Ideen" (1913) da. Es ist nicht irgendein Problem der Phänomenologie, es ist deren Grundproblem. Die Phänomenologie ist letzten Endes nichts anderes als die Erhellung der Problematik der Lebenswelt. Husserl hat zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie etwas zum Problem gemacht, das bis dahin gar nicht gesehen wurde, weil es als das Allererste und immer schon Selbstverständliche so nahe lag, daß es «Versehen wurde, daß wir nämlich immer schon in einer Welt leben, die wir als unbefragten Boden unserer Fragen selbstverständlich voraussetzen, und daß alle wissenschaftliche Leistung auf diese Welt zurückweist, aus ihr heraus ihren Sinn erhält. „Es gehört zu den allem wissenschaftlichen Denken und allen philosophischen Fragestellungen vorausliegenden Selbstverständlichkeiten, daß die Welt ist, immer im voraus ist, und daß jede Korrektur einer Meinung, einer erfahrenden oder sonstigen Meinung, schon seiende Welt voraussetzt, nämlich als einen Horizont von jeweils unzweifelhaft Seiend-Geltendem, und darin irgendeinen Bestand von Bekanntem und zweifellos Gewissem, mit dem das evtl. als nichtig Entwertete in Widerspruch trat. Auch objektive Wissenschaft stellt nur Fragen auf dem Boden dieser ständig im voraus, aus dem vorwissenschaftlichen Leben her, seienden Welt ( . . . ) Leben ist ständig In-Weltgewißheit-leben. Wachleben ist, für die Welt wach sein, beständig und aktuell der Welt und seiner selbst als in der Welt lebend ,bewußtc sein, die Seinsgewißheit der Welt wirklich erleben, wirklich vollziehen." (K, S. 112 f. und S. 145)
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Die Weltgewißheit, in der wir leben, hat nicht nur die Problematik der Welt verstellt, unerkannt gelassen, sondern sie verdeckt auch dann, wenn sie als Problem gestellt wird, zunächst die Schwierigkeit der Aufgabe. Wenn diese konkrete, gelebte, unumstößliche Gewißheit thematisch ausgelegt werden soll, wenn die Selbstverständlichkeit der Welt zur Verständlichkeit gebracht werden soll, entdecken wir, daß gelebte unumstößliche Gewißheit und artikulierte Verständlichkeit weit auseinanderliegen, ja, daß dieser Bezug selbst ein einzigartiges Problem darstellt. D a die Lebenswelt immer notwendig vorgegeben ist als Horizont, als Universalfeld, aller möglichen und wirklichen Praxis, auch der theoretischen, verdient keine Philosophie ihren Namen, wenn sie nicht versucht, den dadurch gestellten Problemen auf den Grund zu gehen, nachdem sie einmal aufgetaucht sind. Wenn wir dies nun — in Vorläufigkeit — tun wollen, müssen wir zunächst eine Auffassung abwehren, wie sie ζ. B. von Funke vertreten wird. Funke meint, es handle sich bei dem Kontrast „Lebenswelt und wissenschaftliche Welt" lediglich um zwei historisch aufeinanderfolgende und gegenübergestellte Auffassungen von der Welt. (Vgl. Gerhard Funke: Phänomenologie — Metaphysik oder Methode?, Bonn 1966, S. 141 ff.) Die Lebenswelt gäbe es also gewissermaßen erst heute als die der Wissenschaftswelt gegenübergestellte und vorhergehende. Daran ist gerade nur soviel wahr, daß aus später zu erläuternden Gründen die Lebenswelt zu diesem geschichtlichen Zeitpunkt als solche ins Bewußtsein gehoben wurde. Es wäre ein Mißverständnis zu glauben, die Lebenswelt sei für Husserl diejenige historische Welt, die gerade vor der Entstehung der modernen Wissenschaften bestanden habe, oder gar, wie Blumenberg dies interpretiert, die Lebenswelt sei die natürliche, urwüchsige Welt, wie sie bestanden habe vor dem ersten Eingreifen der theoretischen Einstellung überhaupt durch die Griechen. (Vgl. Hans Blumenberg: Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, Torino 1963, S. 12) Die Entdeckung Husserls hat nichts damit zu tun, daß man zwei Weltauffassungen auf gleicher Ebene einander gegenüberstellen kann, sondern daß wir immer schon in einer Welt leben, aus der heraus alle Auffassungen von ihr und über sie ihren Sinn erhalten, und auch die Auffassung über die Lebenswelt selbst, wenn wir uns eine solche bilden. Die Anweisung zu einer vorgreifenden Interpretation finden wir in zwei Aussagen Husserls, die er auf verschiedene Weise immer wieder wiederholt: Lebenswelt ist immer vorausgesetzt, und sie ist „anschaulich" 2 Brand,
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gegenüber der wissenschaftlich betrachteten Welt, die die theoretisch logische Substruktion der Lebenswelt gibt. (Vgl. K, S. 130) Vollziehen wir nun diese Interpretation stufenweise. Zunächst und als Erstes muß mit aller Deutlichkeit gesagt werden, daß die Lebenswelt keine Auffassung, kein Gebilde ist, sondern die konkrete Welt, in der wir leben. Ihre Anschaulichkeit besteht eben zunächst darin, daß sie kein Gebilde ist, das wir als Thema vor uns haben. Sie ist unmittelbar anschaulich-sinnvoll, ohne daß deswegen ihr Sinn, ihre Anschaulichkeit, expliziert, reflektiert, durchgebildet wäre. „In der Lebenswelt leben wir bewußtseinsmäßig immer; normalerweise ist kein Anlaß, uns sie universal als Welt ausdrücklich thematisch zu machen. Wir leben, ihrer als Horizont bewußt, unseren jeweiligen Zwecken, ob nun momentan und wechselnden oder ob einem dauernd uns leitenden Ziel. Es kann ein Ziel sein, das wir uns als Lebensberuf zum herrschenden für unser handelndes Leben erwählt haben oder in das wir durch unsere Erziehung irgendwie hineingeraten sind. In diesem Falle wird ein in sich geschlossener ,Welt'-Horizont konstituiert. So als Menschen des Berufes möge uns alles andere gleichgültig werden und wir nur für diesen Horizont als unsere Welt und für die ihr eigenen Wirklichkeiten und Möglichkeiten — die seienden dieser ,Welt' — ein Auge haben, also nur dafür, was da Wirklichkeit (die in dieser Zielung richtige, wahre) oder Unwirklichkeit (das Unrichtige, das Verfehlte, Falsche) ist. Daß sich dieses ganze wirkende Leben und diese ganze WerkWelt innerhalb der immerzu selbstverständlich seienden Welt in dem universalsten, dem vollen, dem lebensweltlichen Sinn hält, daß das besondere Wirken und die Werke ihre Wahrheit und Falschheit nach seiend und nicht-seiend, Richtiges und Falsches des weiteren und weitesten Seinskreises voraussetzt, das liegt außerhalb des Interesses, obschon wir in dem besonderen Interessenleben vom Seienden des weiteren Kreises je nach Bedürfnis Gebrauch machen. In der besonderen Welt allein thematisch {unter der Regierung des obersten Zweckes, der sie ,.macht') lebend, ist also Lebenswelt unthematisch, und solange sie es bleibt, haben wir unsere besondere Welt, allein als Welt thematisch als unseren Interessen-Horizont." (K, S. 459; Hervorhebungen von mir) Die Welt hat zunächst nichts mit einem All der Realitäten, mit einem Kosmos zu tun; sie ist lediglich das, in das wir hineinleben, das, woraus wir herausleben. (Vgl. K, S. 148) Die Welt ist uns ständig konkret gegeben, uns als Wissenschaftlern und uns als Philosophierenden; als die Welt, in der wir leben, ist sie für uns schon ehe wir philosophieren, ehe wir wissenschaftliche Fragen stellen. (Vgl. K, S. 494)
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„Die Lebenswelt ist die ständig vorgegebene, ständig und im voraus seiend geltende, aber nicht geltend aus irgendeiner Absicht, Thematik, nach irgendwelchem universalen Zweck. Jeder Zweck setzt sie voraus, auch der universale Zweck, sie in wissenschaftlicher Wahrheit zu erkennen, setzt sie voraus, und schon voraus, und im Fortgang der Arbeit immer von neuem voraus, als eine in ihrer Weise seiende, aber eben seiende. Die wissenschaftliche Welt (Natur im Sinne der Naturwissenschaft, Welt im Sinne der Philosophie als universale positive Wissenschaft) ist ein ins Unendliche fortlaufendes Zweckgebilde ( . . . ) Jede praktische Welt, jede Wissenschaft setzt die Lebenswelt voraus, sie als Zweckgebilde wird kontrastiert mit der Lebenswelt, die immer schon und immerfort ist, ,νοη selbst'. Andererseits ist doch jedes menschheitlich (individuell und in Gemeinschaftlichkeit) Werdende und Gewordene selbst ein Stück der Lebenswelt: also der Kontrast hebt sich auf. Das aber ist nur verwirrend, weil eben die Wissenschaftler, wie alle in einem Berufszweck (»Lebenszweck') vergemeinschaftet Lebenden, für nichts Augen haben als für ihre Zwecke und Werkhorizonte. Wie sehr die Lebenswelt die ist, in der sie leben, der auch alle ihre theoretischen Werke' zugehören, und wie sehr sie von Lebensweltlichem, das eben in der theoretischen Behandlung als das Behandelte ,zugrunde liegt', Gebrauch machen, so ist eben die Lebenswelt nicht ihr Thema, nicht als die ihnen jeweils vorgegebene und nicht als die ihr Werk hinterher aufnehmende, und so nicht in voller Überschau das Universum von Seiendem, das ständig in unaufhörlicher Bewegung der Relativität für uns ist, und Boden für alle jeweiligen Vorhaben, Zwecke, Zweckhorizonte und Werkhorizonte von Zwecken höherer Stufe." (K, S. 461 f.) Die Vorgegebenheit der Welt und ihre Konkretion, ihre Anschaulichkeit als nicht-thematisierte Anschaulichkeit gehören zusammen. Alle thematisierten Zweckgebilde, ζ. B. die wissenschaftlichen, die wir mit Absicht herstellen, setzen die konkrete Welt voraus, die „von selbst" ist. Eine gewisse Verwirrung könnte entstehen, wenn wir bedenken, daß die wissenschaftlichen Zweckgebilde einerseits mit der Lebenswelt kontrastiert werden, andererseits aber selbst zur Lebenswelt gehören; wir finden sie vor als Gewordenes, sie fließen zurück in die Lebenswelt, so daß der Kontrast sich anscheinend wieder auflöst. Die Verwirrung verschwindet, wenn wir uns klarmachen, daß diesen Zweckgebilden zwar einerseits die Lebenswelt als das von ihnen Behandelte zugrunde liegt und daß sie dann andererseits in die Lebenswelt wieder einströmen, daß aber die Lebenswelt als solche von ihnen nicht thematisiert wird. Die Lebenswelt ist konkret an2*
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schaulicher Grund und Boden aller Thematisierung und dabei in ihrer Konkretion über alle Thematisierung hinaus. Ein Zweites kann nun aber gleich von dieser Welt gesagt werden. Ist sie auch kein Zweckgebilde, so ist sie doch ein Ganzes, weil und indem wir ein unbestimmtes, rätselhaftes, nicht expliziertes Vorverständnis von ihr im ganzen haben. Sie ist also nicht das Ganze einer bestimmten Gestalt, sondern eines unbestimmten offenen Vorverständnisses. Wir haben eben schon gesehen, daß es zur konkreten Welt, in die wir hineinleben, gehört, daß wir das Vorverständnis, das wir von ihr haben, immer schon irgendwie expliziert, thematisiert haben. Wir schaffen Gebilde, die den Zweck haben, die konkrete Welt zu erfassen, zu artikulieren, zu interpretieren, in verständliche Zusammenhänge zu bringen. Diese Gebilde sind es, die Husserl „Zweckgebilde" nennt. Diese Gebilde können Teilstücke oder Gesamtaspekte der Welt betreffen, sie können auch die Welt als solche betreffen. Sie können mythischen Charakter haben, religiösen, künstlerischen, „denkerischen" und schließlich wissenschaftlichen. Sie können auch die Welt als Ganzes betreffen, ja zu unserem Weltleben gehört es, daß wir uns ein Bild darüber machen, eine Ansicht, eine Anschauung, es so oder so „auffassen". (Vgl. zum Zusammenhang von Weltansicht, -bild, -anschauung und vorgegebenem Weltverständnis die Studie von Wilhelm Luther: Der Beitrag der Sprachphilosophie zur geistigen Grundlagenbildung. In: Das Problem der Sprache, Hsg. H.-G. Gadamer, München 1967, bes. S. 512 ff.) Wir kontrastieren also zunächst die konkrete Welt und das Weltbild, die Weltauffassung. Die Lage kompliziert sich aber, denn die eben genannten Aspekte vermengen sich miteinander; das Weltbild, die Weltauffassung, hat selbst nicht immer den Charakter eines geschlossenen, fertig thematisierten Gebildes, sie kann mehr oder weniger implizit sein; und schließlich strömt das Weltbild, so wie auch die partikularen Zweckgebilde, in die Lebenswelt ein. (Vgl. K, S. 466) Das Weltbild, wie immer es auch geartet sein mag, strömt in die konkrete Welt ein, verfließt mit ihr, so daß wir meinen können, die Welt sei das Bild, das wir von ihr haben. Das Weltbild bildet die Welt, es orientiert uns in ihr. Die konkrete Welt ist also der Boden, in dem alle Interpretation gründet; die Interpretationen, als aus diesem Boden erworbene Ergebnisse, strömen in die konkrete Welt zurück, gehören explizit oder implizit zur konkreten Welt, wobei die Interpretation wiederum versucht, dieses Verhältnis insgesamt zu erfassen. (Vgl. K, S. 133 ff.) Hus-
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serl selbst stellt fest: „Wir kommen in eine unbequeme Situation." (K, S. 133) Diese paradoxen Beziehungen zu explizieren und zu erhellen, ist Aufgabe der Untersuchung der Lebenswelt selbst. Doch müssen wir hier die Problematik noch soweit verfolgen, daß klar wird, welcher Art die Spannung zwischen der modernen Wissenschaft und der Lebenswelt ist. Aus dem oben Dargelegten resultiert weiter die Einsicht in die Spannung überhaupt zwischen der konkreten Welt und dem Bild, das wir von ihr haben. Dieses Weltbild braucht als fertiges Zweckgebilde nicht ausdrücklich bewußt, thematisiert zu sein; es ist als Orientierungsgebilde selbst inhärenter Teil der Lebenswelt. Gleichwohl ist es von ihr unterschieden, denn wir können es als Gebilde abheben und haben es schon immer abgehoben. Bild — Anschauung — Auffassung sind etwas Abstraktes gegenüber der konkreten Welt. So reich, komplex und kompliziert sie auch sein mögen, sie sind ärmer, vereinfachter als die Lebenswelt. Als das Explizierte des nicht und nie ganz Explizierbaren unterliegen sie dem Zwang der vereinfachenden Abstraktion gegenüber dem Reichtum und der Offenheit des Konkreten. Zwischen der konkreten Welt, in der wir leben, und dem Weltbild, das sie erfaßt und interpretiert, das uns in ihr orientiert, besteht also immer ein Verhältnis, das notwendig verarmend und damit ein Spannungsverhältnis ist.
§ 6 Das Weltbild der modernen Wissenschaft und dessen Verhältnis zur Lebenswelt Wir haben nun darzustellen, welches Weltbild uns die moderne Wissenschaft liefert, und wollen prüfen, welches Verhältnis zwischen diesem Weltbild und der Lebenswelt besteht. Mit Husserl haben wir gesehen, daß die objektivistische Wissenschaft die Welt objektiviert, verdinglicht, quantifiziert, formalisiert und operationalisiert. Uberlegen wir noch einmal, was das bedeutet. Der Objektivismus objektiviert, vergegenständlicht, verdinglicht. Aber gründet denn nicht alles auf den Dingen? Müssen wir nicht davon ausgehen, daß es in der Welt „Dinge" gibt, und daß es sich nur darum handelt, sie zu erfassen und zu verstehen? Zweifellos gibt es in der Welt Dinge; wir braudien uns hier nicht darauf einzulassen, zu definieren, was ein Ding eigentlich und letztlich ist und können doch mit Gewißheit feststellen: Die Dinge sind sichtbar, wir können zwischen ihnen unterscheiden
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und können sie von uns unterscheiden. Ich kann audi Menschen voneinander und von anderen Dingen unterscheiden; Dinge sind also Sichtbares, Lokalisierbares, Individualisierbares, Unterscheidbares. Zwischen den Dingen aber gibt es Beziehungen. Auch hier sei wieder dahingestellt, was diese Beziehungen letzten Endes sind, aber auch hier sei eines festgestellt: Sie sind nicht sichtbar, jedenfalls nicht wie die Dinge. D a ß ein Ding ein anderes so und so viele Male enthält, daß zwischen Menschen Beziehungen herrschen individueller Art, wie ζ. B. Liebe oder H a ß oder Regeln, die Gruppen von Menschen oder Dingen bestimmen, das ist uns zwar unmittelbar gegeben oder kann zur Gegebenheit gebracht werden, aber es ist nicht mit den Augen zu sehen, nicht zu berühren und nicht zu handhaben. Wenn wir in der Mathematisierung der Natur vom Geistigen absehen und nur auf das rein Körperliche hinsehen, verkörperlichen wir auch die Beziehungen zwischen den Körpern. Die Beziehungen zwischen den Körpern sind das Unsichtbare, das unsichtbar Gegebene, auf dessen Hintergrund allein das Sichtbare sichtbar wird. Dieses Unsichtbare wird nun, indem wir es erfassen, mit Sichtbarem verwechselt, es wird in seiner Verfügbarkeit wie ein Körperding behandelt, substanzifiziert und gehandhabt. Die Beziehungen werden selbst verdinglicht, indem man sie so auffaßt, wie sie ursprünglich in der rein körperlichen Welt erscheinen, als Mechanismus: ein Ding berührt ein anderes, bewegt ein anderes. So tendiert der Objektivismus im äußersten Falle dazu, das Unanschauliche anschaulich, das Unsichtbare sichtbar zu machen wie ein Ding und in ein Bezugsschema reiner Körperlichkeit zu pressen. Auch das Subjekt wird objektiviert, verdinglicht. Es steht den Dingen gegenüber als absoluter, unabhängiger, über ihnen schwebender Betrachter, wie ein Ding über den Dingen. Man behauptet zwar, daß dies in der modernen Naturwissenschaft nicht mehr geschähe, da sie die Wirklichkeit vom Beobachter nicht unabhängig betrachtet und nur von einer Reihe von Operationen spricht. Doch gerade in der Tatsache, daß der Beobachter objektiv, d. h. beliebig gesetzt wird, liegt es, daß diese Operationen wieder als allgemein verfügbar, als verdinglicht betrachtet werden. Die objektivistische Wissenschaft quantifiziert. Wir haben eben gesehen, daß auch die Beziehungen als körperlich vergegenständlicht werden. Gewiß gibt es auch andere Beziehungen, aber sie werden alle analog der körperlich-anschaulichen aufgefaßt. Am Beginn der Idealisierung der
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Natur steht das Absehen von allem Sinnvollen und das Hinsehen auf das rein Körperliche, und das bleibt so im weiteren Verlauf dieser Idealisierung. Diese hält sich in der Dimension der Körperlichkeit, der reinen raumzeitlichen Gestalten, und sagt somit lediglich, in welchen Beziehungen diese zueinander stehen; das sind sowohl Beziehungen des Enthaltens als auch des Bewegens. Darauf wird im weiteren Fortschreiten alles reduziert. Die Domäne des körperlichen, raumzeitlichen Enthaltens und der körperlichen raumzeitlichen Bewegung ist die Domäne des quantitativen Operierens. So subtil und verfeinert dieses audi gestaltet wird, was am Anfang ausgeschlossen wurde, das kann es nie mehr erfassen. Bemerkt werden muß noch, daß das scheinbar Unsichtbare, Unkörperliche, das in des quantitative Operieren sichtbaren Eingang gefunden hat, nämlich die Null, kein echtes Unsichtbares ist, sondern nur die Abwesenheit eines Körpers bedeutet. Die Quantifizierung gibt uns das sinnentleerte Meßbare. Die objektivistische Wissenschaft formalisiert, die Dinge werden nicht bestimmt durch ihren Sinngehalt, sondern lediglich durch die Beziehungen, die zwischen ihnen herrschen und die Operationen, die man mit ihnen anstellen kann. Die Formalisierung besteht gerade darin, daß die Beziehungen nicht als Sinnzusammenhang, sondern als reines Operieren mit sinnentleerten reinen Gegenständen gesehen werden. Die formalisierten Wissenschaften haben gezeigt, daß die Formalisierung der Mathematik mit progressiver Indetermination einhergeht und besonders, daß sie in der Reinheit der Formalisierung nicht fortschreiten kann, ohne sich selbst zu formalisieren. (Skolems Theorem). Die Formalisierung in ihrer progressiven Indetermination, dies zu sehen ist wichtig, zeichnet sich aus durch reine Beliebigkeit ihrer Termini, schließlich aber tendiert sie zum Verschwinden jeder diskursiven Unterscheidung des Denkens, d. h. zur Selbstauflösung der Form. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang erscheint eine Abhandlung von Dieter Ciaessens über die Rationalität, die unser Zeitalter bestimmt. Er kommt zu dem Schluß, „daß das gesuchte Ingredienz der Rationalität die Beliebigkeit ist." (Dieter Ciaessens: Rationalität revidiert. In: Kölner Zs. f. Soziologie und Sozialpsychologie, 17. Jg., H. 3,1965, S. 457; Hervorhebung von mir) Hier könnte man nun einwenden, daß die Wissenschaft selbst die Grenzen ihrer Formalisierung aufweist. So zeigt Goedels Theorem, daß es ein sich selbst begründendes, geschlossenes formales System nicht gibt, daß jedes System immer auf einen logisch vorausliegenden, nicht formalisierbaren Rest verweist. „Von da her die Grenzen der Formalisierung
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in der Mathematik: mit Operationen operieren setzt eine irreduktible Arbeitsmaterie voraus, ohne die die Form mit dem Akt, der sie konstituiert, verschwindet. Das bedeutet auch, daß es keine rein formale Logik gibt." (Claude Bruaire: Formalisme et materialisme. In: Revue Philosophique de Louvain, Tome 65, Fevrier 1967, S. 58) Dies ändert jedoch nichts an der formalisierenden Tendenz der Wissenschaft. Vielmehr zeigt sich hier immanent im Zweckgebilde der Wissenschaft selbst die Spannung zwischen dieser und der Lebenswelt. Schließlich ist in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß man sehr subtile und fruchtbare Unterscheidungen zwischen verschiedenen Form- und Inhaltsbegriffen anstellen kann, wie Roman Ingarden dies tut. So stellt er neun Form- und Inhaltsbegriffe zusammen, die er auf drei Paare von grundlegenden Begriffen zurückführt. (Vgl. Roman Ingarden: Der Streit um die Existenz der Welt, I I / l , Tübingen 1965, S. 27 ff., S. 33, S. 38) Dabei bleibt jedoch eines festzuhalten: jeder Formalismus versucht die Ausdehnung der Form auf das Ganze. Während der Begriff der Form, wie immer er audi aufgefaßt wird, sich mit dem Begriff des Inhalts, der Materie, paart, negiert der Formalismus diese Relation. Damit löst er sich selbst auf: zwischen der reinen Form und der reinen Materie gibt es keinen Unterschied mehr. Die objektivistische Wissenschaft operationalisiert, sie technisiert. Wissenschaft und Philosophie wollten ursprünglich sagen, was die Welt ist, aber auch, wie in ihr zu handeln ist. In der Wissenschaft hat sich aber durch ihre zunehmende Formalisierung und Operationalisierung der Akzent verschoben. Wissenschaft will nicht mehr sagen, was Welt ist, sondern nur noch, was in ihr „erfolgen" kann, wie in ihr Operationen vollzogen werden können. Die Logik der Wissenschaften ist keine Wahrheitslogik, keine Inhaltslogik, sondern in ihrer Tendenz eine formalisierte, eine operationeile Logik, die lediglich den so weitgehend wie möglich formalisierten Zusammenhang von Operationen in der ihnen eigenen Immanenz stichhaltig aufweisen will. Wissenschaft sagt also gar nicht mehr, was die Welt ist, sondern sie ist ein Operationsschema. Das Zweckgebilde „moderne Wissenschaft" hat sich so weit von der konkreten Welt entfernt, daß wir bei der Vertauschung beider in verkürzter Weise von einer Vertauschung der Lebenswelt mit der wissenschaftlichen Welt überhaupt sprechen können. Ein Zweckgebilde der Lebenswelt sucht diese selbst zu ersetzen. Sehen wir nun, wie moderne Wissenschaft und Lebenswelt sich zueinander verhalten.
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Dabei gehen wir zunächst zurück auf die Urstiftung der Zweckidee der „objektiven Wahrheit" im Griechentum. In der Lebenswelt spielt Erkenntnis eine beständige Rolle, und zwar mißt sie sich an der Ermöglichung praktischen Lebens. Im Griechentum wurde die vorwissenschaftliche Idee Erkenntnis und Wahrheit umgebildet zur methodischen, systematische Notwendigkeiten erfassenden Erkenntnis, zur Idee „objektiver Wahrheit", der nunmehr die höhere Dignität galt, die die Norm wurde für alle Erkenntnis überhaupt. (Vgl. K, S. 124) Was geschah nun bei der Suche nach objektiver, allgemeingültiger Wahrheit in der Mathematisierung der Natur, mit der die Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft einsetzte? Wie rekonstruieren wir den Gedankengang, der sie motivierte? Die Welt ist uns in der alltäglichen Erfahrung auf konfuse, unstabile, subjektive und relative Art gegeben. Jeder hat seine Eindrücke, seine Erscheinungen, und jeder hält sie für die Wirklichkeit. Diese individuellen Diskrepanzen haben wir im Verlauf unserer Erfahrung entdecken gelernt. Wir meinen aber deshalb keineswegs, daß es viele Welten, eine für jedes Individuum gäbe. Vielmehr glauben wir an die eine, gemeinsame Welt, in der wir mit den anderen leben. Somit stellt sich die Frage, liegen die entdeckten Diskrepanzen der Erscheinung der Welt nicht in den Individuen, in ihrer Subjektivität? Ist die an-sichseiende, objektive Welt, die für alle die gleiche ist, nur eine leere, wenn auch notwendige Idee? Oder können wir in den Erscheinungen selbst einen Gehalt finden, der uns das An-sich der Welt gibt? Die Antwort scheint klar: Die Mathematik gibt uns ihre reinen Gestalten in der Evidenz absoluter Allgemeingültigkeit, also entsprechen sie dem objektiv Wahren, der Welt an-sich. (Vgl. K, S. 20 f.) Wir sehen, daß die neuzeitliche Wissenschaft in ihrer Entstehung geleitet ist von der Voraussetzung, daß sie die Welt erkennend bestimmen kann, wie sie an sich ist, unabhängig von der Konfusion, der Relativität und der Subjektivität der sinnlichen Erfahrung und der in ihr gründenden Meinungen. Diese Voraussetzung, diese Hypothese des An-sichSeins der so bestimmten Natur ist aber nur „eine der praktischen Hypothesen; unter den vielen, die das Leben der Menschen in ihrer Lebenswelt (...) ausmachen". (K, S. 133 f.) Die Wissenschaften haben nicht gesehen, daß ihre Voraussetzung lediglich eine Hypothese war. „Aber die Wissenschaften und die Philosophie der beginnenden Neuzeit haben diese Hypothese des Ansichseins nicht als Hypothese erkannt. Sie sind mit dieser Verkennung bei ihrer Begründung im Beginn der Neuzeit der Faszination des Wahrheitsbegriffes der Metaphysik erlegen, demgemäß das wahre
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Sein an sich das beständige und bleibende hinter der veränderlichen und wandelbaren Welt der Doxa, des Sinnenscheins und seiner Vorurteile ist." (Landgrebe: Methodenproblem . . S . 152 f.) Gewiß lebt der Wissenschaftler in der Erfahrungswelt, er geht von ihr aus, aber sie gilt ihm als der Bereich des „bloß Subjektiv-Relativen", das überwunden werden muß. Die Erfahrungswelt ist nicht die wahre Welt. Damit ist die wissenschaftliche Welt so in die Lebenswelt eingeströmt, daß sie das ursprüngliche Verhältnis der beiden umgekehrt hat. Ein Zweckgebilde der Lebenswelt ist zur Welt selbst geworden. „Die Vertauschung der Lebenswelt mit der objektiv-wissenschaftlichen Welt ist damit vollzogen." (Hubert Hohl: Lebenswelt und Geschichte — Grundzüge der Spätphilosophie E. Husserls, München 1962, S. 21) In dieser Vertauschung wird der Ursprung des Zweckgebildes Wissenschaft vergessen, es wird vergessen, daß Wissenschaft Methode ist, Methode wird mit Sein verwechselt. Um diese Vertauschung zu kennzeichnen, benutzt Husserl auch die Metapher des Ideenkleides, das die objektivistischen Wissenschaften der Welt überwerfen, diese verkleidend. „Das Kleid der Symbole, der symbolisch-mathematischen Theorien, befaßt alles, was sie den Wissenschaftlern so den Gebildeten als die .objektiv wirkliche und wahre' Natur die Lebenswelt vertritt, sie verkleidet. Das Ideenkleid macht es, daß wir für wahres Sein nehmen, was eine Methode ist". (K, S. 52) Den Aspekt der Methode müssen wir noch einmal unterstreichen. Wissenschaft und Philosophie waren auf Erkenntnis des Seins aus, solange sie vereint waren. Die bessere Erkenntnis erlaubte auch ein besseres Handeln. In der Wissenschaft aber, indem sie sich emanzipierte, vollzog sich eine Akzentverschiebung auf das Handeln. Für das Handeln ist wesentlich die Voraussicht. „Auf Voraussicht, wir können dafür sagen, auf Induktion beruht alles Leben. ( . . . ) Alle Praxis mit ihren Vorhaben impliziert Induktionen". (K, S. 51) Was leistet nun die Wissenschaft wirklich und eigentlich? Sie gibt uns „eben eine ins Unendliche erweiterte Voraussicht." (K, S. 51) Wissenschaft ist eine Methode von in ihrer Leistungsfähigkeit ins Unendliche zu steigernden Induktionen. „In der geometrischen und naturwissenschaftlichen Mathematisierung messen wir so der Lebenswelt — der in unserem konkreten Weltleben uns ständig als wirklich gegebenen Welt — in der offenen Unendlichkeit möglicher Erfahrungen ein wohlpassendes Ideenkleid an, das der sogenannten objektiv-wissenschaftlichen Wahrheiten, d. i. wir konstruieren in einer (wie
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wir hoffen) wirklich und bis ins Einzelne durchzuführenden und sich ständig bewährenden Methode zunächst bestimmte Zahlen-Induzierungen für die wirklichen und möglichen sinnlichen Füllen der konkret-anschaulichen Gestalten der Lebenswelt, und eben damit gewinnen wir Möglichkeiten einer Voraussicht der konkreten, noch nicht oder nicht mehr als wirklich gegebenen, und zwar der lebensweltlich-anschaulichen Weltgeschehnisse; einer Voraussicht, welche die Leistungen der alltäglichen Voraussicht unendlich übersteigt." (K, S. 51) Im Begriff des Ideenkleids, das letztlich in Methode besteht, haben wir die doppelte Sinnverschiebung der modernen Wissenschaft: Sinnentleerung und reine Operationalisierung. Damit wird nun die Spannung deutlich, die zwischen dem objektivistischen, operationalistischen, formalisierten Weltbild und der konkreten Lebenswelt herrschen muß. Alle Weltbilder, die es bisher in der Geschidite gegeben hat, waren in sich sinnhaft. Zum ersten Mal haben wir nun eine Weltauffassung, die den Sinn selbst aus der Welt zu verbannen sucht. Aus dieser geistesgeschichtlichen Situation ergibt sich auch, daß es zwar die Lebenswelt schon immer gegeben hat, daß ihre Existenz aber erst in dem Augenblick ins Bewußtsein gehoben wird, in dem die undurchschaute Spannung der modernen Welt durchsdiaubar gemacht wird. Der amerikanische Soziologe W. I. Thomas hat das berühmte Wort geprägt: „Wenn die Menschen eine Situation als real definieren, dann ist sie real in ihren Konsequenzen." (W.I.Thomas: The Child in America, New York 1928, S. 572) Dieses Wort können wir mutatis mutandis auf die jetzige Lage anwenden. Die „Situation" muß dabei nicht unbedingt ausdrücklich definiert sein, um sie in ihren Konsequenzen real werden zu lassen. Die moderne Wissenschaft bildet die moderne Welt, audi dann, wenn sie als Welt-bild nicht ausdrücklich abgehoben wird; vielleicht sogar besonders dann, wenn sie sich als Zweckgebilde verdeckt und sich nur in den fraglos erscheinenden Zwängen bekundet, die sie der Lebenswelt auferlegt. Dies manifestiert sich besonders im Aspekt der Operationalisierung, der Technisierung, der uns, wenn er als Sein genommen wird, aufgibt zu agieren. Die Vertauschung der wissenschaftlichen Welt mit der Lebens weit bedeutet nicht allein, daß die Welt „sinn-los" ist, sondern auch, daß in dieser sinnentleerten Welt operiert werden muß. Der Objektivismus führt dazu, daß die Lebenswelt ständig überlagert wird von einer Welt, die ihr Wesen (oder Un-Wesen) darin hat, daß in ihr ständig und sinnlos operiert wird. Das Ideenkleid, das die objektivistische Wissenschaft in ihrer Tendenz der Lebenswelt überwirft, ist das einer Welt als
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eines reinen, sinnentleerten, durch Beliebigkeit gekennzeichneten Operationsfeldes. Auf diese Situation trifft das Wort von Hannah Arendt zu: „Weltentfremdung und nicht Selbstentfremdung, wie Marx meinte, ist das Kennzeichen der Neuzeit." (Hannah Arendt: Vita Activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960, S. 249) Durch die daraus sich ergebende Spannung entsteht der „Krieg der Welten", wie John Wild es ausdrückt, und dessen Beilegung er als das fundamentale Problem der Philosophie unserer Zeit ansieht. (Vgl. John Wild: Husserl's Life-World and the Lived Body. In: Symposium Sobre la Nocion Husserliana de la Lebenswelt, Mexiko 1963, bes. S. 84) Eine bemerkenswerte Beschreibung, in der diese Situation zum Teil berührt wird, finden wir bei Merleau-Ponty: „Heute dagegen haben wir es ( . . . ) mit der ganz neuen Erscheinung zu tun, daß die konstruktive Praktik sich als autonom ansieht und daß das Denken sich bewußt auf die Gesamtheit der Aneignungstechniken, die es erfindet, reduziert. Denken heißt jetzt, Versuche machen, Operieren und Transformieren unter dem alleinigen Vorbehalt einer experimentellen Kontrolle, bei der nur stark ,bearbeitete' Phänomene auftreten, die von unseren Apparaten mehr hervorgebracht als bloß registriert werden. Daher werden alle möglichen Versuche kurzerhand von einem Forschungsgebiet auf ein anderes übertragen. Niemals ist die Wissenschaft so empfänglich für die geistigen Moden gewesen wie heute. Hat ein Modell in einem bestimmten Problembereich Erfolg gehabt, so wendet man es überall an. ( . . . ) Sagt man auf Grund einer Nominaldefinition: Die Welt ist der Gegenstand X unserer Operationen, so setzt man die Erkenntnissituation des Wissenschaftlers absolut, als wäre alles, was war und ist, nur für das Labor bestimmt. Das ,operative' Denken wird zu einer Art absoluter Konstruktionssucht, wie man es in der kybernetischen Ideologie sieht, wo die menschlichen Schöpfungen aus einem natürlichen Informationsprozeß abgeleitet werden, der jedoch selbst nach dem Modell menschlicher Maschinen konzipiert wird. Wenn eine solche Denkweise sich mit dem Menschen und der Geschichte befaßt und wenn sie, hinwegsehend über das, was wir durch direkten Kontakt und unsere eigene Lage davon wissen, sich anschickt, sie auf Grund einiger abstrakter Indizes zu konstruieren, wie es in den Vereinigten Staaten eine dekadente Psychoanalyse und Kulturwissenschaft unternommen haben, gerät man, weil der Mensch dann tatsächlidi zu dem manipulandum wird, das er zu sein glaubt, in ein Kultursystem, wo es kein Richtig und Falsch mehr für den Menschen und die Geschichte gibt, in einen Schlaf oder Albtraum, aus dem nichts ihn zu
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wecken vermag." (Maurice Merleau-Ponty: Das Auge und der Geist. Übers, u. eingeh v. H . W . Arndt, Hamburg 1967, S. 13 f.) Wie sich aufgrund dieser Situation die Herrschaft des Willens etabliert, die die Ziele als Ziele beseitigt, die in der Einrichtung der Ziellosigkeit innerhalb der Welt eine der elementarsten Bedingungen eben ihrer Herrschaft hat, dazu lese man die „Einführung in das philosophische Denken", Frankfurt 1965, von K . - H . Volkmann-Sdiluck, und zwar besonders die Kapitel V : Technik, Wille und Weltanschauung (S. 76 ff.) und V I : Philosophie und Weltanschauung (S. 84 ff.) Eine glänzende Analyse der gesellschaftlichen Bekundung der undurdischauten Spannung von Lebenswelt und technisch-wissenschaftlicher Welt finden wir bei Jürgen Habermas in seinem Aufsatz „Technik und Wissenschaft als Ideologie", Frankfurt 1968, S. 48 ff.
5 7 Die Krise der Wissenschaften und der Zusammenbruch der Philosophie Husserl will deutlich machen, daß die Krise der Philosophie gleichzeitig die Krise der Wissenschaften verschärft. Die Neuzeit hebt mit dem Ideal des einheitlichen Progressus von Philosophie, Wissenschaft und Leben an. Indem Wissenschaft und Leben auseinanderfielen und die Einheit der Wissenschaften selbst scheiterte, geriet audi die Stellung der Philosophie ins Wanken, die doch das Fundament dieses Progressus bieten wollte und die Lösung der auftretenden Krise hätte bieten müssen. Stattdessen wurde die Philosophie immer mehr von den Wissenschaften verdrängt und in dem ihr verbliebenen Raum ließ sie sich obendrein noch überfremden von der der Wissenschaft zugrunde liegenden Objektivierung oder, wie Husserl auch sagt, Naturalisierung. Zwei Gründe sieht Husserl für den Zusammenbrudi der Philosophie: zunächst wuchs der Kontrast zwischen dem beständigen Mißlingen der Metaphysik und dem ungebrochenen, immer gewaltigeren Anschwellen der theoretischen und praktischen Erfolge der positiven Wissenschaften ins Ungeheure. (Vgl. K, S. 9) Weiterhin hat der Erfolg der Naturwissenschaften die Philosophie, die Geistes- und Sozialwissenschaften dazu geführt, denselben Weg wie die Naturwissenschaften einzuschlagen, und zwar sowohl hinsichtlich ihrer Grundlegung als auch ihrer Zielsetzung. „Der Cartesianische Dua-
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lismus fordert die Parallelisierung von mens und corpus und die Durchführung der in ihr implizierten Naturalisierung des psychischen Seins, somit auch die Parallelisierung der geforderten Methodik." (K, S. 224) „Res extensa" und „res cogitans", beide sind „res" und als solche methodisch zu behandeln. Die Weltauffassung, die auf dem Objektivismus beruht, nimmt die Gestalt einer dualistischen, und zwar psycho-physischen Weltauffassung an. „Dieselbe Kausalität, nur zweifach gespalten, umgreift die eine Welt, der Sinn rationaler Erklärung ist überall derselbe, aber doch so, daß alle Geisteserklärung, wenn sie einzig und damit universal philosophisch sein soll, ins Physische führt." (K, S. 341) Der Objektivist oder der Naturalist, wie Husserl ihn auch nennt, sieht nichts anderes als Natur, und zwar die physische Natur. Alles, was ist, ist entweder selbst physisch oder es ist vom Physischen abhängiges Veränderliches. Daran ändert sich nichts Wesentliches, wenn im Sinn des Positivismus die physische Natur sensualistisch in Empfindungskomplexe aufgelöst wird, in Farben, Töne, Drucke etc. oder wenn das sogenannte Psychische in ergänzende Komplexe der Empfindungen aufgelöst wird oder schließlich in Funktionen. Audi „die neuen reformierenden Psychologen, die da glauben, alle Schuld liege an dem lange vorherrschenden Vorurteil des Atomismus und eine neue Zeit käme mit der Ganzheitspsychologie" (K, S. 344), bleiben dem Objektivismus verhaftet. Wir haben das Paradox einer dualistischen Weltauffassung, die monistisch ist, d. h. einer Weltauffassung, in welcher Natur und Geist als Realitäten gleichartigen Sinnes zu gelten haben. So wird vollzogen eine Naturalisierung des Bewußtseins, eine Naturalisierung der Ideen und damit aller absoluten Ideale und Normen. (Vgl. Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft, Frankfurt/Main 1965, S. 14; wir zitieren PsW) Neben dem ersten mehr äußeren Motiv des Erfolgs der Naturwissenschaften liegt hier das der Philosophie immanente Motiv, das zu ihrem Zusammenbruch führen mußte. Husserl betrachtet die Philosophie seiner Zeit als eine zusammengebrochene Philosophie, die zu keiner Grundlegung mehr imstande ist, die in sich selbst keinen Halt mehr hat. Er sieht sie als Naturalismus, Historizismus und Weltanschauungsphilosophie, die alle drei in engem Zusammenhang stehen. Die Auffassung Husserls vom Naturalismus oder Objektivismus, der auf Grund des Erfolges der Naturwissenschaften immer weiter um sich gegriffen hat, haben wir kennengelernt. Skizzieren wir nun seine Auffassung des Historizismus und der Weltanschauungsphilosophie.
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Husserl sieht den Historizismus als eine sich selbst auflösende Philosophie, weil und insofern er das historische Gebilde als Tatsache, als absolute, d. h. letzte Tatsache setzt und es gerade dadurch relativiert. So führt auch der Historizismus zu haltlosem Skeptizismus, der keine echten Lösungen zu bieten hat. Wie der Naturwissenschaftler dazu neigt, alles als Natur anzusehen, so neigt der historizierende Geisteswissenschaftler dazu, alles als historisches Gebilde zu deuten, auch was nicht als solches betrachtet werden kann, und schließlich überhaupt den Ursprung des eigentlichen Sinngehalts des Historischen zu vergessen. „Als Folgeerscheinung der ,Entdeckung der Geschichte' und der Begründung immer neuer Geisteswissenschaften () der Historizismus erwachsen. Den herrschenden Auffassungsgewohnheiten entsprechend, neigt eben der Naturwissenschaftler dazu, alles als Natur, der Geisteswissenschaftler als Geist, als historisches Gebilde anzusehen und demgemäß, was so nicht angesehen werden kann, zu mißdeuten. (...) Der Historizismus nimmt seine Position in der Tatsachensphäre des empirischen Geisteslebens, und indem er es absolut setzt, ohne es gerade zu naturalisieren (zumal der spezifische Sinn von Natur dem historischen Denken fern liegt und es jedenfalls nicht allgemein bestimmend beeinflußt), erwächst ein Relativismus, der seine nahe Verwandtschaft mit dem naturalistischen Psychologismus hat, und der in analoge skeptische Schwierigkeiten verwickelt." (PsW., S. 13, S. 49) Wenn der Historizismus nicht nur Weltanschauungen, sondern auch die Wissenschaften als Kulturgestaltungen ansieht, deren Geistesgehalt von den gegebenen historischen Verhältnissen bestimmt ist; wenn das, was heute als bewiesene Theorie gilt, morgen als Nichts erkannt und die Gültigkeit als von den historischen Verhältnissen allein bestimmt betrachtet wird, dann sieht man leicht, „daß der Historizismus, konsequent durchgeführt, in den extremen skeptischen Subjektivismus übergeht." (PsW., S. 51) Der entscheidende Einwand, den Husserl gegen den Historizismus vorbringt, liegt darin, daß er das, wovon er spricht, voraussetzen muß. So kann er zwar die historische Bedingtheit und Bestimmtheit von Kulturerscheinungen aufzeigen, aber nichts über deren Gültigkeit aussagen. „Historische, empirische Geisteswissenschaft überhaupt, kann von sich aus gar nichts darüber ausmachen, nicht in positivem und nicht in negativem Sinn, ob zwischen Religion als Kulturgestaltung und gültiger Kunst, ob zwischen historischem und gültigem Recht, und schließlich audi zwi-
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sehen historischer und gültiger Philosophie zu unterscheiden sei; ob oder ob nicht zwischen dem Einen und Anderen, platonisch gesprochen, das Verhältnis bestehe der Idee und ihrer getrübten Erscheinungsform. ( . . . ) Der Mathematiker wird sich ja auch nicht an die Historie wenden, um Belehrung über die Wahrheit mathematischer Theorien zu gewinnen; es wird ihm nicht einfallen, die historische Entwicklung der mathematischen Vorstellungen und Urteile mit der Frage der Wahrheit in Beziehung zu bringen. Wie sollte also der Historiker über die Wahrheit der gegebenen philosophischen Systeme und erst recht über die Möglichkeit einer an sich gültigen philosophischen Wissenschaft überhaupt zu entscheiden haben?" (PsW., S. 52) Die Weltanschauungsphilosophie will uns in die Richtung der Weisheit, der Lebenskunst führen. Sie hat ihre Berechtigung, doch liegt in ihr eine Gefahr, die darin besteht, daß sie echte Philosophie verdrängt. Um uns die Lebensbedeutung der Weltanschauungsphilosophie klarzumachen, gebraucht Husserl den Vergleich zwischen Technik und Naturwissenschaft. „Die technischen Aufgaben wollen erledigt, das Haus, die Maschine soll gebaut sein; es kann nicht gewartet werden, bis die Naturwissenschaft über alles Einschlägige exakte Auskunft geben kann. Der Techniker als Praktiker entscheidet darum anders als der naturwissenschaftliche Theoretiker. Von diesem nimmt er die Lehre, aus dem Leben die ,Erfahrung'." (PsW., S. 64) Wenn wir schon für einzelne praktische Vorhaben nicht auf endgültige wissenschaftliche Erkenntnis warten können, um wieviel mehr gilt das für die gesamte Lebenspraxis. Im Leben müssen wir Stellung nehmen, Entscheidungen treffen, die Disharmonien, die wir vorfinden, in denen wir uns befinden, ausgleichen, sie irgendwie für uns verständlich machen. Dazu brauchen wir eine mehr oder weniger ausgebildete Welt- und Lebensanschauung. Aus dem Versuch, eine solche Weltanschauung theoretisch zu überhöhen und aus ihr ein Gebilde zu machen, das möglichst umfassend auf alle Fragen des Lebens oder wenigstens dessen Grundfragen antwortet, entstehen die Weltanschauungsphilosophien. „In dem Drange des Lebens, in der praktischen Notwendigkeit, Stellung zu nehmen konnte der Mensch nicht warten, bis — etwa in Jahrtausenden — Wissenschaft da sein würde. ( . . . ) Es ist sicher, daß wir nicht warten können. Wir müssen Stellung nehmen, wir müssen uns mühen, die Disharmonien in unserer Stellungnahme zur Wirklichkeit — zur Lebenswirklichkeit, die für uns Bedeutung hat, in der wir Bedeutung haben sollen —
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abzugleichen in einer vernünftigen, wenn auch unwissenschaftlichen ,Welt und Lebensanschauung'." (PsW., S. 63, S. 66) Aus der „bloßen" Weltanschauung erwächst die Weltanschauungsphilosophie als Versuch, die relativ vollkommenste Antwort auf die Rätsel des Lebens und der Welt zu geben und dabei so weit als möglich die theoretischen und praktischen Unstimmigkeiten des Lebens zur Auflösung zu bringen. (Vgl. PsW., S. 58 ff.) Die große Gefahr für die Philosophie unserer Zeit liegt darin, daß sie als „Weltanschauungsphilosophie", die als Überhöhung bloßer Weltanschauung individuell und zeitgebunden ist, die Idee einer wissenschaftlichen Philosophie als strenger Wissenschaft, die über die Aktualität hinaus gültig ist, verdrängt. Die Weltanschauung oder Weltanschauungsphilosophie hat ein endliches Ziel und ist letzten Endes unverbindlich: „Weltanschauung ist also eine im wesentlichen individuelle Leistung, eine Art persönlichen religiösen Glaubens, aber von dem traditionalen, dem der offenbarten Religion dadurch unterschieden, daß er keinen Anspruch auf eine unbedingte, für alle Menschen verbindliche, allen zu vermittelnde Wahrheit erhebt." (K, S. 509) Die wissenschaftliche Philosophie ist unendlich, sie ist nicht geschlossen, aber sie ist, in der Geschichte verwurzelt, zeitlos und verbindlich. (Vgl. PsW., S. 61) Weltanschauungsphilosophie und wissenschaftliche Philosophie sind zwei in gewisser Weise aufeinander bezogene aber nicht zu vermengende Ideen. Deswegen müssen ihre Aufgaben und Funktionen streng voneinander getrennt werden. Das betrifft auch die Art und Weise, wie beide gelehrt werden und ihren Einfluß ausüben. „Die Weltanschauungsphilosophie lehrt, wie eben Weisheit lehrt: Persönlichkeit wendet sich an Persönlichkeit. Lehrend darf sich daher im Stile solcher Philosophie an den weiten Kreis der Öffentlichkeit nur wenden, wer dazu berufen ist, durch eine besonders bedeutsame Eigenart und Eigenweisheit, oder auch als Diener hoher praktischer — religiöser, ethischer, juristischer u. a. Interessen." (PsW., S. 68 f.) Heute aber verdrängt die eine die andere. In diesen Rahmen gehört das berühmte und meist völlig mißverstandene Wort Husserls: „Philosophie als Wissenschaft, als ernstliche, strenge, ja apodiktisch strenge Wissenschaft — der Traum ist ausgeträumt."
