Die Kunst der Schulbegleitung: Systemisches Miteinander und miteinander im System [1 ed.] 9783666702945, 9783525702949


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German Pages [177] Year 2020

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Die Kunst der Schulbegleitung: Systemisches Miteinander und miteinander im System [1 ed.]
 9783666702945, 9783525702949

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Werner Koepper

Die Kunst der Schulbegleitung Systemisches Miteinander und miteinander im System

Werner Koepper

Die Kunst der Schulbegleitung Systemisches Miteinander und miteinander im System

Unter Mitarbeit von Milena Schur

Vandenhoeck & Ruprecht

Für Susanne

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Susanne Köpper Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-70294-5

Inhalt

Einstimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kapitel 1: Fünf Fälle, fünf Geschichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alicia liebt Rituale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Levin will alles richtig machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Samir ist der King . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Liam, der wütende Sammler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Murat möchte gerne dazugehören . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14 14 17 22 26 27

Kapitel 2: Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ADHS/ADS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Affektive Dysregulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autismus-Spektrum-Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angststörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bindungsstörung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Depressionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Parentifizierung (oder auch Parentisierung) . . . . . . . . . . . . . . . . Vernachlässigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spezialfall hochbegabte Problemschüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gewalt in der Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wertekonflikte und Migrationshintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn das Zuhause krank macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 3: Systemtheorie als Navigationshilfe . . . . . . . . . . . . . . 58 Neues Denken für Schulbegleiter: Wir alle sind Teile von Systemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 5

Die Systemtheorie ist die Fortschreibung der Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Systemtheorie als Basis und Haltung für Schulbegleiter . . . . . . Die Aufgabe des Schulbegleiters ist die Veränderung . . . . . . . . Die Systemtheorie nach Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Systemtheorie in der Sozialen Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Mensch in der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Was ist ein System, was eine Maschine? . . . . . . . . . . . . . 3. Das Individuum in der Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . 4. Was ist Autopoiesis? Was meint Selbstreferenz? . . . . . . 5. Was ist Kommunikation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Was sind Erwartungen und Erwartungserwartungen? . 7. Was ist Beobachten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Was ist Sinn? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Wie konstruieren sich soziale Systeme? . . . . . . . . . . . . . 10. Ist der Schulbegleiter mit seinem Kind ein eigenes soziales Wertesystem? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Wie kann die Dynamik des Systems »Schulbegleiterund-sein-Kind« helfen, das Kind zu entwickeln? . . . . . Fazit: Systemtheorie für Schulbegleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 4: Von Beginn an miteinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Besuch in einer Grundschule am Montagmorgen . . . . . . . . . . . 90 Lehrerinnen und Schulbegleiterinnen: Miteinander auf Augenhöhe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Der Umgang mit den Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Der Umgang mit Mitschülern und der Klasse . . . . . . . . . . . . . . 105 Das Schulbegleitungs-Kind: Zusammensein und Wir-Gefühl . 110 Erwartungen sind okay, versteckte Bedingungen nicht . . . . . . . 114 Kapitel 5: Konzepte entwerfen und umsetzen . . . . . . . . . . . . . Auf Lösungen schauen statt auf Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bausteine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 1: Das Zusammensein von Schulbegleiter und Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 2: Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

Inhalt

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Baustein 3: Kreativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 4: Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 5: Gefühle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 6: Selbstwert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 7: Wir-Gefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 8: Selbstwirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 9: Resilienz und Ressourcen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 10: Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 11: Klassenregeln und Rituale in der sozialen Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 12: Regeln lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Baustein 13: Mache dein Kind glücklich(er) . . . . . . . . . . . . . Baustein 14: Lösungsorientierte Fragetechniken . . . . . . . . . .

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Kapitel 6: Spezielle Strategien und Methoden . . . . . . . . . . . . . Belohnungssysteme und Token . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien für Rüpel, Rowdies und Rabauken . . . . . . . . . . . . . . . Strategien bei ADHS/ADS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien bei Asperger-Syndrom/Autismus-SpektrumStörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Strategien bei Trauma und Traumafolgestörungen . . . . . . . . . . Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII . . . . . . . . . . . . . . . . Datenschutz beachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ausklang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Autor und Mitautorin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

Inhalt

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Einstimmung

Ich möchte mich bei Lea bedanken. Lea ist eine SchulbegleiterKollegin. Sie veröffentlichte unter dem Titel »Mit Gefühl dabei sein« einen Artikel (erschienen in der Zeitschrift »transform. Magazin für das Gute Leben«) über ihren Job als Schulbegleiterin, der mich sehr beeindruckte. Lea ist Psychologin und arbeitet – wie ich – bei einem freien Träger für Kinder- und Jugendhilfe an Hamburger Schulen. In ihrem Beitrag berichtet sie über den Schulalltag als Begleiterin eines neunjährigen Problemkindes. Lea bringt es auf den Punkt: »Ohne Vertrauen hat die Schulbegleiterin schlechte Karten. Du brauchst das Vertrauen des Kindes, der Mitschüler, der Lehrer.« Gleichzeitig macht sie klar: Es ist kaum bekannt, was Schulbegleitung eigentlich ist, wie sie arbeitet und auf welche Weise sie erfolgreich sein kann. Leas Artikel war mein Anlass, dieses Buch zu schreiben. Auch allen anderen Schulbegleiter-Kolleginnen und -Kollegen1 gilt mein Dank. Viele Ereignisse, Eindrücke, Bewertungen, Einstellungen und Maßnahmen zu psychisch und sozial problematischen Kindern sowie deren auffälliges Verhalten im System Schule sind aus der regelmäßigen kollegialen Beratung in dieses Buch eingeflossen. Alle Ereignisse, Namen und Orte wurden selbstverständlich anonymisiert. Die Personen heißen anders, Ereignisse fanden an anderen Orten statt. 1 Beim Schreiben musste ich die Frage der geschlechtergerechten Sprache entscheiden: Soll ich das Große Binnen-I einsetzen? Oder ein Sternchen mitten im Wort? Oder einen Schrägstrich einsetzen? Vorzugsweise von Lehrkraft und Schulbegleitungspersonen schreiben? In unserem Sprachgebrauch gibt es bis heute keinen allgemein verbindlichen Weg fürs Gendern. Um den Lesefluss zu erhalten, habe ich mich entschieden, kapitelweise zu wechseln: zwischen Lehrer und Lehrerin, Schüler und Schülerin, Schulbegleiter und Schulbegleiterin. Im Sinne der gendersensiblen Sprache mögen sich bitte alle Geschlechter angesprochen fühlen.

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Eine Schulbegleitung geht mit den zu begleitenden Kindern ein inniges, vertrauensvolles, sehr nahes Verhältnis ein. Gemeinsam bilden sie eine systemische Zweierbeziehung. Um das Systemische zu betonen, schreibe ich oft die »Schulbegleiterin und ihr Kind« oder der »Schulbegleiter und sein Kind«. Gemeint ist hier nicht das besitzanzeigende Wort, sondern das enge systemische Verhältnis. Dieses Buch soll Handelnden im Schulbegleitungswesen – Behörden, Lehrern, Eltern – ein klareres und anspruchsvolleres Bild vom Alltag eines Schulbegleiters vermitteln. Ich möchte damit der Profession des Schulbegleiters im Gefüge der Schule einen angemessenen Platz einräumen. Berufseinsteigern soll es Klarheit verschaffen, auf was sie sich einlassen, wenn sie die Verantwortung für ein sozial-emotional auffälliges Kind übernehmen, um es weiterzuentwickeln. Lehrkräfte und Elternvertretungen möchte ich anregen, der Schulbegleitung Respekt und Würdigung entgegenzubringen. Denn ich bin überzeugt: Mit vereinten, sich gegenseitig wertschätzenden Kräften kann die Inklusion von Problemschülern gelingen.

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Einstimmung

Einführung

Schulbegleitung geht auf die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung von 2008 zurück. Die Bundesregierung unterzeichnete diese Konvention 2009 und verpflichtete sich damit, die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für Menschen mit Behinderung zu ermöglichen (https://www.behindertenrechtskonvention.info/ (Zugriff 13.01.2010)). Das gilt auch für Kinder. Kinder mit Behinderungen dürfen nicht vom unentgeltlichen und obligatorischen Schulunterricht ausgeschlossen werden. Die Umsetzung dieser Konvention läuft an den Schulen unter dem landläufigen Begriff »Inklusion«. Unter Behinderungen fallen dabei nicht nur körperliche Einschränkungen, sondern auch seelische Entwicklungsstörungen und Krankheiten. Psychisch und sozial problematische Kinder überfordern die Lehrer, machen sie ohnmächtig und hilflos. Sie »zerschießen« den Unterricht, »sprengen« Klassenstrukturen und sind eine Belastung für erfolgreiches Unterrichten und Lernen. Doch diese Kinder gehen in der öffentlichen Diskussion oft unter, obgleich diese Schüler einen großen Anteil an Schulen ausmachen (Ahrbeck 2017). In der Praxis werden diese Kinder unter Pädagogen häufig als »Problemkinder« bezeichnet. Auch in diesem Buch wird der Begriff aufgrund seiner Praxisnähe genutzt, wenn auch betont werden soll, dass damit keinesfalls das ganze Kind, der ganze Mensch als »Pro­ blem« gesehen wird. Vielmehr werden die Probleme im schulischen Miteinander, in den systemischen Beziehungen zwischen Schülern, Mitschülern und Lehrern verortet. Denn hier, im systemischen Miteinander, setzt die erfolgreiche Schulbegleitung an. Die genannten Beispiele aus der schulischen Praxis und das Einordnen in pädagogische, psychologische und soziale Zusammenhänge sollen helfen, im Schulalltag auftretende Phänomene zu erkennen und zu verstehen. Darüber hinaus werden Konzeptbau11

steine zur Problemlösung geliefert. Dabei wird auf das Machbare geschaut: Nämlich dem begleiteten Kind zu helfen, sich im sozialen Raum der Schule zu integrieren, sowie in der Schule als Lernorganisation zurechtzukommen. Das Buch ist kein wissenschaftliches Fachbuch, sondern ein erfahrungsbasiertes Buch, das lösungsorientiertes Handeln für den Schulbegleiter-Alltag an der Seite emotional und sozial auffälliger Kinder anregen will. Das Buch ist in sechs Kapitel unterteilt, die nicht zwingend in der gedruckten Reihenfolge gelesen werden müssen: Ȥ Kapitel 1: Hier werden fünf Problemkinder vorgestellt: Alicia liebt Rituale, Samir ist der King, Levin möchte alles richtig machen, Liam sammelt vierblättrigen Klee und Murat möchte dazugehören. Vier Jungengeschichten, eine Mädchengeschichte. Das Verhältnis spiegelt es wider: Jungen sind verhaltensauffälliger als Mädchen (Dantrimont 2018). Die fünf Fälle liefern realistische Bilder vom auffällig schwierigem Verhalten und den Alltagsproblemen, in denen diese Kinder stecken. Ȥ Kapitel 2: Die Schulbegleiterin sollte die relevantesten psychologischen und sozialen Störungsbilder und Einflussfaktoren kennen. Deshalb werden hier die prägnantesten Diagnosen und Ursachen kurz dargestellt. Ȥ Kapitel 3: Die Systemtheorie hilft Pädagogen, eine neue Perspektive einzunehmen (Just 2017). Sie gibt Schulbegleitern eine Orientierung und untermauert damit ihr Handeln konzeptionell und methodisch. Ein neues, systemisches Denken ist hilfreich, weil es das pädagogische Handeln lösungsorientiert ausrichtet und aufs Gelingen fokussiert. Es öffnet Räume für neue pädagogische Kreativität und ermöglicht so, dass beeinträchtigte (gestörte2, kranke) Kinder seelisch und sozial weiter wachsen. Ȥ Kapitel 4: Hier werden die Akteure und ihre systemischen Beziehungen zueinander beschrieben. Lehrer, Mitschüler, die Klasse als System, das Problemkind, seine Schulbegleiterin: Von Beginn an wirken soziale Systeme zusammen. Eine Voraussetzung fürs Gelingen ist Vertrauen. Vertrauen ist der wohl relevanteste Bau2 Psychologen sprechen bei seelischen Krankheiten von Störungen (Wirtz 2019).

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Einführung

stein in sozialen Systemen. Die andere Voraussetzung ist die Kenntnis und Wirkung der Dynamik in sozialen Systemen, wie der Schulklasse, den Lehrer-Schüler-Beziehungen, der Schul­ begleiterin-Kind-Beziehung oder der Lehrerin-­SchulbegleiterinBeziehung. Dieser Dynamik kann sich kein Akteur entziehen –, und sie lässt sich produktiv nutzen, wenn sich die Akteure wechsel­seitig (systemisch) unterstützen. Ȥ Kapitel 5: Damit der Auftrag des Schulbegleiters gelingen kann, braucht er Problemlösungskonzepte und Methoden. Damit er sein kreatives Potenzial gut aktivieren kann, sind Orientierungsrahmen, Bausteine und Wegweisungen nötig. In diesem Kapitel werden allgemeine Konzepte und ihre mögliche Umsetzung beschrieben. Ȥ Kapitel 6: Im letzten Kapitel geht es um spezielle Strategien und Methoden für besondere Herausforderungen, wie den Umgang mit renitenten Kindern, ADHS, Autismus und traumatisierten Kindern. Dieses Buch richtet sich primär an Schulbegleiter und Lehrkräfte. Schulbegleiter gehen einen Weg, der mal schwierig, mal leicht, oft spannend und immer ereignisreich ist. Nicht selten haben sie schöne, emotional großartige Erlebnisse mit ihren Schützlingen. Auch wenn Vieles Geduld kostet, sind die Erfahrungen bereichernd. Meist zeigt sich, dass sich dem begleiteten »schwierigen« Kind so helfen lässt, dass es am Ende der gemeinsamen Zeit seinen Weg an der Regelschule – seelisch und sozial gewachsen – allein weitergehen kann.

Einführung

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Kapitel 1: Fünf Fälle, fünf Geschichten

Alicia liebt Rituale Als ich mein neues Kind, eine siebenjährige Zweitklässlerin, mit den Worten: »Hallo, du bist Alicia!« begrüße, ernte ich ein gebrülltes: »Ich heiße Ali, du Arsch und nicht Alicia«, dabei streckt das Mädchen mir die Zunge heraus. Noch weiß ich nicht, dass Alicia an einer frühkindlichen Bindungsstörung leidet (mehr dazu in Kapitel 2, Bindungsstörung). Ihre Geschichte und ihre Diagnose erfahre ich erst später, ebenso wie die Geschichte ihrer Mutter. Ich reagiere freundlich: »Oh, das wusste ich nicht. Ich werde dich ab jetzt Ali nennen. Okay?« Das Mädchen antwortet: »Okay, du Arsch.« Später wird sie mir verraten, dass sie von mir doch immer Alicia genannt werden möchte. Doch noch haben wir kein inniges Vertrauens­ verhältnis. An meinem ersten Schultag in ihrer Klasse erlebe ich vor allem Alicias Verhaltensauffälligkeit. Ihre Lehrerin hat eine Handpuppe in der Hand und hält sie hoch, sodass alle Kinder sie sehen können. Mit den Worten »Ich bin Lubo3 und komme aus dem Weltall« stellt sie die Puppe vor und möchte mit dem Unterricht beginnen. Alicia springt auf, läuft zur Lehrerin, reißt ihr die Handpuppe vom Arm, rennt damit durch die Klasse, klettert auf die Fensterbank und versteckt sich hinter dem Vorhang. Ein Teil der Klasse ist amüsiert 3 »Lubo aus dem All« ist ein pädagogisches Programm zur Förderung von emotionalen Kompetenzen bei Grundschülern. Das Konzept wurde unter Prof. Clemens Hillenbrand am Institut für Sonderpädagogik, Universität Oldenburg, entwickelt. Das Trainingsprogramm umfasst ca. 20 Unterrichtsstunden. Grundschüler sollen ihre eigenen Gefühle kennenlernen, Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl sollen gestärkt werden. Das Lubo-Programm fördert Toleranz, Integration und einen friedlichen Umgang in der Klasse, auf dem Pausenhof sowie beim Spielen und gemeinsamen Lernen.

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und will den Spaß mit Alicia teilen, der andere Teil sitzt still und ist bedrückt. Die Lehrerin und ich sehen uns an. Ich gehe zur Gardine und warte ein paar Sekunden, bis Alicia sich zeigt. Dann öffne ich meine Arme. Alicia will auf meinen Arm, wirft »den blöden Lubo« auf den Boden. Ich trage sie aus der Klasse. Vor uns liegen zwei gemeinsame Jahre, ich begleite sie bis zum Wechsel auf die Stadtteilschule. Durch meine Präsenz und indem ich ihr zeige, dass sie mir wichtig ist, werden wir in dieser Zeit zu einem sozialen System. Soziale Systeme sind sinnstiftende soziale Phänomene, die durch Kommunikation entstehen (Luhmann 1984). Sie definieren sich, grenzen sich von ihrer Umwelt ab und wachsen durch interne Werte, Regeln, Rituale, Verhaltensweisen, Einstellungen und Erwartungen. Sie erschaffen sich als neue soziale Einheiten und streben danach, zu wachsen und zu gedeihen (mehr dazu in Kapitel 3, Systemtheorie als Navigationshilfe). Die Geburtsstunde eines Rituals

Ich hatte mal ein Bonbon im Mund. Mit ausgestreckter Hand stand Alicia vor mir und sagte nur: »Bonbon!« Ich gab ihr eins. In der nächsten Pause stand sie erneut vor mir und hielt die Hand auf: »Bonbon.« Ich antwortete: »Ich bringe dir morgen eins mit.« »Versprochen?«, fragte sie. »Versprochen!«, antwortete ich. Es wurde ein Ritual zwischen uns. Die anderen Schüler kamen hinzu und wollten auch ein Bonbon. Hin und wieder verteilte ich auch ein paar an die anderen. Da das Bonbonverteilen sich jedoch ins Uferlose steigern kann, sagte ich öfter: »Ich habe nur noch eins – und das ist für Alicia.« Das ging so weit, dass Alicias Mitschüler auf dem Schulhof schon von Weitem riefen: »Alicia, er hat nur noch eins für dich!« Alicia fühlte sich sehr gut in der Rolle, die Einzige zu sein, die von mir bedacht wurde. Über symbolisches Verhalten wurden wir zu einem sozialen System. Zusammengehörigkeit stärken durch Zuwendung

Jeden Donnerstag war Schwimmtag. Das bedeutete, einen Kilometer zu Fuß mit der ganzen Klasse zum Schwimmbad zu laufen und wieder zurück. Jedes Kind trug seine Schwimmsachen selbst. Jedes? Nein, für Alicia trug ich zeitweise ihre Sachen. Alicia liebt Rituale

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Alicia ist an diesem Tag schlecht drauf, sie hat schon wieder Streit mit einer Mitschülerin. Sie will ihre Tasche nicht nehmen und sich einreihen. »Paarweise aufstellen«, fordert ihre Lehrerin. »Alicia, nimm deine Sachen, stell’ dich in die Reihe!« Die Lehrerin ist laut, sie hat Übung darin, ihre Stimme laut einzusetzen. Alle Kinder reihen sich ein, nur Alicia nicht. »Komm Alicia, wir gehen zusammen«, sage ich, »gib mir deine Tasche«. Die Tasche sei nicht schwer, die könne Alicia selbst tragen, meint die Lehrerin. »Nein, die Tasche trage ich«, entgegne ich. Alicia freut sich: Sie hat gewonnen. Ich freue mich auch: Wir können ohne weiteren Stress loslaufen. Und ich freue mich, dass Alicia wieder erlebt hat, dass wir zusammengehören (mehr über das Verhalten in Zielkonflikten mit Lehrkräften in Kapitel 4, Von Beginn an miteinander). Das Ritual zur Verstärkung erwünschten Verhaltens

Inzwischen hatten Alicia und ich uns mittags stets einige Minuten Zeit genommen, um den Tag zu reflektieren. Das war im Sinne eines Token-Systems (s. Kapitel 6, Belohnungssysteme und Token) zum Ritual geworden. Wir besprachen uns immer kurz nach Schulschluss um 13 Uhr, noch vor dem Mittagessen. Eines Freitags muss ich unverzüglich nach Hause und kann mir die Zeit zum Mittagsgespräch nicht nehmen. Ich muss an dieser Stelle von einem Gespräch zwischen Alicia und mir berichten, das mehr als ein Jahr zurücklag. Damals fragte mich Alicia, ob ich verheiratet sei. »Hast du eine Frau?« Ich antwortete mit »Ja«. Alicia fragte weiter: »Liebst du die?« Ich bejahte. »Wie heißt die?« Ich verriet ihr den Namen meiner Ehefrau. Nun, nach mehr als einem Jahr, in dem wir nie wieder über meine Frau gesprochen hatten, bettelt Alicia: »Bleib doch!« Ich: »Nein, ich kann nicht.« Alicia: »Bleib doch!« Ich: »Nein, ich kann nicht, ich muss los!« Ich will mich nicht aufhalten lassen und laufe zur Pforte, wo schon Dutzende von Eltern warten, um ihre Kinder zum Schulschluss abzuholen. Alicia bettelt weiter: »Bleib doch!« Ich bleibe entschlossen und stur. Da schreit Alicia über den ganzen Schulhof laut, aggressiv und wütend: »Dann geh doch zu deiner blöden A… (Name meiner Ehefrau), du arschgefickte Drecksau!« Ich bleibe stehen und antworte: »Alicia, du weißt, ich kann dich gut leiden. Ich mag dich. Aber ich mag nicht so häss16

Fünf Fälle, fünf Geschichten

liche Worte, die kann ich nicht gut leiden. Komm, wir machen doch unser Mittagsgespräch, die fünf Minuten müssen noch drin sein.« Bilanz: Über einen Zeitraum von zwei Jahren verbesserte sich Alicias Verhalten. Ihr aggressives Verhalten, ihr Pöbeln, das Beleidigen, das Streiten mit Mitschülern gingen zurück. Ihr spontanes Weinen, verbunden mit der bettelnden Frage »Nimmst du mich in den Arm?«, ging zurück. Sie nässte nicht mehr ins Bett ein. Sie war immer öfter gut gelaunt, heiter und glücklich. Über Verlässlichkeit, Präsenz, regelmäßige Aufmerksamkeiten, das Vermeiden von Drohen oder Schimpfen entstand ein sozialsystemisches Regelmuster zwischen ihr und mir, das Alicia Struktur, Halt und Sicherheit gab. Heute geht Alicia auf eine weiterführende Schule. Sie ist eine durchschnittliche, teilweise auch gute Schülerin. Sie hat neue Freunde gefunden. Meist verhält sie sich heute unauffällig. Wenn sie mal wieder ausrastet, steuert sie selbstregulierend gegen.

Levin will alles richtig machen Levin hat ADHS (s. Kapitel 2, ADHS), so diagnostizierte der Psychologe, sagt die Lehrerin. Er ist in kinderpsychiatrischer Behandlung. Täglich soll er ein Medikament einnehmen, das ihn morgens drei, vier Stunden ruhiger stellt. Es komme öfter vor, dass die Mutter oder er selbst nicht daran denken, das Medikament einzunehmen, sagen die Lehrer. Er sei gewaltbereit, halte sich nicht an die Schulregeln, verweigere das Lernen. Eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung in Kombination mit einer Hyperaktivitätsstörung äußert sich durch körperliche Unruhe, Zappeligkeit und das Unvermögen, still sitzen zu können. ADHSKindern fällt es schwer, dem Unterricht aufmerksam zu folgen, die eigenen Gefühle selbst zu regulieren, Wünsche und Impulse zu kontrollieren und zu steuern (mehr dazu in den Kapiteln 2, ADHS und 6, Strategien bei ADHS/ADS). Der Schulbegleiter ist in der Regel während des Unterrichts und während der Pausen an der Seite des Kindes. Das ist gut so, denn er Levin will alles richtig machen

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braucht Gelegenheit und Zeit, seinen Klienten zu beobachten. Ich hatte mir zum Frühstück einen bunten Donut mitgebracht. Kaum ausgepackt, wünschte Levin sich auch so einen. Wir teilten uns den Donut. Levin bat darum, ihm am nächsten Tag einen eigenen Donut mitzubringen. Er könne auch dafür bezahlen. Am nächsten Tag brachte ich ihm einen Donut mit, als Geschenk. Zu meiner Überraschung aß er ihn nicht sofort, sondern steckte ihn sich mit der Tüte in die Hosentasche. Mittags holte seine Mutter ihn meist von der Schule ab. So auch heute. Ich stellte mich drauf ein, die Mutter kennenzulernen. Bei Schulschluss saß sie auf einer Treppe im Foyer. Sie hatte eine Kinderkarre dabei, darin saß Levins zweijährige Schwester. Die Mutter nahm keinen Kontakt zu mir auf. Levin ignorierte seine Mutter und begrüßte die kleine Schwester. Diese redete in einer eigenen, selbstentwickelten Sprache mit Levin. Ich verstand teilweise, was Levin sagte, die Worte der Schwester hingegen waren für mich nicht zu entschlüsseln. Doch Levin verstand ihre selbst erfundene Sprache und beantwortete ihre Fragen. Währenddessen saß die Mutter still und scheinbar teilnahmslos dabei. Dann holte Levin den Donut aus seiner Hosentasche, riss ein Stück ab und fütterte damit seine Schwester. Er riss noch ein Stück ab und gab es der Mutter. Ein weiteres Stück gab er mir. Ein kleiner Rest blieb über, den steckte er sich in den Mund. »Wir gehen jetzt nach Hause! Komm!«, sagte er zur Mutter und Schwester. Und die Mutter gehorchte, alle drei gingen. Zu Hause gäbe es oft Streit, erzählt mir Levin einige Tage später. Dabei grinst er verlegen. »Ich habe ihr [der Mutter] gestern eine Flasche an den Kopf geworfen«, verrät Levin. Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist gestört. Levins Mutter ist alleinerziehend. Was nicht ganz stimmt: Der Fernseher erzieht mit, mehrere Stunden täglich. Jeden Tag gibt es Streit in Levins Zuhause-System. Levin erkennt, dass seine Mutter nicht in der Lage ist, den Haushalt zu führen und die Schwester zu versorgen. Der Kühlschrank ist oft leer, die Mutter noch im Bett. Levin fühlt sich verantwortlich, die Rolle der Mutter zu übernehmen. Und seine Mutter lässt das zu. Wenn sie Levin nicht gewähren lässt, gibt es Streit. Dann wird Levin gewalt18

Fünf Fälle, fünf Geschichten

tätig. Seine Gewalt richtet sich ebenso gegen Gegenstände wie gegen sich selbst. Mission impossible – Levin in der Elternrolle

Levin ahnt, dass er das Ganze nicht richtig macht. Der Siebenjährige ist überfordert, zerrissen zwischen geahntem Anspruch und alltäglichem häuslichem Erleben. Er pendelt zwischen grandioser Selbstüberschätzung und schuldhaftem Scheitern. Und er leidet an ADHS. Wenn Eltern von ihren Kindern erwarten, dass sie ihnen Sicherheit geben sollen, und es dadurch zu Rollenumkehrungen in der natürlichen Hierarchie kommt, sprechen Familienpsychologen von einer sogenannten Parentifizierung (mehr dazu in Kapitel 2, Parentifizierung (oder auch Parentisierung)). Eine Parentifizierung liegt vor, wenn Kinder nicht zu bewältigende Erwachsenenrollen übernehmen. Wenn Kinder glauben oder spüren, dass sie ihren Eltern Sicherheit, Struktur und Orientierung geben sollen, sind sie emotional überfordert (Graf/Frank 2002). Das Resultat sind Schuldgefühle, ein gestörtes Selbstwertgefühl, Versagensängste, Ohnmachtsgefühle, Wutausbrüche, Gewalt- und Machtfantasien sowie Scham. Das Kind kann kein Kind mehr sein. Levin kam oft grübelnd und missmutig in die Schule, er war häufig wütend. Er suchte und fand Streit mit Mitschülern. Sein Pausenbrot war dürftig, gematschte Tomate und zwei Scheiben Toastbrot in dreckiger Plastikdose, seine Bekleidung unzureichend. Im Winter hatte er dünne Gummistiefel an. In den ersten zwei, drei Schulstunden riss er sich zusammen. Dennoch kam es vor, dass er auch in den ersten Unterrichtstunden nicht ruhig war. Vielleicht hatten er oder seine Mutter morgens das Medikament vergessen. Levin brauchte immer eine Waffe bei sich – einen Stock, einen Schraubenzieher, aus Steckspielzeug gefertigte Waffen, Pistolen oder Gewehre. So bewaffnet galoppierte er oft im Unterricht über Tische und Bänke. Und er riss andere Jungs mit sich. In der Klasse gab es mehrere schwierige Kinder – nicht psychisch krank, aber auffällig.

Levin will alles richtig machen

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Raum für Entwicklung

In Levins Schule gibt es einen sogenannten Psychomotorik-Raum: ein relativ großer Raum, ausgestattet mit farbigen Möbeln, Kletterburg, Boxsack und Hängematte. Ein Raum zum Toben, Versteckspielen, sich gehen lassen. Ich ging mit Levin, sobald er den Unterricht störte, in diesen Raum. Das geschah in den ersten Wochen fast täglich, später besuchten wir den Raum nur noch während der großen Pausen. Anfangs, in Absprache mit dem unterrichtenden Lehrer, gingen Levin und ich allein dorthin. Später durfte Levin selbst bestimmen, welche seiner Mitschüler (maximal drei) ihn begleiten durften, um dort in der Pause zu spielen. Levin und auch andere Problemschüler der Klasse lernten hier, in der Gruppe respektvoll, rücksichtsvoll und konstruktiv miteinander zu spielen, teilweise auch miteinander zu lernen. Die Kinder ermunterten einander und forderten sich gegenseitig in der Einschätzung, was richtiges und was falsches Verhalten ist. Wer sich falsch verhielt, wurde von Levin zunächst nicht mehr für die nächste Pause mit in den Psychomotorik-Raum eingeladen. Doch Levin musste seine Entscheidungen vor den betreffenden Schülern immer begründen. In recht kurzer Zeit akzeptierten die Mitschüler Levins Entscheidungen, denn Levin entschied sich zunehmend fairer. Rituale als Wegweiser zu angemessener Verantwortung

Seine Lehrer erfanden mit mir gemeinsam Anforderungen und Rituale, die Levin leicht erfüllen konnte. Jeden Morgen, als Teil des Begrüßungsrituals in der Klasse, hatte Levin die Verantwortung, sich durch Aufzeigen zu melden und das Datum des Tages zu nennen. Später sollte er dann das Datum mit Wetterprognose an die Tafel schreiben. Levin bekam kleine, wiederkehrende und gut zu bewältigende Klassenaufgaben. Auf diese Weise wurde ihm Verantwortung zuteil, die er tragen konnte. Er lernte, dass er sinnvolle Aufgaben verantwortlich übernehmen kann. In dieser Zeit lernte Levin auch, gewaltfrei zu spielen. Seine Laune besserte sich zusehends. Zunächst war er übermütig, albern, explodierend in seinem Spielverhalten, dann zunehmend kooperativer und freundschaftlicher. 20

Fünf Fälle, fünf Geschichten

Alle Zeichen auf Grün!

Auch in dieser Schulbegleitung führte ich ein Token-System ein (s. Kapitel 6, Belohnungssysteme und Token). Dafür nutzte ich zwei Elemente: Bonbons und Farben. Allerdings gab es nur eine Farbe, nämlich Grün. Die Einführung der klassischen Ampelfarben Rot, Gelb und Grün scheiterte, weil bereits die kleinste Andeutung eines Gelb oder gar Rot Levin in Rage versetzte, denn er erlebte sie als Strafe. Stattdessen gab es also täglich ein oder zwei Mal, manchmal sogar bis zu fünf Mal Grün für angemessenes Arbeits- und Sozialverhalten. Jeden Mittag, bei Schulschluss, bereden und bewerten Levin und ich gemeinsam den Tag. »Wie viel Grün hast du heute?«, frage ich. Er überlegt und sagt: »Dreimal.« Ich zweifele die Anzahl mit gespielter Empörung an. Er diskutiert mit mir, verteidigt seinen Erfolg. Meistens gebe ich in der Diskussion nach. Levin bekommt entsprechend viele (zuckerfreie) Bonbons für seine Anzahl Grün, denn er hat sie sich verdient. Es kam oft vor, dass sich Mitschüler in diese Diskussion einbrachten: »Doch, das war wirklich Grün, denn da hat Levin sich bei Clara entschuldigt.« oder »Nein, Levin, sei ehrlich, das war kein Grün!« Die Mutter berichtete mir, dass Levin ihr zu Hause immer stolz erzählen wollte, wie viel und warum er Grün bekommen hatte – und dass er wieder kein Rot oder Gelb kassiert hatte. Sie verstand dieses Bewertungssystem nur teilweise. Es war ihr nicht klar, warum Levin keine Strafe bekam. Ich versprach der Mutter, ihr täglich eine Whatsapp-Nachricht zu schicken, in der ich ihr mitteilte, wie viel und wofür Levin Grün bekommen hatte: »Liebe Frau L.: Levin hat heute dreimal Grün. Er hat im Sitzkreis aufmerksam zugehört. Er hat drei Rechenaufgaben gerechnet. Er hat sich nach einem Streit mit C. entschuldigt.« Im Laufe dieser Schulbegleitung habe ich wohl an die 100 Whatsapp-Nachrichten versandt. Auf meine Bitte hin – und Levin verlangte danach – las sie Levin (fast) jeden Abend meine Whatsapp-Nachrichten vor. Die Mutter erfuhr so täglich, dass Levin ein toller Junge ist (siehe auch Datenschutz beachten Kapitel 6). Bilanz: Levin ist heute deutlich entspannter. Gewaltvorfälle kommen zu Hause und im Klassensystem sehr viel seltener vor. Er ist selbstsicherer geworden und hat das Gefühl, allein klarzukommen, schreibt der Klassenlehrer. Bald geht er mit seiner Mutter und seiLevin will alles richtig machen

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ner kleinen Schwester in eine mehrwöchige stationäre therapeutische Familien-Kur. Hier findet sich vielleicht ein Weg, dass auch die Mutter aus ihrer emotionalen Sackgasse herauskommt (s. auch in Kapitel 4, Der Umgang mit den Eltern).

Samir ist der King Ich lernte Samir zu Beginn seines dritten Grundschuljahres kennen. Der Antrag auf Schulbegleitung war vom Klassenlehrer gestellt worden, mit folgender Begründung: »Samir kann sich nicht an Regeln im Unterricht und im Ganztagshort halten. Er arbeitet nach dem Lustprinzip, hört nicht auf Anweisungen und akzeptiert keine Konsequenzen. Er übernimmt keine Verantwortung für sein Verhalten. Er reagiert impulsiv und ungesteuert. Mit ihm ist alltäglicher Unterricht nicht möglich. Gegenüber seinen Schulkameraden, seinen Erziehern und Lehrern ist er gewaltbereit. Die Kinder in der Klasse haben Angst vor ihm. Es mussten bereits mehrere Gewaltmeldungen geschrieben werden. Maßnahmen haben bisher keine Verbesserungen erzielt. Mit den Eltern des Kindes ist die Schule regelmäßig in Kontakt.« Samir stand auf dem Pausenhof, acht Jahre alt, einige Jungen um ihn herum. Ich gehe näher heran. Samir zeigt seinen Freunden gerade ein Video auf seinem Handy. Handys sind in der Schule verboten. Samir posiert regelrecht, seine Körpersprache signalisiert: Ich bin der King. Keiner kann mir was. »Ich hab’ kein Handy«, grinst er mich an. So lernen wir uns kennen. »Es steckt in deiner Hosentasche«, sage ich. »Das ist kein Handy«, grinst er. »Lass es da drin«, sage ich. Samir ist das Kind schwarzafrikanischer Eltern. Ein hübscher Junge, athletisch, groß für sein Alter. Sein Vater lebt seit 20 Jahren in Deutschland und arbeitet nachts als Auslieferungsfahrer. Samirs Mutter kam nach der Hochzeit vor acht Jahren aus Togo nach Deutschland, schwanger mit den Zwillingen Samir und Samira. Heute arbeitet die Mutter in der Küche eines Altenheims, ihr Deutsch wird immer besser. Samir zeigt mir nun doch sein Handy. Er will vor seinen Kumpels angeben. »Ist das hier nicht verboten?«, frage ich, Unwissenheit 22

Fünf Fälle, fünf Geschichten

vortäuschend. Samir ist nicht dumm und erkennt meine Zweideutigkeit. »Was willst du denn machen?«, fragt er provozierend, mehr in Richtung seiner Kumpels als in meine. Samir ist der Boss in dieser Gang. Die meisten sind aus seiner Klasse. Sein sozialer Rang und sein Image in dieser Gruppe sind ihm sehr wichtig. Es liegt ihm viel daran, seinen hohen Status zu erhalten und auszubauen. Seine Schwester Samira kommt vorbei. »Eh, hau ab, du mit deinem fetten Arsch«, sagt Samir. »Schau mal, wie du aussiehst!« Samir erhöht sich gerne auf Kosten seiner Schwester. Als Teil der Gang zu Akzeptanz finden

Ich beschließe, mich als Mitglied dieser Gang einzubringen. Das geht am besten durch die Akzeptanz seiner Jünger in der Klasse. Jungen von sieben und acht Jahren suchen nach wahren Helden, nach Persönlichkeiten, die Autorität ausstrahlen. In nur wenigen Wochen ist es mir gelungen, für die Kinder dieser Gang eine authentische und respektvolle Führungsrolle in ihrer Gruppe einzunehmen. Die wichtigste Führungsperson für Samir ist sein Vater. Es war klar: Wenn der Vater mich respektiert, wird es leichter für mich. In westafrikanischen Kulturen sind meist die Mütter für die Erziehung der Kinder verantwortlich. Das Familiensystem hat dort matriarchalische Züge. Demnach war es auch für Samirs Eltern folgerichtig, dass bei Streitkonflikten mit Lehrern die Mutter zuständig ist und sich engagiert. Das pädagogische Gespräch zwischen dem Klassenlehrer und der Mutter führte zu Meinungsverschiedenheiten. Es herrschte Uneinigkeit über die guten Eigenschaften des Jungen und sein Verhalten. Die Mutter drohte dem Lehrer Schläge an und setzte sie gleich in die Tat um. Mit anderen Worten: Die Kommunikation mit den Eltern lag im Argen. Die Mutter erhielt Hausverbot, nun nahm der Vater die Rolle des Patriarchen ein. Der Vater akzeptierte mich. Er wies Samir an, »mir zu gehorchen, sonst …« Dadurch hatte Samir mehr Respekt vor mir, besser gesagt, vor der Möglichkeit, dass ich Kontakt mit dem strafenden Vater aufnehmen könnte (was ich in diesem Sinne aber nie gemacht habe).

Samir ist der King

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Ein Leben zwischen zwei Polen

Samir lebt in seinem Zuhause-System zwischen zwei sich abstoßenden Werte-Polen. Die Mutter ist Christin, der Vater ist Muslim, wenn auch nicht sehr religiös. Aber einige muslimische Zwangsregeln müssen eingehalten werden. Der Vater hat patriarchalische Führungseinstellungen. Samir hat großen Respekt, oft auch Angst vor seinem Vater. Ich bin mir nicht sicher, ob Samirs Klagen über Bestrafungen wie Schläge, auch mit einem Gürtel, oder stundenlang vorm ausgeschalteten Fernseher knien(!) zu müssen, Erfindungen oder Übertreibungen waren, um mich gegen den Vater aufzubringen. Denn oft habe ich Samir mit seinem Vater in gutem Miteinander erlebt, freundlich, lachend und vertraut gesehen. (Auf die Frage, wann Kindeswohlgefährdung vorliegt und wie damit umzugehen ist, s. Kapitel 6, Kindeswohlgefährdung). Auffällig war, dass Samir bei angedrohten Konsequenzen oder lautstarken Verweisen des Lehrers schnell wütend und aggressiv wurde. Wenn er dann nicht wusste, wohin er mit seiner Aggression sollte, versteckte er sich weinend unter dem Lehrerpult oder suchte hinter dem Schrank Schutz. Die Gang als Subsystem

Im Laufe unserer gemeinsamen Zeit veränderte Samir sein Verhalten. Seine Gang und ich bildeten eine Clique, ein Subsystem, eine stabile Gruppe in der Klasse. Oft waren wir zusammen auf dem Pausenhof, beim Sport, nachmittags beim Spielen und Hausarbeitslernen im Hort. In dieser Gruppe lebten wir neue Werte: Statt das Recht des Stärkeren walten zu lassen, statt Großtuerei und Faustrecht übten wir uns in Zusammenstehen, Solidarität und Fairness. Wir begannen, auf individuelle Fähigkeiten zu schauen. Auch hier griff ein TokenSystem (mehr dazu in Kapitel 6, Belohnungssysteme und Token). Samir profilierte sich in der Clique gern auf Kosten seiner Schwester, die er vor anderen erniedrigte, beleidigte und wegstieß. Gerade deshalb suchte ich demonstrativen Kontakt zu ihr. Ich redete mit ihr, lobte sie, brachte nicht nur Samir, sondern auch Samira kleine Aufmerksamkeiten mit. Ich regte an, dass andere Mitschüler sie ins Spiel einschlossen. Je mehr Samira von den Mitschülern beachtet und respektiert wurde, umso weniger herablassend und beleidigend war Samir zu ihr. 24

Fünf Fälle, fünf Geschichten

Samirs Verhalten verbesserte sich, die Beschwerden und Gewaltmeldungen der Schule wurden weniger, das freute auch den Vater. Der Vater vertraute mir und hielt sich zurück. Doch es war sein Wunsch, oft zu telefonieren – anfangs wöchentlich, später in größeren Abständen. Je größer die Abstände wurden, umso besser verhielt sich Samir. Sein Verhalten wurde immer kooperativer. Er fing auch an, Interesse für den Lernstoff zu entwickeln. Denn seine Kumpels lernten nachmittags gerne in der Gruppe. Doch dann erlitt das Vertrauensniveau zwischen Samirs Vater und mir einen Bruch durch folgendes Ereignis: Es war nach den Ferien. Die achtjährige Samira kam mit einem islamisch gebundenen Kopftuch in die Schule. »Oh, Samira«, sprach ich sie an, »warum trägst du denn ein Kopftuch?« Samira sagte stolz: »Ich bin eine Muslimi.« »Was ist denn eine Muslimi?«, fragte ich. »Ich bin kein Schweinefleischfresser«, antwortete sie schnippisch selbstbewusst. Ich ließ die Sache an diesem Tag auf sich beruhen. Am nächsten Tag trug sie das Tuch wieder, perfekt gebunden. »Hey Samira, ich habe im Internet nachgeschaut. Das heißt nicht Muslimi, sondern Muslima. Du bist also eine Muslima.« Sie antwortete: »Ich fresse kein Schweinefleisch!« Am nächsten Tag sprach ich sie wieder an: »Hey Samira, ich habe nochmal im Internet nachgeschaut. Weißt du, was das auch bedeutet, wenn du eine Muslima bist? Du darfst kein Schweinefleisch essen. Das ist richtig. Ich habe aber auch gelesen, dass Muslimas sich unter ihrem Bruder einordnen müssen. Dein Bruder hat dann, wenn du Muslima bist, mehr zu sagen als du.« Samira machte ein nachdenkliches Gesicht. Am nächsten Tag und allen, die noch folgten, habe ich sie nicht mehr mit einem Kopftuch gesehen. Doch damit brach auch der Kontakt zum Vater ab. Er war für mich nicht mehr erreichbar. Unser Vertrauensverhältnis hatte ich durch mein kritisches Hinterfragen zerstört. Bilanz: Heute geht Samir aufs Gymnasium. Gegen den Rat der Lehrerschaft setzte der Vater diesen Schultyp für Samir durch. Ob Samir durchhält, weiß ich nicht. Es kann aber klappen, sagt sein neuer Klassenlehrer. Denn sein Verhalten hatte sich im Laufe der Schulbegleitung deutlich gebessert. Er entwickelte sich immer mehr Samir ist der King

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zu einem freundlichen, netten und teamfähigen Schüler. Aber wahrscheinlich hat er immer noch ein verbotenes Handy bei sich.

Liam, der wütende Sammler Liam, 9 Jahre alt, geht auf alles und jeden los, wenn seine Wut zu groß wird: Er wirft Stühle und Tische um, streitet, schimpft, beleidigt, spuckt, beißt und kneift. Das Kneifen ist für Liam gleichzeitig Waffe und Strafinstrument. Als eine Erzieherin sich weigert, Liam in ihrer Nähe zu haben, kneift er sie in die Hand. Er nutzt seine Finger und Nägel als Zange und lässt nicht los, bis die Hand der Erzieherin blutet. Liam hat auch immer einen Stock bei sich. Obwohl Stöcke auf dem Schulhof verboten sind, findet Liam immer einen Stock. Nur an Karneval führt er keinen Stock bei sich. Dann geht Liam nämlich als Sheriff zur Schule. Mit Revolver. Revolver sind in der Schule auch an Karneval verboten. »Wenn er kein richtiger Sheriff sein darf, wird er dann wieder wütend?«, fragt mich seine Lehrerin. Wir versuchen nicht, es herauszufinden. Liam bekommt eine Extrawurst. Heute, als Sheriff, darf er eine Waffe haben. Liam sammelt nicht nur Stöcker gern. Im Juni gibt es die Marienkäfer in der Hecke. Es dauert lange, bis er ein ganzes Glas mit ihnen gefüllt hat. Doch Marienkäfer zu sammeln, ist ebenfalls verboten. »Das tut den kleinen Käfern doch weh«, begründet die Lehrerin ihr Verbot, »in so einem kleinen Glas gefangen sein! Stell dir vor, du wärest so gefangen!« Liam versteht nicht, was daran schlimm sein soll. Das Schulgelände ist gut ausgestattet. Es gibt einen großen Fußballplatz mit Naturrasen. Darauf wächst auch Klee. Mancher Klee ist vierblättrig – und ein begehrtes Sammelobjekt von Liam. Er sammelt mitten auf dem Fußballplatz vierblättrige Kleeblätter. Zwei hat er schon. Doch die anderen Kinder wollen Fußballspielen. Ein Schüler geht zu Liam, nimmt ihn hoch und setzt ihn an den Spielfeldrand. Dort bleibt er noch lange sitzen und studiert seine Ernte. Als erfahrener Schulbegleiter weiß ich: Es wird ein paar Monate an der Seite von Liam dauern, bis eine vertrauensvolle Beziehung entsteht. Es braucht ein paar durchgestandene Krisensituationen, gemeinsames Spielen, geteilte Pausenbrote und erlebte Verlässlich26

Fünf Fälle, fünf Geschichten

keit. Es hilft, in schwierigen Situationen nicht zu schimpfen, sondern dran zu bleiben und Wutanfälle nicht persönlich oder übel zu nehmen. Derweil beschäftigen mich folgende Fragen: Ist Liam im autistischen Spektrum (vgl. Kapitel 2, Autismus-Spektrum-Störungen)? Seine fehlende Kontaktfähigkeit deutet darauf hin. Gibt es Pro­bleme im Elternhaus? Die alleinerziehende Mutter macht eigentlich einen guten Eindruck. Sie ist aufmerksam, nimmt Gesprächstermine wahr. Für die Klassenlehrerin ist hingegen längst klar: Sie will Liam nicht länger in der Klasse haben. Mit ihm sei Unterrichten nicht möglich. Ich hoffe darauf, dass während der kommenden Monate, in denen eine Schulbegleitung Liams Vertrauen erwerben kann, vielleicht ein Kinderpsychiater eine klare Dia­gnose stellt, mit der sich ein passender pädagogischer Ansatz konzipieren lässt. Zwischen-Bilanz: Die Mutter hat leider nicht die Geduld. Sie will einen Schulwechsel. Liam kommt auf eine christliche Privatschule. Und ich bekomme ein anderes Kind.

