Die kritische Methode in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft 9783787338429, 9783787338337

»Alle ernsthaften Bestrebungen, die Philosophie in den Rang einer exakten Wissenschaft zu erheben, haben immer auf eine

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German Pages 584 [593] Year 1974

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Die kritische Methode in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft
 9783787338429, 9783787338337

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L E ONA R D N E L S ON

GE SA M M E LT E S C H R I F T E N

Die kritische Methode in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft Meiner

L E ONA R D N E L S ON

Gesammelte Schriften in neun Bänden Herausgegeben von Paul Bernays, Willi Eichler, Arnold Gysin, Gustav Heckmann, Grete Henry-Hermann, Fritz von Hippel, Stephan Körner, Werner Kroebel, Gerhard Weisser

dritter Band

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

L E ONA R D N E L S ON

Die kritische Methode in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft Mit einem Vorwort von Gerhard Weisser und Lothar F. Neumann

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

Redaktion: Grete Henry-Hermann

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3833-7 ISBN eBook 978-3-7873-3842-9 Nachdruck 2020 © Felix Meiner Verlag Hamburg 1974. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in www.meiner.de Germany.

Inhaltsverzeichnis Vorwort (Grete Henry-Hermann)

Abschnitt!. Philosophie der Mathematik Bemerkungen über die nicht-euklidische Geometrie und den Ursprung der mathematischen Gewißheit (1905/1906) Kant und die nicht-euklidische Geometrie (1906) Bemerkungen zu den Paradoxien von Russell und Burali-Forti (1908) Des fondements de la geometrie (1914) Übersetzung des Vortrags Kritische Philosophie und mathematische Axiomatik (1927) Abschnitt II. Philosophie der Naturwissenschaft Rezension von G. Portig: Die Grundzüge der monistischen und dualistischen Weltanschauung (1905) Ernst Hallier gestorben (1906) Ist metaphysikfreie Naturwissenschaft möglich? (1908) über wissenschaftliche und ästhetische Naturbetrachtung Rezension von E. König: Kant und die Naturwissenschaft (1909) Abschnitt III. Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Strömungen Über den Vitalismus. Ein Diskussionsbeitrag (1908) Rezension von H. Bergson: Einführung in die Metaphysik (1910) Spuk, Einweihung in die Wahrsagerkunst Oswald Spenglers (1921) Namenverzeichnis Sachverzeichnis

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3 53 95 129 15 7 187

223 229 233 283 305

337 343 349 553 556

Vorwort » Jedes

Philosophem, das mit den exakten Wissenschaften übereinstimmt, kann wahr sein, jedes Philosophem, das den exakten Wissenschaften widerstreitet, muß notwendig falsch sein.« 1 Diesem Prüfstein, den NELSON schon als Student in seiner Besprechung von H. COHENS »Logik der reinen Erkenntnis« geltend macht, hat er auch Aufbau und Durcharbeitung des eigenen Philosophems ausgesetzt. Das kommt vor allem in den Arbeiten des vorliegenden dritten Bandes seiner Gesammelten Schriften zum Ausdruck. Der Band umfaßt Schriften, in denen NELSON die nach kritischer Methode entwickelte Philosophie auf Ergebnisse der exakten Wissenschaften bezieht und an ihnen mißt. Er enthält darüber hinaus, in seinem dritten Abschnitt, Arbeiten, in denen NELSON als philosophischer Kritiker zeitgenössischer Strömungen auftritt; auch dabei erweist es sich als eins der für NELSONS Urteil vordringlichen Kriterien, ob und wie der geprüfte philosophische Gedankengang mit den Entdeckungen und Entwicklungen der mathematisch-naturwissenschaftlichen Forschung im Einklang ist. Eine gewisse Sonderstellung unter den Schriften dieses Bandes nimmt die Arbeit von LEONARD NELSON und KuRT GRELLING über die Paradoxien der Mengenlehre ein. In ihr geht es nicht um die Entwicklung des eigenen philosophischen Standpunkts, sondern um Teilnahme an der durch diese Paradoxien ausgelösten, Mathematiker und Philosophen gleicherweise beschäftigenden Diskussion. Ohne hier vorschnell eine Lösung anbieten zu wollen, beschränken die beiden Verfasser sich darauf, die logische Struktur der auftretenden Widersprüche zu analysieren und Vorschläge zur Bereinigung der für die Forschung entstandenen Problemlage zu disku1 LEONARD NELSON,

Gesammelte Schriften, zweiter Band, S. 10.

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Grete Henry-Hermann

tieren. Für diese Untersuchung sei auf das Geleitwort von PAUL BERNAYS verwiesen, das sie anläßlich einer Neuherausgabe im Jahre 1959 erhalten hat 2 und das ihr im vorliegenden Band vorangestellt ist. Abgesehen von dieser Schrift geht es NELSON in den ersten beiden Teilen dieses Bandes um Grundfragen des eigenen Philosophems, wie es sich ihm aus der erkenntniskritischen Untersuchung der Quellen menschlichen Erkennens ergab. Wie die vorliegenden Arbeiten erkennen lassen, hat NELSON den eigenen philosophischen Standpunkt immer wieder bestätigt und präzisiert im Kampf mit widerstreitenden philosophischen Tendenzen seiner Zeit, insbesondere mit dem Empirismus. In den der Philosophie der Mathematik gewidmeten Arbeiten behandelt NELSON philosophische Fragen, die durch die damalige Entwicklung der mathematischen Disziplinen aufgeworfen worden waren; er nimmt vom Standpunkt der kritischen Philosophie aus zu ihnen Stellung. Entgegen der weitverbreiteten Überzeugung, wonach das Faktum der nicht-euklidischen Geometrie die Kantische Lehre von der Begründung der euklidischen Geometrie durch Raumanschauung rein a priori widerlege, weist NELSON die Vereinbarkeit beider Lehren nach und gewinnt dabei zudem einen Beweis für die These vom synthetischen Charakter der geometrischen Axiome. In der Hilbertschen Axiomatik sieht er die Verwirklichung der schon von JAKOB FRIEDRICH FRIES geforderten »kritischen Mathematik« oder »Philosophie der Mathematik«. In dem erwähnten Sammelband werden NELSONS Darlegungen zur nicht-euklidischen Geometrie und die zur mathematischen Axiomatik kurz eingeführt durch die Mathematiker PAUL BERNAYS und WILHELM ACKERMANN. Ihre Bemerkungen wurden - die von PAUL BERNAYS in überarbeiteter Form im vorliegenden Band jeweils in den redaktionellen Einführungstext der entsprechenden Nelsonschen Schrift aufgenommen. Die Schriften zur Philosophie der Naturwissenschaft arbeiten an der erkenntniskritischen Deutung des Erfahrungswissens; in einer 2

Im Sammelband: LEONARD NELSON, Beiträge zur Philosophie der Logik und Mathematik.

Vorwort

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eingehenden Auseinandersetzung grenzt NELSON sie ab gegen die von MACH systematisch entwickelte empiristische Auffassung der na turwissenschafl:lichen Erkenntnis. Die Herausforderung, die der Lehre von den Erkenntnissen rein a priori im Bereich der Physik erwachsen ist, vor allem durch Relativitätstheorie und Quantenmechanik, hat NELSON nicht mehr mit einer eigenen Interpretation des Wandels im physikalischen Weltbild beantwortet. Er war überzeugt, daß sich eine solche Deutung im Einklang mit den Grundthesen der kritischen Philosophie werde geben lassen - nur werde zuvor die physikalische Forschung selber zu besserer Koordinierung alter und neuer theoretischer Ansätze gelangt sein müssen. Daß und wie diese Entwicklung der Physik ihn beschäfl:igte, tritt zutage in seinen Untersuchungen zur Geschichte der Philosophie, die auf den Konflikt der Friesschen Naturphilosophie mit der modernen Physik nachdrücklich hinweisen 3 • Die Diskussion um die Grundlagen mathematischer und physikalischer Erkenntnis ist bis heute nicht abgeschlossen. Die von NELSON vertretene These von den endgültig deduzierbaren unmittelbaren Erkenntnissen rein a priori wird dem Reichtum immer neuer begrifflich-kategorialer Gliederungen nicht gerecht, wie er die Systeme der fortschreitenden Erfahrungswissenschaften beherrscht. Auf der anderen Seite aber tritt gerade in dieser Entwicklung die Komplexität des Erfahrungswissens hervor. NELSONS Kritik an positivistischen und empiristischen Deutungen, in denen die Problematik in trügerischer Weise vereinfacht wird, findet so in einem entscheidenden Grundgedanken eine Bestätigung. Für jene Diskussion, die noch im Fluß ist, behält sie damit Aktualität; in der Geschichte der sich herausbildenden Philosophie von Reichweite und Erkenntniswert menschlicher Erfahrung hat sie ihren bleibenden Platz. Grete Henry-Hermann

3 LEONARD NELSON,

Gesammelte Schriften, siebenter Band, S. 681 ff.