(K, S. 508)
So glaubte selbst Merleau-Ponty, daß Husserl mit diesem Wort das Ideal der Philosophie als strenger Wissenschaft aufgegeben habe. (Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Signes, Paris 1960, S. 174) Wenn man von dem 3 Brand,
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obigen Zitat aus weiter liest, sieht man, wie Husserl die Weltanschauungsphilosophie der allerdings zusammengebrochenen Metaphysik gegenüberstellt und dann die gegenwärtige Lage kennzeichnet: „Ein mächtiger und ständig wachsender Strom, wie des religiösen Unglaubens, so einer der Wissenschaftlichkeit entsagenden Philosophie überflutet die europäische Menschheit." (K, S. 508) Gegen diese wachsende Flut unverbindlicher Weltanschauungsphilosophien will Husserl weiterhin die verbindliche Wissenschaftlichkeit der Philosophie aufrechterhalten. Wir haben mit Husserl gesehen, in welche Spannung die Moderne durch die Krise der Wissenschaften geraten ist und daß diese von der Philosophie nicht aufgehoben, sondern noch verstärkt wurde. Die Philosophie gab keine Handlungs-, keine Lebensorientierungen mehr, sondern wie die Wissenschaft verwandelte sie absolute Normen in sinnlose Tatsachen. „Die geistige Not unserer Zeit ist in der Tat unerträglich geworden. Wäre es doch nur die theoretische Unklarheit über den Sinn der in den Natur- und Geisteswissenschaften erforschten »Wirklichkeiten', was unsere Ruhe störte — inwiefern nämlich in ihnen Sein im letzten Sinne erkannt, was als solches .absolutes' Sein anzusehen und ob dergleichen überhaupt erkennbar sei. Es ist vielmehr die radikalste Lebensnot, an der wir leiden, eine Not, die an keinem Punkte unseres Lebens halt macht. Alles Leben ist Stellungnehmen, alles Stellungnehmen steht unter einem Sollen, einer Rechtsprechung über Gültigkeit oder Ungültigkeit, nach prätendierten Normen von absoluter Geltung. Solange diese Normen unangefochten, durch keine Skepsis bedroht und verspottet waren, gab es nur Eine Lebensfrage, wie ihnen praktisch am besten zu genügen sei. Wie aber jetzt, wo alle und jede Normen bestritten oder empirisch verfälscht und ihrer idealen Geltung beraubt werden? Naturalisten und Historizisten kämpfen um die Weltanschauung, und doch sind beide von verschiedenen Seiten am Werk, Ideen in Tatsachen umzudeuten und alle Wirklichkeit, alles Leben in ein unverständliches ideenloses Gemenge von Tatsachen zu verwandeln. Der Aberglaube der Tatsache ist ihnen allen gemein." (PsW, S. 65 f.) Diese Lage treibt zur Flucht in skeptisch relativierte, unverbindliche Weltanschauungsphilosophien, Ideologien und Ideologiekritiken, doch ist diese Flucht selbst nur Symptom und nicht Ausweg. Die Philosophie muß der Verantwortung eingedenk bleiben, die sie hinsichtlich der Menschheit hat. „Um der Zeit willen dürfen wir nicht Not um Nöte unseren Nachkommen als ein schließlich unausrottbares Übel verewigen. Die Not stammt hier von der Wissenschaft. Aber nur
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Wissenschaft kann die Not, die von Wissenschaft stammt, endgültig überwinden." (PsW, S. 66) Das heißt keineswegs, daß Philosophie nun eine Wissenschaft werden und gar die Methoden der Wissenschaft benutzen soll. In der gemeinsamen Wissenschaftlichkeit der Philosophie und der Wissenschaften liegt eine negative Gemeinsamkeit insofern beide Front machen gegen eine bloße Gefühlsbedürfnisse befriedigende Weltanschauung. Die Wissenschaftlichkeit der Philosophie ist eigener Art, sie hat sich selbst in aller Strenge zu begründen. Diese ist es, die notwendig ist, denn gegenüber dem aufgezeigten Obel gibt es „nur ein Heilmittel: wissenschaftliche Kritik und dazu eine rationale, von unten anhebende, in sicheren Fundamenten gründende und nach strengster Methode fortschreitende Wissenschaft: die philosophische Wissenschaft, für die wir hier eintreten." (PsW, S. 67)
§ 8 Die Philosophie heute und ihre Aufgabe Der Kampf Husserls gegen die Verdinglichung und die Operationalisierung überschneidet sich mit den Präokkupationen der Neo-Marxisten, wie Goldmann, Kolakowski, Havemann etc. Marx' Anliegen war die Aufhebung der Ent-Menschung, welche für ihn im wesentlichen Entfremdung war. Die Analyse von Marx sah die Entfremdung als gesellschaftlich bedingt und setzte voraus, daß ihre Aufhebung zu einer Rückkehr, zu einem konkreten, sinnvollen Leben, zu einer transparenten menschlichen Welt führen würde. Inzwischen ist der Entfremdungsbegriff mehr oder weniger irrelevant geworden, zumindest, was den gesellschaftlichen Ursprung der Entfremdung und ihre mögliche Aufhebung durch Umgestaltung der Gesellschaft betrifft. Es hat sich nämlich gezeigt, daß dort, wo gesellschaftliche Verhältnisse geändert worden sind, wo also „Entfremdung" aufgehoben ist, sich nichts an der Ent-Menschung geändert hat. In Rußland und später in den Volksdemokratien ist eine Gesellschaft geboren, „die proletarisch sein will, die die Produktionsmittel nationalisiert und so im ökonomischen Bereich das verwirklicht hat, was alle sozialistischen Theoretiker immer als erste, unerläßliche Voraussetzung für eine wirkliche menschliche Gesellschaft betrachtet haben." (Lucien Goldmann: Dialektische Untersuchungen, o. O., o. J., S. 117) So ist der Entfremdungsbegriff bei einer Reihe von Forschern durch den Begriff der Verdinglichung abgelöst worden, wobei letzterer nicht bei allen den gleichen Gehalt hat, wenn auch denselben thematischen Hori3»
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zont. Die Begriffe, mit denen heute die Lebenswelt in ihrer Verdinglichung von diesen Forschern über die Marxsche Analyse hinausgehend beschrieben wird, sind: Rationalisierung, Kalkül, Quantifizierung, Mechanisierung, Operationalisierung, Bürokratisierung, Spezialisierung usw. Es geht hier darum, die Ent-Menschung, gesehen als Verdinglichung, aufzuheben. Wir können an dieser Stelle diese wichtige und schwierige Problematik nicht behandeln, wollen aber andeuten, wo der Schnittpunkt mit der phänomenologischen Problematik liegt. Zum Teil wenden Denker, wie ζ. B. Adorno, sich gegen eine Philosophie des Ersten, die die ursprüngliche Vermitteltheit nicht anerkennt. „Als Begriff ist das Erste und Unmittelbare allemal vermittelt und darum nicht das Erste." (Th. W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Stuttgart 1956, S. 42) Damit hat Adorno gewiß recht; er mißversteht jedoch nicht nur die Philosophien, die er angreift, sondern unversehens betreibt er selbst eine Philosophie des Ersten und Unvermittelten, das Grundlage alles anderen ist, das alles andere vermittelt. Deutlich wird diese Auffassung ζ. B. in einem der jüngsten Aussprüche Adornos: „Das soziale System hat die Oberhand über die Gegebenheiten und die Verfahrensweisen der wissenschaftlichen Erkenntnis." (Th. W. Adorno: Marx est-il depasse? In: Diogene, No. 64, Paris 1968, S. 5) Weil es aber kein Erstes gibt, auch die Gesellschaft kein solches ist, ist es nicht verwunderlich, daß die Denker dieser Richtung die Aufgabe, die sie sich gestellt haben, nicht lösen können. Außer Adorno soll hier Marcuse als Paradigma genannt werden; die noch gleitende Zwischenstellung von Habermas, der einen großartigen Denkweg geht, kann hier nicht durchleuchtet werden. Bei vielen Denkern aber, insbesondere aus dem volksdemokratischen Bereich, wird die Gesellschaft nicht mehr als das Erste gesehen, darum ertönt von dort der Ruf nach Änderung der Seinsauffassung, man hat eingesehen, daß Seinsauffassung und Gesellschaft miteinander vermittelt sind. In diesen Gesellschaften, in denen die „Theorie" eine unmittelbare politische Rolle spielt, fordert man mit großer Dringlichkeit, um politisch weiterzukommen, eine Anthropologie als Grundlage der Gesellschaftsanalyse. Das heißt nichts anderes, als daß man eine Philosophie des Menschen in der Lebenswelt sucht. Das verdinglichende „Ideenkleid" finden wir heute wie zu Husserls Zeiten verdichtet in der wissenschaftlichen Form des Objektivismus, Positivismus und Historizismus. Der Objektivismus ist mehr denn je anzutreffen in der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften und den neuen Diszi-
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plinen, wie Systemlehre, Informationslehre. Wenn diese Lehren nicht noch mehr zu dem allgemeinen Verdinglichungsprozeß beitragen sollen, dann müssen sie in ihrem Ursprung aufgewiesen und mit der ihnen innewohnenden Beschränkung angewandt werden. Für den logischen Positivismus und für einen Teil der Sprachanalytik angelsächsischer Prägung gilt das, was Husserl von der objektivistischen formalisierenden Wissenschaft allgemein sagt, insbesondere aber: „Die vermeintlich völlig eigenständige Logik, welche die modernen Logistiker — sogar unter dem Titel einer wahrhaft wissenschaftlichen Philosophie — glauben ausbilden zu können, nämlich als die universale apriorische Fundamentalwissenschaft für alle objektiven Wissenschaften, ist nichts anderes als eine Naivität. Ihre Evidenz entbehrt der wissenschaftlichen Begründung aus dem universalen lebensweltlichen Apriori, das sie beständig, in Form wissenschaftlich nie universal formulierter, nie auf wesenswissenschaftliche Allgemeinheit gebrachter Selbstverständlichkeiten, immerzu voraussetzt." (K, S. 144) Welche Rolle der Historizismus auch heute spielt, erhellt ζ. B. aus einem einzigen Satz, den Müller-Lauter in einer Abhandlung über die „Konsequenzen des Historizismus in der Philosophie der Gegenwart" schreibt: „Die Geschichte kann heute nur noch zureichend zum philosophischen Thema gemacht werden, indem man den historischen Relativismus zunächst auf sich nimmt." (Wolfgang Müller-Lauter: Konsequenzen des Historismus in der Philosophie der Gegenwart. In: Zs. f. Theologie und Kirche, 59. Jg., H. 2,1962, S. 254) Schließlich gilt das, was Husserl über die Weltanschauungsphilosophie gesagt hat, für einen Spiritualismus ä la Teilhard de Chardin, für vieles, was mit dem Namen philosophischer Anthropologie belegt wird, und nicht zuletzt für das meiste, was uns heute unter dem Namen Ideologiekritik geboten wird. Dabei ist zu beachten, daß Weltanschauungsphilosophie und Historizismus sich oft miteinander vermischen. Hier ist zu bemerken, daß wir hinter gewissen „Kritiken der instrumentalen Vernunft", der Verdinglichung also, in Wirklichkeit eine Verdinglichung mit umgekehrten Vorzeichen finden, insofern sie nämlich die „Machbarkeit" der glücklichen Gesellschaft und des glücklichen Menschen voraussetzen. Das Schauspiel der Europäisierung der Menschheit zeigt die Ausdehnung und die Steigerung der Aktualität der Husserlschen Analyse. Hierzu sagt Blumenberg: „Die Aktualität der phänomenologischen Analyse der Technisierung hat sich durch ein sehr gegenwärtiges, von Husserl noch gar nicht beachtetes Problem unabsehbar gesteigert, das eine fast experi-
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mentelle Isolierung des ganzen Komplexes darstellt: die weltweite Transplantation europäischer Wissenschaft und Technik auf die einst exotischen Völker und Kulturwelten. Hier trifft die Technisierung nicht als Sprung aus dem mit der Lebenswelt in fundierendem Zusammenhang stehendem Kontinuum theoretischer Vollzüge auf, sondern als exogene Selbstverständlichkeit eingeschlossener Verständnis- und Verhaltenskodifikationen. Die Motivation, die man ,zivilisierte Ungeduld' genannt hat, ist dort nicht aus dem Bewußtsein der ,unendlichen Aufgabe' erwachsen, sondern induziert durch das, was man ,international demonstration effect' genannt hat. Die ungeheuren Beschleunigungen, die in dem ,Unterentwicklung' genannten Syndrom rein technisch erforderlich geworden sind, schaffen Spannungen, die gerade durch Husserls Idee des Geschichte nachholenden Sinnvollzugs verständlich werden." (Blumenberg: Lebenswelt u. Technik, S. 30) Friedrich Wagner prüft diese Auswirkungen auf die Entwicklungsländer noch eingehender (Friedrich Wagner: Die Einheit der Wissenschaft als Grundfrage unserer Zeit — das Weltproblem der „Zwei Kulturen", In: Universitas, 23. Jg., H . 8,1968, S. 827 ff.) In seiner kleinen Studie weist er auch die konkreten kulturellen Regreßerscheinungen auf, die in den industriellen Gesellschaften aus der operationalisierenden Seinsauffassung folgen; schließlich kritisiert er Versuche, wie die von C. P. Snow und A. Huxley, die eine Lösung der Krise in einem planetaren Erfolg der objektivistischen Wissenschaften finden wollen. „Solche Lösungsvorschläge, den Abgrund zwischen dem technisch-wissenschaftlichen Fortschrittsprozeß und der Menschenwelt durdi die Steigerung dieses Prozesses zu schließen, der doch der Grund jenes Abgrundes ist, erscheinen dem unbefangenen Blick so absurd wie die Heilung eines Organkrebses durch die Cancerisierung des ganzen Organs. Denn die Folgen der Emanzipierung des Szientifizierungs- und Technisierungsprozesses, das heißt der modernen Technik und Wissenschaft, von den anderen Lebensbereichen des Menschen sind schwerlich durch eine Therapie zu heilen, die dem gleichen Denken entspringt, wie die Krankheitsursache selbst." (Ebda., S. 834) Im Zusammenhang mit der Europäisierung oder „Modernisierung" der Welt und ihrer gleichzeitigen Vereinheitlichung ist es höchst bemerkenswert, daß diejenige Wissenschaft, die sich mit „fremden" Kulturen befaßt, die Anthropologie, unabhängig von der phänomenologischen Bewegung auf die Lebenswelt als auf einen Grundbegriff gestoßen ist. Die
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wachsende Einsicht in die Unterschiede zwischen Menschen aus anderen Ländern und anderen Zeiten läßt die Anthropologie erneut die Frage stellen: was ist der Mensch? Bei dem Versuch, auf diese Frage zu antworten, haben die Anthropologen festgestellt, daß die Kulturwelt das eigentlich Menschliche ist, und daß es eine allen Menschen gemeinsame Kulturwelt gibt. (Vgl. G. A. de Laguna: On Existence and the Human World, New Haven and London 1966, S. 218) „Eine Auffassung, die der Lebenswelt auffallend ähnlich ist, wurde von einer Gruppe amerikanischer Denker erreicht, die praktisch von Husserl nicht beeinflußt sind. Es ist die anthropologische Konzeption, die ich an anderer Stelle die k u l turelle Welt' genannt habe, und die Anthropologen als die Verhaltensumgebung des Menschen (behavioral environment of man) bezeichnet haben." (Ebda., S. 212) Laguna findet gerade die gegenseitig unbeeinflußte Konvergenz der Phänomenologie und der Anthropologie auf die Lebenswelt hin von außerordentlicher Bedeutung. (Vgl. ebda., S. 215) Die jüngste Anthropologie beschäftigt sich immer stärker mit den „Universalien der Kultur", also der in-varianten Struktur der Lebenswelt. (Vgl. ebda., S. 217) Auf die in-variante Lebenswelt-Struktur schließen die Anthropologen aus der Tatsache der möglichen Kommunikation. „Wenn also Menschen verschiedener Kulturen in der Lage sind, verständlich miteinander zu sprechen, dann müssen sie insofern in einer gemeinsamen Verhaltensumgebung, in einer universalen menschlichen Lebens-Welt leben." (Ebd., S. 221) Schließlich zeigt Laguna das Dilemma der Anthropologie auf, welches nur die phänomenologische Analyse der Lebenswelt lösen kann. Der Anthropologe findet sich in der Tat in einem Dilemma gefangen. „Einerseits ist er gezwungen, zu erkennen, daß er die fremde Welt nicht mit den Begriffen seiner eigenen Welt verstehen kann. Andererseits, wenn er in ihre Welt eintreten und sie von innen heraus sehen könnte, wie es die ihm Fremden tun, würde er sie nicht besser verstehen als diese. Der Anthropologe kann noch weniger als der Phänomenologe seine eigene Welt dadurch verstehen, daß er einfach in ihr lebt. Wenn er, um die Welt einer fremden Kultur zu verstehen, in gewissem Sinne fähig sein muß, diese von innen zu betrachten, dann ist es ebenso wahr, daß er, wenn er ein Verständnis seiner eigenen Lebenswelt ((deutsch im Text)) gewinnen will, diese von außen sehen muß, indem er sich daraus zurückzieht. Wie ist das möglich?" (Ebda., S. 222)
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Daß die Versöhnung, die Beilegung des „Krieges der Welten", ein fundamentales Anliegen der heutigen Zeit ist, unterstreicht audi MerleauPonty, einer der großen Nachfolger Husserls, der fünfzig Jahre, nachdem Husserl angefangen hat zu philosophieren, das Motiv von Husserls Philosophie wieder aufnimmt. Er betrachtet die Krise der Wissenschaften nicht als Krise einer Sekte, sondern „vielleicht als das Problem dieses Jahrhunderts: es stellte sich bereits im Jahre 1900 für alle, es stellt sich noch heute." (Maurice Merleau-Ponty: Les Sciences de l'homme et la phenomenologie, Paris 1952, S. 1) Mit folgender Aussage skizziert er die uns von Husserl gestellte Aufgabe: „Von Anfang an hat Husserl zutiefst empfunden, daß das Problem darin bestand, gleichzeitig wieder zu ermöglichen: die Philosophie, die Wissenschaften und die Wissenschaften vom Menschen; ihre Grundlagen und diejenigen der Rationalität neu zu legen. Er hat gesehen, daß diese verschiedenen Disziplinen in einen Zustand der permanenten Krise geraten waren und daß sie daraus nur hervorgehen würden, wenn durch eine neue Klärung ihrer Beziehungen und ihrer Erkenntnismethoden aufs neue jede von ihnen und die Koexistenz aller ermöglicht würde. Es handelt sich darum, ein Wissen zu erlangen, das zeigt, daß die Wissenschaft möglich ist, daß die Wissenschaft vom Menschen möglich ist und daß auch die Philosophie möglich ist. Insbesondere muß das Auseinanderstreben zwischen systematischer Philosophie und dem progressiven Wissen oder der Wissenschaft aufhören." (Ebda., S. 2) Die Krise, aus der Husserl philosophiert hat, besteht weiter, wenn sie sich nicht vertieft hat. Das Ziel, die Krise aufzulösen, bleibt Aufgabe jeder Philosophie, die sich nicht von vornherein selbst aufgegeben hat. Einem solchen Ziel läßt sich auf drei Arten näher kommen. Zunächst indem man zeigt, daß die Wissenschaften nicht autonom, nicht in sich gegründet sind, sondern auf die Lebenswelt verweisen. „Es muß völlig aufgeklärt, also zur letzten Evidenz gebracht werden, wie alle Evidenz objektiv-logischer Leistungen, in welcher die objektive Theorie (so die mathematische, die naturwissenschaftliche) nach Form und Inhalt begründet ist, ihre verborgenen Begründungsquellen in dem letztlich leistenden Leben hat, in welchem ständig die evidente Gegebenheit der Lebenswelt ihren vorwissenschaftlichen Seinssinn hat, gewonnen hat und neu gewinnt. Von der objektiv-logischen Evidenz der (mathematischen ,Einsicht', der naturwissenschaftlichen, der Positiv-wissenschaftlichen ,Einsicht1, so wie sie der forschend-begründete Mathematiker usw. im Vollzug hat) geht hier der Weg zurück zur Urevidenz, in der die Lebenswelt ständig vor-
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gegeben ist." (K, S. 131 f.) Diese Rückverweisung kann sowohl global und allgemein als auch in Einzelanalysen vollzogen werden, wie wir gesehen haben. Besonders wertvolle Analysen der letzten Art finden wir bei Merleau-Ponty und Habermas, die immer wieder zeigen, wie die positivwissenschaftlichen „Einsichten" unhaltbar sind, wenn sie nicht auf den Kulturevidenzen, die in der Lebenswelt vorgegeben sind, gründen. (Vgl. dazu Maurice Merleau-Ponty: La structure du comportement, Paris 1963 s ; Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften. In: Philos. Rundschau, Beih. 5, Febr. 1967) Bemerkenswert ist, daß von der jüngeren Generation deutscher Psychologen ähnliche Anstrengungen unternommen werden. So zeigt ζ. B. Klaus Holzkamp, daß das Ideenkleid, das die moderne Psychologie über die Welt wirft, dazu führt, daß man zu der uns gegebenen Realität auf verschiedene Weise eine zweite Art von Realität hinzufügt. In der modernen Psychologie lassen sich nach Holzkamp drei Arten solcher Realitätsverdoppelungen aufweisen, die sensualistische, die naiv-ontologisierende und die behavioristische. (Vgl. Klaus Holzkamp: Zur Problematik der Realitäts-Verdoppelung in der Psychologie. In: Psychol. Rundschau, Bd. X V I , 1965, bes. S. 210) Eine Auflösung der entstandenen Schwierigkeiten kann es nur geben, wenn man erstens den Tatbestand der Realitätsverdoppelung mit seinen faktisch vollzogenen, wenn auch implizierten philosophischen Vorentscheidungen einsieht, zweitens die Welt als letzten, unhintergehbaren, nicht rückführbaren Tatbestand erkennt und drittens, wenn durch die philosophische Besinnung gezeigt wird, wie aus und in der einen und einzigen Welt ein geschlossener und fundierter Bau der Psychologie herausgearbeitet werden kann. Die zweite Art, dem Ziel, das ist die Auflösung der Krise, näher zu kommen, ist, von der Lebenswelt ausgehend zu zeigen, wie einzelne Wissenschaften Sinngehalt und Form erreichen. Wissenschaft als Methode ist etwas Notwendiges. Wichtig ist jedoch, daß sie als Methode in ihrer Sinnstiftung gesehen wird, daß Methode nicht mit Sein verwechselt wird. Erst dann wird die Wissenschaft eigentlich zu sich selbst befreit. „An sich ist der Fortgang von sachhaltiger Mathematik zu ihrer formalen Logifizierung und ist die Verselbständigung der erweiterten formalen Logik als reiner Analysis oder Mannigfaltigkeitslehre etwas durchaus Rechtmäßiges, ja Notwendiges; desgleichen die Technisierung mit dem sich zeitweise ganz Verlieren in ein bloß technisches Denken. Das alles aber kann und muß vollbewußt verstandene und geübte Methode sein. Das ist aber nur, wenn dafür Sorge getragen ist, daß hierbei gefährliche Sinnverschiebun-
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gen vermieden bleiben, und zwar dadurch, daß die ursprüngliche Sinngebung der Methode, aus welcher sie den Sinn einer Leistung für die We/ierkenntnis hat, immerfort aktuell verfügbar bleibt; ja noch mehr, daß sie von aller unbefragten Traditionalität befreit wird, die schon in der ersten Erfindung der neuen Idee und Methode Momente der Unklarheit in den Sinn einströmen ließ." (K, S. 46) Auch in diesem Zusammenhang sind die oben erwähnten Analysen von Merleau-Ponty und Habermas wertvoll. Der dritte und wichtigste Schritt aber wäre eine Darstellung der Lebenswelt, die in den beiden anderen Arten des Vorgehens immer nur mehr oder weniger implizit bleibt, wobei nicht vergessen werden darf, daß in der Lebenswelt selbst sich Wissenschaft immer schon niedergeschlagen hat. Erst von hier aus ließe sich wirklich deutlich machen, worauf Wissenschaft aus ist und sein darf. Die Durchführung dieser Aufgabe bedeutet „die Schaffung einer eigenartigen neuen Wissenschaft. Es wäre gegenüber allen bisher entworfenen objektiven Wissenschaften, als Wissenschaften auf dem Boden der Welt, eine Wissenschaft von dem universalen Wie der Vorgegebenheit der Welt, also von dem, was ihr universales Bodensein für jedwede Objektivität ausmacht. Und es bedeutet, darin mitbeschlossen, die Schaffung einer Wissenschaft von den letzten Gründen, aus denen alle objektive Begründung ihre wahre Kraft, die aus ihrer letzten Sinngebung, schöpft." (K, S. 149) Wenn die Philosophie dabei die eigentliche Problematik, die dem Unbehagen unserer Zeit zugrunde liegt, aufzeigt, sind damit die Probleme noch nicht gelöst. Das muß eine Aufgabe der konkreten Praxis sein. Philosophie kann und darf sich nicht der Aufgabe entziehen, der Praxis den Weg zu weisen, denn sie ist kritische und damit begründende Reflexion über die Praxis. Mehr als das, die Philosophie der Lebenswelt stellt eine eigentümliche Synthese von Theorie und Praxis dar, sie ist „überhöhte Praxis" als Synthese der theoretischen Universalität und der universal interessierten Praxis, „einer neuartigen Praxis, der der universalen Kritik allen Lebens und aller Lebensziele, aller aus dem Leben der Menschheit schon erwachsenden Kulturgebilde und Kultursysteme, und damit auch einer Kritik der Menschheit selbst und der sie ausdrücklich und unausdrücklich leitenden Werte." (K, S. 329) Wenn die „konkrete Praxis" durch die „überhöhte Praxis" der Philosophie erfährt, daß die Gründe der Spannung des gegenwärtigen Zeitalters in der Seinsauffassung der technisch-modernen Welt selbst liegen,
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dann wird für die Praxis der Weg frei, sich selbst zu verändern. Des weiteren ist es für die Praxis von großer Relevanz, wenn die Philosophie den Weg aufdeckt, auf dem es möglich ist, wie Merleau-Ponty es forderte, wieder eigentlich zu philosophieren, Wissenschaft vom Menschen zu betreiben und Wissenschaft, in gegenseitiger Erhellung. Durch diese Aufklärung und Durchdringung werden sich die Wissenschaften selbst, insbesondere aber ihr Selbstverständnis, ändern. Da es aber im wesentlichen die Wissenschaften sind, durch die die moderne Welt gestaltet und interpretiert wird, wird ein anderes Selbstverständnis der Wissenschaften eine andere Gestaltung der Welt besorgen. Aufgabe der Praxis und auch der Wissenschaften und der aus ihnen entspringenden Techniken wird es sein, in das sinnentleerte, formalisierte Operationsfeld, das einen Pol der Spannung zwischen der technisch-wissenschaftlichen Welt und der Lebenswelt bildet, Sinn hineinzubringen, in der operationell-rationalistischen Welt den Raum einzuräumen, in dem der Mensch wieder leben kann. Hier zeichnet sich eine dritte Aufgabe der Philosophie ab; sie hat nicht nur im großen und ganzen zu zeigen, wo das eigentliche Problem liegt, sondern sie gibt auch der konkreten Praxis notwendige Hinweise und setzt ihr unüberschreitbare Grenzen, indem sie, wenn auch nur fragmentarisch, aufweist, was die Lebenswelt ist und was daher das Leben sein soll.
5 9 Die Lage aus der Sicht
Heideggers
Es erscheint uns von Bedeutung, daß die hier angedeutete konkrete Forderung nach der Versöhnung zwischen Wissenschaft und Welt sich auch bei Heidegger wiederfindet, und zwar besonders in seiner Abhandlung über „Wissenschaft und Besinnung". (Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954) Sie liegt dort implizit im Begriff des Unumgänglichen. Das Unumgängliche bedeutet zweierlei: es ist die Lebenswelt, insofern auch die höchste Formalisierung in ihrer Formalisierung auf sie angewiesen bleibt, und es ist die Lebenswelt als das, was nie von der Wissenschaft umgangen, erfaßt werden kann, vielmehr von dem über sie hingeworfenen „Ideenkleid" verdeckt wird oder werden kann. „Einmal ist die Natur nicht zu umgehen, insofern die Theorie nie am Anwesenden vorbeikommt, sondern auf es angewiesen bleibt (...) indessen west die Natur immer schon von sich her an. Die Vergegenständlichung ihrerseits bleibt auf die anwesende Natur angewiesen. Auch
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§ 9: Die Lage aus der Sicht Heideggers
dort, wo die Theorie aus Wesensgründen, wie in der modernen Atomphysik, notwendig unanschaulich wird, ist sie darauf angewiesen, daß sich die Atome für eine sinnliche Wahrnehmung herausstellen, mag dieses Sich-Zeigen der Elementarteilchen auch auf einem sehr indirekten und technisch vielfältig vermittelten Wege geschehen, (vgl. Wilsonkammer, Geigerzähler, Freiballonflüge zur Feststellung der Mesonen). (...) Sodann ist die Natur nicht zu umgehen, insofern die Gegenständigkeit als solche es verwehrt, daß das ihr entsprechende Vorstellen und Sicherstellen je die Wesensfülle der Natur umstellen könnte. Dies ist es, was Goethe bei seinem verunglückten Streit mit der Newtonschen Physik im Grunde vorschwebte. Goethe konnte noch nicht sehen, daß auch sein anschauendes Vorstellen der Natur sich im Medium der Gegenständigkeit, in der Subjekt-Objekt-Beziehung bewegt und darum grundsätzlich von der Physik nicht verschieden ist und metaphysisch das Selbe bleibt wie jene. Das wissenschaftliche Vorstellen kann seinerseits niemals entscheiden, ob die Natur durch ihre Gegenständigkeit sich nicht eher entzieht, als daß sie ihre verborgene Wesensfülle zum Erscheinen bringt. Die Wissenschaft vermag diese Frage nicht einmal zu fragen; denn als Theorie hat sie sich bereits auf das von der Gegenständigkeit eingegrenzte Gebiet festgelegt. (...) Wenn der Wissenschaft versagt bleibt, überhaupt auf das eigene Wesen wissenschaftlich einzugehen, dann vermögen es die Wissenschaften vollends nicht, auf das in ihrem Wesen waltende Unumgängliche zuzugehen. So zeigt sich etwas Erregendes. Das in den Wissenschaften jeweils Unumgängliche: die Natur, der Mensch, die Geschichte, die Sprache, ist als dieses Unumgängliche für die Wissenschaften und durch sie unzugänglich." (Ebda. S. 62 f., S. 66) Für die Wissenschaften und durch die Wissenschaften wird das Unumgängliche unumgänglich und zugleich unzugänglich. Erst wenn dieser Sachverhalt mit beachtet wird, wird das erfaßt, was das ganze Wesen der Wissenschaft durchwaltet. In der genannten Abhandlung begnügt sich Heidegger mit dem Hinweis auf diesen Sachverhalt und sagt, was er in sich selber sei — dies auszumachen, bedürfe eines neuen Fragens. Doch weise der Sachverhalt in eine Wegrichtung. „Eine Wegrichtung einschlagen, die eine Sache sdion von sich aus genommen hat, heißt in unserer Sprache Sinnan, Sinnen. Sich auf den Sinn einlassen, ist das Wesen der Besinnung. (...) Sie ist die Gelassenheit zum Fragwürdigen.
§ 1 0 : Das Problem der Geschichtlichkeit der Philosophie
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Durch so verstandene Besinnung gelangen wir eigens dorthin, wo wir, ohne es schon zu erfahren und zu durchschauen, uns seit langem aufhalten." (Ebda., S. 68) Die Besinnung bringt uns auf den Weg zu dem Ort unseres Aufenthaltes. Was ist, um mit Heidegger zu reden, das Fragwürdige dies ;s Fragens? Der Ort unseres Aufenthaltes, zu dem uns die Besinnung über das unzugängliche Unumgängliche, das in den Wissenschaften waltet, bringt, das ist die Welt, in der wir leben, in der wir uns seit langem aufhalten. Die Besinnung kann uns zurückführen zu diesem Ort, und wenn wir dort angelangt sind, können wir das, was die Wissenschaften leisten, gleichzeitig in den uns nun eröffneten Raum einräumen.
§ 10 Das Problem der Geschichtlichkeit der Philosophie Nun aber stellt sich eindringlich die Frage nach der Geschichtlichkeit der Philosophie. Es ist zunächst die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Aufgabe der Philosophie heute und der Philosophie überhaupt und damit auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Lebenswelt und den verschiedenen „historischen Welten". Ist Philosophie „philosophia perennis" oder ist sie ein geschichtlich gebundenes Zweckgebilde, das nur für die Gegenwart des jeweiligen Philosophen eine Bedeutung hat? Und wie steht es mit der Lebenswelt? Ist diese nicht geschichtlich bedingt, und ist sie nicht „kulturspezifisch" ? Husserl selbst hat diese doppelte Frage gesehen und beantwortet. Zur ersten Frage stellt Husserl eindeutig fest, daß Philosophie beides ist: „gegenwärtig" und „ewig", daß die Welt des Philosophen notwendig dessen gegenwärtige Welt mit ihren Problemen ist, daß aber seine lebendige Gegenwart weiter reicht als die Aktualität. „Der Philosoph, der in der gegenwärtigen Menschenwelt, in der Gegenwart seiner Nation und (mit) dieser selbst in dem gegenwärtigen Europa lebt, hat in dieser Gegenwart seine Aktualität des Wirkens — des Wirkens unmittelbar in sie hinein. Aber als Philosoph, als Denker ist für ihn philosophische Gegenwart der totale Inbegriff der philosophischen Koexistenz, die gesamte Philosophiegeschichte, wohlverstanden als die Geschichte der Philosophie als Philosophie und der Philosophen, der geschichtlich als Philosophen Motivierten. Der Philosoph, als solcher in seiner Lebensaufgabe tätig, von ihr aus durch seine Umwelt affiziert und entsprechend motiviert, ist vor allem
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und jedenfalls motiviert durch seine philosophisch wirksame Umwelt von Philosophen und ihre Gedanken bis zur fernsten Vergangenheit. Diese Umwelt,die bis zur Urstiftung der Philosophie und philosophischen Generativität zurückreicht, ist seine lebendige Gegenwart. In diesem Umkreis hat er seine Mitarbeiter, seine Partner, er verhandelt mit Aristoteles, mit Plato, mit Descartes, mit Kant usw. Nur daß die Verstorbenen nicht mehr in ihrer philosophischen Existenz von den Nachfahren umgebildet werden können, so wie diese von den Verstorbenen. Die Entwicklung der Zukunft ist Sache der Lebenden, ihre Fortbildung ist es, die Zukunft schafft. Aber die Zukunft wird durch eine ständige Aktivität, die den Charakter einer Wiederverlebendigung des Geistes der Verstorbenen hat, im Nachverstehen der Werke aus ihrem ursprünglichen Sinn, d. i. aus der Sinnbildung der vergangenen Denker — die vergangen sind als Menschen, aber nicht als gegenwärtig neu und immer neu philosophisch Wirkende". (K, S.489) Damit ist aber die zweite Frage noch nicht beantwortet, nämlich ob es nicht eine Naivität ist, Lebenswelt als universales Apriori, d. h. auch als allen historischen Welten zugrunde liegend herausstellen zu wollen. „Man wird einwenden: Welche Naivität, ein historisches Apriori, eine absolute überzeitliche Gültigkeit aufweisen zu wollen und vermeintlich auf gewiesen zu haben, nachdem wir so reichhaltige Zeugnisse für die Relativität alles Historischen, aller historisch gewordenen Weltapperzeptionen, bis zu denen der »primitiven* Stämme herab, gewonnen haben. Jedes Volk und Völkchen hat seine Welt, in der für dasselbe alles gut zusammenstimmt, ob mythisch-magisch oder europäisch-rational, und alles sich vollkommen erklären läßt. Jedes hat seine ,Logik' und danach, wenn diese in Sätzen expliziert würde, ,sein' Apriori." (K, S. 381 f.) Mit der Antwort auf diesen Einwand wird ebenfalls die Frage beantwortet, ob audi unsere gegenwärtige Lebenswelt nicht etwa nur kulturspezifisch bedingt sei, oder ob sie für alle Menschen der Gegenwart gilt. Wenn wir uns die Voraussetzungen überlegen, auf denen der Einwand beruht, dann entdecken wir, daß Lebenswelt Geschichte nicht aus-, sondern so einschließt, daß sie nicht selbst wieder von der Geschichtlichkeit verschlungen wird, sondern daß jede Lebenswelt ihren Horizont hat in der Allgeschichte. „Wir stehen im Horizont der Menschheit, der einen, in der wir selbst jetzt leben. Dieser Horizont ist uns ständig lebendig bewußt, und zwar als Zeithorizont impliziert in unserem jeweiligen Gegenwartshorizont." (K, Seite 378) Den Zeithorizont, die Geschichte gibt es, weil wir als Menschen selbst zeitlich, geschichtlich sind, alles menschliche
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Bewußtsein ist Zeitlichkeit, die in der „lebendigen Gegenwart" ihren Ursprung hat. Der historische Horizont ist impliziert in unserem jeweiligen Gegenwartshorizont, doch das an sich erste ist der Gegenwartshorizont. Alles Fragen erfolgt von diesem Horizont aus, als Fragen nach historischmotivierten Sinnstrukturen. Alle möglichen historischen Welten sind nur erfaßbar als Varianten der uns gegenwärtig geltenden Welt. Nur dadurch überhaupt können wir Sinn mit einer anderen Welt verbinden — ob einer historischen oder einer anderen gegenwärtigen Kultur — wenn für eine Kompossibilität mit unserer gegenwärtigen Welt gesorgt ist. (Vgl. K, S. 500) „Es ist uns aber audi klar geworden, daß jede Feststellung einer historischen Tatsache, die Anspruch auf unbedingte Objektivität erhebt, ebenfalls dieses invariante oder absolute Apriori voraussetzt. Nur (in der Enthüllung dieses Apriori) kann es eine über alle historischen Faktizitäten, alle historischen Umwelten, Völker, Zeiten, Menschheiten hinausreichende apriorische Wissenschaft geben, nur so eine Wissenschaft als ,aeterna Veritas' auftreten. Nur auf diesem Fundament basiert die gesicherte Vermöglichkeit, von einer zeitweise entleerten Evidenz einer Wissenschaft zu den Urevidenzen zurückzutragen." (K, S. 385) Gerade weil dies so ist, weil Geschichtlichkeit selbst zum Horizont der lebendigen Gegenwart gehört, weil Geschichte in ihren impliziten Sinnesleistungen nur von der Gegenwart aus als Varianten dieser verstanden werden kann, brauchen wir, um die Struktur der Lebenswelt aufzudecken, nicht in konkrete geschichtliche Rückbetrachtungen einzutreten. „Müssen wir also zurückgehen auf das, was ständig ,als' Welt im konkreten Leben gegeben ist und wie es das ist, wie dann logische Theorie, wissenschaftliche Lehre über die Welt selbst entspringt, sc. die ständig als vor und unter dem Logos stehende, als vortheoretische herauszuschauen ist, so brauchen wir doch nicht in eine geschichtliche Rückbetrachtung einzutreten. Aber auch wenn wir in die Geschichte zurückgingen, bis auf die ersten Anfänge der Wissenschaft, könnten wir nicht anders als durch Abbau der theoretischen Uberzeugungen, die wir wirklich haben, freilich als von der Tradition her gewonnene, die vortheoretische Umwelt kritisch gewinnen." (K, S. 498) Damit verschwindet die Verlegenheit, in die uns der Historizismus zu bringen versucht, wenn wir uns nämlich darauf besinnen, „daß doch
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diese Lebenswelt in allen ihren Relativitäten ihre allgemeine Struktur hat. Diese allgemeine Struktur, an die alles relativ Seiende gebunden ist, ist nicht selbst relativ. Wir können sie in ihrer Allgemeinheit beachten und mit entsprechender Vorsicht ein für allemal und für jedermann gleich zugänglich feststellen." (K, S. 142) Dabei müssen wir sehr sorgfältig unterstreichen, daß diese allgemeine Struktur eben Struktur ist, daß sie als in-variante Struktur auf ihre Varianten angewiesen ist, daß sie der Verweisungszusammenhang ist, der in allen Varianten sich bekundet und durch ihre In-Varianz selbst geschichtlich ist. Die Invarianten-Struktur ist auf jeweilige konkrete geschichtliche Gegebenheit angewiesen, ohne die sie selbst als Struktur keinen Sinn hat. Reine Struktur gibt es ebensowenig wie reine Form. „Die Welt des Lebens, die alle praktischen Gebilde (sogar die der objektiven Wissenschaften als Kulturtatsachen, bei Enthaltung von der Teilnahme an ihren Interessen) ohne weiteres in sich aufnimmt, ist freilich in stetem Wandel der Relativitäten". (K, S. 176) Das Apriori der Lebenswelt, wenn es thematisiert wird, ist selbst ein Zweckgebilde, das in der konkreten Lebenswelt gründet. Dieses Zweckgebilde entsteht selbst aus Idealisierung und gerade dadurch wird es als Begriffenes nie erschöpft. Wir finden das Apriori der Lebenswelt im „Rückgang zur Naivität des Lebens aber in einer über sie sich erhebenden Reflexion." (K, S. 60) Diese Reflexion bezieht sich auf die „theoretische LJnerkennbarkeit ihres Grundes und, das Nicht-vergegenständlichen und Nicht-idealisieren können des tiefstliegenden lebensweltlichen Apriori als den Stil der Wandlungsstruktur des Welthorizontes in seiner unbestimmten Offenheit". (Landgrebe: Methodenproblem..., S. 165 f.) Damit stellt sich umso deutlicher die Frage: was ist mit der Erkenntnis und der Analyse der Spannung von Wissenschaft und Leben, moderner Gesellschaft und Lebenswelt, echter Philosophie und Wissenschaft gewonnen? Mit der vollzogenen Analyse erreichen wir die Möglichkeit einer Entspannung und Versöhnung. „Der Auseinanderfall von Wissenschaft und Leben ist (...) auf seinen Ursprung, die Spannung von Lebenswelt und technischer Welt (Gesellschaft) zurückgeführt. Die objektiven Wissenschaften und das von ihnen beherrschte Universum, die technische Welt, gewinnen nur dann ihre Lebensbedeutsamkeit, wenn sie mit der Lebenswelt (wie auch diese mit ihnen) zur Versöhnung kommen." (Lothar Eley: Die Krise des Apriori in der transzendentalen Phänomenologie Edmund Husserls, Den Haag 1962, S. 105)
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Die Aufgabe, die Lebenswelt zu erhellen und das Verhältnis zwischen der Lebenswelt und der Wissenschaft zu klären und beide miteinander zu versöhnen, bringt uns vor schwierige Probleme. Wie wir die Lebenswelt zu einem unabhängigen und gar eigenständigen Thema der Philosophie machen sollen, wie wir von ihr strenge wissenschaftliche Aussagen machen sollen, das wissen wir noch nicht: „Wir sind hier absolut Anfänger." (K, S. 136) Indem wir die Erhellung der Lebenswelt als die eigentliche Aufgabe der Philosophie erkennen, verschwindet kein Rätsel, ja die eigentliche Rätselhaftigkeit beginnt erst damit, daß die Aufgabe gesehen wird, die Rätselhaftigkeit, die der Ursprung allen echten Philosophierens ist. „Wir stellen Fragen, deren klärende Antworten keineswegs auf der Hand liegen. Kontrastierung und unlösliche Einigung ziehen uns in ein Nachdenken hinein, das uns in immer peinlichere Schwierigkeiten verwickelt. Die paradoxen Aufeinanderbezogenheiten von .objektiv wahrer' und ,Lebenswelt' machen die Seinsweise beider rätselhaft. Also wahre Welt in jedem Sinne, darunter auch unser eigenes Sein, wird nach dem Sinn dieses Seins zum Rätsel. In den Versuchen zur Klarheit zu kommen, werden wir angesichts der auftauchenden Paradoxien mit einem Male der Bodenlosigkeit unseres ganzen bisherigen Philosophierens inne. Wie können wir jetzt wirklich zu Philosophen werden? Der Kraft dieser Motivation können wir uns nicht entziehen, es ist uns unmöglich, hier auszuweichen, durch eine von Kant oder Hegel, von Aristoteles und Thomas sich nährenden Betrieb mit Aporien und Argumentationen." (K, S. 134)
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Das formale und das materiale oder konkrete
Apriori
Was hier als Ziel der Phänomenologie Husserls herausgearbeitet ist, war nicht von Anfang an in dieser Deutlichkeit in seinen Arbeiten thematisch, wohl aber war es in ihnen wirksam. Nun heißt es, mit dieser Zielvorstellung vor Augen wesentliche Einsichten und Irrwege der großen Phänomenologen nachzuzeichnen. Der Rückgang zum Ursprünglichen, zu dem, was allem zugrunde liegt, letzten Endes zur Lebenswelt, bekundet sich bereits in der einstmals berühmten und heute schon fast wieder vergessenen Losung: Zu den Sachen selbst. Man wird sogleich fragen: Was ist denn an dieser Losung 4 Brand, Lebenswelt
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§ 1 1 : Formales und konkretes Apriori
spezifisch phänomenologisch? Ist es nicht das Ziel eines jeden wissenschaftliche Ansprüche stellenden Denkens, zu den Sachen selbst vorzustoßen? Wenn wir den phänomenologischen Sinn dieser Parole deuten, lassen sich dabei zwei wesentliche Merkmale dieser philosophischen Richtung erkennen. „Zu den Sachen selbst" heißt, die Entscheidung darüber, was eine Sache ist, darf keine Vorentscheidung sein, sie wird in der Erfahrung der Sache selbst getroffen und nicht von etwas anderem. Als erstes Kennzeichen haben wir also: die Phänomenologie will eine Philosophie sein, die auf Erfahrung beruht und in der Erfahrung bleibt, im Gegenzug zu Philosophien, in denen nur von Formen und Funktionen der Erkenntnis, von deren Bedingungen, von nicht erfahrbaren Erkenntnissen oder Seinsprinzipien die Rede ist. Auf welcher grundlegenden Einsicht beruht eine solche Philosophie? Sie hat ihre Wurzel in der unumstößlichen, alles umfassenden Gewißheit, auf deren Grund und Boden wir uns immer und ständig bewegen, audi ohne sie je thematisch machen zu müssen, die wir gerade wegen ihrer Einfachheit und Selbstverständlichkeit meistens vergessen. Diese Gewißheit hat zunächst, wenn wir sie in einer Abstraktion halten, die noch nichts weiter von den „Sachen" präjudizieren will, die Form: „rätselhafte Vorgängigkeit der allgemeinen Vorbekanntheit des Seienden". (Eugen Fink: Das Problem der Phänomenologie. In: Studien zur Phänomenologie, Den Haag 1966, S. 190) Diese vage und allgemeine Vorbekanntheit ist die uneinholbare Voraussetzung von allem und jedem, ohne sie gäbe es keine Welt, in der wir miteinander reden, arbeiten, kommunizieren und leiden könnten. Dabei haben wir alle genannten Termini zu beachten: die Vorbekanntheit des Seienden, die Rätselhaftigkeit, die auch darin liegt, daß die Vorbekanntheit allem vorausgeht, und damit die Rätselhaftigkeit der Vorbekanntheit selbst. Deren Rätselhaftigkeit ist die Möglichkeit allen Fragens, des natürlichen und dichterisdien, des wissenschaftlichen und des philosophischen. Ohne diese Rätselhaftigkeit gäbe es kein Vorstoßen-Wollen zu den Sachen selbst. Ohne sie gäbe es nur eine Fraglosigkeit, die gar nicht vorstellbar ist, weil sie ein Zusammenfallen des Seins mit sich selbst bedeuten müßte, das keine Distanz, kein Bewußtsein zuläßt. In diese Rätselhaftigkeit gilt es einzudringen, die Vorbekanntheit gilt es zu immer größerer Bestimmtheit, zu immer größerer Nähe zu bringen. Damit finden wir ein zweites Kennzeichen der Phänomenologie: in immer größere Seins-Nähe dringend, bleibt die Philosophie als Phänomenologie Annäherung, sie löst die Rätselhaftigkeit nie ganz auf.