Murat möchte gerne dazugehören Murat beginnt nicht wie seine Mitschüler mit der Bearbeitung seiner Matheaufgaben. Auch nach wiederholten Aufforderungen der Lehrerin hat er sein Heft immer noch nicht aufgeschlagen. Er spielt lieber mit seinen Stiften. Dann zeichnet er, steht danach auf, läuft durch die Klasse und zeigt allen Schülern, was er gemalt hat. Bekommt er zu wenig Aufmerksamkeit, schneidet er Grimassen und imitiert englische Rap-Songs, mitten im Unterricht. Immer die gleichen. Im Vorbeigehen fasst er eine Mitschülerin unangemessen an. Murat nimmt die Situation in der Klasse und die Aufgaben, die er bewältigen soll, anders wahr als seine Mitschüler. Sein Verhalten erscheint den anderen Mitschülern schwer nachvollziehbar, auch wenn sie es akzeptieren. Murat aufzuklären hilft nicht, denn Murat kann die Konsequenzen seines Tuns nicht einschätzen. Murat kann Wichtiges nicht von Unwichtigem unterscheiden. Was für die Lehrerin gerade wichtig ist, ist jetzt für ihn völlig unwichtig. Er hat andere Maßstäbe. Appelle an seine Einsicht wirMurat möchte gerne dazugehören

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ken nicht. Auch Bedrängen oder die Forderung, Zusammenhänge zu verstehen, helfen nicht. Was Murat hingegen hilft, ist eine ruhige Ansprache, in Ruhe vorgebrachte Anordnungen. Dann sitzt Murat wieder still am Platz und zeichnet. Murat zeichnet mit gutem Strich und großer Hingabe immer die gleichen Figuren: Bendy und Caphead, Figuren aus einem Videospiel. Hat er der Klasse mitten im Unterricht sein Können stolz und demonstrativ gezeigt, verliert er das Interesse an seinen Werken. Ob es darum geht, ein Buch anzuschauen, Lesen zu üben, Matheaufgaben zu rechnen oder Wörter zu schreiben – Murat lässt sich nur auf Selbstgewähltes ein. Schulische Arbeitsaufgaben gehören meist nicht dazu. Wenn Murat zu sehr stört, gehen wir in den Differenzierungsraum. Dort gibt es eine Tafel, Kinderbücher zum Lesen, Materialien zum Mathelernen. Kleine Schritte, kleinteilige Aufgaben und Anforderungen kann Murat bewältigen – aber nur dann, wenn er sich selbst dafür entschieden hat. Durch Wiederholungen und häufiges Loben meistert der Neunjährige allerdings Erstaunliches: So kann er Seiten eines Kinderbuches nahezu auswendig lesen, nachdem ich sie ihm vorgelesen habe! »Jetzt bist du mit Vorlesen dran!«, fordere ich ihn auf. Er tut so, als lese er vor, dabei kann er die erste Seite nach einmaligem Vorlesen auswendig aufsagen. In Mathe rechnet er leichte Additionsaufgaben konzentriert im Kopf, wenn sie über 100, besser noch über 1000 sind. Mit kleinen Zahlen mag er nicht rechnen. Murat kann gut Auswendiglernen. Das ist eine Ressource (s. Kapitel 5, Baustein: Resilienz und Ressourcen). »Dann bin ich Gott!« Wir bereiten uns gemeinsam auf etwas Großes vor: Murat will auf den Lesethron. »Vor der ganzen Klasse auf dem Lesethron was vorlesen! Das ist das Größte für mich. Dann bin ich Gott!«, hat er der Klassenlehrerin gesagt. Wir üben gemeinsam das ganze Kinderbuch. Dann liest er der Klasse vor. Manches liest er wirklich, doch das meiste kann er auswendig. Das Einmaleins muss ein Schüler irgendwann auswendig können. Auch darauf bereiten wir uns gemeinsam vor: »In der Klasse allen was vorrechnen. Das ganze Einmaleins. Dann bin ich Gott!« Murat möchte dazugehören. Er möchte anerkannt sein. 28

Fünf Fälle, fünf Geschichten

Beim Lernen im Differenzierungsraum ist Murat die Betonung des gemeinsamen Lernens und Ausführens wichtig. Um eine emotionale Beziehung zu Murat aufzubauen, brauchte es nur wenige Schultage. Murat ist dankbar, wenn er Zuwendung bekommt. Die Beziehung zu mir ist jedoch nicht die Basis seiner Motivation zu lernen. Lernmotivierend ist vielmehr sein verletzter Stolz. »Ich bin nicht dumm«, äußert er vor fast jeder Lernaufgabe. Und dann will er aus Scham verdecken, dass er etwas nicht kann: »Ist doch zu einfach, das mach’ ich nicht!« oder »Ich brauche nicht lesen üben, ich kann lesen!« Wenn ich Murat die Rolle des Lernenden vorspiele, der durch Murat etwas lernen will, dann setzt er mich herab: »Mann, bist du dumm! Ist doch einfach!« oder »Mann, wie doof bist du eigentlich?« Dabei versucht er, mir Klapse auf den Hinterkopf zu geben. Der komische Typ und seine »Show«

Murat hat ein großes Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und Zugehörigkeit im Klassensystem. Er hat eine andere, komische Art, um Kontakt aufzunehmen, sagen die Kinder, die von seinen Mitschülern oft nicht verstanden wird. Murat hat den Ruf eines komischen Typen in der Klasse, im Hort und auf dem Pausenhof. Alle Schüler kennen ihn. Erfolg versprechende Methoden in der Kontaktaufnahme und im Umgang mit Mitschülern sind für Murat nicht schlüssig. Seine Mitschüler in der Klasse haben ein mehr oder weniger realistisches Bild von Murat – was er wirklich kann und was nicht, was ihm im Wege steht, wo und wie sie ihm helfen können. Manchmal aber, z. B. zu Pausenbeginn, vergessen die Mitschüler, Murat zu fragen, ob er mitspielen möchte. Dann wendet sich Murat anderen Schülergruppen auf dem Pausenhof zu. Wird er nicht angenommen, weicht er eher zurück, als dass er sich wehrt. Er ist dann traurig und frustriert, doch er wird nicht mehr gewalttätig. Er wendet sich dann oft jüngeren Schülern zu, Erstklässlern, auch Vorschülern. Um Kontakt aufzunehmen, setzt Murat auf seine Show (so nannte er es selbst): Tanz-Imitationen von Computerspiel-Figuren (Fortnite Stepping) haben die zuvor eingesetzten obszönen, sexualisierten Gesten und Rap-Songs abgelöst. Die Akzeptanz-Aussichten seiner Murat möchte gerne dazugehören

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Tanzshow unterstützt er jetzt durch Grimassen und unbeholfene Tanzbewegungen. Murat leidet an einem geringen Selbstwertgefühl. Zwar bemerkt er sein außergewöhnliches Verhalten, kann es sich aber nicht erklären. Die Eltern sind angesichts des komischen Verhaltens ihres Kindes unsicher und überfordert. Meine Versuche, Kontakt mit den Eltern aufzunehmen, bleiben bislang ohne Erfolg. Die Eltern, meist der Vater, zeigen bei den seltenen, zufälligen Begegnungen in der Schule kein Interesse, sondern flüchten schnell vom Schulgelände. In der Schule bin ich in den vier Monaten seiner Schulbegleitung die wichtigste Bezugsperson an Murats Seite. Murat entwickelt Vertrauen zu mir. Meinem anschaulichen Vorleben folgt Murat immer mehr: Ȥ Ich bin immer nett zu Mitschülern. Ȥ Ich frage freundlich auf dem Pausenhof oder beim Unterrichtsstundenwechsel. Ȥ Ich beleidige nicht. Ȥ Ich begrapsche niemanden. Ich bin zurückhaltend und freundlich zu Mädchen und fasse sie nicht an. Ȥ Wenn ich etwas möchte, frage ich danach und nehme es mir nicht einfach. Zwischen-Bilanz: Murat wird für vier Wochen zur Beobachtung und Diagnose stationär in der Kinderpsychiatrie aufgenommen. Er ist dort zur Aufnahme angenommen. Noch zwei Kinder sind vor ihm dran. Was nach dem Aufenthalt und der Diagnose kommt, welcher Schultyp für ihn infrage kommt, und wie die Eltern damit umgehen, wird sich zeigen.

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Fünf Fälle, fünf Geschichten

Kapitel 2: Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren Unter Mitarbeit von Milena Schur

Problemkinder können sich nicht an Regeln halten, sie haben ihre Gefühle nicht im Griff, sie streiten viel, sind aggressiv. Sie sind unsicher, finden keine Freunde, haben Angst und weinen oft. Sie lernen nicht. Sie stören massiv den Unterricht, ihr Verhalten macht Unterricht unmöglich. Die Lehrerin weiß nicht weiter, die Schulbegleiterin kann es hoffentlich richten. In ihrem Arbeitsalltag ist die Schulbegleiterin mit einer Vielzahl von auffälligen Verhaltensweisen konfrontiert, denen es zu begegnen gilt. Oft sind diese Verhaltensweisen Symptome eines tieferliegenden Problems, einer seelischen Erkrankung oder psychischen Störung. Die Ursache für die Auffälligkeiten des Kindes zu erkennen und zu diagnostizieren, bleibt ausgebildeten Spezialisten überlassen: Kinderärztinnen, Psychologinnen, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen, Psychiaterinnen. Trotzdem sollte die Schulbegleiterin die für ihre Arbeit relevantesten Störungsbilder kennen. Das hilft, das Kind zu verstehen und erleichtert so das gemeinsame Arbeiten. Die Entwicklung von Kindern verläuft individuell sehr verschieden. Genau wie der eine früher und der andere später Laufen lernt, entwickelt sich auch das Verhalten und Erleben von Kindern unterschiedlich. Dennoch gibt es Entwicklungsschritte und damit verbundene Verhaltensweisen, die »altersangemessen« oder »normal« sind. Die Unterscheidung zwischen normalem und abweichendem Verhalten und Erleben ist allerdings nicht immer einfach zu treffen, die Übergänge sind fließend. Grundsätzlich kann man sich an folgenden Kriterien orientieren: Ist das Verhalten und/oder Erleben des Kindes dem Alter angemessen? Besteht das abweichende Verhalten und/oder Erleben dauerhaft? Leiden das betroffene Kind oder sein Umfeld darunter? Kommt es zu Beeinträchtigungen in verschiedenen Lebensbereichen, z. B. in der Schule und in der Familie? 31

Ist das Verhalten oder Erleben unter Berücksichtigung des Alters auffällig oder abweichend und/oder führt es zu einer Beeinträchtigung, spricht man von einer psychischen Störung (Lohaus/Vierhaus 2013). Auffälliges Verhalten bei Kindern kann sich auf sehr unterschiedliche Art und Weise äußern, dieselbe Ursache kann bei zwei Kindern ganz unterschiedliche Symptome hervorbringen. Häufig gibt es außerdem mehr als nur die eine Ursache, meist kommen mehrere Störungen und belastende Faktoren zusammen, die eng miteinander verwoben und kaum zu trennen sind. Sie verstärken, überlagern und verfestigen sich in individuellen Verhaltensweisen.

ADHS/ADS Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist inzwischen insbesondere im Schulalltag eine bekannte psychische Störung, die Zahl der Diagnosen ist in den letzten 20 Jahren rasant gestiegen (Schubert/Köster/Lehmkuhl 2010). Etwa 3–5 % der Schulkinder zeigen Symptome dieses Störungsbildes, wobei Jungen deutlich häufiger betroffen sind als Mädchen (Köhler 2014). ADHS gehört zu den sogenannten hyperkinetischen Störungen, die durch drei Hauptsymptome gekennzeichnet sind: Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung. Sind die Hyperaktivität und die Impulsivität gar nicht oder nur gering ausgeprägt, spricht man von einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS). Als Ursache für diese Störungen werden sowohl biologische als auch psychosoziale Faktoren angenommen, wobei den biologischen Faktoren die größere Bedeutung zukommt. Durch ungünstige Bedingungen in der Schule (z. B. große und laute Klassen) oder der Familie kann sich die biologisch vorhandene Symptomatik weiter verschlimmern (Lohaus/ Vierhaus 2013). Wie äußert sich die Störung ADHS/ADS? Die Hyperaktivität äußert sich durch exzessive Ruhelosigkeit, besonders in Situationen, die Ruhe erfordern. In der Schule bedeutet das, dass die betroffenen Kinder auf ihrem Stuhl herumzappeln (»Zappelphilipp«) plötzlich aufstehen und durch die Klasse laufen, ununterbrochen reden oder lärmen. Das impulsive Verhalten zeigt 32

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

sich durch vorschnelles Handeln, anderen ins Wort fallen oder nicht abwarten können. In der Schule fällt es den Kindern dann schwer, sich zu melden oder leise zu sein, bis sie drangenommen werden. Die Aufmerksamkeitsstörung zeigt sich darin, dass Aufgaben vorzeitig abgebrochen und Handlungen nicht beendet werden. Die Kinder scheinen das Interesse an einer Aufgabe zu verlieren, werden schnell abgelenkt und wechseln häufig zwischen verschiedenen Tätigkeiten. Es fällt ihnen schwer, sich längerfristig auf eine Aufgabe zu konzen­ trieren, sie machen viele Flüchtigkeitsfehler und können ihre Handlungen nur schwer planen oder organisieren (Dilling/Mombour/ Schmidt 2011; Lohaus/Vierhaus 2013). Zusätzlich zeigen die betroffenen Kinder häufig weitere Symptome: In sozialen Beziehungen sind sie oft distanzlos und kommen anderen Personen z. B. körperlich sehr nahe, in gefährlichen Situationen sind sie häufig unbekümmert bis unvorsichtig, und aus der Impulsivität heraus missachten sie die sozialen Regeln, mischen sich in Konflikte anderer ein oder unterbrechen deren Aktivitäten (Dilling et al. 2011). Die Verhaltensprobleme bei ADHS/ADS-Kindern treten meist schon vor dem sechsten Lebensjahr auf, eine Diagnose wird in der Regel aber erst im Schulalter gestellt, da das Kind dann deutlicher auffällt. Medikamentöse Behandlung bei ADHS/ADS

Wie schon beschrieben, spielen biologische Faktoren eine große Rolle bei der Entstehung von ADHS und ADS. Durch eine Störung des Neurotransmitterstoffwechsels im Gehirn kommt es zu einer Störung der Selbstregulation, die die beschriebenen Symptome (Hyperaktivität, Impulsivität, Aufmerksamkeitsstörung) hervorruft. Mit Hilfe von Medikamenten kann in den Neurotransmitterhaushalt des Gehirns eingegriffen und so die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit verbessert werden (Köhler 2014). So sollen die betroffenen Kinder ihr Verhalten besser kontrollieren und organisieren können. Der gängigste und am längsten erprobte Wirkstoff dafür ist Me­ thylphenidat, bekannt z. B. unter den Handelsnamen Ritalin , Medikinet oder Concerta. Die Medikamente sind für Kinder ab dem 6. Lebensjahr zugelassen und können nicht nur von Kinder- und

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ADHS/ADS

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Jugendpsychiatern verschrieben werden, sondern auch von Kinderärzten. Da sie strukturell den Amphetaminen ähneln und Missbrauchsgefahr besteht, unterliegen sie dem Betäubungsmittelgesetz. Die Behandlung wird in der Regel mit einer geringen Dosis begonnen, die dann nach Bedarf schrittweise erhöht wird. Die Höchstdosis liegt zwischen 50 und 60 mg täglich (Remschmidt/Heiser 2004). Man unterscheidet zwischen kurz- und langwirksamen Präparaten. Die kurzwirksamen Präparate wirken ab ca. 30 Minuten nach Einnahme für etwa drei bis vier Stunden. Das kann sinnvoll sein, wenn die Probleme hauptsächlich während der Schulzeit bestehen und die kürzere Wirkzeit deshalb ausreicht. Die langwirksamen Präparate (Retard-Präparate) haben mit acht bis zwölf Stunden eine deutlich längere Wirkzeit. Nebenwirkungen sind bei beiden Präparaten u. a. Schlafstörungen, Appetitminderung, Bauch- und Kopfschmerzen, Nervosität und seltener auch Wachstumsverzögerungen (Köhler 2014). Einige Kritiker halten ADHS/ADS für eine Modekrankheit, für eine Erfindung (oder Marketing-Lüge) der Pharmaindustrie. Andere Kritiker meinen, Medikamente würden zu häufig und in zu hohen Dosen verabreicht. Aufgrund starker Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit, Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Depressivität und gesteigerter Streitlust stehen diese Medikamente als Psychopharmaka in heftiger Kritik. Wieder andere Kritiker halten hyperaktive Kinder für besonders talentiert und kreativ. Sie seien eine Bereicherung in der sozialen Kommunikation (Pro Psychotherapie e. V. o. J.). Interviews mit Jugendlichen, die medikamentös behandelt wurden, zeigen Positives wie Negatives. Einige Schüler sagen, das Medikament hätte ihnen geholfen, sich besser und sicherer in der Schule zu fühlen. Andere beklagen, sie hätten die Schulzeit wie im Nebel verbracht.

Affektive Dysregulation Für die meisten Kinder ist es nur ein kleines Problem, morgens nicht aufstehen zu wollen. Ein wenig Maulen, ein wenig getröstet werden, ein nachdrücklicher Ton der Mutter, dann geht es in den Schulalltag. 34

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

Aber einige Kinder schaffen diesen Übergang nicht: Das Aufstehen, Zähne putzen, Frühstücken, der Schulweg, Schuhe ausziehen, Jacke aufhängen, an den Platz gehen, Anweisungen entgegennehmen – all das überfordert sie. Der Wechsel von einer Situation in die andere bringt sie aus dem Konzept. Sie werden maßlos wütend. Dann zerstören sie Schulsachen, stoβen Stühle und Bänke um, werfen den Ranzen durch die Klasse. Nicht selten greifen sie, wenn sie Wutanfälle haben, Mitschülerinnen und auch Lehrerinnen an. Hemmungen gibt es dann nicht mehr: Tränen, Schreien, Beleidigen, Kneifen, Beißen und Festklammern sind die Folge (Bundesministerium für Bildung und Forschung o. J.). Es kann sogar Blut fließen. Diese Kinder leiden an einem psychologischen Phänomen, das Forscher »Affektive Dysregulation«4 nennen (Löll 2013). Die Ursache für diese Wutanfälle ist medizinisch noch nicht geklärt. Es kommt in den besten Familien vor. Und es kommt vereinzelt vor. Geschwister zeigen dieses Verhalten nicht. Die Psychologen gehen davon aus, dass nicht äußere Umstände diese Wutanfälle verursachen, sondern dass dieses Verhalten eine Regulationsstörung ist, die im Gehirn des Kindes verankert ist. Betroffene Kinder können diese Störung nicht selbst steuern. Das Kind sagt dann auch, nachdem es sich beruhigt hat: »Dann bin ich so wütend, ich kann da nichts gegen machen.« Zweifelsohne gibt es Kinder – Wissenschaftler (Hucklen­broich 2012) gehen von 1 bis 2 % aus –, die regelmäßig, mehrmals die Woche, durch Wutausbrüche auffallen. Krankhafte Wutausbrüche oder überbordendes schwieriges Temperament? Psychiater in Deutschland diagnostizieren oft bei Kindern, die »möglicherweise« unter affektiver Dysregulation leiden, ADHS. Eine Diagnose, die vielleicht nicht ins Schwarze trifft (Hucklenbroich 2012).

4 Anmerkung: Kennzeichen einer affektiven Dysregulation sind heftige Gefühlsausbrüche. Einige Psychiater bezweifeln, dass diese Gefühlsausbrüche Kennzeichen einer psychischen Krankheit oder biologisch verursacht sind, und fragen, ob nicht eine neue Diagnose von der Amerikanischen Psychi­ atrischen Vereinigung (American Psychatric Association, APA) erfunden wurde, um Medikamente an den Mann (das Kind) zu bringen (Löll 2013: In: Die Welt, 01.01.2013: »Wenn Gesunde als gestört abgestempelt werden«). Affektive Dysregulation

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Autismus-Spektrum-Störungen Das eine autistische Kind gibt es nicht. Autismus hat viele Gesichter und kann sich ganz unterschiedlich zeigen. Autistische Störungen zählen zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Sie beginnen in der frühen Kindheit und sind gekennzeichnet durch eine Verzögerung und Abweichung in der Entwicklung. Zentral sind bei autistischen Störungen drei Merkmale: eine Beeinträchtigung in der sozialen Interaktion, Schwierigkeiten in der Kommunikation und ein eingeschränktes, oft stereotypes, sich wiederholendes Repertoire an Interessen und Aktivitäten. Da die verschiedenen autistischen Störungen nicht klar voneinander getrennt werden können, sondern eher auf einer Skala zu betrachten sind, spricht man von Autismus-Spektrum-Störungen. Dazu zählen der frühkindliche Autismus, der atypische Autismus und das Asperger-Syndrom (Remschmidt/Kamp-Becker 2007; Lohaus/Vierhaus 2013). Je nach Störung und Ausprägung zeigen die Betroffenen ganz unterschiedliche Symptome. Bevor auf den Asperger-Autismus genauer eingegangen wird, werden der frühkindliche und der atypische Autismus kurz beschrieben. Der frühkindliche Autismus tritt noch vor dem dritten Lebensjahr auf und die Betroffenen sind zusätzlich zu den Einschränkungen in der sozialen Interaktion und der Kommunikation sowie den stereotypen Verhaltensweisen oft sprachentwicklungsverzögert und kognitiv beeinträchtigt. Sie nehmen kaum oder gar keinen verbalen oder nonverbalen Kontakt zu anderen Menschen auf und sprechen meist gar nicht oder nur sehr eingeschränkt. Beim atypischen Autismus sind die zentralen Merkmale (Beeinträchtigung in der Interaktion, Schwierigkeiten in der Kommunikation und stereotypes, sich wiederholendes Verhalten) nicht vollständig ausgeprägt. Betroffene sind dann beispielsweise in ihrer Interaktion beeinträchtigt und haben Kommunikationsschwierigkeiten, neigen aber nicht zu stereotypen Aktivitäten oder Interessen. Die häufigste Form des Autismus: das Asperger-Syndrom

In ihrem Arbeitsalltag wird die Schulbegleiterin hauptsächlich mit Asperger-Autisten zu tun haben. Diese haben im Vergleich zu den 36

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

frühkindlichen Autisten keine Sprachentwicklungsverzögerung und sind in ihrer intellektuellen Entwicklung nicht verzögert oder eingeschränkt, weshalb sie meist eine Regelschule besuchen. Die schon beschriebenen drei Hauptmerkmale können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und sich auf verschiedene Art bemerkbar machen. Die Beeinträchtigungen in der Interaktion machen sich einerseits durch das nonverbale Verhalten bemerkbar, beispielweise sehr wenig Gestik und Mimik, wenig Blickkontakt, andererseits durch die Unfähigkeit Beziehungen zu anderen aufzubauen. Kinder mit Asperger-Syndrom verstehen die ungeschriebenen Regeln des sozialen Miteinanders nicht und können sich dementsprechend nicht danach richten. Sie sind nicht in der Lage, die Gefühle anderer Personen zu erfassen, z. B. am Gesichtsausdruck zu erkennen, wie es einer Person geht, und sich emotional auf das Gegenüber einzustellen. Der Wunsch nach Rückzug steht meist nicht im Vordergrund, stattdessen kommt es zu vielen unpassenden oder unangemessenen Kontaktversuchen. Die Betroffenen sprechen viel und ausschweifend über ihre Interessen, achten dabei aber nicht auf die Reaktionen des Gegenübers und darauf, ob ihr Verhalten in der Situation angemessen ist (Remschmidt/Kamp-Becker 2007; Lohaus/Vierhaus 2013). Die Schwierigkeiten in der Kommunikation machen sich bei Asperger-Autisten nicht durch Sprachentwicklungsverzögerungen, sondern mehr durch Auffälligkeiten in der Sprechstimme bemerkbar. Häufig ist ihre Stimme monoton, eintönig oder klingt blechern. Auch eine spezielle Wortwahl oder die Nutzung ungewöhnlicher Worte (z. B. sehr technisch) kann vorkommen. Die eingeschränkten Interessen und stereotypen Verhaltensmuster fallen im Schulalltag häufig schnell auf. Die Interessen der Betroffenen sind oft auf ganz bestimmte Themen fokussiert und meistens eher ungewöhnlich. Sie lernen Fahrpläne auswendig, merken sich Geburtsdaten von allen Personen, die sie treffen oder zeigen ein an Besessenheit grenzendes Interesse an Mathematik, Technik oder Geographie. Auch eine Übertreibung altersüblicher Interessen kann vorkommen, mit großer Ausführlichkeit beschäftigt sich das Kind dann mit Pokémon, Computern oder Star Wars. Auffällig ist immer, dass die Spezialinteressen einen oft erheblich störenden Einfluss auf andere Aktivitäten haben und die Teilhabe am alltäglichen Autismus-Spektrum-Störungen

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Leben erschweren (Remschmidt/Kamp-Becker 2007). Besonders in der Schule fällt das Kind dann auf, weil es nicht aufhören kann, sich mit seinem Interessengebiet zu beschäftigen und sich dem Unterricht zu widmen. Auch in ihren Bewegungen sind die Betroffenen extrem, diese sind oft ungeschickt und stereotyp, wiederholen sich und es mangelt an Koordination. Asperger-Autisten wirken oft schwerfällig, plump und verlangsamt. Es fällt ihnen außerdem schwer, einzuschätzen, welche Bewegungen wann angemessen sind. In der Schule kann es dann passieren, dass sie in ruhigen Arbeitssituationen plötzlich wild gestikulieren, durch die Klasse laufen oder auf dem Stuhl wippen. Zusätzlich haben die betroffenen Kinder häufig Zwänge (z. B. zwanghaftes Festhalten an den immer gleichen Ritualen im Alltag) und Veränderungsängste (Remschmidt/Kamp-Becker 2007; Dilling et al. 2011). Exkurs Savants Personen mit Asperger-Syndrom streben nach Spezialisierung. Durch ihren Drang, diesem Spezialinteresse nachzugehen, und in Kombination mit einem Höchstleistungsgedächtnis erbringen manche Autisten hervorragende Leistungen auf ihrem selbstgewählten Fachgebiet. Solche außergewöhnlich talentierten Autisten, sogenannte »Savants« (Inselbegabte), sind extrem selten. Weltweit sind 100 Savants bekannt (Heise 2015). Allerdings prägen Hochbegabte und Inselbegabte mit hohem schöpferischem Potenzial und genialen Gedächtnisleistungen unser populäres Bild vom Autisten in den Medien (z. B. in Kinofilmen: »Rain-Man« oder »Extrem laut und unglaublich nah«). Empfehlenswert ist das Buch des in London lebenden hochbegabten Mathematikers Daniel Tammet. Er ist ein Savant, ein Mann mit allergrößten Gedächtnisfähigkeiten. Daniel Tammet spricht elf Sprachen, lernte in einer Woche Isländisch, und gab dann in isländischer Sprache ein TV-Interview. Er sieht die Zahl Pi vor seinem geistigen Auge und kann Zahlen über 22 000 Stellen nach dem Komma im Kopf berechnen. Er schrieb in seiner Biografie »Elf ist freundlich und Fünf ist laut. Ein genialer Autist erklärt seine Welt« über Alltagsprobleme, seine Umweltwahrnehmungen sowie gute und schlechte soziale Erfahrungen als Autist. 38

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

Angststörung Kinder haben Ängste. Angst vor der Dunkelheit, vor fremden Menschen oder dem Alleinsein. Das ist zunächst völlig normal, typisch und wichtig für die Entwicklung. Je nachdem, wie lange die Angst anhält, wie stark sie ausgeprägt ist und welche Bedingungen die Angst auslösen, kann sich aus einer altersangemessenen, entwicklungstypischen Angst aber auch eine Angststörung entwickeln. Es gibt viele verschiedene Formen von Angststörungen (Dilling et al. 2001). Die übertriebene Angst kann sich auf bestimmte Objekte (z. B. Spinnen) oder Situationen (z. B. Dunkelheit oder geschlossene Räume) beziehen, dann spricht man von einer Phobie bzw. einer phobischen Störung. Treten länger anhaltende Angstzustände auf, die sich nicht auf eine konkrete Situation beziehen, spricht man von einer generalisierten Angststörung. Die Ängste können sich aber auch auf die Interaktionen mit anderen Personen beziehen, die Betroffenen leiden dann unter einer sozialen Phobie bzw. sozialer Ängstlichkeit. Das kann beispielsweise eine unverhältnismäßige Angst vor fremden Personen oder die Angst vor der Bewertung durch andere in einer Leistungssituation sein (z. B. das Sprechen vor der Klasse nach Aufforderung durch die Lehrerin). Eine im Kindesalter bedeutsame Form der Angststörung ist die Trennungsangst. Zentral ist dann eine große Angst vor der Trennung von der Bezugsperson sowie die übertriebene Befürchtung, dass ihr etwas zustoßen könnte. Bis zu einem Alter von zwei bis drei Jahren tritt sie bei Kindern häufig auf. Bleibt sie aber länger bestehen, ist ausgesprochen stark ausgeprägt oder beeinträchtigt das soziale Leben des Kindes, spricht man von einer emotionalen Störung mit Trennungsangst (Dilling et al. 2011; Lohaus/Vierhaus 2013). Wie äußert sich die Angststörung?

Unabhängig davon, unter welcher Form der Angst ein Kind leidet, kann sich die Angst durch viele verschiedene Symptome zeigen. Zentrales Symptom ist die Vermeidung; Situationen oder Dinge, die Angst auslösen (könnten), werden gemieden. Angst geht außerdem einher mit körperlichen Veränderungen, wie zum Beispiel Kopfschmerzen, Schwitzen, Bauchschmerzen, körperlicher Unruhe, Angststörung

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Schwindelgefühl oder Benommenheit (Dilling et al. 2011; Schneider/Pflug/Seehagen 2012). Da Kinder eine Sensibilität für die Signale und Veränderungen des eigenen Körpers erst noch lernen, kann es gut sein, dass diese Symptome von außen besser zu beobachten sind, als dass das Kind sie selbst beschreiben kann. Auch in Bezug auf die Vermeidung ist es möglich, dass diese nicht so klar benannt werden kann. Stattdessen wird das betroffene Kind Vorwände oder Ausreden finden, um die Vermeidung zu begründen. »Das finde ich doof!« oder »Ich habe keine Lust dazu« oder auch ein vehementes »Nein!« bekommt die Schulbegleiterin dann zu hören.

Bindungsstörung Will man das soziale Verhalten eines Kindes verstehen, lohnt es sich, zu betrachten, wie sich seine sozialen Beziehungen vom Säuglingsalter an entwickelt haben. Erstmals beschrieben und untersucht wurden die frühen Beziehungen des Kindes und der Einfluss von Bindung auf seine Entwicklung von dem Psychiater und Psychoanalytiker John Bowlby und der Psychologin Mary Ainsworth. Die erste prägende Beziehung ist immer die zwischen einem Säugling und seiner Hauptbezugsperson, meist der Mutter. Der Säugling wird versuchen, durch entsprechende Signale (z. B. Weinen, Quengeln, Lächeln, Blickkontakt) seine Bedürfnisse mitzuteilen. Ziel ist es, die Bezugsperson in der Nähe zu wissen und sich selbst dadurch emotional sicher zu fühlen. Aufgabe der Bezugsperson ist es, diese Signale wahrzunehmen, zu deuten und darauf einzugehen. Sie reagiert also mit Fürsorge und setzt geeignete Verhaltensweisen ein, um die Bedürfnisse nach Nähe und Sicherheit zu befriedigen (z. B. auf den Arm nehmen, Wiegen, Singen, beruhigendes Sprechen). Aus diesen aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen entwickelt sich die erste soziale Beziehung des Babys (Spangler/Zimmermann 2009). Verhalten der Bezugsperson

Damit die Bezugsperson angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen kann, muss sie offen und sensibel für die Signale des Kindes sein. Sensibel ist eine Bezugsperson, wenn sie die Signale des Kindes wahrnimmt, richtig interpretiert und dann angemessen 40

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

und zügig darauf reagiert. Nur wenn die Bezugsperson dazu in der Lage und empathisch für die Signale des Kindes ist, fühlt sich das Kind in seiner Umgebung sicher. Es erlebt seine Umwelt als bis zu einem gewissen Grad kontrollierbar, ist ihr nicht hilflos ausgeliefert und kann dann Vertrauen in die Welt entwickeln. Die von Beginn an bestehende Sensibilität der Bezugsperson für die Signale des Kindes bildet also eine wichtige Grundlage für das Entstehen einer sicheren Bindung. Zusätzlich spielen weitere Verhaltensweisen der Bezugsperson eine große Rolle. Wie schon erwähnt, ist es wichtig, dass die Bezugsperson prompt auf die Signale des Kindes reagiert. Da Säuglinge noch eine sehr kurze Gedächtnisspanne haben, können sie Reaktionen der Bezugsperson nur dann in Zusammenhang mit ihrem Verhalten stellen und sich selbst als handlungsfähig erleben, wenn diese schnell reagieren. Außerdem bedeutsam ist das Herstellen und Aufrechterhalten von Blickkontakt und die Art, wie die Bezugsperson mit dem Säugling spricht. Der Blickkontakt steuert und reguliert das Interaktionsverhalten des Babys. Mit einer einfachen, sich wiederholenden »Babysprache« unterstützt die Bezugsperson die Informationsverarbeitung und die Lautbildung. Auch das Ausmaß der Stimulation (z. B. wie vielen äußeren Reizen der Säugling ausgesetzt ist), sollte die Bezugsperson beachten. So gilt es einerseits, das Baby zu aktivieren und so Lernerfahrungen zu ermöglichen, andererseits Überstimulation zu vermeiden und das Baby zu beruhigen bzw. von Reizen abzuschirmen. Was das Kind in dieser prägenden ersten Beziehung erlebt, wirkt sich maßgeblich auf sein späteres Verhalten und seine sozialen Beziehungen aus. Auch wenn es eine Hauptbezugsperson gibt, können Kinder enge Beziehungen zu mehreren Bezugspersonen aufbauen. Negative Erfahrungen in einer Beziehung können so durch positive Erfahrungen mit einer anderen Bezugsperson (teilweise) kompensiert werden (Spangler/Zimmermann 2009; Lohaus/­ Vierhaus 2013). Bindungsmuster

Je nach Erleben in den ersten sozialen Beziehungen entwickeln Babys und Kinder unterschiedliche Bindungsmuster. Es werden dabei vier verschiedene Bindungstypen (s. a–d) unterschieden: die sichere BinBindungsstörung

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dung, die unsicher-vermeidende Bindung, die unsicher-ambivalente Bindung und die desorganisierte-desorientierte Bindung (Spangler/ Zimmermann 2009). In einer a) sicheren Bindung bildet die Bezugsperson die sichere Basis für das Kind. Von ihr aus erkundet es seine Umwelt und zu ihr kehrt es zurück, wenn es unsicher ist. Bei Trennung von der Bezugsperson ist das Kind traurig, es vermisst sie und zieht sie anderen Personen vor. Durch eine fremde Person lässt sich das Kind nicht vollständig trösten und freut sich, wenn seine Bezugsperson zurückkehrt. Eine sichere Bindung entsteht, wenn die Bezugsperson feinfühlig auf die Signale des Kindes reagiert. Das Kind fühlt sich sicher und empfindet seine Umgebung als verlässlich. In einer b) unsicher-vermeidenden Bindung verhält sich das Kind indifferent gegenüber der Bezugsperson. Getrennt von ihr ist es kaum beunruhigt oder gar traurig. Gegenüber einer fremden Person verhält sich das Kind genauso wie gegenüber seiner Bezugsperson. Kehrt die Bezugsperson zurück, vermeidet das Kind Nähe und Interaktion. Zentral ist für das Kind das Gefühl, dass von der Bezugsperson keine Zuverlässigkeit oder Sicherheit ausgeht. Es hat die Erfahrung gemacht, dass die Bezugsperson gar nicht oder nur wenig auf seine Signale reagiert, deshalb ist die Anwesenheit der Bezugsperson für das Kind nicht von Bedeutung. Eine fremde Person kann ebenso seine Bedürfnisse erfüllen. In einer c) unsicher-ambivalenten Bindung sucht das Kind die ständige Nähe zur Bezugsperson und beschäftigt sich nur wenig mit dem Erkunden seiner Umwelt. Getrennt von der Bezugsperson reagiert das Kind wütend oder passiv. Wenn diese zurückkehrt, ist das Kind ihr gegenüber aggressiv und wütend und lässt sich kaum beruhigen. Vermutlich hat es unterschiedliche Erfahrungen mit der Bezugsperson gemacht. Fürsorgliche und feinfühlige Reaktionen auf die Signale des Kindes wechselten sich ab mit Erleben von Unzuverlässigkeit und Unsicherheit durch die Bezugsperson. Das Kind neigt dann dazu, sich eng an die Bezugsperson zu klammern, um so durchgehend Nähe und Sicherheit zu haben. Die d) desorganisierte-desorientierte Bindung zeichnet sich durch widersprüchliche Verhaltensweisen aus, die zu keinem anderen Bindungsmuster passen. Dieses Bindungsverhalten kann (muss 42

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

nicht) auf besonders schwierige oder negative Erfahrungen (z. B. Missbrauch) hindeuten. Das jeweilige Bindungsmuster beeinflusst die spätere soziale Entwicklung des Kindes. So sind Kinder mit sicheren Bindungen offener, kontaktfreudiger und beliebter. Sie suchen eher nach sozialer Unterstützung, da sie erwarten, dass diese in ihrem Umfeld zur Verfügung steht. Unsicher gebundene Kinder und insbesondere Kinder mit einem desorganisierten-desorientierten Bindungsmuster zeigen hingegen häufiger Verhaltensauffälligkeiten. Als Folge von Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung oder häufig wechselnden Bezugspersonen kann es dann zu einer Bindungsstörung kommen (Lohaus/Vierhaus 2013). Besonders auffällig: Frühkindliche Bindungsstörung

Hauptmerkmal einer Bindungsstörung ist ein gestörtes Beziehungsverhalten zu anderen Personen, zentral sind eine große Unsicherheit und widersprüchliche soziale Reaktionen. Die Betroffenen haben häufig wenig soziale Kontakte zu Gleichaltrigen, sind unglücklich, übervorsichtig und wachsam bzw. furchtsam. Im direkten Kontakt nähern sie sich mit abgewandtem Blick und reagieren auf Kontaktangebote mit einer Mischung aus Annäherung, Vermeidung und Widerstand. Emotional sind sie kaum erreichbar, häufig zurückgezogen (z. B. zusammengekauert auf dem Boden oder unter dem Tisch) und aggressiv gegenüber anderen oder sich selbst. Das Spiel mit Gleichaltrigen wird durch viele negative Emotionen behindert, obwohl Interesse daran besteht (Dilling et al. 2011). Möglich ist auch eine Enthemmung, die sich in distanzlosem Verhalten äußert. Die Betroffenen sind dann wahllos freundlich, zugewandt und suchen die Aufmerksamkeit von anderen Personen (Dilling et al. 2011). Beispielsweise klammern sie sich an andere Personen, suchen die körperliche Nähe von Menschen, die sie gerade erst kennengelernt haben oder bezeichnen fremde Kinder als ihre besten Freunde.

Bindungsstörung

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Depressionen Auch Kinder können an Depressionen bzw. depressiven Störungen erkranken, allerdings sind sie in jungem Alter nicht immer so einfach zu erkennen. Depressionen machen sich hauptsächlich durch körperliche Symptome und Verhaltensauffälligkeiten bemerkbar, die auch bei vielen anderen Störungen auftreten können (Preiß/Remschmidt 2007). So klagen die betroffenen Kinder häufig über Bauchschmerzen, sie sind gereizt, weinen viel, schlafen schlecht oder sind in sich gekehrt und zurückgezogen. Bei Jugendlichen hingegen ist eine depressive Störung deutlicher durch die klassischen Symptome zu erkennen und lässt sich besser abgrenzen. Sie zeigt sich dann ähnlich wie bei Erwachsenen durch eine gedrückte Stimmung und Niedergeschlagenheit. Die Betroffenen verlieren Interesse und Freude an Dingen, die früher interessant waren und Spaß gemacht haben. Sie sind antriebslos, ständig müde und können sich nur schwer konzentrieren. Häufig sinkt das Selbstwertgefühl und sie machen sich selbst Vorwürfe und fühlen sich wertlos und schuldig. Zusätzlich kommt es oft zu Schlafstörungen und Appetitverlust oder gesteigertem Appetit. Die sozialen Fähigkeiten und die Interaktion mit anderen sind durch die beschriebenen Symptome häufig eingeschränkt, sodass depressive Jugendliche häufig für sich und sozial isoliert sind (Dilling et al. 2011). Eben diese Schwierigkeiten in der sozialen Interaktion und wenig positive Kontakte zu Gleichaltrigen können weiterhin die Entstehung einer depressiven Störung begünstigen. Ebenso können Probleme in der Familie (z. B. wenig Fürsorge, viele Konflikte, Armut) oder kritische Lebensereignisse (z. B. Tod eines Elternteils, wiederholte Misserfolgserlebnisse in der Schule) zur Entwicklung einer Depression beitragen (Lohaus/Vierhaus 2013).

Trauma Der Begriff »Trauma« kommt aus dem Griechischen und bedeutet »Wunde«. Wenn man von einem Trauma spricht, das jemand erlebt hat oder erlebt, ist meist ein traumatisches Ereignis gemeint, das sich negativ auf die Psyche auswirkt und diese verletzt. 44

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

Generell gibt es eine Menge Situationen, die zu einem Trauma führen können. Bedeutsam ist, wie jemand die jeweilige Situation erlebt. Ein traumatisches Ereignis ist immer gekennzeichnet durch Extremstress, Verzweiflung, Ohnmachts- und Hilflosigkeitsgefühle (Dilling et al. 2011; Fischer/Riedesser 2009). Zentral ist das Gefühl des Ausgeliefertseins, die jeweilige Situation wird als lebensbedrohlich empfunden und kann nicht bewältigt werden, es scheint keine Lösung zu geben. Das können beispielsweise Naturereignisse (wie z. B. ein Erdbeben) oder menschengemachte Katastrophen (wie z. B. Krieg und Flucht, Folter, Vergewaltigung, Missbrauch oder andere Verbrechen) sein, ein schwerer Unfall oder Zeuge eines gewaltsamen Todes anderer zu werden (Fischer/Riedesser 2009). In Bezug auf Kinder gibt es weitere Situationen, die potenziell traumatisch sein können. Kinder sind (je nach Alter) weitestgehend abhängig von ihren Eltern und ihrem Umfeld. Sie brauchen jemanden, der sie versorgt, sich um sie kümmert und sie beschützt. Wenn niemand ihre Bedürfnisse wahrnimmt und befriedigt (z. B. im Falle von Vernachlässigung), dann kommen gerade Babys und Kleinkinder häufig in das Gefühl des Ausgeliefertseins. Im Alter von 0–5 Jahren sind Kinder deshalb am verwundbarsten und es kann schneller zu einem Trauma kommen als bei einem älteren Kind, das schon teilweise für sich selbst sorgen kann. Kommt es in diesen empfindlichen ersten Lebensjahren zu einem Trauma, spricht man von frühkindlicher Traumatisierung. Diese hat einen gravierenden Einfluss auf das weitere Leben und beeinflusst die Entwicklung maßgeblich. Wie bei dem kaputten Fundament eines Hauses, ist das Kind dann damit beschäftigt, das Grundgerüst wiederaufzubauen, es konzentriert sich auf das Überleben, und aktuelle Entwicklungsschritte stehen hinten an oder kommen zu kurz (Fischer/Riedesser 2009). Wie so häufig im Kindesalter, gibt es auch bei Traumatisierung nicht die klassischen Symptome, die eine Abgrenzung gegenüber anderen Störungen5 ermöglichen. Viele der Symptome, die auf ein 5 Ist Trauma eine Störung? Trauma ist nicht gleich Störung. »Trauma« ist leider inzwischen zum schwammigen Begriff geworden und beschreibt zunächst das potenziell traumatische Ereignis aus dem sich eine Störung entwickeln kann, aber nicht muss. »Störung« meint hier andere Störungsbilder, zu denen die Abgrenzung schwerfällt. Trauma

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Trauma hindeuten oder Traumafolgen sein können, treten ebenso bei anderen Störungen im Kindes- und Jugendalter auf. Symptome können sein: Re-inszenierungen des Traumas (z. B. im Spiel), Unkonzentriertheit/Unaufmerksamkeit, Vergesslichkeit, Ängste, Unruhe, plötzliche und extreme Gefühlsausbrüche, intensive Wachsamkeit, Schmerzen, Schlafstörungen, sozialer Rückzug und Vermeidungsverhalten. Aber auch extremer Ehrgeiz/Disziplin, Lernen bis zur Erschöpfung, Überangepasstheit oder Unterwürfigkeit. Bei Älteren können Gewalttätigkeit, selbstverletzendes Verhalten und Lebensunmut hinzukommen (Gahleitner 2013).

Parentifizierung (oder auch Parentisierung) Abgeleitet vom englischen Wort Parents für Eltern meint die Parentifizierung eine Verelterlichung von Kindern. Eine Parentifizierung tritt ein, wenn ein Kind im Familiensystem die erwartete Rolle und Funktion eines Elternteils – meist der Mutter – wahrnimmt. Es kommt dann zu einem Rollentausch oder einer Rollenverschiebung zwischen Eltern und Kind. Die Mutter ist andauernd krank, apathisch, depressiv, verbringt den Tag im Bett. Die kleine Schwester hat Hunger, schreit. Der Kühlschrank ist wie meistens leer. Organisieren, Einkaufen, Wohnung sauber machen – das alles macht die Mutter nicht. Sie verbringt den Tag vorm Fernseher. Das Kind muss zur Schule, die kleine Schwester in den Kindergarten. Und das ist nicht nur heute so, sondern dauerhaft. Das Kind erlebt, dass die Mutter ihre Aufgabe und Rolle als Mutter (gegenüber den kleineren Geschwistern) und Versorgerin (im Haushalt) nicht wahrnimmt. Es fühlt sich aufgefordert oder bestimmt seinerseits, diese Rolle zu übernehmen. Es beginnt, einzukaufen, Essen zuzubereiten, aufzuräumen. Das hierarchische Rollen- und Generationen-­Verhältnis kehrt sich um.