Abschnitt I Philosophie der Mathematik

Bemerkungen über die nicht-euklidische Geometrie und den Ursprung der mathematischen Gewißheit

Erschienen in den Abhandlungen der Friesschen Schule, neue Folge, herausgegeben von GERHARD HESSENBERG, KARL KAISER und LEONARD NELSON, erster Band, zweites und drittes Heft, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1905 und 1906, S. 373-430. Ein Neudruck der Arbeit erschien im Sammelband: LEONARD NELSON, Beiträge zur Philosophie der Logik und Mathematik, Verlag öffentliches Leben, Frankfurt a. M. 1959, S. 9-54. Dieser Neuausgabe hat PAUL BERNAYS ein Geleitwort vorangestellt, das er für den vorliegenden Band neu bearbeitet hat. Es lautet nun: In der vorliegenden Abhandlung wird von LEONARD NELSON, im Anschluß an die Lehre KANTS von der reinen Anschauung, die Ansicht verfochten, wonach die euklidische Geometrie eine aus reiner Anschauung gewonnene Erkenntnis a priori bildet, welche auch unmittelbar für die Physik verbindlich ist. In der heutigen, besonders der wissenschaftlich gerichteten Philosophie ist man generell gegenüber der Behauptung von Erkenntnissen a priori sehr skeptisch. überdies wird zumeist die Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrie als eine Widerlegung der Kantischen Lehre angesehen. Gegenüber dieser Ansicht ist zunächst darauf hinzuweisen, daß KANT zu der Frage des Parallelenaxioms gar nicht ausdrücklich Stellung genommen hat. Unabhängig vom Historischen aber besteht das Nelsonsche Argument zu Recht, daß die logische Unabhängigkeit des Parallelenaxioms von den übrigen Axiomen der euklidischen Geometrie nichts gegen die anschauliche Einsichtigkeit des Parallelenaxioms besagt. Unberechtigt ist es auch, wenn es vielfach so angesehen worden ist, als ob die Aufnahme des Parallelenpostulates unter die Axiome einen Defekt des euklidischen Axiomensystems bilde. Daß dieser Eindruck bei manchen erweckt wurde, beruht wohl auf zwei Umständen. Einmal ist die Formulierung des Parallelenaxioms im Vergleich zu derjenigen der anderen Axiome sehr kompliziert. Es hätten hierfür - wie schon frühzeitig von Kommentatoren bemerkt wurde - einfachere Formulierungen zur Verfügung gestanden. Die komplizierte Fassung bei EUKLID erklärt sich vermutlich dadurch, daß man schon zur Zeit EUKLIDS (oder

bereits zuvor) versuchte, die Behauptung des Parallelenaxioms aus den anderen Axiomen zu beweisen, wobei man auf einen Hilfssatz stieß, den zu beweisen nicht gelang. Diesen stellte dann EUKLID als Axiom auf, in der richtigen Vermutung, daß dessen Beweis unmöglich sei. Außerdem aber wurde der Eindruck der Sonderstellung des Parallelenaxioms dadurch verstärkt, daß gewisse wesentliche Postulierungen in dem euklidischen Axiomensystem nicht erwähnt waren, so insbesondere die Voraussetzung der Vergleichbarkeit der Längen distanter Strecken, welche rein vom Anschaulichen her (d. h. unabhängig vom Physikalischen betrachtet) nicht ersichtlicher ist als die Vergleichbarkeit der Richtungen distanter Strecken, aus der man die Behauptung des Parallelenaxioms entnehmen kann. Dieser Sachverhalt - daß man die Vergleichbarkeit der Längen vor derjenigen der Richtungen nicht zu bevorzugen braucht - wird verdeutlicht durch eine in neuerer Zeit von HERMANN WEYL aufgestellte Verallgemeinerung der Riemannschen Differentialgeometrie. Was die Lehre von der reinen Anschauung betrifft, so besteht wohl das Erfordernis, diese durch eine nuanciertere Theorie zu ersetzen, wobei die Ergebnisse der experimentierenden Psychologie sowie die Überlegungen aus der neueren Philosophie zur Verwertung zu bringen sind. FERDINAND GoNSETH hat in seinem Werk »La geometrie et le probleme de l'espace« drei Aspekte der Geometrie einander gegenübergestellt: den intuitiven, den experimentellen und den theoretischen. Eingehende Untersuchungen über die Entwicklung der räumlichen und der mathematischen Vorstellungen hat JEAN PIAGET angestellt, der vor allem die Bedeutsamkeit des Operativen (des Manipulierens) für die Genese unserer anschaulichen Vorstellungen betont und insbesondere auch darauf hinweist, daß unter den für die Geometrie relevanten Vorstellungen die topologischen als die elementareren ausgezeichnet sind. Für eine befriedigende Theorie der geometrischen Anschauung müssen wir aber doch vor allem den Umstand würdigen, daß die in der Geometrie vollzogenen Idealisierungen des Konkreten nicht nur im Rahmen des Begrifflichen stattfinden, sondern, auf Grund einer Art von spontanem Prozeß, schon vor der wissenschaftlichen Fixierung sich in unserer Anschauung bilden, und daß ferner durch die Entsprechung zu dieser Art der Anschaulichkeit die euklidische Geometrie gegenüber anderen möglichen Geometrien ausgezeichnet ist - woraus freilich nicht eine Verbindlichkeit dieser Geometrie für die theoretische Physik entnommen werden kann. Mit solchen Erwägungen gelangen wir zu einer Ansicht, die zwar nicht mit derjenigen NELSONS übereinstimmt, wohl aber dieser erheblich näher

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kommt als viele der heutigen Auffassungen. Man mag an Hand solcher Erwägungen die geeignete Unbefangenheit gewinnen für die Lektüre der hier folgenden Abhandlung, in der NELSON seinen Standpunkt in vorbildlicher Klarheit und Prägnanz darlegt. Auch mag der Leser an diesen durchsichtigen Gedankenführungen geistige Erbauung finden. Paul Bernays

Inhalt'~ 1. Der Aristotelische Dogmatismus

(375, 9) 2. Analytische und synthetische Urteile (377, 10) 3. Die reine Anschauung (378, 12) 4. Die synthetischen Urteile a priori (379, 13) 5. Der Grund der mathematischen Gewißheit (381, 14) 6. Das Postulat der Unabhängigkeit der Axiome (381, 15) 7. Lobatschewskys Geometrie (382, 15) 8. Riemanns Geometrie (384, 17) 9. Komplexe Zahlensysteme (385, 18) 10. Der Streit der Kantianer und Helmholtzianer (385, 18) 11. Die angeblichen Folgen der Kantischen Lehre für die nicht-euklidische Geometrie (386, 19) 12. über die Vorstellbarkeit nicht-euklidischer Raumformen (388,21) 13. Die aus der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie auf den Ursprung der Axiome zu ziehenden Schlüsse (390, 22) 14. Das Argument von Helmholtz (395, 24) 15. Die astronomische Kontrolle des euklidischen Axioms (396, 25) 16. Axiome und Hypothesen (399, 27) 17. Induktion und Abstraktion (402, 30) 18. Machs Argument (405, 33) 19. Die »Ungenauigkeit der Anschauung« und die »Idealisierung der Erfahrung« (407, 34) 20. Die Arithmetisierung der Mathematik (409, 36)

9 10 11 13 14 14 15 16 17 18 19 20

22 24 25 27 29 32 33 36

'' Von den in Klammern angegebenen Seitenzahlen entspricht die erste der Paginierung im Abhandlungsheft, die zweite der im Sammelband •Beiträge zur Philosophie der Logik und Mathematik«.