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Wenn die Phänomenologie auf die eben angedeutete Art sich von anderen Philosophien unterscheidet, unterscheidet sie sich dann nicht auch durch das Apriori, welches die Philosophie ja eigentlich immer sucht? Was alle Erfahrung von vornherein bestimmt, nennen wir das Apriori. Mit der Qualifizierung des Begriffes des Apriori läßt sich in der T a t die Eigenart der Phänomenologie wie mit einem Schlag herausstellen. D a s Apriori, mit dem die Philosophie es gemeinhin zu tun hat, ist ein formales, das heißt, es ist ein solches, das nicht selbst erfahren ist, sondern das als nicht-gegebene „ F o r m " der Erfahrung angesehen wird, Form, die von der Erfahrung selbst gefordert wird. Im Gegensatz hierzu betrachtet die Phänomenologie des Apriori als ein materiales, konkretes. Das soll nichts anderes heißen, als daß das Apriori selbst gegeben ist, daß es selbst erfahren ist als Erfahrung sui generis, die alle Einzelerfahrungen umfaßt. U m deutlich zu machen, was hier gemeint ist, soll der Apriorismus der Phänomenologie gegen den formalen Apriorismus abgesetzt werden. Für diesen ist das Apriori mindestens durch drei wesentliche Punkte gekennzeichnet: 1. das Apriori sind die Bedingungen der Erfahrung, die selbst nicht in der Erfahrung gegeben sind, 2. das Apriori ist dem Bewußtsein immanent, 3. alle Gewißheit gründet in Notwendigkeit und diese wiederum im Apriori. Die Phänomenologie lehnt die hier angedeutete Auffassung ab. Für die Phänomenologen ist die Erfahrung als solche sinnvoll, sinngebend und einheitlich. Das Gegebene als ein „Chaos von Empfindungen zu betrachten, das erst mittels „synthetischer Funktionen" und „ K r ä f t e geformt" werden müßte, bezeichnet Scheler als eine „mythologische Annahme". (Vgl. M a x Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Bern 1966 5 , S. 73) Die Phänomenologie darf nicht von diesem Mythos, von diesem „Begriff" von Erfahrung ausgehen, sondern nur von der Erfahrung selbst. Gerade aber die Empfindungen, aus denen das Gegebene zusammengesetzt sein müßte, lassen sich nicht zur Selbstgegebenheit, zur Erfahrung bringen. D a s Gegebene, das nur Ansatzpunkt für mögliches Denken wäre, ist einfach nicht auszuweisen. Auch ist es widerspruchsvoll, das Gegebene als schon unter der Herrschaft von Denkgesetzen stehend anzusehen, wenn diese erst gewonnen werden sollen. Damit wird nach Scheler der Grundirrtum Kants deutlich; die Verwechslung des Gegebenen mit dem bloß sinnlichen Gehalt. (Vgl. M a x Scheler: Phänomenologie und 4'
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Erkenntnis. In: Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 1, Bern 1957 2 , S. 383 f., S. 433) Nach Merleau-Ponty kann die Unterscheidung zwischen einer Form a priori und einem als sinnliche Mannigfaltigkeit aufgefaßten empirischen Gehalt gewisse Strukturen der Erfahrung nicht rechtfertigen, die unmöglich auf die Organisation von sinnlichen Empfindungen zurückzuführen sind. Das sind z.B. das Bewußtsein von Anderen und das Bewußtsein des Wortes als Wort, das Bewußtsein von Sprache. Man muß also materiales Apriori akzeptieren und auf ein Subjekt verzichten, das aus reiner Organisationsfunktion bestände. (Vgl. Maurice Merleau-Ponty: SdC, S. 232; ders.: Phänomenologie de la perception, Paris 1954, S. 404; wir zitieren: PP) Mikel Dufrenne seinerseits verschärft und verallgemeinert diese Kritik noch. „Wie kann das Apriori das Aposteriori formen? Wie kann der Begriff die Anschauung des Verstandes ordnen, der N a t u r sein Gesetz aufdrücken? Kann man die Tätigkeit des Gemüts beschreiben, ohne in eine Art Mythologie von intellektuellen Operationen und Synthesen zu verfallen oder aber ohne die Endlichkeit zu leugnen, ohne aus dem Geist einen universalen Naturans zu machen, indem man der Subjektivität die Privilegien erteilt, die Leibniz Gott reserviert hatte?" (Mikel Dufrenne: La notion d'Apriori, Paris 1959, S. 37) Das Apriori ist f ü r die Phänomenologen nicht dem Bewußtsein immanent, vielmehr liegt es in der Erfahrung selbst. Dabei ist zu betonen, daß es für die Phänomenologen kein schroffes Gegenüber von Bewußtsein und Welt gibt. Das Bewußtsein ist Bewußtsein-von, das Ich ist In-derWelt-sein, welterfahrendes Leben. Unterstreichen wir, daß das Ich sich in der Welt vorgegeben findet, daß das „Denken" die Welt erfaßt, wobei die „Formen" selbst gegeben sind. Wenn das materiale Apriori explizit gemacht, thematisiert wird, dann wird es auch auf eine gewisse Weise formalisiert, es wird zur Form. Jedoch: „Das Apriori, selbst wenn es eine Form ist, dann ist es eine der Welt und nicht des Denkens; es ist keine Regel des Denkens, sondern für das Denken, denn es ist diesem von der Welt vorgeschrieben". (Ebda., S. 75) Das Apriori liegt immer in einem materialen Gehalt, der nicht logisch gerechtfertigt werden kann, vielmehr erhält alle Logik erst von diesem seine Rechtfertigung. Das hat eine wichtige Konsequenz: „Das Apriori kann nicht der N o r m des Urteils unterworfen werden oder selbst nach den
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Kennzeichen des Urteils beurteilt werden, das es expliziert, denn es ist die Wahrheit des Urteils." (Ebda., S. 87) Schließlich kritisieren die Phänomenologen die formal-apriorische Auffassung der Notwendigkeit. In dieser Auffassung ist die Notwendigkeit nicht einsichtig, ja sie darf es nicht sein, denn Notwendigkeit kann nie „erfahren" werden. Was heißt aber dann noch Notwendigkeit? Husserl nimmt hierzu Stellung. „(...) angenommen, die synthetischen Urteile a priori seien das Rätsel. Wir urteilen unabhängig von der Erfahrung, wir folgen dem Zug der Notwendigkeit und Allgemeinheit, die doch wohl etwas zum Habitus dieser Urteile Gehöriges ist, wo immer wir sie einsichtig fällen. Die Urteile wollen ihrem Sinn nach objektiv gelten. Wie können sie das? Die hier eigentlich vorliegende Frage ist nun doch die: Wie ist es zu verstehen, daß ein eigentümlicher Charakter der Notwendigkeit Urteilen von einem gesetzlichen Inhalt wirkliche Geltung verleihen soll, und zwar natürlich Geltung in dem Sinn, den diese Urteile haben, also objektive Geltung —? Ist das nun eine Antwort: es seien diese Gesetze zugehörig zu den formenden Funktionen —?" (Edmund Husserl: Erste Philosophie, I, Hsg. R. Boehm, Husserliana VII, Den Haag 1956, S. 369; wir zitieren: E. Ph., I) Husserl fährt dann fort und zeigt: Wenn ich überhaupt in Verlegenheit bin, wie es zu verstehen ist, daß es Urteile mit dem Charakter der Notwendigkeit und Allgemeinheit gibt, dann bleibt diese Verlegenheit auch, wenn ich die Notwendigkeit in eine andere Sphäre abschiebe. Ich kann dann audi nicht verstehen, warum Notwendigkeit als transzendentale Funktion Notwendigkeit ist. Der zwingende Charakter der formal-apriorisdien Notwendigkeit ist damit von Husserl als uneinsichtig erwiesen, er ist blind, unverständlich. Scheler seinerseits kritisiert diese Auffassung, indem er die Notwendigkeit in und auf die Erfahrung selbst zurückführt. Die Einsicht kann gar nicht auf eine Notwendigkeit zurückgeführt werden, vielmehr beruht die Erkenntnis der Notwendigkeit auf Einsicht. Notwendigkeit ist nach Scheler „ein negativer Begriff (...), insofern ,dasjenige notwendig ist, dessen Gegenteil unmöglich ist' ". (Scheler: Der Formalismus..., S. 95) Jedes Erkennen oder Erfassen einer Notwendigkeit als der Nicht-Möglichkeit des Gegenteils von etwas beruht auf der positiven Einsicht in das So-Sein dieses Etwas. Das konkrete Apriori ist Sinngegebenheit. Sinn ist letzte, originäre Erfahrung. Die letzte Erfahrung ist diejenige, auf die andere Erfahrung zurückweist und zurückgeführt werden kann, und dabei ist sie selbst eine solche, die nicht wieder auf anderes verweist und in ihrer Letztlichkeit
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nicht mehr auf anderes bezogen werden kann. Damit ist sie auch gleichzeitig originär, das heißt Ursprung gebend. Die Sinngegebenheit zeigt sich darin, daß man das sinnfällig Gegebene nicht durch ein anderes „erfahren" kann, sondern nur durch sich selbst. „Es sagt sich selbst", wie "Wittgenstein es ausdrücken würde. Daran ändert nichts, daß das so Letztgegebene auch über sich hinausweist. Dieses Über-sich-hinaus-Weisen gehört selbst zu seiner Letztgegebenheit. Ich kann zum Beispiel eine Sache nur erfassen, weil sie sich von anderen unterscheidet. Die Begriffe Verifikation und Falsifikation, wie sie in der modernen Wissenschaftslogik, insbesondere von Popper, gebraucht werden, erlauben uns, die Letztgegebenheit der sinnhaften Erfahrung deutlich von anderen Auffassungen abzugrenzen, ohne daß damit allerdings ebenso deutlich würde, wie wir die Sinnhaftigkeit, in der wir uns immer schon halten, mit aller gebotenen Strenge zur Ausweisung bringen können. Das Problem wird allererst gestellt. Das formale Apriori kann weder verifiziert noch falsifiziert werden; seine „Übereinstimmung" mit der Erfahrung, mit der Wirklichkeit, die es doch fundieren soll, ist eine äußerliche und postulierte. Das konkrete Apriori, die Erfahrung, die als Grundstruktur durch das alltägliche Erfahren hindurchscheint, ist als solches verifiziert, und zwar indem sie als Grunderfahrung der alltäglichen Erfahrung einsichtig — und nicht äußerlich — zugrunde liegt. Wesentlich ist jedoch — bereits hier taucht das Problem einer neuartigen Beziehung zwischen Apriori und Aposteriori auf —, daß sie falsifiziert werden kann, und das heißt, daß sie durch eine andere Erfahrung und nur durch eine andere Erfahrung ersetzt werden kann. Dies hat nichts mit der positivistisch verstandenen Falsifizierung zu tun. Diese betrifft erklärende Hypothesen oder Theorien, die formale Regeln für Vorkommnisse in und aus der Erfahrung aufstellen. Die erklärende Hypothese oder Theorie ist selbst keine Erfahrung und will es auch nicht sein. Aus diesem Grund kann sie auch nicht verifiziert, sondern nur falsifiziert werden. Hinter das Sehen des Sinngegebenen kann ich nicht zurück. Immer wieder sind wir versucht, das Letztgegebene durch vorletzte Bezugsrahmen zu „erklären", die unsere Denkgewohnheiten prägen, ohne daß wir sie hinterfragen. Immer wieder wollen wir das Verstehen noch einmal verstehen, den Sinn des Sinnes noch einmal erfassen. Auch Sartre widersteht dieser Versuchung nicht, wenn er schreibt: „Unter Bedeutung müssen wir eine gewisse konventionelle Bezeichnung verstehen, die aus einem gegenwärtigen Objekt das Substitut für ein abwesendes Objekt macht; unter
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Sinn verstehe ich die Teilnahme einer gegenwärtigen Wirklichkeit, in ihrem Sein, am Sein anderer Wirklichkeiten, gegenwärtiger oder abwesender, sichtbarer oder unsichtbarer, und von einen zum andern gehend (de proche en proche), am Universum." (Jean-Paul Sartre: Saint Genet, Paris 1952, S. 283; wir zitieren: SG) Freilich, was Sinn hat und wann Sinn gegeben ist, das ist hier nodi nicht gesagt, sondern wird gerade zum Problem gemacht. Doch schon jetzt können wir sagen, daß aufgrund der vorgängigen Vorbekanntheit alles Seienden eine Sinneinheit durch alles Sinngegebene hindurchgeht, die in ständig näherbringender Selbstgebung zu enthüllen sein wird. So will also die Phänomenologie auf die Wirklichkeit zurückgehen, die wir immer schon mit einem sie durchtränkenden und umfassenden, globalen Sinn erfahren, der von der Wirklichkeit nicht zu scheiden ist, der ihr untrennbar innewohnt. Alle Thematisierung, und das kann auch heißen alle Formalisierung, ist sekundäre Formalisierung und setzt die ursprüngliche sinnvolle Erfahrung voraus. Die Gesetze der Thematisierung und Formalisierung müssen aus dieser Erfahrung selbst genommen werden und können dieser nicht von vornherein von außen auferlegt werden. „Die phänomenologische Methode zeigt die Vernunft nicht nur als den Inbegriff der Bedingungen der Möglichkeit, ein durch die Sinne gegebenes, in sich sinnloses Material denkend bestimmen zu können, sondern als diejenige, die zuvor schon unmittelbare Erfahrung und Angewiesensein auf ein in ihr unverfügbar gegebenes Wahres ermöglicht. Sie ist im tiefsten Grunde nicht das Vermögen des Entwerfens und Beherrschens, sondern das Vermögen des Vernehmens." (Ludwig Landgrebe: Die Bedeutung der Phänomenologie Husserls für die Selbstbesinnung der Gegenwart. In: Husserl und das Denken der Neuzeit, Den Haag, 1959 S. 221)
2. Kapitel: Husserl § 12 Die erste Bekundung des konkreten in der Wesenschau
Apriori
Die Entdeckung des materialen oder konkreten Apriori ist in der Geschichte der Philosophie etwas Neues. So ist es ganz natürlich, daß sie sich nur langsam entfaltet, und zwar nicht ohne Selbstverdeckungen und Widersprüchlichkeiten. Materiales Apriori heißt Sinn-Gegebenheit, der Sinn ist gegeben, wir können ihn erschauen. Die Einsicht in die Anschaulichkeit des Sinnes des von mir Erfahrenen findet einen ersten methodischen Niederschlag in der sogenannten „Wesenschau". In der anschaulichen Gegebenheit von Sinn liegen beschlossen die Allgemeinheit des Sinnes und das Gegebensein dieser Allgemeinheit selbst. Wenn ich etwas erfasse in seinem Sinn und nun in diesen Sinn selbst anschauend eindringe, dann erfasse ich einzelnes als solches, das mit vielen anderen denselben Sinn teilt. Der Sinn dieser vielen, den sie alle teilen, ist das Wesen. Das Wesen weist sich aus als den allgemeinen Seinsstil stiftend für die unter seiner Wesensallgemeinheit stehenden individuellen Seienden. Das Wesen ist nicht nur mir zugänglich, es ist für alle Gegebenes. Das Wesen hat also eine doppelt unterscheidbare Allgemeinheit: die Allgemeinheit der vielen Seienden, die es in seinem Sinn versammelt, und die Allgemeinheit der Geltung für alle. Diese doppelte Allgemeinheit ist gegeben, sie ist „Gegenstand" einer Anschauung. Eine der wichtigsten Entdeckungen Husserls war, daß uns nicht nur individuelle Gegenstände, nicht nur sichtbares und hörbares Reales anschaulich gegeben sind, sondern daß auch „ideale" Gegenständlichkeiten anschaulich gegeben sind, wie Zahlen, Sachverhalte usw. Das Wesen ist apriori, eben weil ich es als der Einzelerfahrung zugrundeliegend erfasse. Erfahre ich das Wesen, so erfahre ich die Korrelation des Individuellen zu seinem Wesen. Diese Gegebenheit von Sinn soll systematisch erfaßt werden mit der Methode der Wesenschau. Die Wesenschau vollzieht sich in drei miteinander vermittelten Stadien.
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Der Unterschied der ersten beiden Stadien findet sidi zwar bei Husserl, wird aber nicht ausdrücklich von ihm herausgestellt. Wir wollen ihn gleichwohl deswegen deutlich artikulieren, weil Schwierigkeiten und Widersprüchlichkeiten erst mit dem zweiten und dritten Stadium auftreten. Das erste Stadium besteht darin, daß ein individueller Gegenstand überhaupt erfaßt wird. Denn geschieht das, dann wird der Gegenstand schon in seinem Wesen erfaßt, in seinem Sinn. „Ein individueller Gegenstand ist nicht bloß überhaupt ein individueller, ein Dies-da, er hat als ,in sich selbst' so und so beschaffener seine Eigenart, seinen Bestand an wesentlichen Prädikabilien." (Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, l.Buch, Husserliana Bd. III, Hrsg. W. Biemel, Den Haag 1950, S. 12 f.; wir zitieren: Ideen I) Damit ist zunächst nur gesagt, daß idi jeden Gegenstand in seinem Was erfahre, als gegeben mit einem ihm innewohnenden Sinn. Einen Gegenstand ohne Sinn gibt es überhaupt nicht. Doch der Sinn, das Was des Dies-da, kann völlig unabgehoben bleiben, in der Erfassung des Dies-da ist es nicht thematisiert. Wenn wir auch schon im ersten Stadium das Was als dem Gegenstand „innewohnend" erfassen, so ist doch noch nichts darüber gesagt, was dieses Was selbst ist, wie ihm nachgegangen werden kann. Im zweiten Stadium vollzieht sich die Erfassung des Was. Das zunächst unthematisch gegebene Was wird zum ausdrücklichen Thema des Erfassens gemacht, und zwar so, daß es, wie Husserl sagt, in Idee gesetzt wird. „Zunächst bezeichnet ,Wesen' das im selbsteigenen Sein eines Individuums als sein Was Vorfindliche. Jedes solche Was kann aber ,in Idee gesetzt' werden. Erfahrende oder individuelle Anschauung kann in Wesenschauung (Ideation) umgewandelt werden." (Ideen I, S. 13) Der erste Schritt wird ständig und selbstverständlich vollzogen. Darum auch wird er nicht immer als erster gesehen, so daß Husserl und viele Phänomenologen die Wesenschau mit dem zweiten Schritt, nämlich der Ideation, beginnen lassen. Mit der Ideation wird das Was zum Wesen und damit wird dieses selbst zu einem Gegenstand der Anschauung, und zwar zu einem neuartigen. „Das Wesen (Eidos) ist ein neuartiger Gegenstand. So wie das Gegebene der individuellen oder erfahrenden Anschauung ein individueller Gegenstand ist, so das Gegebene der Wesensanschauung ein reines
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§ 12: Bekundung des konkreten Apriori in der Wesenschau
Wesen." (Ideen I, S. 14; vgl. Edmund Husserl: Formale und Transzendentale Logik, Halle (Saale) 1929, S. 139; wir zitieren: FTL) Die Wesenschau ist Anschauung, jedoch eine Anschauung neuer Art. Der Wesenschau liegt die individuelle Anschauung zugrunde, doch sieht Husserl zwischen beiden einen prinzipiellen Unterschied. „Gewiß liegt es in der Eigenart der Wesensanschauung, daß ein Hauptstück individueller Anschauung, nämlich ein Erscheinen, ein Sichtigsein von Individuellem ihr zugrunde liegt ( . . . ) , aber das ändert nichts daran, daß beiderlei Anschauungsarten prinzipiell unterschieden sind." (Ideen I, S. 15 f.) Der zweite Schritt der Wesenschau besteht also darin, daß das Wesen selbst zu einem neuartigen Gegenstand gemacht wird. Im dritten Stadium entfaltet sich die Ideation in der eidetischen Variation. Damit ich das Allgemeine des Wesens erfasse, muß ich es von seinen Zufälligkeiten und Besonderheiten befreien, indem ich ein exemplarisch aufgegriffenes Ding in seinem gegebenem Bestände in der Phantasie willkürlich variiere, gleichsam ausprobierend, was zu seinem Bestand gehört. Es zeigt sich dann eine durch alle Variationen hindurchgehende Invariante als die notwendige allgemeine Form, ohne die ein solches Ding überhaupt nicht ein solches Ding wäre: „ein invariables Was, nach dem hin sich alle Varianten decken: ein allgemeines Wesen." (Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil, Hsg. Ludwig Landgrebe, Hamburg 1948, S. 411; wir zitieren: EU) Zum Prozeß der eidetischen Variation gehören also: „ 1. erzeugendes Durchlaufen der Mannigfaltigkeit der Variationen; 2. einheitliche Verknüpfung in fortwährender Deckung; 3. herausschauende aktive Identifizierung des Kongruierenden gegenüber den Differenzen." (EU, S. 419) Wir finden bei Husserl verschiedene Bedeutungen von Wesen und Wesenschau; er hat sie weder deutlich auseinander gehalten noch ihre Zusammenhänge dargestellt und begründet. Weiter oben hatten wir gesehen, daß aller Wesenschau ein Siditigsein von Individuellem zugrunde liegt. Der Zusammenhang zwischen konkreter Fundierung und der Anschauung von höherstufigerem Wesen wird von Husserl nicht geklärt. Überhaupt wird nicht geklärt, welcher Art die Anschauung von Nicht-Sichtbarem ist. So schwankt Husserl ζ. B. zwischen der Auffassung, daß die Anschauung von Sachverhalten dem Sehen von Gegenständen gleich ist, oder aber im Vollzug einer intuitiven Synthesis der Akte liegt, in denen der Sachverhalt, eine Kategorie, gebildet wird. (Vgl. Ideen I, S. 13, S. 15, S. 415 f.)
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Schließlich verwechselt Husserl des öfteren das Wesen mit dem Allgemeinbegriff. Dieser aber ist nichts Anschauliches, er ist nicht das Wesen, nach dem Husserl sucht. Gerade indem das Wesen mit dem Allgemeinbegriff verwechselt wird, wird der Verweisungszusammenhang, in dem alles einzelne und auch noch die Kategorien und „Seinsregionen" stehen, mit begrifflicher Abstraktion verwechselt. Anstatt den Verweisungszusammenhang auseinander zu legen, werden oberste Wesenallgemeinheiten konstituiert als oberste Gattungen, als „eine Idee aus Ideen oder von Ideen, eine Idee, deren Umfang Ideen bilden." (Edmund Husserl: Phänomenologische Psychologie, Husserliana IX, Hsg. W. Biemel, Den Haag 1962, S. 83; wir zitieren: Phän. Psych.) Husserl hat allerdings sehr bald die nur vorläufige, nur Hilfsdienste leistende Rolle der Wesenschau erkannt. Die Wesenschau ist nicht die Methode der Phänomenologie, sie bringt uns nicht vor das Selbstgegebene, sie ist ein Durchgangsstadium, das uns zur Klärung dienen kann, das uns Leitfäden gibt, denen entlang wir zum Selbstgegebenen vordringen können. Die Erfahrung des Selbstgegebenen, nach der ich suche, kann mir nicht durch die eidetische Variation gegeben werden. Ganz einfach, weil die eidetische Variation das Eidos schon voraussetzt; denn woher will wissen, was ihm zugehört, wenn ich es nicht schon weiß? Allerdings kann die eidetische Variation mir klarer machen, was das Thema ist, was der Sinn ist, in den ich, ihn analytisch auslegend, eindringen will, den verborgenen Reichtum der Erfahrung, die ihm zugrunde liegt, zur Sicht bringend. Sie hat also keineswegs die Funktion, mir das Wesen, die der Erfahrung zugrunde liegende Grunderfahrung zu geben. Vielmehr soll sie mir in einer Vor-Klärung helfen, Unwesentliches vom Wesentlichen zu trennen, das Wesentliche wesentlicher zu machen. Die Wesenschau, wenn man sie überhaupt methodisch anwenden will, gibt eine Vor-Klärung auf der Suche nach dem Selbstgegebenen. Mehr darf man in der Wesenschau nicht sehen, wie es Eugen Fink unterstreicht: „Fruchtbare Methoden verführen allzuleicht zu unkritischen Übertragungen; es ist eine offene Frage, ob die skizzierte Methode der Ideation in allen Wesensbereichen des Seienden durchführbar ist, ob sich z.B. durch Phantasieabwandlung das Wesen des Menschen fassen ließe. Ja es ist auch eine — von Husserl anfänglich vertretene, später revidierte — Naivität, die im Hinblick auf das gegenständlich Seiende ausgebildete eidetische Methode auf das ,Bewußtsein c und seinen Zusam-
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menhang mit den Gegenständen zu übertragen und so das Problem der Evidenz in einer eidetisch verfahrenden Korrelativforschung entwickeln zu wollen. Die Frage nach der Selbstgebung des Seienden, sofern es eine Art hat, kann durch die gegenstandstheoretische Ideation bedeutsame .Leitfäden' gewinnen; das philosophische Problem aber kann nicht selbst methodisch beherrscht werden durch eine naive ,Selbstgebung' der Wesen. Gerade die Methode der Ideation bildet selber ein Evidenzproblem, in welchem erst das originär gebende Bewußtsein analytisch enthüllt werden und so bestimmt werden soll, was das Wesen ,ist'." (Fink: Problem d. P h ä n . . . , S. 217 f.) In der Wesenschau finden wir eines der ärgsten MißVerständnisse der Phänomenologie, insofern ihre Unklarheiten und Beschränkungen, insbesondere aber ihre Vorläufigkeit, ihr nur vor-klärender Charakter, übersehen werden. Die Wesenschau wurde als die grundlegende Methode der Phänomenologie betrachtet. Das ist zum größten Teil noch heute so. Es genügt, daß man Wörter- und Lehrbücher der Philosophie aufschlägt, ja selbst Werke, die nur die Phänomenologie behandeln, um festzustellen, wie sehr die Wesenschau noch immer als zentrales Element der Phänomenologie betrachtet wird. Die Wesenschau hatte zunächst großen Erfolg, nicht nur in der Philosophie, sondern auch außerhalb ihrer. War es nicht schon immer ein Uranliegen des Denkens gewesen, das Wesentliche oder das Wesen zu erfassen? Nun gab es eine eigene Methode dafür. Zum ersten Mal glaubte man, eine ganz neue Methode zu besitzen, das Wesen von einzelnem oder von ganzen Regionen zu erfassen. Dabei schien sie besonders gekennzeichnet durch ihre Wissenschaftlichkeit: die Methode der Wesenschau ging vor mit Akribie und Strenge, sie hielt sich an das Gegebene, sie suchte das Gegebene, und sie suchte nach den Notwendigkeiten, die das Gegebene beherrschen. Die Philosophie selbst gestaltete sich zur Wesensforschung, zur eidetischen Forschung. Dadurch wiederum lieferte sie den Wissenschaften die Fundierung der ihnen zugrunde liegenden eigenen eidetischen Regionen. Hier sei bemerkt, daß Husserl bis zur ausdrücklichen Entdeckung der Lebenswelt die Aufteilung der Regionen des Seienden in Gebiete wissenschaftlicher Fragestellung als gegeben hingenommen hat und in der Entwicklung regionaler Ontologien mit regionalem Apriori die Vorbedingungen der Möglichkeit einer solchen Aufteilung aufweisen wollte. (Vgl.
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Ideen I, S. 23 ff.) Das Gleiche gilt für Heidegger in „Sein und Zeit". (Vgl. „Sein und Zeit", Tübingen 19537, S. 11; wir zitieren: SZ) Gleichzeitig erschien die Wesenschau als eine Methode, die auf allen Gebieten angewandt werden konnte. Wesenschau wurde zur Mode. Wissenschaftliche Werke aller Art begannen in der Zeit nach Husserls ersten Erfolgen mit allgemeinen Deskriptionen, die als Wesenschau, als regionale Ontologien ausgegeben wurden. So erschien die Wesenschau als die Methode, die den Wissenschaften die eidetische Fundierung, die Wesensfundierung ihrer eigenen Gebiete sicherte. Einige Wissenschaftler versuchten sich selbst als Philosophen, um die eidetische Fundierung der von ihnen behandelten Region zu vollziehen. Die bekanntesten Beispiele dafür finden wir in der Psychiatrie. Man braucht hier nur an das umfassende und einflußreiche Werk Binswangers oder — in bescheidnerem Rahmen — an die Arbeit Kiskers zu denken. (Vgl. K.P.Kisker: Der Erlebniswandel des Schizophrenen, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960) Die ersten Erfolge der neuen Methode der Wesenschau lassen sich auf eines zurückführen: die erste Einsicht in das materiale Apriori. Mit ihr haben wir in der Geschichte der Philosophie einen ungeheuren Durchbruch, selbst wenn diese Einsicht nur tastend erworben wird und sich ständig wieder verdeckt. In der Entdeckung der Wesenschau bekundet sich die Entdeckung des materialen Apriori, und durch die Entdeckung des materialen Apriori wird der Apriorismus, wie Scheler sagt, überhaupt erst befreit. Lassen wir Scheler noch einmal zu Wort kommen, um diese Entdeckung zu kennzeichnen. „Wie die Wesenheiten, so sind audi die Zusammenhänge zwischen ihnen ,gegeben' und nicht durch den ,Verstand' hervorgebracht oder ,erzeugt'. Sie werden erschaut und nicht gemacht'. Sie sind ursprüngliche Sachzusammenhänge, nicht Gesetze der Gegenstände nur darum, weil sie Gesetze der Akte sind, die sie erfassen." (Scheler: Formalismus . . . , S. 88) Das Ungenügen und die Vorläufigkeit der Wesenschau wurden von Husserl selbst erkannt. Insofern man nun die Phänomenologie überhaupt als durch die Wesenschau gekennzeichnet ansah und letztere ablehnte, verwarf man mit ihr auch die Phänomenologie. Die allgemeine Abwertung der Phänomenologie kann soweit führen, daß man glaubt, zu wissen, was sie sei, ohne sich wirklich mit ihr beschäftigt zu haben, und daß man sie aufgrund von Einsichten verwirft, die ausgeredinet diejenigen der Phänomenologie selbst sind.
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§ 1 3 : Originäre Anschauung, Selbstgegebenheit und Wahrheit
§ 13 Die originäre Anschauung als Rechtsquelle aller Erkenntnis und die Frage nach Selbstgegebenheit und Wahrheit Das konkrete Apriori ist Grundlage und Ausgangspunkt der Phänomenologie. Wenn auch die Wesenschau uns diesen noch nicht liefert, so müssen wir doch festhalten an der Materialität, i.e. an der Gegebenheit des Apriori. Sinn und Bedeutung sind uns gegeben, sie sind wahrgenommen. Alles Seiende hat eine ihm eigene Anschaulichkeit, und zwar in einer uns vorbekannten Vorgängigkeit. Diese Anschaulichkeit kann zu immer größerer Nähe gebracht werden. Sie ist Quelle aller rechtmäßigen Erkenntnis. An dieser Einsicht hält Husserl fest und erklärt sie zum unumstößlichen Ausgangspunkt der Phänomenologie, zum Prinzip aller Prinzipien. „Am Prinzip aller Prinzipien·, daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ,Intuition' originär (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen. Sehen wir doch ein, daß eine jede ihre Wahrheit selbst wieder nur aus den originären Gegebenheiten schöpfen könnte." (Ideen I, S. 52) Der Ausgangspunkt einer Phänomenologie des konkreten Apriori ist also nicht die Wesenschau, sondern das Prinzip aller Prinzipien. Dieses Prinzip ruht in der Einsicht in das konkrete Apriori. In seiner allgemeinen Formulierung als Prinzip ist es der Leitgedanke, der das Vorgehen der Phänomenologie bestimmt, ist es die Forderung, die immer wieder und immer weiter eingelöst werden muß. Auf diesem Prinzip beruht auch die sogenannte „phänomenologische Reduktion" mit ihrem Korrelat, der „Epoche". Sie ist aber oft mißverstanden worden, auch von Husserl selber, als ein In-Geltung-Setzen eines in sich abgeschlossenen Bewußtseins, dessen Strukturen erforscht werden sollen, und einer für-sich-seienden Subjektivität, während die Welt oder mindestens deren Existenz „in Klammern gesetzt" werden. In vorläufiger Allgemeinheit bedeutet sie nichts anderes als den Rückgang zum Selbstgegebenen. Wie jeder Rückgang überhaupt, hat sie zwei Aspekte. Zu Rückgang, Zurückgehen-auf, Erschließen-von, Vorstoßen-zu-den-Sachen-selbst gehört gleichzeitig Einklammerung, Sich-Enthalten, Ausschalten all dessen, was nicht die „Sache selbst" ist. (Vgl. Gerd Brand: Welt, Ich und Zeit. Nach unveröffentlichten Manuskripten Edmund Husserls. Den Haag
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19692, S. 5 ff., S. 25 ff.) Nimmt man das Prinzip aller Prinzipien als Grundlage des Philosophierens und fragt man, was „in Klammern gesetzt werden" soll, dann stellt sich sogleich ein unumgängliches Problem. Wenn das konkrete Apriori in der Sinngegebenheit, sei es von Sachen oder von Sachverhalten, besteht, und wenn es als Apriori umfassend ist, wenn also alles Gegebene Sinn hat und wenn alles Gegebene Rechtsquelle von Erkenntnis ist, wieso gibt es dann Irrtum, wieso gibt es Täuschung? Daß wir uns irren, wissen wir. Ja, ist nicht das Problem des Irrtums, das Problem der Wahrheit der eigentliche Antrieb des Philosophierens? Zunächst können wir auf diese Frage eine allgemeine Antwort geben. Wir haben das konkrete Apriori zuerst in die Sicht bekommen als die rätselhafte Vorgängigkeit der Vorbekanntheit alles Seienden. In Rätselhaftigkeit und Vorbekanntheit liegt schon das Moment der Dunkelheit und damit die Möglichkeit der Verstelltheit, des Irrtums. Doch kann diese allgemeine Antwort nicht genügen. Was sie besagt, muß in aller Strenge ausgeführt werden, handelt es sich hier doch um ein zentrales Problem der Philosophie. Die Frage läßt sich präzisieren: Wenn ein Gegebenes Sinn hat und wir täuschen uns, dann ist das Gegebene damit nicht verschwunden, sondern kann sogar „in Wahrheit" ein anderes Gegebenes sein. Sich täuschen, sich irren kann nur heißen, ein Gegebenes für ein Anderes nehmen. Also heißt die Frage jetzt: Wieso und wie kann uns ein Dies-da oder ein Sachverhalt so gegeben sein, daß er gar nicht er selbst ist? Um diese Frage leichter beantworten zu können, wandeln wir sie um, betrachten sie als eine Ausgangsposition und fragen von dieser aus: Wie können wir etwas zur Selbstgegebenheit bringen? Diese Frage nun ruft vorgängig noch eine andere hervor: Wann ist eine Sache selbstgegeben, wann ist sie — im Husserlschen Vokabular — „evident"? Anstatt zu glauben, daß uns die Sachen von vornherein selbstgegeben sind, daß wir sie ohne weiteres erfassen, müssen wir zunächst einmal die Frage nach der Selbstgegebenheit selbst — und das ist die Frage nach der Wahrheit — stellen. Die Antwort auf diese Frage scheint sich bei Husserl nie zu ändern. Wir haben dann Selbstgegebenheit, Evidenz, wenn wir die Adäquation feststellen können zwischen dem Sinn eines Gegenstandes oder eines Sachverhalts, der intendiert wird und demjenigen, den die Erfahrung gibt; mit anderen Worten, wenn die Erfahrung die Intention des Bewußtseins voll erfüllt. Wenn wir dem nun nachgehen, dann werden wir sehen, daß hier, wie wir es auch bei der Wesenschau hätten zeigen können, eine wider-
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§ 1 3 : Originäre Anschauung, Selbstgegebenheit und Wahrheit
sprüchliche Auffassung vorherrscht, Mißverständnisse hervorruft und eine andere, ihr zugrunde liegende Auffassung verdeckt. Husserls Antwort auf die Frage nach der Wahrheit mutet, wenn man nicht näher hinsieht, nur als die phänomenologische Ausarbeitung des klassischen Wahrheitsbegriffs an: Wahrheit ist Adäquation. Nehmen wir einen zentralen Text der „Logisdien Untersuchungen" zum Ausgangspunkt unseres Klärungsversuches. „Im laxeren Sinne sprechen wir von Evidenz, wo immer eine setzende Intention (zumal eine Behauptung) ihrer Bestätigung durch eine korrespondierende und vollangepaßte Wahrnehmung, sei es auch eine passende Synthesis zusammenhängender Einzelwahrnehmungen, findet. Von Graden und Stufen der Evidenz zu sprechen, gibt dann einen guten Sinn. Es kommen in dieser Hinsicht die Annäherungen der Wahrnehmung an die objektive Vollständigkeit ihrer gegenständlichen Präsentation in Betracht und dann weiter die Fortschritte zum letzten Vollkommenheitsideal: dem der adäquaten Wahrnehmung, der vollen Selbsterscheinung des Gegenstandes — soweit er irgend in der zu erfüllenden Intention gemeint war. Der erkenntniskritisch prägnante Sinn von Evidenz betrifft aber ausschließlidi dieses letzte, unüberschreitbare Ziel, den Akt dieser vollkommensten Erfüllungssynthesis, welcher der Intention, ζ. B. der Urteilsintention, die absolute Inhaltsfülle, die des Gegenstandes selbst, gibt. ( . . . ) Die Evidenz selbst ist ( . . . ) der Akt jener vollkommensten Deckungssynthesis. ( . . . ) Ihr objektives Korrelat heißt Sein im Sinne der Wahrheit oder auch Wahrheit." (Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. I u. Bd. II/l Halle 1928, Bd. II/2 1921; wir zitieren: LU I; LU I I / l ; L U I I / 2 ; Zitat: LU II/2, S. 121 f.) In diesem Text ist zunächst die Rede von einer Intention, und zwar von einer Intention, die etwas meint, und das heißt von einer „setzenden" Intention, die ihre Bestätigung findet. Dann ist von Graden und Stufen der Evidenz die Rede. Ist Evidenz nicht Evidenz schlicht und schlechthin, gibt es nicht entweder Evidenz oder keine Evidenz? Doch von Graden und Stufen der Evidenz zu sprechen, hat deswegen einen Sinn, weil die Intention mehr oder weniger erfüllt sein kann. Erfüllt wird die Intention vom wahrgenommenen Gegenstand, der auch ein Sachverhalt sein kann. Die Evidenz liegt also in der Selbsterscheinung des Gegenstandes. Aber nicht nur das: die Evidenz, die Selbsterscheinung des Gegenstandes muß als solche erfaßt sein. Evidenz ist also auch ein Akt, und zwar ein synthetischer Akt, der eine Erfüllungssynthese setzt. Denn gleichzeitig damit, daß der Gegenstand die Intention erfüllt, stelle ich fest, daß er dies ganz oder
§ 14: MißVerständnis von Intention und Erfüllung
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teilweise tut. Dieser Akt, der eine Deckung feststellt, muß ein objektives Korrelat haben: Sein im Sinne der Wahrheit, Wahrheit. Wir haben also Wahrheit als Korrelat einer Deckungssynthese, als eine Beziehung, und zwar eine Identitätsbeziehung. Die Evidenz liegt also nicht im puren Gegebensein, sondern zu ihr gehört eine aktive thetische Feststellung. „Danach ist also bewährende Evidenz nichts anderes als das in der Ursprünglidikeit der Selbsthabe vollzogene Bewußtsein der adaequatio rei et intellectus." (PS, S. 102) Fügen wir hier hinzu, einem Kommentar von De Waelhens folgend, daß die in der Evidenz enthaltene Adäquation nicht mit der copula des Urteils verwechselt werden darf. „Wenn ich in Wahrheit sage, daß der Tisch rot ist, dann ist die Adäquation, von der wir sprechen, nicht diejenige, die sich im Ist des Urteils ausdrückt. Sie ist diejenige, die zwischen dem globalen Sinne des Urteils und dem Sachverhalt, den dieses ausdrükken will, besteht, Sachverhalt, der im Falle der Wahrheit den Sinn vollkommen erfüllt (wenigstens grundsätzlich). Im Gegenteil, das Ist der copula drückt meistens keine Deckungssynthese aus, Tisch-Sein deckt sich keineswegs mit Rot-Sein." (Alphonse De Waelhens: Phenomenologie et Verite, Paris 1953, S. 11)
§ 14 Die Widersprüchlichkeit des Husserlschen Wahrheitsbegriffs und das Mißverständnis von Intention und Erfüllung Was hat es mit dem skizzierten Wahrheitsbegriff auf sich? Was liegt ihm zugrunde? Wieso kann er zu Widersprüchlichkeiten führen? Wir wollen hier die scharfsinnige Analyse Tugendhats hinzuziehen, der fünf verschiedene Wahrheitsbegriffe bei Husserl unterscheidet. (Ernst Tugendhat: Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, Berlin 1967) Legt das allein nicht schon die Vermutung nahe, daß die Auffassung bei Husserl selbst schon nicht einheitlich oder eindeutig ist? Tugendhat zählt ausdrücklich vier Wahrheitsbegriffe auf, wobei er den zweiten an das Ende seiner Aufzählung setzt. Später wird von Tugendhat tatsächlich noch ein fünfter hinzugefügt. Wahrheit ist „Verhältnis", das nach Tugendhat in drei Hinsichten betrachtet werden kann: als Ganzes selbst oder im Hinblick auf eines seiner beiden Glieder. 5 Brand,
Lebenswelt
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§ 1 4 : MißVerständnis von Intention und Erfüllung
Der erste Wahrheitsbegriff ist das Verhältnis, die Identität von „Gemeintem" und Gegebenem, „er ist ein zweistelliges Prädikat." (Ebda., S. 93) Der dritte Wahrheitsbegriff betrifft das Korrelat des erfüllten Aktes, was in diesem Sinne einfach die Sache selbst, das wahrhaft Seiende ist. Der vierte Wahrheitsbegriff betrifft den Charakter, der der Intention zukommt. Die Wahrheit in diesem Sinne, als Eigenschaft der Meinung, bezeichnet Husserl als Richtigkeit. Der zweite Wahrheitsbegriff ist für Tugendhat der von Husserl eigentlich gemeinte. Er scheint für ihn darin zu liegen, daß der erste gewissermaßen in Idee gesetzt wird. Er ist die Idee des Verhältnisses überhaupt, das „als Idee gefaßte Wesen des empirisch zufälligen Aktes der Evidenz." ( L U I I / 2 . S . 123) Schließlich erwähnt Tugendhat noch eine fünfte Auffassung von Wahrheit bei Husserl, nach der diese nicht eine erfüllende Bestätigung der Setzung ist, sondern eine Klärung und Erweiterung des Gegebenen. „Fragen wir, was eine Sache (ζ. B. irgendein Ding oder ein historisches Geschehen oder in der Philosophie ζ. B. ,die Zeit' oder ,die Wahrheit') in Wahrheit ist, dann wird die erfragte Sache, indem sie genannt wird, zwar gesetzt, aber die Frage betrifft nicht die Wahrheit dieser in der nominalen Intention enthaltenen Setzung; und die Idee der endgültigen Erfüllung, als welche auch hier die Wahrheit zu denken ist, auf die die Frage zielt, hat zwar ebenfalls den Charakter einer Setzung (,es ist so und so und so'), aber einer evtl. sehr komplexen, die jedenfalls mit der in der Ausgangsintention enthaltenen nominalen Setzung der .Materie' nach nicht übereinstimmen kann. Die nominale Bedeutung der Ausgangsvorstellung ist unbestimmt und ihre eigene Intention (bzw. die der Frage, von der sie umgriffen wird) ist gar nicht auf Bestätigung (der Setzung) gerichtet, sondern auf Klärung und Erweiterung (ihrer Materie)." (A. a. O., S. 99) Tugendhat meint, daß diesem Wahrheitsbegriff ein Begriff des Falschen fehlt, weil er nicht als setzende Intention schon Wahrheit beanspruchen, sondern diese erst finden will. In Wirklichkeit geht dieser Wahrheitsbegriff vom Falschen aus, insofern er nämlich nach der Selbstgebung fragt, setzt er Selbstgegebenes voraus, das anderes Selbstgegebenes ist als das, als welches es erscheint, das also falsch ist. Wir werden sehen, daß der grundlegende Husserlsche Wahrheitsbegriff in der Richtung dieses von Tugendhat als fünften herausgestellten Begriffes zu suchen ist: Wahrheit ist Bewahrheitung. Indem Tugendhat diesem Begriff nicht nachgeht und nicht versucht, ihn mit den anderen in
§ 1 4 : MißVerständnis von Intention und Erfüllung
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Einklang zu bringen, bleibt er der Gefangene eines fundamentalen Mißverständnisses, das in der nicht auf ihre Wurzeln verfolgten Wahrheitsproblematik, in einem falsch verstandenen Verhältnis von Intention und Erfüllung liegt. Tugendhat selbst läßt uns auf den Grund dieses Mißverständnisses stoßen, wenn er mit apodiktischer Endgültigkeit feststellt: „Die eigentliche Zelle von Husserls Wahrheitsproblematik ist jedoch das Begriff spaar Intention und Erfüllung (Selbstgegebenheit)." (A.a.O., S. 100) Die Intention, die „erfüllt" wird, wird hier letztlich mißverstanden als leere Meinung, als Vorintention, die die Wirklichkeit noch nicht hat, sondern auf sie abzielt, und dann, wenn sie von ihr erfüllt wird, zur Deckungssynthese der Wahrheit wird. Dann erst stellt sich die Frage, was wird wem adäquat, die Intention dem Gegenstand oder der Gegenstand der Intention? Dann erst kann sich auch die Frage stellen, die allerdings nicht mehr zu beantworten ist, wieviel Wahrheitsbegriffe es bei Husserl eigentlich gibt. Die Kombinationen, die Tugendhat vollzogen hat, könnte man nämlich ohne jeden Nutzen noch sehr viel weiter treiben, indem man sie aufeinander rückbezieht. Gewiß gibt eine Reihe von Texten Husserls Anlaß zu einem Mißverständnis des Begriffspaares Intention und Erfüllung, gewiß ist Husserl selbst auch immer wieder diesem Mißverständnis erlegen. Doch ebenso gewiß finden wir bei Husserl tieferliegende, umfassendere Auffassungen. Der folgende Text zum Beispiel legt einerseits die Interpretation Tugendhats nahe, andererseits und gleichzeitig meldet sich in ihm der Zweifel an dieser Auffassung: „Uns eine Vorstellung evident machen, das ist doch, sie zu ursprünglich erfüllender Bewahrheitung bringen. Es ist also nicht eine beliebige Synthese der Identifikation in Frage, sondern eine Synthese einer nicht selbstgebenden mit einer selbstgebenden Vorstellung. ( . . . ) Danach möchte es nun scheinen, daß die Einheit einer Erfüllungssynthese (einer bewahrheitenden) sich dahin charakterisiere, daß ein Leerbewußtsein, sei es ein für sich stehendes völlig leeres oder ein mit Anschauung unvollk o m m e n ) gesättigtes, synthetisch sich einige mit einer entsprechenden Anschauung, wobei leer Vorstelliges und Anschauliches im Bewußtsein desselben, also in Identität des gegenständlichen Sinnes sich deckt. Erfüllung, möchte man denken, ist doch Veranschaulichung; eine Meinung bewahrheiten, das ist einen Gegenstand meinen, aber ihn nicht selbst anschaulich haben, oder ihn anschaulich haben, aber über das schon Anschauliche noch hinausmeinen und nun zur Anschauung des noch nicht Gegebenen übergehen." (PS, S. 66, S. 67 f.; Hervorhebung von mir) 5*
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§ 14: MißVerständnis von Intention und Erfüllung
Kann etwas das Ungenügen der zunächst dargelegten Auffassung deutlicher machen als die Ausdrücke: „es möchte scheinen", „man möchte denken"? Wohin führt es, wenn man die Intention als Vorintention auffaßt, die etwas aus der Wirklichkeit heraussucht, das sie erfüllt, wenn dabei die Wirklichkeit sich der Intention zu beugen hat, wenn man diesen zweifellos bestehenden Modus der Intentionalität mit der Intentionalität überhaupt verwechselt, wenn man Intentionalität als bloße Intention nimmt, das Bewußtsein als ein Leeres, das von der Wirklichkeit erfüllt werden muß? Man gelangt dann entweder zu einem transzendentalen Idealismus, in dem schließlich die Intentionalität Wirklichkeit bildet, „konstituiert", man gelangt zu Wesensgesetzen der Intentionalität, die die Wirklichkeit regeln, oder zu einer psychologisierten Phänomenologie, die zwar noch Wissenschaft sein kann, aber keine Philosophie mehr ist. Tugendhat zeigt, wie Husserl sich teilweise in dieser letzteren Auffassung verstrickt. Dabei steht der Begriff des Erlebnisses ganz und gar im Vordergrund, und die Intentionalität wird als eine Charakteristik des Erlebnisses betrachtet. Tugendhat erinnert daran, daß Husserl den Begriff der Intentionalität von Bretano übernommen hat. Damit ist gesagt, daß Husserl ihn zwar ausbaut, aber im Grunde nicht weiterführt. Die Intentionalität ist nach Brentano die eigentliche Eigenheit des Erlebnisses, „demgemäß ein Erlebnis nicht nur ist, was es ist und, wie alles, was es gibt, seine absoluten und relativen Bestimmungen hat, sondern auf etwas,gerichtet' ist, etwas ,meint'; diese einzigartige ,Beziehung' ist keine Relationsbestimmung, denn sie gehört zum eigenen Sinn eines Erlebnisses, gleichgültig ob ihr Gegenstand existiert oder nicht." (A. a. O., S. 26) Die Intentionalität ist also ein Wesenszug des Erlebnisses. Was ergibt sich hieraus? Wie wird das Erlebnis zur Grundlage der phänomenologischen Forschung? Gleichzeitig mit dem Erlebnis muß eine Thematisierung von dessen intentionaler Gegenständlichkeit vorgenommen werden, „das heißt der Gegenständlichkeit so wie sie von dem jeweiligen Akt gemeint ist." (Ebda., S. 27; Hervorhebung von mir) Damit wird ein fundamentales Mißverständnis der Phänomenologie aufgewiesen. Die Phänomenologie kann in diesem Sinn von zwei Gesichtspunkten aus verstanden werden. Sie ist Lehre von den „Phänomenen", verstanden als Lehre von den Erlebnissen. Sie kann auch verstanden werden — betrachtet man die Thematisierung der Gegenständlichkeiten der Erlebnisse — als Lehre von den „Phänomenen" die jetzt nichts anderes sind als das gegenständlich Gegebene im Wie seines Gegebenseins.
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Wenn der grundlegende Schritt in Husserls Erhellung von Wahrheit und Wahrheitsbezug darin liegt, daß er von den Erlebnissen ausgeht, indem er die Erlebnisse als unerfüllte Intentionen und deren Anschauungen bzw. Korrelate als ihre Erfüllung betrachtet, dann muß sich in der Tat die Wirklichkeit der Intention beugen. „Wo sich zwei Elemente als Intention und Erfüllung aufeinander beziehen, ist es die Intention, die bestimmt, was ihre mögliche Erfüllung sein kann, und nicht umgekehrt." (Tugendhat: a.a.O., S. 51) Wenn man die intentionalen Erlebnisse als zentrales Element der Phänomenologie ansieht, dann gibt man sich dreierlei vor: erstens ein psychologisiertes Bewußtsein, das aus Erlebnissen zusammengesetzt ist, zweitens eine Intentionalität als eine Reihe von Akten, die Intentionen sind, drittens — als Korrelat des psychologisierten Bewußtseins — eine Welt von Gegenständen, von denen lediglich das subjektive Wie ihrer Gegebenheit aufgeklärt werden soll und kann. Auf diesen Grundlagen könnte man allenfalls eine Psychologie aufbauen, aber nicht die Phänomenologie. Dabei könnte diese Psychologie obendrein nur den statischen Aufbau des Bewußtseins erklären, dessen Dynamik und Teleologie müßte sie unberücksichtigt lassen. Hiermit soll nicht bestritten werden, daß bei Husserl diese Auffassungen — audi — zu finden sind, sondern es soll im Gegenteil gerade gezeigt werden, wie Selbstmißverständnisse Husserls zum Scheitern der Phänomenologie führen können. Die Problematik ist äußerst schwierig und komplex, und Husserl war sich seines Schwebens und Schwankens in der Durchleuchtung dieser Grundphänomene wohl bewußt. (Vgl. Edmund Husserl: Analysen zur passiven Synthesis. Husserliana XI, Hsg. M. Fleischer. Den Haag 1966, S. 78, S. 91; wir zitieren: PS) Wir finden im Text der „Logisdien Untersuchungen" drei hervorstechende Merkmale des Wahrheitsbezugs, die den Ausgangspunkt eines Klärungsversudis bieten: setzende Intention, aktive thetische Feststellungen als Deckungssynthese, Grade und Stufen der Evidenz. Mit der einfachen Herausstellung dieses Bezugs wird das Problem der Wahrheit als Frage nach dem Wie, dem Wann und dem Was der Selbstgegebenheit jedoch noch nicht gelöst. Es kommt vielmehr zu Mißverständnissen und Widersprüchlichkeiten, wenn man nur die beiden ersten Merkmale in Betracht zieht und nicht vom letzten ausgeht. Husserl bringt die Gradualität der Evidenz in der „Passiven Synthesis" zu einer klärenden Unterscheidung des Begriffs der Evidenz selbst. „Er spaltet sich jetzt in zwei fundamentale Begriffe. Der eine ist der
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§ 1 5 : Intentionalität, Wahrheit, Enthüllung, Adäquation
Selbstgebung überhaupt. Wohlverstanden, reicht er so weit, als überhaupt der Begriff des Bewußtseins reicht als Bewußtseins von etwas." (PS, S. 430) Nur weil es überhaupt für mich Gegebenes gibt, das ich als Selbstgegebenes betrachte, kann ich fragen, ob es wirklich Selbst ist. (Vgl. PS, S. 431) Von dem Begriff der selbstgebenden Evidenz unterscheidet Husserl den Begriff einer zweiten, der eigentlichen Evidenz. „Der zweite Begriff von Evidenz, der prägnante, ist dann die reine Selbstgebung" (PS, S. 341) Diese Selbstgebung, diese Evidenz ist es, nach der wir hier fragen. Weil alles selbstgegeben ist und doch nicht in reiner Selbstgegebenheit, weil sich die Spannung, der Unterschied zwischen beiden in Modalisierung, Enttäuschung, Irrtum bekundet, deswegen fragen wir überhaupt nach der reinen Selbstgegebenheit, nach der Wahrheit. Tatsächlich setzt die Intention, als unerfüllte betrachtet, die durch die Anschauung von der Sache erfüllt wird, eine Intentionalität voraus, die schon von der Sache herkommt und nicht erst auf sie hingeht. Wie kann ich wissen, ob die Anschauung der Sache die Intention erfüllt, wenn ich nicht gleichzeitig bei der Sache selbst bin? Das, was die Intention erfüllt, ist selbst das vorgängige Kriterium dieser Erfüllung. Tugendhat selbst hat dies deutlich gesehen, denn er schreibt, nachdem er die perzeptive und signitive Intention bei Husserl behandelt hat: „Es gibt einen Sinn von Erfüllung einer signitiven Intention, einen Sinn von Sache selbst, demgemäß wir nicht fragen, ob die Intention der Sache selbst entspricht, sondern geradezu, was die Sache selbst ist. Erfüllung bedeutet hier nicht Bestätigung, sondern Klärung und Erweiterung." (A. a. O., S. 85) Tugendhat stellt die widersprüchlichen Auffassungen von der Intention als Erfüllung und von der Intention als Klärung und Erweiterung nebeneinander. Er versucht nicht, den Widerspruch durch eine umfassende Auffassung zu lösen, weil er wie auch ich, die allgemeine These vertritt: „Die Bedeutung von Husserls Analysen liegt nicht «nur)) in Resultaten auf die unmittelbar aufzubauen wäre, sondern in den neu auszuarbeitenden Möglichkeiten, die sie eröffnen." (A. a. O., S. 101)
§ 15 Intentionalität, Wahrheit, Enthüllung, Adäquation Intention als Vor-Intention, als Leer-Intention, als zu erfüllende Intention, ist ein sekundärer und partikularer Modus des einen ursprünglichen Intention-Seins, der Intentionalität des Bewußtseins. Die eine
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weist auf die andere hin. Indem wir der Vor-Intention nachgehen, sie auf ihren Ursprung befragen und dabei sehen, daß wir immer schon „bei den Sachen" sein müssen, werden wir geradezu auf die ihr zugrundeliegende Intentionalität hingeführt. Die Intention, daß Bewußtsein auf etwas abzielt, verweist auf ein sie umfassendes Bewußtsein-von-etwas. Wenn wir also dieses aufweisen, dann werden wir auch die Leer-Intention selbst als einen Modus des ursprünglichen Bewußtseins-von-, der ursprünglichen Intentionalität entdecken müssen. Was ist die Intentionalität des Bewußtseins? Stellen wir auch diese Frage, ausgehend von einem Text der „Logischen Untersuchungen". Dieser Text entspricht nicht ganz dem letzten Stand des Husserlschen Denkens. Dabei ist jedoch gerade interessant, von einem Text aus Husserls erstem großen Werk auszugehen und zu zeigen, wie trotz mannigfaltiger Selbstmißverständnisse ein einheitlicher roter Faden durch sein Denken läuft. In diesem Text wehrt Husserl zwei Mißdeutungen der Intentionalität ab. „Es ist jedenfalls sehr bedenklich und oft genug irreführend, davon zu sprechen ( . . . ) , daß die intentionalen Erlebnisse ,etwas als Objekt in sich enthalten' u. dgl. Derartige Ausdrücke legen zwei Mißdeutungen nahe; erstens, daß es sich um einen realen Vorgang oder ein reales sich Beziehen handle, das sich zwischen dem Bewußtsein oder Ich und der ,bewußten' Sache abspiele; zweitens, daß es sich um ein Verhältnis zwischen zwei gleicherweise im Bewußtsein reell zu findenden Sachen, Akt und intentionales Objekt, handle". (LU I I / l , S. 371 f.) Bei der Interpretation dieses Textes stellen wir zunächst fest, daß es sich bei dem Begriff „Erlebnis" nicht um denjenigen handelt, den ζ. B. Tugendhat verwendet, d. h. um ein einzelnes Element des Bewußtseins, dagegen argumentiert Husserl ja gerade. „Erlebnis" müssen wir gerade hier als Kennzeichnung und damit als Bezeichnung für das ganze Bewußtsein selbst verstehen. Was sagt uns dieser Text über die ursprüngliche Intentionalität, über das für sich noch nicht zum Thema gewordene Bewußtsein-von-? Daß das Bewußtsein wesentlich intentional, also Bewußtsein-von- ist, heißt nicht, daß das Bewußtsein immer einen Inhalt hat, wie ζ. B. alles Denken nur Gedanken denken kann, alles Urteilen ein Beurteiltes, alle Form einen Inhalt haben muß, sondern es heißt, daß das Bewußtsein als es selbst etwas ist, was es nicht es selbst ist. Es ist nicht zuerst und zunächst Bewußtsein von sich selbst und gleichzeitig von seiner Beziehung auf etwas anderes, sondern es ist eben durch und durch Bewußtsein von dem, wovon es
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§ 1 5 : Intentionalität, Wahrheit, Enthüllung, Adäquation
Bewußtsein ist. Der „Inhalt" des Bewußtseins ist nicht selbst Bewußtsein, sondern „Bewußtseins-Fremdes", wovon es aber Bewußtsein ist. Bewußtsein ist aber audi nicht das, wovon es Bewußtsein ist, sondern eben Bewußtsein davon. Das Bewußtsein, weil es Bewußt(sein) ist, ist sich bewußt, daß es Bewußtsein-von- ist. Man darf Bewußtsein nicht als eine Art von Wissen oder gar anschaulichem Wissen mißverstehen, warnt Husserl. (Vgl. LU I I / l , S. 356) Das Bewußtsein-von- ist nichts anderes als die bewußte uneinholbare Nicht-Immanenz des Bewußtseins, Bewußtseinvon-Transzendenz. „Beachten Sie dabei diesen bedeutsamen Punkt: Alle Selbstgebungen, die hier in der Erinnerungssphäre, aber ebenso in allen Sphären das Selbst als wahres und identifizierbares, verfügbares Selbst herauszuarbeiten berufen sind, sind in gewissem Sinn ,transzendent' gebende intentionale Erlebnisse; das betrifft allen in eine mögliche aktive Identifikation eintretenden Selbstgebungen. (...) Also jede Selbstgebung hat hier ihr Transzendentes, und jedes Selbst ist transzendent in einem ursprünglichen und guten Sinn — das gibt allerdings eine kuriose Paradoxic. Das erste, urquellenmäßige Transzendente ist der Bewußtseinsstrom und seine immanente Zeit, nämlich er ist das transzendente Selbst, das in der Immanenz der ursprünglich strömenden Gegenwart zur Urstiftung kommt und dann zur frei verfügbaren Selbstgebung und Selbstbewährung(...). Der Bewußtseinsstrom lebt mit Strömen und wird zugleich für sein Ich gegenständlich, objektiv; er wird es als das transzendente Selbst, das in Wiedererinnerungen und Wiedererinnerungssynthesen einer jeweiligen Gegenwart zur unvollständigen und approximativen Selbstgebung kommt." (PS, S. 204) Dieses Bewußtsein-von- kann sich als solches erfassen und beschreiben, in einer ersten Stufe der Reflexion. „Die Beschreibung vollzieht sich auf Grund einer objektivierenden Reflexion; in ihr verknüpft sich die Reflexion auf das Ich mit der Reflexion auf das Akterlebnis zu einem beziehenden Akte, in dem das Ich selbst als sich mittels seines Aktes auf dessen Gegenstand beziehendes erscheint. Offenbar hat sich damit eine wesentliche deskriptive Änderung vollzogen. Zumal ist der ursprüngliche Akt nicht mehr bloß einfach da, in ihm leben wir nicht mehr, sondern auf ihn achten und über ihn urteilen wir." (LU II/2, S. 377) In dieser ersten Stufe der Reflexion zeigt sich die Intentionalität des Bewußtseins. Diese Reflexion ist auch gleichzeitig die Quelle für das Mißverständnis ihrer selbst und der Intentionalität, wenn man sie nämlich isoliert betrachtet. Hier haben wir die falsche, weil isolierte Grundlage des BegrifFspaares Vor-Intention und nachkommender Erfüllung.