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Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

Zu einer Parentifizierung kann es aus vielen verschiedenen Gründen kommen. Gibt es zwischen den Eltern beispielsweise häufig Beziehungskonflikte, kann es passieren, dass das Kind sich dafür verantwortlich fühlt, diese zu lösen und als Streitschlichter zwischen den Eltern zu vermitteln. Bezieht ein Elternteil das Kind in seine Beziehungsprobleme ein oder sucht bei ihm Trost, fühlen sich viele Kinder für das Glück ihrer Eltern verantwortlich. Häufig ist das auch bei Alleinerziehenden zu beobachten. Das Kind wird dann zum Partnerersatz, von dem in nicht kindgerechter Weise Unterstützung und Zuneigung erwartet werden. Es kommt auch vor, dass ein Kind die Rolle eines fürsorglichen Elternteils übernimmt. Beispielsweise wenn der eigentliche Elternteil durch körperliche Erkrankungen, psychische Störungen, Abhängigkeit und Suchterkrankungen oder aus anderen Gründen seiner Elternrolle nicht gerecht werden und für die Familie sorgen kann. Häufig übernehmen diese Rolle ältere Geschwister, die dann die Verantwortung für die Familie und insbesondere die jüngeren Geschwister übernehmen. Aber auch schon kleine Mädchen oder Jungen können sich so verhalten und Aufgaben übernehmen, denen sie nicht gewachsen sind. Mit der Übernahme dieser nicht kindgerechten Verantwortung hört die Kindheit auf. Erhoffen sich die Kinder im ersten Moment noch Anerkennung, sind sie von nun an unter ständigem Leistungsdruck ihrer neuen Rolle gerecht zu werden und spüren immer wieder die damit verbundene Überforderung. Sie verlieren die kindliche Spontanität, Lebhaftigkeit und Sorglosigkeit. In ihrer Eltern-Rolle entwickeln sie extrem hohe Anforderungen an sich selbst und streben nach Perfektionismus. Die Betroffenen wirken auf den ersten Blick oft ausgesprochen selbstständig und »erwachsen für ihr Alter«, sie scheinen vordergründig alles im Griff zu haben. Hinter der Fassade jedoch fühlt es sich zunehmend einsam und allein (Graf/Frank 2002). Irgendwann schlagen die dauerhafte Überforderung und das Einsamkeitsgefühl in Frust und Wut um. Mit diesen Gefühlen kommt das Kind in die Schule. Hier soll es sich nun den Anforderungen der Lehrerin fügen, einordnen, mitmachen. Doch freudig lernen und heiter sein, das kann dieses Kind nicht mehr. Die Lehrerin wird angeschrien, Bücher fliegen durch die Luft, das Kind verweigert. Parentifizierung (oder auch Parentisierung)

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Vernachlässigung Nicht alle Eltern sind in der Lage, die Bedürfnisse ihres Kindes wahrzunehmen und darauf einzugehen, sie sind mit der Betreuung und Erziehung überfordert. Diese Überforderung kann entstehen, weil sie selbst stark belastet sind (z. B. durch Stress oder psychische Erkrankung) oder aus Unwissen, weil sie selbst als Kinder nur wenig Fürsorge erlebt haben und nicht in der Lage sind, die Signale des Kindes richtig zu deuten. Grundsätzlich können zwei Formen der Vernachlässigung unterschieden werden: die körperliche Vernachlässigung und die emotionale Vernachlässigung (Deprivation) (Frank/Kopecky-Wenzel 2002). Jede Form der Vernachlässigung stellt eine Kindeswohlgefährdung dar (s. auch Kapitel 6, Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII). Die körperliche Vernachlässigung meint die unzureichende Versorgung mit Kleidung und Nahrung sowie eine mangelnde Gesundheitsfürsorge, die zu schwerwiegenden Entwicklungsstörungen führen können. Sie ist offensichtlicher als die emotionale Vernachlässigung und kann sich durch viele verschiede Faktoren äußern: Ȥ nur wenig, nicht passende, kaputte, dreckige oder dem Wetter nicht angemessene Kleidung Ȥ einseitige, unregelmäßige und ungesunde Ernährung, z. B. immer wieder kein Pausenbrot, nur Fast-Food oder Chips Ȥ wenig oder keine Fürsorge bei Krankheit, z. B. trotz Krankheit in die Schule schicken, keine Arztbesuche, verschriebene Medikamente nicht oder nur unregelmäßig verabreichen Ȥ unzumutbare Wohnverhältnisse, z. B. sehr beengtes Wohnen, eine Matratze auf dem Boden als Bett, sehr verdreckte Wohnung Emotionale Vernachlässigung beschreibt ein mangelndes oder ständig wechselndes und dadurch unzureichendes emotionales Beziehungsangebot. Sie ist auf den ersten Blick schwieriger zu erkennen und wird besonders in der Interaktion zwischen dem Kind und den Eltern deutlich. Auch die emotionale Vernachlässigung ist vielfältig: Ȥ liebloser Umgang, z. B. wenig Lächeln, kaum zärtlicher Umgang, wenig Körperkontakt, Desinteresse am eigenen Kind Ȥ wenig positive Äußerungen über das Kind 48

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

Ȥ kein oder nur schlechtes Erkennen der kindlichen Bedürfnisse Ȥ wiederholtes Anschreien, Einschüchtern, Heruntermachen, Beleidigen Ȥ überhöhte, unrealistische Erwartungen an das Kind, z. B. es könne sich anders verhalten, wenn es nur wollte Ȥ wenig Verständnis für die Äußerungen und Ängste des Kindes sowie gereizte Reaktionen darauf Ȥ wenig oder komplett fehlende Aufsicht und Steuerung des Kindes, z. B. mangelt es an Alltagsregeln, die Eltern wissen nicht, wo sich das Kind aufhält oder lassen es immer wieder für lange Zeit allein Häufig treten beide Formen der Vernachlässigung gemeinsam auf und lassen sich nicht klar voneinander trennen. Auch der Übergang zur Kindesmisshandlung ist fließend. Neben den offensichtlichen Anzeichen für Vernachlässigung (z. B. kaputte, unpassende oder dreckige Kleidung, kein Pausenbrot) fallen vernachlässigte Kinder durch einige Verhaltensweisen auf. Sie sind in ihren sozialen Fähigkeiten beeinträchtigt, haben nur wenige Freunde und Pro­ bleme, Beziehungen zu anderen aufzubauen. Sie sind still und in sich gekehrt oder aber sehr unruhig, aggressiv und frech bis ignorant. Insbesondere aus Vernachlässigung im Säuglingsalter können sich schwere Beziehungsstörungen entwickeln (s. auch in diesem Kapitel, Bindungsstörung). Diese beeinträchtigen das Kind dann in seinem Alltag und in seiner Entwicklung. Sein Selbstwertgefühl ist gering, es fühlt sich ständig zurückgewiesen, nicht akzeptiert und minderwertig.

Spezialfall hochbegabte Problemschüler Etwa ein Prozent aller Kinder ist hochbegabt, d. h. diese Kinder haben einen Intelligenzquotienten (IQ) von mehr als 130. Eine Hochbegabung stellt per se kein besonderes Risiko für den schulischen Erfolg dar. Zwar gibt es hochbegabte Problemkinder, quantitativ gibt es aber nicht mehr Problemkinder unter den Hochbegabten als unter den normal begabten Kindern. Wenn Schulkarrieren von Hochbegabten misslingen, können sie oft auf »normale« Verhaltensstörungen zurückgeführt und entsprechend pädagogisch oder psychiatrisch behandelt werden. Spezialfall hochbegabte Problemschüler

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Ursachen für problematisches Verhalten von Hochbegabten können sein: Ȥ Hoher Erwartungsdruck im sozialen Umfeld (Eltern): Um die Erwartungen zu erfüllen, wird das Kind in der Klasse zum Streber. Das Streberverhalten führt bei den Mitschülern zu Ablehnung. Die Folge sind Probleme mit den schulischen Leistungen. Der nicht erfüllte Erwartungsdruck kann dann zu Stimmungsschwankungen oder psychosomatischen Beschwerden, wie Kopfoder Bauchschmerzen, führen. Ȥ Besondere Anpassungsanstrengungen: Der Zwang, sich in der Klasse sozial anzupassen, strengt das hochbegabte Kind an. Der äußere Anpassungszwang steht im nicht zu bewältigenden Konflikt mit dem inneren Wunsch des Kindes, zu lernen und zu üben, um durch Lernerfolge den Selbstwert zu bestätigen. Mangelndes Selbstwertgefühl, Lernverweigerung und eine selbstgewählte Isolation im Klassensystem sind die Folge. Ȥ Weitere Auffälligkeiten: Manche Hochbegabte zeigen eine hohe Gewaltbereitschaft gegen Mitschüler oder selbstverletzendes Verhalten bis hin zu Suizid-Ankündigungen. Die Ursache ist hier nicht die Hochbegabung, sondern das Gefühl der fehlenden Anerkennung im Sozialen System. Ȥ Sinkendes Leistungsvermögen: Das Absinken der Schulleistung führt dazu, dass bestimmte klassische Lernmethoden nicht eingeübt werden. Lernstoff und Übungsmethoden müssten mühselig nachgeholt werden, was wiederum nicht gemacht wird, da der Anpassungsdruck und fehlendes Selbstvertrauen zu groß sind. Die Leistung sinkt weiter ab, das Selbstvertrauen nimmt noch mehr Schaden. Viele Pädagogen glauben, dass Hochbegabung ein Mythos ist. Es gäbe vielmehr leistungsstarke und weniger starke Schüler, Spitzenschüler und Schüler mit Lernschwierigkeiten. Es bestünde die Tendenz, insbesondere von Eltern, die ihre Kinder einem IQ-Test unterzogen haben, zu behaupten, dass ihr Kind aufgrund seiner Hochbegabung in der Schule unterfordert sei. Es benötige daher speziellen Unterricht, damit es sich nicht zum Schulversager entwickelt. Doch der berühmte IQ-Test sei nicht aussagefähig, so die Pädagogen 50

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

(vgl. Sailer 2010), da er nur einen bestimmten engen Teil der Intelligenz erfassen könne. Soziale Intelligenz, Empathie, nonverbale Kommunikation, soziale Wahrnehmung sowie Fähigkeiten im Umgang mit eigenen und fremden Emotionen würden durch den Test nicht erfasst. Gerade diese Teile der Intelligenz seien aber erforderlich, um im schulischen System zurechtzukommen. Die sozialen Fähigkeiten seien bei auffälligen Spitzenschülern demnach genauso zu fördern wie dessen kognitive Fähigkeiten.

Gewalt in der Familie Gewalt in der Familie kommt in allen Gesellschaftsschichten vor. Sie kann als Gewalt der Ehepartner untereinander auftreten oder als Gewalt der Mutter oder des Vaters (oder des Lebenspartners) gegenüber den eigenen Kindern (oder Stiefkindern). Die Ursache der Gewalt kann aus Ehekonflikten resultieren. Deutlich mehr Männer sind gegenüber ihren Ehefrauen gewalttätig als Frauen gegenüber Männern (BMFSFJ 2019). Immer noch sind viele Ehemänner überzeugt, dass sie das Sagen in der Familie haben und ihre Frauen sich ihren Vorstellungen unterzuordnen haben. Oft sind sie sehr dominant und treten autoritär auf. Geschlagene Frauen akzeptieren in der Regel ihre Männer als Familienoberhäupter, ordnen sich ihnen unter, sind unterwürfig (Textor o. J.). Gewalttätige Eltern wurden oft selbst als Kinder misshandelt. (Textor o. J.). Sie lernten, körperliche Züchtigung als akzeptable Erziehungstechnik anzuwenden. Eltern, die ihre Kinder schlagen, betrachten diese zumeist als unfertige Menschen, die auch geschlagen werden dürfen. Sie haben demnach auch kein schlechtes Gewissen bei körperlichen Bestrafungen (Textor o. J.). Eine Ohrfeige oder regelrechte Prügel: In der Erziehung ist körperliche Gewalt gesetzlich verboten. Dennoch tritt die körperliche Züchtigung immer noch häufig auf. Laut einer Studie des Berufsverbandes Kinder- und Jugendärzte 2016 halten 45 % der Eltern einen Klaps auf den Hintern, 17 % eine leichte Ohrfeige und 2 % eine schallende Ohrfeige für vertretbar (Plener/Rodens/Fegert o. J.). Gewalt in der Familie

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Als Grund geben die strafenden Eltern meist Unverschämtheiten, Ungehorsam, respektloses oder aggressives Verhalten – gegen die Eltern als Autoritäten – an. Mütter und Väter stehen sich da in nichts nach. Es wird in allen Bildungsschichten geprügelt, Jungen werden häufiger geschlagen als Mädchen. Immer mehr Eltern schlagen ihre Kinder heute weniger aus pädagogischer Überzeugung, sondern eher aus Überforderung, Hilflosigkeit und Stress (Textor o. J.). Neben der körperlichen Gewalt tritt eine andere Form der Bestrafung auf: die psychische Gewalt. Sie zeigt sich in verbalen Beschimpfungen, Herabsetzungen, Liebesentzug, Weg- oder Einsperren. Oft verletzen Eltern ihre Kinder mehr mit Worten als mit Schlägen. Pädagogen und Psychiater wissen heute: Jede Form von körperlicher oder seelischer Gewalt ist schädlich für die Persönlichkeitsentwicklung. Erlebte Gewalt der Eltern zerstört Vertrauen beim Kind und greift das Selbstwertgefühl massiv an. Kinder, die in hohem Maße gewaltsam erzogen werden, weisen psychische und körperliche Auffälligkeiten auf (Gahleitner 2013; P ­ lener et al. o. J.), z. B.: Ȥ Nicht-Ansprechbarkeit Ȥ Angst, Schreien, Panik Ȥ langes Weinen Ȥ Anklammern Ȥ Kontaktversuche abwehren, um sich schlagen Ȥ aggressiver, gewaltbereiter Umgang mit Mitschülern Ȥ Rückzug, Isolation, Spielunlust Ȥ Abwehr von Zuwendung Ȥ Stagnation in der (Lern-)Entwicklung Ȥ Schlafstörungen, übermäßige Müdigkeit Ȥ Schulschwänzen, Schulversagen Ȥ geringes Selbstwertgefühl/mangelndes Selbstvertrauen Ȥ besonders angepasstes, braves Verhalten Ȥ Regression (Rückfall in Baby-/Kleinkindsprache) Ȥ Selbstverletzung, Suizidgefahr

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Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

Wertekonflikte und Migrationshintergrund Unterschiedliche soziale Gemeinschaften (Ethnien, ­Religionen, Clans, Familien, etc.) haben oft gegensätzliche Lebensauffassungen und kontraproduktive Orientierungen. Werte, Prinzipien und Regeln, die der Organisation des Gemeinschaftslebens dienen (s. Kapitel 3, Systemtheorie), stehen dann in unvereinbaren Konflikt-Verhältnissen. Manchmal wachsen Migrantenkinder in solch heftigen Spannungsfeldern sich widersprechender sozialer Kulturen auf, dass sich emotionale Störungen und soziale Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Die im westlichen Schulsystem vermittelte Maxime: »Entdecke deine Persönlichkeit! Auch du kannst wachsen und groß werden, deine individuellen Talente entfalten« steht im krassen Gegensatz zu der Maxime des traditionellen orientalischen Familiensystem »Auch du musst entschlossen und stark die Familienehre vor Kränkungen schützen. Auch du musst dich in bewährte Familientraditionen einfügen und diese verteidigen«. In manchen Familien treten so heftige Spannungen zwischen den Kulturen auf, dass Eltern und folglich auch die Kinder nicht damit zurechtkommen. So auch Abdulah und Esra. Sie leben im permanenten Widerspruch konträrer Maximen. Sie kommen nicht zurecht zwischen unvereinbaren Anforderungen sich widersprechender Kulturen. Sie sitzen zwischen den Stühlen. Die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit kann sich äußern in Wutausbrüchen, Gewaltbereitschaft, Streit um Rangpositionen in der Klasse, Respektlosigkeiten, insbesondere vor Lehrerinnen, auch in sexualisierten Beleidigungen. Abdulah und Esra: das Dilemma der Dogmen

Die beiden in ihrer Werte-Community (Groß-Familie) geachteten – da angepasste – Kinder, haben in ihrem Familienkreis durchaus viel Selbstsicherheit erworben. Aber außerhalb ihrer Community – in der Schule – treten Probleme auf (die Mutter wird am Elternsprechtag ganz erstaunt und misstrauisch sein, dass ihr »guter Sohn« die Lehrerin beleidigt haben soll). Abdulah und Esra erleben die Probleme, die aus interkulturellen Konflikten erwachsen, als unlösbar. Während das Verhalten der Jungen von Angeberei und Macho-Gehabe geprägt ist, Wertekonflikte und Migrationshintergrund

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neigt das Mädchen zu devotem, aufopferndem Verhalten und innerem Rückzug. Abdulah: Bereits in der Vorschule findet der Junge nicht seine Grenzen. Er ist gewaltbereit, schlägt sich viel mit anderen, spuckt die Lehrerin an. Die Prinzipien und Erziehungsmethoden in Abdulahs Zuhause sind geschlechter- und männlichkeitsorientiert (chauvinistisch, machohaft, sexistisch). Abdulah muss »Mann sein«. Die Erziehungsmethoden werden vom Patriarchen der Familie vorgegeben. Über die Einhaltung seiner Vorgaben wird nicht diskutiert. Das Credo: sich durchboxen, stark sein, die Männlichkeit betonen. Die Familienehre schweißt Abdulahs Familie zusammen, sie verpflichtet alle Familienmitglieder. Der Zusammenhalt der Familie ist ein Muss und gleichzeitig Maßstab für die Ehre der Familie. Der Zusammenhalt der Familie ist wichtiger als Abdullahs soziales westlich orientiertes Lernen in der Schule und seine Noten. Die männliche Ehre ist für Abdulah bereits ein hohes Gut. Seine Ehre wird er/kann er nur in der Familie erwerben. Sie wird ihm hier zuteil, indem er seine ihm zugewiesene (männliche) hierarchische Position und Rolle innerhalb der sozialen Rangordnung der Familien-Gemeinschaft akzeptiert und aktiv lebt. Respekt und Gehorsam vorm Größeren und Älteren ist Pflicht und wird nicht infrage gestellt. Der Entzug von persönlicher Ehre sowie die Zuweisung von Schande wird Abdulah stets drohend vor Augen gehalten. Gewalt, Loben und Bestrafen (auch Schläge) dienen der Einordnung in die gewünschte familienorientierte »männliche« Jungen-Rolle. Esra: Die Eltern der achtjährigen Esra befürchten, ihre Tochter könne so freizügig leben wollen wie die deutschen Mädchen. Wenn die Eltern Toleranz zulassen würden, so ihre Angst, würde sich das bewährte Familien- und Wertesystem auflösen. Ihre Sorge, Esras Fehlverhalten könnte die Ehre der Familie beschmutzten, ist groß, denn damit würde sich die soziale Anerkennung der gesamten Familie in der Groß-Community herunterstufen. Vater und Mutter, ebenso der große Bruder und die Großmutter, versuchen deshalb, Esra an der kurzen Leine zu halten. Bei Widerstand wird gewarnt, gedroht, ver54

Relevante Störungsbilder und andere Einflussfaktoren

boten und bestraft. Auch Esra erlebt Schläge und Einsperren. Das Mädchen Esra kommt in der Schule noch zurecht, macht den Klassendienst gerne und gut, ist still und hilfsbereit. Sie wird erst rebellieren, wenn sie älter ist. In der Schule erleben Abdulah und Esra soziale Anforderungen, die zu Hause in ihrer Community gerade nicht erwartet und praktiziert werden. Im (westlichen) Schulsystem sollen sie ihre Persönlichkeit frei entfalten, ihre individuellen Potenziale entdecken, ihre wahre Identität finden. Das freie, selbstbestimmte und gleichberechtigte Miteinander ist hier – im Ideal – gelebte Erziehungspraxis. Das individuelle Prestige im sozialen Gefüge wird hier maßgeblich beeinflusst durch den individuellen Stand des Wissens und der Bildung. Das gleichwertige Miteinander der Geschlechter und Altersstufen und die Fähigkeit, gewaltlos Konflikte zu lösen, bestimmen hier den Grad der sozialen Anerkennung. Migrantenkinder erleben zu Hause oft entgegengesetzte Kriterien: Respekt gegenüber Mädchen und Frauen wird durch andere Rollenerwartungen definiert. Die Chancengleichheit der Geschlechter gilt als fragwürdige Orientierung. Individuelle Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung, Kritikfähigkeit gegenüber Autoritäten, Toleranz oder Offenheit für andere Kulturen/Religionen werden in Abdulahhs und Esras sozialer Werte-Welt als untaugliches soziales Konzept oder gar als feindliches diffamiert und in Konkurrenz zum eigenen traditionellen Konzept gesetzt. Die Konflikte als Chance

Unterschiedliche Erziehungsstile sowie unvereinbare soziale Erwartungen verschiedener Kulturen schaden Kindern nicht immer. Gelebte Verschiedenartigkeit der Kulturen kann Kindern helfen, flexibler, toleranter, reichhaltiger und weltläufiger zu leben. Kinder können daran wachsen, dass sie in unterschiedlichen Welten aufwachsen. Der Anteil der (Migranten-)Problemkinder ist klein, aber relevant. Aussagefähige Statistiken gibt es nicht. Dieses Buch Wertekonflikte und Migrationshintergrund

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fokussiert auf sozial-emotional stark auffällige Kinder. Ein nüchterner Blick hilft, auch diesen Kindern gerecht zu werden, um ihnen zu helfen, sich weiterzuentwickeln.

Wenn das Zuhause krank macht Gefühlt sind drei von zehn Kindern in Schulklassen schwierige Kinder mit besonders herausforderndem Verhalten. Eine Umfrage der Robert-Bosch-Stiftung stellt fest, dass nach dem Lehrermangel (Platz  1) das auffällige Verhalten der Schüler am häufigsten als Herausforderung benannt wird (News4teachers 2019). Viele dieser schwierigen Kinder leiden aufgrund der unguten Zustände zu Hause. Sie sind unglücklich, fühlen sich überfordert und nicht angenommen, ihre Potenzialentwicklung ist eingeschränkt. Allgemeine Erziehungsprobleme sind nicht Gegenstand dieses Buches. Ein Blick auf die problematischen Umstände in Familiensystemen, die Kinder zu schwierigen Kindern machen, lohnt sich dennoch an dieser Stelle. Denn sozial-emotional beeinträchtigte und förderwürdige Kinder leben oft unter Umständen, die sie zusätzlich belasten. Auch wenn üble Umstände allein die Kinder noch nicht krank machen, erhöhen sie dennoch den Druck, der kranke Kinder kränker macht: Ȥ Medienkonsum: Wir wissen es alle. Es ist nicht gut, wenn Kinder zu viel Zeit am Smartphone, vor der Spiele-Konsole oder am Computer verbringen. Das gilt auch für den Konsum gefährlicher YouTube -Videos oder den überdimensionierten FlatscreenTV im Kinderzimmer. Medien können nützlich, unterhaltsam und lebensbereichernd sein. Sie können zeitgemäße Information- und Bildungsmethoden unterstützen. Aber zu häufiger und unkontrollierter Gebrauch sowie problematische und gefährliche Inhalte sind schädigend (Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung 2017: BLIKK Studie 2017). Ȥ Fehlende Erziehung: Nicht alle Kinder lernen zu Hause persönliche Grenzen kennen. Oft erleben sie Bezugspersonen, die ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen. Ȥ Mangelnde Herausforderungen: Manche Eltern gestatten ihren Kindern keine existenziellen Herausforderungen, stattdessen

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machen sie ihr Kind zum absoluten Mittelpunkt ihres Lebens. Das Resultat sind Kinder, die selbst kleinste Herausforderungen oder geringe Schwierigkeiten nicht ohne Geschrei, Bockigkeit und Stress bewältigen können. Trennung der Eltern: Neue Familienkonstellationen bringen oft neues Glück und fördern Vielfalt und Toleranz. Ungut wird es, wenn es vor und nach der Trennung anhaltenden Streit zwischen den Eltern gibt. Die Kinder erleben den Krieg der Eltern um soziale und materielle Vorteile mit – und leiden. Leistungsorientierung: Die Gesellschaft gibt Maximen wie Leistungsbereitschaft und Konkurrenzfähigkeit im Job vor. Sie überträgt die Verantwortung dafür auf die Erwachsenen, diese wiederum auf ihre Kinder. Das beginnt schon im Grundschulalter, teilweise noch früher. Manche Erwachsene übertragen ihren übertriebenen Ehrgeiz dann auf ihre Kinder. Alleinerziehende: Alleinstehende Mütter und Väter sind möglicherweise beruflich überlastet und auch die Erziehung ihrer Kinder überfordert sie. Armut: Psychische Leiden bei Kindern sind in armen, bildungsfernen Familien häufiger anzutreffen, besagt der DAK Kinderund Jugendreport 2018. Sucht: 8 % aller Kinder leben laut DAK-Studie (2018) mit einem schwer suchtabhängigen Elternteil zusammen.

Viele Kinder leiden aufgrund der widrigen häuslichen Umstände. Ihre Potenzialentwicklung ist eingeschränkt. Sie sind, wenn die Schule gut ausgestattet ist, in der Betreuung von Sonderpädagogen und Förderlehrern, sie gehen zur Ergotherapie und sind im Fokus von Schulpsychologen. Gegenstand dieses Buches sind psychisch beeinträchtigte und sozial verhaltensauffällige Kinder, die einer besonderen sonderpädagogischen Schulbegleitung bedürfen, im schulischen Alltag oft als »Problemkinder« bezeichnet. Diese Kinder sind seelisch krank und in ihrer sozialen Entwicklung und Lernkompetenz stark beeinträchtigt.

Wenn das Zuhause krank macht

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Kapitel 3: Systemtheorie als Navigationshilfe

Neues Denken für Schulbegleiter: Wir alle sind Teile von Systemen Ob biologische Zellen, der Mensch an sich, seine Familie oder eine Organisation wie die Schule – jegliches organisches Leben kann als System aufgefasst und systemtheoretisch beschrieben werden. Vorsicht: Nichts an der Systemtheorie ist einfach. Sie ist komplex und wird umso komplexer, je mehr man sich mit ihr beschäftigt. Dennoch soll sie im Folgenden kurz dargestellt werden, denn sie hilft Pädagogen, eine neue Perspektive einzunehmen (Just 2017) und anders zu denken. Systemisches Denken ist erfolgreich, Ȥ weil es die Haltung des Pädagogen zu Problemfällen verändert, Ȥ weil es Räume für neue pädagogische Kreativität öffnet, Ȥ weil es zu Methoden anregt, die die Einstellungen und damit das Verhalten der Klienten verändert, Ȥ weil die Stärken und Ressourcen des Klienten beachtet werden wie auch die kleinen Schritte auf dem Weg der Veränderung, Ȥ weil es lösungsorientiert ist, aufs Machbare und damit aufs Gelingen schaut. Als Schulbegleitung genügt es nicht, Kinder zu mögen. Es genügt auch nicht, ihnen helfen zu wollen. Wer das Meer gerne mag, ist noch lange kein guter Kapitän. Ein guter Schiffer braucht Kenntnisse und Handwerkszeug. Nur so kann er das Schiff richtig steuern. Nun ist es aber leichter, ein Schiff zu steuern als die Einstellungen und das Verhalten von Menschen zu ändern (Miller 2001). Schulbegleiter brauchen eine Grundlage, ein Navigationssystem, um mit wissendem Blick durch die richtige Brille zu schauen. Sie brauchen Navigationskenntnisse im Meer der Probleme, um die richtigen Fragen zu stellen und gültige Erklärungen für das Verhalten des Kindes 58

zu finden (Miller 2001). Dann sind sie in der Lage, geeignete Maßnahmen und Methoden zu ergreifen, um ihr Kind als Schüler weiterzuentwickeln und zu integrieren. Das grundsätzliche Verstehen der Systemtheorie hilft dem Schulbegleiter, Haltung und Orientierung für seine Aufgabe zu erhalten.

Die Systemtheorie ist die Fortschreibung der Evolutionstheorie Systemtheorie ist keine Glaubenssache oder Ideologie, sondern die wissenschaftliche Erklärung für die Existenz der organischen Welt und ihrer Dynamiken. Unter Evolutionstheorie wird die wissenschaftliche Beschreibung der Entstehung und Veränderung von biologischen Einheiten im Laufe der Geschichte verstanden (Wiktionary: Evolutionstheorie). Im Kern konzentriert sich die Evolutionstheorie auf biologische Wesen. Durch Vererbung und Anpassung an die Umwelt finden Selektionsprozesse und Weiterentwicklungen von Organismen statt. Das ist die Hauptthese. Die auf die Evolutionstheorie aufsetzende Systemtheorie erkennt, dass biologische Einheiten als Systeme zu verstehen sind, die sich – gekoppelt an andere Systeme – autonom und auf sich selbstbezogen vorteilsbringend verändern. Die soziale Systemtheorie geht über das Biologische hinaus. Sie erkennt, dass auch das psychische Bewusstsein von Individuen und die sozialen Gemeinschaften organische Systeme sind, die an andere Systeme gekoppelt sind, um so aus ihrer jeweiligen Umwelt (den anderen Systemen) Vorteile zu selektieren, mit dem Ziel, sich zu optimieren. Das systemtheoretische Denken hat sich in den vergangenen Jahren im psychosozialen Beratungskontext etabliert. Dort werden vermehrt systemische Erkenntnisse und Therapien angewendet, um Klienten zu helfen. Auch die Soziologie verfügt über umfassende systemtheoretische Erkenntnisse. Jedes Beziehungsgeflecht – eine Familie, eine Zweierbeziehung wie Ehe, Partnerschaft oder best friends, die Schule, die Schulklasse – kann mit Hilfe der Systemtheorie analysiert und verändert werden. Die Systemtheorie ist die Fortschreibung der Evolutionstheorie

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Systemtheorie als Basis und Haltung für Schulbegleiter Die Systemtheorie liefert für praktische Pädagogen keine Strategien oder Methoden, sondern sie ist eine neue Betrachtungsweise und sie liefert eher eine neue Haltung. Diese Haltung ist geeignet, pädagogische Erklärungen, Maßnahmen und Methoden zu entwickeln und anzuwenden (Miller 2001; Just 2017). Sie bildet damit auch eine kompetente Basis für die Kunst der Schulbegleitung: Ȥ Sie dient dem Schulbegleiter als Fundament für das Analysieren von Problemen seines Kindes und das Konzipieren von Problemlösungen. Ȥ Sie hilft, die Umstände und den Kontext, in denen sein Kind lebt und handelt, zu erkennen und die Entstehung der Probleme seines Kindes zu erklären. Ȥ Sie gibt dem Schulbegleiter Orientierung und Halt beim Deuten und Beurteilen von problematischen Ereignissen. Ȥ Sie fokussiert den Schulbegleiter auf das, was sein Kind schon kann. Er beobachtet und erkennt Lösungsansätze, die sein Kind in kleinen Schritten (auch schon allein) gehen kann. Ȥ Sie ist Basis und Rahmen seiner Konzepte und Maßnahmen (siehe Kapitel 5 und 6). Der Schulbegleiter weiß durch die Theorie besser, welche Brille er aufsetzt, um sein Kind und dessen Umgebung (insbesondere die Schulklasse) zu beobachten, um danach Probleme zielorientiert anzugehen. Ȥ Sie regt das methodische Handeln des Schulbegleiters an. Er ist in seiner Kreativität mutiger und fühlt sich in seiner Kreativität auf sichererem Boden. Ȥ Der Schulbegleiter weiß durch die Systemtheorie, wie er dem Kind erwünschte Werte (was ist gut, was richtig, was falsch) und sinnvolle Orientierungen, Einstellungen und Verhaltensweisen erfolgreich vermitteln kann. Ȥ Seine Rolle in der Schule, sein Selbstbild und seine pädagogische Selbstsicherheit werden durch sein Wissen um die Systemtheorie untermauert. Ȥ Damit unterstützt sie im Kollegenkreis der Schule seine exklusive Rolle und Funktion und seine Anerkennung als pädagogische Fachkraft. 60

Systemtheorie als Navigationshilfe

Die Aufgabe des Schulbegleiters ist die Veränderung Lehrer, Eltern, Mitschüler, die Gesellschaft allgemein erwarten vom Schulbegleiter, dass sich sein Problemkind durch seine pädagogische Begleitung sozial und seelisch entwickelt. Schulbegleiter wollen die Lebenssituation und Er-Lebenssituation (s)eines Kindes als Schüler an der Schule verbessern. Ihn leiten zwei Ziele: Einerseits soll sich das Verhalten des Kindes ändern, damit es als Schüler besser zurechtkommt. Andererseits soll das Kind seine natürlichen Eigenschaften bewahren, damit es seinen individuellen Voraussetzungen entsprechend gefördert wird. Verschiedene Wissenschaftsdisziplinen liefern Grundlagen und Wissen über Problemkinder: Kinderärzte untersuchen den Körper, Kinderpsychologen die Seele, Neurowissenschaftler das Gehirn. Lehrer unterrichten. Sozialwissenschaftler erklären die Gesellschaft und die Kommunikation zwischen den Menschen. Jede dieser Fachdisziplinen weiß, dass ihre jeweilige fachliche Sicht auf die Dinge einseitig ist, und sie somit die anderen Disziplinen braucht. Das Problemkind hat mehrere Helfer an seiner Seite: Kinderärzte, Kinderpsychologen, Therapeuten, Sonderpädagogen, Schulsozialarbeiter etc. helfen, wo sie qua ihrer Profession und meist engen Zeitkontingente helfen können. Ihnen sind allerdings Grenzen gesetzt. Sie sind nicht – oder nur selten – im Schulalltag zugegen. Der Schulbegleiter schließt diese Lücke: Er begleitet sein Kind im System Schule ganz nah an dessen Seite, oftmals 15, manchmal bis zu 25 Schulstunden die Woche, viele Monate, manchmal zwei Jahre lang. Der Schulbegleiter und sein Kind sind im Sinne der Systemtheorie eine sozialsystemische Einheit (siehe in diesem Kapitel: Kleine Wertegemeinschaften prägen unseren Alltag.) – Dyade. Der Schulbegleiter ist weder Mediziner noch Psychotherapeut oder Lehrer. Er arbeitet eng am und mit seinem Schüler als sein »persönlicher Sozialpädagoge«. Er ist sein enger Gefährte im Schulgeschehen. Beteiligte Wissenschaften helfen interdisziplinär

Für psychische Erkrankungen und soziale Auffälligkeiten bei Kindern gibt es diverse ernstzunehmende wissenschaftliche Erklärungen und Lösungsansätze: Die Aufgabe des Schulbegleiters ist die Veränderung

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Humanbiologen und Mediziner betrachten Krankheiten (Normabweichungen) u. a. als biologisch verursacht, z. B. durch Vererbung oder durch hormonelle Einflüsse (Reuter 2000). Hier spielen Botenstoffe im Gehirn eine entscheidende Rolle. So wirkt z. B. der Neurotransmitter Serotonin auf die Stimmungslage. Er beeinflusst Angstgefühle, Aggressivität und depressive Stimmungen. Durch Serotonin lässt sich das Empfinden von innerer Ruhe, Gelassenheit und Zufriedenheit steuern. Das wirkt auch aufs Sozialverhalten. Neurologen und Gehirnforscher untersuchen im Gehirn die Ursachen von Sozialverhalten und verorten psychische Störungen durch bildgebende Verfahren. Das Gehirn wird gescannt. Die Aufnahmen zeigen durch farbliche Unterscheidungen an bestimmten Stellen im Gehirn erklärungswürdige Phänomene. Die Hirnforscher hoffen, durch biochemische Substanzen Reaktionen im Gehirn hervorzurufen, die dann als Medikamente weiterentwickelt und eingesetzt werden können, um das Verhalten des Kindes zu beeinflussen. Das bekannteste Mittel ist Ritalin , das in der Therapie als Medikament bei ADHS-Kindern eingesetzt wird (vgl. Kapitel 2, ADHS/ADS). Es wird oft stellvertretend für diese Psychopharmakagruppe genannt. Manche Wissenschaftler (z. B. Interview mit Helmut Bonney in Spektrum.de ADHS ist keine Krankheit) bezweifeln, dass es bestimmte psychische Krankheiten, z. B. ADHS, überhaupt gibt. Der Neurobiologe Gerald Hüther sagt in einem YouTube -Interview, dass bestimmte Störungen (ADHS) von der Gesellschaft, z. B. der Pharmaindustrie, erfunden seien, um Umsätze zu generieren (»Ein Goldesel für die Pharmaindustrie« im YouTube -Interview). Darin sagt er auch, nicht das Kind sei auffällig, sondern die (schulischen) Bedingungen erlaubten besonderen Kindern nicht, sich natürlich zu verhalten. Er fordert gar ein anderes, kindgerechteres Schul- und Lernsystem. Er hält die Schule für ein Abrichtungs- und Dressursystem, ein System voller Leidensgeschichten (Prof. Hüther: »ADHS ist keine Störung« auf YouTube ).6

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6 Ein Schulbegleiter kann die schulische Wirklichkeit, die in den Medien gerne als »allgemeine Lernüberforderung, unzeitgemäße Lernmethoden, zu große Klassen, überforderte Lehrer« dargestellt wird, nicht verändern. Diese Kri-

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Systemtheorie als Navigationshilfe

Psychoanalytiker erklären sich emotionale Störungen und dissoziales Verhalten u. a. durch die Qualität der Beziehung zwischen dem Kind und seinen Bezugspersonen (Neurologen und Psychiater im Netz o. J.). Auch die Umwelt wirkt positiv oder verunsichernd und belastend auf die individuelle Entwicklung des Kindes ein. Durch Nichtbeachtung emotionaler Bedürfnisse zeigen sich Symptome wie geringes Selbstwertgefühl, Ängste, Depressionen, etc. Soziologen sehen Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen durch problematische gesellschaftliche Umstände verursacht (Bühler-Niederberger 2011). Sie befassen sich mit den beeinflussenden Umweltereignissen, insbesondere mit den gesellschaftlichen Sub- und Mikro-Systemen, in denen Kinder leben, aufwachsen und sich entwickeln. Dazu zählen neben der Familie oder dem Zuhause, familienähnliche Lebensgemeinschaften mit Erwachsenen, Geschwistern und anderen Mit-Erziehenden* auch Partnerschaften, Kita, Schule, Schulklasse oder die mobbende Klassen-­ Clique. *Beispiel für ein Ereignis in Bezug auf Mit-Erziehende: Der kleine Selim stand auf dem Schulhof und zitterte am ganzen Leib. Er hatte Angst: »Siehst du den nicht … da ist er! Der Teufel …«. Ich antworte: »Wen siehst du? Ich sehe nichts …« Selim beharrte: »Da im Gebüsch … der Teufel …« »Da ist nichts, Selim, beruhige dich!« Er bestand darauf. »Doch, doch! Da ist der Teufel!« Tage später treffe ich die Mutter und erzähle ihr davon. Die Mutter ist Türkin in zweiter oder dritter Generation in Deutschland. Sie kleidet sich der westlichen Kleidernorm entsprechend, spricht gut Deutsch – und hat keine Erklärung für Selims Verhalten. Ich lese in Selims Förderakten, dass die Mutter alleinerziehend ist. Dass es keine Erklärung für Selims ängstliches Verhalten geben soll, zweifele ich an. Wochen später holen Mutter und Großmutter tik ist m. E. überzogen. Die weitaus größte Anzahl der Kinder ist gern an der Schule, lernt mit Spaß und akzeptiert die Schule so, wie sie sie vorfindet. Die allermeisten Lehrer sind nicht überfordert und machen ihren Job professionell, gerne und erfolgreich. Die Aufgabe des Schulbegleiters ist die Veränderung

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Selim gemeinsam von der Schule ab. Selim umarmt seine Oma, ganz offensichtlich haben die beiden ein enges Verhältnis. Die Mutter und ich kommen ins Gespräch. Ich erfahre, dass die Großmutter auch im Haushalt lebt. Mir kommt eine Ahnung, vielleicht irre ich mich: Die Großmutter ist sehr religiös. Manche Moslems glauben an die Existenz des Teufels. Droht sie Selim, wenn er ungezogen ist, vielleicht mit dem Teufel? Systemtheoretiker betrachten die Komplexität von Systemen interdisziplinär. Für sie ist die ganze organische Welt ein System und in Teil-Systemen organisiert. Biologische Zellen sind Systeme, auch der Mensch selbst, die Familie, die Schule sind Systeme. Alle Systeme sind organisch und komplex. Nach innen und nach außen wirken Systeme eigendynamisch.

Die Systemtheorie nach Luhmann Niklas Luhmann ist der wohl bedeutendste soziologische Systemtheoretiker. Seine Theorie über die Entstehung und Dynamik von sozialen Systemen wird von etlichen Humanwissenschaften akzeptiert. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel (27.08.2007: N. von Festenburg »Systemtheorie: Operieren im Dunkel«) listet Luhmann als einen der bedeutendsten Geistesgrößen der modernen Wissenschaft. Die Soziale Systemtheorie versteht sich als Universaltheorie, die ganzheitlich und stimmig unsere Gesellschaft erklären will. Schulbegleiter brauchen einen gewissen professionellen Rahmen und geschulten Blick, um der Beliebigkeit von Erklärungen oder Maßnahmen im Alltag mit ihren Kindern und ihren Schulen vorzubeugen. Die Systemtheoretiker geben ihnen diese Orientierung und Handlungsmöglichkeiten an die Hand. Im Mikrosystem Schule können sie auf der Basis systemtheoretischer Erkenntnisse eigenkreativ wirken und damit pädagogisch zum Wohl ihrer Kinder handeln. Liebe Leserinnen und Leser, erlauben Sie mir einen Hinweis vorweg: Wer sich mit theoretischen, akademischen Ausführungen schwer tut, mag die nächsten Seiten überblättern (oder sich auf die Hinweise mit Pinnnadel ( ) beschränken). Wer aber eine hilfreiche, 64

Systemtheorie als Navigationshilfe

eben nicht organisch-biologische (medizinische) Erklärung für das auffällige Verhalten eines Kindes sucht, und zugleich eine Basis für sein pädagogisches Handeln haben möchte, dem seien die folgenden Seiten empfohlen. Die moderne soziale Systemtheorie erklärt, wie Identitäten und Gemeinschaften durch Kommunikation und Handeln entstehen. Sie erklärt Entstehung, Erhaltung und Dynamik der Gesellschaft in großen Systemen wie Staat, Wirtschaft, Politik oder Religion und in kleinen Systemen: Familie, Schule, Schulklasse und Zweierbeziehungen, sogenannten Dyaden7. Sie erklärt Wir-Identitäten und Ich-Identitäten. Luhmann geht davon aus, dass Politik, Wirtschaft, Verwaltung, Vereine, Schule, Familie oder Liebesbeziehungen jeweils soziale Spezialsysteme sind, die gesellschaftsbildende Aufgaben übernehmen (Luhmann 1984). Da sich das Kind in verschiedenen Systemen wie Familie und Schule auf- und verhält, liegt der Gedanke nahe, die Wechselwirkungen innerhalb der Systeme zu beobachten, um das Verhalten der Einzelnen innerhalb eines Systems zu erkennen und zu beeinflussen.

Die Systemtheorie in der Sozialen Arbeit Sozialarbeiter werden sagen, dass sie bereits »systemisch« arbeiten. Denn die Systemtheorie ist auch in der Sozialen Arbeit angekommen (Just 2017). Soziale Wirkungszusammenhänge

Sozialarbeiter erkennen lineare offenliegende Wirkungszusammenhänge. Jeder Beteiligte reagiert demnach direkt auf die äußeren Umstände, die auf ihn einwirken. 7 Eine Dyade ist eine enge Zweierbeziehung zwischen zwei Menschen, die intensiv zusammen sind und sich zusammengehörig fühlen: Ehe- oder Lebenspartner, beste Freunde, Mutter und Kind, Vater und Sohn. Der Begriff Dyade ist auch für das System »Schulbegleiter-und-sein-Kind« angebracht, weil eine dyadische Beziehung (beidseitiges Zusammengehörigkeitsgefühl) zwischen Schulbegleiter und Kind stets, von außen und innen betrachtet, zu erkennen ist. Zwischen beiden hat sich im Laufe der Zeit ein enges, inniges, vertrautes Verhältnis entwickelt. Die Systemtheorie in der Sozialen Arbeit

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Das klassische Beispiel: Der Vater verliert seinen Job, das Geld wird knapp, sein Selbstbewusstsein ist angekratzt. Er trinkt immer öfter ein Glas zu viel, das Geld wird noch knapper, seine Frau immer frustrierter. Sie macht ihm Vorwürfe, beide streiten immer öfter. Wenn er betrunken ist, schlägt er vor Wut seine Frau. Das Kind schaut voller Angst zu, macht wieder ins Bett, hat keine Lust mehr auf die Schule. Zu Hause herrscht Familienstress statt Familienfreude. In der Schule regieren Unlust und Übellaunigkeit – und die Gewaltbereitschaft des Kindes nimmt zu. Manchmal sind die Wirkungszusammenhänge eines sozialen Systems aber auch verdeckt und vielleicht sogar den Beteiligten selbst nicht bewusst. Der Vater mag kleine Kinder, besonders mag er Tochter Lara. Vater und Mutter sind gut situiert. Eine scheinbar glückliche Familie. Lara ist immer gerne für sich allein, spielt lieber mit ihrer Katze als mit anderen Kindern, sagt die Mutter. Mit ihrem Vater versteht Lara sich besonders gut, die beiden hängen gerne zusammen, sagt die Mutter. Dass der Vater besonders gerne mit Lara allein kuschelt, sieht die Mutter schon, aber kuscheln nicht alle Väter gerne? Die Mutter tut alles für die glückliche Familie, denn als glückliche Familie sind sie im Freundeskreis und in der Nachbarschaft anerkannt: Immer schön den Frühstückstisch decken, denn gemeinsames Frühstücken ist gut für die Familienkultur. Immer frische Blumen in den Vasen, immer gemeinsam auf den Spielplatz und in den Urlaub. Wir sind eine glückliche Familie, denn alle Familien-Symbole stimmen. Darum bemüht sich die Mutter. Das ist ihre Rolle. Dass das Verhältnis der Tochter zum Vater so eng ist, sei doch gut, meint die Mutter und lässt die beiden schon mal zum Kuscheln allein. Lara mag ihren Vater, denn Mama sagt, dass Vater der Beste ist. Der kuschelt doch so gerne. Lara mag nicht so viel kuscheln. Manchmal soll sie Papa auch da anfassen. Dann lacht Papa. Lara mag das nicht. Aber Mutter freut sich doch, wenn wir uns gerne haben, dann muss ich Vater doch gernhaben. Der Vater findet seine Lara so süß. Lara findet Vater auch toll, denn Mama sagt, 66

Systemtheorie als Navigationshilfe

wir sind alle eine glückliche Familie. Aber manchmal ist Lara unglücklich. Mama sagt dann: Wir gehen ein Eis essen, und Lara solle noch daran denken, ihre Katze zu füttern. In der letzten Zeit wird Lara in der Klasse immer stiller, zieht sich zurück, weint viel und bei kleinsten Anlässen. Wenn die Lehrerin Lara fragt, dann sagt Lara, sie vermisse ihre Katze. Lara ist verhaltensauffällig. In diese (Un-)Tiefen der Ur­­sachen von Verhaltensauffälligkeiten dringt die klassische Sicht der Sozialarbeit jedoch selten vor. Die verborgenen Wirkungszusammenhänge: Die Mutter verdrängt das Geschehen; sie sieht einfach nicht, was sie nicht sehen will. Das Kind erfüllt den offenen und latenten Wunsch der Mutter nach einem heilen Familienbild. Es verhält sich kooperativ im Sinne des Vaters und der Mutter – trotz widersprüchlicher Gefühle und Ekel. Damit holt sich das Kind Lob und Anerkennung der Mutter. Der Vater wiederum erkennt nicht, wie übergriffig, abstoßend und rücksichtlos er sich verhält, denn die Mutter hält ihm einen falschen Spiegel vor, und die Tochter will ja auch kuscheln.8 Es reicht oft nicht, die Systemtheorie nur auf der Oberfläche (wie beim klassischen Beispiel) heranzuziehen. Der Schulbegleiter sollte tiefer blicken. Laras Fall steht an dieser Stelle des Buches, weil er beispielhaft zeigt, welcher Druck und welche Kraft von Werten und Ritualen in sozialen Systemen (hier im Familiensystem) ausgehen.

8 Anmerkung: Der Fall ist ausgedacht. Wäre er real, läge eine Kindeswohlgefährdung vor. Doch das fiktive Beispiel hat an dieser Stelle seine Berechtigung. 2016 wurden ca. 12 000 Fälle von sexuellem Missbrauch offiziell strafrechtlich verfolgt, die Dunkelziffer ist deutlich größer. Untersuchungen sprechen davon, dass bis zu 7 % aller Kinder missbräuchliche Erfahrungen machen, oft in Familien. Laut offiziellem Kommissionsbericht zum sexuellen Missbrauch 2019 geschieht sexueller Missbrauch häufig in Familien (56 %). In Einzelgesprächen mit 900 betroffenen Kindern kam heraus, dass die Täter überwiegend männlich waren: 225 Väter, 79 Stiefväter, 77 Onkel, 67 Brüder, 60 Großväter, 38 Mütter (Süddeutsche Zeitung. Bericht zu sexuellem Kindesmissbrauch vom 03.04.2019). Die Systemtheorie in der Sozialen Arbeit

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Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch Viele halten die Systemtheorie für schwer verständlich. Das liegt daran, dass sie keiner linearen Argumentation folgt. Der lineare Weg hieße, eine Begriffs-Erklärung würde aus der vorherigen folgen. Die Systemtheorie hingegen ist zirkulär aufgebaut: Jede Erläuterung benutzt bereits Begriffe, die erst an anderer Stelle erläutert werden können. Es empfiehlt sich daher, die folgende Darstellung zur Theorie nicht unbedingt Schritt für Schritt zu lesen, sondern in beliebiger Reihenfolge. Systemtheoretische Begriffe, Erläuterungen und Tipps: 1. Was ist der Mensch in der Systemtheorie? 2. Was ist ein System, was eine Maschine? 3. Was ist das Individuum nach der Systemtheorie? 4. Was meint Autopoiesis? Was meint Selbstreferenz? 5. Was ist Kommunikation? 6. Was sind Erwartungen? 7. Was ist Beobachten? 8. Was ist Sinn? 9. Wie konstruieren sich soziale Systeme? 10. Ist der Schulbegleiter mit seinem Kind ein eigenes soziales System? 11. Wie kann die Dynamik des Systems »Schulbegleiter-und-seinKind« helfen, das Kind bei seiner Entwicklung zu unterstützen? 1. Der Mensch in der Systemtheorie Der Körper, das Bewusstsein oder die Seele9 sowie die soziale Gruppe sind drei Systeme, die zusammenwirken. Sie machen das Individuum aus. Der Mensch besteht aus drei Arten von Systemen: Ȥ dem biologischen System, dem Körper, der lebt; Ȥ dem psychischen System, dem Bewusstsein, das denkt und fühlt; Ȥ den sozialen Systemen, die kommunizieren und handeln. 9 Anmerkung: Der Begriff Seele ist m. E. hier zulässig, wenn mit »Seele« nicht ein religiöses Medium oder transmedial Übersinnliches gemeint sein soll. Die Seele ist das bewusste und unbewusste Erleben eines Menschen. Die Seele eines Menschen zeigt sich im Selbstwertgefühl, im Selbstvertrauen, im Selbstbild.