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Inhalt

21. DasVerhältnisderArithmetikzurLogik (412,39) 22. Logische Möglichkeit und mathematische Existenz (416,42) 23. über die notwendige Lösbarkeit mathematischer Probleme (421, 46) 24. Poincares Erklärungsversuch (425, 50)

38 41 45 49

Mathesis scientia eorum est, quae per se clara sunt. JAKOBI

1 Die als »mathematische Strenge« sprichwörtlich gewordene, allen Zweifel ausschließende Sicherheit und Notwendigkeit der mathematischen Erkenntnis hat von jeher das Interesse der Philosophen auf sich gelenkt und einen der vornehmsten Gegenstände ihrer Nachforschungen gebildet. Die Hoffnung, der Mathematik das Geheimnis ihrer wissenschaftlichen Strenge abzulauschen, um durch Nachahmung ihres Verfahrens auch die Philosophie auf dieselbe Stufe der Exaktheit zu erheben, mußte immer wieder auf die Frage nach dem Ursprung der mathematischen Gewißheit führen. Die despotische Gewalt, mit der die Lehre des ARISTOTELES zwei Jahrtausende hindurch die wissenschaftliche Welt beherrschte, hat auch dem Gange der Untersuchung dieser Frage auf lange Zeit hinaus ihr charakteristisches Gepräge aufgedrückt. Nach der Lehre des ARISTOTELES gibt es zwei verschiedene Erkenntnisquellen: die Sinne einerseits und den Verstand andererseits. Aus der einen entspringt die Erfahrung, die andere liefert die Logik. Den Gegenstand der ersteren bilden die zufälligen Tatsachen, den der anderen die notwendigen Wahrheiten. Es liegt nahe, auf Grund dieser Lehre die Mathematik der zweiten Erkenntnisquelle zuzuweisen. Denn die Mathematik lehrt uns nicht zufällige Tatsachen kennen, sondern sie läßt uns notwendige Gesetze einsehen. In der Tat ist diese Ansicht bis auf KANTS Zeit die allgemein herrschende gewesen. Selbst HuME, der Skeptiker, wagte nicht, an dem logischen Ursprung der mathematischen Wahrheiten und ihrer durch diesen Ursprung gewährleisteten Allgemeingültigkeit zu zweifeln. Ja, so weit ging das Vertrauen auf die Macht der logischen Form der mathematischen Schlußweise, daß man durch ihre Übertragung auf die Philosophie die gleiche Sicherheit und Evidenz auch in dieser erreichen zu können überzeugt war. »Geometricorum more demonstrando« hoffte

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man den philosophischen Stein der Weisen zu finden. Doch diese Bemühungen führten nicht zu dem erhofften Ziel. Durch das Fehlschlagen der Versuche, durch Anwendung der mathematischen Schluß weise die philosophischen Probleme zu fördern, sah sich KANT veranlaßt, die Frage nach der Herkunft der mathematischen Gewißheit von neuem einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Er geriet dadurch als erster auf den Versuch, jene durch ihr Alter ehrwürdige und durch ihre Ehrwürdigkeit gefestigte Aristotelische Lehre von den zwei Erkenntnisquellen einer radikalen Revision zu unterwerfen. Daß alle Erkenntnis mit der Erfahrung anfängt und uns nur durch Erfahrung veranlaßt zum Bewußtsein kommt, stand für KANT fest; aber ebenso offenbar war es, daß die Mathematik ihre Wahrheiten nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung schöpft, denn diese letztere vermag wohl zufällige Kenntnis, aber nicht notwendige Einsicht zu liefern. Aber sollte daraus folgen, daß der Ursprung der mathematischen Erkenntnis im Verstande zu suchen sei? KANT fand, daß diese Folgerung auf der Verwechslung des mathematischen Schlusses mit der mathematischen Wahrheit selbst beruhte. Die Axiome vorausgesetzt, folgen alle Lehrsätze ohne weiteres durch die bloße logische Form des Schließens; aber diese Lehrsätze selbst entspringen darum nicht aus der logischen Schlußform, sondern sie lassen sich nur vermittelst derselben aus den Axiomen herleiten. Aber diese Axiome selbst, was sind sie und welches ist ihr Ursprung? Diese Frage führte KANT auf die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile.

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Worauf beruht die Notwendigkeit der mathematischen Axiome? Um diese Frage zu entscheiden, stellte KANT folgende Überlegung an. Die Notwendigkeit eines Urteils, d. h. die Notwendigkeit, den Subjektsbegriff mit dem Prädikat in einem Urteil zu verbinden, hat ihren Grund entweder in dem Begriff des Subjekts selbst, oder dieser Grund liegt in etwas anderem als dem Subjektsbegriff. Liegt

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er im Subjektsbegriff, so heißt das Urteil analytisch, denn ich bedarf zu ihm nur einer Zergliederung seines Subjektsbegriffs. Liegt er nicht im Subjektsbegriff, so heißt das Urteil synthetisch, denn ich muß über den Subjektsbegriff hinausgehen, um das Urteil fällen zu können. Daß alle Radien eines Kreises gleiche Länge haben, ist ein analytischer Satz, denn er folgt allein aus einer Zergliederung des Begriffs vom Kreise. Daß aber das Verhältnis des Umfangs zum Durchmesser des Kreises den Wert 3,1415926 ... hat, ist ein synthetischer Satz, denn er läßt sich durch Zergliederung des Begriffs dieses Verhältnisses allein nicht herleiten. - Es ist klar, daß mit dieser Einteilung der Grund der dem Mathematiker geläufigen Unterscheidung zwischen Definitionen und Axiomen getroffen wird. Die Definition enthält die vollständige Zergliederung eines Begriffs und dient als Kriterium dafür, ob ein Gegenstand (oder eine Klasse von Gegenständen) unter den definierten Begriff fällt oder nicht. Alle Definitionen und aus Definitionen folgenden Sätze sind daher analytische Urteile. Jede Beilegung eines Prädikats dagegen, das nicht zu den definierenden Merkmalen des Begriffs gehört, ist ein synthetisches Urteil. Daraus geht zweierlei hervor: 1) Die analytischen Sätze sind diejenigen, die ARISTOTELES dem Verstande zuwies; es sind die Wahrheiten der Logik. 2) Die mathematischen Axiome und alle auf ihnen beruhenden Theoreme sind synthetische Urteile. Steht dieses beides fest, so folgt, daß die Mathematik eine andere Erkenntnisquelle voraussetzt als den Verstand. Die mathematische Erkenntnis beruht auf Anschauung und nicht auf bloßen Begriffen. Das war das Resultat der Kantischen Untersuchung.

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In welchem Verhältnis steht nun diese mathematische Anschauung zur Sinnesanschauung? Zunächst leuchtet ein, daß sie von der Sinnesanschauung - der äußeren sowohl wie der inneren - unterschieden ist. Denn die letztere zeigt uns wohl, was hier oder dort, zu

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dieser oder jener Zeit ist, aber nicht, was überall und jederzeit gilt. Eine solche notwendige und allgemeine Geltung haftet aber den mathematischen Wahrheiten an. Betrachten wir des näheren die Geometrie und die ihr zugrunde liegende Anschauung, die Raumanschauung. Das Axiom, daß die gerade Linie die kürzeste zwischen zwei Punkten ist, spricht nicht von dieser oder jener geraden Linie, sondern von allen Geraden überhaupt. Sehen wir davon ab, daß Punkte und Linien überhaupt nicht Gegenstände sinnlicher Beobachtung werden können, so müßten wir doch, da zwischen zwei Punkten unendlich viele Linien möglich sind, erst diese unendlich vielen Linien mit der Geraden verglichen haben, ehe wir zu einer allgemeinen Aussage über ihr Längenverhältnis berechtigt wären; dazu allein aber bedürften wir schon einer unendlichen Zeit. Und doch hätten wir damit den Satz erst für eine einzige Gerade gefunden, während es der Geraden unendlich viele im Raume gibt. Und selbst von dieser einen Geraden könnten wir nur sagen: so viel wir bisher beobachtet haben, war sie kürzer als jede mit ihr verglichene Krumme; ob dies morgen oder zu einer beliebigen anderen Zeit sich ebenso verhalten werde, darüber wären wir auf Grund unserer Messungen zu keinem Urteil berechtigt. Ein konsequenter Empirist müßte daher die Allgemeingültigkeit der geometrischen Wahrheiten preisgeben und den Umkreis seiner Urteile auf den seiner empirischen Messungen einschränken. Aber die Möglichkeit der Messung beruht selbst erst auf der Anwendung bestimmter geometrischer, durch empirische Messung nicht wieder kontrollierbarer Voraussetzungen. Jede Messung beruht auf der Forttragung eines Maßstabes an dem zu messenden Gegenstande und setzt die Unveränderlichkeit des Maßstabes voraus. Diese letztere ist aber nur möglich unter Voraussetzung des den Kongruenzsätzen zugrunde liegenden Axioms, daß sich eine Figur ohne Formänderung im Raume bewegen läßt. Die mathematische Anschauung ist folglich von der empirischen Anschauung unabhängig. Wenngleich wir uns ihrer nur durch Abstraktion von der empirischen Anschauung gesondert bewußt werden können, so hat sie doch einen von dieser unabhängigen Ursprung. KANT nannte sie reine Anschauung. Die reine Anschauung

und Ursprung der mathematischen Gewißheit

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liegt also aller empirischen Messung als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrunde.