§ 15: Intentionalität, Wahrheit, Enthüllung, Adäquation
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Wenn ich den objektivierten Akt und seinen in ihm objektivierten Gegenstand betrachte, dann kann ich den letzteren als die dem Akt innewohnende Setzung ansehen, die von dem anschaulich gegebenen Gegenstand erfüllt werden soll. Dabei allerdings wird vergessen, daß die objektivierte Intention als Leerintention nur aus einem ursprünglich nicht-objektivierten Beim-Gegenstand-Sein herkommt. Die anscheinende Erfüllung der Leerintention ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Enthüllung. „Ja, wir würden überhaupt nicht dazu gelangen, von Leervorstellungen zu sprechen und ihnen gegenständliche Beziehung zuzumuten, wenn es nicht wesensmäßig zu jeder Leervorstellung gehörte, daß sie sozusagen eine Enthüllung, eine Klärung, eine Herausstellung ihres Gegenständlichen zuläßt." (PS, S. 71) Diese verfälschende Auffassung löst sich auf in einer sich vertiefenden oder erhöhenden Reflexion, in einer Reflexion auf zweiter Stufe oder, wenn man so will, in einer die erste Reflexion umfassenden Reflexion. Darin entdecke ich, daß ich auch in der objektivierenden Reflexion gleichzeitig ständig ursprüngliches und unreflektiertes Bewußtsein-von- bleibe. So kann ich verschiedene objektivierte Bewußtseinsinhalte haben, in denen doch dasselbe, davon ich eben originäres Bewußtsein-von- bin, gegeben ist. Auch dies entdeckt mir die Reflexion. In der zweiten Stufe der Reflexion erfaßt sich das Bewußtsein-vonnicht nur als objektivierend-reflektierendes, sondern als gleichzeitig ständig unreflektiertes Bewußtsein-von-. Unreflektiert ist es sowohl bei dem, was es ständig in Akten objektiviert, und unreflektiert ist es auch ständig über das gegenständlich Objektivierte hinaus. In der zweiten Stufe der Reflexion entdeckt diese sich selbst in ihrer Nicht-Transparenz, in ihrem Sich-nicht-Sdiließen. Sie ist das Bewußtsein-von-, das sich selbst erfaßt in seiner undurchdringlichen Passivität und uneinholbaren Transzendenz. Sie ist Reflexion, die ihren Ursprung nicht einholt, sondern ihn erkennt als außerhalb ihrer selbst liegend. In ihr enthüllt sich die Objektivierung als eine wesentliche Änderung unseres ursprünglichen Bewußtseins-von-, eine Objektivierung, in der das Bewußtsein-von- sich seine Struktur vermittelt. Gleichzeitig zeigt sie, daß diese Vermittlung uns nicht den Kontakt mit dem Unmittelbaren nimmt, sondern ihn impliziert. Husserl spricht in diesem Zusammenhang von „vermittelnder Intentionalität", die durch „etwas hindurch auf ein anderes" geht. In diesem Sinne ist die objektivierte Intentionalität, die wir in der ersten Stufe der Reflexion erfassen, vermittelnde Intentionalität, Durchgang, durch den hindurch ich
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§ 1 5 : Intentionalität, Wahrheit, Enthüllung, Adäquation
in ursprünglicher Intentionalität mit ihrem „Hintergrund" verbunden bin, die vorgegebene Wirklichkeit. (Vgl. Phän. Psych., S. 428 ff.) Das, wovon ich ursprüngliches und unreflektiertes Bewußtsein-vonbin, ist für Husserl die Wirklichkeit. Wenn ich einsehe, daß meine objektivierten Bewußtseinsinhalte, meine Vergegenständlichung der Wirklichkeit entsprechen, dann habe ich Evidenz. Wobei das Merkwürdige geschieht, daß erst in dieser Einsicht das Wirkliche sichtbar wird, zur Selbstgegebenheit kommt, indem es aus der Vorbekanntheit in die Bekanntheit tritt. Es ist das Wunder der Reflexion, das sie entdeckt, was doch vorher schon war, und dieses doch in der Entdeckung selbst erstmals zur Erscheinung bringt. Damit aber kommen wir zu dem ersten und eigentlichen Wahrheitsbegriff. Die Wahrheit ist nun die Wirklichkeit, die als sie selbst erscheint. So heißt es in der „Formalen und Transzendentalen Logik": „Neben dem kritischen Wahrheitsbegriff der Urteilsrichtigkeit aus einem ursprünglichen Sichrichten (oder gerichtet haben) nach der selbstgegebenen Wirklichkeit haben wir also diesen Begriff Wirklichkeit als den zweiten Wahrheitsbegriff. Das Wahre ist jetzt das wirklich oder das wahrhaft Seiende". (FTL, S. 113) Und dieser zweite Wahrheitsbegriff, so sagt uns Husserl einige Zeilen weiter, ist der im Grunde an sich erste. (Vgl. FTL, S. 114) Damit sehen wir deutlich, daß das Erkennen in seinem Meinen auf das aus ist, woher es kommt: auf die Wirklichkeit, auf das Sein, bei dem es in Vorgängigkeit schon ist und das es zu größerer Klarheit bringen soll. Wird das Meinen als bloße Meinung, wird die Intention als VorIntention aufgefaßt, dann wird ihr eigentlicher Ursprung und ihr eigentliches Ziel verdeckt. Die Intention geht vom Sein aus, um es zu größerer Fülle zu bringen. „Erkenntnis geht auf Sein, das sagt: auf Erzielung des Seins selbst. Das sagt aber: Erkenntnis als Meinung soll zur Fülle des Selbst übergehen und dadurch erfüllte Meinung werden, nur eine solche kann sehend aussagen, daß und wie Seiendes selbst ist und dadurch direkt bewährte Meinung sein. Eben damit hat sie Recht, weil sie zugleich, die Recht hat, Richtigkeit in sich selbst als erfüllte hat und bei dem selbst ist, worauf sie hinaus wollte bzw. worauf der Erkennende in seinem Meinen hinaus wollte." (E.Ph., II, S. 398) Wesentlich ist, daß Selbsthabe vorangeht. „Ich muß schon über Rechtsgründe und über Richtigkeit geurteilt haben, um danach fragen zu können; ebenso wie ich, um zum Urteil zu kommen, erstmal gesehen, expliziert und prädiziert haben muß. Da ist
§ 1 5 : Intentionalität, Wahrheit, Enthüllung, Adäquation
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Selbsthabe das Vorangehende. Aber das nachkommende leere, ,sachferne' Meinen in seiner Unerfülltheit hat ein Manko." (E.Ph., I I , S. 330) Nach der Abwehr eines fundamentalen Mißverständnisses über Intention und Erfüllung sind wir nun in der Lage, Intention und Intentionalität, wie sie bei Husserl, durch alle Verdeckungen und MißVerständnisse hindurch als grundlegend erscheinen, herauszustellen. Bewußtsein-von- ist immer Bewußtsein-von-etwas, ist immer Intention als beim Seienden seiend, von dem es Bewußtsein ist, ohne sich dabei ausdrücklich auf dieses Seiende zu richten. „Ein Bewußtsein von etwas braucht nicht notwendig in sich die ausgezeichnete Form des Gerichtetseins auf dieses Was, auf seine Gegenständlichkeit zu haben." (PS, S. 90) Von diesem ursprünglichen Nicht-gerichtet-Sein läßt sich ein erstes Gerichtet-Sein der Intention unterscheiden, das noch kein aktives SichRichten ist. Um dies deutlich zu machen, können wir Husserls Charakterisierung der assoziativen Synthese verwenden, die er in einem etwas anderen Zusammenhang gebraucht. „Das Vorstellen ist nicht bloß überhaupt vorstellendes Bewußtsein von seinem Gegenstand, sondern in sich selbst auf seinen Gegenstand gerichtet. Diese Beschreibung hat nur insofern ihre Gefahr, als es sich nicht um diejenige sehr übliche Wortbedeutung von meinen, gerichtet sein, intendieren handelt, die sich auf das Ich und seinen Aktus bezieht, wobei das Ich, und in einem total anderen Sinn, Ausstrahlungspunkt einer Richtung, eines Sich-richtens auf den Gegenstand ist. Hier helfen wir uns, in Ermangelung brauchbarer Worte, mit dem Beisatz passiv, passive Intention." (PS, S. 76; Hervorhebung von mir) Von dieser passiven Intention läßt sich die mehr aktive Intention unterscheiden. Für gewöhnlich wird nur die aktive Intention als Intention angesehen, wobei man ihren Ursprung, die Affektion des Beim-SeiendenSein, vergißt. Die Gegenständlichkeit, von der das Bewußtsein Bewußtsein-von- ist, kann dieses affizieren. Das Ich reagiert mit der Zuwendung zum Affizierenden, das Bewußtsein nimmt die Form eines erfassenden Bewußtseins an, in dem der Ich-Blick auf das Gegenständliche gerichtet ist. Die Intention im prägnanten Sinn ergibt sich also aus derAffektion, die aller Intention vorhergeht und die von allem Seienden ausgehen kann, von dem das Ich Bewußtsein-von- ist. Mit Affektion meint Husserl den „bewußtseinsmäßigen Reiz, den eigentümlichen Zug, den ein bewußter Gegenstand auf das Ich übt — es ist ein Zug, der sich entspannt in der Zuwendung des Ich und von da sich fortsetzt im Streben nach selbstgebender, das gegenständliche Selbst immer mehr enthüllender Anschau-
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ung." (PS, S. 148 f.) Damit nimmt die Intention den Charakter einer Abzielung an, sie „hat nun die Form eines vom Ich ausgehenden Strebens, einer intentio, die das wahre Selbst intendiert." (PS, S. 85) Dieses Streben geht von dem aus, was es affiziert und auf es hin und strebt fort von Näherbestimmung zu Näherbestimmung. Es ist ein Streben, „das sich ausleben will in fortgehender Kenntnisnahme, in einer erfüllenden, fortgesetzt näher bestimmenden Selbsterfassung." (Ebda., S. 85) Diese Näherbestimmung hat den Charakter einer Enthüllung. Sie besteht nicht darin, eine „setzende" Intention, die fest vorgegeben wäre, mit Anschaulichkeit zu erfüllen, sondern diese Anschaulichkeit selbst herzustellen. (Vgl. PS, S. 20) Bewußtsein-von- als nicht gerichtetes Beim-Seienden-Sein, als in passiver Intentionalität in sich aufs Seiende gerichtet, als vom Seienden affiziert sich aktiv auf es richten, all das sind Modalitäten und Gradualitäten der Intentionalität, in denen diese immer gleichzeitig sich findet. Im Zusammenhang mit der hier dargelegten Charakteristik von Intention und Intentionalität erhält der Begriff der Adäquation einen neuen Gehalt. Der Terminus „adäquat" bezeichnet nun nicht mehr das Angemessensein einer Vormeinung an die Wirklichkeit oder umgekehrt, sondern die Fülle des selbstgegebenen Seins der Wirklichkeit. Das Selbstgegebene kann mehr oder weniger selbstgegeben sein und dabei ist es mehr oder weniger adäquat, das heißt es selbst. Die Adäquation der Intention fällt jetzt zusammen mit der Adäquatheit der Fülle, des Selbstgegebenseins des Wahrgenommenen. Das Enthüllte bleibt — und das ist wesentlich — jedoch bei aller Enthüllung verhüllt, alle Fülle bleibt durchsetzt mit Leere. „Der Verhüllungsgrad ist also auch als Grad der relativen Unbestimmtheit, der relativen Armut, Leere zu bezeichnen, die jede Selbstgebung durchsetzt. Sie ist immer unvollkommene Fülle, das ist Fülle, verdünnt durch Leere." (PS, S. 206) Alle Adäquation ist daher in sich Inadäquation, die nie ganz eingeholt werden kann, das Selbstgegebene erscheint nie ganz in seinem Selbst; und darum hören Affektion, Zuwendung, Abzielung, Enthüllung und Geriditet-sein nie auf. „Darum ist die Rede von Inadäquation, zu deren Sinn der Gedanke eines zufälligen Manko gehört, das ein höherer Intellekt überwinden könnte, eine unpassende, ja völlig verkehrte." (PS, S. 19) Jede „bloße" Intention, jede Leerintention, kommt schon vom Seienden her, entspringt der sie umfassenden vorgängigenVorbekanntheit alles Seienden; aber auch jede Intention als strebend-abzielende Enthüllung, die übrigens nie nur vereinzeltes Intendieren ist, behält die Form
§ 16: Evidenz, Adäquation, Apodiktizität
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immer neuer Näherbestimmung, bei der die vorgängige Bekanntheit nie ganz bekannt gemacht wird, immer unbekannt bleibt.
§ 16 Evidenz, Adäquation, Apodiktizität Es ist nun deutlich geworden, daß die Intentionalität die bleibende Form der Näherbestimmung und des Darüber-Hinaus hat. Damit werden wir vor neue Rätsel gestellt. Was ist denn nun das Selbstgegebene, das mir gegeben ist? Ist es „es selbst" oder noch etwas anderes als es selbst? Im Zusammenhang damit stellt sich die Frage: wenn ich mich nicht nur überhaupt täuschen kann, sondern auch über schon erreichte Evidenzen selbst, wie steht es dann überhaupt mit dem Prinzip aller Prinzipien, mit der Forderung nach ursprünglicher Selbstgegebenheit? Hat die Evidenz als Grundprinzip der Erfassung des konkreten Apriori überhaupt einen sich bewährenden Sinn? „Kann es nicht sein ( . . . ) , daß ( . . . ) die als Norm fungierende Selbstgebung auch wieder sich vernichtet und so das Wirkliche und das Unwirkliche immer nur ein Momentanes ist, etwas zum zufälligen Erfüllungsprozeß Gehöriges?" (PS, S. 109) Wie kommen wir in dieser Problematik weiter? Evidenz, so hatten wir gesehen, hat ihre Gradualität. Diese Gradualität verweist auf eine absolute Erschauung. Ohne diese könnten wir nicht von Selbst-Gebung, Selbst-Habe, Gradualität der Evidenz, Irrtum und Täuschung sprechen. An dieser Grundlage müssen und können wir festhalten, doch muß sie selbst zu größerer Klarheit gebracht werden. Das Streben nach absoluter Erschauung liegt im konkreten Apriori selbst, es ist nur möglich, weil das Seiende mir vorbekannt ist. Es ist wirklich als Streben, die Vorbekanntheit zur Wahrheit zu bringen. Nur weil es diese Vorbekanntheit gibt, gibt es Erkenntnisstreben, Unklarheit und Wahrheit. Dieses Erkenntnisstreben hat seinen Ursprung selbst in seiner möglichen Erfüllung. „Gäbe es nichts dergleichen wie echte Erschauungen, deren Echtheit wir selbst erfassen, uns ihrer — und wieder in Echtheit — erschauend versichern könnten, so wäre alles Erkenntnisstreben sinnlos. Warum strebe ich über meine ,blinden' Meinungen hinaus zu entsprechenden Erschauungen, warum glaubte ich dieser Normierung zu bedürfen, wenn nicht in der Überzeugung, daß der Weg der Erfahrung und Einsicht Weg zur Neugestaltung meiner Uberzeugungen im Sinn der Endgültigkeit wäre? Wahrheit besagt mir als Erkenntnisziel soviel wie endgültig Erkennbares, und ebenso jedwedes wahre Sein: Es ist endgültig Erfahrbares, Erschaubares, als Substrat von endgültig erschaubaren, prädikativen Wahrheiten. Woher kann ich solche
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§ 1 6 : Evidenz, Adäquation, Apodiktizität
Ideen schöpfen, es sei denn aus meinem eigenen (und dann, in weiterer Folge, aus unserem vergemeinschafteten) Erkenntnisleben? Daß eine Wahrheit an sich sei, bzw. ein an sich Seiendes, das ist ja selbst ein Urteil, und soll es nicht eine leere Meinung sein, so muß ich es aus Einsicht schöpfen. Wenn aber Einsicht, Erschauung jeder Art immer wieder Einsicht sozusagen auf Kündigung wäre, wenn jede schließlich doch modalisierbar wäre, jedes in ihr temporär als gewiß-seiend Erschaute hintennach doch durchstreichbar wäre, wenn ich keine Erschauung von einer besonderen
Art haben könnte, (als Einsicht) in ein (un)zerbrechliches Sein, das ich erschaute als ein für allemal unzerbrechlich, als apodiktisch,absolut' gegeben, als absolut unbezweifelbar, als absolute Norm für alle entsprechend gerichteten Meinungen — so hätte alle Rede von an sich gültiger Wahrheit und alles Wahrheitsstreben seinen Sinn verloren." (E. Ph., II S. 365 f.) Selbstgegebenheit und ihre Erschauung sind die Grundlage und Rechtsquelle jeder Erkenntnis. Dieses Prinzip ist und muß Ausgangspunkt bleiben. Doch dieses Prinzip sagt uns nicht, wann wir Selbstgegebenheit haben, noch dazu absolut unbezweifelbar. Dies kommentiert De Waelhens sehr treffend: „Die Erfahrung als Gegenwärtig-Sein eines ursprünglich Gegebenen schließt jeden Irrtum aus. Und das ex definitione, da das Seiende das ist, was sich dem Bewußtsein bekundet, und da sich das Bewußtsein darin erschöpft, dem Seienden gegenwärtig zu sein. Jedes Bestreiten dieser Definition fängt damit an, sie vorauszusetzen und macht sie somit unbestreitbar. Denn wenn ich sage, das Seiende bekundet sich nicht so, wie es ist, wenn ich die Gegenüberstellung von An-Sich und Phänomen wiederherstellen will, dann heißt das, daß dieses An-sich, da ich davon rede, auf eine ursprünglichere Erfahrung bezogen ist als diejenige des Phänomens, eine Erfahrung, in der es sich bekundet, wie es ist, im Gegensatz zu seiner phänomenalen Bekundung. Die Erfahrung als ursprüngliche Gegebenheit ist also absolut dem Zweifel entzogen. Aber es ist eine andere Frage zu entscheiden, in welchem Maße ein einzelnes Seiendes, Gegenstand einer Wahrnehmung, selbst gegeben sein kann und folglich evident wird." (De Waelhens: Phen. et Ver., S. 26) Betrachten wir genauer, was wir inzwischen als „Näherbestimmung" und als Fülle in der Leere herausgestellt haben, dann finden wir die Antwort auf unsere doppelte Frage. Sie liegt in der Inadäquation der Adäquation. Nur weil Evidenz auf weitere Evidenz und damit über sich selbst hinausweist, kann sie überhaupt als nicht ganz selbstgegebene Selbst-
§ 16: Evidenz, Adäquation, Apodiktizität
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Gegebenheit erfaßt werden. „Nur weil unvollkommene Erfahrung doch Erfahrung, doch Bewußtsein der Selbsthabe ist, kann Erfahrung sich nach Erfahrung richten und durch Erfahrung berichtigen." (FTL, S. 144) Jede selbsthabende Erfahrung weist über sich hinaus, ist Erwartung ihrer selbst. Zu Erwartungen gehört wesensmäßig, „daß sie, und unter allen Umständen, auch enttäuscht werden können." (PS, S. 211) Zu den Evidenzen gehört also, daß sie über sich hinausweisen, daß sie enttäuscht werden können, aber ebenso, und das ist sehr wichtig, daß sie nur durch neue Evidenzen ersetzt werden können. (Vgl. F T L , S. 139 f.) Nun stellt sich aber ein neues Problem. Wenn die Evidenz nie ganz adäquat ist, welche Sicherheit hat sie dann? Die Frage der Adäquation wird zur Frage nach der Gewißheit. „Wahrheit ist doch Endgültigkeit. Aber Selbsthabe, Erfahrung kann mit Erfahrung in Streit kommen, es kann Modalisierung eintreten. Kann das nicht in infinitum fortgehen, also niemals eine Endgültigkeit erreicht werden? Und wenn es eine solche geben sollte, wie davon wissen?" (PS, S. 102) In diesem Zusammenhang müssen wir Husserls Begriff der apodiktischen Evidenz sehen. „Die Rede von absoluter Sicherheit oder, was gleich gilt, absoluter Zweifellosigkeit bedarf der Klärung. ( . . . ) Jede Evidenz ist Selbsterfassung eines Seienden oder Soseienden in dem Modus ,es selbst' in völliger Gewißheit dieses Seins, die also jeden Zweifel ausschließt. Nicht schließt sie darum aus die Möglichkeit, daß das Evidente nachher zweifelhaft werden könnte, das Sein als Schein sich herausstellen könnte, wofür ja die sinnliche Erfahrung uns Beispiele liefert. Diese offene Möglichkeit des Zweifelhaftwerdens bzw. des möglichen Nichtseins trotz der Evidenz ist durch eine kritische Reflexion auf ihre Leistung auch jederzeit im voraus zu erkennen. Eine apodiktische Evidenz aber hat die ausgezeichnete Eigenheit, daß sie nicht bloß überhaupt Seinsgewißheit der in ihr evidenten Sachen oder Sachverhalte ist, sondern sich durch eine kritische Reflexion zugleich als schlechthinnige Unausdenkbarkeit des Nichtseins derselben enthüllt; daß sie also im voraus jeden vorstellbaren Zweifel als gegenstandslos ausschließt. Dabei ist die Evidenz jener kritischen Reflexion also auch die vom Sein dieser Unausdenkbarkeit des Nichtseins (des) in evidenter Gewißheit Vorliegenden abermals von dieser apodiktischen Dignität, und so in jeder kritischen Reflexion höherer Stufe." (Edmund Husserl: Cartesianisdie Meditationen und Pariser Vorträge, Husserliana I, Hsg. S. Strasser, Den Haag 1950, S. 55 f.; wir zitieren: CM) Die Apodiktizität einer Erkenntnis betrifft nicht deren gegebene Anschauung, sondern sie selbst als Erkenntnis, und zwar als reflektierte: denn
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§ 1 7 : Konkrete Einlösung der Forderung nach Evidenz
das „schlechthin mir nicht vorstellen können, daß es anders ist", was die Apodiktizität kennzeichnet, habe ich nur aus Reflexion. Die Apodiktizität kann durchaus eine Erkenntnis betreffen, deren Gegenstand einen sehr geringen Grad an Adäquatheit hat. Ja, wir können jetzt schon vermuten, daß gerade die apodiktischen Erkenntnisse solche mit einem Minimum an adäquater Gegebenheit sein werden. Die Einsicht ist dann zwar apodiktisch, aber ihr Gehalt ist nicht adäquat. Dies steht übrigens im Gegensatz zu früheren Auffassungen Husserls in den „Ideen I" und der „Ersten Philosophie": „Noch eines ist hier zu bemerken als Charakteristikum einer adäquaten Evidenz: Es tritt hervor in der Probe des Durchgangs durch Negation oder Zweifel. Versuche ich, eine adäquate Evidenz zu negieren oder als zweifelhaft anzusetzen, so springt, und wieder in adäquater Evidenz, die Unmöglichkeit des Nichtseins oder des Zweifelhaftseins des Evidenten, des aus absoluter Selbstgebung Erfaßten hervor. Wir können diese Eigenheit adäquater Evidenz auch als ihre Apodiktizität bezeichnen. Offenbar ist umgekehrt jede apodiktische Evidenz adäquat. Wir können daher beide Ausdrücke als äquivalente gebrauchen und insbesondere den einen oder (den) anderen bevorzugen, je nachdem wie eben auf die Adäquation oder (auf) die Apodiktizität Wert legen." (E. Ph., II, S. 35) Worauf aber sind wir nun aus, worauf müssen wir aus sein, wenn wir Evidenz wollen? Angesichts der dargelegten Evidenz-Problematik bricht Husserl an einer Stelle in einen wahren Verzweiflungsschrei aus. „Erkenntnis geht auf Sein oder Sosein irgendwelcher Erkenntnisgegenstände. Müssen Erkenntnisse apodiktisch sein für Sein und Sosein, damit wir sollen rechtmäßig aussagen dürfen, daß sie sind und so sind? Oder: Müssen alle wahrhaft seienden Gegenstände, alle Gegenstände möglicher Wissenschaft, apodiktisch erfahrbar und demnach auch so erkennbar sein? Und nun gar adäquat! Selbst das Ich-denke ist, wenn auch apodiktisch erkennbar - nämlich als Erfahrung jederzeit auf die Gestalt einer apodiktischen Seinssetzung zu bringen -, nicht adäquat erkennbar." (E. Ph., II, S. 396 f.)
§ 17 Konkreter Gang zur Einlösung der Forderung nach Evidenz Wir dürfen das Prinzip aller Prinzipien, daß die Selbstgebung die Rechtsquelle aller Erkenntnis ist, nicht aufgeben. Wie können wir ihm folgen? Wir haben gesehen, daß alle Selbstgebung über sidi hinausweist,
§ 1 7 : Konkrete Einlösung der Forderung nadi Evidenz
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Näherbestimmung bleibt. Können wir nicht die Inadäquation der Näherbestimmung auffangen in der Apodiktizität des näher zu Bestimmenden? Wir sind in der Problematik der Evidenz, der Selbstgegebenheit an einem Punkt angekommen, an dem wir versuchen müssen, mit Husserl auf konkrete Weise die Forderungen der Evidenz einzulösen. Mit anderen Worten: wir müssen nach einem apodiktisch Selbstgegebenen suchen, nach einem Selbstgegebenen, das dasjenige ist, das in Apodiktizität näher bestimmt werden kann. Wir sudien jetzt nicht nach dem Wesen von Evidenz und Wahrheit, sondern nach einer konkreten apodiktischen Evidenz, die mit sich selbst adäquat ist. Dazu fragen wir noch einmal: Wie und wann erfahren wir Evidenz? Evidenz muß in einer gegewärtigen Wahrnehmung gegeben sein. „Wahrnehmen ist", für Husserl, „eine Bewußtseinsweise, in welcher das darin Bewußtesidi als es selbst zeigt. Es zeigt,sich', als ob es riefe ,idx bin selbst da' originaliter, ganz unmittelbar es selbst, also Sichselbst-Zeigen ist nicht allererst ein sich Bezeugen, wenn das Wort, das auf ein direktes Bekunden durch irgendwelche ,Zeugen' verweist, überhaupt hier angebracht ist. Uberhaupt Wahrnehmen ist wahrnehmend bei etwas selbst sein, hat aber audi im Korrelat des ,es selbst' auch das ,Dasein' des Wahrgenommenen; wahrnehmend bin ich des Wahrgenommenen als Seienden - gewiß - als es selbst wirklich da und gegeben ist. Wahrnehmung als Bewußtsein von der ,Sache selbst'." (Manuskript C 7 II, S. 12) Haben wir dann nicht Apodiktizität, die mit sich selbst adäquat ist, wenn der Wahrnehmung „das angeschaute Objekt selbst wahr und wirklich einwohnt", und zwar so, daß das Wahrgenommene keinen Rest von zu erfüllender Intention mehr hat? Der Frage liegt eine Auffassung zugrunde, die Husserl in den „Logischen Untersuchungen" und in den „Ideen I " vertritt. (Vgl. Ideen I, S. 100 ff.) Das Wahrgenommene ist der Wahrnehmung immanent, sofern diese „ihren Gegenständen nichts zudeutet, was nicht im Wahrnehmungserlebnis selbst anschaulich vorgestellt und reell gegeben ist." (LU, I I / l , S. 354) Können wir von dieser Auffassung aus weiterkommen? Wie hat sich Husserl später dazu gestellt? Wir werden einiges wiederholen, was wir schon bei der Frage nach der Intentionalität und der Evidenz allgemein gesehen hatten. Indem wir aber den Weg der Evidenz konkret erforschen, werden wir weitergeführt. Wir fragen also: Wie können wir ein Wahrgenommenes ohne Rest von Intention erreichen, wie können wir eine adäquate und apodiktisdie Wahrnehmung erlangen, das heißt eine solche, in deren Seinsgewißheit nichts aufgenommen wird, was nicht 6 Brand,
Lebenswelt
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§ 1 8 : Horizonthaftigkeit der Erfahrung
wirklich und eigentlich wahrgenommen ist? Dies geht doch anscheinend nur, wenn wir alles außer Geltung setzen, was über die aktuelle Wahrnehmung hinausgeht, und das Wahrgenommene rein, wie es wahrgenommen ist, nehmen. Es scheint also zunächst, daß etwas zur Evidenz bringen bedeutet, ein einzelnes Objekt zum ausschließlichen Thema zu machen. Uns interessiert jetzt nichts anderes als nur die Sache selbst, bei der wir sind, und alles, was nicht zur Sache gehört, schalten wir aus. Folgen wir hier nicht offensichtlich der Losung „zu den Sachen selbst"? Die Sache selbst, sie und nur sie evident gegeben, ist das nicht das konkrete Apriori? Wäre die Befreiung des Apriori aus seiner Vorgängigkeit nichts anderes als Rückgang auf das Einzelne und, um dieses Einzelne wirklich in seiner Selbstgegebenheit zu erfassen, Enthaltung von allem übrigen, von der ganzen Welt? Indem wir diesen Rückgang ernstlich vollziehen, das Einzelne rein als Einzelnes in Geltung setzen wollen, erkennen wir aber auch dessen Unmöglichkeit. Gleich am Anfang hebt sich unser Vorhaben von selbst auf, denn wir müssen feststellen: es gibt keine Erfahrung, keine Wahrnehmung, die wirklich einzelnes Reales gäbe. Das ist eine erstaunliche Feststellung, die für die Phänomenologie von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist und von Husserl immer wieder unterstrichen wird. „Es ist paradox und doch zweifellos, daß es keine Erfahrung im erstlich-schlichten Sinne einer Dingerfahrung gibt, die erstmalig dieses Dingerfassen, in Kenntnis nehmend, nicht von ihm schon mehr ,weiß' als dabei zur Erkenntnis kommt." (Manuskript A V I I 8, S. 2)
^ 18 Horizonthaftigkeit
der
Erfahrung
Was bedeutet dieses „Vor-Wissen" ? Jede Erfahrung, was immer sie zu Gesicht bekommt, enthält ein Mit- und Vorwissen dessen, was dem Erfahren selbst zugehört, ohne es dabei schon zu Gesicht zu bekommen. „Bewußtseinsmäßig endet das Wahrgenommene nicht da, wo das Wahrnehmen sein Ende hat." (E. Ph., II, S. 147) Jede Erfahrung hat ihren Erfahrungshorizont, und dieser E r fahrungshorizont gehört zu ihrem „selbst d a " . „Wahrnehmung, ganz allgemein gesprochen, ist Originalbewußtsein. Aber in der äußeren Wahrnehmung haben wir den merkwürdigen Zwiespalt, daß das Originalbewußtsein nur möglich ist in der Form eines wirklich und eigentlich original Bewußthabens von Seiten und eines Mitbewußthabens von anderen
§ 1 8 : Horizonthaftigkeit der Erfahrung
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Seiten, die eben nicht original da sind. Ich sage mitbewußt, denn auch die unsichtigen Seiten sind doch für das Bewußtsein irgendwie da, .mitgemeint' als mitgegenwärtig." (PS, S. 4) Weil Vorwissen zu seinem Selbst-da gehört, weist das Wahrgenommene als Wahrgenommenes, das heißt als Gegebenes, auf die Ver-möglichkeiten des Ich hin, es schrittweise zu explizieren und weiter neue Bestimmungen von ihm zu gewinnen. „Das Wahrgenommene in seiner Erscheinungsweise ist, was es ist, in jedem Momente des Wahrnehmen s, (als) ein System von Verweisen, mit einem Erscheinungskern, an dem sie ihren Anhalt haben, und in diesen Verweisen ruft es uns gewissermaßen zu: Es gibt hier noch Weiteres zu sehen, dreh mich doch nach allen Seiten, durchlaufe mich dabei mit dem Blick, tritt näher heran, öffne mich, zerteile mich." (PS, S. 5) Das Gegebene selbst weist in seiner Gegebenheit auf das, was das Ich von ihm auszulegen vermag. Die Verweisungen sind Beziehungen, Hinweistendenzen, die das Ich zu den nicht gegebenen Mannigfaltigkeiten forttreiben, die das eigentlich Gegebene durchsetzen und umflechten. Das Gegebene als solches verweist auf diese Ich-Vermöglichkeiten, so zwar, daß es auf sie sozusagen angewiesen ist, daß es ohne sie gar nicht diese „Sache" wäre. „Jede Wahrnehmung in sich betrachtet ist also eine Selbsterschauung, die zugleich Vormeinung und Vorweisung ist, Vorweisung auf mannigfaltige und, wie man sofort sieht, systematisch zusammengehörige mögliche Wahrnehmungen." (Phän. Psych., S. 437) Versuchen wir zum Beispiel auf die „reine Wahrnehmung" eines Gegenstandes zu reduzieren, so sagen wir: wir sehen jetzt nur eine Seite des Gegenstandes. Aber das heißt doch, daß wir sie in ihrem „Horizont" wahrnehmen, eben als Seite des Gegenstandes; wir sehen nicht nur eine Seite, sondern „von" dem Gegenstand eine Seite, und der ganze Gegenstand wiederum hat seinen weiteren Horizont. „Da ( . . . ) die Wahrnehmung doch prätendiert, den Gegenstand leibhaft zu geben, so prätendiert sie in der Tat beständig mehr, als sie ihrem eigenen Wesen nach leisten kann. In eigentümlicher Weise ist jede Wahrnehmungsgegebenheit ein beständiges Gemisch von Bekanntheit und Unbekanntheit, die auf neue mögliche Wahrnehmung verweist, die zur Bekanntheit bringen würde." (PS, S. 11) Wirklich geradehin selbstgegeben ist uns jeweils der Gegenstand, der unser Thema ist (ob eine „Seite" oder ein Ding oder ein Sachverhalt ist gleich) mit einem noch eingewickelten, eventuell unentfaltenen Seinssinn. Der Seinssinn, in dem der Gegenstand allein Thema ist, ist sein Horizont. Dieser kann unbestimmt oder unvollkommen bestimmt sein, 6»
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§ 1 8 : Horizonthaftigkeit der Erfahrung
aber er gehört immer unmittelbar zum „selbst da" des geradehin Gegebenen. Jedes Gegebene führt als Gegebenes ein plus ultra mit sich als seinen Horizont. Husserl unterscheidet zwischen einem Innen- und einem Außenhorizont. Die Potentialitäten des unentfaltenen Seinssinnes explizieren, das ist den „Innenhorizont" des Gegebenen auslegen, weiter und weiter neue Bestimmungen gewinnend. Dabei ist keine Bestimmung je die letzte, sondern der Horizont bleibt immer offen als mögliche Erfahrung von neuen Bestimmungen desselben, die eben als Horizont schon immer mitgelten. Wenn audi der Horizont immer offen bleibt und so also der Seinssinn des Gegebenen nie definitiv, sondern eben nur als Horizont gegeben ist, in dem das Gegebene sich hält, so hat er doch die Struktur einer gewissen Bestimmtheit. Die Auslegung des Horizonts ist keine einfache Aneinanderreihung einer Anzahl von Bestimmungen, sondern geschieht schrittweise und vorgezeichnet von der Bestimmtheitsstruktur des Gegebenen und seines Horizontes selbst. Das nimmt der Auslegung die volle Unbestimmtheit und macht sie zum Spielraum disjunktiver Möglichkeiten. „Ich habe den Horizont als Vor-wurf der Möglichkeiten ((des Wahrgenommenen)), der möglichen Geltungen und der eine Einheit der Einstimmigkeit in sich tragenden". (Manuskript C 1 3 I, S. 23) Zu dem eben beschriebenen Horizont, dem Innenhorizont als Potentialität des unentfalteten, aber nicht unbestimmten Seinssinnes gehört ein Horizont zweiten Sinnes, ein offener, endloser „Außenhorizont" von Mit-Objekten. Husserl unterscheidet also von dem „Innen"-Horizont, der den konkreten Gegenstand in seiner Substratsstruktur, in seinem Sosein betrifft einen „Außen"-Horizont, der alles Mitgemeinte enthält. Es handelt sich nicht eigentlich um zwei unabhängige Horizonte, sondern vielmehr um eine doppelte Horizonthaftigkeit; denn der Horizont zweiter Stufe ist bezogen auf den Horizont erster Stufe, die Möglichkeiten meiner Auslegung implizierend. Jede Gegenständlichkeit hat ihren eigenen Innen- und Außenhorizont. Wenn wir in sie eindringen, bemerken wir, daß die Horizonte der verschiedenen Gegenständlidikeiten sich implizieren und fundieren, in immer komplizierteren Verflechtungen, die letzten Endes einen Totalhorizont darstellen. Die Horizonthaftigkeit selbst hat sozusagen ihren Horizont, der aber Totalhorizont ist. Husserl nennt ihn „Welt". Betrachten wir ζ. B. irgendein Ding, so sehen wir, wie Husserl sagt, daß es „in seinen eigenwesentlichen Beschaffenheiten (seinen inneren Eigenschaften) doch schließlich liegt, daß sie an dieser Stelle seiend sind
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als kausale, als durch die realen außer ihnen (ihren Umständen) kausal bestimmt. ((Der Zusammenhang der Kausalitäten ist nur eine der Arten horizonthafter Verweisung)). Man merkt also, daß das Für-sich-sein eines Objekts als aus Erfahrung geltendes notwendig in Mitgeltung hat die Welt außer ihm, daß also wie die Totalerfahrung, in welcher Welt als Totalität erfahren ist, die Geltung der einzelnen weltlichen Objekte einschließt in die Totalgeltung, so auch umgekehrt, nur in anderer Weise, jede einzelne Erfahrungsgeltung die totale einschließt. Auf dem beständigen Grunde der Totalgeltung ist allein eingeschränkte Erfahrung, Sondererfahrung als heraushebende, eventuell herausabstrahierende, denkbar." (Manuskript C7,11, S. 14; vgl. K, S. 165) Wenn wir also auch nur mit einem Objekt beschäftigt sind, sei es in praktischem oder theoretischem Tun, so ist doch immer schon in Mitgeltung die Welttotalität. Horizonthaftigkeit ist Welthaftigkeit. „Die Horizonthaftigkeit eignet allem, was ich als wirklich Erfahrenes, als wirklich Erfaßtes und zu Erfassendes in Anspruch nehmen kann. Alles hat seinen inneren und äußeren Horizont, als Potentialität, daß es als Mitseiendes, Mitgeltendes zur erfahrenden Auffassung gebracht werden könnte. Befragung der Horizontmeinung in Hinsicht auf das allgemeinste zielt auf das Formal-Allgemeine dieser Welt als jeweiliger Erfahrungswelt für mich überhaupt, als wie ich sie also jetzt finde und immer wieder gefunden habe und finden werde, bzw. finden kann." (Manuskript C7,11, S. 6) Damit tritt Welt zum ersten Mal in Erscheinung als das, wovon ich Bewußtsein-von-bin, als das ursprünglich Gegebene, auf das ich durch alles einzelne immer gerichtet bin. Aber was ist das, die Welt? Wir fragen jetzt nicht von vornherein nach der Lebenswelt als solcher. Dieser Begriff hat sich bei Husserl ja erst später herauskristallisiert. Hier gehen wir in der bereits vorgegebenen Richtung weiter. Ob die Welt, wie wir sie jetzt entdecken, die „Lebenswelt" ist, wie sich der nun weiter zu behandelnde Begriff von Welt zu dem von Lebenswelt ausweitet, welcher Zusammenhang zwischen beiden besteht, werden wir später zu prüfen haben. Machen wir die Welt nun zum Thema, so kommen wir zuerst und ganz „natürlich" zu der Auffassung, Welt sei die Totalität der Realitäten. Aber ist sie das wirklich? Woher wollen wir überhaupt von dieser Totalität ernstlich wissen? Welt nämlich ist uns als Totalität der Realitäten nie gegeben. Nie überfliegen wir die Totalität allen zeitlichen und räumlichen Seins, ja, dieses Uberfliegen hat nicht einmal einen Sinn. Und
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wie steht es mit der Einheit dieser Welt als All des Seienden? Sie wäre nur diejenige einer Zusammenlegung, die das Zusammengelegte weder verbindet noch bestimmt. Welt hat sich uns aber schon gemeldet in der bestimmenden Einheit des beständigen Grundes der Totalgeltung, auf dem allein die eingeschränkte Erfahrung möglich ist. Wenn wir die Welt als All, als Totalität der Realitäten auffassen, begreifen wir sie nicht. Wir stellen fest, daß der „erste" und „natürliche" Begriff der Welt diese nicht begreift, ja überhaupt zu vage ist, um irgend etwas von ihr zu erhellen. Deshalb müssen wir hinter diesen natürlichen Begriff zurückgehen: Wie ist Welt uns ursprünglich gegeben und somit, was ist sie? In diesem Rüdkgang müssen wir einsetzen bei der Entdeckung der Welt; das heißt wir müssen fragen, wie hat sich Welt uns zuallererst entdeckt, um dann dieser Ent-deckung nachzugehen. Die Welt hat sich gemeldet in der Horizonthaftigkeit des Seienden. Das einzelne ist uns nie „definitiv" gegeben. Es ist nur mit seinem Horizont, welcher, soweit wir ihn auch auslegen, immer und ständig offen bleibt. Und die Welt hat teil an dieser endlosen Offenheit, denn wenn wir in einen Horizont hinein gehen, dann legen wir ja auch die Welt aus, ist doch das einzelne in seiner Horizonthaftigkeit gerade Weltausschnitt. Jedes Seiende ist uns gegeben in einer kontinuierlichen Synthese von Horizonten, und zwar in einer nie vollendeten. So liegt es nahe, die Welt zu begreifen als dem Einzelnen Boden und Sinn verleihend als Präsumption einer vollendeten Synthesis der Horizonte. Auch dieser Begriff läßt sich nicht aufrecht erhalten, denn das Einzelne ist in seiner Horizonthaftigkeit auf die Welt als auf seinen „TotalHorizont" bezogen. Dieser Totalhorizont liegt nicht auf derselben Ebene wie die Horizonte; wäre das der Fall, dann gäbe es „Welt" überhaupt nicht, sondern nur eine Unendlichkeit von in unendlicher Offenheit auszulegenden Horizonten. Mithin müssen wir sagen, daß die Idee (im kantischen Sinne) der Welt als eines unendlichen Horizontes diese in ihrem Sein nicht besser erfaßt als der Begriff „All des Seienden" es tut. Jedes Seiende ist welthaftig einerseits, indem es sich in der Offenheit seiner Horizonte hält, ohne daß die kontinuierlich sich selbst übersteigende Synthesis der Auslegung seiner Horizonte je vollendet wäre, aber andererseits hat es seinen Seinssinn nicht erst in der Präsumption der Vollendung dieser Synthese, sondern es hat immer schon seine Bestimmtheitsstruktur und seinen Seinsinn und das gerade als welthaftes, auf dem Geltungsboden der Welt. Welt ist das, woraufhin jedes Seiende verweist, worausher es sich versteht. Wir finden also, daß der Total-
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Horizont „Welt" allen anderen Horizonten vor-gegeben und über sie hinaus ist. Er darf deswegen nicht als das „Ende" der unendlichen horizontalen Offenheit des Seienden, sondern muß als ihr Grund und Anfang angesehen werden, als das, worin es sich befindet und woraus es seinen Sinn hat. „Die Weltvorstellung ist nicht eine Vorstellung unter meinen Vorstellungen. Es ist eine universale Bewegung und Synthese in der Bewegung aller meiner Vorstellungen derart, daß all ihr Vorgestelltes zusammengeht zur Einheit einer Welt als einander geltendes, das Korrelat der immerzu werdend gewordenen Einheit aller meiner Vorstellungen." (Manuskript Κ III 6, S. 111) Die Welt läßt sich nicht in derselben Richtung wie die Horizonte finden, sie ist über die Horizonte hinaus als Boden und Ziel. Diese Eigenheit der Welt bezeichnet Husserl mit dem Wort „Transzendenz". „Die Transzendenz ((der Welt)), die hier gemeint ist, liegt nicht in der bloßen Einseitigkeit, in der Unvollkommenheit perspektivischer Darstellung und offenen Horizonthaftigkeit überhaupt." (Manuskript C 17 II, S. 7) Husserl, wenn er „Welt" sagt, meint nicht die offene Horizonthaftigkeit überhaupt, sondern einen Totalhorizont, der allen Horizonten transzendent ist. Die Welt ist Boden alles Seienden und Ziel aller Gerichtetheit des Ich. Sie ist das ursprünglich Vorgegebene, das alles Gegebene transzendiert, über alles einzelne Gegebene hinaus ist, und ineins damit ist sie als solche auf das Ich verwiesen. Das konkrete Apriori hat sich inzwischen präzisiert in seiner Ausdehnung: es ist die Welt selbst. Ebenso zeigt sich im konkreten Apriori die Verwiesenheit der Welt auf das Ich. Die Ich-Verwiesenheit gehört selbst zum konkreten Apriori. Die Struktur des Apriori ist von vornherein die einer Dualität, wie immer man diese auch fassen mag: Erkanntes und Erkennender, Erfahrenes und Erfahrender, Verstandenes und Verstehender, Erlebtes und Lebender etc. Das materiale oder konkrete Apriori umfaßt diese Dualität als gegebene Verwiesenheit. Das Seiende in seiner Horizonthaftigkeit verweist von sich aus in seiner Gegebenheit auf die Vermöglichkeit des Ich, es auszulegen. Das gehört zu seinem gegebenen Seinssinn. Und zu seinem Seinssinn gehört die Weltgeltung, die also gleichfalls auf eine Vermöglichkeit des Ich verweist. Das Ich „hat" die Welt als Boden für alles Seiende, und diese Habe ist ein „Ich-kann". In der Welt-Habe sagen wir: Ich kann das und das verstehen und zwar so und so, ich kann es immer weiter bestimmen, eventuell erscheinen Unstimmigkeiten, aber in der Einheit der Welt
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§ 1 8 : Horizonthaftigkeit der Erfahrung
kann ich meine Erfahrungen zur Einstimmigkeit bringen. „Welt bezeichnet ein Vermögen, systematisch erfahren und auf Wegen des Erfahrens identisch Seinssinn bewähren zu können, dabei Unstimmiges ausscheiden, statt dessen das Richtige einfügen." (Manuskript A V 3, S. 13) Daß wir die Welt haben als ein „Ich-kann" erweist sich im Tun, im Betätigen des Vermögens. Wenn Husserl die Welt ein Vermögen des Ich nennt, dann ist damit keine Betätigungsmöglichkeit eines an- und für-sich seienden Ich gemeint, daß diese fakultativ oder auch nicht vollziehen könnte. Das Ich vermag nicht anders zu sein als in der Welt. Das Ich ist damit als solches Vermöglichkeit des In-der-Welt-Seins. Das Ich hat immer schon sein Vermögen betätigt, immer schon eingelassen in die Bewegung der Erfahrung, ist es immer schon im Tun des Ich-kann, in dem es kontinuierlich die Horizonte auslegt und dabei kontinuierlich seine Auslegung übersteigt, sie immerzu offenhaltend. Sich einlassend in die Bewegung des kontinuierlichen Überstiegs der Horizonte ist das Ich aber nicht nur gerichtet auf die einzelnen Erscheinungen in dieser Bewegung, sondern auf die in ihnen vorgegebene und sie bestimmende Einheit, die Welt, als Boden der Vertrautheit. Legen wir Seiendes aus, das heißt verstehen wir es, und wir sind immer schon im Verstehen von Seiendem, so legen wir zugleich auch die Welt aus, auf deren Geltungsboden allein es ist. In der Bewegung, in der das Ich die Welt als den Horizonten transzendent erfährt, als das, worausher und woraufhin es das Seiende und sich selbst versteht, zeigt sich uns ein tieferer Sinn von „Transzendenz" an. Es bedeutet nicht schlechthin, daß die Welt „über" den Horizonten und „über" dem Ich steht, sondern, da sie ja zugleich „Vermögen" des Ich ist, daß das Ich kontinuierlich sich selbst auf die Welt hin übersteigt. Transzendenz ist Boden, Bewegung und Ziel zugleich des welt-habenden und in-der-Welt-seienden Ich. So sind wir in unserer Erfahrung immerfort auf dem Wege zur Welt, und wir können auch sagen: „Das Sein der Welt ist immerfort auf dem Weg" (Manuskript Κ III 6, S. 232) als selbst der Weg seiend, auf dem alles weltliche Sein zu seiner Ausgelegtheit, seiner Bestimmung, seiner Begrifflichkeit kommt. Als „In-begriff" aller Erfahrung ist Welt gewissermaßen der „Weltbegriff", der jedes Sein in seiner BegrifFlichkeit bestimmt. Jedes Sein „untersteht dem Weltbegriff, dem Weltgesetz, das nicht Begriff von irgendeinem oder von jedem Ding ist, kein Allgemeinbegriff, sondern ein 'Begriff' in einem neuen Sinn, der als universale
§ 19: Welt und Evidenz
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Regel das Sein aller Dinge in ihrer Begrifflichkeit, also in ihrer Sondergestalt regelt." (Manuskript Κ III 6, S. 226). Die Welt ist uns gegeben als Welthaftigkeit, oder Weltbegriff, oder Weltgesetz, nicht also als ein Seiendes, sondern als das, worin und woraufhin alles Seiende verstanden wird, und als solche ist sie für das Seiende „bodengebend". Was bedeutet dieses eigentümliche Sein der Welt als Transzendenz, als Boden und Bewegung zugleich des Ich, als „Vermögen" des Ich? Welt meldet sich als „boden-gebende" in der Spannung zwischen der Gegebenheit und der Mitgemeinheit. In dieser Spannung, in der das Gegebene als Gegebenes selbst welthaft ist, verweist es wesentlich auf seine vermögliche Auslegbarkeit vom Ich, das welterfahrendes ist. Eine systematische Betrachtung dieser Spannung, das heißt des Horizontbewußtseins zeigt uns einmal, daß es zu jedem realen und idealen für uns seienden Gegenstand gehört. Und weiter zeigt es uns, „daß für uns in jedem Moment und in der Alleinheit unseres subjektiven Lebens ein universaler Geltungshorizont besteht, dessen intentionale Aufwicklung zur verflochtenen Einheit aller Gegenständlichkeiten führt, die für uns als real und ideal Weltliches in eins gelten." (E. Ph., II, S. 318) Das Seiende und die Welt verweisen wohlgemerkt nicht auf ein Idi-Subjekt. Das Ich ist kein Subjekt, das als Subjekt - und vielleicht gar obendrein noch als Subjekt reinen Bewußtseins - einer Welt gegenübersteht, sondern Welt und Ich sind verwoben in einem in-der-Weltseienden Ich, das Husserl „welterfahrendes Leben" nennt.