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Diese drei Systeme operieren wechselwirkend (Just 2017). Man denke bei Verliebten (ein soziales System) an die Schmetterlinge im Bauch (biologisches System) und an die Gefühle (psychisches System), dass er/sie ständig an sie/ihn denken muss. Oder man denke an die Angstgefühle eines Schülers, die ihm vor der Klassenarbeit Kopfschmerzen bereiten, seine Finger zum Zittern bringen (biologisch), und seine Sorge (psychisch), sich erneut vor der Familie, Mitschülern oder der Lehrerin (sozial) zu blamieren. Für den Systemtheoretiker sind die Systeme, die einen Menschen ausmachen, interessant – Körper, Seele, Wir-Gemeinschaften –, und nicht der Mensch als individuelle Ganzheit. Wir alle sind Teil von Systemen (Luhmann 1997). 2. Was ist ein System, was eine Maschine? Die Unterscheidung zwischen Maschinen und Systemen fällt leicht. Systeme leben, Maschinen nicht. Systeme erschaffen sich selbst. Maschinen, mögen sie noch so kompliziert sein, können sich (noch) nicht selbst erschaffen. Sie können nicht leben. Zumindest noch nicht heute. Maschinen sind kompliziert, Systeme sind komplex. Je näher man einer Maschine und seiner Funktionsweise kommt, desto besser kann man ihre biologischen, chemischen, physikalischen oder mathematischen Prinzipien nachvollziehen. Ein komplexes System hingegen erscheint dem Betrachter, je näher er an dessen Wirkungsgesetze und Erklärungen herankommt, immer komplexer. Oft wird in der Werbung bei einer Maschine von einem System gesprochen, obwohl nur eine Maschine gemeint ist. Der Mensch ist keine komplizierte »Maschine«, sondern ein komplexes Teil-System von weiteren Systemen.

Systeme bestehen nicht aus Dingen, sondern aus ­Operationen. Das System »Mensch« operiert durch leben, denken, fühlen, kommunizieren. Es geht aus Sicht des Schulbegleiters nicht um Hormone, Gene, Synapsen, chemische Prozesse oder Medikamente, sondern um das wachsende, denkende, fühlende und kommunizierende Kind. Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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3. Das Individuum in der Systemtheorie Der Körper, das Bewusstsein und die Community, in der der Einzelne mit anderen zusammen ist, sind Systeme. Zusammenwirkend machen sie den Menschen aus. Weder der Körper noch die Seele oder die soziale Gruppe, denen ein Individuum angehört, sind stabil oder statisch. Alle Systeme sind veränderbar. Verändern sich Elemente in diesen Systemen, verändert sich auch die Persönlichkeit des Menschen. Das Individuum besteht aus drei Arten von Systemen. Biologische, psychische und soziale Systeme operieren auf eine jeweils bestimmte, charakteristische Weise: Biologische Systeme operieren, sie leben (wachsen). Psychische Systeme operieren in Form von Wahrnehmungs- und Bewusstseinsprozessen, sie denken und fühlen. Und soziale Systeme operieren durch kommunizieren. Der Körper als System: Nicht das Individuum, sondern sein Körper ist das biologische System. Körper sind tot oder sie leben. Körper bestehen aus Elementen wie Organen, Zellen, Hormonen, genetischen Dispositionen, etc. Schon im Mutterleib lebt der Körper. Er holt sich aus der Umwelt (der Plazenta) das, was er zum Leben braucht, und zwar selbstständig. Der Körper operiert, er lebt. Das Gehirn ist ein lebendes Organ, Zellen werden geteilt, entstehen neu, werden verknüpft, Botenstoffe bewegen sich usw. Das Gehirn lebt. Es denkt und fühlt aber nicht, das macht das Bewusstsein. Das Bewusstsein als System: Das Bewusstsein des Menschen ist nach der Systemtheorie ein psychisches System (Baecker/­Luhmann 2004). Die Elemente des Bewusstseins heißen Gedanken und Gefühle. Das Bewusstsein operiert, es denkt und fühlt. Allein das Bewusstsein ist in der Lage zu denken und zu fühlen. Auch das Unterbewusstsein ist Bewusstsein, wenn auch hier die semantische Äußerung (noch) nicht passiert ist. Gedanken denken Im Grunde sind Gedanken ein Sammelbegriff für alles, was neben Gefühlen in unserem Inneren vor sich geht. Dazu zählen Erwartungen (dein Kind erwartet auch heute, dass du zuverlässig bist, da du bisher immer zuverlässig warst), Einstellungen (zu Ehre oder Schande, zu Leistung oder Erfolg, zu persönlichen Freiheiten oder 70

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Normierungen, zu Gewaltbereitschaft oder Friedfertigkeit), Einbildungen (für die eine Gemeinschaft ist Gott wahrhaftig und real existent, für andere Gemeinschaften ist Gott eine reine Erfindung), Erfahrungen, Erinnerungen und Fantasien. Auch der Wille, Zweifel oder ein schlechtes Gewissen sind Gedanken. Gedanken über sich selbst führen zum persönlichen Selbstkonzept, zum Bild seines Selbst. Gefühle fühlen

Die Gedanken operieren im Bewusstseinssystem wechselwirksam mit den Gefühlen. Sie äußern sich in Angst, Wut, Trauer, Furcht, Sorgen, Ekel, Gier, Neid, Freude, Liebe, Stolz oder Sehnsucht. Auch Irritationen, Wünsche, Hass, Verlangen usw. gehören dazu. Besondere Aufmerksamkeit legt der Schulbegleiter mit Blick auf sein Kind auf das Wir-Gefühl, das Gefühl zusammenzugehören, und das Selbstwertgefühl, sich gut in seiner Haut zu fühlen. Im Bewusstsein werden Elemente, bestehend aus Gedanken und Gefühlen, miteinander verbunden und wirken aufeinander ein. Sich nicht anerkannt oder ignoriert zu fühlen, kann zur Angst vor der Klassenreise führen. Angst vor Klassenarbeiten führt mitunter zu erhöhter Herzfrequenz. Zittern, Atemnot oder Einnässen führen zu Scham und Fluchtgedanken. Wir-Gefühle führen u. a. zu Sicherheit (z. B. sich auf die Beziehung verlassen können), Stolz (auf Eigenleistung/Stolz mit seinem Schulbegleiter zusammenzugehören) oder Wut (z. B. wenn religiöse Symbole geschändet werden). Hass-­Gefühle führen zu Wut und Rachegedanken. Die soziale Gemeinschaft als System: Soziologische Systemtheoretiker wie Luhmann setzen ihren Fokus auf jene Gemeinschaften (Communities, Kollektive, Gruppen, Dyaden, etc.), denen Menschen angehören. In sozialen Systemen verhalten sich Individuen gemeinsam, sie kommunizieren. Die Elemente des Sozialen Systems sind Sinn10, Werte, Normen, Prinzipien, Regeln usw. Wir Menschen fühlen uns in sozialen Systemen zu Hause. Hier (er)leben wir gemeinsam Sinn und Werte. Diese Werte werden auf Regeln, Rituale und Symbole reduziert. Wer mitmacht, z. B. die glei10 Sinn meint hier die Idee, das Ziel und den Zweck des Zusammenseins. Gemeint sind weder die fünf Körpersinne noch übersinnliche Wahrnehmungen. Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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che Mütze trägt, die gleichen Lieder singt, gehört schon auf gewisse Weise dazu. Zugehörigkeit gibt uns Kraft, Sicherheit und Solidarität. Das Zugehörigkeitsgefühl macht friedlich nach innen (es sei denn, es gibt Hierarchie-Streitigkeiten) und skeptisch nach außen. Der Gegner oder Feind ist immer draußen, trägt andere Kleidung, singt andere Lieder. Auch das soziale System operiert. Wenn Menschen miteinander kommunizieren, entstehen soziale Systeme. Diese Systeme nennen sich Ehe, Familie, Schulklasse, Dorf, Religionsgemeinschaft, Nation, etc. Individuen in sozialen Systemen sind Gemische verschiedener Systeme. Ein Individuum kann zugleich Deutscher, (Un-)Gläubiger, Dorfmitglied, Bayern-Fan, Sohn in der Familie, Schüler der Klasse 4a oder auch Kind in der Beziehung mit seinem Schulbegleiter sein. Weil Menschen kommunizieren, bilden sie soziale Systeme. Durch Kommunikation werden soziale Systeme gebildet Kommunikation ist Sprache, verbal wie nonverbal. Auch Gestik, Mimik sowie Handeln und Interaktion sind eine Form der Kommunikation. Um es mit dem Kommunikationswissenschaftler und Psychologen Paul Watzlawick zu sagen: Wir können nicht nicht kommunizieren (Watzlawick/Beavin/Jackson 2011). Kommunikation geschieht immer durch Medien. Das wichtigste Medium für Menschen ist die Sprache. Auch eine Vereinsflagge, ein Kopftuch oder der Stundenplan, der Stinkefinger, der Wutausbruch oder der Kuss sind Medien. Sie vermitteln Botschaften. Jedes Verhalten ist Botschaft und damit Kommunikation. Eine Mutter, die ihr schreiendes Baby allein zurücklässt, kommuniziert mit ihrem Kind durch Botschaften der Ablehnung und Verweigerung. Das lobende, anerkennende Schulterklopfen des Schulbegleiters bei seinem Kind ist Kommunikation. Durch Kommunikation werden soziale Systeme gebildet. Der Begriff Kommunikation meint also auch Sozialverhalten, denn Sozialverhalten ist Kommunikation. Dieses Strukturieren ist keine Haarspalterei. Diese Betrachtung ist deshalb so wichtig, weil nur Kommunikation Gesellschaft schafft. Durch Kommunikation bildet sich das System »Schulbegleiter-undsein-Kind«. Und dieses System wird das Verhalten des Kindes nachhaltig verändern. 72

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Wenn zur Einschulung 25 Schüler per Behördenbeschluss zusammen in eine Klasse gewürfelt werden, dann ist das noch keine Schulklasse. Denn würde man diesen Kindern die Wahl überlassen, würden sich Gruppenstrukturen ergeben, die eben nicht Schulklassen-­gerecht wären. Das Buch/Der Film Herr der Fliegen11 hat uns das anschaulich vor Augen geführt. Zur Schulklasse wird die Gruppe von 25 Kindern erst durch die Kommunikation der Klassenlehrerin, die das soziale System Schulklasse 1b gezielt bildet. Das macht sie u. a. durch Rituale (Morgenlied, Sitzkreis, klasseninterne Dienste verteilen, in Reihe gehen bei Ausflügen), durch Symbole (Sitzordnung, Klassenfoto, Wahl des Klassensprechers), durch Verhaltensregeln zum Miteinander, durch Vorgaben und Gebräuche (still sein und zuhören, sich melden, Unterrichts- und Pausenzeiten) sowie klassentypische Erwartungsformulierungen (Wir sind gewaltfrei! Wir sind pünktlich! Wir machen Hausaufgaben!). Erst durch Kommunikation bildet die Lehrerin ihre Klasse. Erst der Schulbegleiter bildet durch Kommunikation das soziale System »Schulbegleiter-und-sein-Kind«. Das Kind wird durch Kommunikation seines Schulbegleiters mit ihm zum Teil eines neuen sozialen Systems. Der Schulbegleiter installiert durch Kommunikation und Handeln im neuen System Elemente wie Sinn, Werte, Rituale und Regeln, um sich mit seinem Kind systemisch zu verbinden (mehr dazu in Kapitel 4, Zusammensein und Wir-Gefühl). 4. Was ist Autopoiesis? Was meint Selbstreferenz? Das System Körper, das System Bewusstsein und das System der sozialen Zugehörigkeiten (Wir-Gemeinschaften) unterliegen den Mechanismen der sogenannten Autopoiesis und der Selbstreferenz (Luhmann 1984). Der Begriff Autopoiesis beschreibt den Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung eines Systems. Systeme erschaffen sich demnach 11 Obwohl alle Kinder aus »gutem Hause« kommen, verhalten sie sich in einem anderen Kontext – als Überlebende auf einer Insel – grob und gewalttätig gegeneinander. Sie entwickeln brutalste Untergruppen-Strukturen. Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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autonom – durch Auswahl und Integration relevanter, für sinnvoll gehaltener Elemente aus ihrer Umwelt. Systeme reagieren autonom auf Umwelteinflüsse. Allerdings nur auf jene Einflüsse, die sie zulassen – und zwar die, die das System zu seiner Erhaltung und Reproduktion benötigt, um seine Existenz zu sichern und zu optimieren (Irrtum eingeschlossen). Ein Kind, das nicht stillsitzen kann, wird die Botschaft der Lehrerin, es möge doch endlich still sitzen, nicht zulassen, wenn es die Botschaft für seine Existenz und Optimierung gerade jetzt im Augenblick nicht gebrauchen kann. Auch, wenn die Lehrerin es anschreit (»Ich hab’ es dir schon tausendmal gesagt!«), wird dieses Kind die Botschaft nicht annehmen, wenn es die Botschaft im Augenblick nicht für sich relevant, interessant oder nützlich hält. Das System handelt immer autonom. Nur, was dem Kind nützt, ihm Vorteile bringt, interessant und relevant erscheint, um sich zu optimieren, nimmt das Kind in sein Bewusstsein auf (vgl. Kapitel 5, Baustein Lernen). Selbstreferenz besagt, dass Systeme durch die Eigenwahrnehmung beeinflusst werden, in Differenz zur Umwelt. Ein Apfelkern will ein Apfelbaum werden und kein Birnbaum. Deshalb entnimmt der Apfelkern aus der Umwelt nur die Elemente auf, die er braucht, um ein Apfelbaum zu werden. Auch ein soziales System will sich optimieren, will wachsen, will gedeihen. Eine religiöse Vereinigung will die glaubensfesteste sein, eine Ehe will die liebevollste sein usw. In welcher jeweiligen »Disziplin« das soziale System jeweils führend sein will, wird beeinflusst durch die jeweilige Eigenwahrnehmung der internen Werte und Prinzipien, der Regeln, der Normen, der Maximen usw. Ob ein Apfelbaum oder eine soziale Community – ein System entnimmt aus der Umwelt jene Elemente, von denen es annimmt, dass es sie zum Optimieren und Gedeihen des eigenen Selbst braucht. Systeme wachsen per inneres Gesetz

Systeme bestehen nicht aus statischen Dingen, sondern aus dynamischen Operationen. Sie müssen operieren, sonst existieren sie 74

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nicht. Pflanzen gehen ein, Vereine sterben, Familien lösen sich auf, wenn sie nicht mehr operieren. Pflanzen werden prächtig, wenn die Umweltbedingungen ermöglichen, dass die richtigen Elemente vorhanden sind und sie diese selektieren und aufnehmen können. Sie sterben, werden krank oder lösen sich auf, wenn die Umweltbedingungen sich verschlechtern. Trockenheit ist schlecht für Feuchtigkeit liebende Pflanzen. Wenn der Sportverein laufend Wettbewerbe verliert und dadurch weniger Einnahmen verzeichnet, verliert er Mitglieder und wird bedeutungslos. Ein neuer Lebenspartner tritt an die Stelle des alten. Die Familie verändert sich, wächst oder schrumpft. Das ist der Kern der Systemtheorie. Es geht nicht um Stoffwechsel, es geht nicht um Anpassung. Es geht im Grundsatz darum: Ein System hört auf zu existieren (oder wird krank), wenn das System aufhört, aus seiner Umwelt Elemente aufzunehmen, um sich zu reproduzieren und zu optimieren. Das gilt für biologische wie für soziale und psychische Systeme. Zellen, Organe und Hormone sind darauf ausgerichtet, Körper zu optimieren. Gedanken und Emotionen sind darauf ausgerichtet, das Bewusstsein zu optimieren. Soziale Kommunikation ist darauf ausgerichtet, Wir-Gemeinschaften zu optimieren. Systeme reproduzieren sich selbst. Sie sichern sich stets ihre eigene Anschlussfähigkeit. Die Prinzipien der Selbsterschaffung und -erhaltung

Die Mitglieder einer prestige- und status-orientierten, patriarchalisch organisierten Familie beobachten (subjektiv), dass ihre männlichen Familienmitglieder als die coolsten, stärksten und kantigsten Männer im Viertel gelten. Nun erwarten sie selbst, dass ihr männlicher Nachwuchs sich machohaft benimmt. Sie kopieren also diese Erwartung (cool, Macho, stark sein) in ihre Familie hinein, und machen sie zum Wesensmerkmal ihrer Familie. Der fünfjährige Maik bekommt schon eine gestylte »Macho-Frisur«. Niklas Luhmann bezeichnet dieses Schema, dass Systeme das Beobachtete, die Differenzen zur Umwelt, nach innen kopieren und zum Wesensmerkmal definieren, als Selbstreferenz. Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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Dass Systeme ihr Überleben autonom selber erhalten und ihre Anschlussfähigkeit durch Selektionen aus der Umwelt sichern, nennt Luhmann das Prinzip der Autopoiesis und das Prinzip der Selbstreferenzialität. Es sind die Prinzipien der Selbsterschaffung und -erhaltung. Das Kind wird sein geliebtes/geschätztes System »SchulbegleiterinKind«, von dem es selbst ein Teil ist, ernähren und optimieren wollen. Es wird aus seiner Umwelt die Werte, Prinzipien und Verhaltensweisen aufnehmen, die es für interessant, bedeutend und gedeihlich für dieses System hält. Denn es will seinem System Gutes tun. Es hat selbst einen Vorteil davon. Das Kind akzeptiert und erlernt so gewünschtes Verhalten. Insbesondere dann, wenn der Schulbegleiter diese Werte, Prinzipien und Verhaltensweisen vorlebt und sein Kind neue positive Erfahrungen mit ihm und durch ihn macht. 5. Was ist Kommunikation? Kommunikation ist der Austausch von Nicht-Verstandenem. Wer sich versteht, braucht nicht mehr zu kommunizieren. Ein bekanntes, aber zu simples Kommunikations-Schema besagt: Der Sender übermittelt eine Botschaft via Medium an den Empfänger der Botschaft, der diese Botschaft annimmt. Diese simple Betrachtung genügt nicht (Watzlawick/Beavin/Jackson 2011). Wenn die Botschaft empfangen wird, aber trotzdem nicht ankommt

Der Schulbegleiter kommt am Montagmorgen in die Klasse. Sein zu begleitendes Kind, Max, ist schon da. Max prügelt sich gerade mit Benjamin. Er fordert Max auf, er solle aufhören, sich zu prügeln. Max reagiert nicht. Hat er den Schulbegleiter nicht gehört? Doch, hat er. Aber er hört nicht auf das, was sein Schulbegleiter kommunizieren will. Systeme nehmen nur das auf, was ihnen nützt. Das Aufhören nützt Max aber gerade in diesem Augenblick nicht. Oft fallen Pädagogen auf das althergebrachte simple Kom­ munikationsmuster herein. Der Erwachsene als Sender über76

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mittelt eine Botschaft (Hör auf zu prügeln!) per Sprache (Medium) an Max (Empfänger). Dieser hört die Botschaft, aber hört dennoch nicht auf. Max verkeilt sich stattdessen regelrecht mit Benjamin. Kommunikation ist das grundlegende Instrument des Sozialen. Kommunikation passiert durch Sprache, durch Nonverbales, durch Verhalten und Interaktion. Das laute oder wütende Wort, die aggressive Geste, die Kleidung, die Erwartung, pünktlich Montagmorgen in der Schule zu sein, Benjamin (momentan) nicht leiden zu können und zu hauen, sogar die Sitzordnung in der Klasse – all das sind Formen der Kommunikation. Betrachten wir die Beispielsituation von Max durch die Brille des systemtheoretisch sensibilisierten Schulbegleiters: Max und Benjamin prügeln sich. Der Schulbegleiter sagt: »Hey Benjamin, ihr streitet zu wüst! Hört auf! Max’ neue Lederjacke kann schnell kaputtgehen!« Denn der Schulbegleiter weiß: Max hatte von seiner Mutter eine Jacke geschenkt bekommen. Diese wird nicht so leicht ersetzt werden können. Max war Freitag damit stolz (Jacke als Symbol) in die Schule gekommen. Obwohl der Schulbegleiter sieht, dass Max und Benjamin sich prügeln, gibt er die Information zum potenziellen Verlust der Jacke nicht an Max, seinen Schützling, sondern an Benjamin weiter. Damit informiert er Max indirekt, dass die geliebte Jacke zerreißen kann. Der Schulbegleiter weiß, dass Max lieber seine Jacke schützt als seine Haut. Was sind schon blaue Flecken gegen eine kaputte Jacke. Diese Information nützt Max. Er hört auf, sich zu schlagen. Der Schulbegleiter hat die Erfahrung gemacht, dass Max, wenn er in Rage ist, keine Zurechtweisung aufnehmen kann. Der vernünftigere Benjamin hingegen kann das. Deshalb spricht der Schulbegleiter im Streit Benjamin und nicht Max an. Max hört, obwohl er nicht direkt angesprochen wird, sehr wohl, dass die teure Jacke zerreißen kann, denn diese Mitteilung ist für ihn relevant. Benjamin fühlt sich durch die Anwesenheit und das Eingreifen des Schulbegleiters sicher und lässt sich aus dem Streit bringen. Benjamin nützt das Eingreifen des Schulbegleiters ebenso. Er hört auf zu streiten. Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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»Hey Max, wie geht’s dir? Wie war dein Wochenende?«, fragt der Schulbegleiter. Max spürt, dass der Schulbegleiter ihn vom Streit ablenken will. Gleichzeitig ist er froh, dass die Prügelei zu Ende ist (genau genommen, dass die Jacke keinen Schaden mehr nehmen wird). Max vermutet, dass die Frage nach dem Wochenende nicht ernsthaft gestellt ist. »Hmmm«, sagt er und geht zu seinem Platz. Der Schulbegleiter weiß, dass »Hmmm« nicht die Antwort sein kann. Es liegt noch was im Argen. Die Lehrerin beginnt mit dem Unterricht: Begrüßungsritual, Sitzkreiskreis bilden usw. Max gähnt, lässt den Kopf hängen, bleibt an seinem Platz und fängt an, einen Rap-Song zu imitieren: … »Max, lass uns nach draußen gehen, dein Song stört die ganze Klasse.« Max kooperiert, denn draußen fühlt er sich besser als drinnen, er geht mit seinem Schulbegleiter raus. Der Schulbegleiter fragt: »Na Max, wie war dein Wochenende?« Max tut so, als hätte er nicht zugehört und die Frage nicht verstanden. »Max, was hast du so gemacht am Wochenende?« Max antwortet wortkarg: »Nix …« Der Schulbegleiter hakt nach: »Wie nix? Max, das glaube ich nicht. Irgendwas musst du doch gemacht haben. Irgendwas muss doch passiert sein und wenn es noch so wenig war. Nix passieren, geht nicht. Nix kann man gar nicht machen. Irgendwas muss jeder gemacht haben, du also auch …« Durch Fragen und Antworten, Zuhören und Reden, Interpretieren und Nachdenken, Verstehen und Nichtverstehen begreift der Schulbegleiter seinen Max. Max hat das ganze Wochenende über an der Computer-Konsole gespielt. Er war im Internet. Er war viel allein. Er hätte gerne mit Freunden gespielt. Aber er hat sich nicht getraut, Freunde aus der Klasse anzurufen. Er ist dann Montagmorgen eigentlich gerne zur Schule gegangen, er hat sich auf Freunde gefreut. Aber Benjamin hat mit Mylo geredet. Und Max hatte Sorge, dass in der Pause wieder keiner mit ihm spielen will.

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Kommunikation ist nicht simpel, sondern vielschichtig

Kommunikation ist das grundlegende Instrument des Sozialen. Ohne Kommunikation gibt es kein soziales Miteinander und damit auch keine sozialen Systeme. Kommunikation ist ein selektierender Prozess. Der Sender wählt aus, was er übermitteln will, und der Empfänger wählt aus, was er davon aufnehmen will (Becker/Reinhard-Becker 2001). Auch das, was er verstehen will, und was er nicht versteht, selektiert der Empfänger. Eine Reaktion des Empfängers erfolgt immer. Seine Antwort ist wiederum die eines Senders (die Operateure werden getauscht). Dieser Jetzt-Sender wählt seinerseits aus, was er übermitteln will. In der Regel ist es das, was er nach seiner selektiven Aufnahme verstanden bzw. nicht verstanden hat. Folglich ist Kommunikation der Austausch von selektiertem Verstehen und NichtVerstehen. Ein Individuum, das ein anderes hundertprozentig versteht, braucht nicht mehr zu kommunizieren. Vielleicht trennen sich Partner deshalb, weil sie voneinander schon alles verstanden haben und sie sich nichts mehr zu sagen haben? Durch Kommunikation werden soziale Gemeinschaften gebildet, erhalten und verändert – egal, ob sie aus zwei oder mehreren oder unendlich vielen Individuen bestehen. Über Kommunikation werden auch die Qualität und der Charakter von Beziehungen, die ein soziales System ausmachen, definiert, z. B. Liebe, Hass, Ab- und Ausgrenzungen. Zudem werden in sozialen Systemen durch Kommunikation Systemeigenschaften (Kulturen) aufgebaut, mit denen Individuen operieren können. So hören wir einander respektvoll zu, schreien uns gegenseitig an oder der Lautere setzt sich durch. Es werden Systemstrukturen wie Macht (hierarchische Ordnung, autoritäre oder demokratische Muster) aufgebaut und zementiert, und es werden Systemprozesse (für Werte, Regeln, Sitten, Konfliktlösungsmethoden) hervorgebracht. Aber immer gilt bei Kommunikation: Es entsteht Miss-Verstehen und Nicht-Verstehen! Und das ist gut so. Denn so entsteht erst Beziehung. Natürlich gibt es auch Lügen, Intrigen, Doppelzüngigkeit. Das sind bewusst kommunizierte Missverständnisse. Diese folgen aber dem gleichen Prinzip. Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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Das Phänomen der Sinn- und Wertekonflikte

Besonders großes Unvermögen des Wahrnehmens (keine Lust zuzuhören) herrscht dann, wenn unterschiedlicher Sinn und unterschiedliche Werte in ineinandergreifenden aber widersprüchlichen Systemen stattfinden. Max gewaltbereites Familienverhalten zu Hause steht im Kontrast zu seinem freundlichen, kooperativen und kritikfähigen Verhalten in der Schulklasse. Der Schulbegleiter, der Max’ (Gewalt-)Verhalten verändern will, muss davon ausgehen, dass seine Sendung, sich nicht zu prügeln, von Max nicht auf die Art und Weise verarbeitet wird, wie er es beabsichtigt. Auch wenn Max ganz schuldbewusst und kleinlaut tut, den Kopf senkt, Benjamin die Hand gibt und »…tschuldigung« flüstert, muss der Schulbegleiter davon ausgehen, dass Max sein Verhalten nicht durch diese Handlung verändert. Er hat nur klein beigegeben (mit anderen Worten: Ohnmacht und Unverständnis erlebt). Seiner Beziehung zum Schulbegleiter hat diese nachdrückliche Aufforderung zur Entschuldigung eher geschadet als geholfen. Im besten Fall hat die Beziehung nur eine Irritation erlebt. Max wird, der Logik der Autopoiesis folgend, nur die Botschaft aufnehmen, die er nach seinem Verständnis für sinnvoll, also für ihn als bedeutend, selektiert hat. Max wird sein Verhalten erst dann ändern, wenn die Botschaft des Schulbegleiters zugunsten von konkurrierenden Einstellungen für ihn Sinn macht und ihn optimiert. Nur Botschaften, die Sinn machen, werden ernst genommen. Dabei gilt: Sie müssen für Max subjektiv Sinn machen, nicht für den Schulbegleiter. Was das Kind äußert oder wie es sich verhält, ist nicht immer das, was das Kind meint. Botschaften, Mitteilungen, Anforderungen, Anweisungen und Bitten werden nur dann vom Kind angenommen, wenn sie für das Kind Sinn ergeben, ihm helfen oder ihm nützlich erscheinen. Deshalb sollte der Schulbegleiter sein Anliegen mit einem Element verbinden, das für das Kind interessant, relevant und optimierend erscheint (vgl. Kapitel 4, Das Schulbegleitungskind: Zusammensein und Wir-Gefühl).

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6. Was sind Erwartungen und Erwartungserwartungen? Auch Erwartungen reduzieren die Komplexität in sozialen Systemen. Sie sorgen für eine gewisse Sicherheit der Teilnehmer, wie sich der jeweils andere – erwartungsgemäß – verhalten wird. Erwartungen stabilisieren soziale Systeme. Max erwartet, dass sein Schulbegleiter am Montagmorgen pünktlich (zuverlässig) ist. Da sein Schulbegleiter weiß, dass Max Pünktlichkeit von ihm erwartet, wird er sich anstrengen, pünktlich zu sein. Da Max wiederum weiß, dass sein Schulbegleiter ihn nicht enttäuschen will und folglich pünktlich sein wird, ist er selbst pünktlich. Er will ja seinen Schulbegleiter nicht enttäuschen. Dies weiß und erwartet wiederum der Schulbegleiter von Max. Auf diese Weise schließt sich die Handlung von Max an die Handlung seines Schulbegleiters und diese wiederum an die von Max an usw. Das System »Max-und-sein-Schulbegleiter« stabilisiert sich durch wechselseitige Erwartungserwartungen (Hohm 2006).

Der Erwartungsdruck ist ein gut geeignetes Mittel, einen Menschen, der im selben sozialen System ist, zu führen. Wenn der Schulbegleiter seinen Max nicht enttäuscht, wird Max ihn auch nicht enttäuschen wollen. Die Zuverlässigkeit des einen erzeugt die Zuverlässigkeit des anderen. Werte bestätigen Werte. 7. Was ist Beobachten? Beobachten ist besser als Feststellen. Das reine Feststellen wird durch eine systemische Sichtweise abgelöst, die auf Beobachten beruht. Statt festzustellen, dass Max gewaltbereit, aggressiv, wütend, verschlossen oder depressiv ist, beobachtet der Schulbegleiter das Verhalten aller Personen (Max eingeschlossen) innerhalb des betreffenden Systems (Schulklasse, Lehrer-Kind, Schulbegleiter-Kind). Er beobachtet: Wann und wie zeigt sich die Gewaltbereitschaft von Max? Wann wird Max aggressiv, wie äußert sich seine Wut in Bezug zu wem? Wann weint Lara? Wann zieht sie sich zurück? Wie klein macht sie sich? Vor wem oder was in der Klasse zeigt sie Angst? Durch das Prinzip des systemischen Beobachtens entfernt sich der Schulbegleiter von der Vorstellung, dass z. B. die Klasse aus Einzelindividuen besteht. Er beobachtet innerhalb von sozialen Systemen das Verhalten und die Kommunikation einzelner Personen Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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(z. B. Lehrer und Mitschüler) zueinander. Mit anderen Worten: Er betrachtet das Verhalten der Individuen miteinander und nicht mehr das Individuum selbst. Beobachten heißt unterscheiden Beobachten bedeutet, Differenzen zu beschreiben. Max verhält sich heute in dieser Stunde so und nicht anders, in dieser Situation so und nicht anders, im Kontakt mit Benjamin so und nicht anders. Es werden die Differenzen des einen Verhaltens zu anderem Verhalten beobachtet. Dabei weiß der Beobachter um die Unsicherheit, um seine blinden Flecken. Denn Beobachtung des Einzelnen kann nie vollständig sein, zumal der Beobachter selbst als ein Beobachtender von den anderen beobachtet wird (Just 2017). Der Schulbegleiter beobachtet also, welche Äußerungen, welches Verhalten in Bezug auf was oder wen bedeutend sind, oder zu sein scheinen. Damit rückt im Laufe der Zeit auch die Veränderung des Verhaltens seines Kindes zu anderen Kindern in den Fokus des Schulbegleiters: seines Kindes zur Lehrerin, seines Kindes zu ihm selbst. Gleichzeitig beobachtet der Schulbegleiter auch sich selbst: Wie verändert er sein Verhalten zu seinem Kind im Laufe der Zeit, durch welche Ereignisse?

Wenn der Schulbegleiter durch die systemische Brille beobachtet, nimmt er das Verhalten seines Kindes innerhalb von sozialen Systemen (Klassen-System, Lehrer-Kind-System, Schulbegleiterund-sein-Kind-System) in den Fokus. Er analysiert nicht Probleme, sondern er sucht nach Ansätzen des Gelingens im Sozialverhalten seines Kindes. Auch kann er andere Personen (Lehrer, Mitschüler), die er beobachtet hat, einbeziehen, um die Probleme auf dem Weg des Gelingens zu steuern. 8. Was ist Sinn? Es gibt Sinn und Unsinn, aber nichts ist sinnlos. Sinn selektiert, was sinnvoll ist und was nicht. Dabei kann Unsinn durchaus Sinn machen (Verhaltensstörung). Das meiste, was wir Menschen erleben, ist höchst komplex. Die ganze Komplexität der Welt können wir aber nicht fassen. Des82

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halb reduziert der Mensch ständig die Komplexität der Welt. Auch Sinn dient der Reduktion von Komplexität. Der Begriff Sinn wird hier nicht als ästhetische, moralische Kategorie benutzt. Sinn differenziert nicht zwangsläufig in gut oder falsch, richtig oder unwahr. Sinn ist hier gemeint als das, was subjektiv als sinnvoll oder sinnlos gewertet wird. So mag der gewaltbereite Max es durchaus als sinnvoll anstreben, Benjamin zu verhauen. Und die traurige Lara wird es als unsinnig empfinden, in der Schule heiter und fröhlich zu sein. Sinn hat in einem sozialen System eine funktionale Bedeutung

Sinn selektiert Optionen und Orientierungen mit dem Ziel, das System, in dem man ist, zu stabilisieren Dabei kann das Stabilisieren des Systems von außen als höchst unsinnig bewertet werden. Von innen betrachtet, macht es für Max Sinn, wenn Max einen Mitschüler verhauen will. Von außen – durch eine andere Sinn-Brille – betrachtet, macht Max’ Problemlösungsverhalten, sich zu prügeln, keinen Sinn. Der Sinn in dieser uns sympathischen Kultur ist nicht zwangsläufig der gleiche Sinn in einer anderen uns weniger sympathischen. Wenn zwei Sinn-Vorstellungen konkurrieren, wird sich der subjektiv gefühlte sinnvollere Sinn durchsetzen, auch wenn er objektiv von Nachteil ist. Der Schulbegleiter stellt dann fest, dass Max sich nicht beruhigen und von seiner Gewalttätigkeit abbringen lässt. Max beißt sich im Streit regelrecht fest und will sich nicht von Benjamin trennen lassen. Ein krasses Beispiel, wie Menschen sich im Sinn ihres Tuns verbeißen, obwohl das Verhalten unsinnig ist, ist Göbbels Rede im Sportpalast: »Wollt ihr den totalen Krieg!?« In seiner Wutrede begeisterte er Tausende von Zuhörern vom höheren Sinn des Durchhaltens und weiteren Krieges, obwohl sein Publikum 1943 wissen musste, dass der Krieg verloren war und die Katastrophe nur noch größer werden konnte. Sinn, Werte und Rituale sind also nicht immer moralisch positiv. Auch ein schlimmer Sinn, auch böse Werte und schreckliche Rituale kitten soziale Systeme zusammen und zwingen dazugehörende Individuen zum Mitmachen. Was für Max Sinn macht, nämlich seine Gewalttätigkeit, ist für Außenstehende des Systems Max unsinnig. Pädagogen nennen das eine verhaltensauffällige Abweichung. Die Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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Alles was ein Kind macht, macht im Bewusstsein (Gedanken und Gefühle) des Kindes Sinn. Das Kind wird sein Verhalten nicht ändern, weil der Schulbegleiter oder die Schule oder die Lehrer eine Verhaltensänderung für richtig und sinnvoll halten. Sondern es wird sein Verhalten erst dann ändern, wenn es Verändern als sinnvoll erlebt. Erst wenn es eine Möglichkeit sieht und bereit ist, den Sinn zu verändern, wird es sein Verhalten verändern (s. auch Kapitel 5, Respekt vor seinem Kind und dessen Handlungen). 9. Wie konstruieren sich soziale Systeme? Sinn, Werte, Rituale, Normen, Gesetze und Regeln sind Elemente, die soziale Systeme konstruieren. Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft ist dem Einzelnen wichtig. Egal, ob diese Zugehörigkeit durch Geburt auferlegt ist, oder ob sie freiwillig durch den Eintritt z. B. in einen Verein entstanden ist, das Dazu-gehören-Wollen ist für den Einzelnen wichtig. Wenn der Einzelne die Elemente einer Gemeinschaft mit anderen in der Gemeinschaft teilt, sie akzeptiert, als sinnstiftend und handlungsleitend für sich erlebt, dann gehört er dazu. Sinn, Werte und Prinzipien

Werte werden von gesellschaftlichen Gruppen durch Kommunikation entwickelt und gepflegt, damit die Menschen innerhalb einer Gemeinschaft (Wertegemeinschaft) wissen, was richtig oder falsch ist. Ohne (meist latent) definierte Werte und Prinzipien würden Menschen sich nicht verlässlich entscheiden, handeln oder kommunizieren können. Das Durcheinander in der Gemeinschaft wäre enorm, die Gemeinschaft wäre keine Gemeinschaft mehr. Sinn, Werte und Prinzipien sind abstrakt. Um sie greifbar zu machen, werden sie normiert. Normen, Gesetze und Regeln werden formuliert und überwacht. Um sie zu pflegen, an sie zu erinnern und um ihre Akzeptanz zu festigen, haben sich in Sinn- und Wertegemeinschaften Bräuche, Riten und Symboliken etabliert. Bräuche, Rituale und Symbole

Gepflogenheiten, Kleidungsstile oder Lieder schließen Menschen zusammen und bestätigen deren Wir-Gefühl. Zudem schließen sie nicht Dazugehörende aus. Wer sich komisch verhält, die falsche 84

Systemtheorie als Navigationshilfe

Kleidung trägt oder nicht mitsingt, gehört nicht dazu. Er bleibt draußen. Struktur und Status

Die Bildung eines sozialen Systems bedarf zudem einer internen Ordnung, einer inneren Struktur, die die Anordnung und Funktion der einzelnen Elemente und deren Beziehungen zueinander bestimmt. Zur Struktur gehören auch Regeln über Kommunikationsverläufe und Entscheidungswege. Dazu braucht es eine Hierarchie. Um in der Hierarchie einen Platz zu finden oder gar aufzusteigen, sind Anpassungsleistungen nötig. Der soziale Status der Mitglieder ist definiert, erst in einer sozialen Gemeinschaft erfährt der Status Auftrieb oder Ablehnung. Mit dem Grad der Akzeptanz von W ­ erte­vorstellungen, wie z. B. Ehre oder Schande, Erfolg oder Misserfolg, Fleiß oder Faulheit, Solidarität oder Verrat wachsen das persönliche Renommee und der soziale Status und Anerkennung in der Gemeinschaft. Werte, Normen und Prinzipien, Hierarchie, Renommee vereinfachen das soziale Miteinander. Sie sind Kompass, Anker und Wegweiser für das, was für die Menschen innerhalb der Gemeinschaft gültig ist. Sie bestimmen, was abgelehnt wird oder was sanktioniert werden muss, und was unveräußerlich ist. Sie geben Sicherheit im Miteinander. Wertegemeinschaften können groß – wie Nationen oder Glaubensgemeinschaften – sein, oder klein wie die Familie, die Schulklasse, die Klassenclique. Auch Zweierbeziehungen wie die Ehe, eine enge Freundschaft oder die Dyade »Schulbegleiter-und-sein-Kind« sind Sinn- und Wertegemeinschaften. Kleine Wertegemeinschaften prägen unseren Alltag

Auch in kleinsten sozialen Gemeinschaften funktionieren Werte dynamisch als Kitt und Motor. Gemeinsame Wertvorstellungen fördern den Zusammenhalt. Sie bilden die Basis für Denken, Fühlen, Handeln und Kommunizieren von Personen in Wertegemeinschaften. Werte bilden Teile der Persönlichkeit. Wertegemeinschaften in Form von Dyaden (Zweierbeziehungen) entstehen meist durch zufällige Ereignisse (z. B. einen Flirt). GemeinDie Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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sames Sinnerleben bewirkt und stärkt dann den Zusammenhalt, die beiden Teilnehmer werden zu einem »Wir«. Dyaden (Zweier-Gemeinschaften mit »Wir«-Gefühl) können auch durch künstliche Ereignisse erschaffen werden. So wie die Dyade »Schulbegleiter-undsein Kind«. Der systemisch navigierende Schulbegleiter wird mit seinem Kind eine Sinn- und Wertegemeinschaft bilden (s. in Kapitel 5, 14 Bausteine für Konzepte). Um das System »Schulbegleiter – Kind« aus Interessenssicht des Kindes zu stabilisieren und zu entwickeln, wird das Kind zunehmend Werte, Prinzipien, Regeln und Rituale, die der Schulbegleiter kommuniziert und vorlebt, lernen. Denn es will das System (sein System) stabilisieren und optimieren, da es ihm Vorteile bringt. 10. Ist der Schulbegleiter mit seinem Kind ein eigenes soziales Wertesystem? Erst der Schulbegleiter erschafft das soziale System »Schulbegleiterund-sein-Kind«. Er ist verantwortlich für die Strukturelemente Sinn, Werte, Regeln, die dieses System ausmachen sollen. Neben Sinn, Werten und Regeln wird der Schulbegleiter auch Rituale und Symbole erfinden, um an die Strukturen mit dauerhaftem Charakter in seinem Wertesystem zu erinnern und diese zu festigen. Sich verändernde und akzeptierte Werte innerhalb eines sozialen Systems verändern die Persönlichkeit und damit soziales Verhalten. Weil Werte auch Elemente der individuellen Persönlichkeit sind, sind sie besonders wichtig. Der Schulbegleiter sollte sich über seine präferierten Werte und Prinzipien im Klaren sein. Denn die von ihm installierten – also vorgelebten und ritualisierten – Werte und Prinzipien verändern das Verhalten seines Kindes. Welche möglichen Werte und Prinzipen kann der Schulbegleiter in seinem System installieren? Ȥ Die Würde der Persönlichkeit des Kindes: Das Kind wird als ganze Person (autonom operierendes System) und nicht als ein noch unvollkommenes Wesen gesehen. Ȥ Die Einmaligkeit des Kindes: Das Kind darf autonom und eigenkreativ sein. 86

Systemtheorie als Navigationshilfe

Ȥ Das Selbstwertgefühl des Kindes: Dieses ist zu achten und aufzubauen. Ȥ Toleranz gegenüber der mitgebrachten Kultur: Familientradition, Religion, Bräuche und Sitten werden respektiert (soweit sie nicht kontraproduktiv sind oder das Kindeswohl gefährden). Ȥ Solidarität: Die Zusammengehörigkeit mit seinem Schulbegleiter wird stets gefördert und demonstriert. Ȥ Konfliktfähigkeit: Das Verhalten in Konflikten im schulischen Alltag ist getragen von Freundlichkeit, Rücksichtnahme und Hilfsbereitschaft. Ȥ Selbstständigkeit: Die Selbstverantwortung des Kindes wird gefördert. Dazu zählt auch die Beachtung, wann und wie sich das System auflöst (oder auflösen sollte, wenn das Kind sich gut entwickelt hat). Denn Schulbegleitung ist eine Maßnahme auf Zeit, und die Selbstständigkeit des Kindes ist deren Ziel. Die Werte, Prinzipien und Regeln, die der Schulbegleiter selbst in den für das Kind relevanten Systemen (Schulklasse und Schulbegleiter-und-sein-Kind) vorlebt, werden Elemente der Persönlichkeit seines Kindes (vgl. Kapitel 5, Baustein 10: Werte). 11. Wie kann die Dynamik des Systems »Schulbegleiter-undsein-Kind« helfen, das Kind zu entwickeln? Systeme werden von innen und von außen als solche wahrgenommen. Die Lehrerin erkennt und erlebt das System »Schulbegleiter-undsein-Kind« als eine Einheit. Die Zusammengehörigkeit der beiden erkennen auch die Mitschüler. Dass sie zusammengehören, erleben Max und sein Schulbegleiter tagtäglich in der Klasse. Der Schulbegleiter und sein Kind haben eine innige Beziehung. Das sehen alle. Das Verhältnis ist so innig, dass sie Sinn und Werte dieser Gemeinschaft gemeinsam erleben. Das zeigt sich an ihren eigens geschaffenen Ritualen, ihren eigens für ihr System geschaffenen Regeln. Der Schulbegleiter hilft, unterstützt und beschützt sein Kind. Er zeigt stets aufrichtiges Interesse für sein Kind. Er versteht sein Kind und hat Verständnis (s. Beobachten). Er schimpft nicht, er wird nicht laut, er verlangt nichts Unmögliches (s. Kommunikation). Er lebt die richtigen, also sozial erwünschten Werte vor. Er ist immer freundDie Systemtheorie – ein Erklärungsversuch

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lich, immer rücksichtsvoll und empathisch. Er droht nie und er lässt sein Kind bei Problemen nie allein. Er hilft, wo er kann. Die Hierarchie ist eindeutig. Sie wird auch von Max anerkannt, denn der Schulbegleiter hilft ihm durch seine Stärke, auch bei Wiedergutmachungen gegenüber anderen (mehr dazu in Kapitel 6, Strategien für Rüpel, Rowdies und Rabauken). Der Schulbegleiter ist zuverlässig und immer da, wenn sein Kind ihn braucht. Der Schulbegleiter ist Vorbild und Wegweiser. Er lebt seinem Kind Werte und Normen vor und zeigt durch dieses Vorleben, was richtig und was falsch ist. Er konzentriert sich bei seinen Beobachtungen und Maßnahmen auf die relevanten sozialen Systeme statt auf einzelne Individuen. Der Schulbegleiter ist geduldig und gelassen. Denn er weiß, sein Kind als Teil des Systems »Schulbegleiter-und-sein-Kind« wird sein auffälliges Verhalten ändern. Wohlwissend: Es ist keine Frage der Zeit, sondern eine Frage der kleinen Fortschritte, der Beharrlichkeit und Geduld. Nicht der Schulbegleiter allein als Person, sondern der Schulbegleiter als Teil des Systems »Schulbegleiter-und-sein-Kind« entwickelt durch seine Haltung, seine Werte, sein Kommunizieren und Handeln innerhalb der relevanten sozialen Systeme sein Kind.

Fazit: Systemtheorie für Schulbegleiter Empathie für das zu betreuende Kind ist unerlässlich, mitfühlen zu können, ist wichtig. Empathie reicht aber nicht aus, um ein seelisch gestörtes und dissoziales Kind weiterzuentwickeln. Der Schulbegleiter braucht eine theoretische Grundlage für seine Arbeit. Die Systemtheorie liefert als Navigationssystem diese Basis (Miller 2001), auf der er sein Kind begleiten und pädagogisch wirken kann. Der Schulbegleiter nimmt das menschliche Grundbedürfnis seines Kindes nach Zugehörigkeit, nach Beziehung und Wertschätzung in sozialen Systemen auf. Er verortet das Erleben dieser Grundbedürfnisse nicht beim Kind als Individuum, sondern er verortet das Kind als Teil jener sozialen Systeme, wo Beziehung und Wertschätzung tatsächlich geschehen und erlebt werden. Dazu installiert 88

Systemtheorie als Navigationshilfe

der Schulbegleiter eigens ein neues Sinn- und Wertesystem, das System »Schulbegleiter-und-sein-Kind«. In diesem System gestaltet und kommuniziert der Schulbegleiter systemstrukturierende Elemente wie Sinn und Werte. Er verfestigt diese durch Rituale, Prinzipien, Regeln, Symbole und auch durch sein Verhalten als Vorbild. Sein Kind wird diesen Struktur-Elementen folgen wollen, wenn es Sinn darin sieht, weil es Vorteile daraus zieht. Es wird seine Gedanken und Emotionen ändern. Es fühlt sich besser, weil es immer besser wird. Das ändert seine Einstellungen, seine Kommunikation und sein Handeln. Analysen zu Problemursachen für Verhaltensauffälligkeiten helfen dem Schulbegleiter oft nicht weiter. Besser ist, zu beobachten, was in den sozialen Systemen (Schulklasse, Lehrer-Schüler, LehrerSchüler-Kind, Schulbegleiter-und-sein Kind) gut funktioniert und hier anzusetzen, indem auf das geschaut wird, was schon gelingt (s. Kapitel 5, Auf Lösungen schauen statt auf Probleme). Jedes Verhalten, auch das störende, hat in einer bestimmten Situation aus der Sicht seines Kindes einen Sinn. Dieser Sinn lässt sich durch Beobachten auch von außen erkennen. Der Schulbegleiter orientiert sich im Beobachten, Kommunizieren und Handeln auf die betreffenden Systeme (Schulklasse, Lehrer-Kind, Lehrer-Kind-Schulbegleiter, Schulbegleiter-und-sein-Kind) und nicht auf die Einzelpersonen in den jeweiligen Systemen. Schulbegleiter sollten sich auf das Gelingen fokussieren, nicht auf die Schwierigkeiten. Mit anderen Worten: Auf Problemlösungen schauen und nicht auf Probleme. Es kommt auf den kleinen Schritt im Augenblick an, dann, wenn das Kind im Augenblick entscheidet, ob das, was gerade passiert (was ihm gerade angeboten oder kommuniziert wird), ihm nützt, was Vorteile verspricht, was ihm Gedeihen verspricht. Das Kind lernt nur, was ihm interessant, nützlich und bedeutsam erscheint. Der Moment der Entscheidung, ob ihm etwas als Vorteil oder gedeihlich erscheint, ist augenblickhaft. Deshalb sollte der Schulbegleiter schnell und unmittelbar reagieren. Nicht der große Wurf zählt, sondern das Gelingen im Augenblick.