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Verbinden wir die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile mit derjenigen der Erkenntnisse a priori und a posteriori, d. h. der notwendigen und der zufälligen Wahrheiten, so erhalten wir folgendes System möglicher Urteilsarten: analytische Urteile a priori, analytische Urteile a posteriori, synthetische Urteile a priori, synthetische Urteile a posteriori. Es ist klar, daß der zweite Fall von vornherein ausscheidet. Denn analytische Urteile beruhen allein auf dem Begriff ihres Subjekts und bedürfen daher keiner Erfahrung. Dies gilt auch in dem Falle, wo der Subjektsbegriff des analytischen Urteils ein empirischer ist. Denn nicht auf den Ursprung des Subjektsbegriffs kommt es an, sondern auf den Grund seiner Verbindung mit dem Prädikat. Die Katze sei definiert als das fleischfressende Säugetier mit einziehbaren Krallen. Der Begriff der Katze ist zweifellos empirischen Ursprungs; aber das Urteil: die Katze hat einziehbare Krallen, gilt nichtsdestoweniger mit Notwendigkeit und a priori. Denn eine gegenteilige Erfahrung ist gar nicht denkbar, weil, auf Grund der Definition der Katze, ein Wesen, dem die im Prädikat des Urteils genannte Eigenschaft nicht zukäme, gar nicht unter den Begriff der Katze subsumiert werden könnte. Alle analytischen Urteile sind also Urteile a priori. Bringen wir den Fehler des ARISTOTELES und seiner Nachfolger auf seinen schulgerechten Ausdruck, so können wir sagen, daß er diesen richtigen Satz unrichtigerweise umgekehrt hat: Alle analytischen Urteile sind Urteile a priori, aber nicht alle Urteile a priori sind analytisch. Alle logischen Wahrheiten gelten notwendig, aber nicht alle notwendigen Wahrheiten sind logischen Ursprungs. Die Disjunktion des ARISTOTELES zwischen Logik und Erfahrung ist unvollständig:

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Die Mathematik gehört weder der Logik noch der Erfahrung an; ihre Urteile sind synthetische Urteile a priori.

5 In der Eigentümlichkeit ihrer Erkenntnisquelle, die Anschaulichkeit und Apriorität vereinigt, liegt also der Grund der Evidenz der mathematischen Erkenntnis einerseits, und ihrer strengen Notwendigkeit andererseits. Die logische Form ihrer Schlüsse und Beweise kann nur zur Übertragung der Gewißheit von den Grundsätzen auf die Lehrsätze dienen. Wohnte die apodiktische Geltung den Grundsätzen nicht von vornherein kraft ihres rein-anschaulichen Ursprungs bei, so würde doch bei aller Strenge der Beweise den Lehrsätzen dieselbe Zufälligkeit und Unsicherheit anhaften wie den Grundsätzen. Damit ist der Grund des Mißlingens der Anwendung der mathematischen Schlußweise in der Philosophie ohne weiteres aufgeklärt. Denn die erfolgreiche Anwendung dieser Methode setzt zu ihrer Möglichkeit bereits die der Mathematik eigentümliche Erkenntnisquelle voraus. In der Beschaffenheit dieser ursprünglichen Erkenntnisquelle, in der reinen Anschauung, nicht in der logischen Form der Schlüsse liegt der eigentliche Grund der mathematischen Gewißheit.

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Principia praeter necessitatem non esse multiplicanda, mit möglichst wenig Voraussetzungen möglichst viel zu beweisen: dies ist ein Postulat der Logik an jede systematische Wissenschaft. Diesem Postulat in der Mathematik Rechnung zu tragen, war eine der Hauptbemühungen der wissenschaftlichen Arbeit des verflossenen Jahrhunderts. Die mathematischen Axiome sind unmittelbar evidente Wahrheiten. Aber diese unmittelbare Evidenz genügt nicht zur Charakteristik eines Axioms, sondern nur diejenigen unmittelbar evidenten Sätze gelten als Axiome, auf deren Beweis wir ver-

und Ursprung der mathematischen Gewißheit

I

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zichten. Dabei gelten als beweisbar nur solche Sätze, die durch eine endliche Anzahl rein syllogistischer Operationen aus unmittelbar evidenten Sätzen hergeleitet werden können. Da das genannte Postulat verlangt, daß alle Sätze, die überhaupt beweisbar sind, auch tatsächlich bewiesen werden, so ergibt sich daraus die Aufgabe, die Zahl der Axiome auf ein Minimum zu reduzieren. Wir können diese Aufgabe auch so ausdrücken: Es soll ein System von Axiomen aufgestellt werden, derart, daß keins derselben aus den andern logisch hergeleitet werden kann. Soll aber dies System vollständig sein, so müssen wir fordern, daß sich aus den in ihm enthaltenen Axiomen allein, ohne Zuhilfenahme anderer Sätze, sämtliche Lehrsätze der Wissenschaft syllogistisch herleiten lassen. Eine Forderung, die übrigens, wie man leicht bemerkt, nur dann einen Sinn besitzt, wenn die - keineswegs selbstverständliche - Voraussetzung zutrifft, daß die Zahl der als Axiome definierten Sätze endlich ist.

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Wie läßt sich nun die logische Unabhängigkeit der Axiome prüfen? Die zur Lösung dieser Aufgabe ausgearbeitete Methode hat sich aus einer Kritik der euklidischen Parallelentheorie entwickelt. Unter den von EUKLID aufgestellten Grundsätzen der Geometrie befindet sich auch der Satz: Wenn zwei Gerade von einer dritten geschnitten werden und die inneren an derselben Seite der schneidenden Geraden liegenden Winkel zusammen weniger als zwei Rechte betragen, so schneiden sich die beiden Geraden auf der Seite dieser Winkel. Dieser Satz, der speziell als euklidisches Axiom bezeichnet wird, nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sich eine große Reihe von Lehrsätzen ohne ihn beweisen lassen. Erst zum Beweise seines 29. Lehrsatzes bedient sich EUKLID des genannten Axioms. Es ist daher schon früh die Frage aufgeworfen worden, ob dies Axiom sich nicht vielleicht ganz ausschalten lasse und aus den übrigen Voraussetzungen EUKLIDS bewiesen werden könne. Die zahlreich angestellten Versuche, den Satz zu beweisen, schlugen indessen sämtlich fehl und wurden gegen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts

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endgültig auf gegeben. An die Stelle dieser vergeblichen Bemühungen, den Satz zu beweisen, trat nun die Aufgabe, seine Unbeweisbarkeit darzutun. Zur Lösung dieser Aufgabe schlug LoBATSCHEWSKY folgendes Verfahren ein. Wenn das euklidische Axiom von dem System der übrigen Axiome logisch unabhängig ist, so muß es möglich sein, eine in sich konsequente Geometrie zu entwickeln, in der eine diesem Axiom widersprechende Annahme zugrunde gelegt wird. Denn, wenn die anderen Axiome nicht hinreichend sind, um über seine Gültigkeit zu entscheiden, so müssen sie mit seinem Gegenteil ebenso verträglich sein wie mit ihm selbst. Der Beweis der inneren Widerspruchslosigkeit einer dem euklidischen Axiom widersprechenden Geometrie wäre daher zugleich ein überzeugender Beweis der Unbeweisbarkeit des euklidischen Axioms. Nun ist das euklidische Axiom gleichbedeutend mit dem sogenannten Parallelensatz: In einer Ebene läßt sich durch einen Punkt außerhalb einer Geraden nur eine Gerade ziehen, welche die erstere nicht schneidet. LoBATSCHEWSKY versuchte daher eine Geometrie auszubilden, unter Beibehaltung aller übrigen Axiome, während er den Parallelensatz durch die Annahme ersetzte, daß sich durch einen Punkt außerhalb einer Geraden mehr als eine nicht schneidende Gerade ziehen lassen. Es gelang ihm, diese Geometrie systematisch durchzuführen, ohne in den Folgerungen auf einen logischen Widerspruch zu stoßen. Daß ein solcher auch bei weiterer Entwicklung seiner Geometrie niemals auftreten kann, ohne einen Widerspruch in der gemeinen euklidischen Geometrie selbst nach sich zu ziehen, ist später von BEL TRAMI und KLEIN nachgewiesen worden.