§19
Welt
und
Evidenz
Die Frage nach dem konkreten Apriori, „der Sache selbst", nach dem Selbstgegebenen, und dem Sich-an-ihm-selbst-Zeigenden hat uns über die Wesenschau, die Wahrheit, die Evidenz und die Intentionalität zur Welt geführt, zum vorgängigen Zusammenhang, zur Verschränkung von Welt und Ich. Nun können wir die zunächst merkwürdige Eigenart der Evidenz verstehen, die als adäquate nie ganz adäquat ist, weil alles Einzelne sich nie ganz ausweist und über sich hinausweist. Wir verstehen nun, daß und wie die Evidenz eine universale teleologische Struktur hat, wie es Husserl einmal ausdrückt (vgl. FTL, S. 143), das heißt, daß die Gegenwärtigkeit
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§ 1 9 : Welt und Evidenz
eines Einzelnen nie dessen ganze Selbstgegebenheit ist, oder daß es seine Selbstgegebenheit eben darin hat, daß es über sich hinausweist. Und wir verstehen den Doppelcharakter der Intentionalität, die Schon-beim-Seienden-Sein und Gerichtet-Sein ist, vom Seienden kommend ständig auf Erfüllung aus. Wir sehen auch, daß kein Einzelnes apodiktisch erkannt werden kann, sondern daß die einzige apodiktische Erkenntnis, die wir haben, diejenige über das welterfahrende Leben, über das Ich-in-der-Welt ist. Die Lösung des Problems der Wahrheit und der Evidenz liegt in der Welt. „,Derc Welt entspricht für uns die universale Synthesis zusammenstimmender intentionaler Synthesen, zu ihr gehörig eine universale Glaubensgewißheit. Aber wie schon erwähnt, es gibt da und dort Brüche, Unstimmigkeiten, mancher Partialglaube wird durchgestrichen, wird zu Unglauben, mancher Zweifel erwächst und bleibt streckenweise ungelöst u. dgl. Aber schließlich gehört zu jedem Unglauben ein positiver Glaube neuen sachlichen Sinnes, zu jedem Zweifel eine sachliche Lösung, und wenn nun die Welt nach manchem einzelnen einen geänderten Sinn enthält, so geht durch die sukzessive Folge der universalen Weltmeinungen trotz solcher Änderungen eine Einheit der Synthese — es ist dieselbe eine fortdauernde Welt, nur, wie wir sagen, im einzelnen korrigiert, von falschen Auffassungen', wie es dann heißt, befreit — an sich dieselbe." (PS, S.101) Die Apodiktizität kommt der Welt, dem weiterfahrenden Leben zu, das sich selbst erfährt, und zwar als solches. Diese Apodiktizität kann nicht adäquat sein. Keine Apodiktizität von reflektierten Erkenntnissen ist von sich aus apodiktisch, sondern hat nur Teil an dieser einen und einzigen Apodiktizität. Die Welt in ihrer Apodiktizität ist das einzige, das wahr ist. Auf dem umfassenden Boden der Wahrheit der Welt erhält alle Evidenz, alle Selbstgebung und ihre Erfassung nun ihren eigentlichen Charakter und ihren ausdrücklichen Namen. Er ist nicht der der Wahrheit, sondern der Bewahrheitung. „Jede Bewahrheitung ist ein zutage, zur Klarheit der Selbstgebung Bringen eines Verborgenen. Wenn Selbstgebungen ihrerseits wieder Bewahrheiten zulassen und das freie Ich sie tätig fordert und anstrebt, so liegt darin, wie wir wissen, daß auch eine Selbstgebung allgemein ihre Verborgenheiten hat; daß ans Licht der Klarheit, nämlich in Form neuer Selbstgebungen,, gebracht werden kann, was in ihr noch in leerer oder verhüllter Weise gelegen ist. Wir wissen ferner, daß die Bewährung sich in zwei wesensmäßig aufeinander bezo-
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genen Typen, einer positiven und negativen, abspielen kann, der einstimmig bewahrheitenden und der entwahrheitenden." (PS, S. 201) Hier ist zu unterstreichen, daß für Husserl die Idee der reinen Selbstgebung eine Konstruktion ist und daß die Apodiktizität selbst nur relativ ist. Der Weg der Bewahrheitung ist ein doppelter: Ausbreitung der Selbstgebung, die ja immer über sich hinausweist, und Approximation der schon gewonnenen Selbstgebungen an ihren Limes, an die Idee der absoluten Klarheit und Selbstgebung. (Vgl. PS, S. 202 f.) Die Idee der reinen Selbstgebung, der reinen Ausweisung ist also eine Konstruktion, aber eine solche, die der tragende Grund für alle möglichen Erkenntnisse in der Welt ist, sie ist die Idee der Wahrheit, die ich konkret nur in Bewahrheitung erreichen kann. (Vgl. PS, S. 432) Die Apodiktizität, die der Bewahrheitung zukommt, ist eine relative, sie bezieht sich auf die Apodiktizität der Welt, des Welterfahrens. So kommt Husserl zu der auf den ersten Blick widerspruchsvoll anmutenden Bezeichnung: „relative Apodiktizität". (Vgl. E. Ph., II, S. 406) Der skizzierte Zusammenhang des Begriffspaares Intention und Erfüllung als Zusammenhang von Selbstgebung, Bewahrheitung, relativer Apodiktizität und Welt eröffnet uns ein vertieftes Verständnis, in das wir am Leitfaden der Bewahrheitung eindringen können. Wir müssen jetzt fragen: wie sind wir, immer schon in der Wahrheit seiend, auf dem Weg zur Wahrheit, wie vollzieht sich Bewahrheitung, was stiftet sie? Wie kann die unumstößliche, gelebte Gewißheit der Welt aus ihrer Vorbekanntheit zur artikulierten Bekanntheit gebracht werden? „Wie ist die naive Selbstverständlichkeit der Weltgewißheit, in der wir leben", so drückt es Husserl aus, „zu einer Verständlichkeit zu bringen?" (K, S. 99) Die apodiktische Evidenz der Welt ist als solche eine Evidenz der Notwendigkeit. Von hier aus erhalten wir auch einen neuen Einblick in den Begriff der Notwendigkeit, die als positive Einsicht der Unmöglichkeit ihres Gegenteils bewußt ist. Wenn es eine Einsicht gibt, auf die ich immer wieder zurückkommen kann und die alles andere umfaßt, die jeder anderen Einsicht zugrunde liegt, einer Einsicht in etwas, das immer da ist, nicht als Einzelnes, sondern als Grund und Boden, dann ist diese Einsicht eine einsichtig notwendige, eine positiv notwendige. Positiv, einsichtig notwendig ist diese Einsicht deshalb, weil sie ihren zwingenden Charakter nicht aus der Reflexion über die Unmöglichkeit ihres
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§ 20: Erfassung des konkreten Apriori
Gegenteils erhält, sondern weil ich immer wieder auf sie als die alles umfassende zurückkommen kann. Damit ist die Notwendigkeit kein negativer Begriff mehr. Sie ist aus ihrer „Blindheit" herausgeholt als die alles umfassende Einsicht, auf die ich jederzeit zurückkommen kann, und zwar als auf eine allumfassende. Somit haben wir mehr als nur einen neuen Einblick in den Begriff der Notwendigkeit. Wir haben einen neuen Begriff der Notwendigkeit, die als einzige in sich selbst gründet und damit gibt dieser Begriff die Fundierung aller anderen Begriffe von Notwendigkeit, die sich dadurch als sekundär erweisen.
5 20 Methodische Erfassung des konkreten in der Intentional-Analyse
Apriori
Nachdem das konkrete Apriori in seinem ganzen Umfang und in seiner Apodiktizität entdeckt ist, stellt sich erneut und vertieft die Frage seiner systematischen Erfassung. Denn die Versuche, die Frage zu beantworten, haben uns zwar in eine neue Dimension hineingeführt, lassen aber noch offen, was denn nun die Wesenschau, die zuerst als Methode zur Erfassung des konkreten Apriori erschienen war, ersetzt. Setzen wir noch einmal von der nun gewonnenen Einsicht aus beim Selbstgegebenen an. Das Selbstgegebene steht als es selbst immer in der Spannung zwischen Gegebenheit und Mitgemeintheit, die uns die Untrennbarkeit von Ich und Welt in der Vorgegebenheit entdeckt hat, in der wir das Bewußtsein als selbst zum Gegebensein des Gegebenen gehörig entdeckt haben. Wir haben gesehen, daß alles Selbstgegebene über sich selbst hinausweist und daß das Bewußtsein-von- weder einfach noch statisch ist, sondern dynamisch-teleologisch. Die Intentionalität ist ein kontinuierliches Ubersteigen ihrer selbst. Sie ist nicht schlechthin, sondern in jedem „Wovon" des Bewußtsein-von- fungiert sie. Deswegen nennt Husserl sie fungierende Intentionalität. Das scheinbar so einfache Bewußtsein-vonals Bewußtsein von sozusagen kompakten Einheiten, an das man zuerst denkt, wenn man von Intentionalität spricht, ist in Wirklichkeit das Resultat einer Vereinfachungsleistung. Wann immer von Akt-Intentionalität die Rede ist, dann wird entweder diese Vereinfachungsleistung überhaupt nicht gesehen oder sie wird isoliert und statisch gesehen. Indem der Gegenstand in seinem „Worausher" und „Woraufhin" erfaßt wird,
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ist das Bewußtsein-von-ihm das Zusammenrinnen vieler Bewußtseinsmannigfaltigkeiten, deren Explizitation uns letzten Endes auf das Bewußtseinsleben als Weltleben in seiner Gesamtheit führt. Diese Intentionalität als lebendige Potentialität von BewußtseinsImplikationen ist gewöhnlich verdeckt, weil das zuerst erfaßte Ganze in seiner Aufdringlichkeit gewissermaßen seine Explikate nicht zu Wort kommen läßt. „In der Explikation eines Gegenstandes kommen der Reihe nadi immer neue Momente, die sich zunächst aufdrängen, zu Wort und Gehör. In der ersten geraden Erfassung des Ganzen sind sie schon in ihm da, aber vorerst übte das Ganze sie überwiegend und vielleicht notwendig überwiegend die Aufdringlichkeit." (Manuskript C 10, S. 14) Das konkret Reale erscheint zunächst als schlechthin selbstgegeben, erfaßt in einem Strahl des Bewußtseins; erfaßt schon als was es ist, doch so, daß seine Washeiten noch eingewickelt und unentfaltet sind. „Diese ,implizite' Gegebenheitsweise ist eben ein allgemeiner Modus in aller Erfahrung." (Manuskript A VII 7, S. 42) Hierin liegt der Grund dafür, daß die fungierende Intentionalität durch die Akt-Intentionalität verdeckt werden kann. Ja, die Intentionalität wird in ihrem eigentlichen Sein überhaupt verfehlt, wenn man nicht die implizite Gegebenheitsweise - und das schließt ihre Dynamik und Teleologie ein - alles Erfahrenen entdeckt. Diese zwar implizite aber doch als solche sinngebende Gegebenheitsweise haben wir kennen gelernt als die Horizonthaftigkeit der Erfahrung. Wir präzisieren, daß im ersten Erfassen der Horizont zwar schon miterfaßt ist, jedoch als anonymer, wie Husserl sagt. Diese Anonymität bedeutet, daß er sich als Horizont nicht sogleich zu erkennen gibt, daß er in seinem Fungieren als Sinnes-Implikation des geradehin Erfaßten zunächst unerkannt ist. Der Horizont gibt sich erst zu erkennen, wenn wir, das Seiende auslegend, in ihn hineingehen und ihn dabei gewissermaßen aus seiner Anonymität befreien. Die Intentionalität ist für Husserl nicht nur fungierend, sie ist gleichzeitig anonym. Und zwar ist sie anonym in Doppelstufigkeit. Sind wir in der natürlichen Einstellung mit Gegenständlichkeiten beschäftigt, dann ist die fungierende Intentionalität gänzlich anonym, d. h. sie fungiert, aber unerkannt. Wird sie aufgedeckt, dann wird sie aus der Unerkanntheit des Fungierens befreit. Des weiteren wird sie, indem das Aufdecken zum Auslegen wird, kontinuierlich aus der Anonymität befreit, die ihr selbst eigen ist als fungierende, dabei kontinuierlich anonym bleibend. Die fungierende Intentionalität übersteigt immer schon sich
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und ihr Ausgelegtes, als ihr aus der Anonymität Befreites, zur Welt, in deren Anonymität sie sich ständig hält. Die Horizonthaftigkeit, die fungiert in der Erfassung des Gegebenen, ist die Intentionalität, die in dieser Erfassung fungiert. Indem wir erkennen, daß das anonyme ichliche „Tun", daß Vor-Wurf und Rückschau in der Erfassung des Einzelnen uns durch ihre mannigfaltig verstuften Implikationen auf das Ganze des Bewußtseins als weiterfahrendes Leben führen, erkennen wir, daß fungierende Intentionalität nichts anderes ist als das Welt-Erfahren, das in jeder schlichten Erfahrung anonym fungiert, ihm Sinn und Sein gebend. Welterfahrendes Leben ist anonym fungierende Intentionalität. In der Anonymität erkennen wir die rätselhafte Vorgängigkeit der Vorbekanntheit alles Seienden wieder, die, wann und wie immer sie zur Bekanntheit gebracht wird, doch rätselhafte Vorbekanntheit bleibt. „Das immerfort Bekannte ist immerfort Unbekanntes und alle Erkenntnis scheint von vornherein hoffnungslos." (PS, S. 21) Doch scheint dies nur so, denn wir haben inzwischen diese Rätselhaftigkeit so weit durchleuchtet, artikuliert, daß wir sehen können, wie weiter in sie einzudringen ist. Die Frage nach der Erfassung des konkreten Apriori ist nun präzisierbar. Die Intentionalität in ihrer Anonymität ist uns vorgegeben. In etwas Vorgegebenes eindringen, das implizit und dynamisch ist, es auseinanderzulegen und zu artikulieren, von einem zum anderen schreitend, sehen, was dazu gehört, es aus seiner Impliziertheit herauszuschälen, das nennt Husserl „Auseinanderlegung oder Analyse". (Phän. Psych., S. 436) Die Methode, die nun als die eigentliche und echte der Phänomenologie erscheint, die die Intentionalität aus ihrer Anonymität befreien soll, ist die Auseinanderlegung dieser Intentionalität. Husserl nennt sie Intentional-Analyse. Diese ist, wie Husserl sagt, „etwas total anderes als Analyse im gewöhnlichen und natürlichen Sinne". (CM, S. 83) Sie ist keine Zer-legung in Teile und Daten, sondern Auseinanderlegung, Auslegung, Verdeutlichung, Klärung.
§21
Verschiedene Auffassungen von
Intentional-Analyse
Wir haben also nun einen Namen für die Methode und einen ersten Vorgriff. Jetzt müssen wir fragen: Wo setzt sie systematisch an und wie geht sie vor?
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Nach den bisherigen Ausführungen sollte man denken, daß die Intentional-Analyse von der apodiktischen Erfassung des welterfahrenden Lebens auszugehen hätte. Der Ansatzpunkt der Intentional-Analyse bei Husserl jedoch ist nicht das welterfahrende Leben, die Welt, sondern das Einzelne, die einzelne Gegenständlichkeit im weitesten Verstand: reale Dinge, Erlebnisse, Zahlen, Sachverhalte, Gesetze, Theorien usw. (Vgl. CM, S. 95) Husserl gibt der einzelnen Realität ganz deutlich einen Vorrang vor der Welt, ohne dies allerdings näher zu begründen. Gewiß führt uns die Einzelerfahrung zur Welterfahrung, aber die erstere hat Vorrang vor der letzteren. Dies geht mit aller Deutlichkeit aus folgendem Text hervor: „Freilich, um die Welt als Erfahrungsgegenstand zu erfassen, müssen wir vorher Einzelrealitäten der Welt erfaßt haben. In gewisser Weise geht also die Einzelerfahrung der Welterfahrung, nämlich als erfassende, gewahrende, vorher. Wir müssen von dem etwa erfahrenen Ding unseren Blick abwenden und hinwenden in seinen realen Hintergrund, den Horizont, der es unweigerlich als Horizont der Erfahrbarkeit umgibt. Aber eben damit ist auch gesagt, daß, während irgendein einzelnes Reales gegeben ist, immer und notwendig auch seine Umwelt bzw. die es mit umfassende Welt mit vorgegeben ist; als etwas, worauf sich der Blick jederzeit richten und (das er) wie sonstiges Vorgegebenes in gewahrende Erfahrung verwandeln kann. Immer ist also, wo Einzelnes erfaßt ist, es in der Welt erfaßt, ohne daß das erfassende Interesse dem Universum zugewendet sein muß. Andererseits und dagegen, wenn die Welt erfaßt wird, müssen Einzelheiten, zunächst aus dem Nahfeld von Einzelheiten, erfaßt sein. Einzelerfassung muß vorhergehen und muß vorher schon ihren unerfaßten, aber vorgegebenen Horizont besitzen. (...) Methodisch ergibt sich nun aus der Priorität der einzel-realen Erfahrung vor der Welterfahrung, daß schon jede empirisch-deskriptive (und erst recht nachher jede eidetische) Analyse der allweltlichen Strukturen von der Betrachtung der exemplarischen realen Einzelheiten ausgehen muß, natürlich unter beständigem überschauendem Reflektieren über die eröffneten oder zu eröffnenden Horizonte, also die gesamte Welt." (Phän. Psych., S. 96 und S. 98) Das Problem also, das sich jetzt stellt, ist: Wie erfasse ich eine einzelne Realität auf ihren Horizont, letzten Endes auf die Welt hin? Dies geschieht, indem ich einen Gegenstand als „Meinung" erfasse, wobei Meinung hier eine eigene Bedeutung hat, nämlich die gegebene Ich- und
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§ 21: Intentional-Analyse
Welt-Verwiesenheit des Gegenstandes selbst in seinem leibhaftigen DaSein. Was Husserl hier im Auge hat, wird deutlich aus nachstehendem Text, in dem er vom Beispiel eines Wahrnehmungsobjektes ausgeht. „Das äußere Objekt ist in der Wahrnehmung als Seiendes und leibhaft Erfaßtes gemeint, aber nicht in der Weise eines fertigen, wenn auch ideal einwohnenden Datums der Wahrnehmung. Es ist von vornherein und immerzu gemeint mit einem transzendenten Sinn, mit einem offenen Sinneshorizont. Darin liegt: es ist nicht nur gemeint als Substrat für die und die wahrnehmungsmäßig verwirklichten Bestimmungen, sondern zugleich gemeint als seiendes Substrat für noch in infinitum ({gesperrt im Text)) zu verwirklichende. Ohne diesen Horizont an Mitgemeintem ist das transzendente Wahrnehmungsobjekt nicht denkbar. Wir können etwa auch sagen, was in der transzendenten Wahrnehmung als leibhaft daseiendes Objekt bewußt ist, ist als Bewußtes selbst eine Meinung mit einem Sinn, der partiell vergleichbar ist, aber dabei im Vorgriff eine Vorgriffsgewißheit in sich trägt, daß für das vom Sinn Unverwirklichte in infinitum ({gesperrt im Text)) weitere Verwirklichungen offen stehen. (...) Das intentionale Objekt der äußeren Wahrnehmung zeigt uns als die erste Gestalt eines Seins als intentionales Objekt auch zum ersten Mal, wie ein Objekt der Intentionalität, und selbst einer wahrnehmenden, nichts anderes ist als Meinung, vermeinter Sinn, und wie die Meinung in sich neue Meinungen, ja Unendlichkeiten zusammengehöriger Meinungen als Möglichkeiten umspannt, und doch nicht reell als Stücke in sich hat." (Phän. Psych., S. 183 und S. 184; Hervorhebungen von mir) Der Gegenstand ist also Meinung, und zwar eine solche, die eine Unendlichkeit von Meinungen in sich beschließt. Husserl gebraucht diesen Begriff hier nicht als leere oder „bloße Meinung" im Sinne von opinio, die lediglich als solche anschaulich zu machen, dar- und klarzulegen wäre, sondern als das dem gegebenen Gegenstand innewohnende und explizierbare Verwiesensein. „Meinung" ist das DaSeiende in seiner Mehr-Meinung, in seinem ständigen näher zu bestimmenden Selbst-Sein als Verwiesen-Sein. Husserl sieht selbst, wie aus dem folgenden Text hervorgeht, daß er die beiden Begriffe in ihrer verschiedenen Bedeutung nicht immer deutlich unterscheidet: „Andererseits haben wir den großen Unterschied, daß sich in der Erfüllung die Leervorstellung (als leere Vormeinung sozusagen) ,bewährt', bestätigt, während sich im andern Fall diese Meinung nur geklärt, anschaulich gemacht hat. Es steht nur vor Augen, was die ,eigentliche' Meinung war. Hier paßt die Rede am besten von der bloßen Enthüllung des Sinnes. Jedenfalls,
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Meinung bleibt immer noch bloß Meinung. In unserer Sprache dient öfters das Wort Meinung, um irgendein Bewußtsein zu bezeichnen, das, gleichgültig, ob es leeres oder anschauliches ist, erfüllungsbedürftig ist. In diesem Begriff der Meinung liegt die Idee eines Anspruchs, der eben der Erfüllung bedarf." (PS, S. 246 f.) Das Gemeinte ist nicht bloße Meinung, es ist das Da-Seiende selbst. „Als Da-Seiendes ist das Objekt in der Wahrnehmung Gemeintes." (Phän. Psych., S. 184) Das Da-Seiende ist nicht etwa als wahres Objekt ein außerhalb der Meinung liegendes, auf das sich diese lediglich richtet, es ist auch nicht der Gegenstand, der die Meinung als leere Vormeinung erfüllt, sondern „das wahre Objekt ist identisch dasselbe wie das jeweils intentionale." (Phän. Psych., S. 430) Es ist nicht in einem „mystischen Draußen und an sich", sondern es ist das als identisch beständig Vermeinte der Meinung, relativ bewährte und weiter noch zu bewährende. Das Objekt als Gegebenes ist nur als Vermeintes. Wir dürfen hier nicht zurückfallen „in die Auffassung der Wahrnehmung als einer leeren Habe des intentionalen Gegenstandes, als wäre er ein Etwas, das in ihr wie in einer Schachtel läge." (Phän. Psych., S. 437) Der Gegenstand als wahrgenommener ist Gegenstand als vermeinter und als solcher ist er „verschmolzenes Ineinander" von Da-Sein und Auslegbar-Sein und nur so ist der Gegenstand beständig derselbe, Selbiger. Damit wird die Intentional-Analyse als Analyse von Meinung präzisiert. Wenn das Gegebene als Gegebenes über sich hinausweist und nur in diesem Hinausweisen, das ein Verweisen ist, seine Selbigkeit hat als seine Selbigkeit ständig darstellend und bewährend; wenn das Gegebene nur ist als Vermeintes, können wir es dann nicht analysieren, indem wir fragen: Was meinen wir eigentlich mit dem Gegebenen? Hier zeigt sich ein subtiles, kaum zu bemerkendes Gleiten vom VerMeinen zum Meinen im mehr gewöhnlichen Sinn. So erscheint die Intentional-Analyse zuerst und zunächst als Analyse von Vermeintem als Meinung. Die Meinung ist als meinende vorgegeben, und zwar bin ich derjenige, der meint. Die Intentional-Analyse besteht also darin, daß ich meine Meinung, in der das Vermeinte mir gegeben ist, auseinanderlege. Husserl sagt dazu: „Nun weiß ich schon, wie eine Meinung überhaupt, wie ein Bewußtsein befragt und ausgelegt wird: durch Verdeutlichung und Klärung im Übergang zu den mannigfaltigen verdeutlichenden Meinungen und letztlich zu den Mannigfaltigkeiten der Erfahrung der Selbsterfas7 Brand,
Lebensweh
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sung, in denen ich an das Gemeinte selbst herankomme. Verdeutlichung hat seinen prägnanten Sinn insbesondere dann, wenn das Gemeinte eine Vielfältigkeit von positionalen Meinungen impliziert, die in bestimmter Ordnung einzelweise ausgelegt und nachvollzogen sein müssen, damit die deutliche Meinung bzw. das Gemeinte in seiner Deutlichkeit zur Gegebenheit kommt. Wo Seiendes vermeint ist als stufenweise fundiert in anderen Seienden, da ist korrelativ das Meinen als explizites oder deutliches in seiner Weise fundiert und das Deutliche ist dann Einheit des Fundierungszusammenhanges, als Einheit eines Bewußtseins, in dem, was da gemeint ist, ausgelegt ist nach seinem Sinn, der eben diese Fundierungen von vornherein implizit hatte." (Manuskript Β I 5 IX, S. 6 f.) Wir finden also bei Husserl eine Auffassung von der IntentionalAnalyse als Analyse des Vermeinten, und zwar leicht verschoben, wie soeben gezeigt, als Analyse von Meinung. Neben dieser Auffassung gibt es mindestens noch eine zweite und eine dritte. Husserl ist sich seiner unterschiedlichen Auffassungen offensichtlich nicht bewußt geworden, was schließlich dazu führt, daß er sie nicht auseinanderhält. Eine zweite Auffassung der Intentional-Analyse liegt vor, wenn das Vermeinte nicht als selbiger Gegenstand, nicht als Da-Seiendes in seiner Verwiesenheit, sondern als Bewußtseins-Korrelat aufgefaßt wird. „Indem der Phänomenologe alles Gegenständliche und das darin Vorfindliche ausschließlich als Bewußtseinskorrelat erforscht, betrachtet und beschreibt er es nicht nur geradehin und auch nicht bloß überhaupt zurückbezogen auf das entsprechende Ich, auf das ego cogito, dessen cogitatum
es ist,
vielmehr dringt er enthüllend mit seinem reflektierenden Blick in das anonyme cogitierende Leben ein, er enthüllt die bestimmten synthetischen Verläufe der mannigfaltigen Bewußtseinsweisen und die noch weiter zurückliegenden Modi des ichlichen Verhaltens, die das für das Ich schlechthin Vermeint-sein, das anschauliche oder unanschauliche des Gegenständlichen verständlich machen; oder es verständlich machen, wie Bewußtsein in sich selbst und vermöge seiner jeweiligen intentionalen Struktur es notwendig macht, daß in ihm dergleichen seiendes und soseiendes Objekt bewußt werden, als solcher Sinn auftreten kann." (CM, S. 84 f.) Diese Auffassung verdichtet sich, wenn das Gegebene, das Vermeinte selbst als Synthese angesehen wird. Auch dieser weitere Schritt ist schnell getan, beinahe unbemerkt und doch folgenreich. Das Vermeinte löst sich im Vermeinen als reiner Bewußtseinsleistung auf, das Gegebene wird damit als Synthese von Bewußtsein betrachtet. An manchen Stellen bezeichnet Husserl in der Tat das Gegebene
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als Synthese, als „ein Einheitspol mehrdimensionaler Intentionalität, der, um als dieser vermeinte Gegenstand, und zwar in diesem intentionalen Modus Selbstanschauung, konstituiert sein zu können, einer vielfältigen, zur Einheit einer Sinnesleistung zusammengehenden Intentionalität bedarf. In verschiedenen reflektiven Blickrichtungen enthüllt sich die den Dingsinn konstituierende Mannigfaltigkeit von notwendigen intentionalen Leistungen." (Phän. Psych., S. 435) Die intentionalen Leistungen sind Synthese, und zwar Synthese zwischen Bewußtsein und Bewußtsein. „Ich stoße auf die Synthese zwischen Bewußtsein und Bewußtsein, Synthese der Identifizierung etc., auf den Gegenstand in Erscheinungsweise und die Erscheinungsweisen als Bewußtseinsweisen in gewissem Sinn, deren jede, vermöge der Wesensmöglichkeit in die Synthese einzutreten, ihr ,vonc hat. Bewegen wir uns nicht überall in der Synthese von Bewußtsein und Bewußtsein als Synthese der Identifizierung oder Synthese kontinuierlichen Einheitsbewußtseins?" (Phän. Psych., S. 422) Eine dritte — oder sollten wir schon sagen vierte — Auffassung, gewissermaßen als Zwischenposition zwischen der Analyse des Vermeinten als Meinung und der Analyse von Bewußtseinssynthesen, die insbesondere von Tugendhat verfochten wird, besteht darin, das Gegebene nicht mehr als Vermeintes in seinem vermeinten Sein und auch nicht als Synthese von Bewußtsein, sondern in seinem subjektiven Gegebensein zu betrachten. Das schon Gegebene ist nun in seinem Gegebensein als subjektives Gegebensein zu analysieren. Die Intentional-Analyse wird damit zur Analyse des subjektiven Wie der Gegebenheiten. Ein Text aus der Krisis macht diese Auffassung deutlich. Nach diesem Text sind wir darauf aus, nicht der Welt „Sein und Sosein zu erforschen, sondern, was immer als seiend und soseiend galt und uns fortgilt, unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, wie es subjektiv gilt, in welchem Aussehen usw. Zum Beispiel, da sind die jeweiligen einzelnen Dinge der Erfahrung; ich fasse irgend eines davon ins Auge. Es wahrnehmen, selbst wenn es als völlig unverändert wahrgenommen ist, ist ein sehr Mannigfaltiges; ist: es sehen, es tasten, es riechen, es hören usw., und in jedem habe ich Verschiedenes. Im Sehen Gesehenes ist an und für sich ein Anderes als im Tasten Getastetes. Aber trotzdem sage ich: dasselbe Ding — verschieden seien selbstverständlich nur die Weisen seiner sinnlichen Darstellungen". (K, S. 160) Der Horizont ist hier nicht mehr Horizont sinnhafter Implikationen, sondern mitfungierender subjektiver Erscheinungsweisen. Daß damit 7»
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die Phänomenologie psychologisiert und auf unzulässige Weise subjektiviert wird, wurde bereits weiter oben gezeigt. Die f ü n f t e Auffassung, in der wir bei sorgfältiger Interpretation die einleuchtendste und umfassendste finden können, liegt in der IntentionalAnalyse, betrachtet als genetisch-historische Analyse. Die Methode, die Husserl dabei anwendet, ist die systematische Erforschung von Sinnesimplikationen, und zwar so, wie sie geschichtlich motiviert sind. Die Sinnesimplikationen werden nicht schlechthin analysiert, sondern im Licht ihres Ursprungs aus historischer Motivation. Bei den historischen „Tatsachen" wiederum wird nicht nach ihrer Tatsächlichkeit, sondern nach ihrem Sinn gefragt. Zum Gesamtsinn der Analysen „gehört das Ineinander von historischer und durch sie motivierter systematischer Untersuchung." (K, S. 36; vgl. K, S. 365 f.) Machen wir diese Auffassung deutlich, indem wir der Einfachheit halber davon absehen, daß wir immer schon in einer Welt mit tradierten Erwerben, mit überkommenen Zweckgebilden leben und überlegen wir, was geschieht, wenn wir, in der konkreten Welt lebend, etwas aus ihr oder von ihr zu erfassen suchen und dieses Erfassen objektiviert ausdrücken wollen. Wir gewinnen dann von der Welt oder über die Welt eine „Wahrheit" in einem ersten Sinne, wir haben dann einen ersten Erwerb von „Wahrheit", von der wir sogleich erkennen, daß sie Vorhabe in einem vielfältigen Verstand ist. Indem sie vorher konkret Gehabtes zur ausdrücklichen Habe macht, hat sie dieses doch nicht adäquat, sie hat weiter vor, dieses näher zu bestimmen. Dabei ist sie als Vorhabe VorZeichnung für weiteren Wahrheitserwerb. In dem, was wir als das Gewinnen einer „Wahrheit" ansehen konnten, liegt das Beginnen der Bewahrheitung, letzten Endes derjenigen der Welt. Der erste Erwerb von „Wahrheit" ist in Wirklichkeit Ur-Stiftung von Wahrheit als Bewahrheitung. Stiftung ist nicht einfach ein fertiger, abgeschlossener, sondern ein fortwirkender Erwerb. Die Ur-Stiftung, der erste Erwerb ist offen f ü r weitere Erwerbe, er tendiert auf weitere Enthüllung und Erfüllung. In dieser Hinsicht ist die Ur-Stifung, der erste Erwerb von Wahrheit, weniger „Konstitution" als „Institution". Diese hat zwar einerseits eine „bleibende Seinsart", die dem Weltleben Konturen gibt, durch die unsere Erfahrung neuen Sinn gewinnt, andererseits aber ist sie offene Vorzeichnung, die ständig neue Erfüllung fordert, nicht als Befriedigung einer vorgegebenen, sondern als Erweiterung einer vorgebenden Intentionalität. So beginnt in der Ur-Stiftung von Wahrheiten als Bewahrheitung „nicht nur ein beweglicher Fortgang von Erwerben zu Erwerben, sondern
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eine kontinuierliche Synthesis, in der alle Erwerbe fortgelten, alle eine Totalität bilden, derart, daß in jeder Gegenwart der Totalerwerb sozusagen Totalprämisse ist für die Erwerbe der neuen Stufe." (Edmund Husserl: Vom Ursprung der Geometrie, Beilage III zur „Krisis der europäischen Wissenschaften", S. 367; wir zitieren: UG) Diese Bewegung ist die der Bewahrheitung. „Durch das passive Leben gehen also immer neu sich flechtende Synthesen der Erfüllung. Immerfort ein Hinstreben auf Anschauung, ( . . . ) immerfort, das Wort drängte sich uns auf, Bewahrheitung." (PS, S. 102) Es ist ein Prozeß der Erfüllung als nähere Kenntnisnahme, als Synthese von Erwerb und NeuErwerb. (Vgl. PS, S. 8 ff.) Die Bewegung der Bewahrheitung ist sowohl sich überlagernde Ausweitung von Erwerb mit anderen Erwerben als auch Sedimentierung. „Indem die Wahrnehmung ursprünglich Kenntnis erwirbt, erwirbt sie auch ein für die Dauer bleibendes Eigentum des Erworbenen, einen jederzeit verfügbaren Besitz. ( . . . ) Doch noch ein weiteres ist als wesentlich beizufügen. Haben wir ein Ding kennen gelernt und tritt ein zweites Ding in unseren Gesichtskreis, das nach der eigentlich gesehenen Seite mit dem früheren und bekannten übereinstimmt, so erfährt ( . . . ) (vermöge einer inneren Deckung mit dem durch „Ähnlichkeitsassoziation geweckten früheren) das neue Ding die ganze Kenntnisvorzeichnung vom früheren her." (PS, S. 10) Die Sedimentierung besteht darin, daß ein Erwerb den anderen begründet, in ihn eingeht. „Indem Sinn auf Sinn sich gründet, gibt geltungsmäßig der frühere Sinn etwas an den späteren ab, ja, in gewisser Weise geht er in ihn ein." (UG, S. 373) In der Bewahrheitung als sich überlagernder Ausweitung und Sedimentierung von „Wahrheits-Erwerben" liegt nun die Möglichkeit einer Bewahrheitung zweiten Sinnes, nämlich aktiv wiederholende Bewahrheitung ihrer selbst. In der Welterfahrung finden wir ständig tradierte „Zweckgebilde" vor, die den Anspruch erheben, Sedimentierungen ursprünglicher Bewahrheitung zu sein, in sich einen jederzeit zu aktualisierenden Wahrheitssinn zu tragen, „während sie doch, etwa als assoziativ entsprungene Verfälschungen, keineswegs einen solchen haben müssen." (UG, S. 377) Wir gelangen so zu der zentralen Methode der Husserlschen Phänomenologie: die intentionale Analytik der Bewahrheitung als ihr Nachvollzug, als Wiedererweckung der Ur-Stiftung, als Wiederfindung der institutionalisierenden Wahrheit in ihrer fortwirkenden Institutionalisierung. Bei dieser intentionalanalytischen Bewahrheitung verbleiben wir gleich-
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zeitig immer in passiver Bewahrheitung, das heißt die Wiedererweckung der Ur-Stiftung tritt selbst in die Synthese mit neuer Ur-Stiftung ein. Alle vorfindlichen „Wahrheiten", alle tradierten „Zweckgebilde" können wir als Vor-Meinung betrachten, als setzende oder leere Intention. Dann liegt in der Wiedererweckung der ursprünglichen Evidenz die tatsächliche Erfüllung einer Vor-Intention, wenn audi als Nach-Vollzug. Weil aber ständig Synthese mit neuer Ur-Stiftung statthat, bleibt auch in dieser Hinsicht die Intention ineins erfüllende und enthüllende Intention, Bewahrheitung. Um den Charakter der intentionalen Analytik richtig zu erfassen, ist es wichtig, zu unterstreichen, daß jede Erkenntniseinheit, jede Erfahrungstatsache, jeder Bewahrheitungserwerb seine Geschichte hat. „Geschichte ist von vornherein nichts anderes als die lebendige Bewegung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung." (UG, S. 380) Diese Geschichte darf allerdings nicht mit der psychologischen Genesis verwechselt werden. Die gesellschaftlich-geschichtliche Welt ist allerdings nur geschichtlich durch die innere Geschichtlichkeit jedes Einzelnen, die aber audi als solche unmittelbar mit anderen Personen vergemeinschaftete Geschichtlichkeit ist. (Vgl. Ideen III, S. 129 und UG, S. 381) In jedem schlichten Verstehen einer Erfahrungstatsache ist schon „mitbewußt", daß sie Gebilde aus einem menschlichen Bilden her ist. Wie verschlossen, wie „bloß implizit" dieses Mitbewußtsein auch sein mag, es läßt sich immer in einer intentionalen Analytik als einer historischen Analyse sui generis explizieren. Damit erhält die von uns herausgestellte Bewahrheitung im zweiten Sinn den Charakter einer intentional-historischen Explikation. „Jede Explikation und jedes von Verdeutlichung in Evidentmachung übergehen (sei es auch vielleicht allzu früh steckenbleibend) ist nichts anderes als historische Enthüllung; in sich selbst wesensmäßig ist es ein Historisches und trägt als solches wesensnotwendig den Horizont seiner Historie in sich." (UG, S. 379) Es gilt nun für Husserl, nodi ein wesentliches hinzuzufügen: Die Dimension der Lebenswelt, in der sich das welterfahrende Leben und alle Formen der Bewahrheitung vollziehen, ist die Sprache. Die intentionalhistorische Explikation macht uns wiederum die Inadäquation aller Adäquation, und zwar nun in mehrfacher Verstufung deutlich. Die Lebenswelt ist Menschenwelt und zum Menschheitshorizont gehört die allgemeine Sprache. „Menschheit ist vorweg als unmittelbare und mittelbare Sprachgemeinschaft bewußt." (UG, S. 369) Die Sprache ist das eigentliche Medium, das Zwischen, das mich mit der Transzendenz der
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Welt vermittelt. N u r durch und in der Sprache sind wir auf die Welt bezogen. „So sind Menschen als Menschen, Mitmenschheit, Welt — die Welt, von der Menschen, von der wir je reden und reden können — und andererseits Sprache untrennbar verflochten und immer schon in ihrer untrennbaren Beziehungseinheit gewiß, obschon gewöhnlich nur implizite, horizonthaft." ( U G , S. 3 7 0 ) Wenn ich versuche, die konkrete Welt, in die ich hineinlebe, zu erfassen, dann bedeute ich sie mir, dann drücke ich sie aus in einer Rede über die Welt, und dabei habe ich dann Ur-Stiftung der Wahrheit als Verleiblichung in der Sprache. In der Rede erfasse ich den vorgängigen T e x t der Welt, der doch erst durch die Rede zum T e x t wird, zu einem Text, der nun ein verleiblichter E r w e r b ist. Sinn als verfügbaren gibt es nur, indem ich ihn bedeute und ausdrücke. „Redend vollziehen wir fortlaufend ein inneres, sich mit Worten verschmelzendes, sie gleichsam beseelendes Meinen. Der Erfolg dieser Beseelung ist, daß die W o r t e und die ganzen Reden in sich eine Meinung gleichsam verleiblichen
und verleiblicht in sich als
Sinn tragen." ( F T L , S. 2 0 ) Die Bewahrheitung wird zum verfügbaren Erwerb, indem sie mittels der Sprache ihren „Sprachleib" erhält. Diese Erwerbe fließen selbst wieder in die Welt zurück. „Die sinnlichen Äußerungen haben in der Welt raumzeitliche Individuation wie alle körperlichen Vorgänge bzw. alles in Körpern Verkörperte als solches; nicht aber die geistige Gestalt selbst, die da ,ideale Gegenständlichkeit' heißt. Indes in gewisser Weise in der Welt objektiv seiend sind sie doch, aber nur vermöge dieser doppelschichtigen ((geistigen und sinnlichen)) Wiederholungen, und letztlich vermöge der sinnlich verkörpernden." ( U G , S. 3 6 8 ) Die geistigen Erzeugnisse sedimentieren sich in F o r m verharrender, sprachlicher Erwerbe; und durch die Funktion des schriftlichen, des dokumentarisierenden, sprachlichen Ausdrucks wird die Vergemeinschaftung
der
Menschheit und damit ihre geistigen Erzeugnisse auf eine neue Stufe erhoben. (Vgl. U G , S. 3 7 2 und S. 3 7 1 ) So sehen wir nun, daß jede F o r m der Bewahrheitung sich geschichtlich-sprachlich-gemeinschaftlich vollzieht. Die radikale Aufklärung des Wahrheitsbezugs hat hier ihren tiefsten Problemgrund. Husserl hat uns die Sicht auf diesen Grund geöffnet, ohne selbst weiter zu ihm vorzudringen. Die verschiedenen Auffassungen der Intentional-Analyse
stehen,
außer der zuletzt dargelegten, in einem zweideutigen, wenn nicht widersprüchlichen Verhältnis zur These von der Welt als universaler Vorgegebenheit. W i r haben gesehen, daß es letzten Endes nur eine einzige apodik-
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§ 22: Transzendentale Paradoxic
tische Evidenz gibt: die des welterfahrenden Lebens. Damit gibt es auch nur eine einzige apodiktische Notwendigkeit. Das materiale Apriori, die allgemeine und damit notwendige Vorgegebenheit, jetzt verstanden als das, worauf ich immer wieder und als auf das alles andere Umfassende zurückkommen kann, ist die von der Verschränkung von Welt und Ich. Von dieser vagen und allgemeinen Vorbekanntheit müßte nun ausgegangen werden, um zu „Regionen" vorzudringen, falls es sich zeigen sollte, daß es solche gibt, und dann zu Einzelnem. Hierzu im Gegensatz steht nicht nur die Methode der Wesenschau, sondern auch die der IntentionalAnalyse, die Einzelgegenständlichkeiten zu Leitfäden nehmen will. Die These von der Welt als universalem Glaubensboden, die als die wichtigste These Husserls überhaupt bezeichnet werden kann, läßt sich nicht in Einklang bringen mit seinen anderen programmatischen Thesen.