Fazit: Systemtheorie für Schulbegleiter

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Kapitel 4: Von Beginn an miteinander

Was erwarten die Schulbehörde, Schule, Eltern und die Klassenlehrerin von einer Schulbegleiterin, wenn die Schulbegleitungsmaßnahme bewilligt ist? Die Behörde erwartet, dass förderbedürftige Kinder im Rahmen der bewilligten Maßnahme an einer Regelschule individuell unterstützt und gefördert sowie in das Regelschulsystem integriert werden. Die Schule, insbesondere die Lehrerinnen, erwarten, dass die Schulbegleiterin ihrem Kind beim Lernen hilft, dass es lernt, die Klassenregeln einzuhalten und dass es in die Klasse sozial integriert wird. Die Eltern erwarten, dass ihrem Kind besser als bisher geholfen wird. Alle erwarten, dass das Kind größtmögliche Selbstständigkeit erlangt und in die Lage versetzt wird, bald seinen Weg an der Schule aus eigener Kraft weiterzugehen. Was erwartet die Schulbegleiterin? Klare Antwort: Gute Beziehungen! Sie schaut sich das Problemkind an, und entscheidet sich für oder gegen das Kind. Entscheidet sie sich für das Kind, dann ist es ab jetzt »ihr« Kind.

Besuch in einer Grundschule am Montagmorgen In den Schulklassen wird fleißig gelernt. Die Lehrerin ist eine Respektsperson, die Kinder lernen mit Freude, finden dort ihre Freunde und das Lernen macht ihnen Spaß. In modernen Schulen gibt es diese Klassen. Ohne Angst, ohne Drill, ohne Herabsetzungen. Es gibt sie viel öfter als die Presse es wahrnimmt. Aber eben nicht überall und immer. Gesellschaftliche und familiäre Strukturen haben sich stark verändert, zum Guten wie zum Schlechten. Und damit steht auch die 90

Schule vor neuen Herausforderungen. Die Schule muss mit Defiziten in Familie und Gesellschaft zurechtkommen. Soziale Probleme, schwindender Respekt vor Autoritäten (Lehrerinnen), auch Sprachprobleme der Kinder kommen in der Klasse zum Tragen. Zwei Kolleginnen berichten von ihren Hospitationen: Besuch in einer Problem-Klasse: Dies sei eine normale Schulstunde, sagt mir die Lehrerin der Problem-Klasse, krankheitsbedingt habe es mehrere Lehrerwechsel gegeben. Diese Klasse sei erheblich unruhiger als die Parallelklasse. Was die Schulbegleiterin erlebt: Disziplin ist Fehlanzeige. Ständig buhlen die Kinder um Aufmerksamkeit der Lehrerin oder ihrer Mitschüler. Sie laufen herum, zappeln. Sie können kaum still sitzen. Auf dem Stundenplan steht montags in der zweiten Stunde Mathe. Doch das Fach zu unterrichten, ist kaum möglich. Montags seien die Kinder völlig aus dem Lot, sagt die Lehrerin. Dabei ist in dieser Stunde sogar noch eine Förderlehrerin dabei, die sich um jene Kinder kümmert, die kaum Deutsch verstehen. Die Klassenregeln (Wir arbeiten leise! Wir helfen einander! Wir lassen andere ausreden! Ich melde mich!) sind an diesem Morgen nur Wort-Bilder an der Wand. Sie greifen nicht. Disziplin, Stillsitzen und ruhiges Lernen gehören offenkundig nicht zu den Stärken dieser Klasse. Ein Kind fällt mit Absicht vom Stuhl, dann folgen Tritte und Gerangel. Ein anderes Kind heult ununterbrochen. Ein weiteres Kind ruiniert das Matheheft seines Mitschülers. Zwei Kinder in der Klasse sprechen wenig oder kaum Deutsch. Alle sind unterschiedlich weit in ihrem Lernstand. Hinzu kommen zwei Kinder mit Förderschwerpunkt Lernen und sozial-emotionalem Förderbedarf. Ein weiteres Kind erhält Tabletten zur Beruhigung. Insgesamt gibt es in dieser Klasse fünf Härtefälle. Etwa ein Viertel der Klasse hat diagnostizierte Probleme. Bis es der Lehrerin an diesem Tag tatsächlich gelingt, alle Ohren und Augen der Kinder auf sich zu ziehen, ist fast schon die zweite Stunde vorbei. Besuch in einer »normalen« Klasse: In der ersten Stunde gibt es einen Sitzkreis, danach den Klassenrat. Alle Kinder sitzen im Besuch in einer Grundschule am Montagmorgen

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Kreis auf kleinen Bänken. Sie machen einen glücklichen Eindruck, wollen heute Spaß haben. Sie sehen aus, als würden sie den Spaß auch finden. Sie reden mit ihren Freunden. Sie wollen auch heute etwas lernen. Beim Lernen werden sie Erfolgserlebnisse haben. Sie mögen ihre Lehrerin und sie fühlen sich wohl im Klassenraum. Reihum erzählen sie im Sitzkreis, was sie am Wochenende erlebt haben. Meist haben sie schöne Sachen gemacht. Die Kinder erzählen gerne. Sie waren mit dem Vater auf dem Flohmarkt, sie hatten ein Fußballturnier, sie waren bei Oma, haben erst Kuchen gebacken und ihn dann gegessen. Fast alle erzählen, kaum eines schweigt. Und wenn doch, dann ist das auch in Ordnung. Danach ist Klassenrat: Im Klassenbriefkasten sind Beschwerde­ briefe von einzelnen Kinder gelandet. Diese werden jetzt besprochen. »Janis hat mich beleidigt«, heißt es da, oder »Svenja will nicht mit mir spielen.« Die Beschwerden werden im Klassenrat diskutiert. Es wird gemeinsam nach Lösungen gesucht. Kinder entschuldigen sich und versprechen sich etwas. So vergeht die erste Stunde, in der zweiten Stunde steht Deutsch auf dem Stundenplan. Aber erst mal gibt es die Frühstückspause. In der Frühstückspause umarmt ein Kind die Lehrerin von hinten. Zwei, drei Kinder bekommen das mit. Nun stürmen viele zur Lehrerin und wollen kuscheln. Sie versucht, sich irgendwie zu befreien. Die Nähe, die die Kinder von der Lehrerin fordern, ist enorm. Es geht in der Klasse heute nicht nur ums Lernen, sondern auch um das Sozialverhalten, um Konfliktlösungsmaßnahmen und um die emotionalen Bedürfnisse der Kinder.

Lehrerinnen und Schulbegleiterinnen: Miteinander auf Augenhöhe In der Regel ist die Lehrerin froh, wenn endlich eine Schulbegleitung für das schwierige Kind auftaucht. Denn das Kind stört nachhaltig und massiv den Unterricht, hält sich nicht an Klassenregeln, sprengt immer wieder die Strukturen der Klasse, macht den anderen Kindern Angst, steht im Abseits und/oder dominiert die Klasse. 92

Von Beginn an miteinander

Das von den Medien oft gezeichnete Bild der überforderten Lehrerinnen, die ihre Klasse nicht in den Griff bekommen, ist übertrieben. Sicher: Es gibt Klassen, wo eine Lehrerin es schwer hat, produktive Strukturen für ein gutes Lernklima aufzubauen. Ebenso belegen Statistiken, dass psychische und soziale Auffälligkeiten bei Kindern zunehmen. Es gibt Klassen, in denen viele Kinder schwierig sind. Kinder, die stets im Mittelpunkt stehen wollen, Kinder, die laut, impulsiv, oppositionell und rücksichtslos sind, ungeduldige, streitsüchtige Kinder, die soziale Regeln nicht kennen oder bewusst provozieren. Doch diese Problem-Klassen sind nicht die Regel. Oft sind diese negativen Erscheinungen nur vorübergehend. Soziales Lernen wird immer mehr zum elementaren Bestandteil schulischer Lehraktivitäten. Die Lehrerinnen haben sich mit verschiedenen Methoden für soziales Lernen darauf eingestellt, dass kooperatives Sozialverhalten zunehmend von den Schulen vermittelt werden muss, weil dies weniger zu Hause geschieht. Heutige Lehrerinnen fördern das Gruppendenken und den sozialen Halt in der Klasse. Sie entwickeln Regeln und Rituale, um Spannungen und Streitigkeiten zwischen Schülern zu mindern. Sie sensibilisieren die Schüler, mit Sprache und Haltung freundschaftlich zu kommunizieren, ihre Gefühle zu benennen und achtsam mit ihren eigenen und den Gefühlen anderer umzugehen. Fazit: Es gibt zwar mehr auffällige Kinder, aber die Lehrerinnen kommen damit zurecht. Manche Kinder können jedoch nicht in der Klasse zurechtkommen, obwohl sie kognitiv und körperlich dazu in der Lage wären. Dies sind seelisch gehandicapte und dissoziale Kinder. An ihrer Seite ist nun die Schulbegleiterin. Die Lehrerin erwartet vor allem eine Entlastung bei ihrer alltäglichen Arbeit durch die Schulbegleiterin (neben der individuellen Unterstützung des Kindes beim Lernen und der individuellen Hilfe bei der sozialen Integration). Das berufliche Verhältnis zwischen Lehrerin und Schulbegleiterin

Lehrerinnen planen, unterrichten und erziehen. Sie differenzieren und individualisieren den zu vermittelnden Unterrichtstoff nach den Lern- und Entwicklungsständen der Kinder. Erfahrene Lehrerinnen Lehrerinnen und Schulbegleiterinnen: Miteinander auf Augenhöhe

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machen das sicher und routiniert. Sie begeistern und unterrichten die Klasse, sie führen kreativ und halten die Kinder unter Kontrolle. Auch die Beratung von Schülerinnen und deren Erziehungsberechtigten bei Lernschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten gehört heute nahezu selbstverständlich zu den Aufgaben von Lehrerinnen. Gespräche mit einzelnen Schülerinnen oder Erziehungsberechtigten sind Teil ihres Alltags. Jede Lehrerin möchte eine gute Lehrerin sein. Sie möchte gut und erfolgreich unterrichten, zudem beliebt bei allen Schülern sein, und alle Schüler »mitnehmen«. Besondere Schülerinnen, besondere Herausforderungen

Die Klasse zu kontrollieren, die Schülerinnen zu unterrichten, jede Schülerin mitzunehmen, einzelne Schülerinnen zu beraten – dafür sind Lehrerinnen ausgebildet. Allerdings: Manche Schülerinnen sind besonders und verlangen mehr, manche sind besonders herausfordernd. Sie können nicht still sitzen, sie können sich nicht konzentrieren, sie streiten ständig, sie beleidigen, sie zerstören Abläufe, oft ganze Unterrichtsstunden, oft ganze Tage. Sie reagieren nicht auf die von der Lehrerin gemachten Vorgaben und Angebote. Ihr besonderes Verhalten ist für die Lehrerin nicht nachvollziehbar. Es ist eher verstörend, irritierend und wird von ihr als Provokation erlebt. Diese besonderen Schülerinnen machen die Lehrerin hilflos. Denn das auffällige Verhalten scheint auch nach häufigsten pädagogischen Interventionen nicht veränderbar. Max bleibt wie er ist: Streitbar, zappelig, will immer im Mittelpunkt stehen. Er macht die Lehrerin ratlos, ohnmächtig, er verunsichert sie. Und er entzieht ihr Kraft und ermüdet sie. Das Problemkind kostet Energie und Konzentration, die sie für die anderen Kinder in der Klasse braucht. Die Lehrerin erkennt immer mehr, dass sie dem Problemkind nicht helfen kann. Das belastet sie, macht sie vielleicht sogar krank. Doch sie möchte gesund bleiben. Durchhaltewillen hat sie genug gezeigt. Die Lehrerin wünscht hier Veränderung. Für die Lernatmosphäre in der Klasse, für die Mitschüler, für das besondere Kind und für sich selbst. Sie ergreift die Initiative, damit eine weitere pädagogische Fachkraft hinzugezogen wird: eine Schulbegleitung. 94

Von Beginn an miteinander

Nach langen, zähen, aufreibenden Beantragungen und oft frustrierenden Abwehrhandlungen der Behörde wird die Schulbegleitung dann bewilligt. Ein neues soziales System entsteht Die Lehrerin steht in der Regel allein vor der Klasse, ihre Kolleginnen trifft sie im Lehrerzimmer. Sie verbringt mit ihren Schülerinnen einen Großteil des Tages gemeinsam. Für die meisten Lehrerinnen ist der Klassenraum mehr als nur ein Arbeitsort und für die meisten Schülerinnen ist es mehr als nur ein Lernort. Der Klassenraum gleicht einem Wohnzimmer. Die Schulbegleiterin stößt zur Gemeinschaft. Eine weitere Erwachsene und Pädagogin in der Klasse! Das ist neu, für die Lehrerin und für die Schüler. Sie ist nicht nur eine Stunde oder einen Tag zur Hospitation da, oder übernimmt eine Förderstunde für einen Schüler, sondern sie ist nun immer da. 15 bis 25 Schulstunden in der Woche, viele Monate lang, manchmal zwei Jahre. Die Lehrerin ist anfangs skeptisch. Zwei Pädagogen in einer Klasse, das sind 100 % mehr. Und sie ist gespannt. Vielleicht hofft sie auf eine Schulbegleiterin, die den goldenen Knopf des Problemkindes kennt: Einmal drauf drücken und Max läuft in der Spur. Gleichzeitig ahnt sie, dass Max so einfach nicht zu handhaben ist. Auch nicht von einer erfahrenen Schulbegleiterin. Auch für die Schulbegleiterin ist die Situation neu: Als sie in die Klasse kommt, kennt sie weder die Lehrerin noch die Schülerinnen. Mit Glück hat sie ihr Kind (manchmal auch zwei oder drei, denn Schulbegleiterinnen betreuen manchmal mehrere Problemkinder einer Klasse) vorher in einer Hospitation schon mal gesehen und gesprochen, mehr nicht. Vielleicht gab es noch kurz vorher ein Startgespräch mit der Schulleitung, der Lehrerin und den Eltern.

Die Lehrerin wird die Schulbegleiterin der Klasse vorstellen: »eine Hilfe für Max«, und eine kurze Selbstvorstellung der Schulbegleiterin ermöglichen: »Ich bin die neue Schulbegleiterin von Max. Was das ist, erzähle ich euch später. Ich bin ganz neu an der Schule und kenne hier nichts und niemanden. Max, kannst du mir jetzt mal die Schule zeigen?« Max fragt: »Jetzt?« »Ja. Jetzt.« Max Lehrerinnen und Schulbegleiterinnen: Miteinander auf Augenhöhe

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und die Schulbegleiterin verlassen den Klassenraum. Max nimmt das Angebot der Schulbegleiterin, eine besondere Beziehung zu ihr aufzubauen (wahrscheinlich) an. Ein Anfang ist gemacht, das erste Beziehungssignal zum Problemkind gegeben, die Selbstverständlichkeit der Schulbegleitung demonstriert. Das Verhalten von Max wird sich nicht auf Knopfdruck ändern. Das ahnt die Lehrerin, das weiß die Schulbegleiterin. Es wird ein längerer komplexer Prozess mit Höhen und Tiefen auf Max und seine Begleiterin zukommen. Lehrerin und Schulbegleiterin werden sich organisieren müssen. Sich gegenseitig unterstützen, ergänzen und vertrauen müssen. Das Zusammenspiel von Schulbegleiterin und Lehrerin entsteht als neues soziales System in der Klasse. Max wird das System »Schulbegleiterin und Lehrerin« wahrnehmen, er wird das Verhältnis Lehrerin  – Schulbegleiterin bewusst oder intuitiv beobachten und beurteilen. Er wird beurteilen, ob sich die beiden wertschätzen, mögen, miteinander streiten, sich höflich unterhalten, sich aufeinander freuen, sich ernst nehmen, sich ergänzen oder sich fremd bleiben. Vertrauen ist die Basis für erfolgreiche Zusammenarbeit

Max wird stets intuitiv einschätzen, ob sich Lehrerin und Schulbegleiterin vertrauen. Vertrauen ist der Schlüssel zu einer fruchtbaren, guten Beziehung zwischen Lehrerin und Schulbegleiterin. Doch Vertrauen aufbauen, wie geht das? Die Lehrerin erwartet (zu Recht), dass sich ein bestimmter Erfolg in Max’ Verhalten zeigt. Max soll die Klasse nicht mehr »sprengen« und seine Gefühle in den Griff kriegen. Er soll seine Potenziale entdecken und sie auf seinem Niveau entfalten. Max soll ein angenehmerer Schüler werden. Darauf möchte die Lehrerin vertrauen können. Vertrauen bedeutet, die Zukunft gedanklich vorwegzunehmen. Die Lehrerin, die der Schulbegleiterin vertraut, handelt so, als ob sie die Zukunft kennt. Vertrauen setzt also eine gewisse Risikobereitschaft der Lehrerin voraus. Diese Risikobereitschaft und damit ihr Vertrauen zeigt die Lehrerin, indem sie der Schulbegleiterin Zeit gibt. Sie gibt ihr einen Vertrauensvorschuss. 96

Von Beginn an miteinander

Diesen Vertrauensvorschuss braucht die Schulbegleiterin. Sie ist auf eine gute Zusammenarbeit mit der Lehrerin angewiesen. Denn sie benötigt für ihren Auftrag Sicherheit, die die Lehrerin ihr geben kann. Ebenso ist sie für ihre pädagogische Tätigkeit auf Freiräume und Flexibilität angewiesen. Sie möchte ein Recht auf Irrtum und Korrektur haben. Vertrauen zu zeigen, bedeutet, bereit zu sein, Max in die fachlichen Hände der Schulbegleiterin zu geben. Die Schulbegleiterin wird Max beobachten (s. in diesem Kapitel, Der Umgang mit Mitschülern und der Klasse, Beobachten) und zur gleichen Zeit schon begleiten. Max muss erleben, dass seine Schulbegleiterin zuverlässig und präsent ist. Die Schulbegleiterin wird – voraussichtlich im Laufe mehrerer Wochen – die Entfaltungsmöglichkeiten von Max, sein Wachstumspotenzial, erkennen. Sie wird Max beobachten und gleichzeitig sein Bedürfnis nach Kontakt, Anerkennung, Bestätigung, Lob und Austausch berücksichtigen. Sie wird ihn beobachten und zugleich seinen Wunsch nach Eigenständigkeit und Eigenverantwortung, nach Selbstverwirklichung und Selbstannahme erkennen und fördern. Das alles ist ein längerer Prozess. Unerlässlich für den pädagogischen Erfolg ist das Vertrauen der Lehrerin, dass sie der Schulbegleiterin gerade zu Beginn entgegenbringt. Ohne ihr Vertrauen hat die Schulbegleiterin schlechte Karten. Die Frage der Arbeitsteilung

Auch wenn eine klare Trennung der Aufgaben nicht machbar ist, so sind doch die beiden Dimensionen der Arbeitsteilung klar: Die Lehrerin unterrichtet, erzieht und gestaltet die Klasse. Die Schulbegleiterin beobachtet, begleitet und fördert ihr Kind. Das macht sie jedoch nicht im separaten Raum, sondern im sozialen Raum der Klasse als lebendiger Bestandteil dieser Klasse. Vertrauensaufbau ist eine wechselseitige Sache. Das Vertrauen der Lehrerin gewinnt die Schulbegleiterin durch ihr konzeptionelles Tun und das Kommunizieren ihres Konzepts. Ohne Konzept ist die Schulbegleiterin auch auf verlorenem Posten. Es ist ihre Aufgabe, ein Konzept zu entwickeln (nach einer Beobachtungszeit, obwohl bereits das Beobachten Bestandteil des Konzeptes ist) und dieses der Lehrerin vorzustellen. Ein Konzept besteht aus Zielen, Ideen, Maßnahmen Lehrerinnen und Schulbegleiterinnen: Miteinander auf Augenhöhe

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und Phasen. Ein Konzept braucht einen Fixstern, eine beherzte, prägnante Aussage. Diese spiegelt den Auftrag und formuliert den Sinn der Schulbegleitungs-Maßnahme. Das Konzept ermöglicht allen Beteiligten, zuzustimmen und das Boot in die gleiche Richtung zu rudern (vgl. Kapitel 5, Konzepte entwerfen und umsetzen). Konzepte brauchen Spielräume. Sie können Irrtümern unterliegen oder revidiert werden. Im Zuge der Umsetzung können/­ müssen Konzepte verteidigt oder angepasst werden. Die Konzeptentwicklung ist ein fließender, längerer, eventuell immerwährender Prozess – und es gilt, ihn für die Lehrerin transparent zu machen. Beide, Lehrerin und Schulbegleiterin, sind interessiert, dass ihre Zusammenarbeit funktioniert. Schließlich sitzen sie in einem Boot. Keine Frage: Gelegentlich können Spannungen und Konflikte auftreten, hierarchischer oder inhaltlicher Art. Sie lassen sich dadurch mildern, dass Entscheidungen abgesprochen und nicht autonom getroffen werden. So sollten Veränderungswege angezeigt und besprochen werden. Bei Konflikten, die nicht lösbar scheinen, wäre es ideal, einen Dritten außerhalb des Klassen-Systems hinzuzuziehen und dessen Rat und Meinung zu erbitten. Grundsätzlich gilt: Eine positive und wertschätzende Anerkennung beider Professionen und die gegenseitige Akzeptanz der unterschiedlichen Aufgabenstellungen macht die Arbeit einfacher – auch dann, wenn gelegentlich kein gemeinsamer Nenner gefunden wird. Das System »Lehrerin-Schulbegleiterin« ist Bestandteil der Klasse. Ob die beiden Erwachsenen in der Klasse harmonisch kooperieren, sich verbünden oder nicht, das spürt die gesamte Klasse und besonders Max. Alle Kinder registrieren, ob man sich gegenseitig wertschätzt, höflich miteinander umgeht, sich wechselseitig informiert, ein Bündnis eingegangen ist und das Bündnis mit Leben füllt. Wenn Lehrerin und Schulbegleiterin sich systemisch konstruktiv verhalten – positive Werte, freundliches Miteinander, kooperatives Ergänzen, Gesten der Freundlichkeit, Gesten des Humors, Gesten der Solidarität – wird dies als vorbildhaft erlebt, als anregend und nachahmenswert. Die gesamte Klasse wird freundlicher, kooperativer, solidarischer im Miteinander.

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Von Beginn an miteinander

Die Frage der Hierarchie

Braucht es eine Hierarchie? Was ist, wenn Max Extrawürste bekommt, die die Lehrerin für unangebracht hält? Oder was geschieht, wenn die Lehrerin gerade das will, was die Schulbegleiterin für kontraproduktiv hält? Oder umgekehrt? Was ist, wenn Max sich unangebrachte Rechte herausnimmt, weil er die Schulbegleiterin auf seiner Seite weiß? Wie geht man damit um, wenn Max Lehrerin und Schulbegleiterin gegeneinander aufbringen will, einen Keil zwischen sie treiben will? Solche Fragen lassen sich unendlich stellen. Nachfolgend ein paar wegweisende Vorschläge: Es wird in der Klasse Hierarchie vorgespielt: Die Schulbegleiterin (nicht die Lehrerin) zeigt den Schülern deutlich, dass nicht sie der Boss ist, sondern die Klassenlehrerin. Sie stellt klar, dass die Lehrerin die Regeln vorgibt und bestimmt, wo es lang geht. Es kann nur Eine(n) geben. Das sagt und demonstriert die Schulbegleiterin! Die Schulbegleiterin und nicht die Lehrerin zeigt das der Klasse, denn so bewahrt sie ihre Autorität vor der ganzen Klasse und vor ihrem Max. Dieses hierarchische Spiel wird durch die Schulbegleiterin gespielt und vorgelebt, um allen Kindern in der Klasse ein klares Bild der Rollenverteilung zu vermitteln. Allerdings: Die Lehrerin gibt der Schulbegleiterin nicht auf, wie sie ihr Konzept entwickelt oder ihre Maßnahmen umsetzt. Konflikte, die Konzept oder Maßnahmen auslösen, werden offen angesprochen. Hier ist die Lehrerin der Schulbegleiterin nicht vorgesetzt. Die Schulbegleiterin ist nicht in die schulische Hierarchie eingeordnet. Es gelten die Regeln und Methoden der gleichwertigen, aber fachlich unterschiedlichen Kompetenzen. Dass Max Extrawürste kriegt, ist klar. Das ist auch nötig. Schon die Begleitung durch die Schulbegleiterin ist eine Extrawurst. Ob Max aus dem Unterricht herausgenommen werden muss, oder herausgehen darf, entscheidet die Schulbegleiterin, nicht die Lehrerin. Ob er in den Differenzierungsraum darf, ob er dort spielt oder ob er dort lernt, entscheidet die Schulbegleiterin. Ob Max am Sportunterricht teilnehmen darf, obwohl er wieder einmal seinen Turnbeutel nicht dabeihat, entscheidet die Schulbegleiterin. Wenn die anderen Kinder sich über die besondere Behandlung von Max beschweren, ist die Antwort und Begründung unisono einLehrerinnen und Schulbegleiterinnen: Miteinander auf Augenhöhe

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fach: »Max ist ja auch ein besonderes Kind.« (Es mag sich das eine oder andere Kind melden: »Und was bin ich?« – »Ja, du bist auch besonders! – aber Max ist mein besonderes Kind«. Auch hier betont die Schulbegleiterin wieder das Zusammengehören von »Schulbegleiterin und ihrem Kind«.) Es wird vorkommen, dass die Schulbegleiterin in der Öffentlichkeit des Klassenraums einer Anordnung der Lehrerin wider besseres Wissen nachgibt (s. zuvor Demonstration der Hierarchie). Sie wird aber die Lehrerin danach unter vier Augen darauf ansprechen und in kon­ struktivem Ton mehr Sensibilität in Bezug auf ihre Autorität erbitten. Die Frage der Dauer des Austauschs

Es ist gerade am Anfang der Zusammenarbeit nötig, sich intensiver auszutauschen. Zu Beginn sollten Lehrerin und Schulbegleiterin diesem Austausch 30 Minuten Besprechungszeit in der Woche einräumen. Nach ca. zwei bis drei Monaten sollten sie sich einmalig eine Stunde Zeit nehmen. Danach reicht erfahrungsgemäß ein kurzer Austausch zwischen Tür und Angel. Die ideale Stufe des Austauschens ist erreicht, wenn Lehrerin und Schulbegleiterin sich per Blickkontakt während des Unterrichts kurze Hinweise geben. Die Frage des Respekts

Schulbegleiterinnen kommentieren niemals den Unterricht einer Lehrerin. Weder unter ihren Schulbegleiter-Kollegeninnen noch vor anderen Lehrerinnen. Auch auf Nachfrage nicht. Niemals. Auch dies ist eine vertrauensbildende Regel.

Der Umgang mit den Eltern Die Erwartungen der Eltern sind unterschiedlich: Die Schulbegleiterin wird sowohl engagierte wie auch phlegmatische Eltern von Problemkindern kennenlernen: Ȥ Eltern, die das Handicap ihres Kindes kennen und sich intensiv damit auseinandergesetzt haben. Ȥ Eltern, die die Beeinträchtigung ihres Kindes nicht wahrhaben wollen oder gar das Verhalten überhöhen, denn »mein Kind ist hochbegabt!«. 100

Von Beginn an miteinander

Ȥ Eltern, die unsicher sind, berechtigte Sorge haben, dass ihr Kind in der Klasse an den Rand gedrängt wird. Ȥ Eltern, die der Schule, der Lehrerin, der Schulbegleiterin die Schuld geben, dass ihr Kind auffällig ist, »weil es sich zu Hause nicht so benimmt«. Ȥ Eltern, die realistische Vorstellungen haben, wie intensiv und wie geduldig ihr Kind betreut werden muss. Sie zeigen ihr Interesse und ihre Wertschätzung. Ȥ Eltern, die ständig mitreden wollen. Ȥ Eltern, die übermäßige und ungeduldige Erwartungen an die Schulbegleiterin stellen und dann enttäuscht sind über den langen Weg, der zu gehen ist. Ȥ Manchmal sind die Erziehungsberechtigten auch unterschiedlich engagiert, und stimmen sich nicht ab. Viele Eltern sind verunsichert und wissen nicht, wo sie stehen. Für die Schulbegleiterin ist es hilfreich, das Erleben ihres Kindes und sein häusliches Verhalten zu kennen: Medienkonsum? Freizeitverhalten? Verhältnis zu Geschwistern? Probleme innerhalb der Familie? Um die wichtigsten Informationen zu bekommen, reicht ein kurzes Gespräch, z. B. wenn die Mutter das Kind zur Schule bringt oder nach Schulschluss abholt. Ideal läuft es, wenn sich die Mutter/die Eltern mit der Schulbegleiterin zu Beobachtungen und Erlebnissen, zu ihrem Engagement und den Zielvorstellungen austauschen. Mit der Zeit finden die Eltern ihre Position zur Schulbegleiterin, definieren sie ggf. neu und/oder schließen sich ihr an. Im besten Fall ergänzen sich dann Eltern und Schulbegleiterin. Ist ein Vertrauensverhältnis entstanden, reichen kleine Gespräche mit den Eltern zwischendurch aus. Nach einiger Zeit wird die Schulbegleiterin den Eltern ihres Kindes sagen können, was sie wie und warum macht. Die Schulbegleiterin sollte sich dabei mit wertenden oder beurteilenden Aussagen Zeit lassen. Und sie sollte keine pädagogischen Erfolge versprechen – sie kann sie vielleicht nicht erfüllen. Die Erwartungen der Eltern an die Schulbegleitung sind vielfältig. Möglicherweise sind Eltern unrealistisch optimistisch, manchmal haben sie ihr Kind bereits aufgegeben, und manchmal sind sie in Bezug auf das schulische Wohlergehen des Kindes auch desinteressiert. Der Umgang mit den Eltern

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Mitunter ist das Verhältnis der Eltern zur Schule angespannt. Zwischen Eltern und Lehrerin haben sich dann bereits Enttäuschungen, Misstrauen, auch Aggressionen aufgebaut. Es ist nicht auszuschließen, dass Eltern die misstrauische Lehrerin-Eltern-Kind-­Beziehung auch auf die Schulbegleiterin übertragen. Während auf elterlicher Seite Klarheit über die Zuständigkeiten der Lehrerin (Unterrichten, Erziehen und Bewerten des Kindes) herrscht, ist für sie die Aufgabe der Schulbegleiterin eher unklar. Kein Wunder: Die Aufgabe der Schulbegleitung ist sehr vielschichtig und speziell, oftmals entstehen die Aufgaben erst im Prozess des Schulbegleitens. Eltern sind meist in widersprüchlicher Sorge

Alle Eltern wollen das Beste für ihr Kind. Sie wollen, dass es ihrem Kind gut geht. Ihrem Kind geht es aber nicht gut an der Schule, denn sonst bräuchte es die Schulbegleiterin nicht. Eltern sind meist in widersprüchlicher Sorge: Einerseits bangen sie, dass ihr Kind es gut mit der Schulbegleiterin getroffen hat. Anderseits fürchten sie, dass ihre Tochter oder ihr Sohn unschöne Probleme von zu Hause (Drogen, Kriminelles, Geldschwierigkeiten, Erziehungsfehler) mit der Schulbegleiterin teilen will. Sie sind in Sorge, dass die Schulbegleiterin ein Spitzel der Behörde ist und dass das Jugendamt oder der behördliche Sozialdienst bald an die Tür klopfen werden. Die enge Verbundenheit wird wahrgenommen

Die Eltern erleben bald immer deutlicher, dass die Schulbegleiterin in einem besonders nahen Verhältnis zu ihrem Kind steht und ihr Kind die Schulbegleiterin liebt. Die Schulbegleiterin ist oft zugegen und damit vielleicht sogar präsenter als die Mutter. Sie hat gezielt eine enge Verbundenheit zum Kind aufgebaut (s. in diesem Kapitel, Das Schulbegleitungs-Kind: Zusammensein und Wir-Gefühl). Das Kind erzählt zu Hause alles von der Schulbegleiterin, denn sie ist für das Kind auf längere Zeit die wichtigste Bezugsperson in der Schule. Alles, was dem Kind in der Schule an der Seite der Schulbegleiterin passiert, wird Mama und Papa erzählt. Dabei kann das Erzählte wahr oder unwahr, übertrieben oder fantasiert sein. Und alles, was zu Hause passiert, wird das Kind ihrer Schulbegleiterin erzählen. Auch das kann wahr oder unwahr sein. 102

Von Beginn an miteinander

Die Schulbegleiterin interpretiert problematische Umstände zu Hause als Ursache der emotionalen und sozialen Auffälligkeiten ihres Kindes. Beim Problemverstehen wird sie die Eltern und das Zuhause ihres Kindes besonders betrachten wollen. Die Erzählungen des Kindes von zu Hause, von Mama und Papa, Einsicht in die Schulakten über die familiäre Situation und Informationen der Lehrerin über familiäre Vorfälle vermitteln der Schulbegleiterin ein Bild des Zuhause und liefern möglichweise Ansätze für Erklärungen des auffälligen Verhaltens. Im Idealfall ist um die problematischen Eltern herum ein unterstützendes Netzwerk aktiv: Sozialarbeiter, Familienhilfe, Erziehungsberater, Therapeuten, etc. Auch aus diesem Netzwerk kann die Schulbegleiterin Informationen bekommen. Förderlehrerinnen an den Schulen haben viele dieser Informationen, die sie gerne an die Schulbegleiterin weitergeben. Es sind dabei allerdings Datenschutzbestimmungen zu berücksichtigen und die Informationen stehen vielleicht nur eingeschränkt zur Verfügung. Hilfreich ist eine Einverständniserklärung der Eltern zur Weitergabe dieser Informationen (s. Kapitel 6, Datenschutz beachten). Die Schulbegleiterin stützt das Kind, nicht die Eltern Es ist ratsam für die Schulbegleiterin, sich nicht als Teil des HilfeNetzwerkes zu verstehen. Sie würde sich im Netzwerk verlieren und könnte sich nicht mehr auf ihren Auftrag konzentrieren. Klar ist: Die Schulbegleiterin ist keine Sozialarbeiterin. Ihr Klient sind nicht die Erziehungsberechtigten ihres Kindes, sondern das Kind. Das bedeutet, sie unterstützt das Kind der Eltern und nicht die Eltern des Kindes. Es wäre ungut, den Eltern das Gefühl zu geben, man könne auch ihnen helfen, wenn sie Unterstützung für ihre sozialen Probleme bräuchten. Zudem besteht die Gefahr, dass die Eltern die Schulbegleiterin verdächtigen, sie würde ihnen die Schuld zuweisen, dass ihr Kind »nicht normal« ist. Das könnte ein Abwehrverhalten der Eltern auslösen und dafür sorgen, dass sie einen Keil zwischen Schulbegleiterin und Lehrerin, zwischen Schulbegleiterin und Kind treiben wollen. Die Rolle, die Aufgabe sowie die Art und Weise des Zusammenspiels »Schulbegleiterin-und-ihr-Kind« wird von der Schulbegleiterin Der Umgang mit den Eltern

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definiert, konzipiert und realisiert. Die Schulbegleiterin nimmt die Bedürfnisse der Eltern ernst. Sie möchten, dass es ihrem Kind gut geht und sie möchten stolz auf ihr Kind sein. Dass ihr Kind in guten Händen ist, wird ihr Kind seinen Eltern mitteilen. In der Regel erzählt das Kind gerne und viel über die Schulbegleiterin: was es heute mit ihr gespielt und gelernt hat, was mit der Schulbegleiterin heute Spaß machte oder wie sie ihm geholfen hat. Diese Beschreibungen, durch die die Eltern über das Tun der Schulbegleiterin erfahren, machen in den Augen der Eltern die Schulbegleiterin im Wesentlichen aus. Sie sind die Grundlage für ein wachsendes Vertrauen der Eltern in die Aufgabe, die Qualität und die Resultate des Schulbegleitens. Die Schulbegleiterin kommt meist in Kontakt mit der Mutter oder dem Vater, wenn das Kind morgens in die Schule gebracht oder mittags abgeholt wird. Es wird dann zu Gesprächen kommen, da die Eltern interessiert sind: Wie läuft es? Es empfiehlt sich, in solchen kurzen (!) Kontakt-Gesprächen zu zeigen, dass die Schulbegleiterin ihr Kind toll findet, welche Ressourcen sie entdeckt hat, dass sie begeistert ist von dem Kind. Weil es freundlich ist, sportlich, oder ein gutes Gedächtnis hat. Solche Bestätigungen schaffen Vertrauen zwischen Eltern und Schulbegleiterin. Sie wissen dann ihr Kind in guten Händen und sie freuen sich. Alle Eltern wollen stolz auf ihr Kind sein. Trotz häufiger Kontakte ist es ratsam, eine professionelle Distanz zu halten. Dies zeigt die Schulbegleiterin den Eltern insbesondere durch kurze Gespräche, durch Gesten des Abstandhaltens (schnell Tschüss sagen) und indem sie sich mit Erziehungstipps für zu Hause zurückhält. Sie verbessert damit das Klima des Vertrauens und der Verschwiegenheit. Und sie erzeugt so eine ruhigere, weniger aufgeregte Atmosphäre, um das Kind an der Schule zu fördern.12 12 Anmerkung: Es gibt Ausnahmen von der Regel: Levin streitet viel mit der Mutter. Er ist aggressiv, wenn er wütend ist, und wütend ist er oft. Die Mutter findet ihr Kind sei »verdorben«, »ein schreckliches Kind«, das »sie immer weniger leiden mag.« »Levin kostet mich die letzte Kraft. Aus dem wird nichts mehr«. Ich habe der Mutter nahezu täglich, ca. hundert Mal, eine Whatsapp-Nachricht über Levins Verhalten nach Hause geschickt (zur Einordnung der Benachrichtigungen s. Kapitel 1, Levin will alles richtig machen und auch Kapitel 6. Datenschutz beachten).

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Von Beginn an miteinander

Der Umgang mit Mitschülern und der Klasse Auch die Klasse hat Erwartungen an die Schulbegleiterin. Einzelne Schülerinnen, ihre sozialen Beziehungen untereinander, die Subsysteme innerhalb der Klasse, die Lehrerin im Umgang mit ihren Schülerinnen – alle zusammen bilden eine soziale Gemeinschaft. Sie besteht aus Personen, die sich ständig wechselseitig beeinflussen. Durch klasseninterne Rituale, Symbole und Gemeinsamkeiten einerseits sowie wahrgenommene Unterschiede zu anderen Klassen andererseits wird das soziale System, genannt »Klasse«, aufgebaut, gepflegt und aufrechterhalten. In der Klasse hat sich bereits ein Wir-Gefühl entwickelt. Die Schülerinnen der Klasse erwarten nun, dass die Schulbegleiterin auch Teil dieses »Wir« wird. Und sie erwarten: Das SchulbegleiterKind soll sich bessern und besser in die Klasse passen. Damit das gelingt, ist die Schulbegleiterin (fast) ständig anwesend. Die Schulbegleiterin wird Bestandteil der Klasse. Sie wird alle Namen der Mädchen und Jungen kennenlernen, und auch die sozialen Strukturen der Klasse: Wer ist der Hero der Klasse? Wer die Stille? Welche Spiele werden gespielt? Gibt es Cliquen und Subkulturen? Kinder sind neugierig und eine ihrer schönsten Eigenschaften ist ihre Offenheit. Sie wollen mit Erwachsenen kooperieren. Die allermeisten Kinder kommen von sich aus auf die Schulbegleiterin zu. Sie wollen sie kennenlernen. Sie wollen wissen: Was machst du hier? Die Kinder erwarten authentisches Verhalten und Aufrichtigkeit von der Schulbegleiterin: »Warum bist du hier?« »Ich bin die Schulbegleiterin von Max. Ich begleite Max und unterstütze ihn, damit er in der Schule lernen und mit Freunden spielen kann.« Ab heute bekommt das Kind Extrawürste durch die Schulbegleiterin. Das ist so ziemlich das Erste, was den Mitschülern auffällt. Sie erwarten, dass Max geholfen wird und seine Extrawürste gerechtfertigt sind. Die Schulbegleiterin ist Bestandteil der Klasse, deshalb macht sie mit! Sie ist im Unterricht anwesend, meistens öfter als die Klassenlehrerin, die noch durch Fachlehrerinnen beim Unterrichten der Klasse ergänzt wird. Sie begleitet ihr Kind zum Schwimmunterricht, Der Umgang mit Mitschülern und der Klasse

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sie fährt mit auf Klassenfahrt. Sie ist in der Regel auch in den Pausen in der Nähe ihrer Klasse, denn sie ist da, wo Max ist. Sie sitzt mit im Sitzkreis. Sie macht mit beim Klassenrat. Wenn alle Kinder im Sitzkreis einen festen Sitzplatz haben, hat auch sie einen festen Platz (neben ihrem Max oder gegenüber oder neben Max’ größter Feindin oder Max’ bestem Freund.) Wenn reihum alle Kinder am Montagmorgen von ihren jeweiligen Wochenenderlebnissen erzählen, dann erzählt sie auch ihr größtes Wochenenderlebnis: Hat sie einen Apfelkuchen gebacken? Hat sie ein dickes Buch gelesen? (»Wie dick?« fragen die Schülerinnen). Oder ist sie mit ihrer Freundin ins Kino gegangen? (»In welchen Film?«, fragen dann die Schülerinnen). Die Schulbegleiterin zeigt allen Schülerinnen der Klasse durch ihr Verhalten, ihre Art zu kommunizieren, ihr Dabeisein und Mitmachen, dass sie dazugehört. Mitmachen beim Klassenrat? Ja, aber sie vertritt nicht ihre, sondern die Interessen von Max. Sie schaut durch seine Brille und argumentiert, wie er idealerweise argumentieren sollte. Sie beschützt und verteidigt ihn, wenn er angegriffen wird oder sich angegriffen fühlt. Sie zeigt der Klasse, dass sie Max hilft. Sie zeigt Max und seinen Mitschülerinnen, dass sie mit ihm solidarisch ist. Systemische Elemente sorgen auch hier für Zusammenhalt

Sie fördert die systemischen Elemente der Klasse: Die Klasse ist ein sozial-systemischer Raum (s. Kapitel 3, Systemtheorie), in dem systemische Elemente für Zusammenhalt sorgen. In der Klasse wird Sinn gelebt: Lernen, Freunde finden, Zusammensein. Hier werden Werte entwickelt, wie Gewaltlosigkeit, Verschiedenheit, Hilfsbereitschaft, Zusammenhalt, Engagement, Ehrgeiz. Hier werden individuelle Werte weiterentwickelt: Würde, Rang, Selbstbild, Identität. Hier werden Rituale und Regeln institutionalisiert (Begrüßungsrituale, gemeinsames Liedersingen, Anerkennungsspiele wie »Rosa Brille« oder »Kugeln ins Glas«). Rituale und Regeln helfen, die Werte und den Sinn der Klasse zu organisieren und zu stabilisieren. Bei allen Ritualen macht die Schulbegleiterin mit und unterstützt Max dabei, mitzumachen. 106

Von Beginn an miteinander

Auch informelle Machtpositionen wie die Hierarchie der Klassenmitglieder untereinander werden in der Klasse geregelt. Soziale Anerkennung (oder Ablehnung), hoher oder geringerer sozialer Status werden innerhalb der Klasse erlangt, erarbeitet und/oder zugewiesen. Die Positionen werden akzeptiert oder abgelehnt. Der heimliche Lehrplan

Formal gesehen ist die Klasse der Raum, wo die Lehrerin durch Unterrichten von Lehrstoff, als Erzieherin und Aufsichtsperson wirkt. Informell gesehen entwickelt sich ein Kind in der Klasse durch Erlebnisse und Ereignisse zunehmend eigenständig und einem heimlichen Lehrplan folgend. Es reift in der Klasse 4b, bereits seit vier Jahren, zu einem eigenständigen sozialen Wesen mit eigenen Interessen heran. Es findet im sozialen System Klasse Anerkennung, Freundschaft, Zugehörigkeit, Selbstbestätigung. Alle Schülerinnen, die Lehrerin und die Schulbegleiterin bilden zusammen eine soziale systemische Einheit. Diese Einheit heißt Klasse 4b, und hier beeinflussen sich alle wechselseitig und dynamisch. Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, sagt ein afrikanisches Sprichwort. Die Schulbegleiterin bildet mit Max eine sozial-systemische Mikro-Gesellschaft innerhalb der sozial-systemischen Gemeinschaft Klasse 4b. Die Klasse ist das Dorf. Da die sozialsystemisch gewollten Elemente in der Klasse wie in dem Dorf abstrahiert die gleichen sind, entsteht die realistische Möglichkeit, dass die Schulbegleiterin über die innerdörfliche Beziehungsgestaltung auf ihr Kind noch stärker einwirken kann. Die Schulbegleiterin ist (neben der Lehrerin) auch Taktgeberin und Motor, dass die gewünschten förderwürdigen Elemente (Sinn, Werte, Regeln) sich im System Klasse optimieren. Sie verändert durch ihr Verhalten das gesamte Gruppengeschehen in der Klasse. Und das wirkt auch auf Max. Das Eindringen in soziale Subsysteme der Klasse

Eine geschickte Schulbegleiterin bildet möglicherweise eine Gruppe um ihr Kind. Sie unterstützt im gefühlten Auftrag von Max die Bildung von Spiel-Teams auf dem Pausenhof oder eine Lerngruppe im Unterricht. Sie arrangiert die Mitgliedschaft in einer SportmannDer Umgang mit Mitschülern und der Klasse

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schaft, sie fördert das Interesse ihres Kindes für Geburtstagsfeste oder Hausbesuche der Kinder untereinander. Wenn die Mitschülerinnen erkennen und erleben, dass die Schulbegleiterin für ihr Kind attraktiv ist (weil sie z. B. Max beim Spielen, Lernen und Freunde finden hilft), kommen sie auch auf die Schulbegleiterin zu. Sie suchen ihren Kontakt, sie suchen eine Beziehung zur Schulbegleiterin. Die Schulbegleiterin kann auch in soziale Subsysteme der Klasse eindringen. So kann sie eine vorhandene Clique (z. B. Mobbingtruppe einer Klasse) spalten, indem sie selbst Mitglied dieser unerwünschten Truppe wird, um sie von innen heraus zu verändern. Wichtig ist hierbei die Sensibilität der Schulbegleiterin. Sie darf der Lehrerin nicht ins Gehege kommen. Transparenz und das Bekanntmachen solcher sozial-dynamischen Vorgänge ist eine Bringschuld der Schulbegleiterin an die Lehrerin. Ist die Schulbegleiterin ein vertrauter, gut eingebundener sozialer Bestandteil der Klasse, wenden sich die Schülerinnen auch an sie, wenn ihr Max den Mitschülerinnen mal wieder schwierig erscheint. Sie erbitten dann ihre Hilfe, geben mehr oder weniger gute Ratschläge, informieren sie über Ereignisse, die die Schulbegleiterin eventuell nicht mitbekommen oder anders wahrgenommen hat. Eine erfahrene Schulbegleiterin, die die richtige Art, Fragen zu stellen, beherrscht (s. Kapitel 5, Baustein 14: Lösungsorientierte Fragetechniken), hat durch die meisten Mitschülerinnen latente, aber kon­ struktive Helferinnen, um Max in der Schule zu beobachten und ihn auf seinem Weg zu unterstützen. Je stärker ihr Kind das Geschehen in der Klasse beeinflusst hat, umso stärker wird das Klassengeschehen, die Klassenidentität und damit das Fühlen, Denken und Handeln aller in der Klasse – von der Lehrerin bis zu weiteren auffälligen Kindern – von der Schulbegleiterin beeinflusst. Dem kann sie sich nicht entziehen. Sie kann aber diese gesetzmäßige Sozialdynamik für ihre pädagogische Arbeit nutzen. Wenn ihr Kind gerne mit ein oder zwei weiteren Rabauken die Klasse aufmischt, werden die Klassenlehrerin ebenso wie die anderen Mitschülerinnen erwarten, dass die Schulbegleiterin auch die ein, zwei oder drei schwierigen Kinder mitbetreut – auch wenn es keine offiziellen Schulbegleiter-Kinder sind. Die Schulbegleiterin 108

Von Beginn an miteinander

kann sich von diesen weiteren Kindern nicht wirklich frei machen, denn ihr Kind ist ein nicht zu separierender Teil der Klasse. Ihr Kind ist vielmehr ein wechselseitig wirksamer dynamischer Teil von allen in dieser Klasse. Beobachten, beobachten, beobachten Für die Schulbegleiterin ist die Klasse ein bedeutender Beobachtungsraum: Wie verhält sich ihr Max? Hat er Freunde? Findet er Anerkennung? Ist er der schräge Vogel der Klasse? Lernt er gerne oder widerwillig? Hat er oft negative Lernerlebnisse? Wann, wie oft und wie schnell ist er frustriert? Was und welche Gefühle bringt er von zu Hause mit in die Klasse? Welche Ereignisse oder Mitschülerinnen triggern ihn an, sodass er ausrasten muss? Erzählt er im Sitzkreis über erfreuliche oder blöde Wochenenderlebnisse? Die Schulbegleiterin beobachtet auch die anderen Kinder im Sitzkreis: Paula blickt immer traurig vor sich hin, ist still, will nichts sagen. Melanie nimmt Paula dann in den Arm, wenn Paula dran ist. Jerome erzählt gerne die tollsten Fantasie-Geschichten von seinem Vater, den er erfunden hat, um besser in der Klasse dazustehen. Als Max einmal die Jerome-Story anzweifelte, sprang Jerome auf, und verkeilte sich in Max. Die Schulbegleiterin beobachtet und kommt zu Erkenntnissen. Diese Erkenntnisse sind zunächst Vermutungen. Ob diese Vermutungen sich bestätigen, sollte sie beobachten und wiederum beurteilen. Die Schulbegleiterin wird aufgrund ihrer Erkenntnisse handeln und kommunizieren. Sie wird ihre Erkenntnisse anderen (Lehrerinnen) mitteilen. Diese Mitteilungen werden Folgen und Konsequenzen nach sich ziehen. Die Schulbegleiterin sollte ihre Erkenntnisse vorsichtig und nicht zu schnell als richtig und gültig beurteilen. Die erfahrene Schulbegleiterin weiß, dass sie ihre ersten Urteile oft ergänzen, ersetzen oder gar revidieren muss. Ein klares Bild ihres Kindes ist kaum schon in den ersten zwei, drei Monaten zu zeichnen. Aber nicht nur die Schulbegleiterin beobachtet. Auch die Mitschüler beobachten sie und ihr Kind. Ist die Schulbegleiterin nett, cool, freundlich? Hilft sie ihrer Schülerin, hilft sie auch anderen Schülerinnen? Lebt sie den gewünschten Sinn und die geforderten Der Umgang mit Mitschülern und der Klasse

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Werte der Klasse auch selbst? Ist sie geduldig, zuverlässig? Fördert sie Freundschaften? Ist sie solidarisch mit ihrem Max? Oder schimpft sie mit Max? Die Schulbegleiterin ist Vorbild für alle Schülerinnen der Klasse.