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Es ist für die von LoBATSCHEWSKY ausgebildete »nicht-euklidische« Geometrie charakteristisch, daß die Summe der Winkel des ebenen Dreiecks nicht wie in der euklidischen zwei Rechte, sondern weniger als zwei Rechte beträgt, und daß dieser Betrag um so geringer ist, je größer der Flächeninhalt des Dreiecks ist. Die Differenz zwischen der Winkelsumme eines Dreiecks und zwei Rechten,

und Ursprung der mathematischen Gewißheit

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der sogenannte Defekt, steht nämlich zu dem Flächeninhalt des Dreiecks in einem Verhältnis, welches auf Grund der Kongruenzaxiome einen konstanten Wert hat. Diese Konstante bezeichnet man, nach einer der Flächentheorie entlehnten Ausdrucksweise, als das »Krümmungsmaß« des Raumes. Der Wert desselben beträgt in der euklidischen Geometrie 0, während er in der Lobatschewskyschen Geometrie negativ ist. Man sieht ohne weiteres, daß neben der Lobatschewskyschen noch eine andere nicht-euklidische Geometrie möglich ist, nämlich diejenige, die ein positives Krümmungsmaß des Raumes zugrunde legt. Dies ist die sogenannte Riemannsche Geometrie. Sie ist dadurch charakterisiert, daß sie annimmt, in einer Ebene lasse sich durch einen Punkt außerhalb einer Geraden keine Parallele zu ihr ziehen, und durch die sich daraus ergebende Folgerung, daß die Winkelsumme im Dreieck größer als zwei Rechte ist. Sie ist ferner dadurch merkwürdig, daß auf Grund ihrer Annahmen dem Raume nic.h.t mehr wie in der gewöhnlichen Geometrie unendliche Ausdehnung zugeschrieben werden kann. Vielmehr muß zwischen Unendlichkeit und Unbegrenztheit unterschieden werden. Analog der Kugeloberfläche, die zwar keine Grenze hat, aber endlich ist, muß der Riemannsche Raum als zwar unbegrenzt, aber endlich gedacht werden::- 1

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Das Parallelenaxiom ist nicht das einzige, dessen logische Unabhängigkeit durch die Methode der »nicht-euklidischen« Geometrie erwiesen worden ist. Der Beweis seiner Unbeweisbarkeit bildet nur das erste und gleichsam klassische Beispiel einer nach streng logischer Methode geführten kritischen Untersuchung der Grund,>1

In der Neuausgabe des Jahres 1959 bemerkt PAUL BERNAYS zu diesem Abschnitt: Zu beachten ist, daß die Möglichkeit der Riemannschen Geometrie bei Aufrechterhaltung des archimedischen Axioms nur dann besteht, wenn die Anordnungsaxiome und eventuell auch die Inzidenzaxiome modifiziert werden. In der Tat konnten aus diesem Grunde SAcCHERI und LEGENDRE die »Hypothese des stumpfen Winkels«, wonach sich die Winkelsumme des Dreiecks als größer als zwei Rechte ergibt, ausschließen.

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lagen der Geometrie. Seit LoBATSCHEWSKY, GAuss und RIEMANN hat die erweiterte Anwendung dieser Methode zur Gründung einer neuen, umfangreichen und selbständigen Disziplin der Mathematik geführt. Auch auf die Grundlagen der Arithmetik'~ 2 beginnt man in neuerer Zeit mit Erfolg dasselbe Forschungsprinzip auszudehnen. Der Unabhängigkeitsbeweis wird hier durch die Aufstellung »komplexer Zahlensysteme« geführt, d. h. durch den Nachweis der logischen Widerspruchslosigkeit eines Zahlensystems, das nicht sämtliche durch das vollständige System der arithmetischen Axiome bezeichneten Forderungen erfüllt. Zu diesem Axiomensystem gehört z. B. das »Archimedische« Axiom: Wenn a und b zwei beliebige Zahlen sind und a kleiner ist als b, so gibt es stets ein Vielfaches von a, das größer ist als b. Der Unabhängigkeitsbeweis für dieses Axiom ist in der Tat durch Nachweisung der Möglichkeit emes »nicht-archimedischen« Zahlensystems erbracht worden.

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Die angeführten Beispiele werden genügen, um den formalen Wert der nicht-euklidischen Geometrie und die methodische Bedeutung, die sie für die kritische Mathematik besitzt, deutlich hervortreten zu lassen. 1 Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, in welchem Verhältnis die nicht-euklidischen Untersuchungen zu dem Problem des Ursprungs der mathematischen Axiome stehen, und ,:-z Bemerkung von PAUL BERNAYS in der Neuauflage von 1959: Von den »Grundlagen der Arithmetik« ist hier im Sinne der Axiomatik der reellen Zahlen die Rede. 1 Ich verstehe im folgenden unter »nicht-euklidischer Geometrie« allgemein jedes geometrische System, das in seinen Voraussetzungen von irgendeinem oder mehreren Axiomen der gewöhnlichen, euklidischen Geometrie abweicht, beziehe mich also nicht speziell auf die eigentlich sogenannte nicht-euklidische Geometrie, die eine dem Parallelenaxiom widersprechende Annahme zugrunde legt. Um Weitläufigkeiten zu vermeiden, spreche ich nur von der Geometrie und nicht auch ausdrücklich von der Arithmetik. Die folgenden Ausführungen lassen sich indessen auf Grund des § 9 Gesagten ohne weiteres auf die Arithmetik übertragen.

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welche Belehrungen uns aus jenen Untersuchungen für dieses Problem erwachsen. Es ist bekannt, welch heftiger Streit seit der Veröffentlichung von HELMHOL TZ' diesbezüglichen Arbeiten über diese Frage entbrannt ist. Dieser Streit betrifft vornehmlich das Verhältnis der neuen mathematischen Untersuchungen zur Kantischen Lehre von den synthetischen Urteilen a priori. Man hat auf der einen Seite gemeint, auf Grund der nicht-euklidischen Geometrie KANTS Lehre vom rein-anschaulichen Ursprung der Axiome widerlegen zu können, während man auf der anderen Seite geglaubt hat, auf Grund der Kantischen Lehre das ganze Unternehmen der nicht-euklidischen Geometrie verwerfen zu müssen. Nach den vorangeschickten Darlegungen der Kantischen Lehre einerseits und der Methode der nicht-euklidischen Geometrie andererseits werden wir keine Schwierigkeit finden, die Mißverständnisse, die die Streitfrage verdunkelt haben, zu beseitigen und dadurch eine äußerst einfache Lösung des Problems zu gewinnen. 11

KANTS Philosophie der Mathematik läßt sich in den einen Satz zusammenfassen: Die mathematischen Axiome sind synthetische Urteile a priori. Darin liegen die beiden Behauptungen: 1) die Axiome sind nicht logischen Ursprungs, 2) sie gelten unabhängig von aller Erfahrung. Aus der ersten Behauptung folgert KANT ihren Ursprung aus der Anschauung; aus der zweiten schließt er auf den nicht-empirischen Charakter dieser Anschauung. Fragen wir zuerst: Diese Kantische Lehre vorausgesetzt, was folgt aus ihr für die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der nichteuklidischen Geometrie? Die Axiome der euklidischen Geometrie gelten unabhängig von aller Erfahrung. Sie sind also notwendige Wahrheiten. Daraus hat man oft so weiter geschlossen: Notwendige Wahrheiten sind solche, deren Gegenteil unmöglich ist, - also ist eine nicht-euklidische Geometrie unmöglich. Und aus dieser angeblichen Konsequenz hat man dann von der andern Seite auf die Unrichtigkeit der Kantischen Behauptung zurückgeschlossen.

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Der Fehler dieses Schlusses beruht auf einem zweifachen Gebrauch des Wortes »unmöglich«. Die Unmöglichkeit des Gegenteils eines Satzes kann nämlich einmal darin ihren Grund haben, daß sein Gegenteil einen inneren Widerspruch einschließt, d. h. daß die Verneinung seines Prädikatsbegriffs der Definition seines Subjektsbegriffs widerspricht. Dies ist der Fall bei der Verneinung analytischer Urteile. Die Unmöglichkeit des Gegenteils eines Satzes kann aber auch darauf beruhen, daß seine Verneinung irgendeiner anderen, sonst schon feststehenden Wahrheit widerstreitet, z.B. der Anschauung, die wir von dem Gegenstande besitzen. Das letztere ist offenbar der Fall bei der Verneinung synthetischer Urteile. Die Notwendigkeit der ersteren Art ist rein logischer Natur und kommt ausschließlich analytischen Urteilen zu. Die Notwendigkeit der zweiten Art ist synthetischer Natur und bedingt keineswegs die logische Unmöglichkeit des Gegenteils. Der synthetische Charakter der geometrischen Axiome schließt also die logische Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie so wenig aus, daß die Behauptung des ersteren vielmehr mit der der zweiten identisch ist. Was andererseits die Apriorität der Axiome betrifft, so folgt aus ihr allerdings die synthetische Unmöglichkeit einer ihnen widersprechenden Geometrie. Die nicht-euklidische Geometrie bedarf jedoch für ihre Zwecke einzig und allein der logischen Möglichkeit ihres Systems, d. h. ihrer inneren Widerspruchslosigkeit, und es gehört zu den gröbsten Mißverständnissen dieser mathematischen Untersuchungen, daß sie bezweckten, die Gültigkeit der euklidischen Axiome umzustoßen.