§ 22 Widersprüchlichkeiten, Mehrdeutigkeiten, transzendentale Paradoxic und Naivität In unserer bisherigen Darlegung haben wir Widersprüche und Zweideutigkeiten aufgedeckt bei der Wesenschau, der Wahrheit, der Intention und Intentionalität, der Intentional-Analyse und der Welt. Husserl hat den nur vor-klärenden Charakter der Wesenschau aufgewiesen, die anderen Gegensätzlichkeiten sind in seinem Denken nie ganz ausgeglichen worden, nie hat eine Interpretation eindeutig die Oberhand gewonnen oder ist thematisiert worden. Wir müssen uns nun fragen, ob diese Gegensätzlichkeiten nicht auf einen Ursprung zurückzuführen sind. Die widerstreitenden Denkansätze werden bei Husserl in der Tat umfaßt von einem tiefsten und weitesten: dem zwischen der Einsicht in die Gegebenheit des Apriori und dem SichVerfangen in einer konstituierenden transzendentalen Subjektivität. So kann es geschehen, daß das Gegebene umgewandelt wird in Vorgestelltes, in Bewußtseins-Korrelat, in Bewußtseinssynthese. Dabei wechselt die Auslegung, die Analyse des Gegebenen ihren Sinn; konstitutive Analyse wird zur Konstruktion. Alfred Schutz ζ. B. stellt eine Sinnverschiebung heraus, die der Begriff der Konstitution im Fortgang der Ausbildung der Phänomenologie erfahren hat. „Unter der Hand und geradezu unversehens wandelte sich, wie es mir scheint, die Idee der Konstitution von einer Aufklärung der Sinnstruktur, von der Auslegung des Sinnes des Seins in eine Begründung der Seinsstruktur und von einer Auslegung
§ 2 2 : Transzendentale Paradoxic
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in eine Kreation." (Alfred Schutz: Das Problem der transzendentalen Intersubjektivität bei Husserl. In: Philosophische Rundschau, 5. Jg., H. 2, 1957, S. 106 f.) Landgrebe ist der Meinung, daß in der These über die transzendentale Subjektivität der Grund aller Schwierigkeiten liegt, „vor die sich von jeher die Husserlinterpretation gestellt sah, daß nämlich sowohl der Charakter der Absolutheit der transzendentalen Subjektivität wie auch der davon herzuleitende Sinn der grundlegenden »operativen' Begriffe, mit denen Husserl arbeitet, wie Konstitution, Leisten, transzendentales Leben, in einer Schwebe geblieben ist, die einander widersprechende Deutungen herausforderte." (Ludwig Landgrebe: Husserls Abschied vom Cartesianismus. In: Der Weg der Phänomenologie. Gütersloh 1963, S. 192) Wenn die Auslegung des Gegebenen, die immer nur für mich vollzogen werden kann, umgewandelt wird in aktive Konstitution, wenn dadurch das Ich umgewandelt wird in eine alles begründende transzendentale Subjektivität, dann entsteht die grundlegende Schwierigkeit der Phänomenologie, die Paradoxie des Ich, das in der Welt ist, die es selbst konstituiert. Husserl selbst kennzeichnet diese Paradoxie wie folgt: „Wie soll ein Teilbestand der Welt, ihre menschliche Subjektivität, die ganze Welt konstituieren, nämlich konstituieren als ihr intentionales Gebilde? ( . . . ) Der Subjektbestand der Welt verschlingt sozusagen die gesamte Welt und damit sich selbst. Welch ein Widersinn." (K, S. 183) Wohlgemerkt, die Paradoxie besteht nicht etwa darin, daß das Ich als Subjekt für die Welt sich auch in der Welt als Objekt entdeckt, als sich, selbst objektiviert habend in seinem eigenen Gegenüber. Vielmehr handelt es sich darum, daß das Subjekt, für das allein Welt ist, sich selbst konstituiert als ein Objekt, und zwar als ein Objekt, das Subjekt in der Welt ist: »„Subjektivität in der Welt als Objekt' und zugleich ,für die Welt Bewußtseinssubjekt'". (K, S. 184) Husserl versucht, die Paradoxie aufzulösen, indem er unterscheidet zwischen Menschen-Ich und transzendentalem Ich. „Konkret voll genommen, bin ich beseelter Leib, psychophysische Realität, zur Welt, dem All der Realitäten gehörig. Ich bin ein Objekt meiner mundanen Erfahrung unter anderen. Muß ich davon nicht scheiden dasjenige Ich, das hierbei das Subjekt der Erfahrung ist, das Ichsubjekt für das Ichobjekt? ( . . . ) Ich ( . . . ) bin so als allvorfindendes Subjekt eben das Subjekt für alle Objekte, für das Weltall. Als diesem eingeordnet finde ich auch mich selbst." So steht es in der „Ersten Philosophie". (E. Ph., II, S. 71) Und in
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der „Krisis" heißt es, „daß jedes transzendentale Ich der Intersubjektivität (als Welt auf dem angegebenen Wege mitkonstituierendes) notwendig als Mensch in der Welt konstituiert sein muß, daß also jeder Mensch ein transzendentales Ich in sich trägt'; aber nicht als realen Teil oder eine Schichte seiner Seele (was ein Widersinn wäre), sondern insofern er die durch phänomenologische Selbstbesinnung aufweisbare Selbstobjektivation des betreffenden transzendentalen Ich ist." (K, S. 189 f.) Das transzendentale Ich ist also dasjenige, für das die Welt und auch ich selbst Objekt sind. Damit stehen für Husserl die beiden Ich nicht mehr auf der gleichen Ebene, das eine ist vom anderen konstituiert, nämlich das Menschen-Ich vom transzendentalen, und somit, meint Husserl, wäre die Paradoxie aufgelöst. Die Paradoxie wird jedoch keineswegs aufgelöst, indem sie verschoben wird. Nicht beantwortet werden kann die Frage: Was und wie ist das transzendentale Ich? Wenn man glaubt, darauf antworten zu können: es ist eben das weltkonstituierende, muß man wiederum die Frage stellen, warum es sich so, und zwar als es selbst konstituieren muß. Daß es hierauf keine Antwort gibt, hat Hussel selbst gesehen. „Freilich das Problem, warum das Ich sich so fort konstituieren muß zum Menschen-Ich und zum Ich für die Welt, und das Leben nur noch sein kann Weltleben (...) das bleibt offen." (Manuskript A VII13, S. 107) Diese Dunkelheit wird durch folgende Aussage Husserls vertieft: „Demnach kann das transzendentale Leben und kann das transzendentale Ich nicht geboren werden, nur der Mensch in der Welt kann geboren werden. Ich als transzendentales Ich war ewig; ich bin jetzt, und zu diesem Jetzt gehört ein Vergangenheitshorizont, der ins Unendliche aufwickelbar ist. Und eben das besagt: „Ich war ewig. ( . . . ) Jedes Menschen-Ich birgt in sich in gewisser Weise sein transzendentales Ich, und das stirbt nicht und entsteht nicht, es ist ein ewiges Sein im Werden." (PS, S. 379, S. 381) Die Paradoxie von Ich und Welt, das heißt von mir selbst in meiner Welt, ließe sich nur lösen, wenn beide gleich ursprünglich wären. Wie und ob sich diese Gleichursprünglichkeit überhaupt formulieren, geschweige denn zeigen läßt, sei hier zunächst dahingestellt. Verschärft wird diese Paradoxie dadurch, daß die Welt als gemeinsame Welt erfahren wird und doch wieder nur als meine. Diese Gemeinsamkeit hat Husserl ganz deutlich herausgestellt: „Eines jeden Weltbewußtsein ist vorweg schon Bewußtsein ( . . . ) einer und derselben Welt für alle." (K, S. 257)
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In den „Cartesianischen Meditationen" heißt es, daß „ich die W e l t . . . nicht als mein sozusagen privates synthetisches Gebilde ({erfahre)), sondern als mir fremde, als inter subjektive, für Jedermann daseiende, in ihren Objekten Jedermann zugängliche Welt". (CM, S. 123) Und in der „Formalen und Transzendentalen Logik" wiederum: „Welterfahrung als konstituierende besagt nicht bloß meine ganz private Erfahrung, sondern Gemeinschaftserfahrung." (FTL, S. 204) Dem steht nun entgegen: „Zuerst und allem Erdenklichen voran bin Ich. Dieses ,Ich bin' ist für midi, der ich das sage und im rechten Verstand sage, der intentionale Urgrund für meine Welt, wobei ich nicht übersehen darf, daß auch die ,objektive' Welt, die ,Welt für uns alle' als mir in diesem Sinn geltende, ,meine' Welt ist. ( . . . ) Es ist die Urtatsache, der ιώ standhalten muß." (FTL, S. 209 f.) Mit dem Problem der gemeinsamen Welt stellt Husserl praktisch das Problem des Anderen. Damit wird eine zweite Paradoxie sichtbar, die allerdings nur ein zweiter Aspekt der einen Grundparadoxie ist. Wir können diese auch die Paradoxie des Ego und alter Ego nennen. Sie besteht darin, daß einerseits ich nur bin, wenn es einen Anderen gibt, daß es sogar nur dann einen Sinn hat, von Solipsismus zu reden, wenn ich den Anderen schon erfahren habe, daß andererseits der Andere aber nur aus meinem Sein heraus Sinn für mich hat, für midi ist. In einem unveröffentlichten Manuskript Husserls wird diese Paradoxie besonders deutlich. „Jedes erdenkliche transzendentale Ich ist für midi erdenkliches, ist es aus meiner Wirklichkeit und meiner Vermöglichkeit, es zu konstruieren. Jedes erdenkliche transzendentale Ich ist nur so erdenklich, daß ich meinerseits für es wirkliches bin und mögliches aus seinem Sein, das aber (und zwar, wie hier angenommen, als mögliches Sein) mögliches ist aus meiner Wirklichkeit. Mein Sein ist apodiktischer Grund für alles Sein, das für mich Sein und Sinn hat. Aus meiner Apodiktizität. Fremdes Sein setze ich als für sich selbst apodiktisch seienden Grund für alles, was für es ist, darin mich beschlossen und meine Apodiktizität. Aber bin ich nicht zeitweilig, geboren etc.? Ja, aber diese Zeitweiligkeit ist selbst in meinem apodiktischen Sein verwurzelt." (Manuskript Ε III 9, S. 45 b) Wir sehen, daß die Apodiktizität von der Verschränkung Ich und Welt auf das Ich allein verlagert worden ist. „Ich, der ich bin, habe also immerfort zwei Existenzbereiche in Wahrnehmungsbereitschaft, korrelativ zu zwei Erfahrungen. Der eine hat den Titel ,Welt', und obschon er beständig für mich da ist, hat er für mich Erkenntniskontingenz. Nichts
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§ 2 2 : Transzendentale Paradoxie
darin kann für mich je zu adäquater Wahrnehmung kommen, nichts objektiv Wahrgenommenes braucht zu sein. Der andere hat den Titel ,Ich bin', und hier habe ich ein Absolutes, das jede Seinsnegation in der Selbsterfahrung ausschließt." (E. Ph., I, S. 338 f.) Was heißt das, die Apodiktizität auf das Ich zu beschränken? Wenn alles nur aus mir seinen Sinn hat, betrachte ich mich als vorgängig die Welt konstituiert habend. Die Erfassung der Weltgegebenheit und des Welterfahrens besteht dann in einer Reflexion auf diese vorgängige Konstitution. „Das große Thema der Transzendentalphilosophie ist das Bewußtsein überhaupt als ein Stufenbau konstitutiver Leistungen, in denen sich in immer neuen Stufen oder Schichten immer neue Objektivitäten, Objektivitäten immer neuen Typus konstituieren. ( . . . ) Der Weg der radikalen phänomenologischen Untersuchung muß dem Stufenbau der Konstitution folgen, und sie selbst muß ihn aufsuchen und herausstellen." (PS, S. 218, S. 219) So konnte es dazu kommen, daß Husserl und andere nach ihm das Ziel der Phänomenologie sahen in der Herausarbeitung eines geschlossenen Bewußtseins-Feldes als eines Feldes transzendentaler subjektiver Leistungen. Die Phänomenologie hatte, und das ist eine ihrer großen Taten, die Naivität der natürlichen Einstellung aufgezeigt, in der ich zwischen Bewußtseins-Innerem und Außenwelt unterscheide. Aber indem sie dann eine transzendentale Subjektivität setzt, die sich selbst konstituiert und als solche doch wiederum nur einen aufweisbaren Sinn hat als auf Gegebenes bezogene wird die Naivität der natürlichen Einstellung überhöht in eine transzendentale Naivität. Wir finden hier eine Gegenüberstellung von Welt und Bewußtsein und dann gleichzeitig eine Durchstreichung von Welt, ein Aufsaugen der Welt im Bewußtsein, die die transzendentale Naivität zu einer bodenlosen machen. Wenn und insoweit die Phänomenologie zu einer derartigen Reflexionsphilosophie wird, kann sie die Grundparadoxie der Weltkonstitution und des In-der-Welt-konstituiert-Seins nicht lösen. Auf sie trifft Merleau-Pontys Kritik der reflexiven Analyse zu, die glaubt, dem umgekehrten Weg einer vorhergehenden Konstitution zu folgen und im inneren Menschen ein konstitutives Vermögen wiederzufinden. „Im übrigen, diese Unterscheidung, die ich zwischen mir als letztem und konstituierendem Subjekt und dem empirischen Menschen, in dem dieses Subjekt sich durch eine zweite Wahrnehmung, deren Urheber es noch ist, verkörpert, kann ich mit Leichtigkeit in der Reflexion vollziehen; kann ich sie in bezug auf den anderen, kann er sie in bezug auf mich vollzie-
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hen? Sind für einen außenstehenden Zeugen das letzte und konstituierende Subjekt und der Mensch nicht ein einziges Wesen?" (Maurice MerleauPonty: Resumes de Cours, College de France 1952—1960. Paris 1968, S. 150; wir zitieren: RdC) Auf diese Weise trägt sich nach MerleauPonty die Reflexion selbst weg und versetzt sich in eine unverletzliche Subjektivität, die über das Sein und die Zeit, das heißt über die Gegebenheit, hinaus ist. Hierin liegt eine Naivität — oder wenn man will — eine unvollständige, falsch verstandene Reflexion, nämlich eine solche, die das Bewußtsein ihres eigenen Beginns verloren hat. So reduziert auch der transzendentale Idealismus die Welt, indem er sie erst auf den Gegenstand reduziert und sie dann in die Idee erhebt, indem er die Welt allein uns vergewissert als Denken oder Bewußtsein der Welt und bloßes Korrelat der Erkenntnis. Auf diese Weise, so sagt Merleau-Ponty, wird die Welt dem Bewußtsein immanent, und das An-sich-Sein der Dinge verschwindet. Das materiale Apriori wird aufgelöst in einem neuen Formalismus.
§ 23 Lübbes Darstellung der Husserlschen
Paradoxie
Wir hatten getrennt die Darlegung des Ziels, das Husserl der Philosophie stellte, und den Weg oder, besser gesagt, die Wege, die er selbst in Richtung auf dieses Ziel eingeschlagen hat. Inzwischen ist klar geworden, warum wir dies getan haben. Die Aufgabe, das Ziel und die grundlegenden Analysen, die zur Stellung dieser Aufgaben führten, bleiben im großen und ganzen unverrückt und unverrückbar. Husserl selbst hat das Ziel nicht erreicht. Zur Bewältigung der Aufgabe jedoch hat er den Weg geöffnet. Das Ziel ist die Versöhnung der Lebenswelt mit der wissenschaftlichen Welt. Die von ihm erschlossene Grundlage ist die Einsicht in das materiale Apriori. Die Lebenswelt ist das materiale Apriori. Indem Husserl sich in der transzendentalen Subjektivität verfängt, verstellt er sich die Einsicht in das materiale Apriori. So konnte es ihm auch nicht gelingen, es sei denn in Bruchstücken, die Lebenswelt darzustellen. Deren Darstellung bleibt bei ihm weitgehend bloße Forderung, und damit bleibt auch die Versöhnung von wissenschaftlicher Welt und Lebenswelt eine noch einzulösende Forderung. Hermann Lübbe betrachtet diese Problematik als zentral für das Husserlsche Denken und skizziert sie wie folgt: „Husserl ((will)) die transzendentale Frage, die Frage also nach den subjektiven Bedingungen
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§ 23: Lübbes Darstellung der Husserlsdien Paradoxic
des wissenschaftlichen Erkennens und der darin erstellten Objektivität bis zu jener Subjektivität vorwärtstreiben, die der Mensch konkret-praktisch ist und als die er geschichtlich existiert. ,Lebenswelt' nennt Husserl diese ursprüngliche, konkrete Subjektivität ( . . . ) ,Lebenswelt' ist gedacht und verstanden im Unterschied zur ,Welt', wie sie als Sphäre und Inbegriff des ,An-sich-seins' in den Naturwissenschaften gegenständlich ist." (Hermann Lübbe: Husserl und die europäische Krisis. In: KantStudien, Philos. 2s., 49. Bd., Η. 1,1957/58, S. 234 f.) Lübbe fährt fort: „Allerdings gibt er in seinem Alterswerk nur die ,Exposition' dieser Aufgabe, die ,Klärung' des Problems, aus dem sie erwächst, und methodische Reflexionen zu ihrer Lösung. Die Lösung selbst erfolgt nicht mehr. Das ganze Werk von mehreren hundert Seiten ist insofern erst eine,Einleitung' zur eigentlichen transzendentalphänomenologischen Analytik der Lebenswelt selbst." (Ebda., S. 235) Und schließlich meint er, es sei kein Zufall, daß es bei Husserl keine Ontologie der Lebenswelt gegeben habe, daß sein Ansatz ihm nicht erlaube, sein Ziel zu erreichen. Diese Husserlsche Ontologie liege nicht vor, und es sei auch kein Zufall, daß man dem vorliegenden Werk kaum entnehmen könne, wie sie wohl ausgesehen haben könnte. „Husserls Frage nach der Wirk- und Lebenswelt des Menschen als dem geschichtlich-konkreten Ort und Subjekt der Wissenschaft müßte zu einer Analyse des gesellschaftlichen Miteinanderseins führen. Jedoch das Gesellschaftsproblem hat von Anfang an gänzlich außerhalb des Problemhorizonts phänomenologischen Philosophierens gelegen, und auch in seiner Krisis-Arbeit kommt Husserl ihm kaum einen Schritt näher. Eben darum bleibt aber auch die neue Thematik einer Analyse der menschlichen ,Lebenswelt' nur Entwurf und Programm, und die ganze umfangreiche Krisis-Arbeit ist bloß eine Einleitung dazu. Was Husserl vorschwebt, läßt sich einzig vielleicht jenen Stellen entnehmen, an denen er das gesuchte universale Subjekt,Menschheit' nennt. Der Gegensatz Husserls zu Heidegger zeigt sich darin, daß die konkrete Lebenswirklichkeit des Menschen in letzter Instanz die »Menschheit' sei — das ist den Intentionen von Sein und Zeit absolut widersprechend. Für Husserl ist ,Menschheit' der Problemtitel für die Uberwindung der abstrakten, monadisch-isolierten Existenz des phänomenologisch reduzierten Subjekts. Aber dieser rationalistische Menschheitsbegriff bleibt selber abstrakt, und in ihm spiegelt sich die bis zuletzt sich durchhaltende Abstraktion des Husserlschen Philosophierens vom Gesellschaftsproblem. Husserls Ziel ist die konkrete Bestimmung der ,intersubjektiven' Wirklichkeit. Indem er diese Wirklichkeit als die Wirklichkeit der Gesellschaft
§ 23: Lübbes Darstellung der Husserlschen Paradoxie
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philosophisch nicht kennt, indem er auch jetzt noch die menschheitliche Sphäre der universalen Intersubjektivität im Ausgang vom phänomenologisch reduzierten Ego glaubt erreichen zu müssen, ersteht ihm die unlösbare Aufgabe, die ,Menschheit' aus den Akten und Inhalten des Bewußtseins zu konstituieren. Mit dieser Problemstellung, in die seine KrisisArbeit ausläuft, kommt Husserl nun auch in seinem letzten Werk über die Schranken seines ursprünglichen Ansatzes nicht hinaus, und genau dies ist auch der Punkt, an den sich nicht anknüpfen läßt, so wichtig Husserls Spätwerk im übrigen audi für die Erneuerung und Fortsetzung der von Heidegger unabhängigen Tradition phänomenologischen Philosophierens sein mag." (Ebda., S. 236 f.) Zur Meinung Lübbes läßt sich zunächst sagen, daß sich in Husserls unveröffentlichten Manuskripten Material zu einer Phänomenologie oder einer Ontologie der Lebenswelt finden lassen muß, das weit über das hinausgeht, was die „Krisis" ahnen läßt und was Lübbe meint, Husserl zutrauen zu können. Das liegt daran, daß Husserl sich glücklicherweise oft genug nicht an seine programmatischen Grundlagen hält, sondern de facto die Lebenswelt als materiales Apriori beschreibt. In diesen Zusammenhang gehören auch die zwei verschiedenen Begriffe von Welt, die wir bei Husserl finden. Husserl will die Lebenswelt entfalten. Aber die Welt, die wir in der systematischen Auslegung seines Denkens entdeckten, ist das die Lebenswelt? Die Welt als Einstimmigkeit der Erfahrung und als Bestimmtheitsstruktur der Erfahrung, ist das die konkrete erfahrene Welt? Offensichtlich haben wir in der Welt als „WeltBegriff" bereits eine gewisse Subjektivierung, und zwar eine formalisierende, „regelt" der Welt-Begriff doch die Erfahrung, wobei Einstimmigkeit und Bestimmtheitsstruktur nichts über den konkreten Gehalt der Welt sagen. Wir können annehmen, daß hier der Grund liegt, dessen Husserl sich nicht bewußt geworden ist, der ihn dazu getrieben hat, den konkreten einzelnen Analysen Priorität vor der Analyse der Welt zu geben. Diese konkreten Analysen waren ja für ihn ausdrücklich, indem sie nämlich auf die Welt hin gesehen wurden, Bruchstücke einer Darstellung der Lebenswelt. Welchen Zusammenhang allerdings diese konkreten Analysen mit der Welt haben, auf die hin sie vollzogen wurden und die, wie wir gesehen haben, eine stark formalisierte Welt ist, das hat Husserl nicht thematisiert. Den Zusammenhang zwischen lebensweltlichen Einzelanalysen und der Welt als Welt-Begriff finden wir bei ihm nicht herausgearbeitet.
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§ 24: Die Lebenswelt als Problem der zeitgenössischen Philosophie
Eine weitere und wichtige Antwort auf Lübbes Aussage liegt in der Feststellung, daß sich sehr wohl an Husserl anknüpfen läßt, ja daß eine Phänomenologie der Lebenswelt einfach an Husserl anknüpfen muß, und zwar indem man Husserls Philosophie von ihren Selbstmißverständnissen reinigt, sich ihre Grundeinsichten aneignet und in der von Husserl eröffneten Dimension weiterarbeitet. Der Beweis dafür liegt darin, daß das ganze zeitgenössische Denken von Denkmethoden beherrscht wird, die an Husserl angeknüpft haben.
§24 Die Lebenswelt der zeitgenössischen
als Problem Philosophie
Husserl hat das materiale Apriori entdeckt. Seitdem ist die wesentliche Aufgabe der Philosophie die Auslegung der rätselhaften, vorgängigen Vorbekanntheit alles Seienden, das heißt die Auslegung des materialen, vorgegebenen und in seiner Gegebenheit zu erfassenden Apriori als Entfaltung der Lebens weit. Von Heidegger, Sartre, Merleau-Ponty zu Gadamer ist dies das Thema. Das gilt auch für Denker wie u. a. Foucault und Wittgenstein, von denen das Thema der Lebenswelt nicht ausdrücklich ins Bewußtsein gehoben wird. Von Wittgenstein sagt Lübbe, daß seine philosophischen Untersuchungen sich als eine Phänomenologie der Sprache entpuppen. (Vgl. Hermann Lübbe: „Sprachspiele" und „Geschichten", Neopositivismus und Phänomenologie im Spätstadium. In: Kant-Studien, Philos. Zs., 52. Bd., Η. 1.4,1960/61, S. 226) Wir möchten meinen und dann später audi deutlicher zeigen, daß Wittgensteins Philosophie Phänomenologie schlechthin ist: eine Phänomenologie der Sprache impliziert eine Phänomenologie der Lebenswelt, dieses Scharnier wird deutlich in folgendem Ausspruch Wittgensteins: „Immer wieder ist der Versuch, die Welt in der Sprache abzugrenzen und hervorzuheben — was aber nicht geht. Die Selbstverständlichkeit der Welt drückt sich eben darin aus, daß die Sprache nur sie bedeutet und nur sie bedeuten kann. Denn, da die Sprache die Art ihres Bedeutens erst von ihrer Bedeutung, von der Welt erhält, so ist keine Sprache denkbar, die nicht diese Welt darstellt." (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Bemerkungen. Aus dem Nachlaß hsg. v. R. Rhees; Schriften 2, Frankfurt/M. 1964, S. 80) Phänomenologisch sind die Untersuchungen Wittgensteins in dreifacher Hinsicht, nämlich als Erschauung des Selbstgegebenen, als Er-
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schauung jedes Gegebenen in seiner Horizonthaftigkeit und als Erfassung des Selbstgegebenen als Lebenswelt. Zuerst wehrt Wittgenstein jede Theorie ab, die die Wirklichkeit „erklären" will, indem sie sie auf etwas anderes zurückführen möchte als das, was die Wirklichkeit unmittelbar an sich selbst für sich selbst sehen läßt. „Alle Erklärung muß fort und nur Beschreibung an ihre Stelle treten." (Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 1967, Abs. 109; wir zitieren: PU) Die Philosophie kann die Wirklichkeit nicht begründen. „Sie läßt alles, wie es ist. (...) Die Philosophie stellt eben alles bloß hin und erklärt und folgert nichts." (Ebda., Abs. 124, Abs. 126) Zweitens zeigt Wittgenstein, daß alles in einer Situation, in einem Horizont steht. Ein Wort hat nicht einmal seine Bedeutung nur aus der Sprache. (Vgl. PU, Abs. 49) Jedes Zeichen allein, ob Wort oder Satz, ist tot. (Vgl. ebda., Abs. 432) So reicht alles Verständnis auch immer weiter als alle Beispiele. (Vgl. ebda., Abs. 209) Das Dritte, was Wittgenstein mit der Phänomenologie verbindet, ist, daß er alle Zweckgebilde, die die Wirklichkeit verstellen, die in die Lebenswelt einfließen und unter Umständen mit ihr vertauscht werden, auf die Lebenswelt zurückführt und zeigt, wie sie in ihr gründen. „Die Probleme werden gelöst, nicht durch Beibringen neuer Erfahrungen, sondern durch Zusammenstellung des längst Bekannten. Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes, durch die Mittel unserer Sprache." (PU, Abs. 109) Wir können wir gegen diese Verhexung angehen? Auf was müssen wir aus sein? „Unser Fehler ist, dort nadi einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als,Urphänomene' sehen sollten." (Ebda., Abs. 654) Diese Urphänomene sind uns durch theoretische Erklärungen, durch Zweckgebilde verdeckt. Aufgabe der Philosophie ist es, aufzuweisen, und zwar die Urphänomene der Lebenswelt. „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, — weil man es immer vor Augen hat.) Die eigentlichen Grundlagen seiner Forschung fallen dem Menschen gar nicht auf. Es sei denn, daß ihm dies einmal aufgefallen ist. — Und das heißt: das, was, einmal gesehen, das Auffallendstes und Stärkste ist, fällt uns nicht auf." (Ebda., Abs. 129) Und schließlich heißt es in letzter Deutlichkeit: „Das Hinzunehmende, Gegebene — könnte man sagen — seien Lebensformen." (Ebda., S.263) 8 Brand,
Lebensweit
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§ 24: Die Lebenswelt als Problem der zeitgenössischen Philosophie
So kennzeichnet Lübbe völlig zu Recht die Phänomenlogie Wittgensteins wie folgt: „Es geht darum, sich der Voraussetzungen bewußt zu werden, aus denen sich auch das spezialisierteste Denken und Handeln des Menschen nicht emanzipieren kann. In gewisser Weise geht es um eine Apriori-Analyse, nur daß es sich bei diesem Apriori nicht um allgemeine und notwendige Prinzipien handelt, sondern im Gegenteil um Besonderes und Zufälliges, das aber gleichwohl den Charakter des Unumgänglichen hat. Theorie eines solchen faktischen Apriori war die phänomenologische Philosophie als Analytik dessen, was von Dilthey über Heidegger bis zum späten Husserl ,Welt' oder ,Lebenswelt' heißt. Wittgensteins Untersuchungen sind dem verwandt, indem sie die Sprache thematisieren, sofern sie dieser Lebenswelt zugehört, und von deren faktischer Voraussetzung auch der nicht loskommt, der ein Kalkül begründet, weil er sich ihrer bedienen muß, um es einzuführen. Die kritisch-destruktive Tendenz dieser Untersuchungen richtet sich dabei nicht gegen den spezialisierten wissenschaftlichen Sprachgebrauch. Der hat seinen Platz als Sprachspiel unter Sprachspielen. (...) Die natürliche Lebenswelt und die ihr zugehörende natürliche Sprache ist der Ort, von dem aus Wittgenstein die ,exakte' Sprache und die physikalische Wirklichkeit, die in ihr abgebildet wird, als eine beschränkte Sprachwirklichkeit aufweist, die innerhalb der natürlichen Lebenswirklichkeit ihren besonderen Platz hat (es gibt ja Physiker)." (Lübbe: „Sprachspiele" . . . , S. 227, S. 231) Kommen wir nun zu Michel Foucault, einem der einflußreichsten Vertreter des Strukturalismus in Frankreich, und betrachten wir den von ihm gebrauchten Hauptbegriff. Es handelt sich um den Begriff der epistem£, des „epistemologischen Feldes", der die Voraussetzungen allen Wissens definiert und damit als transzendentaler Grundbegriff seiner Philosophie betrachtet werden muß. Foucault umschreibt ihn wie folgt: „Die fundamentalen Kodices einer Kultur — die ihre Sprache regeln, ihre Wahrnehmungsschemata, ihre Tauschmodalitäten, ihre Techniken, ihre Werte, die Hierarchie ihrer Praktiken — legen von Anfang an in jedem Menschen die empirischen Ordnungen fest, mit denen er es zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird. Am anderen Ende des Denkens erklären wissenschaftliche Theorien oder Interpretationen von Philosophen, warum es im allgemeinen eine Ordnung gibt, welchem allgemeinen Gesetz sie gehorcht, welches Prinzip sie erklären kann, aus welchem Grund diese Ordnung sich etabliert hat und nicht eine andere. Zwischen den beiden voneinander so entfernten Regionen gibt es ein Gebiet, das, wenn
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es auch hauptsächlich eine Vermittlerrolle spielt, nicht weniger fundamental ist. Es ist konfuser, obskurer, ohne Zweifel weniger leicht zu analysieren. In diesem Gebiet ist es, in dem eine Kultur sich unmerklich von den empirischen Ordnungen löst, die ihr von ihrem primären Kodex vorgeschrieben sind, indem sie eine erste Entfernung zu ihnen herstellt, indem sie deren erste Durchsichtigkeit verschwinden läßt, indem sie aufhört, sich passiv von ihnen durchdringen zu lassen, indem sie sich löst von ihrer unmittelbaren und unsichtbaren Macht, indem sie sich genügend befreit, um festzustellen, daß diese Ordnungen vielleicht nicht die einzig möglichen, noch die besten sind. So findet sie sich vor der nackten Tatsache, daß es unter ihren spontanen Ordnungen Dinge gibt, die von sich aus geordnet werden können, die einer gewissen schweigenden Ordnung zugehören, mit einem Wort, daß es Ordnung gibt. Es ist, als wenn die Kultur, indem sie sich einerseits von ihren linguistischen, perzeptiven und praktischen Rastern befreit, auf diese einen zweiten Raster legen würde, der sie neutralisiert, der, indem er sie verdoppelt, sie sowohl erscheinen läßt wie auch gleichzeitig ausschließt und dadurch sich vor dem nackten Sein der Ordnung befindet. Im Namen dieser Ordnung wird der Kodex der Sprache, der Wahrnehmung, der Praxis kritisiert und teilweise ungültig gemacht. Auf dem Grund dieser Ordnung, der als der einzig positive Boden betrachtet wird, werden die allgemeinen Theorien der Ordnung der Dinge und Interpretationen, die diese hervorruft, gebaut. So finden wir zwischen dem bereits kodifizierten Blick und der reflexiven Erkenntnis eine Zwischenregion, die die Ordnung in ihrem Sein selbst befreit. ( . . . ) Diese Zwischenregion kann sich als die fundamentalste Region zeigen in dem Maße, in dem sie die Seinsweisen der Ordnung bekundet: vorgegeben vor den Worten, vor den Wahrnehmungen und vor den Gesten, die sie mit mehr oder weniger großer Exaktheit oder mehr oder weniger großem Glück übersetzen sollen. (Darum spielt diese Erfahrung der Ordnung in ihrem ursprünglichen und massiven Sein immer eine kritische Rolle.) Sie ist solider, archaischer, weniger zweifelhaft, immer ,wahrer' als die Theorien, die versuchen, ihr eine explizite Form zu geben, eine erschöpfende Anwendung oder eine philosophische Begründung. So finden wir in jeder Kultur zwischen dem Gebrauch dessen, was man die bestimmenden Kodices nennen könnte, und den Reflexionen über die Ordnung die nackte Erfahrung der Ordnung und ihrer Seinsweisen. (Michael Foucault: Les mots et les choses, Paris 1966, S. 12 f.) 8*
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Foucault vertritt die These, „daß es in einer Kultur und in einem gegebenen Augenblick immer nur eine epistem^ gibt, die die Bedingungen der Möglichkeit allen Wissens definiert." (Ebda., S. 179) Aus den grundlegenden Begriffen Foucaults ergeben sich drei Schwierigkeiten. Daß auch in einem geschichtlichen Moment sich mehrere epistemes überschneiden können, ist allzu offensichtlich. Wichtiger aber ist, daß die geschichtliche Aufeinanderfolge der epist£m£s völlig unverständlich bleibt. Schließlich aber führt die Darlegung der epistem^ selbst zu einem unendlichen Regreß, wie Foucault in einem Interview zugibt: „M. F. Man denkt innerhalb eines anonymen und zwingenden Gedankensystems «episteme», nämlich dem einer Epoche und einer Sprache. Dieses Denken und diese Sprache haben ihre eigenen Gesetze der Umwandlung. Die Aufgabe der heutigen Philosophie und aller theoretischen Disziplinen, die ich Ihnen aufgezählt habe, besteht darin, dieses Denken vor dem Denken, dieses System vor jeglichem System wieder zutage zu fördern. Aus ihm taucht unser ,freies' Denken empor und leuchtet für einen Augenblick auf (...) Welches wäre unser heutiges System? M. F. Ich habe das — teilweise — in ,Les mots et les choses' darzustellen versucht. Befanden Sie sich, als Sie das taten, jenseits des Systems? M. F. Um das System zu denken, wurde ich schon von einem System hinter dem System gezwungen, das ich nicht kenne und das in dem Maße zurückweichen wird, in dem ich es entdecken werde, in dem es sich entdecken wird (...)." (Michel Foucault: Absage an Sartre. In: alternative. 2s. f. Lit. u. Diskuss., 10. Jg., H . 54, Juni 1967, S. 92) Die genannten Schwierigkeiten können überwunden, der Begriff der epistem^ kann zu einem wirklich fruchtbaren Instrument gestaltet werden, wenn seine implizite, manchmal beinahe ausgesprochene Voraussetzung freigelegt wird: das Begriffspaar Lebenswelt — Weltbild. Die von Husserl gestellte Frage nach der Lebenswelt ist bis heute nur teilweise und dabei auch teilweise falsch beantwortet worden. Wir haben nun zu unterscheiden, wie seine großen Nachfolger, Heidegger, Sartre und Merleau-Ponty, dieses Problem angegangen haben. Dabei können wir nur andeuten, mit welchen Methoden sie dies versuchten. Ineins damit stellt sich die Frage, als was sie die Lebenswelt bestimmten, ob sie sie ganz erfaßt und ob sie sie in ihrer Gegebenheit belassen haben.
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Selbst wenn man sich auf Andeutungen beschränken will, ist diese Aufgabe aus zwei Gründen besonders schwierig: erstens haben sich die Nachfolger Husserls nicht so ausführlich wie er selbst über methodologische Fragen ausgelassen, und zweitens besteht ein großer Teil der Arbeiten der Nachfolger in konkreten Analysen, auf deren Wiedergabe verzichtet werden muß, weil sie wegen ihrer Konkretion einen zu großen Raum beanspruchen würden. Nur die grundsätzlichen Auffassungen also, die diesen Analysen zugrunde liegen, können in ihrer Relevanz für die Erfassung des konkreten Apriori behandelt werden.
3. Kapitel: Heidegger § 25 Das Problem der Lebenswelt, der hermeneutische Zirkel und die Philosophie als Phänomenologie Heideggers Philosophie beginnt zwar ausdrücklich mit der Frage nach dem Sein, sie ist jedoch nichts anderes — wenigstens bis zu seiner sogenannten „Kehre" — als der Versuch einer Philosophie der Lebenswelt. Für Husserl ist die Lebenswelt als zentrales Thema der Philosophie nicht erreichtes Ziel geblieben, für Heidegger ist sie Ausgangspunkt oder soll es wenigstens sein. Es stellt sich zunächst das Problem: Wie werden wir von Heidegger von der Seinsfrage sogleich zur Lebenswelt geführt? Wenn wir die Seinsfrage ausarbeiten wollen, sagt Heidegger, dann müssen wir ein Seiendes, nämlich das Fragende, in seinem Sein durchsichtig machen. Dieses Seiende, das wir selbst sind, nennt Heidegger Dasein. „Ausarbeitung der Seinsfrage besagt demnach: Durchsichtigmachen eines Seienden — des fragenden — in seinem Sein. ( . . . ) Dieses Seiende, das wir selbst je sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein." (SZ, S. 7) Zur Seinsfrage gelangen wir also erst durch eine Analytik des Daseins. Was aber ist die Grundverfassung des Daseins überhaupt? Das Dasein ist In-der-Welt-Sein. (Vgl. SZ, S. 62) „Zum Dasein gehört aber wesenhaft: Sein in einer Welt. Das dem Dasein zugehörige Seinsverständnis betrifft daher gleichursprünglich das Verstehen von so etwas wie ,Welt' und Verstehen des Seins des Seienden, das innerhalb der Welt zugänglich wird." (SZ, S. 13) Analysieren wir das Dasein, dann analysieren wir sein In-der-Welt-Sein, das heißt wir analysieren die Lebenswelt. Bevor wir Heideggers Analytik der Lebenswelt nachgehen, sei eine kurze Bemerkung über den Gang seines Philosophierens eingefügt. Offensichtlich steht bei Heidegger von vornherein das materiale Apriori der Lebenswelt im ganzen stärker im Vordergrund als bei Husserl. Einerseits werden wir in Heideggers Denken eine weiter und tiefergehende Einsicht in die Materialität des Apriori, eine stärkere Betonung der Gegeben-
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heit des In-der-Welt-seins finden, andererseits aber auch in einem merkwürdigen Gegenzug dazu, eine radikalere und zunächst konkreter erscheinende Herausarbeitung des Tuns, der aktiven Aspekte der Subjektivität. "Wenn wir auch bei Heidegger auf ein Sich-Verfangen in der Subjektivität treffen, wird es darum noch ausgeprägter sein müssen, einen aktivistischeren Charakter haben als bei Husserl. Selbst nach diesem Sich-Verfangen, bleibt Heidegger jedoch weiterhin berührt von seiner Einsicht in das materiale Apriori. Wenn er in „Sein und Zeit" seiner eigenen Einsicht nicht genügen konnte, wenn er in der Auslegung des materialen Apriori dessen Materialität, dessen Gegebenheit verloren hat, legt dies nicht die Vermutung nahe, daß sein Scheitern ihn schließlich zur spekulativen Radikalisierung der Vor-Gegebenheit des Seins geführt hat? Doch kann Heideggers Abkehr von der existenzialen Analytik als Analyse der Lebenswelt und seine Hinwendung zu einer poetischen Theologie ohne Theophanie nicht Gegenstand dieser Untersuchung sein. (Vgl. dazu bes. Martin Heidegger: Über den „Humanismus", Brief an Jean Beaufret, Paris. In: Piatos Lehre von der Wahrheit, Bern 1947) Wir wollen uns an den Heidegger vor der „Kehre" halten und haben hier lediglich zunächst zu zeigen, wie die Konkretion des Apriori von Heidegger allgemein und grundlegend dargestellt wird in der Herausarbeitung des hermeneutischen Zirkels und der Kennzeichnung der Philosophie als Phänomenologie. Danach haben wir zu sehen, wie die Konkretion im besonderen ihre Berücksichtigung findet bei der kapitalen Frage nach der Gegebenheitsweise der Subjektivität und der Welt, „in" der diese Subjektivität als Subjektivität ist. Beginnen wir mit dem hermeneutischen Zirkel. Wir werden auf ihn hingeführt, wenn wir fragen: Wo ist der rechte Ansatz zur Analytik des Daseins? Die Grundverfassung des Daseins ist dessen In-der-Welt-sein; das ist das Apriori, das allem anderen vorausliegt. Diese Grundverfassung ist mir im ganzen immer schon erschlossen — wohlgemerkt, erschlossen heißt nicht thematisiert — sonst könnte ich nämlich überhaupt nichts von ihr wissen. Die Analytik des Daseins kann also nirgends anders ansetzen als bei seiner vorgängig gegebenen Erschlossenheit, und sie muß sich vollziehen als deren Auslegung. Das Dasein, das sich selbst als In-derWelt-sein vor-findet, kann sich gar nicht anders analysieren als durch die Selbsterhellung dieses Sich-selbst-in-der-Welt-vorgegebenen-Seins, eine Erhellung, die nur dadurch ist, daß sie sich selbst auslegt. Darin besteht der hermeneutische Zirkel. Alle Auslegung muß das Auszulegende vorgängig erschlossen haben, um überhaupt zur Auslegung zu werden.
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Wir treffen erneut und präziser auf die rätselhafte Vorgängigkeit der Vorbekanntheit alles Seienden, die Vorgängigkeit des materialen Apriori der Lebenswelt; oder vielmehr treffen wir auf eine methodologische Folgerung aus dieser Vorbekanntheit. Hierzu gibt es einen zentralen Text Heideggers, der für die Phänomenologie bestimmend bleibt, auch dann, wenn Heidegger sich selbst nicht mehr an ihn kehrt, das heißt, wenn er statt auszulegen „setzt", „konstituiert" oder in seiner Spätphilosophie „spekuliert", wenn nicht gar beschwört. „Alle Auslegung, die Verständnis beistellen soll, muß schon das Auszulegende verstanden haben. Man hat diese Tatsache immer schon bemerkt, wenn auch nur im Gebiet der abgeleiteten Weisen von Verstehen und Auslegung, in der philologischen Interpretation. Diese gehört in den Umkreis wissenschaftlichen Erkennens. Dergleichen Erkenntnis verlangt die Strenge der begründenden Ausweisung. Wissenschaftlicher Beweis darf nicht schon voraussetzen, was zu begründen seine Aufgabe ist. Wenn aber Auslegung sich je schon im Verstandenen bewegen und aus ihm her sich nähren muß, wie soll sie dann wissenschaftliche Resultate zeitigen, ohne sich in einem Zirkel zu bewegen, zumal wenn das vorausgesetzte Verständnis überdies noch in der gemeinsamen Menschen- und Welterkenntnis sich bewegt? Der Zirkel aber ist nach den elementarsten Regeln der Logik circulus vitiosus." (SZ, S. 152) Nun aber weist Heidegger nach, daß dieser Zirkel vorliegen muß, daß er nicht „vitiosus" ist, sondern daß er einen ontologisch-positiven Sinn hat, daß in ihm die ursprüngliche und ursprunggebende Vollzugsform jedweden Verstehens überhaupt liegt. (Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960, S. 251). „Aber in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja ihn auch nur als unvermeidliche Unvollkommenheit ,empfinden', heißt das Verstehen von Grund aus mißverstehen. Nicht darum geht es, Verstehen und Auslegung einem bestimmten Erkenntnisideal anzugleichen, das selbst nur eine Abart von Verstehen ist, die sich in die rechtmäßige Aufgabe einer Erfassung des Vorhandenen in seiner wesenhaften Unverständlichkeit verlaufen hat. Die Erfüllung der Grundbedingungen möglichen Auslegens liegt vielmehr darin, dieses nicht zuvor hinsichtlich seiner wesenhaften Vollzugsbedingungen zu verkennen. Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen. Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist der Ausdruck der existentialen Vor-Struktur des Daseins selbst. Der Zirkel darf nicht zu
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einem vitiosum und sei es auch zu einem geduldeten herabgezogen werden." (SZ, S. 153) Eine wichtige Folgerung aus dem hermeneutischen Zirkel ist, daß alles Auslegen des einzelnen immer alles andere mitbetrifft, daß jedes Fragen anderes Fragen mitberührt, daß wir also mit allem Fragen immer bei derselben Grundfrage sind. Auszulegen also ist die immer schon erschlossene Vorstruktur des Daseins. Warum muß dieser Auslegung der Name „Phänomenologie" gegeben werden? Weil darin das Vorbekannte zur Bekanntheit gelangt, aus der Vorgängigkeit und der Verstelltheit heraus gebracht wird zum Sich-Zeigen, und zwar zum Sich-Zeigen, wie es an ihm selbst ist. Das Sichselbst-Zeigende nennt Heidegger „Phänomen". Mit dieser Benennung ist noch nicht gesagt, was die Phänomene im besonderen sind, nur eines: sie müssen Sich-selbst-Zeigendes sein. Die Phänomenologie ist keine Philosophie, die von vornherein den Was-Gehalt der Phänomene festgelegt hätte, sondern sie erhält diesen erst dadurch, daß etwas sich zeigt und darin, wie und als was es sich zeigt. Das ist es, was Husserl ζ. B. in den „Cartesianischen Meditationen" meint, wenn er die Frage stellt, wie bin ich in der Welt, wie verstehe ich Welt und mich selbst? (Vgl. CM, S. 116 ff.) Mit dem Wie ist hier nicht der Modus eines schon Gegebenen gemeint, sondern das Wie überhaupt, ganz ähnlich, wenn wir im Alltag fragen: Wie ist das eigentlich? Dieses selbe Wie ist es, das Heidegger im Blick hat, wenn er sagt: „Der Ausdrude Phänomenologie' ( . . . ) charakterisiert nicht das sadihaltige Was der Gegenstände der philosophischen Forschung, sondern das Wie dieser." (SZ S. 27) Ist es diese Aussage, die Tugendhat zu der Behauptung verführt, Heidegger finde „in Husserls Phänomenologie eine durchgebildete Methode zur Erforschung des Wie, des Gegebenseins in klarer und bewußter Abhebung gegen eine inhaltliche Betrachtung?" (Tugenhat: Wahrheitsbegriff . . . , S. 265) Wenn damit wirklich gemeint sein sollte, daß Heidegger nicht nach dem Inhalte der Sachen, nach dem, was sie sind, fragt, sondern nur danach, wie etwas gegeben ist, gleich welchen Gehalt es auch habe, dann wäre dies schon widerlegt durch den Satz, den Heidegger dem eben zitierten folgen läßt. „Der Titel Phänomenologie' drückt eine Maxime aus, die also formuliert werden kann: ,zu den Sachen selbst!' — entgegen allen freischwebenden Konstruktionen, zufälligen Funden, entgegen der Übernahme von nur scheinbar ausgewiesenen Begriffen, entgegen den Scheinfragen, die sich oft Generationen hindurch als .Probleme' breitmachen."
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(SZ, S. 27 f.) Was die Sache ist, wissen wir erst, wenn sie sich zeigt in ihrem Was-Sein und im Wie ihres Sich-Zeigens. Nach dieser kurzen Kennzeichnung einer Philosophie des konkreten Apriori, der Lebenswelt, als hermeneutischer Auslegung, die als Auslegung die Phänomene als das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende aus der Vorbekanntheit herausliest, haben wir die Frage nach dem Subjekt dieses konkreten Apriori zu stellen. Wenn das Apriori wirklich als konkretes kenntlich wird, wenn die Subjektivität nicht insgeheim und hinter ihrem eigenen Rücken die Erfahrung verknüpft, die Welt vor-konstituiert hat, wenn die Subjektivität nicht lediglich wie beim formalen Apriori organisatorische Funktion hat, dann gewinnt die Frage nach der Seinsweise des Subjekts eine neue Bedeutung. Wir müssen uns dann nämlich fragen, wie es möglich ist, daß es so etwas wie Gegebensein für ein Ich überhaupt gibt, wenn das Gegebene vom Ich nicht konstituiert wird. Wie ist dieses Subjekt, für das es Gegebenes gibt und das sich im Gegebenen selbst findet, sich selbst gegeben ist, und was ist ihm Gegebenes? Heidegger hat die Bedeutung dieser Frage viel deutlicher gesehen als Husserl. Den Versuch seiner Antwort auf dieses zentrale Problem haben wir in zweierlei Hinsicht zu klären: im Blick auf das Da des Daseins und im Blick auf die Welt seines In-der-Welt-seins. Nach Heidegger kommen dem Dasein drei Charakteristika zu, die zueinander gehören, sich gegenseitig durchdringen: die Befindlichkeit, das Verstehen, das Zu-Sein. Die Subjektivität ist In-der-Welt-sein, und als Gegebenes muß sie sich finden als sich in der Welt befindend. Sich in etwas befinden kann nicht heißen, etwas einfach als Gegenüber zu haben. Im Gegenüber befinde ich mich nicht, das reine Gegenüber geht mich nichts an. Das Dasein befindet sich in der Welt, und die Welt geht das Dasein an. Darum und darin zeigt sich das Dasein als Seiendes, das angegangen werden kann, es ist angängliches. Nur für eine Subjektivität, die von dem, was gegeben ist, angegangen werden kann, gibt es überhaupt Gegebenes oder Gegebenheit. Wenn Dasein so in der Welt ist, daß diese es angeht, hat es ingesamt den Charakter von Affiziert-Sein. Das Gegebene kann Gegebenes nur sein als das, was das Dasein affiziert, was es angeht. Wenn mich aber etwas überhaupt affizieren, angehen kann, dann nicht nur deswegen, weil ich angänglich bin, passiv angegangen werden kann, sondern weil ich mich selbst angehe, weil es mir um midi selbst geht. Das Angehen geht das Dasein um seiner selbst willen an. Von der Welt angegangen hat das Dasein die Welt zu besorgen, und zwar als Angegangenes im Interesse, in
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der Sorge um sich selbst. Hier deutet sich bereits die Struktur des Dasein an, die Heidegger „Sorge" nennt. Diese allerdings können wir hier nicht erhellen, vielmehr müssen wir jetzt fragen, welches ist nun die Seinsweise des Sich-selbst-Zeigens, des Sich-selbst-gegeben-Seins des Daseins in der Passivität seiner Befindlichkeit? Es ist die Stimmung. (Vgl. SZ, S. 137) In der Stimmung sind mir das Sein der Welt und mein eigenes Sein ursprünglich erschlossen. „Das Gestimmtsein bezieht sich nicht zunächst auf Seelisches, ist selbst kein Zustand drinnen, der dann auf rätselhafte Weise hinausgelangt und auf die Dinge und Personen abfärbt. ( . . . ) Sie ((die Befindlichkeit)) ist eine existenziale Grundart der gleichursprünglichen Erschlossenheit von Welt, Mitdasein und Existenz, weil diese selbst wesenhaft In-der-Welt-sein ist." (SZ, S. 137) In der Stimmung werde ich unmittelbar von dem mir Begegnenden angesprochen, und in ihr werde ich über meinen eigenen Zustand erhellt, das heißt darüber, wie ich in der Welt bin, wie die Welt mir gegeben ist. Indem Heidegger das Phänomen der Befindlichkeit und der Stimmung aufweist, bekundet er eine tiefe Einsicht in das konkrete Apriori. Hier berührt Heidegger die ursprüngliche Passivität des Daseins. Dabei wäre zu bemerken, daß zum Phänomen der Befindlichkeit das Phänomen der Leiblichkeit gehört. Im Sich-Befinden offenbart sich auf ursprünglichste, konkreteste Art das In-der-Welt-sein als Leib-Sein. Diesen UrModus des In-der-Welt-seins hat Heidegger nicht beachtet. In „Sein und Zeit" finden sich nicht mehr als dreißig Zeilen über den Leib. Daß Heidegger die Leiblichkeit übersehen, übergangen hat, zeigt, daß er seine tiefe Einsicht in die Passivität der Subjektivität nicht ausgelotet hat, ja, daß er sie vielleicht nicht ausloten konnte, weil er sich selbst die grundlegende Einsicht in die Angänglichkeit verstellte zugunsten der anderen Charakteristika, die er dem Dasein zuschreibt. Die Welt ist für Heidegger das, worin ich midi befinde, und auch das, was ich immer schon verstehe. Im Verstehen ist mir die Welt gleichursprünglich erschlossen wie in der Stimmung. „Die Befindlichkeit ist eine der existenzialen Strukturen, in denen sich das Sein des ,Da' hält. Gleichursprünglich mit ihr konstituiert dieses Sein das Verstehen(SZ, S. 142) Verstehen bedeutet bei Heidegger nicht einen Modus der Intellektion, des Verständnisses, der Erklärung. Vor aller Differenzierung in die verschiedenen Möglichkeiten des praktischen, theoretischen, reflexiven Verständnisses ist das Verstehen der Grundmodus des Seins, des Daseins, das alle diese Möglichkeiten erst möglich macht. (Vgl. SZ, S. 143) Wenn Heidegger
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das Verstehen als fundamentale Seinsstruktur des Daseins, d. h. als ein fundamentales Existenzial interpretiert, zeigt er die Gesamtverfassung des Daseins, daß sich als In-der-Welt-sein „versteht". Verstehen darf also nicht verwechselt werden mit einer Erkenntnisart, vielmehr ist es „nicht eine aus Erkennen erwachsende Kenntnis, sondern eine ursprünglich existenziale Seinsart und die Erkennen und Kenntnis allererst möglich macht." (SZ, S. 123) Heidegger will dieses Phänomen als Grundmodus des Seins des Daseins begreifen. Als einen solchen Grundmodus aber können wir eine mögliche Erkenntnisart unter anderen nicht begreifen, vielmehr begreifen wir diese erst dann, wenn wir sie als ein Derivat des Verstehens des Daseins erfassen. „ ,Verstehen' dagegen im Sinne einer möglichen Erkenntnisart unter anderen, etwa unterschieden von ,Erklären', muß mit diesem als existenziales Derivat des Primären, das Sein des Da überhaupt mitkonstituierenden Verstehens interpretiert werden." (SZ, S. 143) Verstehen als Grundmodus des Daseins, das ist dessen Existieren selbst als sich auf sein In-der-Welt-sein verstehen. Verstehen ist ursprünglichstes Sein-Können. Indem das Verstehen sich selbst erschließt als SeinKönnen, zeigt sich das Dasein als primäres Möglich-Sein, als das, was es je ist und sein kann. So heißt es bei Heidegger: „Wir gebrauchen zuweilen in ontischer Rede den Ausdruck ,etwas verstehen' in der Bedeutung von ,einer Sache vorstehen können', ihr gewachsen sein', ,etwas können'. Das im Verstehen als Existenzial Gekonnte ist kein Was, sondern das Sein als Existieren. Im Verstehen liegt existenzial die Seinsart des Daseins als Seinkönnen. Dasein ist nicht ein Vorhandenes, das als Zugabe noch besitzt, etwas zu können, sondern es ist primär Möglichsein. Dasein ist je das, was es sein kann und wie es seine Möglichkeit ist. Das wesenhafte Möglichsein des Daseins betrifft die charakterisierten Weisen des Besorgens der ,Welt', der Fürsorge für die anderen und in all dem und immer schon das Seinkönnen zu ihm selbst, umwillen seiner. Das Möglichsein, das je das Dasein existenzial ist, unterscheidet sich ebensosehr von der leeren, logischen Möglichkeit wie von der Kontingenz eines Vorhandenen, sofern mit diesem das und jenes ,passieren' kann. Als modale Kategorie der Vorhandenheit bedeutet Möglichkeit das noch nicht Wirkliche und das nicht jemals Notwendige. Sie charakterisiert das nur Mögliche. Sie ist ontologisch niedriger als Wirklichkeit und Notwendigkeit. Die Möglichkeit als Existenzial dagegen ist die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins; zunächst kann sie wie Existenzialität überhaupt lediglich als Problem vorbereitet werden. Den phänomenalen
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Boden, sie überhaupt zu sehen, bietet das Verstehen als erschließendes Seinkönnen." (SZ, S. 143 f.) Mein Verstehen ist mein Sein-Können. Das Sein des Daseins ist SeinKönnen, und darum ist das Dasein seine Möglichkeit. Das Verstehen des Daseins ist sein Existieren als Sein-Können. Darum ist Verstehen letzten Endes immer ein Sich-Verstehen. (Vgl. Gadamer: Wahr. u. Meth., S. 246) Indem das Verstehen die Gesamtverfassung des Daseins als In-der-Weltsein Betrifft, indem es das Existieren des Daseins selbst ist, ist es nichts anderes als der Seinsvollzug des Daseins selbst. Wie vollzieht sich dieser Vollzug, wie vollzieht sich dieses Verstehen? Der zentrale Begriff ist hier derjenige des Entwurfes. „Das Verstehen ((hat)) an ihm selbst die Struktur, die wir Entwurf nennen." (SZ, S. 145) Entwurf meint nicht einen ausgedachten Plan, sondern das SichEntwerfen des Daseins auf sein Bezugs-Ganzes. Und das ist die Welt. Dabei wird jedoch weder die Welt als Bezugs-Ganzes des Daseins, noch dessen Sich-Entwerfen thematisiert, vielmehr eröffnet sich das Dasein im Entwurf die Welt als Spiel-Raum seines Sein-Könnens. Setzen wir dies kurz gegen Husserl ab. Auch bei Husserl ist das Ich auf die Welt bezogen; die Intentionalität ist das ständige Gerichtet-Sein auf Einzelnes und über Einzelnes auf die Welt. Dabei bleibt die Intentionalität bei aller Thematisierung in uneinholbarer Anonymität. Das Ich findet die Welt als Grund und Boden vor, sich selbst als Welt-Leben. Als Grund und Boden ist die Welt eine Vermöglichkeit des Ich. Daß dies so ist, erweist sich in einem „Können" des Ich. Doch geht es bei dem Husserlschen Vollzug dieses Könnens mehr um die Auslegung des vorgängig gegebenen, welterfahrenden Lebens, während das Dasein bei Heidegger seine eigenen Seinsmöglichkeiten erfaßt, indem es Welt entwirft. Und da das Dasein seine Möglichkeit ist, da sein Sein in seinem Möglich-Sein besteht, erfaßt es damit sich selbst. Dabei versteht das Dasein sein In-derWelt-Sein als Ganzes, und zwar so, daß es „das In-der-Welt-sein hinsichtlich der Erschlossenheit seines Da als Da eines Seinkönnens ((konstituiert)). (...) Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten. Der Entwurfcharakter des Verstehens besagt ferner, daß dieses das, woraufhin es entwirft, die Möglichkeiten, selbst nicht thematisch erfaßt. Solches Erfassen benimmt dem Entworfenen gerade seinen Möglichkeitscharakter, zieht es herab zu einem gegebenen, gemeinten Bestand, während der Entwurf im Werfen die Möglichkeit als Möglichkeit sich vorwirft und als solche sein läßt. Das Verstehen ist, als
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Entwerfen, die Seinsart des Daseins, in der es seine Möglichkeiten als Möglichkeiten ist." (SZ, S. 145) Im Entwurf „konstituiert" das Dasein das Da eines Sein-Könnens. Der Entwurf ist keine Thematisierung dieses Da, er darf nicht thematisiert werden, sonst verliert er den Charakter des Möglichseins und sinkt herab zu einer gegebenen „bloßen" Möglichkeit. Im verstehenden Entwerfen thematisiert das Dasein nicht seine Möglichkeiten, es ist sie. Wir hatten schon gesagt, daß die Seinsweisen des Daseins einander durchdringen, so daß an jeder auch die andere teilhat, jede auch die andere ist. In der Befindlichkeit und im Verstehen ist das konkrete Apriori des In-der-Welt-seins, der Lebenswelt, erschlossen. „Erschlossen" bedeutet nicht ausgelegt, expliziert, erklärt, thematisiert, sondern „erschlossen" ist eben die ursprüngliche Seinsweise, in der laut Heidegger das Dasein dasjenige ist, was wir konkretes Apriori nennen. Die Erschlossenheit ist dabei nichts anderes als der Vollzug des Seins des Daseins selbst. Dasein ist ursprünglichstes Können, Möglich-Sein, Dasein als Sein ist sein eigener Seinsvollzug. Darum liegt das Wesen des Daseins in seinem Zu-Sein. Es ist nicht wie etwas Vorhandenes, ein Ding, das fertig vorliegt, sondern in dem das Dasein seine Möglichkeit ist, hat es diese zu sein. Seinsvollzug kann nur sein, indem er zu sein hat. Hierin liegt der Grund für das berühmte und oft mißverstandene Wort Heideggers: „Das ,Wesen' des Daseins liegt in seiner Existenz." (SZ, S. 42) Heidegger beabsichtigt ζ. B. keinesfalls eine Verabsolutierung des Menschen, wie Gurvitch (Georges Gurvitch: Les tendances actuelles de la philosophie allemande, Paris 1930, S. 208) glaubt, wenn er die These Heideggers mit dem ontologischen Argument des Anselmus vergleicht. Traditionell ist „Existenz" eine Übersetzung von „existentia", damit wird das Dasein im Seienden bezeichnet. Man kann bei jeder Sache unterscheiden, was sie ist, ihre Washeit (quidditas, essentia), und ob sie ist, ob ihr tatsächliche Vorhandenheit zukommt. Heidegger will mit einem Begriff zeigen, daß die Existenz des Menschen nicht zu verstehen ist wie das Vorhandensein einer Sache. Während der traditionelle Existenzbegriff auf das Dasein geht, richtet sich der Heideggersche Begriff auf das WasSein des Menschen, auf sein Wesen. Das Wesen des Dasein ist ein Zu-Sein, es ist Existenz. Die Existenz ist sich selbst erschlossen in Befindlichkeit und Verstehen. Was sich in Stimmung und Verstehen bekundet, mehr noch als die Welt, als das Inder-Welt-sein — oder sollen wir sagen gerade als das — ist das Zu-Sein.