Das Schulbegleitungs-Kind: Zusammensein und Wir-Gefühl Das Problemkind erwartet, dass die Schulbegleiterin für es da ist. Ihr Kind ist impulsiv, wild, oft wütend und aggressiv, kann nicht still sitzen, kann seine Gefühle nicht kontrollieren, streitet oft mit seinen Mitschülern. Die anderen Kinder haben Angst vor ihm. Ihr Kind möchte weniger Stress in der Schule haben. Oder: Ihr Kind ist meist verträumt, schaut stets aus dem Fenster, ist mit Medikamenten ruhiggestellt, findet keinen Anschluss in der Klasse. Oder: Ihr Kind sucht Halt, möchte wahrgenommen werden, möchte in den Arm genommen werden. Es möchte nicht mehr allein sein. Oder: Ihr Kind möchte anerkannt sein, es möchte auf sich stolz sein. Es spielt kaum eine Rolle, wie die Schulbegleiterin den ersten Kontakt zu ihrem Kind bekommt, wichtig ist, dass sie von Anfang an ihrem Kind und der ganzen Klasse, auch der Lehrerin, zeigt, dass sie für ihr Kind da sein wird. Eine bewährte erste Kontaktaufnahme zu Beginn der Beziehung ist, ihr Kind zu bitten, ihr die ganze Schule zu zeigen, denn »Du kennst dich ja schon aus, und ich bin hier ja neu!« Das funktioniert meistens. Ab jetzt gilt: Die Schulbegleiterin macht ihr Kind glücklich. Sie zeigt ihm, dass sie mit ihrem Kind zusammen ist. Das Kind erwartet von der Schulbegleiterin, dass sie zu ihm steht. So, wie es ist und nicht wie die Lehrerin es haben will. Eine gute Schulbegleiterin signalisiert ihrem Kind von Anfang an, dass sie geduldig ist, Spaß am Spielen mit ihm hat und dass sie sich auf ihr Kind freut, jeden Morgen.

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Von Beginn an miteinander

Zusammensein!

Die Schulbegleiterin und ihr Kind (hier heißt das Mädchen Carla) gehen, ob sie wollen oder nicht, eine systemische Beziehung ein. Nach der Systemtheorie können sie gar nicht anders (s. Kapitel 3, Wie konstruieren sich soziale Systeme?). Von außen gesehen, aus Sicht der Klasse, der Mitschülerinnen, der Lehrerinnen und der Eltern sind beide eine soziale Gemeinschaft. Sie gehören zusammen. Sie werden als ein gemeinsames »Ihr« wahrgenommen. Von innen gesehen ist die soziale Gemeinschaft ein Wir. Ich (die Carla) und meine Schulbegleiterin – wir gehören zusammen. Soziale Gemeinschaften geben einem Individuum individuelle Identität und zugleich Gruppen-Identität. Der Mensch ist nicht gerne allein. Er möchte zu einer (oder mehreren) Gemeinschaft/en dazugehören. Das Wir-Gefühl, die Gruppen-Identität, beeinflusst die individuelle Identitätswahrnehmung in hohem Maße. Internalisierung von Werten

Carlas individuelle Identitätsmerkmale sind u. a. Gewaltbereitschaft, häufige Wutanfälle, Respektlosigkeit, demonstrative Lernverweigerung und häufiger Streit mit Mitschülerinnen: Die Lehrerin mag mich nicht, ich hab’ keine Lust, zu rechnen, was soll die »scheiß« Multiplikation. Freundlichkeit, Geduld, Achtung vor anderen, Freude am Lernstoff – die Schulbegleiterin lebt diese gewünschten Werte innerhalb der Zweier-Gemeinschaft vor: »Wir sind nicht laut«, »wir schreien nicht«, »wir streiten nicht«, »wir räumen jetzt unseren Stuhl weg«, »wir rechnen jetzt«. »Ich mag nicht, wenn man mir laut ins Ohr schreit, deshalb mag ich auch dich nicht anschreien«. »Ich möchte nicht, dass du dir weh tust, deshalb möchte ich nicht, dass du dich prügelst«. »Ich fühle mich richtig gut, wenn ich mich freuen kann, weil wir den Klassendienst zusammen erledigt haben«. Die Betonungen liegen auf dem Wir, dem gemeinsamen sinnlichen Erleben. Carla wird die neuen Werte mehr und mehr internalisieren und selbst leben. Das gelingt umso besser, je mehr Carla die Beziehung, das System »Schulbegleiterin-Carla«, als vorteilhaft für sich erlebt. Geht man vom systemischen Prinzip der Selbstorganisation aus, (s. Kapitel 3, Was ist Autopoiesis?) kann der Weg zu einer intensiven Das Schulbegleitungs-Kind: Zusammensein und Wir-Gefühl

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Beziehung, zur Verbundenheit, durchaus vom Kind ausgehen. Carla wird die Beziehung zur Schulbegleiterin wollen und fördern, da sie erkennt oder spürt, dass die Beziehung für sie interessant, bedeutend, hilfreich und auch spaßig ist. Gerade deshalb wird sie die Werte (das Verhalten) der Schulbegleiterin nachmachen wollen. Am Augenscheinlichsten ist für Carla das konstante, authentische, wertschätzende, aufrichtige Interesse der Schulbegleiterin an ihrer Verbundenheit zu Carla. Es ist die gelebte Beziehung durch vorgelebte gewünschte Werte, Einstellungen und Verhaltensweisen. Verbundenheit aufbauen

Der Weg zu einer intensiven systemischen Beziehung zwischen Carla und ihrer Schulbegleiterin kann nur von innen gestaltet werden. Nicht von außen, nicht von der Lehrerin, nicht von den Eltern, sondern nur von der Schulbegleiterin und Carla selbst, die innerhalb ihres gemeinsamen Systems kommunizieren und handeln. Je intensiver die Schulbegleiterin Carla respektiert, sie ernst nimmt, ihre Probleme versteht, je mehr Carla Hilfe und Unterstützung, Loyalität und Solidarität innerhalb des Systems wahrnimmt, umso stärker wird diese Verbundenheit. Umso intensiver und nachhaltiger nimmt Carla die vorgelebten Werte, Verhaltensmuster und zwischenmenschlich gelebten Gepflogenheiten an. Je intensiver die Verbundenheitsgefühle sind, umso mehr wird Carla sich öffnen, auch für persönliche Gespräche. Bei persönlichen Gesprächen (s. auch Kapitel 5, Baustein 14: Lösungsorientierte Fragetechniken) erfährt die Schulbegleiterin in der Regel auch, wie es bei ihrem Kind zu Hause zugeht. Die gute Beziehung wirkt sich nicht nur auf das Sozialverhalten in der Klasse aus, sondern sie trägt auch dazu bei, dass Carla sich für das Lernen interessiert. Carla möchte auch Systembestandteil der Klasse sein. Sie möchte »drinnen« sein, möchte als Schülerin anerkannt werden – und nicht als Klassenclown, nervende Ziege oder gar als Opfer. Für die Entwicklung der Beziehung zwischen Schulbegleiterin und ihrem Kind sind nicht die ersten Aktionen oder Äußerungen des Kindes wie »Was willst du? Hau ab!«, Anspringen, auf den Schoß wollen, Respektlosigkeit oder Patzigkeit ausschlaggebend, sondern 112

Von Beginn an miteinander

die ersten Reaktionen der Schulbegleiterin darauf. Hier ist Kreativität gefragt. Die Schulbegleiterin sollte nicht abwehrend reagieren, sondern überraschend neu für das Kind handeln: Nämlich das Kind annehmen! Das gilt besonders für den Beginn der Beziehung: Wenn Max albern ist, ist die Schulbegleiterin auch albern. Die Schulbegleiterin benutzt Wörter von Max: Wenn Max »Ficksau« sagt, fragt sie (ganz ernsthaft) nach. »Was ist Ficksau? Das Schimpfwort kenne ich noch nicht, muss ich mir merken, wie schreibt man das?« Wenn Max in der Klasse demonstrieren will, dass er der Mittelpunkt der Klasse ist und über Tische und Stühle geht, um herumzualbern, dabei hässliche Wörter von sich gibt, dann sagt die Schulbegleiterin vielleicht: »Max, du bist aber flink und sportlich, komm, wir beide gehen mal raus ans Klettergerüst. Zeig mir mal, wie hoch du klettern kannst«. Später kann die Schulbegleiterin immer noch mit ihm daran arbeiten, was hässliche Wörter und was schöne Wörter sind. Sie fällt hier nicht mit der Tür ins Haus, wenn sie Max gerade erst kennenlernt. Denn sie will eine positive Beziehung aufbauen. Ohne Beziehung zum Lernenden lassen sich Verhaltensänderungen nicht vermitteln. Loben, loben, loben Jedes Kind möchte dazugehören. Jedes Kind möchte gelobt werden, denn Loben heißt dazuzugehören. Zuviel Loben gibt es nicht. Es gibt allerdings sehr wohl falsches Loben. »Du hast heute einen coolen Pulli an«. »Deine Haarspange ist hübsch!« »He! Neue Schuhe? – cool!«. »Du hast den Bleistift schön ordentlich angespitzt«. »Heute hast du schon die Viererreihe gerechnet, gestern konntest du das noch nicht!«. »Ich habe gehört, du hast dich bei Sofie entschuldigt? Klasse! Das zeigt Größe!« Es gibt immer Anlass, zu loben! (s. auch Kapitel 5, Baustein 13: Mache dein Kind glücklich(er)). Präsenz, Präsenz, Präsenz

Präsenz ist ein weiterer Baustein der Verbundenheit. Das betrifft zum einen die räumliche Präsenz. In der Regel sitzt die Schulbegleiterin in der Klasse neben ihrem Kind. Sie unterstützt es direkt an seinem Platz, lobt, regt an oder zeigt Geduld. Zum anderen spielt auch die Das Schulbegleitungs-Kind: Zusammensein und Wir-Gefühl

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körperliche Präsenz eine Rolle. Das ist durchaus heikel, besonders bei männlichen Schulbegleitern. Dennoch: Die Schulbegleiterin streicht ihrem Kind über den Rücken, zeigt ihm, dass sie es festhält. Sie schnürt ihm die Schuhe zu (wenn es das noch nicht kann). Jüngere Kinder suchen manchmal zu viel Körperkontakt: »Umarmst du mich mal?« Hier ist Geschick gefragt, um das akzeptable Maß der Nähe zu finden und im Weiteren durchzusetzen. Auf den Schoß zu wollen, kann heikel sein. Weniger kritisch ist der Wunsch, an der Hand der Schulbegleiterin gehen zu wollen. Die kreative Schulbegleiterin findet die richtige Art, auf Wünsche des Kindes nach Körperkontakt zu reagieren und dem Kind dabei nicht das Gefühl von Ablehnung, sondern von Annahme zu geben.13 Auch die mentale Präsenz ist entscheidend. Die Schulbegleiterin zeigt ihrem Kind, dass sie sich dafür interessiert, was ihr Kind wann und wo gemacht hat oder noch machen wird. Sie spielt mit ihm auch seine Spiele: Pokémonkarten und Bey­ blade, auf dem Pausenhof oder im Differenzierungsraum. Sie beachtet es und bewundert es, wenn es auf dem Pausenhof aufs Klettergerüst will. Sie zeigt, wenn es zu spät zur Schule kommt, dass sie auf ihr Kind gewartet hat. Sie sendet ihm während der Ferien eine Postkarte aus ihrem Urlaubort. Sie zeigt deutliches Interesse an ihm.

Erwartungen sind okay, versteckte Bedingungen nicht Die Liste der Erwartungen aller Beteiligten an die Schulbegleiterin ist ebenso lang wie die Hoffnungen groß sind, dass sich das Kind im Sinne des schulischen Selbstverständnisses gut weiterentwickeln wird. Die Schulbegleiterin, die sich auf Basis des systemisch-lösungsorientierten Denkens auf das Gelingen fokussiert, wird damit zurechtkommen (s. Kapitel 5, Auf Lösungen schauen statt auf Probleme). 13 Anmerkung: Es empfiehlt sich für einen Schulbegleiter, mit seinem Kind nicht allein in einem Raum zu sein. Dies gilt besonders, wenn das Verhältnis zwischen Schulbegleiter und Kind noch nicht gefestigt und an der Schule noch nicht als ein vertrauensvolles und bewährtes bekannt ist. Unguten Verdächtigungen seitens der Eltern, misstrauendem Beobachten, eventuell auch dem Unwohlsein des Kindes wird so vorgebeugt.

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Von Beginn an miteinander

Allerdings: Erwartungen können auch versteckte Bedingungen sein, die unausgesprochen vorhanden sind oder subtil ausgesprochen werden. Dann herrscht ein unangenehmer Erwartungsdruck. Die Schulbegleiterin sollte die Erwartungen an sie kennen oder erspüren, sich jedoch keinem unangenehmen Erwartungsdruck aussetzen lassen. Samir hatte mal wieder in der Pause Streit auf dem Schulhof. Es gab schreiende Kinder, Kratzer und Bisse. »Wo war eigentlich bei diesem Vorfall die Schulbegleiterin?«, schreibt die Mathelehrerin ihre Notiz ans Schwarze Brett im Lehrerzimmer. Es ist jene Lehrerin, die sich zunächst weigerte, dass die Schulbegleiterin auch in ihrem Matheunterricht zugegen ist, obwohl es Schulbegleiterin und Schulleitung für erforderlich hielten. Ein kollegiales, ruhiges Gespräch im Büro der Schulleiterin zwischen Schulleiterin, Mathelehrerin und Schulbegleiterin (Tenor: »Wir sitzen alle in einem Boot«) klärte die Situation.

Erwartungen sind okay, versteckte Bedingungen nicht

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Kapitel 5: Konzepte entwerfen und umsetzen

Auf Lösungen schauen statt auf Probleme Max reagiert nicht auf Vorgaben und Angebote der Lehrer, er verweigert sich, wird wütend, er lernt nicht. Der Lehrer kann das Kind nicht kontrollieren. Max’ Verhalten ist für ihn nicht nachvollziehbar, und es scheint auch nicht korrigierbar. Er fühlt sich hilflos. Marie stört permanent den Unterricht. Die Mitschüler können nicht ungestört lernen, sie sind von Marie genervt. Marie steht mitten im Unterricht auf, läuft im Klassenraum herum, fängt Streit mit einem Mitschüler an. Marie hat keine Freunde, sie fühlt sich allein. Sie weiß nicht, was sie konkret tun soll, damit sie sich nicht so schlecht fühlt. Schule ist ein wohlstrukturiertes System. Das ideale Bild von Schule sieht vor, Lesen, Rechnen, Schreiben und sozial akzeptierte Umgangsformen zu lernen. Eine soziale Werte-Kultur wird aufgebaut, die die optimale Selbstentfaltung der Kinder ermöglicht: Friedfertigkeit, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Offenheit. Dazu werden Prinzipien etabliert, die das soziale Miteinander stets verbessern: Wertschätzung, Gewaltlosigkeit, Rücksicht, Zuverlässigkeit, Verantwortungs- und Leistungsbereitschaft. Damit das System Schule funktioniert, sind Regeln, Rituale und Symbole installiert worden. Sie bestimmen den Schulalltag. Sie verfestigen die genannten Sinn- und Werte-Elemente: Gesprächs- und Klassenregeln, Klassenrat, Sitzkreis, Stunden- und Wochenplan, Zensuren und Lernentwicklungsgespräche, Sitzordnung, Ruhezeichen, Liedersingen. Das alles macht für die allermeisten Schüler Sinn. Für Max und Marie aber nicht. Diese genannten Strukturelemente gehen an ihnen 116

vorbei. Die Regeln werden nicht verstanden und erst recht nicht beachtet. Das System Schule, wie Max und Marie es wahrnehmen, ist nicht in der Lage, ihnen adäquat zu helfen. Max und Marie sind seelisch krank. Sie bringen eine ungünstige soziale Grundentwicklung von zu Hause mit in die Schule. Beide Kinder bewegen sich mit ihren Gefühlen, Gedanken und Einstellungen außerhalb des Systems Regelschule. Der Auftrag der Schulbegleitung

Der Auftrag der Schulbegleitung ist es, ein verhaltensauffälliges Problemkind zu fördern und in das schulische System zu inkludieren. Max und Marie sind sogenannte LSE-Kinder14. Verhaltensauffällig und förderwürdig ist ein Kind (oder Jugendlicher), wenn es Lernschwierigkeiten, sprachliche und/oder emotionale Pro­bleme hat, und es sozial nicht integriert ist. Sie sollen in der Lern-­Organisation Schule besser zurechtkommen, und sich in die Klasse integrieren. Konzepte benennen und umsetzen

Lehrer, Eltern  – auch Schulbegleiter  – haben oft die Tendenz, Problemkinder umfassend zu analysieren. Es ist gut, die Ursachen der Probleme zu kennen, aber damit allein kommen Schulbegleiter nicht weiter. Schulbegleiter brauchen Konzepte, Methoden und Maßnahmen, die im schulischen Alltag eingebracht werden können. Es gibt nicht das eine Konzept. Dafür sind LSE-Kinder zu verschieden, die jeweiligen Situationen der Kinder zu unterschiedlich, die Probleme zu vielfältig und oft nicht richtig zu erfassen. Pädagogische Konzepte sind immer dynamische Konzepte. Pädagogen brauchen Handlungsspielräume und Beweglichkeit für die Umsetzung ihrer Ideen. Konzepte entwickeln sich ständig weiter, ein Konzept erwächst aus dem anderen. 14 In Hamburg wird ein sonderpädagogischer Förderbedarf von Kindern in einem zweistufigen Diagnose-Verfahren festgestellt. Zunächst wird der Bedarf in der Schule umfassend geklärt und begründet. Wird ein Bedarf vermutet, klärt die Schulbehörde durch eine tiefergehende Förderdiagnose, ob ein umfassender, lang andauernder Unterstützungsbedarf vorliegt und eine sonderpädagogische Fördermaßnahme (u. a. Schulbegleitung) bewilligt wird. Auf Lösungen schauen statt auf Probleme

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Konzepte brauchen Ziele, die erreichbar sind, und Wege, die beschritten werden können. Konzepte müssen nicht groß sein. Oft ist ein Vorgehen in kleinen Schritten angebracht (s. Kapitel 3, Was ist Beobachten?). Konzepte müssen dann neu geschaffen werden, wenn vorherige sich nicht bewähren oder umsetzen lassen. Damit der Auftrag von Schulbegleitung erfolgreich erfüllt wird, sollten Schulbegleiter auf systemische Problemlösungskonzepte und Methoden setzen (Berg/Steiner 2016). Ȥ Der Schulbegleiter fokussiert sich auf die betreffenden Systeme (»Schulklasse«, »Lehrer-Kind-Schulbegleiter«, »SchulbegleiterKind«) und nicht auf die Einzelpersonen in den Systemen. Ȥ Jedes Verhalten, auch das Störende, hat in einer bestimmten Situation aus der Sicht seines Kindes Sinn. Dieser lässt sich auch erkennen. Ȥ Der Schulbegleiter beobachtet, was gut funktioniert, und nutzt die Erkenntnisse für die nächsten Schritte, um übergeordnete Entwicklungsziele zu erreichen. Ȥ Wenn der Schulbegleiter auf das, was schon gelingt, schaut, werden sich die notwendigen nächsten Schritte fast von selbst zeigen. Es gilt, auf die sich andeutenden Lösungen zu achten –, das weist den richtigen Weg. Ȥ Der Schulbegleiter achtet auf das, was das Kind schon kann, und nicht auf das, was es nicht kann. Ȥ Das Kind wird Kognitives wie Soziales lernen. Und zwar dann, wenn es sich gut fühlt, wenn die Beziehung zum Schulbegleiter eng und vertrauensvoll ist, und wenn es einen Vorteil darin sieht, zu lernen (Hüther 2016). Ȥ Der Schulbegleiter setzt von Anfang an auf die Stärken und Kompetenzen seines Kindes. Er versucht zum einen gute, kreative Lösungen für die Probleme seines Kindes zu finden, und zum anderen sein Kind zu aktivieren, eigene Lösungen und Ideen zu entwerfen und mit einzubringen. Er entdeckt die Kraft, die in seinem Kind steckt, und führt die Kraft in die richtige Richtung (s. in diesem Kapitel, Resilienz und Ressourcen). Die Systemtheorie (s. Kapitel 3) ist keine Methode. Sie gibt keine Konzepte vor, sondern sie liefert dem Schulbegleiter eine Basis und 118

Konzepte entwerfen und umsetzen

schenkt Sicherheit bei der Aufgabenbewältigung. Gleichzeitig gibt sie ihm die nötigen Freiräume, um kreative und flexible Bausteine für Konzepte zu finden, die im Nachfolgenden beschrieben sind, und diese miteinander kombiniert einzusetzen. Damit kreatives Konzipieren und Umsetzen gelingen kann – und Konzepte nicht aus dem Ruder laufen – sind Bausteine (Komponenten, Zutaten, Elemente, Methoden) hilfreich, die sich innerhalb von Wegweisungen einsetzen lassen. Eines ist klar: Konzepte benennen und Konzepte umsetzen sind zwei Seiten einer Medaille. Konzepte zu benennen, ist in wenigen Sätzen möglich. Ein Konzept bedarf nicht unbedingt der Schriftform. Es kommt vielmehr auf die beherzte Benennung der Punkte und ihre Kommunikation an. Ein Konzept besteht aus drei, vier Aussagen: dem Ziel, der Zeitraum-Ansage, der Beschreibung von Aktivitäten. Und es beinhaltet die Kommunikation über Ziel, Zeit und Aktivitäten. Oft genügen drei Sätze: »Ich werde die ersten drei Wochen brauchen, um das Kind zu beobachten. Auf Basis dieser Beobachtungen weiß ich dann, wie ich vorgehe! In diesen ersten drei Wochen hoffe ich zudem, das Vertrauen des Kindes zu gewinnen«. Oder: »Ich möchte, dass das Kind glücklicher wird. Das kann aktuell noch nicht während der Unterrichtsstunden gelingen. Ich gehe mit ihm in den nächsten Wochen so oft es nötig erscheint in den Differenzierungsraum. Zudem lerne ich das Kind dann besser kennen. Und ich hoffe, das Kind lernt in dieser Zeit, zu mir ein Vertrauensverhältnis aufzubauen«. Oder (nach Wochen): »Die Zeit ist reif, dass mein Kind mehr am Unterricht teilnimmt. In den nächsten Wochen fange ich in den Mathe-Stunden bei Frau N. an. Mathe mag es am liebsten. Ich denke, in drei Monaten wird es ständig in der Klasse während des Unterrichts sein«. Alle relevanten Personen (meist Lehrer) müssen das Konzept kennen. Sie müssen verstehen, was der Schulbegleiter wann und warum macht. Sonst kommt es zu Missverständnissen und Irritationen. Informationen über das Konzept sind Bringschulden, d. h., der Schulbegleiter bringt die Informationen an den Mann/die Frau und wartet nicht, bis er gefragt wird. Durch gute Kommunikation Auf Lösungen schauen statt auf Probleme

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erlangen die Lehrer und er selbst Sicherheit. Das schafft Raum für seine Arbeit. Wenn die Lehrer wissen, wo er steht, fällt es ihnen leichter, Verantwortung abzugeben (s. auch Kapitel 4, Lehrerinnen und Schulbegleiterinnen: Miteinander auf Augenhöhe). Konzepte lösungsorientiert umzusetzen, ist die eigentliche Arbeit des Schulbegleiters. Konzepte sollten so gehandhabt werden, dass sie den Schulbegleiter nicht einschnüren. Freiräume müssen vorhanden sein. Veränderungsmöglichkeiten aufgrund von Irrtum oder neuen Erkenntnissen sind zwingend nötig. Die nachfolgenden Bausteine dienen als Anregung – für kreative, lösungsorientierte, entwicklungsfähige Konzepte.

Bausteine Baustein 1: Das Zusammensein von Schulbegleiter und Kind Im Fokus von Konzepten steht immer das System »Schulbegleiterund-sein-Kind«. Dieses Zweier-Sozial-System (Dyade, s. Kapitel 3, Wie konstruieren sich soziale Systeme?) ist Rückgrat und Lebensnerv aller Aktivitäten von Schulbegleitern. Beide, Schulbegleiter und Kind, wissen um ihre pädagogische Spezialsituation. Auch Lehrer und Mitschüler wissen um die Besonderheit dieser Beziehung. Alle erleben, dass die beiden sich nahe sind. Die beiden verbringen viel Zeit miteinander, sie helfen sich, beschützen sich, halten zusammen. Strukturmerkmale des Systems »Schulbegleiter-und-sein-Kind« sind, wie in allen sozialen Systemen, Elemente wie Sinn, Werte, Regeln und Rituale (s. Kapitel 3, Was ist Sinn?, Wie konstruieren sich soziale Systeme). Diese Elemente halten das System zusammen, geben Inhalte des Zusammenseins vor und verstärken die Beziehung. Baustein 2: Lernen Jedes Kind lernt. Immer. Auch problematisches Verhalten wurde einmal gelernt. Ein Vogel fliegt, ein Fisch schwimmt, ein Schüler lernt. Das Kind geht in die Schule, um zu lernen. Das ist der Sinn von Schule. So erwarten es Lehrer, Eltern und alle anderen. Was wird erwartet? Was soll das Kind lernen? Ȥ Rechnen, Lesen, Schreiben etc. 120

Konzepte entwerfen und umsetzen

Ȥ Ordnung halten bei den Schulmaterialien Ȥ Verhaltensregeln einhalten und mitmachen bei Ritualen Ȥ Soziale Fähigkeiten, Empathie, Vertrauen aufbauen, geben und erhalten Ȥ mit seinen Gefühlen klarkommen und richtig damit umgehen Ȥ Sinn und Werte erkennen und leben Ȥ Seine Rolle und Individualität finden und akzeptieren Ȥ Kreativität und Mut entwickeln Wofür ist der Schulbegleiter da?

Der Schulbegleiter hilft seinem Kind, in der Lernorganisation Schule besser als bisher klarzukommen und sich mehr in die soziale Gemeinschaft der Klasse zu integrieren. Konkret bedeutet das: Der Schulbegleiter ist kein Neben-Lehrer oder Förderlehrer. Er unterrichtet nicht. Er gibt keinen Nachhilfeunterricht in Basisfächern wie Lesen, Rechnen oder Schreiben. Der Schulbegleiter ist für alle anderen Lernziele, insbesondere die im emotionalen und sozialen Bereich, zuständig. Lernen im Schulalltag

Murat beginnt nicht mit der Bearbeitung seiner Matheaufgaben. Auch nach wiederholten Aufforderungen des Lehrers hat er sein Heft immer noch nicht aufgeschlagen. Er spielt lieber mit seinen Stiften, dann zeichnet er, dann steht er auf, läuft durch die Klasse, zeigt allen Mitschülern, was er gemalt hat. Tim ist schon wieder sauer auf Amelie: »Tim, du musst lernen, mit anderen Kindern nicht immer zu streiten, wenn du sauer bist«, fordert der Lehrer. Karl hat auch ein Problem: Er zappelt schon den ganzen Morgen auf seinem Stuhl herum und stört seinen Nachbarn. »Das geht so nicht, du musst lernen, die anderen nicht zu stören. Du musst lernen, dich an die Klassenregeln zu halten«, fordert der Lehrer.

Bausteine

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Kinder lernen immer, doch manchmal lernen sie nicht das Erwartete. Fühlt ein Kind sich unwohl, mag es die Situation oder den Lehrer nicht, dann verweigert es zu lernen. Erkennt es keinen Sinn im Lernangebot, dann lernt ein Kind nicht. Lernen ist ein Akt des Bewusstseins. Das Bewusstsein (Psyche, Seele) ist neben dem Körper und den sozialen Systemen ein weiteres System, das den Menschen ausmacht. Verkürzt sagt die Systemtheorie Folgendes aus: Der Mensch besteht aus drei Systemen, die sich zu einem Gesamtsystem, dem Individuum, ergänzen (s. auch Kapitel 3, Systemtheorie). Der Körper ist das biologische System und sorgt für Leben. Das Soziale geschieht in sozialen Systemen, hier wird kommuniziert. Und das Bewusstsein ist das System, das denkt und fühlt (Just 2017). Das Bewusstseinssystem operiert durch Gedanken und Gefühle. Diese hängen zusammen. Gefühle beeinflussen die Gedanken, und Gedanken beeinflussen die Gefühle. Während Gefühle die Dynamik der Gedanken bestimmen, bestimmen die Gedanken den Inhalt und die Struktur des Wahrgenommenen. Gefühle und Gedanken bestimmen im kognitiven wie im sozialen Bereich den Lernvorgang: was, wie, wann und/oder ob überhaupt gelernt wird. Doch wann lernen Kinder in der Schule das Erwartete? Nach Prof. Gerald Hüther (2006), Neurobiologe und Gehirnforscher, lernen Kinder das Erwartete, wenn sie sich wohlfühlen, die Beziehung zum Lehrenden stimmig ist, und das zu Lernende nützlich erscheint. Ȥ Wenn Kinder sich gut fühlen und einen Sinn im Lernangebot erkennen, erlernen sie das Angebotene gerne und leicht. Zum Wohlfühlen gehört, sich anerkannt und angenommen zu fühlen. Es erscheint daher einfach: Sorge dafür, dass dein Kind sich wohlfühlt, dann lernt es. Wohlfühlen zeigt sich durch Lachen und Freude beim Lernen. Wenn das Kind den Lernstoff ablehnt oder jetzt nicht zulassen will, kann es nicht lernen. Das ist ein Indiz für Überforderung. Überforderte Kinder können nicht lernen. Ȥ Wenn die Beziehung zum Schulbegleiter vertrauensvoll ist, lernt das Kind gerne. Es möchte zeigen, dass die Beziehung und das vom Schulbegleiter Angebotene ihm wichtig sind. Es akzeptiert die Steuerung und Führung durch den Schulbegleiter, denn er ist sein Vorbild. Die Erfahrungen, die ein Kind mit dem Schulbegleiter gemacht hat, verändern sein Verhalten. Freut sich der 122

Konzepte entwerfen und umsetzen

Schulbegleiter aufrichtig, wenn er sein Kind nach dem Wochenende wiedersieht, ist er immer freundlich zu ihm, auch bei Konflikten. Bleibt er gelassen und solidarisch bei Streit-Klärungen, hilft und tröstet er ehrlich, hat er ein feinfühliges Verständnis für sein Kind, wenn es mal wieder wütend ist, dann mag das Kind seinen Schulbegleiter – und dann lernt es von ihm. Ȥ Wenn das Lern-Angebot bedeutsam, interessant, hilfreich und nützlich ist, und Selbst-Belohnung verspricht, dann lernt das Kind. Wenn das Kind erlebt, dass es weniger schmerzhaft ist, sich zu vertragen als zu streiten, wenn es erlebt, dass es ihm guttut, wenn es über seine Traurigkeit spricht, wenn es erlebt, dass es gelobt wird und stolz auf sich sein kann, dann lernt das Kind und verändert sein Verhalten. Baustein 3: Kreativität Kreativität beschreibt die Fähigkeit, unkonventionell zu denken. Der Schulbegleiter braucht Kreativität. Die Routine und sein Blick auf das Gewohnte reichen nicht, um sein Kind im System Schule weiterzuentwickeln. Kreativität meint nicht, ausufernde Verrücktheiten zu erfinden. Es geht vielmehr darum, für bestimmte Situationen kreative Lösungen zu finden, die auf ein bestimmtes Ziel hinsteuern. Kreativität bedeutet hier: Neues zu machen, etwas in Bewegung zu bringen, auszuprobieren, Gutes abzusichern und Ungutes zu verwerfen, Ideen einzubringen, mögliche Irrtümer zuzulassen, das Verwerfen von Ideen nicht als Scheitern anzusehen, sondern als Erfahrung. Angemessen kleine Schritte zu gehen, den Blick auf Problemlösungen zu fokussieren und respektvolle, angemessene Anforderungen ans Kind zu stellen. Alles, was nützlich ist, um Max oder Marie zu helfen, darf der Kreativität entspringen. Dazu zählen z. B. spielerische Lernmethoden, bei denen man miteinander Spaß hat. Auch die Kreativität des Kindes einzufordern und zuzulassen, ist kreativ. Kreativität ist nichts Schwieriges oder Geheimnisvolles. Jeder, der denken kann, ist auch fähig, Ideen zu haben. Der Schulbegleiter lernt das Kind immer besser kennen, denn er macht Erfahrungen über die Fortschritte seines Kindes. Er kennt die Lernmaterialien der Jahrgangsstufe und die räumlichen Bedingungen Bausteine

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in der Schule mit ihren Rückzugsmöglichkeiten: Differenzierungsraum, Ergotherapie-Raum, Psychomotorik-Raum, Turnhalle. Welche Lernmaterialien stellen die Sonderpädagogen zur Verfügung? Wie ist die Schulbücherei ausgestattet? Jeden Tag übt sich der Schulbegleiter im Nach-der-Decke-­ Strecken. Gemeint ist hier nicht die Zimmerdecke, sondern die Bettdecke. Der Ausdruck stammt aus früheren Zeiten, als ein reisender Herbergsgast wusste, er muss und kann sich zum Schlafen im fremden Bett nur so weit ausstrecken, wie die Bettdecke lang ist. Das Nach-der-Decke-Strecken ist ein positiver Begriff, wenn man auf das Gelingen schaut. Stößt der Schulbegleiter an Grenzen des Lernmaterials oder an Grenzen, die der schulische Förderplan vorgibt, oder auch an räumliche Grenzen, dann sollte er mit den verantwortlichen Lehrern sprechen und sehen, ob mehr Bewegungsund Handlungsspielraum ermöglicht werden kann. Baustein 4: Vertrauen Vertrauen ist ein gelebtes und/oder gefühltes wechselseitiges Versprechen, sich auf den anderen verlassen zu können. Vertrauen ist eine Sache von Erfahrung und die daraus entstandene Einstellung zu Mitmenschen. Sein Kind hat aufgrund seiner persönlichen Lebensgeschichte bereits vertrauensrelevante Erfahrungen gemacht. Es hat eine Vorstellung darüber erworben, wann man jemandem trauen kann oder misstrauen sollte. Gleichzeitig verfügt es über Einstellungen, wie es sich zu verhalten hat, um Vertrauen zu erwerben. Kinder sind von Geburt an bereit, sich vertrauensvoll an fürsorgende Erwachsene zu binden. Wiederkehrende negative Beziehungserfahrungen in der Vergangenheit können jedoch zur Verfestigung von Misstrauen und Unsicherheit geführt haben. Diese Kinder sind skeptisch, zurückhaltend oder ablehnend bei Annäherung. Ohne Vertrauen hat der Schulbegleiter schlechte Aussichten auf Erfolg. Die erfolgreiche Zusammenarbeit ist wesentlich abhängig vom Grad des Vertrauens, den das Kind seinem Schulbegleiter entgegenbringt. Vertrauen ist gegeben, wenn sein Kind weiß und fühlt, dass es sich auf seinen Schulbegleiter verlassen kann. Fühlt es sich in seiner Nähe sicher, und erzählt es ihm seine Probleme, dann herrscht Vertrauen. 124

Konzepte entwerfen und umsetzen

Vertrauen braucht den Mut zum Risiko. Jeder, der vertraut, geht ein Risiko ein. Die Bereitschaft seines Kindes ein Vertrauensrisiko einzugehen, ist abhängig von den Erfahrungen des Kindes und vom bisherigen Umgang des Schulbegleiters mit seinem Kind. Vertrauen braucht Zeit, um zu wachsen. Aufeinander aufbauende, mehr oder weniger starke Interaktionserfahrungen zwischen dem Schulbegleiter und seinem Kind lassen das Vertrauen schneller oder langsamer wachsen. Das Kind merkt, ob der Schulbegleiter ihm vertraut und ihm einen Vertrauensvorschuss gibt. Dann wird es dieses Vertrauen mit vertrauensvollen Handlungen erwidern. Immer, wenn sie in den Differenzierungsraum gehen, gibt der Schulbegleiter Max seinen Schulschlüssel: »Lauf schon mal vor und schließ die Tür auf.« Oft sind es solche kleinen Maßnahmen, die den Vertrauensaufbau fördern. Wenn Max lügt, ist es für den Schulbegleiter ratsam, in der ersten Reaktion so zu tun, als glaubte er ihm. Die Aufklärung und Richtigstellung erfolgt später, auf den Anlass bezogen und in ruhiger, nicht vorwurfsvoller Art. Niemals sagt der Schulbegleiter: »Ich bin aber enttäuscht von dir.« Max braucht viele Vertrauensbeweise. Er hat sozusagen eine Liste im Kopf, welche Beweise er von seinem Schulbegleiter bestätigt wissen möchte. Er überprüft, ob sein Schulbegleiter Ȥ immer zuverlässig ist (pünktlich, seine Versprechen immer einhält), Ȥ immer da ist (auch wenn er nicht da ist, denkt der Schulbegleiter an ihn), Ȥ ihm glaubt und Partei ergreift (solidarisch ist, wenn er Auseinandersetzungen mit Mitschülern hat), Ȥ ihn beschützt (dazwischen geht, wenn er streitet), Ȥ loyal ist (sich mit ihm demonstrativ auf dem Schulhof zeigt), Ȥ zu ihm gehört (ihm hilft, wenn der Lehrer mal wieder Stress macht). Max sollte in der akuten Situation angemessen zuverlässig und ehrlich erfahren, welche Versprechen sein Schulbegleiter erfüllen Bausteine

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wird oder (leider) nicht erfüllen kann. Ein offenes, ehrlich aufklärendes Gespräch baut Vertrauen auf, auch wenn Wünsche nicht erfüllt werden können. Es ist auch wichtig, dass die Kinder lernen, sich untereinander zu vertrauen. Hat es Streit gegeben, organisiert der Schulbegleiter ein Streitschlichtungsgespräch in der sich streitenden Gruppe. Er petzt den Streit offiziell nicht dem Lehrer (das macht er, ohne dass die Kinder es mitbekommen). Auch in der Gruppe zeigt der Schulbegleiter, dass er Max glaubt und vertraut. Gleichzeitig organisiert er ein Gruppengespräch für vertrauensbildende Maßnahmen. Mein Vorschlag: »Jetzt, nachdem wir uns wieder vertragen haben, spielen wir zusammen Domino im Gruppenraum«. Nach diesem Spiel kann der Schulbegleiter, wenn es wichtig ist, mit Max noch über den Streit sprechen. Vielleicht bietet Max danach doch noch eine Entschuldigung oder eine Wiedergutmachung an. Diese käme dann wirklich von Herzen – und nicht aus dem Gruppenzwang heraus. Kontraproduktiv und Vertrauen untergrabend hingegen sind Ermahnungen oder Drohungen, wie Ȥ »… dann kann ich dir nicht mehr vertrauen« Ȥ »Ich habe das Vertrauen in dich verloren« Ȥ »Du enttäuscht mich (immer wieder)!« Ȥ »Jetzt musst du erst mal beweisen, dass du mein Vertrauen verdienst«, Ȥ »Ich bin enttäuscht von dir!« Ȥ »Du hast mein Vertrauen missbraucht!« Die Vertrauensarbeit geht immer vom Schulbegleiter aus. Er ist verantwortlich für die Qualität des Vertrauens und dafür, dass sein Kind ihm vertraut. Das Kind beobachtet, wie Lehrer und Schulbegleiter miteinander umgehen. Haben sie Vertrauen zueinander, reden sie freundlich, wertschätzend, aufrichtig und sich ergänzend miteinander? Das Kind merkt, ob sie auf einer guten Vertrauensbasis Verbündete oder ob sie sich uneinig sind. Demonstrative kollegiale Gespräche oder freundliche Gesten in Gegenwart des Kindes sind in den Augen des 126

Konzepte entwerfen und umsetzen

Kindes Beweise für ein Vertrauensverhältnis zwischen Lehrer und Schulbegleiter. Unvereinbare Konflikte sollten deshalb niemals vorm Kind ausgetragen werden (vgl. Kapitel 4, Lehrerinnen und Schulbegleiterinnen: Miteinander auf Augenhöhe, Die Frage der Arbeitsteilung). Baustein 5: Gefühle Die eigenen Gefühle und die Gefühle anderer zu erkennen, sie zu unterscheiden und zu benennen, erfordert Kompetenz. Die Perspektive anderer einzunehmen, diese zu berücksichtigen und sich emphatisch in andere hineinzuversetzen und mitzuempfinden, erfordert ebenfalls Kompetenz. Kinder sind schon früh in der Lage, Gefühle differenziert wahrzunehmen und sich in andere Menschen hineinzuversetzen (Kinderärzte und Jugendärzte im Netz.de). Bei dem Kind des Schulbegleiters ist das anders. Es ist ausgeprägt ich-bezogen, lässt Bedürfnisse anderer nicht zu. Seine Gefühle sind ihm wichtig. Es verschafft sich immer Vorteile zulasten anderer Kinder. Ob es schreit, weint oder beleidigt – es geht meist um seinen eigenen Vorteil. Es muss immer im Mittelpunkt stehen, von den anderen gesehen und gehört werden. Seine Wut ist zu groß, sie muss raus. Jetzt. Und immer durch Angriff, durch Beleidigen, Streiten, Toben. Sein Kind hat es nicht anders gelernt. Der Schulbegleiter braucht Zeit und ein gutes Vertrauensverhältnis, um Gefühle zur Sprache zu bringen. Er beginnt, Gefühle zu differenzieren in positive Gefühle (so fühle ich mich, wenn ich friedvoll, fröhlich, erfreut, stolz, zuversichtlich usw. bin.) und in negative Gefühle (so fühle ich mich, wenn ich ängstlich, wütend, bekümmert, erschöpft, traurig usw. bin). Vielleicht ist im Differenzierungsraum eine Tafel, die er dafür nutzen kann. Vielleicht können geeignete Kinderbücher aus der Schulbücherei vorgelesen und besprochen werden. Vielleicht erzählt sein Kind dem Schulbegleiter außerhalb der Klasse (da sein Kind, der Störenfried, mal wieder die Klasse verlassen musste) von seinen blöden und schönen Sachen, die es am Wochenende erlebt hat – und was es dabei gefühlt hat. Dann kann er seinem Kind durch gezielte Fragen helfen, negative Gefühle zu erkennen: Wie fühlst du dich? Und wie fühlt deine Mitschülerin sich Bausteine

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(z. B. nach einem Streit)? Er hilft ebenso dabei, positive Gefühle zu erkennen: Wann würdest du dich besser fühlen? Wann würde die Mitschülerin sich besser fühlen? Wie könntest du dich wieder vertragen und wie kann ich dir dabei helfen? Erfolg versprechend ist auch, weitere betroffene und nicht-betroffene Mitschüler hinzuzunehmen, und gemeinsam über erlebte Gefühle zu sprechen. Baustein 6: Selbstwert

Sich selbst mögen und annehmen, sich sicher fühlen im Miteinander der Klasse, das kann Marie nicht. Ihr fehlt die Freude am Leben. Sie kann keine sozialen Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen. Marie ist eine Außenseiterin in der Klasse. Sie möchte gerne dazugehören, findet jedoch keinen Weg, für andere wichtig, attraktiv und wertvoll zu sein. Denn sie hält sich selbst nicht für wertvoll, sondern sie fühlt sich minderwertig. Sie mag sich selbst nicht und kann sich nicht vorstellen, dass die Mitschüler sie mögen. Sie traut sich zu wenig zu. Sie glaubt nicht daran, Schwierigkeiten meistern zu können. Die Motivation zu lernen ist bei Marie nicht vorhanden. Sie steckt in einem Teufelskreis, aus dem sie allein nicht herauskommt. Die Angst vor Ablehnung prägt ihr soziales Miteinander im Schulalltag. Sie will aber anerkannt werden. Deshalb tut sie sich mit Frechheiten und Respektlosigkeiten vor Lehrern hervor. Sie kaspert herum, sie protzt, sie prahlt mit Vaters Porsche oder mit waghalsigen Kunststücken bis hin zur Eigengefährdung an den Sportgeräten. Schritt für Schritt zur eigenen Wertschätzung

Der Schulbegleiter wird in kleinen Schritten, mit kleinen Aufgaben, Maries Selbstwertgefühl fördern. Kleine Aufgaben, kleine Erfolge. Marie muss erleben, dass sie etwas leisten und Erfolg haben kann. Er wird ihr Äußeres beachten (»Du hast heute einen schönen Pulli an bzw. das ist eine tolle Haarspange, die macht dein Haar noch hübscher«) und er wird sie ermuntern, über sich zu sprechen. Das tut er, indem er Interesse zeigt für das, was sie sagt und tut, und zuhört, 128

Konzepte entwerfen und umsetzen

was sie zu sagen hat. Er hält sich dabei mit Kritik zurück. Er nimmt sein Kind in den Arm und fordert es auf, sich was Schönes auszudenken (s. auch Kapitel 4, Das Schulbegleitungs-Kind: Zusammensein und Wir-Gefühl, Präsenz, Präsenz, Präsenz). Er zeigt, wie er mit Fehlern umgeht, die er selbst begangen hat. Mit allen Gesten und allem Reden zeigt er seinem Kind, dass er es mag, dass es wertvoll ist, dass es in Ordnung und liebenswert ist. Er wird dabei Geduld haben, bei Erfolgen loben, bei Misserfolgen helfen und immer in kleinen Schritten ansetzen. Baustein 7: Wir-Gefühl Der Mensch ist ein soziales Wesen. In der Regel passen sich Menschen meist unbewusst und automatisch einer oder mehreren Gemeinschaften an. Es gehört zu den menschlichen Grundbedürfnissen, in Gemeinschaften aufgenommen zu werden, um dazuzugehören. Er wird Teil einer Gemeinschaft durch Geburt (Familie, Religion) oder er tritt mehr oder weniger freiwillig ein (Partei, Verein, Rockergruppe) oder er wird ohne Wahlmöglichkeit zugeordnet, z. B. in eine Schulklasse. Menschen fühlen sich einer Gemeinschaft besonders zugehörig und verbunden, wenn sie ihr Dabeisein mit Wir-Gefühlen verbinden. Wir-Gefühle fördern den Zusammenhalt in einem sozialen System. In der Gemeinschaft steht das Wir-Gefühl in Konkurrenz zur IchMentalität. Eine Gruppe wird nach innen durch Gleichgesinntes (Sinn, Werte, Symbole etc.) zusammengehalten, und nach außen verteidigt. Der Andersdenkende, Anderslebende oder der, der andere Ziele hat, ist draußen. In der Gruppe wird immer das innerkooperative Verhalten belohnt; das Zugehörigkeitserleben verstärkt sich und die Nachhaltigkeit von Beziehungen wächst. Auch für Zweierbeziehungen (Dyaden) gilt: Nachhaltige Beziehungen haben ein großes Wir-Gefühl. Die Zutaten für ein gutes Wir-Gefühl bringt der Schulbegleiter in die Zweierbeziehung ein. Ein authentisches und aufrichtiges »Wir« kann der Schulbegleiter seinem Kind vorleben und oft beweisen. Auch wenn sich die zen­ tralen Zutaten des gemeinsamen Erlebens und daraus erwachsenen Wir-­Gefühls primär nur auf den schulischen Kontext richtet, wird sein Kind das Wir-Gehören-Zusammen-Gefühl über den schuliBausteine

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schen Kontext hinaus fühlen und sich seinerseits authentisch und aufrichtig gegenüber dem Schulbegleiter verhalten. Es wird kooperativ und motiviert auf Basis des Wir-Gefühls lernen: Formelles durch Teilhabe am Regelunterricht und Soziales durch Teilnahme am kooperativen Umgangsstil der Klasse – gewaltfrei, hilfsbereit, empathisch. Baustein 8: Selbstwirksamkeit Wer bin ich? Auch das muss ein Kind lernen. Ein Kind, das ein klares Bild seiner Stärken und Schwächen hat, fühlt sich wohler. Es ist sozial und emotional weniger angespannt.