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Man hat sich lebhaft über die Vorstellbarkeit nicht-euklidischer Raumformen gestritten. Es ist dem Mathematiker ein Leichtes, die Geometrie eines nach vier oder mehr Dimensionen ausgedehnten Raumes herzustellen: es gelingt ihm dies auf dem Wege der Rechnung. Etwas anderes aber ist die Frage, ob er sich anschaulich vier oder mehr in einem Punkte

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aufeinander senkrecht stehende Geraden vorstellen kann, d. h. ob nicht nur der Begriff, sondern auch die Konstruktion eines mehr als dreidimensionalen Raumgebildes als möglich betrachtet werden muß. Daß die Unmöglichkeit dieser Konstruktion die Möglichkeit des Begriffs nicht ausschließt, ist einleuchtend. Verstehen wir unter Vorstellen Denken, so werden wir alles das als vorstellbar erachten, was keinen logischen Widerspruch einschließt. Wird aber zur Möglichkeit des Vorstellens Anschaulichkeit verlangt, so werden wir, um ein mathematisches Gebilde als vorstellbar zu bezeichnen, über die innere Widerspruchslosigkeit seines Begriffs hinaus die Ausführbarkeit seiner Konstruktion fordern müssen. Das Gebiet des anschaulich Vorstellbaren ist also notwendig enger als das des Denkbaren, und der wesentliche Unterschied beider läßt sich nicht in einen gradweisen verwandeln. Es ist eine dem euklidischen Raume wesentliche Eigenschaft, daß eine Figur, wenn sie um eine feste Achse rotiert, nach einmaliger Umdrehung in ihre Anfangslage zurückkehrt. Diese in der Geometrie gewöhnlich stillschweigend gemachte Annahme ist nicht selbstverständlich in dem Sinne, daß ihr Gegenteil undenkbar wäre. Es führt zu keinem Widerspruch, wenn man etwa annimmt, daß bei der Drehung einer Figur ihre Dimensionen proportional dem Drehungswinkel wachsen. In einer solchen Geometrie wäre der Kreis keine geschlossene Linie; die Linie gleicher Entfernung von einem festen Punkte wäre die Spirale. Ich frage nun: Ist eine nicht geschlossene Linie, die zugleich der Bedingung genügt, die Linie gleicher Entfernung von einem festen Punkte zu sein, anschaulich vorstellbar? Wir können den Begriff der Linie gleicher Entfernung ohne Mühe konstruieren; wir können uns desgleichen eine anschauliche Vorstellung der Spirale entwerfen. Aber in der durch Konstruktion erzeugten Anschauung liegt allemal mehr als in dem Begriff, dessen Gegenstand durch diese Anschauung vorgestellt wird. So wird durch Konstruktion der Linie gleicher Entfernung notwendig zugleich eine geschlossene Linie konstruiert, und durch die Konstruktion der Spirale zugleich notwendig eine Linie ungleicher Entfernung. Die Vereinigung beider Begriffe in eine Anschauung durch Konstruktion einer nicht geschlossenen Kreislinie läßt sich

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also nicht vollziehen, denn sie ist durch die Gesetze unserer Raumanschauung ausgeschlossen, so unzweifelhaft auch die logische Möglichkeit der Vereinigung dieser anschaulich unvereinbaren Begriffe feststeht. Dieser Unterschied begründet eine Überlegenheit des Denkens über die Anschauung, die sich durch keine noch so große Übung und Gewandtheit in der Handhabung analytischer Operationen und perspektivischer Konstruktionen jemals ausgleichen läßt.

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Gehen wir zu der anderen Frage über, die uns noch zu beantworten bleibt: Welche Schlüsse lassen sich aus der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie auf den Ursprung der Axiome ziehen? - Die Ansicht ist noch heute verbreitet und ist auch von manchen Mathematikern geteilt worden, daß die Möglichkeit der nichteuklidischen Geometrie die Gültigkeit der euklidischen zweifelhaft mache, und man hat, durch diese Meinung veranlaßt, das Vorrecht der letzteren auf ein bloßes Gewohnheitsrecht zurückzuführen gesucht. Ein Geometer, der so schließen würde, würde offenbar den Ast absägen, auf dem er sitzt; er würde die Selbständigkeit seiner eigenen Wissenschaft untergraben und sie in ein bloßes logisches Spiel mit analytischen Sätzen auflösen, nämlich mit der Ableitung der logischen Folgen aus beliebigen, durch Gewohnheit oder Bequemlichkeit bestimmten Annahmen, ohne den Gesichtspunkt der Wahrheit dieser Annahmen und ihrer Folgen. So daß z. B. einmal auf einem Naturforscher-Kongreß beschlossen werden könnte, statt der euklidischen irgendeine nicht-euklidische Geometrie der Physik zugrunde zu legen, oder daß eine nach in Europa angestellten Berechnungen gebaute Brücke in Amerika einstürzt, weil dort der Krümmungsradius des Raumes ein anderer ist. Suchen wir nach einem Grunde für die angeführte Schlußweise, so können wir ihn in nichts anderem finden als in dem seit ARISTOTELES traditionell gewordenen, von KANT bekämpften Dogma, das als Kriterien der Wahrheit nur die Logik und die Erfahrung kennt.

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Nach diesem Dogma sind alle notwendigen Wahrheiten logischen Ursprungs. Es ist eine notwendige Konsequenz dieser Voraussetzung, daß alle Sätze, die sich der Zuständigkeit der Logik entziehen, aus der Erfahrung stammen. - Geht man indessen nicht von vornherein von diesem Dogma aus, so läßt sich aus der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie nicht mehr und nicht weniger folgern als der nicht-logische Ursprung der Axiome. Daraus, daß der euklidische Raum nur einen besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit bildet, geht nur hervor, daß, wie RIEMANN es ausdrückt, »die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Größenbegriffen ableiten lassen«. Mit andern Worten: die Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie ist ein unwidersprechlicher Beweis des synthetischen Charakters der geometrischen Wahrheiten. Es liegt auf der Hand, daß aus dieser Tatsache ein Schluß auf die Frage der Apriorität schlechterdings unmöglich ist. Denn die logische Widerspruchslosigkeit des Gegenteils findet bei allen synthetischen Sätzen als solchen statt, sie mögen nun a priori oder a posteriori gewiß sein. Es ist also ausgeschlossen, daß aus den Untersuchungen der nicht-euklidischen Systeme jemals etwas für die Beantwortung der Aprioritätsfrage geleistet wird. Jene mathematischen Untersuchungen haben mit dieser philosophischen Frage nicht das geringste zu tun und sind von der Art ihrer Beantwortung gänzlich unabhängig. Die diese Frage betreffende Behauptung KANTS wird daher durch die nicht-euklidische Geometrie gar nicht berührt. So weit sich also überhaupt die Angelegenheiten der nicht-euklidischen Geometrie mit denen der Kantischen Lehre berühren, nämlich in bezug auf KANTS Entdeckung des nicht-logischen Ursprungs der Axiome, so können wir behaupten, daß die neuere Mathematik auf einem unabhängigen Wege eine glänzende Bestätigung der Kantischen Entdeckung geliefert hat.