§ 26: Die Formalisierung des Verstehens
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„In der Gestimmtheit ist immer schon stimmungsmäßig das Dasein als das Seiende erschlossen, dem das Dasein in seinem Sein überantwortet wurde als das Sein, das es existierend zu sein hat. Erschlossen besagt nicht, als solches erkannt. (...) Als (...) Verstehen ,weißc es, woran es mit ihm selbst, das heißt seinem Seinkönnen ist. Dieses ,Wissen' ist nicht erst in einer immanenten Selbstwahrnehmung erwachsen, sondern gehört zum Sein des Da, das wesenhaft Verstehen ist." (SZ, S. 134, S. 144)
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Die Formalisierung des Verstehens
Wir haben versucht, anzudeuten, wie bei Heidegger die Subjektivität sich selbst gegeben ist. Obwohl das Dasein von Heidegger als In-der-Weltsein gesehen wird, ist die Betonung des subjektiven Charakters zu stark, wird das Dasein als Existenz überaktiviert. Diese Überaktivierung der Subjektivität bringt die Gefahr der Formalisierung mit sich, ja ist eigentlich schon ein Abgleiten in diese. Für Heidegger ist Seiendes nicht durch Seiendes erklärbar, sondern nur durch ein „transcendens". (Vgl. SZ, S. 38) Er wehrt die Rückführung des Seienden auf sein Subjekt oder auf sein Bewußtsein als naiven Idealismus ab. (Vgl.SZ,S.208) Erliegt er aber nicht selbst einem etwas subtilerem Idealismus? Das transcendens, auf das allein Seiendes zurückgeführt werden kann, ist das Sein. Das Sein aber wird „verstanden" — nicht „begriffen" —, und zwar im und als Entwurf des Daseins selbst. (Vgl. SZ, S. 147) Seidendes kann ich nur erfassen im Horizont des Verstehens, welches das Dasein selbst ist. Die Auslegung des Verstehens macht mir einzelnes Seiendes zugänglich „als" etwas. Wie aber steht es mit dem Verstehen selbst? Die Erschlossenheit des Verstehens im Ganzen ist kein Verständnis. Das Verstehen ist Entwurf von Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten können nicht thematisiert werden. Verstehen ist Selbst-Entwurf und Selbst-Vollzug von nicht-thematisierten Möglichkeiten. Verstehen als Existenzial ist nicht und nie thematisch zu erfassen. (Vgl. SZ, S. 336) Wenn man sich in dieser Art Verstehen halten will, wie kann dann das Dasein eigentlich noch Sich-selbst-Zeigendes sein? Ist das Dasein dann nicht ein bleibendes Sich-selbst-Sein als reines Sich-selbst-Vollziehen? Das aber ist nicht mehr faßbar. Wenn das Verstehen sich einerseits auslegen läßt im „Als", andererseits das Verstehen insgesamt Entwurf nichtthematisierbarer Möglichkeiten ist, was anderes ist dann das Verstehen als die formalisierte Bedingung der Er-
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§ 2 7 : Die Welt und ihre Subjektivierung
fahrung des etwas „als" etwas? Verstehen ist dann doch nichts anderes mehr als die Möglichkeit der Erfahrung, und zwar als deren „postulierte" Form, „postuliert", weil der Zusammenhang zwischen dem Verstehen und dem Als selbst nicht mehr faßbar ist. Heidegger hat diesen Zusammenhang in „Sein und Zeit" jedenfalls nicht aufgewiesen, sondern die Aufweisung auf später verschoben. (Vgl. SZ, S. 147) Die Einsicht Heideggers in das materiale Apriori schlägt jedoch zunächst durch die ihm entgegenstehenden Formulierungen noch hindurch. Wenn das konkrete Apriori sich noch in der Formalisierung der Subjektivität und ihres Welterfahrens bekundet, dann muß ein Widerspruch erscheinen. Die Materialität des Apriori meldet sich hier in der Tat im Widerspruch der Freiheit. Das Dasein als sein eigener Seinsvollzug ist sich selbst aufgegeben und frei. Das heißt: Dasein ist sowohl WählenKönnen als Wählen-Müssen. Zugegeben, das Wählen ist nicht ein Ergreifen vorhandener Möglichkeiten, die ich im Ergreifen zu den meinigen machen würde. Zugegeben, eine Möglichkeit kann ich nur ergreifen auf dem Hintergrund des verborgen bleibenden Gesamt-Entwurfs meiner Existenz. Wie aber, das ist die Frage, kann das Dasein zwischen Möglichkeiten, zwischen Entwürfen seiner selbst wählen, die es nicht thematisiert? Sagt doch Heidegger selbst, daß „das ek-sistente Da-sein als das Seinlassen von Seiendem den Menschen zu seiner ,Freiheit' befreit, indem sie ihm überhaupt erst Möglichkeit (Seiendes) zur Wahl stellt und Notwendiges (Seiendes) ihm aufträgt." (Martin Heidegger: Vom Wesen der Wahrheit, Frankfurt/M. 1954 s , S. 16) Dieser Widerspruch wird allerdings, wie wir sehen werden, aufgelöst, und zwar durch die totale Formalisierung des Entwerfens, das seine nichtthematisierbaren Möglichkeiten letztlich als seine eigenen setzt. Wie jede totale Formalisierung, so löst audi diese sich selbst auf. So wird von Heidegger schließlich der Widerspruch der Freiheit aus der Welt geschafft, wie etwas später zu zeigen ist, indem er ihm jeden aufweisbaren Sinn entzieht.
§ 27 Die Welt und ihre Subjektivierung Wir haben von Anfang an vom Dasein gesprochen als In-der-Weltsein. Die Weltlichkeit der Welt haben wir noch nicht in den Blick genommen. Wenn wir dies tun, werden die aufgetauchten Schwierigkeiten sich nidit vermindern, sie werden sich im Gegenteil verstärken.
§ 27: Die Welt und ihre Subjektivierung
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Wie entdeckt Heidegger die Welt? Wenn das Dasein wesentlich die Struktur des Zu-Sein hat, so ist es einleuchtend, daß das, womit das Dasein zu tun hat, wovon es umgeben ist, worin es sich befindet, die Struktur des Um-zu hat. Das Seiende, das dem Dasein ursprünglich begegnet, ist nicht von der Art des Vorhandenen, es ist vielmehr Zuhandenes, Zeug. „Zeug ist wesenhaft ,etwas um zu . . ( . . . ) In der Struktur ,Um-zu' liegt eine Verweisung." (SZ, S. 68). In jedem Um-zu liegt eine Verweisung auf ein Wo-zu, letztlich auf ein solches, nach dessen Um-zu nicht mehr gefragt werden kann. Das Seiende in seiner Verwiesenheit verweist auf ein Seiendes, dessen Sein als In-der-Welt-sein bestimmt ist und damit nicht Um-zu, sondern Worum-willen ist. „Das primäre ,Wozu' ist ein Worum-willen. Das ,Um-willen' betrifft aber immer das Sein des Daseins, dem es in seinem Sein wesenhaft um dieses Sein selbst geht." (SZ, S. 84) Was wird aus dieser Analyse ersichtlich? Heidegger behauptet zwar die Grundverfassung des Daseins als In-der-Welt-sein, sowie er aber an die konkrete Ausweisung des Phänomens geht, beginnt er gar nicht mit der Welt. So wie Husserl sich leiten läßt von der Analyse des Wahrnehmungsgegenstandes, der horizonthaft über sich hinausweist, so läßt Heidegger sich leiten von der Analyse des Zeugs, das im Um-zu eine vielstufige Verwiesenheit hat. Während der Gegenstand für Husserl Index subjektiver Leistung ist, ist das Zeug auf das Dasein verwiesen, umwillen dessen es ist. Damit wird nidit nur nicht mit der Welt begonnen, sie wird überhaupt nicht mehr erreicht. Das Phänomen der Welt wird verfehlt, indem sofort das Zeug am Dasein festgemacht und darin die Weltlichkeit gesehen wird. „Ein Zeug ,ist' strenggenommen nie. Zum Sein vom Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist." (SZ, S. 68) Die Verwiesenheit des Zeugs hat einen doppelten Sinn: Zeug verweist auf anderes Zeug, auf ein Zeugganzes, auf eine Verweisungsmannigfaltigkeit. Die verschiedenen Verweisungsmannigfaltigkeiten verweisen jedoch selbst. Wohin? Auf die Welt etwa? Nein, sie verweisen auf ein letztes Wozu, nach dessen Um-zu nicht mehr gefragt werden kann, auf ein Worumwillen, und das ist das Dasein selbst. Indem das Dasein sich in diesen Bezügen der Verweisungsmannigfaltigkeiten hält, bedeutet es sich ihm selbst. „Den Bezugscharakter dieser Bezüge des Verweisens fassen wir als be-deuten. In der Vertrautheit mit diesen Bezügen,bedeutet' das Dasein ihm selbst, es gibt sich ursprünglich sein Sein und Sein9 Brand,
Lebenswelt
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§ 27: Die Welt und ihre Subjektivierung
können ( . . . ) Das Bezugsganze dieses Bedeutens ( . . . ) ist das, was die Struktur der "Welt ( . . . ) ausmacht." (SZ, S. 87) Zeug ist in sich verwiesen, über Verweisungsmannigfaltigkeiten, auf das Dasein selbst. Im Erfassen der Verweisungsmannigfaltigkeiten „bedeutet" das Dasein ihm selbst. Zeug ist auf das Dasein hin verstanden, und das Dasein versteht sich auf sich selbst. Damit wird die folgende These zu einer nicht begründeten, wenn nicht gar widersprüchlichen Behauptung: „Worin das Dasein sich vorgängig versteht im Modus des Sichverweisens, das ist das Woraufhin des vorgängigen Begegnenlassens von Seiendem. Das Worin des sichverweisenden Verstehens als Woraufhin des Begegnenlassens von Seiendem (...) ist das Phänomen der Welt." (SZ, S. 86) In der dargelegten Analyse Heideggers liegt eine Subjektivierung nicht einmal der Welt selbst, sondern schon dessen, was „welthaft" begegnet. Das welthaft Begegnende ist nicht auf die Welt hin gesehen, sondern wird allzu unmittelbar im Subjekt verankert. Das, worin sich das Dasein hält, sind die Verweisungsmannigfaltigkeiten des Zeugs, die auf das Dasein hin verstanden werden und in denen das Dasein sich selbst versteht. Schon bei der Analyse des Welthaften tritt die Subjektivierung zutage. Die Welt schließlich, so wie wir sie bei Heidegger finden, wird vollends von der Subjektivität aufgesogen. Es gibt Aussagen bei Heidegger, in denen diese Subjektivierung ausgedrückt scheint. Gerade in diesen Aussagen aber brauchen wir die eigentliche Subjektivierung nicht zu sehen. Welt ist ein Seinscharakter des Daseins, heißt es in „Sein und Zeit" (ebda., S. 64), und in „Vom Wesen des Grundes" sagt Heidegger: „Welt gehört zu einer bezughaften, das Dasein als solches auszeichnenden Struktur." (Martin Heidegger: Vom Wesen des Grundes, Frankfurt/M. 1949, S. 34) Warum braucht hierin keine Subjektivierung zu liegen? Weil der Bezug nämlich nach Heidegger „nicht gedacht werden ( ( d a r f ) ) als die Beziehung zwischen dem Dasein als dem einen Seienden und der Welt als dem anderen." (Ebda., S. 35) Wenn Dasein als In-der-Welt-sein nichtdaseinsmäßigem Seienden als dem „innerweltlichen" Seienden gegenübergestellt wird, dann wird in der Tat die Welt nicht in ein Subjekt hineingeholt. Die Subjektivierung wird jedoch deutlich, wenn Heidegger, wiederum in seiner Schrift „Vom Wesen des Grundes", den Bezug Dasein—Welt aufzuhellen versucht. Das Seiende im ganzen ist immer offenbar, „das je vorgreifend-umgreifende Verstehen dieser Ganzheit aber ist Überstieg zur Welt". (Ebda.,
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S. 34) U m was handelt es sich bei diesem Überstieg, bei dieser Transzendenz? „Transzendenz bedeutet Uberstieg. Transzendent (transzendierend) ist, was den Uberstieg vollzieht, im Ubersteigen verweilt. ( . . . ) Formal läßt sich der Überstieg als eine ,Beziehung' fassen, die sich ,νοη' etwas ,zu' etwas hinzieht. Zum Uberstieg gehört dann solches, worauf zu der Uberstieg erfolgt. ( . . . ) Und schließlich wird im Überstieg je etwas überstiegen." (Ebda., S. 17) Die Transzendenz läßt sich nach Heidegger also nicht als eine Subjekt-Objekt-Beziehung bestimmen, denn die Objekte sind nicht das, woraufzu der Überstieg geschieht, sondern das, was überstiegen wird. Wenn aber die Objekte nicht das sind, woraufhin der Uberstieg erfolgt, wie muß dieses Woraufhin dann bestimmt werden? Es ist die Welt. „Wir nennen das, woraufhin das Dasein als solches transzendiert, die Welt und bestimmen jetzt die Transzendenz als ln-der-W elt-sein." (Ebda., S. 19) Haben wir hier, wie Heidegger meint, ein Übersteigen des Daseins auf die Welt hin? Nein, wir haben hier eigentlich ein „Setzen" der Welt. Dieses wird im folgenden Text ganz deutlich: „Die Welt hat den Grundcharakter des Umwillen v o n . . . ( . . . ) Die Welt gibt sich dem Dasein als die jeweilige Ganzheit des Umwillen seiner ( . . . ) Der umwillentlidie Überstieg geschieht nur in einem ,Willen', der als solcher sich auf Möglichkeiten seiner selbst entwirft. ( . . . ) Jener ,Wille' aber soll als und im Uberstieg das Umwillen selbst .bilden'." (Ebda., S. 35, 39 f.) Wenn die Welt Umwillen von ist, dieses aber selbst von dem Willen gebildet wird, dessen Umwillen es ist, was ist das anderes als ein Setzen? Heidegger selbst ist es offensichtlich unbehaglich bei seiner Auslegung. Seine Einsicht in das konkrete Apriori schlägt sich hier nieder in der Behauptung, daß das Dasein vom Seienden, in dem es sich befindet, eingenommen wird. „Das Übersteigende und so sich Erhöhende muß als solches im Seienden sich befinden. Das Dasein wird als befindliches vom Seienden eingenommen so, daß es dem Seienden zugehörig, von ihm durcb-
stimmt ist. Transzendenz heißt Weltentwurf, so zwar, daß das Entwerfende vom Seienden, das es übersteigt, auch schon gestimmt durchwaltet ist." (Ebda., S. 4 2 ) Das Eingenommensein des Daseins zeigt sich als Geworfenheit. Doch die Geworfenheit verschwindet als solche alsbald wieder, indem sie selbst entworfen ist. Heidegger interpretiert nämlich die Geworfenheit, das Boden-Nehmen als ein aktives Gründen. (Vgl. Ebda., S. 4 1 ) Damit ist die Geworfenheit selbst entworfen. Wenn Heidegger sagt: „Die Welt wird als »»
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die jeweilige Ganzheit des Umwillens eines Daseins durch dieses selbst vor es selbst gebracht" (ebda., S. 36), dann liegt darin nicht, das das Dasein sich zur Welt übersteigt, sondern, wie wir gesehen haben: es übersteigt sich lediglich zu sich selbst, zu seinem eigenen Seinkönnen. Hier wird beides sichtbar, die Einsicht in das konkrete Apriori und deren gleichzeitiges Verstellen. Die Eingenommenheit des Daseins durch die Welt wird zwar gesehen und behauptet, aber dann als Eingenommenheit des Daseins durch sich selbst wieder hinweginterpretiert. Die Welt als Ganzes ist lediglich das, „aus dem her das Dasein sich zu bedeuten gibt, zu welchem Seienden und wie es sich dazu verhalten kann" (Ebda., S. 34) Heidegger unterstreicht diesen Aspekt als wesentlich, wenn er im nächsten Satz sagt: „Dasein gibt ,sicb' aus,seiner' Welt her zu bedeuten." (Ebda., S. 34) Diese Auffassung von Transzendenz als Überstieg zu sich-selbst schlägt zurück auf die Stimmung, die Befindlichkeit, die Betroffenheit. In der Herausstellung dieser Phänomene zeigt sich Heideggers tiefgehende Einsicht in das konkrete Apriori, in die Vorgegebenheit der Welt. Gadamer hat gewißt recht, wenn er schreibt: „Es war eine der glänzendsten phänomenologischen Analysen von ,Sein und Zeit', in der Heidegger diese Grenzerfahrung der Existenz, sich inmitten des Seienden vorzufinden, als Befindlichkeit analysierte und der Befindlichkeit, der Stimmung, die eigentliche Erschließung des In-der-Welt-Seins zuwies." (Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, Einführung von H.-G. Gadamer, Stuttgart 1965, S. 109) Nur in einer vorgegebenen Welt kann ich mich befinden, nur von ihr kann ich betroffen sein. Und betroffen werden kann ich nur, wenn ich in meinem Selbst anders als mein Selbst bin. Doch ebenso gewiß ist, daß Heidegger die von ihm selbst aufgewiesenen Phänomene mißversteht als reine Betroffenheit von sich selbst. (Vgl. SZ, S. 134 ff.) Die Stimmung erschließt mir, wie ich in der Welt bin. In der Befindlichkeit treffen wir nicht auf die Affektion des Daseins durch die Welt oder durch Andere, sondern auf die -Se/^siaffektion des Daseins. „In der Befindlichkeit wird das Dasein von ihm selbst überfallen als das Seiende, das es, noch seiend, schon war, das heißt gewesen ständig ist." (SZ, S. 328) Und auf die Frage, wie Stimmung erschließt, antwortet Heidegger: „In der Weise der Hinkehr und Abkehr vom eigenen Dasein." (SZ, S. 340) In der Befindlichkeit wird also das Dasein nicht von der Welt angegangen, sondern es überfällt sich selbst, es kehrt sich zu sich selbst hin oder es kehrt sich von sich selbst ab.
§ 28: Die Wahrheit und der Triumph der Subjektivität
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In der Analyse der Passivität des Daseins bei Heidegger finden wir nicht nur grundlegende phänomenologische Analysen, sondern auch die Ansätze zur Überwindung der transzendentalen Paradoxie, die mit der falsch verstandenen Konstitutionsproblematik bei Husserl aufgetreten war. Gleichwohl fällt auch Heidegger wieder zurück in den transzendentalen Widerspruch. Wir schließen uns De Waelhens an, wenn er dazu feststellt: „Einerseits ist das Dasein wesentlich immer schon in der Welt, so zwar, daß es vom Gefühl totaler Geworfenheit in diese Welt eingenommen ist, andererseits ist diese selbe Welt dem Dasein ,eingegliedert' als Strukturmoment." (Alphonse De Waelhens: La Philosophie de Martin Heidegger, Louvain 1942, S. 245)
§ 28 Die Wahrheit und der Triumph der
Subjektivität
Das Sich-Verfangen Heideggers in der Subjektivität wird vollends deutlich, wenn wir nach dem fragen, was bei ihm Wahrheit heißt. Wahrheit ist Wahrheit der Existenz. Wenn Verstehen und Stimmung mir die Welt erschließen, als mein eigenes Sein-Können, dann wird ersichtlich, wie Wahrheit und Falschheit durch Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit ersetzt werden. Bekanntlich unterscheidet Heidegger zwischen der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit des Daseins, wobei er meistens das Uneigentliche und das Alltägliche gleichsetzt. In der Wahrheit bin ich dann, wenn ich meine eigensten Seinsmöglichkeiten ergriffen habe. „Die Erschlossenheit ( . . . ) wurde existenzial interpretiert als die ursprüngliche Wahrheit (...) Wahrheit muß als fundamentales Existenzial begriffen werden. Die ontologische Klärung des Satzes:,Dasein ist in der Wahrheit' hat die ursprüngliche Erschlossenheit dieses Seienden als Wahrheit der Existenz angezeigt und für deren Umgrenzung auf die Analyse der Eigentlichkeit des Daseins verwiesen." (SZ, S. 297) Wahrheit ist Wahrheit der Existenz und als solche deren Eigentlichkeit. Nun stellt sich die Frage, woher diese Wahrheit ihre Verbindlichkeit nimmt, wo ihre „bindende Richte" liegt, auf was sie angewiesen ist. Woher weiß das Dasein als Seinsvollzug von seinen eigensten Seinsmöglichkeiten? In „Sein und Zeit" will Heidegger die Angewiesenheit des Daseins auf ein ihm Vorgegebenes in der Geworfenheit aufweisen. Der Ausdruck „Geworfenheit" soll die Faktizität der Überantwortung andeuten. (Vgl. SZ, S. 135) Doch tatsächlich zeigt er: Das Dasein ist sich selbst überantwortet, die Faktizität ist selbst ein Seinscharakter des Daseins. Da das
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§ 28: Die Wahrheit und der Triumpf der Subjektivität
Dasein, die Existenz, Entwurf ist, setzt sie sich letzten Endes selbst ihre Wahrheit. In „Vom Wesen des Grundes" wird dies noch deutlicher, weil dort nicht nur der Entwurf gegenüber der Geworfenheit einen Vorrang behält, sondern auch das „Bodennehmen" der Geworfenheit als ein aktives „Sich-Gründen" angesehen wird. (Ebda., S. 43) Was soll aber der Wahrheitsbegriff überhaupt noch, wenn ihm keine Verbindlichkeit mehr anhaftet? Nur in der Wahrheit ist nach Heidegger das Dasein frei, denn nur so kann es seine Möglichkeiten als eigentliche, als wahre ergreifen. Wenn der Entwurf aber selbst frei ist, dann setzt das Dasein seine eigene Wahrheit. So schließen wir uns Tugendhat an, wenn er scharf kommentiert, daß hier ein subjektivistisches Moment hervortritt „und sogar ein besonders anstößiges: eine grund- und hinsichtslose Setzung." (Tugendhat: Wahrheitsbegriff..., S. 385) Das Gleiche geht aus der Unwahrheit als Uneigentlichkeit hervor. Die Verdecktheit des Seienden, die in jeder Philosophie der Lebenswelt Ausgangspunkt bleibt, der nie eingeholt werden kann, wird bei Heidegger als Unwahrheit zum Verdecken der eigenen Möglichkeiten im „Verfallen". Audi hier haben wir keine Verbindlichkeit. Das Verfallen liefert das Dasein nicht etwa an die Welt aus, es ist lediglich eine Entfremdung seiner selbst. „Diese Entfremdung, die dem Dasein seine Eigentlichkeit und Möglichkeit, wenn auch nur als solche eines echten Scheiterns, verschließt, liefert es jedoch nicht an Seiendes aus, das es nicht selbst ist, sondern drängt es in seine Uneigentlichkeit, in eine mögliche Seinsart seiner selbst." (SZ, S. 178) Die Subjektivität feiert ihren größten Triumph, indem sie die Wahrheit als Übereinstimmung mit sich selbst betrachtet. Dieser Triumph ist ineins der Rückfall in ein formales Apriori. Als Apriori ist letzten Endes eine Subjektivität gesetzt, die nicht mehr sich selbst an sich selbst zeigt, die nicht mehr sich selbst gegeben ist und angegangen werden kann, das heißt, die nicht mehr Subjektivität ist, für die es so etwas wie Gegebenheit gibt. Diese Subjektivität betrachtet Heidegger als „reinen" Selbstvollzug, der sich im Vollziehen beliebig die Kriterien seines Vollzuges setzt, eine Subjektivität, die dann als solche die Möglichkeit von Welterfahrung sein soll. Zwischen der Uberaktivierung der Subjektivität zu einem Willen, der als solcher sich auf Möglichkeiten seiner selbst entwirft und dabei sich selbst setzt, das heißt dasUmwillen selbst bildet, und der Welt als Arbeitsmaterial des Willens, als Zeugwelt, besteht ein innerer Zusammenhang.
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Exkurs über das Verfehlen der Praxis
So setzt Heidegger seine Analyse der Weltlichkeit beim Zeug an und bleibt in der Zeugwelt stecken. Diese Analyse wird geführt von einem Primat des Praktischen — nicht etwa der Praxis. Heidegger kann die Praxis gar nicht treffen, weil er sich in der Subjektivität verfängt und deshalb die Anderen verfehlen muß, und zur Praxis gehören eben Andere. Damit aber werden auch die Eigenheiten des Daseins als dessen Existenzweisen — wenn man sie nicht mit Heidegger ins aktivistische Selbst-Setzen übersteigert und formalisiert — ins derb Praktische hinabgezogen. Befindlichkeit, Stimmung, Verstehen, Sorge, Tod, Gewissen, Entschlossenheit usw., alles das erschließt mich mir selbst — in einer Welt von Zeug. Die tiefen Einsichten und bleibenden Ansätze Heideggers können ihren eigentlichen Wert erst dann gewinnen, wenn sie einerseits aus der formalistischen Subjektivierung zurückgeholt werden, und wenn andererseits die Zeugwelt überschritten wird.
Exkurs über das Verfehlen
der Praxis bei
Heidegger
Obwohl Heidegger behauptet, daß das In-der-Welt-sein gleichursprünglich Mitsein, daß die Welt ebenso ursprünglich Mitwelt wie Umwelt ist, treffen wir in seiner Philosophie auf den Anderen nie unmittelbar. Die Gleichursprünglichkeit und damit der Andere selbst werden also tatsächlich nicht aufgewiesen. Dies zeigt sich sowohl bei der Analyse der Begegnung des Anderen als Mitbegegnung am Zeug als auch bei der des eigentlichen Miteinanderseins. Wie begegnen die Anderen in der Umwelt des Daseins? Sie begegnen mir indirekt, gewissermaßen als Indizien des Zeugs. „Die ,Beschreibung' der nächsten Umwelt, zum Beispiel der Werkwelt des Handwerkers, ergab, daß mit dem in Arbeit befindlichen Zeug die anderen ,mitbegegnen', für die das ,Werk' bestimmt ist. In der Seinsart dieses Zuhandenen, das heißt in seiner Bewandtnis liegt eine wesenhafte Verweisung auf mögliche Träger, denen es auf den ,Leib zugeschnitten' sein soll. Imgleichen begegnet im verwendeten Material der Hersteller oder »Lieferant' desselben als der, der gut oder schlecht ,bedient'. Das Feld zum Beispiel, an dem wir ,draußen' entlang gehen, zeigt sich als dem und dem zugehörig, von ihm ordentlich instand gehalten, das benutzte Buch ist gekauft bei..., geschenkt von ... und dergleichen. Das verankerte Boot am Strand verweist in seinem An-sich-sein auf einen Bekannten, der damit seine Fahrten unternimmt, aber auch als ,fremdes Boot' zeigt
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Exkurs über das Verfehlen der Praxis
es Andere. Die so im zuhandenen, umweltlichen Zeugzusammenhang ,begegnenden' Anderen werden nicht etwa zu einem zunächst nur vorhandenen Ding hinzugedacht, sondern diese ,Dinge' begegnen aus der Welt her, in der sie für die Anderen zuhanden sind." (SZ, S. 117 f.) Das Mitdasein begegnet mir also gar nicht selbst, sondern es begegnet mir in der Welt als indiziertes Umwelt-Ich. Darüber hinaus, da diese Welt, wie wir gesehen haben, meine ist, untersteht der Andere dem Welten twurf des jemeinigen Daseins. Dasein läßt als Mitsein das Dasein anderer seiner Welt begegnen. Daß ich den Anderen nicht treffe, zeigt sich auch in der Vereinzelung des Daseins, in dem dieses eigentlich wird, im Gegensatz zur Uneigentlichkeit. Im uneigentlichen Selbstsein hat das Dasein die Form des „Man". „Zunächst ist das ((faktische)) Dasein Man und zumeist bleibt es so." (SZ, S. 129) Merkwürdigerweise kommen wir hier im alltäglich-durchschnittlichuneigentlichen Mitsein einem gleichursprünglichen Miteinandersein am nächsten. Dieses Miteinandersein ist nur deswegen kein echtes Betroffensein, weil die Anderen und ich selbst in der Nivellierung des „Man" aufgehen und uns nicht gegenüberstehen. Eigentlich wird das Dasein in der Vereinzelung. Diese Vereinzelung jedoch kann bei Heidegger nicht konkret mit der eigentlichen Vergemeinschaftung zusammen gedacht werden. Die Vereinzelung des jemeinigen Daseins geschieht im Vorlauf zu seinem Tode. Darausher wird die Indirektheit des eigentlichen Miteinanderseins verständlich. Der Tod ist nämlich nicht nur für andere unerfahrbar, sondern die „eigenste, unbezügliche, unüberholbare Möglichkeit*, und „in ihm ((sind)) alle Bezüge zu anderem Dasein gelöst." (SZ, S. 250) Wenn auch das Besorgen und die Fürsorge, das heißt Umwelt und Mitsein wesenhafte Strukturen des Daseins bleiben, wenn auch das Dasein formal mit dem anderen Mitdasein zusammen ist, kann es nur „eigentlich es selbst sein, wenn es sich von ihm selbst her dazu ermöglicht." (SZ, S. 262) Das Besorgen und die Fürsorge versagen dabei, insofern sie in das eigenste des Daseins mit hineinspielen. „Die im Vorlaufen verstandene Unbezüglichkeit des Todes vereinzelt das Dasein auf es selbst. Diese Vereinzelung (...) macht offenbar, daß alles Sein bei dem Besorgten und jedes Mitsein mit Anderen versagt, wenn es um das eigenste Seinkönnen geht." (SZ, S. 263) Worin liegt nun für Heidegger der Zusammenhang von Vereinzelung und eigentlicher Vergemeinschaftung? „Als unbezügliche Möglichkeit
E x k u r s über das Verfehlen der P r a x i s
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vereinzelt der Tod aber nur, um als unüberholbare das Dasein als Mitsein verstehend zu machen für das Seinkönnen der Anderen." (SZ, S. 264) Im Ergreifen des Eigensten wird mir der Blick frei für das Eigenste des Anderen. Im Ergreifen meines eigensten Seinkönnens verstehe ich das Seinkönnen der Anderen. Dieses vom Tod geweckte Verständnis besteht darin, „die mitseienden Anderen ,seinc zu lassen in ihrem eigensten Seinkönnen." (SZ, S. 298) Der Zusammenhang liegt mithin im Seinlassen. Wenn das Seinlassen aber die Anerkenntnis des Eigensten des Anderen darstellt, dann ist es auch gleichzeitig die Auflösung aller direkten Verbindungen zwischen dem Anderen und mir. Im Seinlassen werden die Anderen von meinem Dasein befreit zu sich selbst.
4. Kapitel: Sartre 5 29 Das konkrete Apriori der Lebenswelt als zentrales Problem der Philosophie Sartres Die Philosophie Sartres hat ihren Ausgangspunkt im konkreten Apriori der Lebenswelt, ihr Ziel ist dessen Erhellung. Philosophieren heißt für Sartre Fragen. Das Fragen selbst aber hat seinen Ausgangspunkt als seine eigene Möglichkeit in einer gegebenen Vorvertrautheit. „Auf dem Grund einer präinterrogativen Vertrautheit mit dem Sein erwarte ich von diesem die Enthüllung seines Seins oder seiner Seinsweise." (Jean-Paul Sartre: L'etre et le neant. Essai d'ontologie phenomenologique. Paris 1948, S. 39; wir zitieren: EN) Ziel des philosophischen Fragens nun ist die Selbsterhellung dessen, was Sartre das Konkrete nennt; dies ist nichts anderes als die Lebenswelt. Zunächst setzt Sartre das Konkrete ab gegen das Abstrakte. Das Abstrakte ist dasjenige, was isoliert gedacht werden, aber als solches nicht existieren kann. Das Konkrete ist im Gegensatz dazu nichts Isoliertes, nur Gedachtes, es ist das, was es wirklich gibt, eine Totalität, die als solche ihren Stand hat und allein als solche besteht. Was ist nun „konkret" das Konkrete? Es ist die Verbindung von Ich und Welt, es ist das, was wir bei Husserl als „Lebenswelt" oder „welterfahrendes Leben", bei Heidegger als „In-der-Welt-sein" kennengelernt haben. „Das Konkrete, im Gegensatz ((zum Abstrakten)), ist eine Totalität, die durch sich selbst existieren kann. (...) Das Konkrete, das ist der Mensch in der Welt, mit dieser spezifischen Vereinigung ((union)) des Menschen und der Welt, die Heidegger zum Beispiel ,Ιη-der-Welt-Sein' nennt. Wenn Kant die ,Erfahrung' nach den Bedingungen ihrer Möglichkeit befragen, wenn Husserl eine phänomenologische Reduktion vollziehen will, die die Welt zum Korrelat des Bewußtseins reduziert, dann heißt das ganz klar mit dem Abstrakten beginnen. Aber man wird das Konkrete nicht zurückgewinnen können durch eine Zusammenfügung oder Organisation der Elemente, die man abstrahiert hat." (EN, S. 37 f.)
§ 29: Lebenswelt als zentrales Problem
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Die Parallele zwischen dem Gegensatz von abstrakt-konkret und formal-material ist offensichtlich, ebenso wie diejenige zwisdien der Auffassung Sartres, daß allein das Konkrete als solches bestehen kann, und der Auffassung Husserls, daß allein dem Konkreten als Verschränkung von Ich und Welt Apodiktizität zukommt. Das „welterfahrende Leben" erscheint also bei Sartre als das „Konkrete". Das ist das, was allem anderen vorausliegt als alles andere umfassend, die Lebenswelt, die Welt, in der ich lebe und zu der ich gehöre. Die Frage ist nun: Wie kann ich dieses Apriori, wie kann ich das welterfahrende Leben erfassen? Von innen heraus, durch Beschreibung von menschlichem Verhalten. Dabei muß das Verhalten als etwas Gegebenes betrachtet werden und nicht als etwas, was sich nur der subjektiven Reflexion enthüllt. Sonst kommen wir aus dem Konkreten heraus und geraten in die Abstraktionen der Subjektivität. Im konkreten gegebenen Verhalten, so erläutert Sartre, da es ja das eines In-der-Welt-Seins ist, ist der Mensch, die Welt und das, was verbindet, gegeben. „Jedes menschliche Verhalten, da es Verhalten des Menschen in der Welt ist, kann uns den Menschen, die Welt und die Beziehung, die sie vereinigt, gleichzeitig liefern unter der Bedingung, daß wir das Verhalten als etwas objektiv Faßbares betrachten und nicht als subjektive Affizierungen, die sich nur dem Blick der Reflexion darbieten würden." (EN, S. 38) Das „objektiv Faßbare" stellt Sartre den „subjektiven Affizierungen" gegenüber. Das einzige, das wirklich faßbar ist, ist das Konkrete, in dem wir beides, Mensch und Welt, in ihren Beziehungen erfassen. Würden wir das Verhalten als „subjektive Affizierung" betrachten, dann hätten wir das Konkrete schon verlassen und gingen von einem Abstrakten aus, das in sich keinen Bestand hat. Gegenüber diesem nur „subjektiv" Faßbaren wird das Konkrete in seiner Gesamtgegebenheit von Sartre als „objektiv" Faßbares betrachtet. Mit dem Begriff „objektiv" meint Sartre hier also die Konkretion des Konkreten, die Gegebenheit des Gegebenen. Es wird hier und durch das ganze Werk Sartres hindurch immer wieder deutlich, daß er bei der Erhellung des Konkreten im Konkreten selbst, im konkreten Apriori, bleiben will. Wir werden zeigen, daß ihm dies nicht gelingt, obwohl es ständig seine Absicht bleibt. Es stellt sich nun die Frage, ob es ein bevorzugtes Verhalten gibt, dessen Analyse uns den Zugang zur vorgängig bekannten Lebenswelt erleichtert. Schon diese Frage führt uns als solche darauf hin: es ist das Verhalten, das wir „Fragen" nennen. (Vgl. E N , S. 38)
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§ 29: Lebenswelt als zentrales Problem
Was offenbart uns das Fragen? Welche Elemente finden wir vor im Fragen, und welche Beziehungen herrschen zwischen diesen Elementen? Wir haben zunächst ein Sein, das be-fragt wird, und ein Sein, das fragt, und zwar nach dem Sein oder der Seinsweise des Be-fragten selbst. Gehen wir dem nach, dann weisen sich nach Sartre im Fragen selbst zwei fundamentale Beziehungen innerhalb der vorfraglichen Vorgängigkeit aus. Das sind: die Existenz der Wahrheit und mein ursprünglicher Bezug zu ihr und die Beziehungen zwischen Sein und Nichts. Die Vorgängigkeit selbst weist sich nach Sartre aus als die Möglichkeit von J a und Nein. Das Fragen enthält die Möglichkeit der Affirmation und der Negation und gerade, weil es beide Möglichkeiten enthält, unterscheidet es sich von ihnen, eben als Fragen. Damit offenbart mir das Fragen also das Nicht-Wissen, aber auch das Wissen-Können. Wenn wir Nicht-Wissen und Wissen-Können haben, dann haben wir auch Wahrheit. Somit „impliziert das Fragen die Existenz einer Wahrheit". (EN, S. 39) Mit der Frage selbst wird in der Tat die Möglichkeit einer objektiven Antwort behauptet: So ist es und nicht anders. Wir haben hier merkwürdig laufende Verbindungen zum falsch und zum richtig verstandenen Begriff der Intentionalität bei Husserl. Insofern Fragen ein Bezug zum Sein ist, der vom Gegebenen oder, wie Sartre es nennt, vom transzendenten Sein „erfüllt" werden kann, haben wir eine Parallelität zu Husserls Leer- oder Vor-Intention. Für Sartre scheint es nur eine Art von Frage zu geben: Ist das so? Diesem Fragen entspricht die leere oder setzende Intention Husserls. Insofern das Fragen eine Intentionalität offenbart, die ihren ursprünglichen vorfraglichen Bezug zu dem Sein, das sie erfüllt, voraussetzt, insofern Wahrheit begründet ist in der Wirklichkeit des transzendenten Seins und den Bezug zu ihm, ohne den Fragen überhaupt nicht möglich wäre, haben wir eine Parallele zu dem, was wir bei Husserl als die eigentliche Intentionalität erkannt haben. Gleichartig sind die Auffassungen Husserls und Sartres hinsichtlich eines ursprünglichen vorfraglichen Bezugs zu dem, was Sartre transzendentes Sein nennt; die Auffassungen divergieren jedoch hinsichtlich dieses Seins selbst. Bei Husserl ist die präinterrogative Vertrautheit die ständige Möglichkeit der Erhellung dieser. Selbst wenn ich midi über Einzelnes täusche, wenn Einzelnes nicht ist, dann nur auf dem Grund der weiter bestehenden, alles Einzelne umfassenden Vorbekanntheit. Evidenz kann immer nur durch Evidenz ersetzt werden, wie wir gesehen haben, im Horizont der vorgängigen Vorbekanntheit. Doch andererseits ist Wahrheit nur Bewahrheitung. Das Sein ist nie ganz gegeben, ganz zu erhellen.
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Wenn man einen Terminus Sartres gebrauchen will, könnte man sagen, daß im Husserlschen „ J a " immer nur eine Annäherung liegt. Für Sartre ist die "Wirklichkeit selbst nichts anderes als die im Fragen sich offenbarende disjunktive Möglichkeit von J a und Nein. Dabei erscheint das J a nur auf dem Hintergrund des Nein. Diese disjunktive Möglichkeit gehört zum Sein selbst, und zwar als dessen Beziehung zum Nichts. Das Sein erscheint nicht auf dem Hintergrund eines vorbekannten Horizonts, sondern auf dem Hintergrund vom Nichts. „Das, was das Sein sein wird, läßt sich notwendigerweise abheben von dem Hintergrund dessen, was es nicht ist. ( . . . ) Das Sein ist dieses und darüber hinaus nichts." (EN, S. 40) Das Nichts ist nicht im Sein selbst, aber es umgibt dieses. Erst auf dem Hintergrund des Nichts wird das Sein erfaßt. Die Wirklichkeit hat also zwei Komponenten: das Sein und das Nicht-Sein ((l'etre et le nonetre)). „Somit erscheint uns eine neue Komponente des Wirklichen: das Nicht-Sein." (EN, S. 40) Das Fragen hat uns die vorfragliche Wirklichkeit offenbart, die es möglich macht. Es enthüllt uns, daß zum vorfraglichen Sein das NichtSein gehört, und zwar ein dreifaches: das Nicht-Sein, das sich im Wissen des Menschen findet; dasjenige, das im transzendenten Sein als Negatität ((negatite)) gegeben ist, und das Nicht-Sein als Begrenzung des transzendenten Seins. Schon jetzt zeichnet sich ab, daß die anfängliche Disjunktion von J a und Nein, die das Nichts als Hintergrund des Seins herausstellt, dazu führt, das Sein ebenso disjunktiv zu unterscheiden, einmal vom Nichts und dann wiederum vom Bewußtsein, das dem Sein gegenübergestellt wird. Daraus ergibt sich von Anfang an eine gewisse Eigenart des Sartreschen Denkstils. Wir finden einerseits schroffe, ausschließende Gegenüberstellungen von J a und Nein, von Sein und Nicht-Sein. Audi daß das Nicht-Sein als Nichts gesehen wird, gehört zu diesem Denkstil. Andererseits finden wir eine ständige Verschachtelung der disjunktiven Gegenüberstellungen und Beziehungen in dem Versuch, die Disjunktion zu überbrücken, die jedoch, nachdem sie einmal eingeführt ist, immer wieder neu und jeweils komplexer erscheinen muß. Wenn wir untersuchen, wie Sartre zu dieser Auffassung gekommen ist, erkennen wir, daß er die Materialität, das Gegebensein des Apriori, wahren wollte. Sartre folgt einem Selbstmißverständnis Husserls, vor dem er die Philosophie bewahren will, das er aber noch verschärft.
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§ 29: Lebenswelt als zentrales Problem
Für Husserls ist das Sein nie ganz selbst gegeben, es bleibt ständig offen für weitere Auslegungen. Diese Offenheit interpretiert Sartre im Anschluß an andere Phänomenologen als Unendlichkeit subjektiver Erscheinungsweisen, Unendlichkeit, die obendrein noch im Rahmen eines in sich geschlossenen transzendentalen Bewußtseinsfeldes auftreten soll. Daß diese Auffassung widersinnig ist, haben wir gezeigt. Sartre will sie abwehren und das Phänomen vor der Subjektivierung bewahren. Das führt ihn dazu, es in einem transphänomenalen Sein zu fundieren. Dieses teilt er disjunktiv auf in zwei getrennte Regionen: Sein und Bewußtsein, Ansich-Sein und Für-Sich-Sein. Das Für-sich soll dem An-sich nichts anhaben dürfen, damit dieses in seiner Gegebenheit bewahrt bleibt. Von daher ist die Funktion des Nichts zu verstehen. Das „Nichts" Sartres hat seinen Ursprung in noch einer anderen Auffassung Husserls, was Sartre selbst nicht gesehen hat. Gleichwohl ist diese Auffassung bei ihm unterschwellig wirksam geworden, indem sie ihn zur Konzeption des „Nichts" führte. Bei Husserl ist das Sein nie ganz selbst gegeben; man könnte sagen, daß für Husserl das Nichts im Sein selbst ist als dessen ständige Nicht-Gegebenheit in der Gegebenheit, Nicht-Adäquation in der Adäquation. Allerdings wäre dieser Ausdruck nicht stimmig, denn das Nichts ist uns bei Husserl nicht als Nichts gegeben; das uneinholbare Verdeckt-Sein, die uneinholbare Anonymität des Seienden ist uns nicht als Nichts gegeben. Wenn man nun aber das Sein als ein An-sich-Sein auffaßt, das in sich keine Lücke hat, wie kann man dann das OfFen-Sein des Seins überhaupt noch darstellen? Offensichtlich nur durch das Nichts. Das zugleich Verdeckt- und Offen-Sein des Seins bekundet sich in der Sartreschen Wirklichkeit gewissermaßen noch wie von fern her in der merkwürdigen Gestalt des Nichts. Indem Sartre vom Phänomen zum Transphänomenalen geht, zu dem, was sich nicht mehr zeigt, verläßt er, was er selbst das Konkrete nennt, er begibt sich in die Spekulation. Sartre selbst bezeichnet sein Werk als eine Untersuchung der Beziehungen zwischen dem An-sich und dem Für-sich, den beiden Seinsregionen, die er disjunktiv und spekulativ getrennt hat. In gewisser Hinsicht ist es eine einzige Anstrengung, das wieder zusammenzufügen, was am Anfang getrennt worden ist. Hier können wir ihm nur seine eigene Einsicht entgegenhalten, die wir bereits als Grundeinsicht für das Philosophieren erkannt haben, daß man nämlich durch Zusammenfügen einmal abstrahierter Elemente das Konkrete nicht zurückgewinnen kann.
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§ 30: Phänomen und transphänomenales Sein
§ 30 Das Phänomen und das transphänomenale und Für-sich-Sein
An-sich-
Um Sartres Ansatz deutlicher zu machen, haben wir ihn eben mit Husserls Denken verglichen. Davon ausgehend soll Sartres Gedankengang nun präziser dargestellt werden. „L'etre et le neant" beginnt: „Das moderne Denken ((die Phänomenologie)) hat einen großen Fortschritt verwirklicht, indem es das Seiende auf die Serie der Erscheinungen reduziert, die es bekunden." (Ebda., S. 11) Damit sind nach Sartre drei Dualismen verschwunden: Erstens der des Inneren und Äußeren. Die Erscheinung verweist nicht auf ein Inneres, dessen äußere Erscheinung sie wäre, sondern auf die totale Serie der Erscheinungen. Ebenso ist Sartre der Ansicht, daß der Dualismus von Akt und Potenz entfällt, weil alles Akt ist. Das Gleiche gilt für den Dualismus von Erscheinung und Wesen. Die Erscheinung bekundet in der Tat das Wesen und verdeckt es nicht. „So bekundet sich also das phänomenale Sein, es bekundet sein Wesen ebenso wie seine Existenz, und es ist nichts anderes als die wohlverbundene Folge dieser Bekundungen." (Ebda., S. 12 f.) Alle Dualismen sind aber damit nicht verschwunden, vielmehr münden sie ein in einen neuen Gegensatz, dem zwischen endlich und unendlich. Das Endliche erscheint nun als Gegebenes nur in der Unendlichkeit seiner Erscheinungen. Im modernen Denken hat die Theorie der Phänomene die Realität der Sachen durch die Objektivität der Phänomene ersetzt. Was hat es mit dieser auf sich, wieso liegt in ihr ein letzter zu überwindender Dualismus? Das Objekt, das Phänomen, ist dem Bewußtsein transzendent, es ist gegeben; gleichzeitig ist es aber nur in der Serie seiner Erscheinungen gegeben. Die ganze Serie der Erscheinungen kann aber nie selbst erscheinen. Sollte die Objektivität also in einem Überschreiten auf die Unendlichkeit des Seins der Erscheinungen gesucht werden, dann würde sie gar nicht erst erreicht, denn dieses Überschreiten ist nicht möglich. Die Transzendenz der Objekte und damit der Phänomene, das heißt die Gegebenheit, muß somit in etwas fundiert sein, was nicht selbst Erscheinung ist. Die Transzendenz der Objekte kann nur begründet werden durch ein den Erscheinungen transzendentes Sein. Die in diesem Zusammenhang geäußerte Darstellung von Zehm scheint uns mißverständlich: „Sartre beginnt denn auch seine Suche nach dem Sein mit der Feststellung, daß die vollständige Reihe der Erscheinungen das Sein (...) in sieb enthalte. (Günter Albrecht Zehm: Historische
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§ 30: Phänomen und transphänomenales Sein
Vernunft und direkte Aktion, Stuttgart 1964, S. 38) Durch diese Darstellung könnte Sartres eigentlicher Ausgangspunkt verdeckt werden. Was ist das Sein? Das Sein ist keine faßbare Eigenschaft des Objekts, und es ist auch kein Sein, auf das das Objekt verweist. „Das Objekt besitzt nicht das Sein, und seine Existenz ist keine Teilnahme am Sein, noch irgendeine Art von Beziehung. Es ist, das ist die einzige Art seine Seinsweise zu definieren; (...) Das Sein ist einfach die Bedingung aller Enthüllung: es ist Sein-zum-Enthüllen und nicht Enthüllt-Sein." (EN, S. 15) Der für Sartre im Phänomen beschlossene Dualismus von endlich und unendlich führt ihn zu einer transphänomenalen Fundierung des Phänomens, i. e. im Sein.