Jedes Kind bemüht sich um Anerkennung und Zuwendung. Es möchte in seiner Individualität gesehen und ernst genommen werden. Persönliches Lernen und Lernen in sozialen Gemeinschaften sind untrennbar miteinander verbunden, sie bedingen sich gegenseitig. Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit sind in unserer Gesellschaft ein hohes Gut. Sie sind psychosoziale Grundbedürfnisse, dessen Befriedigung einen wesentlichen Faktor für die persönliche und soziale Entwicklung darstellt. Das Streben nach Selbstwirksamkeit einerseits und die sozialen Erwartungen der Gemeinschaft andererseits zu erfüllen und auszubalancieren ist einfacher für das Kind, wenn es Ȥ ein sicheres Konzept von sich selbst hat. Das Selbstkonzept besagt, wer oder was ich bin und was ich kann. Ȥ ein gutes Selbstwertgefühl hat. Gemeint ist hier die emotionale Komponente. Fühlt das Kind sich sicher in der Welt, fühlt es sich anerkannt in seiner sozialen Umgebung, dann ist es mit sich im Reinen. Ȥ sich zutraut, die eigene Situation selbst zu gestalten. Dann spricht man von Selbstvertrauen. Ein gutes Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl sind wesentliche Voraussetzungen für den Erwerb von sozialen Kompetenzen. Der Schulbegleiter sollte mit seinem Kind Gelegenheiten suchen – sei es in der Klasse oder allein mit ihm im Differenzierungsraum –, 130

Konzepte entwerfen und umsetzen

die Einzigartigkeit seines Kindes und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe sinnhaft zu erleben, mit allen fünf Sinnen. Er ermutigt sein Kind, sich selbst zu behaupten. Er lobt sein Kind, er zeigt seine Anerkennung für Geleistetes. Er regt an, sich Spielgruppen anzuschließen. Er baut sein Kind bei passender Gelegenheit durch kleine Gesten und Anregungen auf – im Sportunterricht, in Kunst und Werken, auf seinem Sitzplatz, an der Tafel, im Pausenhof. Wenn der Schulbegleiter schon länger in der Klasse ist, und er die anderen Kinder kennt, weiß er, welche Kinder sich gegenseitig stärken können. Er sollte Paare und Gruppen so organisieren (miteinander spielen lassen, Einladungen zu Geburtstagsfesten zu Hause anregen), dass die Kinder sich gegenseitig ergänzen und einander zeigen, was sie können und was sie Gutes aneinander haben. Baustein 9: Resilienz und Ressourcen Resiliente Menschen haben ein psychisch gesundes Leben. Sie erkennen einen Sinn in ihrem Leben. Sie haben erlebt und erfahren, dass man erfolgreich ist, wenn man handelt. Sie geben in schwierigen Situationen nicht so schnell auf. Sie haben ein realistisches Bild von sich selbst. Sie können ihre Widerstandskraft bei Herausforderungen gut beurteilen. Auch ihre Träume schätzen sie realistisch ein. Eine wichtige Rolle spielt dabei, dass sie ihre Gefühle gut regulieren können. Sie schauen zuversichtlich in die Zukunft. Wenn etwas schwer ist, wissen sie, dass es auch wieder leichter werden wird. Die Fähigkeit zur Resilienz wird in der Kindheit erworben (Kriebs 2019). Resilienz ist keine moralische Kategorie. Sie ist eine Ressource, die zum Überleben erworben wurde. Wie bei Max:

Max ist ein Problemkind, er hat aber sehr wohl in seiner Kindheit Resilienz erworben. Max streitet viel, ist oft aggressiv, greift Widrigkeiten an. Mit diesen Fähigkeiten hat er gelernt, sein Leben zu meistern. Da Max sich bereits beim ersten Kontakt mit seinem neuen Schulbegleiter auf das Risiko einlässt, sich zu öffnen und eine Beziehung aufzunehmen, ist das bereits ein Zeichen seiner Resilienz. Max sucht sich einen Schulbegleiter, der ihn beschützt und seine Fähigkeiten und sein Selbstvertrauen stärkt. Max hat Bausteine

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sich, das zeigt sein erstes Verhalten, seinen Schulbegleiter bereits ausgesucht (nicht umgekehrt!). Die Resilienz von Max zu erkennen, hilft dem Schulbegleiter, ihn weiterzuentwickeln. Bisher ist Max nicht geholfen worden, die richtigen Strategien zur Umsetzung seiner Resilienz-Fähigkeit anzuwenden. Max zeigt, dass er die Fähigkeit erworben hat, Hilfe und Schutz durch eine andere Person zuzulassen. Max wird aktiv um Bindung zu seinem Schulbegleiter werben. Er hat entschieden, sich auf das Risiko einzulassen, mit einem anderen Erwachsenen (Anstelle des Vaters? Oder zusätzlich?) eine neue, hoffentlich förderliche Bindung einzugehen. Resiliente Kinder behaupten sich. Sie setzen ihre Anliegen selbstständig und aus Eigenantrieb im Rahmen ihrer Möglichkeiten durch. Der Schulbegleiter unterstützt diese Kraft. Max streitet oft und schlägt auch schon mal zu, wenn er sein Anliegen durchsetzen will. Es scheint widersprüchlich: Der Schulbegleiter unterstützt diese Kraft! Aber nicht so, wie Max seine Kraft bisher eingesetzt hat. Er lenkt sie in konstruktive Bahnen. Resiliente Kinder versuchen nicht, Verletzungen oder ungute Gefühle zu verdrängen. Sie verdrängen oder idealisieren auch nicht ihre Erfahrungen zu Hause. Sie verdrängen das Widrige nicht ins Unterbewusstsein. Aufrichtig stellen sie ihre Emotionen dar. Sie zeigen ihre Wut, ihren Ärger, ihren Zorn. Sie sind stark, klettern auf hohe Gerüste, sie möchten ihre Welt so gestalten, dass sie heil wird. Resilienz ist eine Ressource. Es kommt auf die Perspektive an, die der Schulbegleiter einnimmt, um die Stärken seines Kindes zu erkennen. Eigenwilligkeit ist nicht gleich Ungehorsam. Seine Gefühle zu erleben, bedeutet nicht, sich nicht kontrollieren zu können. Der Schulbegleiter unterstützt sein Kind Max, indem er ihn begleitet, wenn Max wütend oder ärgerlich ist. Er hilft seinem Kind, seine Gefühle zu erkennen. Und er hilft ihm dabei, diese Gefühle kontrolliert in die richtigen Bahnen zu lenken. Der Schulbegleiter fördert Eigenaktivitäten. Er überlässt Max die Wahl der Spielkameraden und mischt sich wenig ins Spielgeschehen ein. Er fordert Max auf, eigene Lösungsvorschläge zu machen, um einen Streit zu schlichten. Der Schulbegleiter schaut zunächst zu, 132

Konzepte entwerfen und umsetzen

ob Max seinen Streit selbst besprechen und befrieden kann. Kleine Hinweise vom Schulbegleiter können unterstützen, sind aber nicht Motor der Streitschlichtung. Der Schulbegleiter lässt Freiräume zu, und er handelt mit Max die Grenzen aus. Sämtliche pädagogische Maßnahmen des Schulbegleiters werden (oder sollten) helfen, die Widerstandskraft des Kindes weiterzuentwickeln und zu stärken. Der Schulbegleiter erhält mit dem richtigen Blick auf sein Kind Orientierung für Konzepte, die ihm sonst verschlossen blieben. Resiliente Kinder haben sich oft schon sehr früh hohen Anforderungen stellen müssen. Sie übernahmen früh Verantwortung und bewältigten Herausforderungen. Sie konnten sich selbst als kompetent und belastbar erfahren und damit ihr Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl stärken. Um zu erkennen, ob Resilienz-Eigenschaften das Verhalten des Kindes bestimmen, ist das Wissen über die widrigen Umstände, denen das Kind ausgesetzt ist oder war, Voraussetzung. Was hat das Kind erfahren? Vernachlässigung, suchtkranke Eltern, Traumatisches, Misshandlungen? Die Umstände und Risiken, in und mit denen ein Kind aufwächst, sollten dem Schulbegleiter soweit wie möglich bekannt sein. Wenn das Kind ausrastet, brüllt, auf den Schoß will oder Umarmungen erbittet, macht es Sinn, einen Perspektivwechsel vorzunehmen. Von der Defizitbetrachtung hin zur Ressourcen-Betrachtung Was sind die Stärken des Kindes, welche Schutzfaktoren hat es sich ausgesucht? Ist es z. B. die sichere Bindung an die ältere Schwester (das wäre gut, denn die große Schwester kann helfen) oder an die jüngere Schwester (das wäre schlecht, denn die kleine Schwester überfordert ihn, und er vielleicht auch sie)? Ist das Kind aktiv, geht es Probleme direkt an? Hat das Kind ein hohes Antriebsniveau? Ein Perspektivwechsel kann zeigen, dass die Antriebskraft des Kindes nicht durch seine Gene oder Hormone, sondern aus seinem gelernten Willen, sich durchzusetzen, bestimmt wird. Dieses Kind ist auf unterstützende Interaktionen des Schulbegleiters in der Bausteine

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Schule angewiesen, um sich entwickeln zu können. Nicht auf medizinische Hilfe. Um herauszufinden, welche Prozesse oder Ereignisse, welche Personen oder Gefühle günstige wie ungünstige Bedingungen hervorgerufen haben, kann der Schulbegleiter sein Kind befragen. Die richtige Fragetechnik kann ihm dabei helfen (s. Kapitel 5, Baustein 14: Lösungsorientierte Fragetechniken). Baustein 10: Werte Werte und Normen haben eine Orientierungsfunktion. Sie stiften zugleich ein Wir-Gefühl in sozialen Systemen und Identität für den Einzelnen, und sie strukturieren das jeweilige soziale System. Unsere komplexe Gesellschaft fordert Werte wie freie Entwicklung der Persönlichkeit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung, individuelle Selbstgestaltung und Selbstoptimierung jenseits sozial vorgegebener Rollen. Auch Gewaltfreiheit und Rücksichtnahme, Selbstkritik und Kritikfähigkeit sowie größere Offenheit für andere Kulturen und Menschen zählt zu den allgemein anerkannten Werten. Diese Werteorientierungen sind auch die Basis einer modernen Regelschule. Werte mit Mehrwert fürs Kind Vor dem Hintergrund dieser Werte entwickelt und installiert der Schulbegleiter weitere kompatible Werte, Regeln, Riten und Symboliken, die von seinem Kind in der erlebten Zweier-Beziehung als vorteilhaft, interessant, bedeutsam und gewinnbringend wahrgenommen werden. Der Schulbegleiter ist nahe am Kind, näher als die Lehrerin. Er ist an der Schule für sein Kind die erste und wichtigste Bezugsperson. Damit ist er die erste Instanz, die dem Kind Werte, Normen und Regeln vermittelt. Der Schulbegleiter ist in den Augen seines Kindes ein Werteträger. Er achtet darauf, dass die für sein Kind zukünftig relevanten Werte, Prinzipien und Regeln strukturell in die intensive Zweier-Gemeinschaft eingebettet werden. Als Werteträger macht er eigene Regeln, formuliert eigene Prinzipien, ritualisiert sie und lebt sie vor. Der Schulbegleiter kann und darf nicht heute so und morgen anders entscheiden: Heute hält er solidarisch zu Marie, und morgen 134

Konzepte entwerfen und umsetzen

lässt er sie im Konflikt mit der Lehrerin fallen. Heute lässt er Marie tun, was sie will (sie soll sich frei entwickeln) und morgen möchte er Marie eng führen (denn sie muss erst mal Regeln und Grenzen lernen). Würde er so vorgehen, wäre Marie höchst verunsichert. Dann wäre das, was heute falsch ist, morgen richtig und übermorgen wieder falsch. Marie möchte vielmehr einen stabilen Erwachsenen erleben, der weiß, was richtig und was falsch ist. Denn das gibt Marie Sicherheit. Es reicht dabei nicht, wenn der Schulbegleiter moralische Wertvorstellungen über die Welt und seine Arbeit verinnerlicht hat und glaubt, diese würden sich schon irgendwie an sein Kind vermitteln. Marie möchte deutlich erleben, dass ihr Schulbegleiter selbst Träger dieser Werte ist und darauf basierend diese Prinzipien und Regeln lebt. Nur dann wird sie ihn als ihr Vorbild annehmen. Die nachfolgend beschriebenen sieben Werte und Prinzipien decken und ergänzen sich mit den heute allgemein gültigen Werten an einer modernen Schule. Sie können der Schulbegleiterin, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Impulse für ihr Werte-Vorleben geben und Komponenten ihrer Konzepte sein. Die Würde des Kindes

Ein Kind ist ein fertiger Mensch. Ein Kind ist kein kleiner Erwachsener. Es ist auch kein unfertiger kleiner Erwachsener, der erst noch der Aufzucht bedarf. Das Kind hat einen Eigenwert, den es zu achten und zu schützen gilt. Und es hat Rechte: auf sein seelisches, materielles und soziales Wohlbefinden, auf Fürsorge und Schutz, auf gewaltfreie Erziehung (Deutsches Kinderhilfswerk e. V. o. J.). Der Schulbegleiter nimmt die Einmaligkeit seines Kindes wahr und fördert dessen Eigenverantwortung und Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Soziale Strukturen, wie Werte und Normen, Prinzipien und Rituale, die der Schulbegleiter sinnhaft vorlebt, sind getragen von der Sorge um das Kind, dessen Fähigkeiten und Bedürfnisse. Das eigens für Marie ritualisierte Token-System (s. in Kapitel 6, Belohnungssysteme und Token) ist den Fähigkeiten und Grenzen des Kindes angemessen. Auch Maries Grenzen im sozialen Miteinander lebt der Schulbegleiter seinem Kind vor. »Stopp heißt Stopp!« fordert er in ruhigem Ton. Erniedrigungen – wie »Du benimmst dich wie eine Dreijährige« – oder Drohungen –»Wenn du nicht aufhörst, Bausteine

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gehe ich weg« –, Anbrüllen und Ausschimpfen mag ein Kind so wenig wie ein Erwachsener. Die Würde des Kindes ist unantastbar. Das Kind nimmt sich selbst wahr, so wie es vom Schulbegleiter wahrgenommen und respektiert wird. Das Kind wird nicht angeschrien, nicht herabgesetzt, nicht verunglimpft. Respekt vor seinem Kind und dessen Handlungen

Achtung setzt Verstehen voraus. Erst wenn der Schulbegleiter sein Kind und dessen Handlungen versteht, kann er Achtung entwickeln. Erst wenn er Maries Kontext versteht, kann er achtungsvoll mit ihr kommunizieren. Verstehen setzt Wissen, Erfahrung, Reflexion und Haltung voraus. Erst das Verstehen ermöglicht ihm, Anwalt seines Kindes zu sein, ihm zu raten und es zu beeinflussen. Wenn er versteht, dass die Geschichten und Umstände, die Marie mit in die Schule bringt, Ursachen ihres auffälligen Verhaltens sind, kann er den Sinn ihres Verhaltens erkennen und respektvoll mit ihr über gewünschte Verhaltensänderungen kommunizieren. Wenn er den Kontext kennt, erkennt er den Sinn von Maries Handeln, denn aus der Sicht von Marie macht ihr Verhalten Sinn. Selbstwert achten und aufbauen Wer sich selbst akzeptiert, mit all seinen Schwächen und Stärken, hat ein positives Selbstwertgefühl. Sich selbst zu verstehen, sich selbst anzunehmen, sich wertzuschätzen, sich schön und nützlich zu finden, ist Voraussetzung für ein starkes Selbstwertgefühl (Miller 2001). Risiken auf sich zu nehmen, um kreativ zu sein, seine Kompetenzen und Potenziale richtig einzuschätzen, neue Wege zu gehen, Altes, was nicht mehr nützt, aufzugeben, gelingt vor allem Menschen, die über einen hohen Selbstwert verfügen. Das Selbstwertgefühl ist nicht einfach vorhanden. Es entwickelt sich meist grundlegend in den Familien und steht dann dem Schulkind als Ressource zur Verfügung. In der Schule wird der Selbstwert gestärkt oder geschwächt. Die Lehrerin hat vielleicht nicht immer die Zeit und Geduld, um die Ressourcen eines Problemkindes zu erkennen und sein Selbstwertgefühl zu fördern. Der Schulbegleiter schon. 136

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Marie weint, wenn sie eine Aufgabe rechnen soll, beim Sport hält sie sich zurück, sie hält sich für tollpatschig. Wenn die anderen am Sitzkreis teilnehmen, bleibt Marie an ihrem Platz. Sie möchte keine Geschichte vom Wochenende erzählen. Marie hat Selbstwertprobleme. Sie freut sich über das kleinste Lob ihres Schulbegleiters. Sie möchte in den Arm genommen werden. Der Schulbegleiter nimmt sie ernst, ist mit ihr auf dem Schulhof, erzählt ihr Geschichten, hört ihr zu und ist von Maries Erzählungen angetan. Marie macht die Erfahrung, dass sie gemocht und geachtet wird. Marie kann lernen – es müssen nur die richtigen Aufgaben sein (s. Kapitel 4, Das Schulbegleitungs-Kind: Zusammen sein und WirGefühl, Loben! Loben! Loben!). Solidarität

Solidarität ist ein sogenannter Signal-Wert. Solidarität signalisiert, wer zusammengehört. Solidarität ist auch ein Prüf-Wert. Solidarität steht ständig unter Verdacht, gebrochen zu werden. Solidarität entspringt dem Bewusstsein der Zusammengehörigkeit und demonstriert nach innen und außen den Zusammenhalt (Miller 2001). Solidarität ist belastbar. Je belastbarer sie ist, umso größer wird das wechselseitig Sicherheit gebende Gefühl des gemeinsamen und gegenseitigen Schutzes. Max und Marie überprüfen die Qualität des solidarischen Verhaltens ihrer Schulbegleiter, wenn sie sich mal wieder nicht regelkonform verhalten. Wenn Marie mal wieder die Lehrerin beleidigt, eine Mitschülerin schlägt oder auch ihren Schulbegleiter beschimpft, bleibt dieser solidarisch und wendet sich nicht ab. Der Schulbegleiter zeigt Marie, dass er sich nicht gegen sie als Person stellt, auch wenn er ihr Verhalten nicht toleriert. Er zeigt jedoch, dass er das spezielle Verhalten (das Beleidigen) nicht akzeptiert: »Marie, du weißt, ich mag dich, aber deine hässlichen Worte zur Lehrerin gehen gar nicht, das müssen wir wieder gut machen«. Dass der Schulbegleiter solidarisch an Maries Seite ist, soll die ganze Klasse erleben: »Komm, wir beide gehen raus und besprechen, was wir nun tun können, um das wiedergutzumachen«. Der Schulbegleiter, der sein Kind kennengelernt hat, wird immer einen kommunikativen Weg finden, sein Kind anzuregen, ihm einen wenn auch noch so kleinen Vorteil anzuBausteine

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bieten, um Widerstände des Kindes zu überwinden (s. auch Kapitel 6, Strategien für Rüpel, Rowdies und Rabauken). Zuverlässigkeit ist symbolisches Verhalten

Der Schulbegleiter hält gemachte Versprechen ein. Er verspricht nichts, was er nicht halten kann. Er ist zuverlässig in seinen Aussagen. Er ist pünktlich, wenn er Pünktlichkeit versprochen hat. Er entschuldigt sich bei seinem Kind, wenn er etwas falsch gemacht hat. Er klärt Missverständnisse auf. Er hält große wie kleine Rituale, die eingeübt sind, konsequent aufrecht: das morgendliche Begrüßungsritual, das Verabschieden am Mittag: Ich freue mich auf den Tag morgen mit dir. Aufrichtig und wertschätzend kommunizieren

Viele (problematische) Kinder bringen (problematische) Kommunikationserfahrungen mit in die Schule. Denn zu Hause findet Kommunikation statt. Oft nicht ehrlich, oft durch die Blume, oft verletzend oder entwürdigend. Oft wird zu Hause geschrien, beleidigt, gedroht. Das Schulbegleiter-Kind hat vielleicht die eisige Atmosphäre zwischen Mama und Papa gespürt, die Lüge und das wechselseitige Hintergehen erlebt. Es hat die herabsetzende, mürrische Art der Mutter erlebt. Auch den nörgelnden und frustrierten Vater, der dem Kind Nachhilfe im Rechnen, Schreiben und Lesen gibt, und dabei immer schimpft: Du bist so dumm! Das kann doch jeder, das musst du doch schon können!? Ein Klaps auf den Hinterkopf unterstreicht seinen Frust über die Unfähigkeit seines Kindes. Außerhalb der Familie, in der Schule, ist der Schulbegleiter der wichtigste Kommunikationspartner seines Kindes. Eine aufbauende, aufrichtig gemeinte Sprache ist das Kind von zu Hause nicht gewohnt. Diese wird auch nicht (mehr) vom Kind erwartet. Das Kind muss erst noch lernen, dass der Schulbegleiter es aufrichtig und gut mit ihm meint. Es muss lernen, dem Schulbegleiter zu vertrauen. Der Prozess des Vertrauenserwerbs wird maßgeblich beeinflusst durch aufrichtiges, wertschätzendes Kommunizieren des Schulbegleiters.

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Selbstbestimmung und Eigenverantwortung fördern

Der Schulbegleiter unterstützt sein Schulkind darin, als Schüler (für soziales Lernen und Wissen-Lernen) besser als bisher klarzukommen. Max soll seine Konflikte konstruktiver und damit gewaltfreier austragen. Er soll seine Gefühle besser in den Griff kriegen, Kontakte zu Freunden alleine aufbauen können. Er soll sein Schulmaterial ordentlich halten und dem Lernstoff folgen können. Der Schulbegleiter unterstützt ihn dort, wo Max sich alleine nicht helfen kann. Solange wie nötig und so kurze Zeit wie möglich. »Du bist schon groß, das kannst du alleine!« – »Dafür bist du nicht zu klein, ich kann dir aber helfen!« Das sind Aufforderungen, die – in passenden Situationen richtig angewandt – helfen, den Selbstwert zu heben und das Kind autonomer zu machen. Das Ziel der Schulbegleitung ist immer, für das Kind die größtmögliche Selbstbestimmung zu erreichen, sie wieder zu gewinnen oder sie zu erhalten. Der Schulbegleiter verhält sich so, dass Max diese Ziele sinnhaft erlebt. Auf dem Pausenhof animiert er zum Mitspielen, spielt dann aber nur kurz selbst mit und hält sich dann zurück. Im Unterricht bereitet er nur am Anfang die Schulmaterialien vor, das Loben fürs Selbermachen bringt Max dann auf den richtigen Weg. Ein Telefonat wegen des erneut fehlenden Frühstücksbrotes beginnt der Schulbegleiter selbst mit der Mutter und übergibt dann das Handy an Max, damit er mit der Mutter selbst bespricht, dass er Hunger und nichts zu essen dabeihat. Das Subsidiaritätsprinzip besagt, Max nur dort und dann zu helfen, wo Max sich noch nicht selbst helfen kann. Das Prinzip fordert ein, dass Max immer mehr Selbstverantwortung erleben und Autonomie erreichen soll, um sich von der Schulbegleitung frei zu machen.

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Baustein 11: Klassenregeln und Rituale in der sozialen Gemeinschaft Alle Kinder in der Klasse sollen sich wohl-, anerkannt und zusammengehörig fühlen und im Unterricht lernen. Dazu bedarf es Regeln und ihrer Einhaltung. Die Klassenregeln sind bekannt, sie hängen in Wortbildern an der Wand im Klassenraum:

Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ Ȥ

Wir sind freundlich zueinander. Ich gehe leise durch die Schule. Ich erledige meinen Klassendienst. Ich höre zu, wenn jemand spricht. Ich melde mich, wenn ich etwas möchte. Freundlichkeit, Gewaltlosigkeit. Streitschlichten ist besser als hauen. Ȥ Kompromisse finden, ist besser als streiten. Ȥ Das Anderssein wird akzeptiert. Ȥ Jeder wird respektiert. Diese Regeln wurden in der Klasse gemeinsam entwickelt und besprochen. Sie strukturieren und gliedern das Zusammensein. Diese Leitlinien geben den Schülern Sicherheit. Durch Rituale und Symbole werden diese Regeln immer wieder in Erinnerung gerufen und gefestigt. Rituale sind wiederkehrende und sich wiederholende Handlungsmuster in sozialen Gemeinschaften. Rituale haben stets symbolische Bedeutung. Sie erinnern nach innen an den Zusammenhalt der Gemeinschaft. Nach außen grenzen sie die Gemeinschaft gegenüber anderen Systemen ab. Rituale produzieren und unterstützen Wir-Gefühle. Werden Rituale mit sozialen Werten verknüpft, dann kommunizieren und erhalten sie die Werte einer Gemeinschaft. Sie signalisieren und bestätigen das Wir-Gefühl, das Wir-gehören-zusammen-Gefühl. Rituale fühlen sich gut an, sie betonen das Miteinander. Wer bei Ritualen mitmacht, ist drinnen. Wer nicht mitmacht, gehört nicht dazu. Die Zugehörigkeit ist aber wichtig. Jeder macht bei den Klassen-Ritualen mit: Begrüßung am Morgen, Aufzeigen und sich melden, Klassenrat, Sitzkreis, Klassenspiele. Es gibt viele Spiele zum Aufbau von Toleranz, Wir-Gefühl, Zusammenhalt, gewünschten 140

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Umgangsformen. Diese Spiele werden mehr oder weniger oft von der Lehrerin vorgeschlagen und in der Klasse gespielt. Alle haben Spaß daran. Der Schulbegleiter und sein Kind machen bei diesen Ritualen oder Spielen mit. Der Schulbegleiter zeigt für Max auf: »Max hat mal eine Frage!«. Er schlichtet den Streit mit Marie im Klassenrat: »Marie, wir müssen uns bei dir entschuldigen!«. Er setzt sich in den Sitzkreis (auch wenn Max heute den Sitzkreis boykottiert). Er fegt mit Max zusammen den Klassenraum, wenn Max Fege-Dienst hat. Baustein 12: Regeln lernen Erziehen heißt Vorbild sein Anerkennung, Wertschätzung, Empathie, Zuneigung, ein inniges Verhältnis zwischen Schulbegleiter und seinem Kind, das alles ist sehr wichtig. Ebenso wichtig ist es, mit guten Beispielen voranzugehen. Das setzt voraus, dass der Schulbegleiter die relevanten Regeln kennt. Er vertritt die Regeln auch dann, wenn er mit der einen oder anderen Regel nicht einverstanden ist. Hier gilt das Gebot der Solidarität zur Lehrerin. Auch der Schulbegleiter hält die Klassenregeln ein. Sein Kind hat bisher gelernt: Wenn ich schreie, beschäftigt sich Mama mit mir. Jetzt lernt sein Kind am Beispiel seines Vorbilds Schulbegleiter, der ruhig und gelassen sein Interesse ausspricht: Wenn ich freundlich und rücksichtsvoll bin, fühle ich mich wohler, denn ich bekomme auch so die Aufmerksamkeit, die ich möchte. Sein Kind hat bisher gelernt: Wenn ich jemandem etwas einfach wegnehme, gehört es mir. Jetzt lernt es, dass sein Vorbild Schulbegleiter selbst erst nachfragt, und das Zauberwort bitte sagt. Und dass er das Gewünschte dann auch bekommt, und dabei glücklicher ist als ich, wenn ich laut schreie. Sein Kind schmeißt seine Stifte einfach so in die Federmappe, am nächsten Morgen sind sie zwar noch da, aber nicht alle. Der Schulbegleiter räumt mit ihm ab jetzt jeden Mittag die Federtasche ein. Und freut sich mit ihm gemeinsam am anderen Morgen, dass alle Stifte ordentlich in der Mappe sind.

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Ich-Botschaften senden

»Der Schulbegleiter ist nett, er schimpft nie mit mir. Er sagt mir immer, wie es richtig geht, wenn ich was falsch mache. Der macht mir auch keinen Druck«. Damit sein Kind weniger Druck verspürt beim Regellernen, verwendet der Schulbegleiter Ich-Botschaften. Diese werden vom Kind nicht als Druck verstanden, eine Gegenwehr wird so reduziert: »Ich freue mich immer, wenn ich eine aufgeräumte Federmappe sehe, das gefällt mir. Hilfst du mir, sie aufzuräumen?« »Ich habe mich so gefreut, dass du dich ehrlich bei Sabrina entschuldigt hast, nachdem du dich wieder beruhigt hattest. Da ging es mir richtig gut«. »Es tat mir leid, als ich gesehen habe, dass du beim Streit mit Lukas hingefallen bist«. Und statt Aber

Hilfreich zum Regellernen ist auch das Zauberwort »und« statt »aber«. Weniger gut ist: »Jetzt hast du gut aufgezeigt, aber du musst noch warten bist du drankommst«. Besser ist: »Jetzt hast du richtig gut aufgezeigt, und nun musst du noch warten, bist du dann auch drankommst«. Baustein 13: Mache dein Kind glücklich(er) Glück ist ein kurzer Moment, eine Empfindung, die für jeden etwas anderes bedeutet. Es kommt plötzlich und oft zufällig. Glück kann auch als kleines Erlebnis initiiert werden. Der Schulbegleiter initiiert den kleinen Moment. Er zeigt seinem Kind, dass er sich freut, es heute Morgen wiederzusehen. Glück kann auch ein langfristiges Gefühl der Zufriedenheit sein, man ist mit sich im Reinen, man fühlt sich von den Menschen und der Welt angenommen und im Leben zu Hause. Oft hört man in den Medien die Klage, die Schule sei ein Ort voller leidender Kinder. Das stimmt so nicht. Häufig gemachte Beobachtungen und Erlebnisse mit den Kindern in der Schule zeigen ein anderes Bild. Die allermeisten Kinder sind hier glücklich, fühlen sich angenommen, sind in der Klasse zu Hause. 142

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Schulbegleiter-Kinder sind oft nicht glücklich: »Mama und Papa führen schon so lange Krieg gegeneinander«; »Die große Schwester hat schon wieder gedroht, von zu Hause abzuhauen«; »Meine Mama liegt immer nur auf dem Sofa vorm Fernseher oder hängt nur am Handy«; »… oder sie ist nie da. Essen ist auch nicht im Kühlschrank«. Schulbegleiter-Kinder müssen oft erst lernen, glücklich zu sein. Hier ein paar Tipps an Schulbegleiter, damit das Kind glücklicher wird: 1. Zufriedenheit erleben macht glücklich: Der Schulbegleiter hilft seinem Kind zu entdecken, womit es heute schon zufrieden sein kann: »Was kannst du heute schon gut? »Die Buntstifte hast du schön angespitzt.« – »Die Zahlen hast du sehr sauber geschrieben.« – »Dass du Jannis zum Freund hast, ist dein Glück.« 2. Gemeinsames Planen macht glücklich: Der Schulbegleiter hilft seinem Kind, konkret seine nächste Zukunft zu planen, z. B. beim Freundschaften aufbauen: »Wann willst du Ben sagen, dass du mit ihm lieber nicht streiten, sondern spielen willst?« – »Wann sollen wir (gemeinsam) Jenny in der Pause von deinen neuen Pokémonkarten erzählen?« – »Wann möchtest du gerne Lukas nach Hause zum Spielen und Hausaufgaben machen einladen? Komm, wir fragen ihn beide!« 3. »Danke« sagen macht glücklich: Der Schulbegleiter wird konkret beim »Danke« sagen, denn ehrlich Dankbarkeit zu zeigen, macht glücklich: »Wann willst du Jule sagen, dass du ihr dankst, weil sie deine Jacke an die Garderobe gehängt hat?« Er hilft seinem Kind, auch für Selbstverständliches »Danke« zu sagen: z. B. der Dank an Mama: »Das Pausenbrot ist heute besonders lecker. Sag deiner Mama heute, dass es dir geschmeckt hat«. Am nächsten Tag sollte der Schulbegleiter indirekt nachfragen, ob sein Kind tatsächlich daran gedacht hat, der Mama zu danken: »Was hat deine Mama gesagt, als du …?« Oder der Dank an die Lehrerin: »Marie, geh’ hin und sag der Lehrerin, dass du dich gefreut hast, dass sie dich drangenommen hat.« »Du bist zu schüchtern? Komm, wir gehen beide hin, ich helfe dir, Danke zu sagen.« Bausteine

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4. Erfolg macht glücklich: Der Schulbegleiter leistet Hilfe beim Überwinden von Hindernissen. Da es Hindernisse und Schwierigkeiten beim Umsetzen von Vorhaben geben wird, setzt er seinem Kind Zwischenziele. Er motiviert konkret bei kleinsten Erfolgen: »Du hast heute schön und freundlich mit Ben gespielt. Willst du morgen zu dritt spielen? Ich glaube, wir sollten Benny fragen«. 5. Loben macht glücklich: Konkretes Lob kommt an. Allgemeines Lob wird bei unsicheren Kindern angezweifelt und erhöht ihre Verunsicherung. Ein Lob sollte immer konkret sein. »Du bist ein toller Typ«, bewirkt wenig, weil die Aussage zu abstrakt ist. »Du hast einen coolen Pulli an«, bewirkt viel. Der Schulbegleiter fragt sein Kind, wenn es sichtbar, erlebbar, freundlich, ehrlich oder zuverlässig war, wie es sich angefühlt hat, so zu sein. Es ist gut, dies mit einem Kompliment zu verbinden: »Ich habe gesehen, wie stolz du nach deinem Pass warst. Der ist dir aber auch gut gelungen«. 6. Positive Reflexion macht glücklich: Der Schulbegleiter fragt Marie mittags, wenn sie nach Hause geht: »Was war heute deine schönste Sache, wann hattest du am meisten Spaß?« Marie wird vielleicht zu Anfang keine Frage beantworten, vielleicht macht sie deutlich, dass sie die Frage blöd findet. Aber am nächsten oder übernächsten Tag wird sie sich schon selbst ein Stück auf ihrem Weg zum Glück beobachtet haben. Dann sagt sie es ihrem Schulbegleiter, und ihr Glücksgefühl verstärkt sich. Baustein 14: Lösungsorientierte Fragetechniken Alicia ist aggressiv am Montagmorgen, Paul ist mal wieder wütend auf Lars, Marika weint und will nichts essen. »Was ist los?«, fragt der Schulbegleiter. Keine Antwort. »Kannst du es mir nicht sagen oder willst du nicht?« »Weiß nicht«, sagt Paul oder Marika oder Alicia. Das Prinzip der Systemischen Fragetechnik

Die richtigen Fragen zu stellen, und sie in der richtigen Art zu stellen, scheint eine Kunst zu sein. Die systemische Psychologie kann hier anregen und helfen. Sie hat das Prinzip der systemischen Fragetechniken entwickelt, das bei Beratung und Coaching angewendet 144

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wird (Just 2017). Die Methode und Anwendung dieser Fragetechnik ist auch für den Schulbegleiter hilfreich und weiterführend. Es gibt sechs Varianten der Fragestellung (Clevermemo): 1. Zirkuläre Fragen 2. Skalierungsfragen 3. Hypothetische Fragen 4. Wunder-Fragen 5. Paradoxe Fragen 6. Ressourcenorientierte Fragen/Lösungsorientierte Fragen Zirkuläre Fragen: Sie geben seinem Kind die Möglichkeit, seine Perspektive zu wechseln. Der Schulbegleiter bezieht einen Menschen aus dem systemischen Umfeld seines Kindes ein und fragt: »Wie fühlt sich deine große Schwester, wenn deine Mama nicht zu Hause ist?« – »Was würde Lars wohl sagen, warum du wütend auf ihn bist?« Der Schulbegleiter erhält so Informationen über die vorausgegangenen Prozesse und Umstände. Skalierungsfragen: Der Schulbegleiter kann damit Probleme oder Gefühle gewichten, die objektiv nicht messbar sind, aber subjektiv empfunden werden. Er fragt: »Wie wütend macht dich das auf einer Skala von 1 bis 10?« – »Wenn du den Wert von heute mit dem von letzter Woche vergleichst, wie ist dann die Zahl: größer oder kleiner?« Hypothetische Fragen: Sie zielen meist auf die Zukunft ab: »Wenn du noch öfter mit Max streitest, wird er dann dein Freund bleiben?«. – »Wie sollte sich Leon in Zukunft verhalten, damit ihr weniger streitet?«. – »Was wird Lars wohl morgen von dir erwarten, um sich mit dir versöhnen zu können?« Wunder-Fragen: Hier konzentriert sich der Schulbegleiter auf Ziele, Wünsche und Lösungen. Er lässt die Zukunft fantasieren: »Was wäre, wenn das Problem morgen verschwunden wäre? Was würdest du dann tun?«. – »Woran würdest du morgen merken, dass Lars netter mit dir spielt?« – »Woran würde Lars morgen merken, dass du freundlicher mit ihm spielst?« Paradoxe Fragen: Hier widerspricht sich der Schulbegleiter extra, er verblüfft: »Hey Alicia, was glaubst du, welche schlimmsten Wörter ich, der Schulbegleiter, kenne? Soll ich sie dir sagen? Oder sagst Bausteine

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du sie mir?« – »Was müsste Max tun, damit du wirklich total sauer auf ihn bist?« – »Sollen wir beide gemeinsam einen ganz schlimmen, wütenden Brief an Lars schreiben, mit vielen hässlichen Wörtern drin?« (Wenn das Kind ja sagt, dann wird es sich offen und ehrlich äußern. Es geht um das Sich-äußern, nicht um das Absenden des Briefes.) Ressourcenorientierte Fragen/Lösungsorientierte Fragen: Im Gegensatz zu paradoxen Fragen liegt bei lösungsorientierten Fragen der Fokus auf den vorhandenen Ressourcen und den Lösungsmöglichkeiten für das jeweilige Problem. Der Schulbegleiter konzentriert sich auf die Potenziale, die er bei seinem Kind bereits festgestellt hat (oder vermutet) (s. Baustein 9: Resilienz und Ressourcen). Der Schulbegleiter führt das fragende Gespräch so, dass sein Kind über seine Lösungsmöglichkeiten seines Problems nachdenkt. »Was könntest du tun, damit du dich mit Max verträgst? Gestern hast du doch gut mit Ben gespielt!« – »Wie hast du das gestern gemacht, als du dich mit Ben wieder vertragen hast?« – » Wann läuft es gut mit Lars, wann bist du nicht wütend auf ihn?« – »Wann hat sich Lars das letzte Mal auf dich gefreut, um mit dir zu spielen?« Systemische Fragen sollten erst dann gestellt werden, wenn bereits eine gute Vertrauensgrundlage zwischen Kind und Schulbegleiter besteht. Auch die Stimmung, in der sich das Kind befindet, sollte beachtet werden. Es ist leichter, diese Fragen zu stellen und beantwortet zu bekommen, wenn sie in entspannter Atmosphäre, vielleicht im bereits vertrauten Rückzugsraum gestellt werden. Systemische Fragen ermöglichen zweierlei: Zum einen erhält der Schulbegleiter Informationen über das Umfeld und die Beziehungen zwischen verschiedenen Personen und Systemen, in denen das Kind lebt. Zusammenhänge und Handlungen, auch das Denken, Fühlen und Wollen seines Kindes, werden durch die Antworten und Reaktionen besser verstanden. Zum anderen regen diese Fragestellungen Fantasie und Gedanken des Kindes an, über sich selbst und über andere nachzudenken. Sie helfen dem Kind, seine Gedanken und Gefühle besser zu erfassen, um diese dem Schulbegleiter mitzuteilen. 146

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Buchtipp: Weber-Boch, G. E. (2014): Systemische Fragen. Zur Anwendung in der systemischen Beratung und Therapie.. Steinhagen: Gesellschaft für Systemische Sozialpädagogik. Die Grundsätze und die Methodik der systemischen Fragetechnik werden erläutert und beispielhafte Fragestellungen umfangreich dargelegt. Web-Site: clevermemo.com; Tool-Set Systemische Fragen

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Kapitel 6: Spezielle Strategien und Methoden Unter Mitarbeit von Milena Schur

Im Kapitel 2 sind die relevantesten psychischen Störungen und Einflussfaktoren beschrieben, mit denen die Schulbegleiterin in ihrem Arbeitsalltag konfrontiert ist. Dieses Kapitel macht auch deutlich, dass hinter den vordergründig gleichen auffälligen Verhaltensweisen ganz unterschiedliche Ursachen, Einflussfaktoren oder Erkrankungen stehen können. Das Wissen über diese Ursachen, Einflussfaktoren und Störungsbilder hilft der Schulbegleiterin, das Verhalten von ihrem Kind besser zu verstehen und konstruktiv damit umgehen zu können. Neben der in Kapitel 5 beschriebenen Grundhaltung gibt es außerdem einige Methoden, die generell hilfreich sind, und Strategien für bestimmte Störungsbilder, die den Arbeitsalltag der Schulbegleiterin erleichtern. Diese sollen im Folgenden vorgestellt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass für bestimmte Verhaltensweisen oder Störungsbilder eine bestimmte Vorgehensweise besonders geeignet sein kann, aber nicht immer sein muss. Was bei einer Schülerin mit Asperger-Syndrom gut funktioniert, kann für eine andere total unpassend sein, dafür aber bei einem Kind mit ADHS zu besserem Verhalten führen. Schlussendlich gilt es für die Schulbegleiterin genau zu beobachten, verschiedene Dinge auszuprobieren, und dabei neugierig und kreativ zu bleiben.

Belohnungssysteme und Token Token-Systeme sind ritualisierte Konditionierungen, um Verhalten zu ändern. »Rot, Gelb, Grün« heißt das symbolische Ritual, das die Schulbegleiterin jeden Mittag bei Schulschluss mit Alicia macht. Die Schulbegleiterin und Alicia (und eventuell noch ein weiteres Kind, das regelmäßig mitmachen möchte) sitzen jeden Mit148

tag zusammen und gehen eine vorbereitete Liste über den Verlauf des heutigen Schultages durch. Diese Liste kann mit Zustimmung oder auch Anregung des Kindes geändert werden. Meist ist die Liste jedoch für längere Zeit beständig. Ȥ Alicia hat heute bei Herrn xy im Unterricht keinen Quatsch gemacht. Ȥ Alicia hat heute drei Matheaufgaben gut gerechnet. Ȥ Alicia hat sich heute mit x, y und z gut vertragen. Ȥ Alicia hat sich heute an die Stopp-Regel gehalten. Ȥ Alicia hat heute ihre Federmappe in Ordnung gehalten. Ȥ Alicia hat heute nicht beleidigt. Die Liste umfasst bis zu acht Zeilen, genau auf die jeweiligen Pro­ blempunkte zugeschnitten. Spalten in der Liste: Rot, Gelb, Grün

Jeden Mittag nehmen sich Alicia und ihre Schulbegleiterin ca. 15 Minuten Zeit, gehen Zeile für Zeile durch und bewerten sie. Dabei kann Alicia nach Diskussion, Verteidigung und Selbstbeschreibung, und möglichen (von der Schulbegleiterin inszenierten) Bewertungs-Konflikten, über die Vergabe von Rot, Gelb oder Grün selbst bestimmen. Bald kommen andere Kinder hinzu, schauen sich das Ritual an, ergreifen im Konfliktfall mal Partei für die eine, mal für die andere Seite oder die ein oder anderen Argumente. Es wird so lange diskutiert und argumentiert, bis die Farbe einer Zeile feststeht. Das ritualisierte Token-System erinnert Alicia daran, dass die Schulbegleiterin und ihre Alicia zusammengehören, immer zusammenhalten und sich aufeinander verlassen wollen. Es erinnert täglich daran, welche Regeln, Erwartungen und Leistungen die Schulbegleiterin sich von Alicia erhofft. Es zeigt beiden täglich auf, wie gut Alicia sich schon entwickelt hat, wie stolz sie auf sich sein kann. Es erinnert daran, dass Rücksicht, Freundlichkeit, das Einhalten der Stopp-Regel, Zuhören oder im Unterricht auf dem Platz sitzen zu bleiben und mitzumachen, Belohnungssysteme und Token

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gut (hilfreich) ist. Und dass sich zu streiten, andere zu beleidigen und Quatsch zu machen, hingegen schlecht (nicht hilfreich) ist. Token-Systeme dienen dazu, das Verhalten von Kindern zu konditionieren und zu ändern. Token-Systeme gibt es in unzähligen Varianten: »Sonne-Wolken-Regen«, ein bis mehrere Sterne, sich verändernde Baustellenschilder usw. Das negative Verhalten wird symbolisch negativ sanktioniert, das positive Verhalten wird symbolisch belohnt. Token-Systeme haben sich bewährt. Wichtig ist aber, dass das Kind bei der Bewertungsmaßnahme geachtet und wertgeschätzt, nicht aber verurteilt wird. Es wird lediglich der zuvor definierte und den Kindern bereits bekannte Verhaltens-Aspekt sanktioniert. Token-Systeme wenden fast alle Lehrer an, meist dient eine Tafelseite zur Dokumentation. Alle Kinder werden dann hier gelistet und in der Klasse öffentlich bewertet. Will der Schulbegleiter für sein Kind ein spezielles Token-­System einführen, sollte sich sein System deutlich vom System in der Klasse abheben. Dabei gibt es einen großen Unterschied: Das Token-System der Schulbegleiterin dient im System »Schulbegleiterin-und-ihr-Kind« der dyadischen (paarbezogenen), auf sich selbst bezogenen Diskussion und Reflexion des Verhaltens ihres Kindes. Es geht hier mehr um das von Gemeinschaft geprägte Gespräch als um die bewertende Farbe. Das Token-System dient dem weiteren Aufbau des Zusammenhalts und des Wir-Gefühls. Es dient der sichtbaren und erlebten Abgrenzung des Systems »Schulbegleiterin-und-ihrKind« innerhalb des Systems Klasse. Alicia hat in der Regel großen Spaß bei »Rot, Gelb, Grün«. Sie steht im Mittelpunkt, sie erlebt große Nähe und Wertschätzung, und sie erlebt die große Verantwortung, die die Schulbegleiterin Alicia entgegenbringt. Zudem erlebt Alicia Belohnung und Freude (es wird immer viel gelacht dabei), und sieht, was sie bereits kann und was sie geschafft hat. Jedes Kind ist anders. Jede Klasse ist anders. Die Verhaltensauffälligkeiten eines Kindes sind individuell. Somit müssen auch die Rituale speziell sein. Hier ist Kreativität gefordert. Rituale können groß und bedeutsam sein, wie »Rot, Gelb, Grün«, oder aus klei150

Spezielle Strategien und Methoden

nen Gesten bestehen: immer morgens mit High Five begrüßen oder immer, wenn die Schule zu Ende ist, eine kleine Belohnung vergeben, z. B. ein grünes (zuckerfreies) Gummibärchen. Es geht vor allem ums Symbolische beim Ritual und um das Erleben von Sinn, Werten und Regeln. Die Klasse erlebt die Zusammengehörigkeit von Schulbegleiterin und Kind. Ihr Kind erlebt, dass die Schulbegleiterin es mag, sich Zeit nimmt, es respektiert und es fördern will. Rituale und Symbole verdeutlichen dem Kind, dass es durch die Schulbegleiterin Vorteile hat und dass es richtig ist, deren Werte zu leben. Es wird diese Werte internalisieren, um weiterhin das Wir beim Ritualisieren zu genießen. Es gilt, den Zeitpunkt der Installation umfangreicher symbolischer Token-Systeme klug und sensibel zu wählen. Kleine Rituale können sofort eingeführt werden, umfangreiche brauchen einen wohlüberlegten Zeitpunkt. Eine Vertrauensbasis zwischen Kind und Schulbegleiterin sollte bereits aufgebaut sein, das Kind sollte sich an der Seite seiner Schulbegleiterin bei Einführung des Token-Systems sicher fühlen. Auch die gültigen gewünschten Werte sollten beim Kind bereits bekannt und von ihm zumindest teilweise akzeptiert sein. Protestiert das Kind bei der Einführung des Token-­Systems, ist es ratsam, den Beginn des Rituals zu verschieben (Ayllon/Cole 2008).