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14 Bereits die Begründer der nicht-euklidischen Geometrie selbst haben versucht, erkenntnistheoretische Schlüsse aus ihren mathematischen Untersuchungen zu ziehen. Schon LoBATSCHEWSKY hat daraus, daß die Annahme der gewöhnlichen Geometrie, der Wert der Winkelsumme jedes geradlinigen Dreiecks sei konstant, »keine notwendige Folge unserer Begriffe vom Raume ist«, geschlossen, »nur die Erfahrung, z.B. die wirkliche Messung von den drei Winkeln eines geradlinigen Dreiecks, könne die Wahrheit dieser Annahme bestätigen« 2 • - Ebenso RIEMANN. Daraus, »daß die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Größenbegriffen ableiten lassen«, folgert er, daß die besonderen Eigenschaften, durch die sich der euklidische Raum von anderen denkbaren dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeiten unterscheidet, »nur der Erfahrung entnommen werden können «3 • Am deutlichsten tritt die Form derselben Schlußweise bei HELMH0LTZ hervor. HELMHOLTZ sagt über die Kongruenzaxiome: 4 »Wenn wir aber Denknotwendigkeiten auf diese Annahme freier Beweglichkeit fester Raumgebilde mit unveränderter Form nach jeder Stelle des Raumes hin bauen wollen, so müssen wir die Frage aufwerfen, ob diese Annahme keine logisch unerwiesene Voraussetzung einschließt. Wir werden gleich nachher sehen, daß sie eine solche einschließt, und zwar eine sehr folgenreiche. Wenn sie das aber tut, so ist jeder Kongruenzbeweis auf eine nur aus der Erfahrung genommene Tatsache gestützt.« Hier wird ausdrücklich von dem nicht-logischen Ursprung der Axiome auf ihren empirischen Ursprung geschlossen. Dieses Argument setzt offenbar zu seiner Schlußkräftigkeit neben der ausgesprochenen Prämisse vom nicht-logischen Ursprung der Axiome als zweite Prämisse die stillschweigende Annahme irgendeines allgemeinen Obersatzes voraus. Dieser allgemeine Obersatz müßte die Form haben: Jede logisch unerwiesene Voraussetzung ist der 2

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Pangeometrie § 9. Über die Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen. S. 2. Populär-wissenschaftliche Vorträge. 3. Auflage. 2. Band, 1. Vortrag, S. 7.

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Erfahrung entnommen. Man sieht ohne weiteres, daß dieser stillschweigend benutzte Obersatz nichts anderes ist als die Aristotelische Disjunktio~ zwischen Logik und Empirie als Erkenntnisquellen. Dieses Argument bildet den Kernpunkt in HELMHOLTz' Angriff gegen KANT. Aber gerade jene Disjunktion, auf der dies Argument beruht, hatte KANT bestritten. Soll also die Helmholtzsche Argumentation mehr sein als eine Berufung auf das von KANT widerlegte Vorurteil, so ist sie eine offenbare petitio principii. -

15 Sehen wir einmal von der reinen Anschauung ab (welche ihrerseits selbst erst eine Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung ist), und suchen wir den a posteriori gegebenen Stoff der Erfahrung zu befragen, welche von den logisch-möglichen Geometrien die gültige ist. Nehmen wir an, wir wollten durch Nachmessung der Winkel eines geradlinigen Dreiecks zwischen LoBATSCHEWSKY, EUKLID und RIEMANN entscheiden. Bedenken wir zuerst, daß die mathematisch geforderte absolute Genauigkeit durch empirische Messung unerreichbar ist. Wir würden vielleicht die Winkelsumme um einen gewissen Bruchteil einer Sekunde nahe bei zwei Rechten finden, bald darüber, bald darunter, und würden vielleicht auch durch Berechnung des Mittelwertes der gefundenen Beträge zwei Rechten um so näher kommen, je mehr wir die Beobachtungen häufen. Ob die euklidische Geometrie genau oder nur angenähert gilt, wäre so nicht zu entscheiden. Man hat, mit Rücksicht darauf, daß in allen drei Geometrien die Differenz zwischen der Winkelsumme und zwei Rechten dem Flächeninhalt des Dreiecks proportional ist, vorgeschlagen, durch Messung möglichst großer, astronomischer Dreiecke die Frage zu entscheiden. Denn bei diesen könnte sich eine so große Abweichung von zwei Rechten herausstellen, daß wir gewiß sein könnten, daß der festgestellte Defekt nicht auf die Ungenauigkeit unserer Beobachtungsmittel zurückzuführen ist. Ist es also zwar unmöglich, die

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Gültigkeit des euklidischen Axioms a posteriori zu erweisen, so ließe sich doch seine Ungültigkeit a posteriori erweisen. Sehen wir ab von der Schwierigkeit, die Parallaxe eines Sterns unabhängig von dem euklidischen Axiom zu bestimmen; nehmen wir etwa an, wir hätten das durch den Durchmesser der Erdbahn und den Sirius gebildete Dreieck ausgemessen und hätten einen Defekt von 3 Sekunden gefunden, während wir aus anderen Gründen wissen, daß die durch die Ungenauigkeit unserer Beobachtungsmittel bedingte Fehlergrenze 0,6 Sekunden nicht übersteigen kann. - Welcher Schluß wäre aus diesem Beobachtungsergebnis zu ziehen? Was haben wir eigentlich gemessen? Die Winkel eines geradlinigen Dreiecks? Offenbar nicht. Denn die den Sirius mit der Erde verbindende Gerade ist uns empirisch gar nicht gegeben, sondern nur der vom Sirius zu uns gelangende Lichtstrahl, von dem wir annehmen, daß er geradlinige Form hat. Würden wir also aus unseren Messungen schließen, daß die Winkelsumme des geradlinigen Dreiecks mehr als zwei Rechte beträgt, gemäß der Riemannschen Geometrie, entgegen der euklidischen? Würden wir nicht vielmehr umgekehrt schließen - oder doch jedenfalls logisch ebenso gut schließen können -, daß unsere Voraussetzung der Geradlinigkeit der Lichtstrahlen unzutreffend war und daß wir somit gar kein geradliniges Dreieck gemessen haben? Also weder die Gültigkeit noch die Ungültigkeit der euklidischen Geometrie läßt sich auf empirischem Wege nachweisen. Die Erfahrung kann die Axiome weder bestätigen noch widerlegen. 5 5

Es ist keine seltene Erscheinung, daß ein Entdecker, unter dem Eindruck der überraschenden Fruchtbarkeit der von ihm geschaffenen Forschungsmittel, diesen eine über ihren methodischen Wert hinausgehende metaphysische Bedeutung zuzuschreiben geneigt ist. Vielleicht das interessanteste Beispiel hierfür bietet die Geschichte der Infinitesimalrechnung. Wie nun hier die »unendlich kleinen Größen« aus der Wissenschaft verschwunden sind, während die Grenzmethode ihre Fruchtbarkeit bewährt hat, so wird zweifellos auch die nichteuklidische Geometrie aufhören, ein Gegenstand metaphysischer Deutungsversuche zu sein, während sie ihre methodische Bedeutung nie verlieren wird. Von historischem Interesse dürfte übrigens die wenig bekannt gewordene Tatsache sein, daß die im 19. Jahrhundert realisierte Idee einer »allgemeinen« Geometrie ihren ersten Ursprung bei KANT hat. »Eine Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumesarten wäre unfehlbar die höchste Geometrie, die ein

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Man hört auch häufig folgendes Argument: die Wahrheiten der Geometrie gälten in der Natur nur angenähert, sie seien daher streng genommen Hypothesen, über deren mehr oder weniger genaue Übereinstimmung mit der Natur nur die Erfahrung entscheiden könne. »Daß die Halbmesser eines Kreises gleich sind, ist von allen Kreisen wahr, so weit es von irgendeinem wahr ist, allein es ist von keinem einzigen Kreise genau wahr; es ist nur annähernd wahr - so annähernd, daß man in der Praxis keinen Irrtum von Bedeutung begeht, wenn man es als genau wahr annimmt«, sagt JOHN MrLL. »Der Charakter der Notwendigkeit, den man den Wahrheiten der Mathematik zuschreibt, ist eine Illusion, die man nicht anders aufrechterhalten kann, als indem man annimmt, daß sich jene Wahrheiten auf rein imaginäre Gegenstände beziehen und nur deren Eigenschaften ausdrücken.« »Die eigentümliche Gewißheit, die man für eine charakteristische Eigenschaft der ersten Grundsätze der Geometrie hält, beruht also auf einer Fiktion. Die Sätze, auf welche die Schlüsse dieser Wissenschaft gegründet sind, entsprechen den Tatsachen ebensowenig genau, als in anderen Wissenschaften; allein wir nehmen an, daß sie es tun, um die Konsequenzen, die sich aus dieser Annahme ergeben, verfolgen zu können. Die Ansicht DuGALD STEWARTS rücksichtlich der Grundlagen der Geometrie, daß nämlich diese Wissenschaft auf Hypothesen gegründet ist, ist meines Erachtens wesentlich richtig.«6 - So sprechen auch RIEMANN und HELMHOLTZ von den »Hypothesen, welche der Geometrie zugrunde liegen«. endlicher Verstand unternehmen könnte.« So bemerkt gelegentlich der dreiundzwanzigjährige KANT (Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte. 1747. § 10). Schon diese Tatsache für sich könnte genügen, um die Unbesonnenheit derer ins Licht zu setzen, die unter Berufung auf die »Entdeckung« der Möglichkeit verschiedener Geometrien gegen KANTS mathematischen Apriorismus zu Felde ziehen. 8 System der Logik. 2. Buch. 5. Kapitel, § 1. Nicht mit Unrecht vergleicht STALLO die Achtung, welche MILL bei den zeitgenössischen Mathematikern und Naturforschern als ihr offizieller Logiker und Metaphysiker genoß, mit dem Ansehen, in dem ARISTOTELES bei den mittelalterlichen Scholastikern stand. In der Tat ist es vorzugsweise die Autorität M1ns, durch