Die Transphänomenalität des Seins zeigt sich auch darin, daß sich das Sein nie selbst, leibhaftig dem Bewußtsein enthüllt. Sein ist also ein Gegenstück zu Erscheinung, Phänomen. Während das Phänomen gewissermaßen abhängig ist als Serie der Erscheinungen für uns, ist das Sein unabhängig, es ist An-sich. Drei Charakteristika schreibt Sartre dem An-sich-Sein zu. Das Sein ist es selbst, ist an sich. Das Sein ist in keinerlei Beziehung zu sich, es ist sich. Es ist undurchsichtig, ausgefüllt mit sich selbst, massiv. Das Sein ist, was es ist. Es fällt mit sich selbst zusammen, in einer „Synthese" von sich selbst mit sich selbst. Es ist ohne jede Beziehung und erschöpft sich darin zu sein. Es ist „eine Immanenz, die sich nicht verwirklichen kann, eine Behauptung, die sich nicht behaupten kann, eine Tätigkeit, die nicht tun kann." (EN, S. 32) Darum ist es auch nicht zeitlich. Das An-sich-Sein ist. Es kann weder auf Möglichkeit noch Notwendigkeit zurückgeführt werden; es ist kontingent. (Vgl. EN, S. 32 ff.) „Das Wesentliche ist die Kontingenz. Ich meine damit, daß ex definitione das Sein nicht das Notwendige ist. Sein, das ist einfach da sein. Die Seienden erscheinen, man kann auf sie treffen, aber man kann sie nie ableiten. Es gibt Leute, die das begriffen haben, nur haben sie versucht, diese Kontingenz zu überschreiten, indem sie ein Sein erfunden haben, das notwendig und die Ursache seiner selbst ist. Doch kein Sein kann das Sein erklären: die Kontingenz ist nicht ein Anschein, ein Scheinbares, das man verschwinden lassen könnte; sie ist das Absolute und folglich das vollkommen Grundlose." (Jean-Paul Sartre: La Nausee, Paris 1938, S. 171) Das An-sich-Sein ist. Es kann weder auf Möglichkeit noch Notwendigkeit zurückgeführt werden; es ist kontingent. (Vgl. EN, S. 32 ff.)
§ 30: Phänomen und transphänomenales Sein
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Zu dieser Auffassung des An-sich-Seins sind einige Bemerkungen zu machen. Sartre geht aus von einem Phänomenbegriff, der offensichtlich noch eine Verschärfung der Subjektivierung des „subjektiven Wie der Gegebenheiten" oder der „Synthese von Bewußtsein mit Bewußtsein" darstellt. Die Erscheinungen können nur auf Erscheinungen verweisen, nicht auf etwas anderes. So müssen also die Erscheinungen in einem Sein gründen, das selbst nicht mehr erscheint. (Vgl. EN, S. 16) Sartre arbeitet diese Auffassung aus, um das Gegebensein der Phänomene vor der Subjektivierung zu retten. Das ist das wesentliche und wichtige Motiv seiner Denkbewegung. Aber in derselben Bewegung löst er das Erreichte wieder auf. Das Sein enthüllt sich nicht selbst, es ist Bedingung der Enthüllung. Indem er aber diese Idee vertritt, tut Sartre genau das, was er Kant vorgeworfen hat, er jagt einer Abstraktion nach, indem er nach den Bedingungen der Erfahrung sucht. Das „Konkrete" wird aufgelöst in Abstraktionen, und damit wird das konkrete Apriori zum formalen. Daß Sartre in Zwiespalt mit seinem eigenen Denken geraten ist, zeigt sich gerade darin, daß er vom Sein, das sich als transphänomenales An-sich jeder Beschreibung entzieht, Aussagen macht. Wieder haben wir hier das Beispiel, daß eine tiefe Einsicht, nämlich die in das An-sich-Sein und in die Materialität der Phänomene, bei dem Versuch sie zu formulieren, bereits wieder verdeckt wird. Wie bestimmt Sartre nun das Bewußtsein gegenüber dem Sein} Zunächst scheint er die klassische phänomenologische These zu vertreten: Alles Bewußtsein ist Bewußtsein-von-. Doch diese These nimmt sogleich eigentümliche Schattierungen an. Das An-sich-Sein ist massiv und undurchsichtig, das Bewußtsein aber ist für Sartre ganz durchsichtig. Darum kann das An-sich-Sein nicht im Bewußtsein sein. Das Bewußtsein ist also Bewußtsein (von), es ist nichts anderes als ein reines Über-sich-selbstHinausgehen zu dem, wovon es Bewußtsein ist. Es ist nicht in sich Bewußtsein-von-Bewußtseinsfremdem, wie bei Husserl, sondern ein reines Uberschreiten zu dem hin, von dem es Bewußtsein ist. Dieses Transzendieren des Bewußtseins nennt Sartre ein Setzen (position); das Bewußtsein erschöpft sich in diesem Setzen. (Vgl. EN, S. 17 f.) Das Bewußtsein selbst ist aber nicht Bewußtsein-von-sich-selbst, es setzt sich nicht, sondern es ist Bewußtsein durch und durch. So wie das An-sich-Sein die transphänomenale Fundierung des Phänomens ist, ist das Sich-nicht-setzende-Erfassen des Bewußtseins sein Bewußtsem, die transphänomenale Seinsstruktur des Bewußtseins. (Vgl. EN, S. 24) „Con10 B r a n d ,
Lebenswelt
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§ 30: Phänomen und transphänomenales Sein
science (de) soi" darf nicht mit „Selbstbewußtsein" übersetzt werden. Die deutsche Ubersetzung dieses Terminus schließt das Moment der Reflektiertheit mit ein, das Sartre gerade ausschließen will, indem er das Sein des Bewußtseins als dessen transphänomenales Sein betrachtet. Sartre setzt beim Begriff „Bewußtsein (von)": „conscience (de)" das „von": „de" immer in Klammern. Dieses (de) der „conscience (de) soi" hat eine ganz andere Bedeutung als bei allem sonstigen Bewußtsein. Wenn ζ. B. das Bewußtsein das Bewußtsein-von-Tisch ist: conscience (de) table, dann heißt das, daß das Bewußtsein über sich selbst hinausschreitet zum Tisch, von dem es Bewußtsein ist und den es als das setzt, wovon es Bewußtsein ist. Die „conscience (de) soi" ist aber nicht Bewußtsein von sich selbst, sie setzt sich nicht als Bewußtsein, sie „erfaßt" sich nicht als Bewußtsein, sie ist Bewußtsein durch und durch. Sartre sucht nicht das Phänomen des Bewußtseins, die Selbsterfassung des Bewußtseins, sondern er sucht das Sein, das transphänomenale Sein des Bewußtseins, die conscience (de) soi, die als Sein alle sonstige conscience (de) fundiert. Weil die ganze Welt außerhalb des Bewußtseins liegt, weil das Bewußtsein reine Erscheinung seiner selbst ist und sich nur auf anderes transzendiert, ist das Bewußtsein das total Leere. Die totale Leere, die sich selbst erscheint und durch und durch Bewußtsein ist, ist somit das Absolute. „Weil es selbst ein total Leeres ist (da die ganze Welt außerhalb liegt), kann es wegen dieser Identität in ihm zwischen Erscheinung und Existenz als das Absolute betrachtet werden." (EN, S. 23) Das Bewußtsein als reine, durchsichtige Erscheinung zu betrachten und alles Dunkle ins Außerhalb-des-Bewußtseins zu legen, das ist keine Beschreibung von Erfahrung und will auch gar keine sein, sondern eine spekulative und letztlich verräumlichende Betrachtung. Das Bewußtsein wird hier dargestellt wie ein Innen, das sich auf ein Außen bezieht. Das Bewußtsein ist totale Leere, gegenüber dem Sein ist es Nichts, es erschöpft sich darin, Bewußtsein von diesem Sein zu sein. Das alles heißt, daß das Bewußtsein eine Abstraktion ist, die nach Sartre isoliert gedacht, aber nicht bestehen kann. (Vgl. EN, S. 38) Wie aber kann es dann ein Absolutes sein? N u r das Konkrete ist doch absolut im Sartreschen Sinn. Das Bewußtsein ist Nichts, aber es erscheint sich; gegenüber dem An-sich ist es Für-sich. Wenn man das Sein des Bewußtseins als transphänomenales Sein setzt, wird das Bewußtsein nicht mehr faßbar. Die Identität von Erscheinung und Existenz, die darin liegen soll, ist Identität als totale Leere. Das Bewußtsein zum transphänomenalen Sein machen, wie es Sartre tut, heißt, diesem Sein die Bewußtheit nehmen: es muß sich
§ 3 1 : Beziehung zwischen Für-sich und An-sich als Nichtung
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ignorieren, da es in ihm nichts zu erkennen gibt. (Vgl. Maurice MerleauPonty: Le visible et l'invisible, Paris 1964, S. 106; wir zitieren: Vel) Sartre sieht dieses Problem selbst: „Das Für-sich ohne An-sich ist so etwas wie ein Abstraktes." (EN, S. 715 f.) Und er gibt zu, daß hier eine Zweideutigkeit liegt, die erlaubt, daß man willkürlich entweder auf der gegenseitigen Abhängigkeit oder auf der Unabhängigkeit des An-sich und des Für-sich bestehen kann. Sartre erwägt, ob man nicht aus dieser radikalen Heterogenität der beiden Seinsregionen herauskommen kann, indem man sie nicht als transphänomenales Sein, sondern als Phänomen behandelt. Bemerkenswert ist, daß es dann nur ein einheitliches Phänomen gäbe: die Welt. (Vgl. EN, S. 719) Doch hier läge für Sartre eine Gefahr des Scheiterns. „Das Scheitern läge in der Tat im Verfallen in den reinen Immanentismus (Husserlscher Idealismus) oder in den reinen Transzendentismus, der das Phänomen als eine neue Art von Objekt betrachten würde." (EN, S. 719) Wieder wird hier der Antrieb deutlich, der hinter dem Philosophieren Sartres steht: die Materialität des Apriori zu wahren, sich nicht im Subjektivismus oder Objektivismus zu verfangen.
§31 Die Beziehung zwischen dem Für-sich und dem An-sich als Nichtung Wir haben gesehen, wie bei Sartre die Wirklichkeit in zwei Regionen aufgeteilt ist, wie Sein und Bewußtsein als An-sich-Sein und Für-sich-Sein einander gegenübergestellt sind. Die Philosophie des Konkreten betrifft nicht das An-sich-Sein als solches, sondern die Beziehungen zwischen dem An-sich und dem Für-sich, und zwar, da das An-sich massiv, undurchsichtig ist, vom Für-sich aus gesehen. Der Weg zur Verdeutlichung der Beziehung zwischen Für-sich und An-sich führt über das Nichts. Damit wir überhaupt fragen können, muß die Negation möglich sein, muß das J a auf dem Grund von Nein, das Sein auf dem Grund vom Nichts erscheinen. Dann muß uns aber das Nichts irgendwie gegeben sein, denn es kann nicht wie eine Sache im Bewußtsein sein. (Vgl. EN, S. 46) Das Nichts begegnet uns als Gegebenheit. Es begegnet uns gegenständlich in der Welt in Form von Realitäten, die ein Nicht-Sein einschließen und die Sartre Negatitäten nennt. Dazu gehören ζ. B. Entfernung, Abwesenheit, Veränderungen, Anderssein, Abgestoßensein, Trennung, Zerstörung usw. 10»
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§ 31: Beziehung zwischen Für-sich und An-sidi als Niditung
Zehm meint, daß es bei den Sartreschen Demonstrationen der Gegebenheit des Nichts nicht ohne Plattheiten, Demagogie und ungewollte Komik abgeht. „So wenn er seinen Freund Pierre im Cafe sucht, obwohl doch jedermann weiß, daß er ihn nur deshalb sucht, um ihn nicht zu finden. (...) Scheinheilig fragt er: ,Liegt hier eine unmittelbare Erkenntnis der Abwesenheit Peters vor oder aber tritt die Negation erst mit dem Urteil auf?' Und um die zweite Möglichkeit plausibel zu machen, ergeht er sich wenig überzeugend in literarischem Psychologismus: tatsächlich ist Pierre von dem ganzen Cafe abwesend; seine Abwesenheit läßt das Cafe bei seinem Dahinschwinden erstarren... es gleitet nach rückwärts, es läuft seiner Nichtung nach. Es macht sich zum Hintergurnd nur für eine bestimmte Gestalt, es hält die Gestalt allenthalben vor sich hin, es bietet sie mir überall dar; und diese Gestalt, die sich dauernd zwischen meinen Blick und die zuverlässigen, realen Dinge des Cafes schiebt, die gerade ist ein ununterbrochenes Dahinschwinden, sie ist Pierre, der sich als Nichts vom Nichtungshintergrunde des Cafέs abhebt.'" (Zehm: a. a. O., S. 27 f.) Sartre stellt dann die Frage: wo kommt das Nichts her? Es kann nicht vom An-sich-Sein kommen, denn dieses ist reine Positivität; es kann nicht von sich selbst, vom Nichts kommen, denn das Nichts ist nichts. „Bleibt also, daß ein Sein existieren muß — welches nicht An-sich sein kann — dessen Eigenschaft es ist, das Nichts zu nichten. . . . ein Sein, durch das das Nichts zu den Dingen kommt." ( E N , S. 58)
Dieses Sein muß, so sagt Sartre, im Zusammenhang mit seinem eigenen Sein das Nichts nichten. Zwei Gründe gibt es dafür, daß dieses Sein sein eigenes Nichts sein muß. Erstens kann es nicht sich selbst als positives Sein in einem setzenden Akt nichten, denn dann brauchten wir ja wieder ein Sein, das dieses nichtet usw., und damit hätten wir einen unendlichen Regreß. Es muß mithin sein eigenes Nichts sein. Zweitens muß die Dualität, die das Für-sich gegenüber dem An-sich kennzeichnet, gewahrt werden. Während das An-sich-Sein ein Sein ist, in dem es keine Dualität gibt, ist das Für-sich-Sein ein Sein, das in sich eine Dualität enthält, „insofern dieses Sein ein Sein impliziert, das ein anderes als es selbst ist." (EN, S. 29) Für-sich-Sein ist Bewußtsein (von), es setzt Sein, das es nicht ist. Es ist gegenüber dem An-sich bestimmt als Nicht-ansich, mit anderen Worten: es ist bestimmt durch sein Nichtsein, durch sein Nichts hinsichtlich des An-sich. Wenn das Für-sich Nichts ist gegenüber dem An-sich, so muß es auch sein eigenes Nichts sein, damit seine es kennzeichnende Dualität nicht in die Dualität zweier An-sich auseinanderfällt. „Das Nichts, das im Herzen des Bewußtseins auftaucht, ist aber
§ 31: Beziehung zwischen Für-sich und An-sich als Niditung
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nicht, ( . . . ) Andernfalls würde die Einheit des Für-sich in die Dualität von zwei An-sidi zerfallen. Daher muß das Für-sich sein eigenes Nichts sein. Das Sein des Bewußtseins als Bewußtsein ist, im Abstand zu sich zu sein als Anwesenheit bei sich, und dieser Null-Abstand, den das Sein in seinem Sein trägt, ist das Nichts." (EN, S. 120) Damit wird klar, welcher Art die Beziehung ist, die zwischen dem An-sich und dem Für-sich herrscht. Während im An-sich-sein keine Negation möglich ist, ist das Für-sich wesentlich Negation. Das Setzen, in dem sich das Bewußtsein (von) erschöpft, ist ein Negieren, ein Nichten. Setzen ist Nichten, ist ein und derselbe Akt. Weil es zwischen dem An-sich und dem Für-sich weder Kontinuität nodi Diskontinuität geben kann, muß die Beziehung zwischen beiden darin bestehen, daß das eine das andere nichtet. „Zwischen dem Für-sich und dem An-sich kann es keine Kontinuität geben, denn dies würde ein Vermittelndes erfordern, das sowohl Für-sich wie An-sich zugleich wäre, was die Autonomie des Für-sich aufheben und es im An-sich engagieren würde. Die Beziehung kann aber audi nicht als eine solche der Diskontinuität aufgefaßt werden. Gewiß, die Trennung zwischen zwei diskontinuierlichen Elementen ist eine Leere, ein Nichts, jedoch ein verwirklichtes Nichts, das heißt ein An-sidi. Die Anwesenheit des Für-sich beim An-sich, weil sie sich weder in Begriffen der Kontinuierlichkeit noch in Begriffen der Diskontinuierlichkeit ausdrücken kann, ist reine negierte Identität." (EN, S. 227) Um dies verständlich zu machen, benutzt Sartre einen Vergleich: zwei Tangenten. Sie bieten den Typus der Anwesenheit ohne Zwischenglied. Wenn man die zwei Linien so verdeckt, daß nur die Länge zu sehen ist, wo sie einander berühren, dann ist es unmöglich, sie zu unterscheiden, man kann nur eine einzige Linie sehen. Wenn man dann die ganze Figur wieder aufdeckt, sind plötzlich aufs neue zwei gekrümmte Linien zu sehen, die sich berühren. Dies resultiert nicht aus einer brüsken und tatsächlichen Trennung, die sich plötzlich zwischen ihnen verwirklicht hätte; vielmehr sehen wir, daß das, was sie trennt, nichts ist. Dieses Nichts liegt darin, „daß die beiden Bewegungen, mit denen wir die Linien ziehen, um sie wahrzunehmen, je eine Negation als konstituierenden Akt umfassen. So also ist das, was die beiden Linien an ihren Berührungspunkten selbst trennt, nichts, nicht einmal eine Entfernung: es ist eine reine Negativität." (EN, S. 227) Man könnte zu dieser Auffassung noch eine Reihe kritischer Bemerkungen machen. Doch die von Merleau-Ponty geäußerte Kritik scheint uns alle anderen einzuschließen: „Wenn das Sein ganz an sich ist, dann ist es selbst nur in der Nacht der Identität, und mein Blick, der es heran-
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§ 32: Für-Andere-sein
zieht, zerstört es als Sein; und wenn das Für-sich reine Negation ist, ist es nicht einmal Für-sich, es ignoriert sich, da es in ihm nichts gibt, was zu kennen wäre." (Vel, S. 106)
§ 32 Der Versuch der Überwindung der transzendentalen Paradoxie durch das Für-andere-Sein Sartre sieht selbst, daß er die Beziehung zwischen An-sich und Fürsich nicht nur als Nichtung bestehen lassen kann, er sieht die Gefahr der Formalisierung des Apriori, die in der reinen Negation liegt. Deswegen unternimmt er die größten Anstrengungen, um das Gegebensein audi der Subjektivität zu erhalten, und das heißt bei ihm, eine Beziehung zwischen dem An-sich und dem Für-sich aufweisen, in der das Für-sich selbst Ansich ist. Zum konkreten oder materialen Apriori der Lebenswelt gehören die Anderen, das Subjekt der Lebenswelt muß gesellschaftlich sein. Bei Husserl und Heidegger wurde die Welt von der Subjektivität aufgesogen und diese schließlich von sich selbst als reines Konstituieren oder reiner sich selbst setzender Seinsvollzug. Bei Husserl haben wir das Paradox, daß das Ich den Anderen konstituiert, das „Dasein" Heideggers trifft den Anderen erst gar nicht, es lebt in einem „existenzialen Solipsismus". Diese Irrgänge seiner Vorgänger will Sartre vermeiden. Er will, vergessen wir das nicht, das Konkrete erfassen als gleichursprüngliche, gegebene, materiale Verschränkung von Welt, Ich und den Anderen. Die Frage, die sich stellt, lautet letzten Endes: Wie kann ich gegeben sein, Objekt sein, wie kann das Für-sich An-sich sein, ohne sich selbst dazu zu konstituieren? Wie kann der Andere Anderer sein, Für-sich, ohne daß er von mir konstituiert wird, wie kann er Für-sich sein, ohne von mir zum An-sich gemacht zu werden? Wenn das gezeigt werden könnte, dann wäre damit auch gezeigt, daß die Welt nicht nur meine Welt ist, nicht nur Nichtung des An-sich, die ja nur von mir vollzogen werden kann, sondern die gemeinsame Welt, in der ich und die Anderen leben. Im folgenden wird dieser Versuch Sartres, der der Kern seiner Philosophie ist, nachgezeichnet. Sartre unterscheidet zwischen dem ursprünglich und dem nicht-ursprünglich begegnenden Anderen. Der ursprünglich-begegnende Andere ist derjenige, welcher weder Subjekt für die Welt noch Objekt in der Welt
§ 32: Für-Andere-sein
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sein soll. Der nicht-ursprünglich-begegnende Andere ist derjenige, welcher beides ist, doch zunächst ist er der Objekt-Andere. Obwohl ich nach Sartre, wie wir sehen werden, die Erfahrung des Subjekt-Anderen, des ursprünglich-begegnenden Anderen schon gemacht haben muß, wenn ich ihn als Objekt-Anderen erfahre, beginnt Sartre seine wesentliche Analyse des Anderen mit letzterem. „Diese Frau, die ich auf midi zukommen sehe, dieser Mann, der auf der Straße vorübergeht, dieser Bettler, den ich vor meinem Fenster singen höre, sind für mich Objekte, daran besteht kein Zweifel. Also ist es richtig, daß wenigstens eine der Modalitäten der Anwesenheit Anderer die Objektheit ((objectite>) ist. (...) Ich befinde midi in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und am Rande des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei. Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn als Objekt, gleichzeitig auch als Menschen. Was bedeutet das? Was will ich damit sagen, wenn ich von diesem Objekt behaupte, daß es ein Mensch ist}" (EN, S. 310 f.) Dreierlei kennzeichnet das Auftreten des Objekt-Anderen: Erstens desintegriert er meine Welt. Er ist das desintegrierende Element in meiner Welt, die sich plötzlich, bei seinem Auftreten, um ihn herum orientiert. Vorher waren der Rasen und die Stühle um mich selbst als Mittelpunkt herum gruppiert, jetzt „entfaltet sich die Entfernung von dem Menschen aus, den ich sehe, bis zu dem Rasen als das synthetische Auftauchen eines einseitigen Verhältnisses (...) anstatt eine Gruppierung der Dinge auf mich hin zu sein, ist es eine Orientierung, die vor mir flieht." (EN, S. 312) Bevor er auftauchte, schienen die Objekte um mich herum als Zentrum und Nullpunkt in gewissen objektiv meßbaren Entfernungen orientiert. Sie hatten Eigenschaften, die auf mich bezogen waren, obwohl sie mir als objektiv erschienen. Mit dem Erscheinen des Anderen bricht diese scheinbare objektive Einheit meiner Welt zusammen. Die Objekte werden nicht länger ausschließlich durch meßbare Entfernungen von meiner eigenen Position her bestimmt, sondern audi von seiner her. Ich sehe nunmehr die Objekte nicht nur von mir aus, sondern auch von dem Anderen her, und zwar mit einer Tendenz zur immer stärkeren Auflösung der Verhältnisse, die ich zwischen den Dingen meines Mikrokosmos erfasse. Der Objekt-Andere, „das ist zunächst die beständige Flucht der Dinge auf ein Ziel hin, das ich sowohl in einer gewissen Entfernung von mir als Objekt erfasse, das mir aber auch entgeht, insoweit, als es um sich herum seine eigenen Entfernungen entfaltet. Diese Auflösung schreitet aber immer weiter fort, (...) er ((der Andere)) ist eine
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§ 32: Für-Andere-sein
Umgruppierung aller meine Welt anfüllenden Dinge, der ich beiwohne und die sich mir entzieht. (...) So ist plötzlich ein Gegenstand sichtbar geworden, der mir die Welt gestohlen hat." (EN, S. 312 f.) Das zweite Charakteristikum des Objekt-Anderen ist, daß mich sein Sein nicht unmittelbar betrifft, sondern, wie wir aus dem eben Dargelegten sehen, über den Umweg der Welt. Wie erfahre ich den Objekt-Anderen? Dadurch, daß er meine Welt desintegriert. Ich erfasse den Objekt-Anderen im Eindringen seiner Welt in meine Welt; seine Welt ist, wie Sartre sagt, ein Abflußloch, aus dem meine Welt entrinnt. Drittens ist der Andere nicht schlechthin Objekt, auch nicht nur privilegiertes Objekt, sondern er ist Subjekt-Objekt. Was soll das heißen? Wenn der Andere nur Objekt wäre, dann wäre, so meint Sartre, sein Sein als Anderer durchaus fraglich. Er könnte nicht unbedingt von anderen Objekten unterschieden werden, sondern wäre als Anderer nur wahrscheinlich. (Vgl. EN, S. 312, S. 315) Wir sahen, daß der Andere ein Objekt ist, das sieht, was ich sehe. Damit ist er zumindest potentiell derjenige, der mich selbst als Objekt sieht. Er sieht nicht nur, was ich sehe, sondern auch ich kann von ihm gesehen werden. Genau hier haben wir den Umschlagspunkt, an dem uns klar wird, daß der Andere nicht lediglich Objekt ist, und zwar gerade weil ich für ihn Objekt bin und nur für ihn Objekt sein kann. Die Welt ist „objektiv", das heißt Objekt-Welt durch mich; ich aber kann nie Objekt für mich selbst sein. Eben meine eigene Gegenständlichkeit kann „sich für mich nicht aus der Gegenständlichkeit der Welt ergeben, da ja ich es bin, durch den es eine Welt gibt; das heißt, daß ich der bin, der grundsätzlich für sich selbst nicht Objekt sein kann." (EN, S. 314) Meine Objektheit für mich kommt nicht aus der Welt her, sie kommt vom Anderen her, vom Anderen, für den ich Objekt bin. Das ist aber nicht der ObjektAndere, denn dieser ist ja selbst für mich Objekt in meiner Welt, es ist der Subjekt-Andere. Wenn ich den Anderen also als Objekt erfahre, das die Möglichkeit hat, mich zu erfahren, dann erfahre ich ihn als Subjekt-Objekt-Anderen. Das heißt aber auch letzten Endes, daß ich die Erfahrung des Subjekt-Anderen, des mir ursprünglich Begegnenden, schon gemacht haben muß, wenn ich den Objekt-Anderen erfahre, denn diesen erfahre ich ja, wie wir nun gesehen haben, als Subjekt-Objekt-Anderen. In der Erfahrung des Objekt-Anderen liegt die Übertragung oder die Erinnerung an einen als ursprünglich begegnenden Subjekt-Anderen. Die Gegenständlichkeit des Anderen in meiner Welt als nicht ursprüngliche Anwesenheit bezieht sich auf eine ursprüngliche Anwesenheit.
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Diese besteht darin, daß er mich sieht, oder besser gesagt, daß ich von ihm erblickt werde. „Wenn der Objekt-Andere in Verbindung mit der Welt als das Objekt definiert wird, welches das siebt, was ich sehe, muß meine Grundbeziehung zum Subjekt-Anderen zurückgeführt werden können auf meine ständige Möglichkeit, vom Anderen gesehen zu werden." (EN, S. 314) Der ursprünglich-begegnende Andere ist also der Subjekt-Andere, der mich zum Objekt macht, indem er midi sieht. „Der Andere ist grundsätzlich der, der mich ansieht(EN, S. 315) Im Blick des Anderen erfahre ich zweierlei: seine Welt-Jenseitigkeit als unmittelbare Gegenwart und mein eigenes Gegebensein in der Welt. Sartre versucht, die Widersprüchlichkeit zu überwinden, die für ihn darin liegt, daß der Andere meiner Welt angehört, indem er die WeltJenseitigkeit des Anderen deklariert. In seiner Kritik an Husserl sagt Sartre: „Der Andere ist von Natur außerhalb der Welt." (EN, S. 290) Und er spricht in diesem Zusammenhang vom „außerweltlichen Sein Anderer", „l'etre extra-mondain d'autrui". (EN, S. 290) Die Erfahrung des Anderen ist dabei nicht nur die eines weit-jenseitigen Anderen, sondern sie ist zugleich der konkrete Beweis, daß es überhaupt eine Weltjenseitigkeit gibt. „So ist die Erscheinung des Blickes Anderer keine Erscheinung in der Welt: weder in der (meinigen', noch in ,der der Anderen'; und die Beziehung, die mich mit Anderen vereint, kann nicht eine äußerliche Beziehung zum Inneren der Welt sein, sondern durch den Blick des Anderen mache ich die konkrete Erfahrung, daß es ein Jenseits der Welt gibt." (EN, S. 328 f.) Der ursprünglich-begegnende Andere ist also nicht ein Anderer in meiner Welt, sondern ein Anderer außerhalb der Welt. Wenn der Andere wirklich Anderer sein soll, muß er mir unmittelbar gegeben sein. Dieses unmittelbare Gegebensein des Anderen liegt nach Sartre in seiner Welt-Jenseitigkeit. Wenn das Sein des Anderen nämlich nicht durch meine Welt vermittelt ist, dann ist die weit-jenseitige Gegenwart des Anderen unmittelbare Gegenwart. Nichts trennt den Anderen von mir als er selbst. Die transweltliche Gegenwart ist von mir durch keine Entfernung getrennt, „durch keinen — weder realen, nodi idealen — Gegenstand der Welt, durch keinen Körper der Welt, sondern allein durch seine Anderer-Natur." (EN, S. 328) Wie aber werde ich durch die unmittelbare Gegenwart des Anderen in seiner Weltjenseitigkeit zum Objekt in seiner Welt? Wir haben gesehen, daß ich mich selbst nicht zu meinem Objekt machen kann. Ich werde zum
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§ 32: Für-Andere-sein
Objekt durch den Anderen und für den Anderen. Gerade darin bekundet sich die unmittelbare Gegenwart des Anderen, daß ich selber anders werde, nämlich Objekt, ohne dies durch mich zu werden. „Meine Objektheit für mich ist keineswegs die Explizitmachung des ,Ich bin Ich' Hegels. Es handelt sich keineswegs um eine formale Identität und mein Objekt-Sein oder Für-Andere-Sein unterscheidet sich zutiefst von meinem Für-mich-Sein ( . . . ) Mein Für-Andere-Sein ist ein Sturz durch die absolute Leere hindurch auf die Gegenständlichkeit zu. Und da dieser Sturz Entfremdung ist, kann ich mich für mich selbst nicht zum Gegenstand werden lassen, denn in keinem Falle kann ich mich mir selbst entfremden." (EN, S. 332) „Übrigens konstituiert der Andere mich nicht als Gegenstand für mich, sondern für ihn. Er dient mit anderen Worten nicht als regulativer oder konstitutiver Begriff für die Erkenntnisse, die ich von mir haben kann. Die Gegenwart des Anderen läßt also das Ich-Objekt nicht ,erscheinen': ich erfasse weiter nichts als ein Mir-Entgehen in Richtung a u f . . . So ist mein Objekt-Ich also weder Erkenntnis noch Erkenntniseinheit, sondern Unbehagen, erlebtes Losgerissensein aus der ek-statischen Einheit des Für-sich, Grenze, die ich nicht erreichen kann und dennoch bin." (EN, S. 334) In diesem Zum-Objekt-Werden erfahre ich die Gegenwart des Anderen. „Das ,Vom-Anderen-gesehen-Werden' ist die Wahrheit des ,Den-Anderen-Sehens'." (EN, S. 315) Das heißt aber auch, daß das „Den-Anderen-Sehen" nicht Auf-denAnderen-Sehen ist, auch nicht lediglich Gesehen-Werden, sondern Sehenauf-mich. Im Vom-Anderen-gesehen-werden habe ich ein Sehen von mir auf mich selbst. „Der Blick ( . . . ) ist reine Verweisung auf mich selbst. ( . . . ) So ist der Blick zunächst ein Vermittelndes, das von mir auf mich selbst verweist." (EN, S. 316) Bevor der Andere mich erblickte, war ich ganz auf die Dinge gerichtet, nicht auf mich selbst. Erst das Gesehen-Werden wirft mich auf mich selbst zurück, erst in dieser Erfahrung stoße ich auf mein Ich. (Vgl. Walter Biemel: Jean-Paul Sartre in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1964, S. 4) Am Beispiel der Scham weist Sartre diese dreifache Struktur des Erblickt-Werdens nach: die Subjektheit des Anderen, meine Vermittlung durch ihn und seine unmittelbare Gegenwart. Die Urstruktur der Scham ist in der Tat ein Sich-Schämen-über-sich-vor-den-Anderen. (Vgl. EN, S. 350, S. 275 f.) Der Andere ist Subjekt. Der Andere kann nicht Objekt sein, denn er ist ja der, vor dem ich mich schäme. Das Objekt der Scham bin ich selbst. Der Andere vermittelt mich mir selbst. Das Ich, über das ich mich
§ 32: F ü r - A n d e r e - s e i n
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schäme, gibt es nur durch den Subjekt-Anderen. Solange ich allein bin, gibt es keine Scham,· denn es gibt dann weder jemand, vor dem ich mich schämen kann, noch jemand, über den ich mich schämen kann. Schließlich ist der Andere, vor dem ich mich schäme, mir unmittelbar gegenwärtig. Mein Schambewußtsein ist nämlich nicht reflexiv. In der Reflexion kann ich immer nur dem Bewußtsein begegnen, das meines ist. D a ich mich aber vor dem Anderen schäme, ist dieser der unentbehrliche Mittler zwischen mir und mir selbst und als solcher mir unmittelbar und nicht reflexiv gegenwärtig. Die Unmittelbarkeit des Anderen liegt in dieser Negation der Reflexion. Fragen wir uns nun, was in dieser Vergegenständlichung durch die unmittelbare Gegenwart des Anderen geschieht, so müssen wir feststellen: Indem der Andere mich anblickt, bin ich nicht nur der Gegenstand des Anderen, sondern ich bin überhaupt erst Gegenstand geworden. Und zwar bin ich das Objekt geworden, als das ich mich selbst anerkenne oder wiedererkenne. Sartre nennt dies die Anerkenntnis (reconnaissance). „Ich erkenne an, daß ich bin, wie andere mich sehen." (EN, S. 276) Indem ich mich selbst in meinem Sein so erkennen muß, wie der Andere mich sieht, stürze ich in die Faktizität als Vorhandenheit. Was hat es mit dieser Faktizität auf sich? Zwei Momente bestimmen nach Sartre das menschliche Sein: die Transzendenz und die Faktizität. Als Mensch habe ich das Vermögen, mich auf Möglichkeiten hin zu entwerfen, sie zu wählen und zu verwirklichen. Dieses Vermögen nennt Sartre Transzendenz, weil ich dadurch nicht ein für allemal auf mein Sein als ein bestimmtes Sein festgelegt bin, sondern mein Sein überschreite, transzendiere. Darin liegt meine Freiheit. Die Faktizität dagegen bezeichnet das Festgelegt-Sein auf, auf das, was ich bin und was ich bisher verwirklicht habe, was unwiderruflich geschehen ist. (Vgl. Biemel: a. a. O., S. 49) In der Transzendenz habe ich mein Sein nicht vor mir, ich bin es in der Weise des Zu-sein. Durch das Erblickt-Werden verliere ich meine Transzendenz, werde zur puren Faktizität verurteilt, sinke zur Identität mit mir selbst herab. „Es genügt, daß der Andere mich ansieht, damit ich das bin, was ich bin." (EN, S. 320) Durch den Blick des Anderen werde ich „versteinert". Von einem Für-sich werde ich zum An-sich. „Der Andere verleiht bei seinem Auftauchen dem Für-sich ein An-sich-inmittender-Welt-Sein wie eine Sache unter Sachen. (EN, S. 502) „Der Andere ist als Blick weiter nichts als: meine transzendierte Transzendenz." (EN, S.321)
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§ 33: Der fundamentale Widerspruch
Auf die Frage, was in der Vergegenständlichung durch die unmittelbare Gegenwart des Anderen geschieht, müssen wir also antworten: mein Für-sich-Sein wird ins An-sich-Sein verlagert. Dies ist für Sartre das Ergebnis der ganzen Untersuchung über den Anderen. Mit diesem Ergebnis wird auch die Grundfrage der Sartreschen Ontologie, nämlich die einer ursprünglichen Beziehung des Für-sich zum An-sich beantwortet. „Wir sind also bei unserer Untersuchung vorwärts gekommen: tatsächlich wollten wir die ursprüngliche Beziehung des Für-sich zum An-sich bestimmen. Zunächst haben wir gelernt, daß das Für-sich Nichtung und radikale Verneinung des An-sich ist; nunmehr stellen wir fest, daß es allein auf Grund der Tatsache der Mitwirkung des Anderen und ohne jeden Widerspruch auch völlig An-sich ist, gegenwärtig inmitten des An-sich." (EN, S. 502) Das Für-Andere-Sein ist die Weise des Für-sich-Seins, am An-sich teilzunehmen. Es ist die gesuchte Verbindung von Für-sich und An-sich. Und schließlich stellt sich nun die Frage: Wie kann das Für-den-Anderen-Sein als An-sich-Sein gleichwohl das meinige sein? Sartre beantwortet sie, indem er erklärt: Das Für-den-Anderen-Sein ist mein Äußeres, mein Außen-Sein. Es ist nicht ein Außen-Sein, das nur von außen gekommen wäre, sondern es ist mein Außensein. (Vgl. EN, S. 321) „Es ist mein Außenseite-Sein: nicht ein erlittenes Sein, das selbst von außen gekommen wäre, sondern eine Außenseite, übernommen und erkannt als meine Außenseite." (EN, S. 346)
§ 33 Der fundamentale in der Philosophie
Widerspruch Sartres
Der dargestellte Versuch Sartres ist als gescheitert zu betrachten. Zunächst ist die Auffassung von der „Weltjenseitigkeit" des Anderen zu kritisieren, die Sartre später in der „Critique de la raison dialectique" anscheinend aufgegeben hat. In „L'etre et le n£ant" ist der Andere als Subjekt nicht Objekt in meiner Welt, doch ich bin es für ihn; ich fange den Anderen in meinem Weltentwurf nicht ein, doch er mich in seinem: „ich bin bei den Augen ({des Anderen)) ohne Abstand, aber die Augen sind von dem Ort entfernt, an dem ich ,mich befinde' — während der Blick ohne Abstand auf mir ruht und mich zugleich entfernt hält, das heißt, seine mir unmittelbare Gegenwart einen Abstand schafft, der mich von ihm fernhält." (EN, S. 316)
§ 3 3 : Der fundamentale Widerspruch
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Die Konzeption von der Welt-Jenseitigkeit jedoch läßt sich nicht halten, der Andere bleibt, auch als Subjekt-Anderer, in meiner Welt oder vielmehr in einer Welt, die eine gemeinsame Welt ist. Merleau-Ponty macht dies deutlich: „Die Leere, die ich am Horizont meiner Welt einrichten wollte, um in ihr den Autor meiner Scham und das unerfaßbare Bild, das er sich von mir macht, wohnen zu lassen, ist nicht, was immer ich audi denken mag, Leere; es ist nicht die einfache oder unmittelbare Negation meiner selbst oder meiner Welt: einzig und allein deswegen, weil ich sie ((die Leere)) umreiße, und sei es auch nur mit einer gestrichelten Linie, ist sie herausgeschnitten aus meiner Welt, gibt es ein Überschneiden meiner Welt und derjenigen des Anderen." (VeI,S. 111) Sartre hat in der „Critique de la raison dialectique" die Idee der Weltjenseitigkeit, der Weltunvermitteltheit des Anderen aufgegeben. Die menschliche Beziehung entspringt nunmehr der Pluralität der Betätigungen im Inneren des gleichen praktischen Feldes, sie ist die Praxis selbst, die sich durch die Vielzahl der Menschen im Inneren des gleichen materiellen Ortes pluralisiert. Die Praxis schafft ein instrumentales praktisches Feld, eine Welt, die nicht meine, sondern unsere Welt ist. Des weiteren ist der Mensch nicht mehr derjenige, der sich auf seine eigene Möglichkeiten hin entwirft, die Transzendenz, der Entwurf des Menschen zielt nicht auf sich selbst, sondern auf eine neue Welt. Das heißt und bedeutet: Ich und der Andere können uns nur vermittels der Welt verwirklichen. (Vgl. Ignacio Sotelo: Das Problem der dialektischen Vernunft bei Jean Paul Sartre Phil. Diss., Köln 1965, S. 83 ff.) Damit hat Sartre die These von der Weltjenseitigkeit des Anderen preisgegeben, den ich als SubjektAnderen unmittelbar erfahren haben muß, um ihn in den Dingen der Welt, nämlich als Objekt-Anderen, erblicken zu können. (Vgl. Michael Theunissen: Der Andere, Berlin 1965, S. 190) Und doch wird die gleiche These modifiziert wieder aufgenommen. Objekt des Blickes bin nicht mehr ich allein, sondern wir sind es, Ich und der Andere, die wir in gegenseitiger Bindung stehen. Der Blick ist jetzt nicht der Blick des Anderen, sondern der eines Dritten. Die Reziprozität erkennt sich nämlich selbst nur, weil Dritte ihre Normen festlegen und deren Zeugen sein müssen. Gegenseitigkeit ohne einen Dritten gibt es für Sartre nicht. „Die binäre Gestalt als unmittelbare Beziehung zwischen Mensch und Mensch ist die notwendige Begründung jeder ternären Relation; aber umgekehrt ist diese als Vermittlung des Menschen zu den Menschen der Grund, auf dem die Reziprozität sich selbst als reziproke Bindung erkennt." (Jean-Paul Sartre: Critique de la raison dialectique, Paris
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§ 33: Der fundamentale Widerspruch
1960, S. 189; wir zitieren: CRD) Das heißt, daß letzten Endes die reale Beziehung zwischen den Menschen nicht gegenseitig, sondern dreiseitig, daß es keine Zweier-, sondern eine Dreier-Verbindung ist. Indem der Dritte der Zweiheit Einheit und Ganzheit gibt, ist er die eigentliche Grundlage der Gegenseitigkeit. Damit bleibt es letztlich bei der Grundauffassung von „L'etre et le neant". Lassen sich die bereits aufgezeigten und noch aufzuzeigenden Schwierigkeiten auf eine Grundschwierigkeit, lassen sich diese Widersprüche auf einen fundamentalen Widerspruch zurückführen? In diesem Zusammenhang wollen wir zunächst prüfen, ob Theunissen recht hat, wenn er eine Umkehr des transzendentalphilosophischen Schemas und damit der transzendentalen Paradoxie Husserls in dem Versuch Sartres sieht, dem SichVerfangen in der Subjektivität dadurch zu entgehen, daß er sich das Fürsich nicht durch sich selbst, sondern erst durch den Blick des Anderen — oder „uns" durch den Blick des Dritten — konstituieren läßt. (Vgl. Theunissen: a. a. O., S. 226) Liegt hier etwa die Grundschwierigkeit Sartres? In der These von Theunissen scheint uns entweder eine Verkennung der Auffassung Hussels oder der Sartres zu liegen. Abgesehen von dieser Einzelkritik, der in der Arbeit von Theunissen keine allzu große Bedeutung zukommt, ist sein Werk eine unübertreffbare Quelle für alle diejenigen, die an der in der heutigen Wissenschaft und Philosophie zentral gewordenen Problematik des „Anderen" interessiert sind. Die transzendentale Paradoxie, auf ihre einfachste Formel gebracht, lautet: Subjektsein für die Welt und zugleich in ihr. Wenn das Paradox darin bestehen sollte, daß ich als Subjekt midi gleichzeitig irgendwie vergegenständlicht, „objektiviert" in meinem Gegenüber habe, dann wäre das gar kein Paradox, sondern gehörte zur Seinsweise eines sich wie immer auch erfassenden Subjekts. Die Paradoxie liegt vielmehr darin, daß ich als weltlose extramundane Subjektivität Welt konstituiere, eine Welt, in der ich mich doch wiederfinde, und zwar als Subjekt. Darum auch ist die transzendentale Paradoxie bei Heidegger pointierter als bei Husserl, weil ich mich bei ihm in einer Welt v/leder-finde, in sie geworfen, die doch nur der Entwurf meiner Möglichkeiten ist. Die transzendentale Paradoxie macht vollkommen unerfindlich, wieso und wie ich mich als transzendentales Subjekt zum Subjekt in der Welt konstituiere. Sie wird zum Widerspruch, wenn andere als Subjekte in der Welt konstituiert werden sollen. Wir hätten dann eine Umkehr der transzendentalen Paradoxie, wenn der Andere mich als Subjekt konstituieren würde. Doch bei Sartre
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ist dies nicht der Fall, der Andere konstituiert mich als Objekt. „Der Andere ist für mich das Sein, für das ich Gegenstand bin, das heißt das Sein, für das ich Gegenstand bin, das heißt das Sein, durch das ich meine Gegenständlichkeit gewinne." (EN, S.329) Darin allein ist noch keine Paradoxie, kein Widerspruch zu entdecken. Wir finden bei Sartre weder die Umkehrung noch die Auflösung der transzendentalen Paradoxie, vielmehr stoßen wir bei ihm auf eine Grundschwierigkeit, aus der alle anderen herrühren. Sie hindert ihn auch daran, Wege zu Ende zu gehen, die er eingeschlagen hat, um ungenügende Lösungen seiner Vorgänger zu überwinden. Es handelt sich um die radikale disjunktive Gegenüberstellung von Ich und Welt. Bei einer solchen nicht weiter durchleuchteten Gegenüberstellung, die sich Sartre als Opposition des An-sidi und Für-sich darstellt, muß man sich in der widersprüchlichen Konzeption der transzendentalen Subjektivität verfangen. Wenn das Fürsich Nichtung des An-sich ist, dann ist es reines, extramundanes „Sehen", das alles andere sich gegenüber hat. Die Lebenswelt wird mit einer Welt verwechselt, die nur noch eine rein „gesehene" ist. In diesem Sehen ist mir nichts gegeben, ich werde von dem, was ich sehe, von einem reinen Gegenüber, nicht angegangen, ich nichte es. Der Urwiderspruch, den wir finden in der disjunktiven Gegenüberstelllung des An-sich und Für-sich, des NurGesehenen, dem durch das Sehen nichts angetan wird, und dem Sehen, das Nichts-Sein hinsichtlich des Gesehenen ist, wird eklatant in der Frage nach dem Anderen. Will ich den Anderen erfassen, der ja Sehen ist, so kann ich ihn nicht als Sehen erfassen, denn dann wäre ich sein Sehen, wäre mit ihm identisch, ich kann ihn also nur als mein Von-ihm-gesehenwerden ergreifen. (Vgl. Vel, S. 109) Hieraus resultieren drei Widersprüche, die sich nicht durchhalten lassen, deren Grundlagen sich auflösen, weil es keine unumstößliche, gelebte Erfahrung gibt, die ihnen entspricht. Der erste Widerspruch liegt darin, daß ich den Anderen nur erfasse, indem ich ihn nicht erfasse. Denn wenn ich mich als sein Objekt und darin sein Sehen erfasse, dann erfahre ich doch nicht seine von ihm gesehene Objekt-Welt, in der ich ja erst Objekt sein kann. Ich erfahre ihn also nicht in dem, was er eigentlich ist: Sehen von Welt. Darum audi erfahre ich nicht, als was für ein Objekt er mich sieht. Im Blick des Anderen erfahre ich mich ja nicht als Objekt für mich, sondern für ihn. Dies aber so, daß ich es nur als mein eigenes Unbehagen erfahre. Es gibt also keine positive Erfahrung des Anderen, sondern nur eine Erfahrung meiner selbst als in die Faktizität gestürzt, als kompromittiert durch das, was
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§ 33: Der fundamentale Widerspruch
von mir sichtbar ist (Vgl. Vel, S. 88) Ich erfahre, daß der Andere mich sieht, aber ich erfahre nicht den, der mich sieht, nicht als was er midi sieht und nicht, was er überhaupt sieht. Das heißt, ich erfahre weder ihn in seiner Subjektivität noch mich in meiner Objektivität, in meinem Gegenstand-Sein. Dies bringt uns zum zweiten Widerspruch, dem der Anerkenntnis, in der für Sartre der Schlüssel zur Beziehung von An-sich und Für-sich liegt. Ich muß anerkennen, daß ich so bin, wie der Andere mich sieht. Diese Anerkenntnis ist jedoch blind, weil ich gar nicht weiß, wie der Andere mich sieht. Der Widerspruch kann nicht dadurch gelöst werden, daß der Andere mir sagt, wie er mich sieht, denn dadurch würde er ja zum Objekt für mich. Nun kommen wir zum dritten Widerspruch. Wenn meine Objektivität, und das heißt mein Gegenständlichsein in einer objektiven Welt, darin besteht, daß ich von einem Anderen gesehen werden kann, so kann ich doch auch von anderen Anderen gesehen werden. Hat das aber nicht zur Folge, daß meine Objektivität erst dann vollendet ist, wenn alle Anderen mich sehen? Da dies absurd wäre, kann meine Objektivität nur darin bestehen, daß ich von einem beliebigen Anderen gesehen werden kann. Damit ist aber der Andere als er selbst, als konkreter Anderer endgültig verschwunden und ich mit ihm. Der Andere ist reiner enteigneter Blick, und ich bin reines enteignetes Erblicktwerden. Von beiden kann nichts anderes gesagt werden. Die Leere ist total. In diesem Zusammenhang verdient eine Kritik Merleau-Pontys Erwähnung. Er meint, daß Sartres Philosophie des Negativen das Problem der Anderen immer als Problem des Anderen stellt. Damit ist in dieser Philosophie der Andere nicht ein Anderer, sondern das Nicht-Ich im allgemeinen. Er trifft die schwer zu übersetzende Unterscheidung zwischen „autrui" und „l'autre". Das Problem von „autrui" kann nicht auf das Problem „de l'autre" zurückgeführt werden, auch dann nicht, wenn es sich um den Anderen handelt, der uns sieht und nicht mich, denn es gibt nicht nur einen Zeugen meiner Partnerschaft. Vielleicht, meint MerleauPonty, sollte man sogar die gewöhnliche Reihenfolge in der Philosophie das Negativen umstellen und sagen, daß das Problem des Anderen nur ein Sonderfall des Problems der Anderen ist, daß die Beziehung zu einem Anderen immer vermittelt wird durch die Beziehung zu den Anderen. Das ist aus folgendem Grund besonders wichtig: „Wenn der Zugang zu Andederen, ((ä autrui)) Eingang in eine Konstellation von Anderen ist, (wo es, wohlgemerkt Sterne verschiedener Größen gibt), dann ist schwierig zu
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behaupten, daß der Andere ohne weiteres die absolute Negation meiner selbst sei. (...) Selbst wenn wir einen Haupt-Anderen «autre principal)) haben, von dem viele sekundäre Andere in unserem Leben sich ableiten lassen, dann verpflichtet allein die Tatsache, daß er nicht einziger Anderer ist, dazu, ihn nicht als absolute Negation zu verstehen." (Vel, S. 113) Der Versuch, die Beziehungen des Für-sich zum An-sich in der Anerkenntnis zu fundieren, ist ebenfalls gescheitert. Allerdings enthält er den Ansatz zur Lösung eines phänomenologischen Problems, das weniger bedeutsam, aber nicht uninteressant ist: die intersubjektive Konstitution der Objektivität. Die „objektive" Welt hat in der Tat eine Welt zu sein, in der der Betrachter ein beliebiger, und zwar ein beliebig auswechselbarer sein muß. Die Philosophie Sartres ist in sich zwiespältig, als Auslegung des Konkreten, des materialen Apriori, sollte sie eigentlich Phänomenologie sein. Wie wir gesehen haben, wurden, gerade um die Materialität des Apriori zu erhalten, Spekulationen über das transphänomenale Sein angestellt. Sartre gibt darum seinem Werk den Untertitel „Versuch einer phänomenologischen Ontologie". Zur Ontologie und Seins-Spekulation Sartres wissen wir keinen besseren Beitrag als die Kritik Merleau-Pontys: „Von dem Augenblick an, in dem ich mich als Negativität auffasse und die Welt als Positivität, gibt es keine Beziehung mehr zwischen beiden (