Strategien für Rüpel, Rowdies und Rabauken Manche Kinder hören nicht, wenn es heißt: »Setz dich auf deinen Platz!« – »Du gehst jetzt raus aus der Klasse!« – »Mach deine Hausaufgaben!« Die harmloseren Antworten sind dann: »Du kannst mich mal!« oder »Das mach ich nicht!« Renitente Kinder, notorische Unterrichtsstörer, Schulschwänzer – sie wollen immer gewinnen, sie können nicht verlieren. Sie wollen kontrollieren. Sie erpressen die Lehrerin durch widersetzliches Verhalten, drohen mit Gewalt, auch mit Gewalt gegen sich selbst (»Ich springe aus dem Fenster. Ich bringe mich um«.) Das sind die schwierigen Fälle. Die Wurzeln für widerspenstiges Verhalten sind vielfältig: Erziehungsfehler der Eltern oder Störungen in der Psyche, selten liegen die Ursachen im biologischen, z. B. im hormonellen Bereich. Strategien für Rüpel, Rowdies und Rabauken

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Wie kann die Schulbegleiterin jene Autorität sein, die ihr Kind akzeptiert? Wie sollte sie sich verhalten, ohne sich in einem Machtkampf mit ihrem Kind zu verlieren? Wie kann sie sich mit ihrem Handeln von der Lehrerin unterscheiden, und sie gleichzeitig unterstützen? Das Wort »Autorität« hat in Deutschland einen negativen Klang. Zu Recht. Stand es doch für Züchtigung, Gewalt, Befehl und Gehorsam und meist männliche und hierarchisch legitimierte Machtausübung. Eine Gesellschaft mit autoritären Werten und Strukturen wünscht sich heute niemand mehr zurück. In den 1970er-Jahren entstand eine allgemein anerkannte Bewegung gegen die autoritären Strukturen in Staat und Familie. In der Pädagogik entwickelte sich damals die Bewegung der sogenannten Antiautoritären-Erziehung. Man nahm an, die Gesellschaft würde geheilt werden, wenn Kinder nicht mehr autoritär und mit Gewaltmitteln erzogen würden. Im Kind schlummere per se ein guter Kern. Wenn man es sich frei, ohne Schranken und Anweisungen, entwickeln lassen würde, entstünde ein seelisch gesundes, sozial rücksichtsvolles, lernfreudiges Kind. Heute weiß man, das war ein Irrtum. Kinder brauchen Grenzen und Konsequenz Heute weiß die Pädagogik: Kinder brauchen Grenzen, Führung und Orientierungshilfen. Ein dreijähriges Kind ist überfordert, wenn Mama ihm die Entscheidung überlässt, ob die gelbe, rote oder blaue Jacke am besten zum heutigen Wetter passt. Das Kind hätte es gerne, wenn Mama sagen würde: Zieh bitte die gelbe an, denn es regnet draußen. Ein Kind sollte abends von den Eltern ins Bett gebracht werden und nicht solange aufbleiben dürfen (und Computerspielen), wie es will. Kinder brauchen in ihrem jeweiligen Sozialsystem Erwachsene, die Orientierung für Werte und Verhalten geben, und dabei konsequent sind. Das bedeutet: Konsequenz ohne Gewalt, Führen durch Zuwendung und Hilfestellung. Die sogenannte »Neue Autorität« ist gekennzeichnet von Gelassenheit und Entschlossenheit. Damit verknüpft ist die Forderung, Grenzen und Regeln einzuhalten. Der Begriff »Neue Autorität« geht zurück auf den Psychologen Haim Omer, der sich in Forschungen, Büchern und Vorträgen mit 152

Spezielle Strategien und Methoden

Autoritätsproblemen in der Erziehung befasst. Gemeinsam mit seinem Kollegen Arist von Schlippe entwickelte er Konzepte, die an die Stelle elterlicher Gewalterziehung oder ideologiebasierter Antiautoritärer-Erziehung Autorität durch warmherzige, verständnisvolle Beziehung ohne Gewalt setzen. Sie entwickelten ihre Konzepte vor dem Hintergrund der systemischen Theorie. Die »Alte Autorität« zeichnete sich durch Kontrolle, Gehorsamkeit und legitime Gewalt durch hierarchisch höher gestellte Autoritäten aus. Diese lassen prinzipiell wenig Spielraum für Entwicklung, Eigeninitiative und Kreativität des Untergebenen zu. Die »Neue Autorität« zeichnet sich durch Präsenz statt Distanz, Stärke statt Macht, Zuwendung statt Gehorsam, Beharrlichkeit statt unmittelbare Aktion, und Geduld statt Gewalt aus (Omer/ von Schlippe 2017). Die Sieben Säulen der Neuen Autorität Das Konzept der »Neuen Autorität« steht auf sieben Säulen (Raeck/ Ziemendorff 2015), die in diesem Kapitel durch potenzielle Maßnahmen und beispielhaftes Verhalten der Schulbegleiterin verdeutlicht werden sollen: 1. Präsenz 2. Selbstkontrolle und Deeskalation 3. Widerstand und Dranbleiben 4. Versöhnungsgesten und Beziehungsgesten 5. Wiedergutmachung und Einbeziehung der »Geschädigten« 6. Transparenz und Öffentlichkeit 7. Netzwerk und Bündnisse 1. Präsenz

Das renitente Kind soll erleben und spüren, dass seine Schulbegleiterin immer für es da ist. Sie sitzt neben ihrem Kind in der Klasse, sie denkt auch am Wochenende oder in den Ferien an ihr Kind. Eine Whatsapp-Nachricht oder Postkarte aus dem Urlaub erinnert ihr Kind daran, dass seine Schulbegleiterin an es gedacht hat. Präsenz meint stetig gefühlte Anwesenheit. Das Kind soll sicher sein können, dass seine Schulbegleiterin bei ihm bleibt, auch wenn es Mist gebaut hat. Folgendes kann vorStrategien für Rüpel, Rowdies und Rabauken

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kommen: Das Kind schreibt der Schulbegleiterin seine Kündigung. Es schreibt auf einen Zettel: »Du bist nicht mehr meine Schulbegleiterin – hau ab!« Gerade dann zeigt die Schulbegleiterin ihre Präsenz und Wertschätzung, indem sie bleibt: »Alicia, ich gehe jetzt fünf Schritte weg und dann komme ich wieder, denn ich mag dich.« Geeignete Leitsätze15: »Ich bin deine Schulbegleiterin  … und werde es immer bleiben.« – »Ich werde dich nicht aufgeben, denn du bist mir wichtig.« 2. Selbstkontrolle und Deeskalation

Ist das Kind wütend, kann es sich nicht beherrschen. Es wird ggf. gewalttätig, schreit und spuckt. Dann macht es (wahrscheinlich) keinen Sinn, dass sich seine Schulbegleiterin gerade jetzt durchsetzt. Das Kind ist aller Voraussicht nach nicht in der Lage, überhaupt etwas Konstruktives aufzunehmen. Es wäre kontraproduktiv, eine laute Stimme einzusetzen oder sich körperlich zu strecken, damit das Kind auch die Größe seiner Schulbegleiterin sieht. Das Kind würde vermutlich noch einen Gang zulegen, wenn es ihre laute Stimme hört. Was dann? Schaltet die Schulbegleiterin dann auch einen Gang höher? Nein, die Schulbegleiterin hat sich selbst im Griff, sie sorgt für Deeskalation: »Okay, ich verstehe, dass du auf Marlis sauer bist.« – »Okay, ich sehe, du bist sehr, sehr, wütend.« – »Komm, wir gehen nach draußen, dann kannst du mir sagen, warum du so wütend bist – und wie ich dir helfen soll.« Geeignete Leitsätze: »Ich will und kann dich nicht besiegen!« – Ich kann mich selbst kontrollieren. – Es geht ums Dranbleiben, nicht ums Besiegen. – Ich zeige meinem Kind meine Stärke, indem ich zeige, dass ich mich beherrsche. 3. Widerstand und Dranbleiben

Es scheint im Moment keine Lösung durch Interaktion zu geben. Jetzt ist nichts zu erreichen, ihr Kind macht dicht. Die Schulbeglei15 Die Leitsätze gehen zurück auf einen Workshop der Nordlicht gGmbH, Hamburg, angeregt durch den Vortrag von Prof. Haim Omer, »Neue Autorität« auf YouTube .

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Spezielle Strategien und Methoden

terin gibt nicht auf, und das zeigt sie auch ihrem Kind: »Jetzt bin ich zu müde, jetzt bist du zu müde. Aber lass uns heute Mittag darüber sprechen. Jetzt geht es nicht, aber heute Mittag«. Die Schulbegleiterin bleibt dran. Sie bespricht mit ihrem Kind, dass es etwas falsch gemacht hat, z. B. Regeln nicht eingehalten und einer Mitschülerin wehgetan hat. Wenn das Gespräch jetzt und heute nicht möglich ist, dann findet es morgen oder noch später statt. Die Schulbegleiterin bleibt auf jeden Fall dran. Und erinnert das Kind, dass sie dranbleiben wird. Geeignete Leitsätze: Ich vermittle Entschlossenheit: Ich werde dranbleiben! – Ich beschreibe, was ich mache und nicht, was ich vom Kind erwarte. – Ich zeige meine Stärke durch zeitversetztes Dranbleiben. – Ich zeige, dass ich im pädagogischen Prozess nicht allein bin (vgl. Punkt 7, Netzwerk und Bündnisse). 4. Versöhnungsgesten und Beziehungsgesten

Hat das Kind sich falsch verhalten, dann weiß es das in der Regel. Dann schämt es sich vielleicht, denn es wollte niemanden enttäuschen. Vielleicht hat es jetzt Sorge, dass es abgelehnt wird. Die Schulbegleiterin zeigt ihrem Kind gerade jetzt, dass ihr Kind toll ist (s. Kapitel 4, Das Schulbegleitungs-Kind: Zusammensein und Wir-Gefühl), dass sie es mag, und dass es immer auf seine Schulbegleiterin zählen kann. Geeignete Leitsätze: »Trotz deines problematischen Verhaltens mag ich dich. Und zeige es dir.« – Ich, die Schulbegleiterin, trage die Verantwortung für die Qualität (der Liebe, der Achtung, des Respekts) der Beziehung zwischen uns. 5. Wiedergutmachung und Einbeziehung der Geschädigten

Die Schulleiterin schreibt eine E-Mail an die Schulbegleiterin: »Levin und Max haben heute Nachmittag im Hort einen Korbstuhl über die Brüstung vom zweiten in den ersten Stock heruntergeworfen. Sie hatten dabei einen »Riesenspaß«. Der Korbstuhl ist jetzt demoliert.« Am nächsten Tag sitzen Levin und Max mit der Schulbegleiterin im Differenzierungsraum und schreiben einen Post-it-Zettel Strategien für Rüpel, Rowdies und Rabauken

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an den Hausmeister: »Lieber Herr Hausmeister, wir haben den Stuhl kaputt gemacht. Wie können wir helfen, um ihn wieder zu reparieren?« Dieser Zettel wird auf den Stuhl geklebt, Max und Levin tragen den beschrifteten beschädigten Korbstuhl über den ganzen Schulhof an den Kindern vorbei zum Hausmeister (natürlich haben sie dabei auch Spaß und feixen die ganze Zeit). Geeignete Leitsätze: Das Ehrgefühl meines Kindes steht im Mittelpunkt des Beziehungssystems. Deshalb: »Ich helfe dir bei der Wiedergutmachung, für die du bei den geschädigten Mitschülern, Lehrern, oder auch bei dem beschädigten Korbstuhl sorgen sollst. – Auch wenn du mich schädigst, beleidigst oder anspuckst, helfe ich dir, das wiedergutzumachen.« 6. Transparenz und Öffentlichkeit

Wenn die Schulbegleiterin ihr Kind, obwohl es das verdient hat, nicht zurechtweist, sollte die Lehrerin erfahren, dass die Schulbegleiterin dennoch dranbleiben wird. Wenn ihre Methode (vgl. 2. und 3.) der Lehrerin noch nicht bekannt ist, sollte die Schulbegleiterin sie hierüber aufklären. Andernfalls kann das Vorgehen zu Missverständnissen führen. Über ihre gegenseitigen Erwartungen sollten Lehrerin und Schulbegleiterin stets offen sprechen. Besonders dann, wenn Missverständnisse und Konflikte zu entstehen drohen. Ihr Kind wird sehen, dass beide Erwachsenen sich miteinander über seinen Fall austauschen. Es wird feststellen, dass sie sich solidarisch und vertrauensvoll besprechen, um ihm zu helfen. Geeignete Leitsätze: Ich informiere alle Beteiligten (Kind, Lehrerinnen, Eltern, Mitschülerinnen) darüber, was ich tue. – Möglichst nichts wird unter den Teppich gekehrt. 7. Netzwerk und Bündnisse

Weder die Lehrerin noch die Schulbegleiterin sollten allein sein in ihrem Bemühen, das Kind zu entwickeln. Ihr Kind sollte erleben, dass die Erwachsenen zusammenhalten, sich austauschen und Maßnahmen abstimmen, um gemeinsam das Boot in dieselbe Richtung zu steuern. 156

Spezielle Strategien und Methoden

Montagmorgen im Musikunterricht: Es ist ein Ritual, dass alle Kinder erst einmal aufstehen und Aufwachbewegungen am Sitzplatz machen. Alle Kinder stehen auf, als die Lehrerin in die Klasse kommt. Alle? Nein, Samir bleibt heute sitzen. »Guten Morgen, Klasse 4b.« Alle grüßen zurück, außer Samir. »Samir, stehe bitte auf, das ist unhöflich«, sagt die Lehrerin. – »Keinen Bock«, sagt Samir. – »Alle stehen, auch du Samir, alle schütteln mal ihren Körper, um am Montagmorgen wach zu werden und in Schwung zu kommen«, sagt Frau Kaiser. Alle Schüler stehen, sie haben Spaß beim Sich-Wachrütteln. Nur Samir nicht. Samir bleibt sitzen, fläzt seinen Körper, etwas länger machend. »Samir, warum machst du nicht mit?« – »Keinen Bock.« – »Du bist unfreundlich.« – »Lass mich in Ruhe!« – »Wenn du in Ruhe gelassen werden willst, dann verlasse bitte die Klasse.« – »Keinen Bock.« Die Stimme der Lehrerin wird lauter: »Geh raus!« – »Keinen Bock.« – »Wenn du jetzt nicht gehst, dann …« – »Was dann? Was willst du denn machen!?« Samir bleibt sitzen. Die Lehrerin ist wütend und schaut die Schulbegleiterin an. Sie möchte, dass diese Samir jetzt rausbringt. Die Schulbegleiterin weiß, dass sie Samir jetzt, wo er so renitent ist, der Dialog bereits heftig eskaliert ist, und Samir sich vor der Klasse bereits derart wichtig tut, auch nicht vor die Tür bringen kann. Die Schulbegleiterin sagt in die Klasse hinein: »Frau Kaiser, Samir wird jetzt auch nicht rausgehen, wenn ich das von ihm verlange. Es ist wohl das beste, wir lassen die Sache jetzt ruhen. Gleich aber, in der Pause, würde ich gerne mit Ihnen besprechen, was wir für Samir tun können, damit er sich nicht so unhöflich verhält. Vielleicht müssen wir das auch im größeren Kreis mit der Schulleitung und allen anderen Lehrerkolleginnen besprechen.« Stärke zu zeigen, muss nicht unmittelbar passieren, es kann auch zeitversetzt geschehen. Schon indem man deutlich macht, dass man nicht allein ist, vermittelt man einen starken Eindruck. Dem Kind Stärke zeigen, heißt zu zeigen, dass die Erwachsenen zusammen nach Lösungen suchen, dass im Hintergrund ein Netzwerk besteht und dass man sich im Bündnis bespricht und handelt. Strategien für Rüpel, Rowdies und Rabauken

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Geeignete Leitsätze: Ich identifiziere Bündnispartner (Lehrer, Eltern, ggf. Behörde etc.) und erkläre dem Kind und den Beteiligten im Bündnis, was ich mache. – Ich äußere mich klar, wenn ich deren Unterstützung erbitte/erwarte  – Vor dem Kind wird eine Wir-­ Haltung des »Bündnisses« demonstriert. Buchtipps: Omer, H./von Schlippe, A. (2017): Autorität ohne Gewalt. Göttingen: Vanden­hoeck & Ruprecht Verlag. Ein Coachingbuch für Eltern – aber auch hilfreich für Pädagogen an der Schule –, deren Kinder destruktiv und gewalttätig sind (und das Heft in der Schule in der Hand haben wollen). Auf der Basis der Systemtheorie haben die Autoren das Konzept der Neuen Autorität entwickelt. Lemme, M./Körner, B. (2018): Neue Autorität in Haltung und Handlung. Heidelberg: Carl-Auer Verlag. Die Autoren wenden das Konzept von Omer und Schlippe an, beschreiben ihr Tun in logischer Abfolge. So entsteht ein Leitfaden, der auch in der Schule neue Handlungsräume eröffnet.

Strategien bei ADHS/ADS Die Aufmerksamkeitsdefitzit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zeigt sich durch die drei (oft unterschiedlich stark ausgeprägten) Symptome Hyperaktivität, Impulsivität und Aufmerksamkeitsstörung (Rietzler/Grolimund 2016). Ist die Aufmerksamkeitsstörung am prägnantesten und die anderen beiden Symptombereiche nur gering oder gar nicht ausgeprägt, spricht man von einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung (ADS). Es ist recht wahrscheinlich, dass die Schulbegleiterin an einem Punkt in ihrer Arbeit ein Kind mit ADHS oder ADS begleitet. Welche Verhaltensauffälligkeiten wird ein solches Kind im Schulalltag zeigen? Worauf sollte die Schulbegleiterin gefasst sein und was kann ihr in ihrer Arbeit helfen? Die betroffenen Kinder fallen besonders in ruhigen Klassensituationen auf, sie können kaum stillsitzen, sind unruhig und scheinen einen permanenten Bewegungsdrang zu haben. Sie wippen auf ihrem Stuhl, reden unentwegt oder geben andere Geräusche von sich. Es fällt ihnen schwer, abzuwarten, sie handeln oft unüberlegt oder vorschnell und können sich und ihr Arbeiten nur wenig strukturieren. Ihre Aufgaben brechen sie häufig vorzeitig ab, sind von ande158

Spezielle Strategien und Methoden

ren Reizen in der Klasse oder der Umgebung schnell abgelenkt und können sich nur mit viel Anstrengung länger auf eine Aufgabe konzentrieren. Auch im Kontakt mit anderen sind sie oft vorschnell bis grenzenlos und missachten soziale Regeln. Für Mitschüler und Lehrer sind sie dann Nervensägen und Spielverderber, die den Unterricht stören oder das Lernen und gemeinsame Spiele erschweren. Da es den betroffenen Kindern schwerfällt, sich und ihre Arbeit zu strukturieren und das eigene Verhalten zu steuern bzw. zu kontrollieren, sind Struktur und Kontrolle die beiden Aspekte, die für die Schulbegleiterin in der Arbeit mit einem ADHS-Kind besonders wichtig sind. Es gilt, den Schulalltag klar zu strukturieren, Routinen zu etablieren, Regeln und Abläufe wieder und wieder zu üben. Das beginnt schon mit dem morgendlichen Ankommen; gemeinsam mit dem Kind kann überlegt werden: Was mache ich als Erstes, wenn ich in der Schule ankomme? Wo hänge ich meine Jacke auf? Wo ziehe ich meine Straßenschuhe aus und meine Hausschuhe an? Wo stelle ich meinen Schulranzen ab? Mit welchem Ritual beginnt der Unterricht? Setze ich mich an meinen Platz oder in den Sitzkreis? Oft sind diese Strukturen (mindestens in Teilen) durch die Lehrerin oder die Abläufe in der Klasse vorgegeben. Sollte das nicht der Fall sein, ist es sinnvoll, eigene Routinen aufzubauen. Diese klaren Strukturen helfen dem Kind, sich zu orientieren und sich nicht durch die vielen Reize in der Umgebung (z. B. laute Mitschüler, JackenChaos im Flur, Gedränge auf dem Weg in die Klasse) vollkommen ablenken zu lassen. Ähnliches gilt für den Unterricht, auch hier helfen klare Abläufe dem Kind, die Arbeit zu strukturieren und sich zu fokussieren. Gemeinsam kann dann überlegt werden: Welches Fach kommt als nächstes dran? Welche Materialien brauche ich auf meinem Tisch? Was kann ich wohin wegräumen? Ein voller Tisch mit vielen Heften, Zetteln, Mappen und einer großen Federtasche kann eine so große Reizüberflutung darstellen, dass konzentriertes Arbeiten kaum möglich ist. Manchmal sind auch schon die verschiedenen Aufgaben auf zwei aufgeschlagenen Heftseiten überfordernd. Dann hilft es, momentan nicht zu bearbeitende Aufgaben mit einem weißen Blatt Papier abzudecken. Die Schulbegleiterin kann ihr Kind beim Strukturieren und Organisieren des Arbeitens unterstützen, indem sie immer wieder die klaren Abläufe wiederholt und nachStrategien bei ADHS/ADS

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fragt: »Toll, nun hast du deine Jacke aufgehängt und deine Schuhe ausgezogen. Was machst du als Nächstes?« Auch eine Visualisierung mit Bildern kann eine Unterstützung sein. Jede Teilaufgabe (z. B. Jacke aufhängen, Schuhe ausziehen usw.) wird dann auf einer Karte oder Liste dargestellt, die als Erinnerung angeschaut oder nach Erledigung abgehakt werden kann. Mit der Unterstützung der Schulbegleiterin wird das Kind so die Abläufe verinnerlichen und nach und nach lernen, sich selbst zu instruieren. Selbstinstruktion hilft ADHS-/ADS-Kindern

Die Schulbegleiterin hilft Leon, sich selbst zu instruieren und zu kontrollieren. Leon soll das eigene Verhalten feststellen und überdenken. Die Schulbegleiterin spricht ihrem Kind Selbstinstruktionen modellhaft vor und handelt entsprechend: »Heute räumen wir den Ranzen gemeinsam gründlich auf.« Das Kind handelt nach den gerade gehörten Anweisungen, nimmt den Ranzen. Die Schulbegleiterin fragt Leon: »Was machen wir jetzt?« Leon sagt: »Ist doch klar, wir räumen den Ranzen jetzt auf.« »Schön«, sagt die Schulbegleiterin, »wiederhole noch mal, ich hab mir nicht ganz gemerkt, was du dir vorgenommen hast.« Oder: »Sag das Ganze noch mal ganz leise. Mal gucken, ob ich es dann auch hören kann.« Leon sagt es ganz leise. Nach dem gemeinsamen Aufräumen des Ranzens sagt die Schulbegleiterin: »Das war gut, dass wir den Ranzen jetzt aufgeräumt haben. Wie findest du das?« Leon sagt: »Das ist gut gemacht worden.« Die Schulbegleiterin regt an: »Sollen wir morgen gemeinsam nachschauen, ob der Ranzen noch aufgeräumt ist?« Dieser Dialog ist ein Beispiel, wie Verhaltensänderung durch Selbstinstruktion funktionieren kann. Neben Strukturlosigkeit und körperlicher Unruhe, erschweren die Aufmerksamkeitsschwierigkeiten das Arbeiten maßgeblich. Für die Schulbegleiterin gilt es, genau zu beobachten, welcher Aufgabenumfang für ihr Kind angemessen ist, wann es eine Pause braucht, und welche Aufgaben es möglicherweise noch überfordern. Nach 160

Spezielle Strategien und Methoden

und nach wird die Schulbegleiterin das Lernniveau ihres Kindes immer besser einschätzen können. Gegebenenfalls kann es dann notwendig sein, die Aufgaben zu vereinfachen oder vorerst nur in Teilen zu bearbeiten. Die Arbeit mit einem ADHS-Kind kann anstrengend und ermüdend sein. Hat es gestern noch einigermaßen reibungslos geklappt, ist heute der Wurm drin und die Schulbegleiterin hat das Gefühl, wieder von Null anzufangen. Sie braucht viel Geduld und Gelassenheit, sollte darauf vertrauen, dass ihr Kind es schaffen kann und beharrlich dranbleiben. Buchtipps: Rietzler, S./Grolimund, F. (2016): Erfolgreich Lernen mit ADHS. Der praktische Ratgeber für Eltern. Bern: Hogrefe Verlag. Ein einfallsreiches Buch voller Tipps und Ideen. Neue Methoden für klassische Konflikt-Situationen mit ADHS-Kindern werden gut erklärt, sehr praxisnah und nahe am Leben. Gelb, M./Gelb. D. (2014): ADS/ADHS: Ein Ratgeber für Eltern, Pädagogen und Therapeuten. Idstein: Schulz-Kirchner-Verlag. Es hilft, die Situation der Kinder besser zu verstehen. Es deckt als Ratgeber viele Bereiche ab, der medizinische Bereich wird allerdings betont.

Strategien bei Asperger-Syndrom/ Autismus-Spektrum-Störungen In ihrem Arbeitsalltag wird die Schulbegleiterin hauptsächlich mit Asperger-Autisten (oder dem atypischen Autismus) zu tun haben, da diese am häufigsten eine Regelschule besuchen (Bundesverband Autismus e. V.). Zentral sind hier Beeinträchtigungen in der Interaktion, Schwierigkeiten in der Kommunikation, eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensweisen. Im Schulalltag werden besonders Letztere schnell auffallen. Die Betroffenen beschränken ihr Interesse häufig auf einen bestimmten, oft eher ungewöhnlichen Themenbereich, mit dem sie sich exzessiv und bis ins Detail beschäftigen (z. B. Dinosaurier, Maschinen oder Zahlen). Über diesen erzählen sie gerne ausschweifend, oft ungeachtet der Reaktionen oder des Interesses des Gegenübers. Für andere Bereiche oder Tätigkeiten, die nichts mit ihrem Interesse zu tun haben, können sie sich nicht Strategien bei Asperger-Syndrom/Autismus-Spektrum-Störungen

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oder nur sehr schwer begeistern. Die Mitarbeit im Unterricht wird dadurch häufig erschwert. Statt die Aufgaben zu bearbeiten, sitzt das Kind dann an seinem Platz und liest zum hundertsten Mal sein Dinosaurier-Buch oder zeichnet filigran ineinandergreifende Zahlräder. Insgesamt scheinen die Betroffenen oft »wie aus einer anderen Welt«: Sie verstehen die Regeln des sozialen Miteinanders nicht, weshalb es oft zu unpassenden Kontaktversuchen kommt (z. B. körperlich sehr nahe kommen, plötzliches Berühren ohne Ansprechen, Unterbrechen von Spielsituationen anderer Kinder, um einem Kind etwas mitzuteilen). Sie können die Gefühle anderer nicht erfassen und sich emotional nicht auf ihr Gegenüber einstellen (z. B. stellen sie beschreibend fest »Mia weint«, weil sie Tränen sehen, können aber die Traurigkeit nicht nachempfinden). Ihre Bewegungen wirken sehr ungeschickt und plump, ungeachtet ihrer Umgebung oder der Situation wippen sie auf dem Stuhl, stehen auf oder stimulieren sich durch Klopfen auf den Tisch. Ihre Sprache wirkt sehr monoton und die Wortwahl nicht altersangemessen oder ungewöhnlich. Oft halten sie an immer gleichen Strukturen und Ritualen fest und werden wütend oder aggressiv, wenn von diesen abgewichen wird (z. B. muss die Jacke immer am selben Platz hängen, der Tisch muss immer an der gleichen Stelle stehen, das Licht muss immer an oder die Gardine immer offen sein). Für die Schulbegleiterin ist es wichtig, zu verstehen, dass die Betroffenen lernen können, mit einer Autismus-Spektrum-Störung umzugehen und gut damit zu leben, dass sie aber nicht »wegtherapiert« werden kann. Die Aufgabe der Schulbegleiterin ist deshalb in erster Linie, ihr Kind bei der Bewältigung des Alltags zu unterstützen. Dafür braucht sie viel Geduld und Feinfühligkeit. Als Anwältin und Dolmetscherin des Kindes vermittelt sie gegenüber anderen. Einerseits erklärt und vermittelt sie dem Kind die von der Lehrerin gestellten Aufgaben, motiviert zum Mitarbeiten im Unterricht (auch wenn es gerade nicht um das Lieblingsthema des Kindes geht) und verändert oder vereinfacht eventuell die gestellten Aufgaben. Andererseits unterstützt sie ihr Kind in der Interaktion mit anderen, übt mit ihm angemessene Arten der Kontaktaufnahme, erklärt ihm Verhaltensweisen der anderen Kinder und den anderen Kindern seine Verhaltensweisen. Gegenseitiges Verstehen und das Akzeptieren der Besonderheiten des betroffenen Kindes sind ein 162

Spezielle Strategien und Methoden

wichtiger Baustein. Genau zu beobachten, Potenziale und Interessen, Stärken und Schwächen des Kindes zu erkennen und zu fördern, sind weitere wichtige Elemente. Diese Beobachtungen dem Kind zu spiegeln (»Ich habe schon gesehen, dass du XY gut kannst«.), offen für seine Interessen zu sein und ihnen Raum zu geben, kann die Beziehung stärken und zum Lernen motivieren. Auch in Bezug auf die Struktur, die Rituale und Regeln, die für ihr Kind wichtig sind, ist eine genaue Beobachtungsgabe sehr wertvoll. Die Schulbegleiterin kann dann bestimmte Verhaltensweisen (z. B. plötzliche Wut oder Trauer, weil eine Routine anders verlief als sonst oder es in der Klasse plötzlich zu laut wurde) besser nachvollziehen und darauf reagieren (z. B. die gewohnte Ordnung wiederherstellen, das Kind von Reizen abschirmen oder anderen Kindern erklären, was für ihr Kind gerade wichtig ist). In der Kommunikation mit ihrem Kind ist Klarheit und Struktur ebenfalls von großer Bedeutung. Es braucht eine klare und verständliche Sprache – mit Metaphern, Sprichwörtern oder einer sehr bildhaften Sprache kann ihr Kind nichts anfangen. Buchtipps: Attwood, T. (2019): Ein ganzes Leben mit dem Asperger Syndrom. Stuttgart: Trias Verlag. Das Buch beantwortet viele Fragen dazu, was Menschen mit Asperger weiterhilft. Ein wissenschaftliches Buch, wegen der vielen Beispiele und weil Betroffene zu Wort kommen dennoch gut lesbar. Bahr, R. (2013): Igel-Kinder  – Kinder und Jugendliche mit Asperger-­ Syndrom verstehen. Ostfildern: Patmos Verlag. Der Autor schildert, wie Betroffene sich fühlen und welchen Umgang sie sich wünschen. Schuster, N. (2016): Schüler mit Autismus-Spektrum-Störungen. Stuttgart: Kohlhammer Verlag. Eine Innen- und Außensicht mit praktischen Tipps für Lehrer, Psychologen und Eltern. Das Buch hilft, Situationen mit betroffenen Kindern besser zu verstehen und einzuschätzen.

Strategien bei Trauma und Traumafolgestörungen Wie in Kapitel 2 bereits beschrieben, ist ein Trauma bzw. eine Traumafolgestörung bei Kindern nicht so einfach zu erkennen. Die Symptome sind eher diffus, können auf ein Trauma hindeuten oder aber Strategien bei Trauma und Traumafolgestörungen

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auch Ausdruck einer anderen psychischen Störung oder Belastung sein. Zentral ist in Bezug auf Trauma das Gefühl von Ausgeliefertsein, Hilflosigkeit und Handlungsunfähigkeit. Die Betroffenen sind einer Situation schutzlos ausgeliefert und haben keine Bewältigungsmöglichkeiten. Bei einigen Kindern ist klar und eventuell durch Fachleute diagnostiziert, dass es sich um eine Traumatisierung handelt (z. B. bei extremer Vernachlässigung oder Misshandlung), bei anderen liegt es nahe (z. B. wenn die Familie aus einem Kriegsgebiet fliehen musste). Das Feststellen und (therapeutische) Bearbeiten des Traumas sollte immer Spezialisten überlassen bleiben (z. B. Traumatherapeuten). In ihrer Arbeit mit traumatisierten Kindern (oder auch wenn nur der Verdacht auf eine Traumatisierung besteht,) sollte die Schulbegleiterin sich viel Zeit zum Beobachten und Verstehen nehmen. Was fehlt dem Kind, um sich gesund und altersangemessen zu verhalten? In welchen Situationen ist es besonders angespannt? Welche Situationen kann es schon gut bewältigen und was klappt reibungslos? Dann gilt es, dem Kind in schwierigen Situationen Hilfe und Unterstützung zu bieten, vielleicht kann es sich in der Schule alleine nicht so gut orientieren (z. B. weil es von dem Gedränge der Kinder auf dem Flur überfordert ist und dann wütend oder traurig wird), muss die Abläufe immer wieder gemeinsam mit der Schulbegleiterin einüben oder von ihr vor zu vielen Reizen abgeschirmt werden (z. B. wenn es plötzlich sehr laut wird). Ziel ist, dass das Kind auch in schwierigen Situationen ein Gefühl von Kontrolle über das Geschehen hat und sich sicher fühlt. Ein Rückzugsort für Ausbrüche und Anfälle Ideal wäre ein immer gleicher Rückzugsort in der Schule. Wenn das Kind schreit, aggressiv wird, mit Sachen wirft, Stühle umschmeißt, kann die Schulbegleiterin mit ihm dorthin gehen. Sie bleibt dann mit ihm dort und spielt mit ihm, bis es sich beruhigt hat. So baut Alicia gerne einen Turm aus Kapla-Bausteinen. Bis sie sich beruhigt hat, und noch ein wenig Zeit darüber hinaus, bleiben die Schulbegleiterin und Alicia im Rückzugsraum. Ihr Kind bei einem Wutanfall anzuschreien, mit ihm zu schimpfen oder ihm mit Konsequenzen zu drohen, ist kontraproduktiv. Meist zeigt das Kind von allein, wenn es sich beruhigt hat, was es 164

Spezielle Strategien und Methoden

will: »Nimmst du mich in den Arm?« – »Ich möchte zurück in die Klasse.« – »Ich möchte nach draußen auf den Hof.« Wenn es machbar ist, sollte die Schulbegleiterin den Wunsch erfüllen. Ausbrüche und Anfälle sollten ernst genommen werden, die Kritik daran sollte nicht im Vordergrund des Handelns stehen. Es hilft vielmehr, Verständnis zu zeigen, Hilfe und Unterstützung demonstrativ anzubieten. Es hat einen traumatischen Grund, wenn das Kind wütend, misstrauisch oder ängstlich ist. Die gute Beziehung zwischen Schulbegleiterin und Kind sollte das Kind nicht infrage stellen. Das Kind wird gelegentlich auf die Schulbegleiterin sauer sein. Dann wird sie sie wegschicken und ihr kündigen wollen: »Du bist nicht mehr meine Schulbegleiterin«, wird es schreien. – »Doch, Alicia, ich bin da und bleibe da. Bist du damit einverstanden, wenn ich vor die Tür gehe? Aber ich warte draußen, bis du mich rufst!« Wenn Alicia die Schulbegleiterin beleidigt, reagiert diese ruhig, wertschätzend und respektvoll: »Alicia, du weißt, ich kann dich gut leiden. Aber das waren hässliche Worte. Die kann ich nicht gut leiden.« Die Schulbegleiterin braucht Geduld. Sie kann darauf vertrauen, dass Alicia ihr Verhalten ändern wird, wenn sie ihr Sicherheit und Stabilität gibt, und ihr beides immer wieder sinnhaft vorlebt. Alicia soll sehen (sie ist immer da), hören (sie tröstet mich, wenn ich traurig und ängstlich bin) und erleben (sie spielt mit mir), dass ihre Schulbegleiterin gut für sie ist. Wenn die Schulbegleiterin merkt, dass das Kind immer wieder abdriftet und die Orientierung verliert (z. B. plötzlich nicht mehr genau weiß, wo es ist), kann ein einfaches Spiel helfen. Gemeinsam wird von eins bis drei gezählt, zu jeder Zahl wird eine andere Bewegung gemacht: 1 – klatschen, 2 – schnipsen, 3 – kräftig auftreten. Dieses kleine Spiel erfordert viel Konzentration und Koordination und holt so das Kind zurück in den Moment. Buchtipps: Sander, A. (2017): Als hätte der Himmel mich vergessen: Verwahrlost und misshandelt im Elternhaus. Köln: Bastei Lübbe Verlag. Die Autorin ist Betroffene und schildert ihren Schmerz.

Strategien bei Trauma und Traumafolgestörungen

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Kindeswohlgefährdung nach § 8a SGB VIII Als Kindeswohlgefährdung ist grundsätzlich alles zu verstehen, was der seelischen und körperlichen Gesundheit eines Kindes oder eines Jugendlichen schadet oder diese bedroht (s. in Kapitel 2, Vernachlässigung). Kinder haben ein gesetzliches Recht auf gewaltfreie Erziehung. Der Gesetzgeber stellt die Misshandlung von Schutzbefohlenen unter Strafe. Wer Kinder oder Jugendliche quält, roh körperlich oder seelisch misshandelt oder böswillig vernachlässigt, muss mit einer Freiheitsstrafe rechnen. Indikatoren für eine Kindeswohlgefährdung sind Über- oder Untergewicht, mangelnde Hygiene, keine witterungsgemäße Kleidung, blaue Flecken (Hämatome), Narben, Knochenbrüche, chronische Müdigkeit, körperliche Entwicklungsverzögerung, Konzentrationsschwäche, Gedächtnisstörungen, verzögerte Sprachentwicklung, Missachtung von Regeln und Grenzen, fehlender Blickkontakt, keine Beteiligung an Gruppenaktivitäten, Schlafstörungen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten, Weglaufen, Schulschwierig­keiten (Kindler et al. 2006). Bestehen Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung, sieht § 8a im Sozialgesetzbuch vor, dass das Jugendamt aktiv wird. Beim Verdacht auf Kindeswohlgefährdung machen sich bestimmte Berufsgruppen, auch Schulbegleiter, strafbar, wenn sie einen Verdacht nicht melden (familienrecht.net o. J.).16

16 Anmerkung: Der Hamburger Verein Nordlicht gGmbH bietet einen Beratungskurs an, um im Verdachtsfall in angemessener Weise vorzugehen. Der Besuch eines solchen Kurses ist dringend zu empfehlen. Nordlicht gGmbH hat ein Ablaufschema erarbeitet, das Anwendung finden soll, wenn ein Verdacht auf Kindeswohlgefährdung aufkommt (dabei gilt der Grundsatz: Lieber einmal zu viel als kein Mal aktiv zu werden). Dieses Ablaufschema sollte jede Schulbegleiterin kennen.

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Spezielle Strategien und Methoden

Datenschutz beachten Auch für Schulbegleiterinnen gelten datenschutzrechtliche Regelungen. Generell haben Schulbegleiterinnen personenbezogene Informationen der Schüler und ihrer Familien für sich zu behalten und dürfen diese nur weitergeben, wenn eine schriftliche Einwilligung vorliegt. Grundsätzlich unterstehen Schulbegleiterinnen der gesetzlichen Schweigepflicht § 203 StGB. Da im Kollegenkreis (Lehrerinnen, Sozialarbeiterinnen, Psychologinnen, Ärztinnen, Behörden-Mitarbeiterinnen etc.) der fachliche Austausch oft hilfreich und notwendig ist, empfiehlt es sich, von den Eltern ihres Kindes ggf. eine Entbindung von der Schweigepflicht schriftlich einzuholen (Beispieltext einer Schweigepflichtsentbindung unter familenrecht.net/ schweigepflichtsentbindung/).

Datenschutz beachten

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Es gibt immer mehr verhaltensauffällige Kinder an unseren Schulen. Mehr als eine halbe Million Schüler erhielten 2017 eine sonderpädagogische Förderung. Besonders auffällig ist der Anstieg der Schülerzahlen auf fast 90 000 im Förderbereich emotionaler und sozialer Entwicklung. Diese Zahl stieg von 2009 bis 2017 um 20 % (Knauf/Knauf 2019). Unter diesen Kindern sind auch Problemkinder mit psychischen Krankheiten erfasst. Genaue Zahlen über den Anteil der seelisch kranken und sich dissozial verhaltenden Kinder sind schwer herauszufinden. Die Abgrenzungen der Symptome und Diagnosen fallen Forschern schwer. Spricht man mit Lehrkräften, liegt der Anteil der psychisch gestörten Kinder, die nicht oder nur schwer beschulbar sind, bei ein bis drei Prozent aller Kinder: Ca. 30 000 bis 50 000 Problemkinder brauchen demnach oder haben bereits Schulbegleiter an ihrer Seite. Etwa jede dritte Grundschulklasse ist demnach betroffen. Der besonders auffällige Mitschüler streitet viel, verweigert das Lernen, stört massiv den Unterricht, und bringt den Lehrer an seine Grenzen. Der bestgeplante Unterricht, die Struktur der Klasse, die ganze Lernatmosphäre ist extrem belastet. Kein Kind kann ungestört lernen. Der Lehrer fühlt sich ohnmächtig und ist oft am Ende seiner Kraft. Und das Kind: Es leidet. Auch wenn es streitet, andere beleidigt oder ihnen Angst macht, zu laut und widerspenstig ist – das verhaltensauffällige Kind leidet selbst am meisten und es braucht dringend unsere Hilfe. Diesem Kind kann nicht durch den Lehrer geholfen werden. Die Lehrkraft muss sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren: Lehrstoff vermitteln, erziehen, (Eltern) beraten. Möglicherweise hat das Problemkind bereits weitere Helfer an seiner Seite: Kinderärzte, Kinderpsychologen, Therapeuten, Sonder168

pädagogen, Förderlehrer, Sozialarbeiter etc. helfen, wo sie qua ihrer Profession helfen können. Allerdings sind sie nicht oder nur selten im Schulalltag zugegen. Die Schulbegleiter schließen diese Lücke: Sie begleiten ihr Kind ganz nah an dessen Seite. Mehrere Stunden am Tag, manchmal den gesamten Schulalltag inklusive Pausen, Klassenfesten und Klassenfahrten. Und das über viele Monate oder sogar Jahre. Idealerweise so lange, bis das Kind sich emotional und sozial so weit entwickelt hat, dass es alleine in der Schule zurechtkommt. Schulbegleitung ist die professionelle Begleitung hin zum Glück des Kindes. Durch die Präsenz und Stärke seines Schulbegleiters, durch das Erleben des sozialen Systems »Schulbegleiter-und-sein-Kind«, erfährt das Kind Nähe, Verbundenheit, Werte und Sinnhaftigkeit. All diese sind notwendige Bestandteile individuellen Glücks: Das Selbstwertgefühl des Kindes steigt, es entwickelt ein neues, positives Bild seiner Selbst und lernt erfolgreiche Verhaltensweisen im Umgang mit Mitschülern, Eltern und anderen Mitmenschen. Durch die Arbeit des Schulbegleiters entwickelt sich das Problemkind, und auch der Lehrer und die Mitschüler verändern sich. Nicht weil der Schulbegleiter ein warmes Herz hat, sondern weil er die Kompetenz besitzt, das soziale System »Schulbegleiter-und-sein-Kind« zu installieren, welches allen Beteiligten mehr Sicherheit im gegenseitigen Miteinander gibt. Um diese Aufgabe als Schulbegleiter erfüllen zu können, müssen Schulbegleiter qualifiziert sein. Das nötige fachliche und methodische Wissen des Schulbegleiters wächst aus dem Wissen der anderen, zuvor genannten helfenden Professionen hervor. Der evolutionäre Prozess des Ausdifferenzierens der verschiedenen pädagogischen Berufe in der Schule (Schultyp-Lehrer, Fachlehrer, Förderlehrer, Sonderpädagogen, Schulsozialarbeiter) erklimmt durch Schulbegleitung eine weitere Entwicklungsstufe. Es reicht nicht, das Kind gut leiden zu können um ein seelisch krankes Kind pädagogisch zu entwickeln. Schulbegleitung tritt als eine weitere Profession, als eine weitere pädagogische Kunst an die Schule. Neben der Kunst des Lehrers zu unterrichten, der Kunst des Förderlehrers, schwache Schüler zu fördern, der Kunst des Sonderpädagogen, gehandicapten Kindern zu helfen, beherrscht der kompetente Schulbegleiter die Kunst, eng verbunden mit seinem Kind Ausklang

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innerhalb des sozialen Systems »Schule« zurechtzukommen und seinem Kind zu helfen. Der Schulbegleiter ist umso erfolgreicher, je mehr er sich in die (aus Sicht seines Kindes) bestehenden sozialen Systeme der Schule einzuweben vermag, und je intensiver er sich in dem eigens neu geschaffenen sozialen System »Schulbegleiter-undsein-Kind« verbindet. Ein romantischer Blick auf bedürftige Kinder, oder die Aussicht auf einen attraktiven »Teilzeitjob«, oder die simple Vorstellung als »Hilfskraft an der Seite der Lehrerin arbeiten zu wollen«, sind nicht die besten Voraussetzungen für diese berufliche Anforderung. Unqualifizierte Schulbegleiter scheitern bei besonders herausfordernden Kindern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. (Zudem sind sie wahrscheinlich eine weitere Belastung für die Lehrkraft und das Unterrichtsklima in der Klasse.) Wenn hingegen die Kunst der Schulbegleitung professionell ausgeübt wird, wird den betroffenen Kindern geholfen, ihren individuellen Weg zum Glück zu finden. Glückliche Kinder werden zu vollwertigen und kon­ struktiven Mitgliedern unserer Gesellschaft. Es gibt bereits genügend Beweise für erfolgreiche Inklusion von sozial-emotional belasteten Schülern durch qualifizierte Schulbegleiter.

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Autor und Mitautorin

Werner Koepper, Diplom-Pädagoge, studierte in Dortmund Erziehungswissenschaften und Lehramt sowie Betriebswirtschaft. Nach 30 Jahren in der Wirtschaft arbeitet er seit 2013 als Schulbegleiter bei einem freien Träger für Kinder- und Jugendhilfe an verschiedenen Hamburger Schulen. Er ist zudem Teamleiter und Coach für Schulbegleiter. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und zwei Enkelkinder. Werner Koepper lebt in der Nähe von Hamburg. E-Mail: [email protected] Milena Schur, M. Sc. Klinische Psychologie, studierte in Hamburg. Die Kapitel 2 und 6 wurden, soweit es klassifizierte psychische Störungen betrifft, maßgeblich von ihr verfasst. Sie arbeitete bereits während des Studiums im pädagogisch-psychologischen Kontext, unter anderem mit von ADHS betroffenen Kindern und Kindern im Autismus-Spektrum. Sie ist heute Teamleiterin bei einem freien Träger für Schulbegleitung in Hamburg und arbeitet in der Jugendhilfe.

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