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Der Grundfehler dieser Argumentationsweise kann nicht zweifelhaft sein: er besteht in einer Verwechslung der mathematischen Begriffe mit den von diesen Begriffen geltenden Gesetzen. Der Satz von der Gleichheit aller Halbmesser eines Kreises gilt, wenn er überhaupt einen Sinn hat, von allen Kreisen ohne Ausnahme mit absoluter Genauigkeit. Ob aber in der Natur irgendein Gegenstand existiert, dessen Figur genau oder nur angenähert kreisförmig ist, das bleibt durch jenen Satz ganz dahingestellt, und davon hängt seine Wahrheit und der Grad seiner Genauigkeit in keiner Weise ab. Gewiß werden wir, wenn wir einen Naturkörper als kreisförmig bezeichnen, die Kreisförmigkeit desselben nur mit beschränkter Genauigkeit behaupten dürfen und aus diesem Grunde auch die geometrischen Sätze über den Kreis nur nach Maßgabe der Genauigkeit dieser Behauptung, also nur mit einer gewissen Annäherung, auf den Körper anwenden können. Aber es hätte gar keinen Sinn, hieraus den Schluß ziehen zu wollen, daß die Sätze der Geometrie nur annähernd wahr sind und den Tatsachen nicht genau entsprechen. Denn die Geometrie des Kreises handelt nicht von Naturkörpern - weder von kreisförmigen, noch von nicht kreisförmigen -, sondern vom Kreise. Die beschränkte Anwendbarkeit der geometrischen Begriffe auf die Erfahrung vermag daher die Gültigkeit der geometrischen Gesetze auf keine Weise einzuschränken. » Wenn es auch niemals einen Kreis oder ein Dreieck in der Natur geben sollte, so würden doch die von EUKLID demonstrierten Wahrheiten in alle Ewigkeit ihre Gewißheit und Evidenz behalten«, sagt mit Recht HuME. Oder haben wir etwa die Genauigkeit der Gesetze der Kegelschnitte darum einzuschränken, weil wir wissen, daß die Planeten nicht genau die ihnen von KEPLER zugeschriebene elliptische Bahn einhalten, oder weil wir GALILEIS parabolische Konstruktion der Wurfbewegung nur als angenähert richtig betrachten können? MILL verwickelt sich aber noch dazu in einen groben Widerspruch mit sich selbst, wenn er als die Grundlage der Geometrie die Induktion bezeichnet und demgemäß den Ursprung der geometridie sich auch auf dem Festland das Vorurteil des mathematischen Empirismus mit besonderer Hartnäckigkeit festgesetzt hat.

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sehen Begriffe aus der Erfahrung abzuleiten sucht. »Die Punkte, Linien, Kreise und Quadrate, die jemand in seinem Bewußtsein hat«, behauptet er, »sind nichts als Abbilder der Punkte, Linien, Kreise und Quadrate, die ihm die Erfahrung vorgeführt hat.« Wenn dem so wäre, wie kann dann noch von einer Nicht-Übereinstimmung der Geometrie mit der Erfahrung die Rede sein? Wenn die geometrischen Gebilde nur Abbilder der Gegenstände der Erfahrung sind, so fehlt ja jeder Maßstab, mit dem verglichen die Gegenstände der Erfahrung sich als abweichend erweisen könnten. Wenn aber die Mathematik keine Erfahrungswissenschaft ist, so ist es auch von vornherein unstatthaft, ihre Grundsätze, die Axiome, als Hypothesen zu bezeichnen. Hypothesen sind Sätze, deren hinreichender Grund nicht gegeben ist, d. h. deren Verhältnis zur unmittelbaren Erkenntnis unbestimmt ist. Solche Sätze kann es strenggenommen nur in empirischen Wissenschaften geben. Denn in diesen und nur in diesen hängt das Gegebenwerden der den Grund ihrer Urteile bildenden unmittelbaren Erkenntis von für die Vernunft zufälliger sinnlicher Anregung ab. Erfahrungswissenschaften müssen daher infolge der stets möglichen Erweiterung ihrer unmittelbaren Erkenntnis jederzeit einen Spielraum für Hypothesen offen lassen. In rationalen Wissenschaften dagegen steht die den Grund ihrer Urteile bildende unmittelbare Erkenntnis ein für allemal fest und ist jederzeit in unserer Gewalt. Denn sie ist durch die Vernunft selbst gegeben, und es bedarf lediglich der willkürlichen Reflexion, um sie deutlich zu machen und ihr Verhältnis zu dem fraglichen Urteil zu bestimmen, d. h. dieses zu begründen. In rationalen Wissenschaften kann es folglich keine Hypothesen geben. 17

In der Tat gelangen wir auf keinem anderen Wege zu den Grundbegriffen und Grundsätzen der Geometrie als durch Abstraktion von der Erfahrung. Allein, Abstraktion ist nicht Induktion. Es liegt schon im Begriff des Grundsatzes, daß Grundsätze keine er-

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schlossenen Wahrheiten sein können. Die Induktion ist aber ein Schlußverfahren, nämlich der disjunktive Schluß von den Fällen auf das Gesetz; ein Schluß, der übrigens, wie alle Schlußarten, zu seiner Möglichkeit bereits irgendwelche allgemeinen Obersätze nicht-empirischen Ursprungs voraussetzt. Der Zweck der Induktion ist es, über die unmittelbar beobachteten Tatsachen hinaus zur Interpolation und Extrapolation zu leiten. Jede Induktion bedarf daher irgendeines allgemeinen Prinzips, das die Berechtigung und Anweisung zum Hinausgehen über die beobachteten Tatsachen liefert, und das folglich selbst nicht wiederum induktorischen Ursprungs sein kann. Die bloße Möglichkeit einer induktorischen Wissenschaft genügt daher schon, um die Existenz einer nicht-induktorischen Wissenschaft zu beweisen. Eine solche nicht-induktorische Wissenschaft ist die reine Mathematik (wie dies schon ihr Name andeutet), und als solche liegt sie allen induktorischen Wissenschaften als Bedingung ihrer Möglichkeit zugrunde. KEPLER kam nicht durch seine Induktion auf die Gesetze der Kegelschnitte, sondern er wandte nur diese Gesetze, die er schon a priori hatte und die ursprünglich nur der Geometrie angehörten, durch seine Induktion auf die Astronomie an. - Wer also weiß, was eine Induktion ist, der wird niemals mit MILL behaupten können, die Induktion sei das Fundament der mathematischen Wissenschaften. Man hat die Geometrie als das Studium der starren Körper und der die Bewegung derselben regelnden Gesetze bezeichnet. In der Tat: nur die starren Körper, die uns die Erfahrung zeigt, bieten uns Gelegenheit zur Abstraktion unserer Begriffe von Kongruenz, auf welche alle räumliche Messung sich gründet. Wenn es also keine starren Körper in der Natur gäbe, so würden wir auch keine Geometrie haben. - Aber etwas anderes ist die Frage nach den Gelegenheitsursachen der Entwicklung unserer geometrischen Grundbegriffe, etwas anderes die Frage nach dem Ursprung dieser Begriffe. Wenngleich wir nur durch Erfahrung veranlaßt zur Entwicklung dieser Begriffe gelangen, so entspringen dieselben doch nicht aus der Erfahrung. 7 Die Abstraktion, durch die wir zu den 7

Bis zu welchem Grade von Verblendung die empiristische Verwirrung dieser Begriffe führen kann, davon finden wir ein ergötzliches Beispiel bei E. ScHRÖ-

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geometrischen Grundbegriffen gelangen, besteht in der Reflexion auf die räumliche Form der Anordnung der uns in der Erfahrung gegebenen Sinnesqualitäten und auf die Ausdehnungs- und Maßverhältnisse dieser Anordnung, während wir von den in diesen Verhältnissen angeordneten Qualitäten selbst absehen. Wir erwerben uns also nicht erst die Raumanschauung durch Abstraktion aus der Erfahrung, sondern wir isolieren sie nur durch diese Abstraktion aus dem verbundenen Ganzen unserer Erkenntnis und bringen sie uns abgesondert zum Bewußtsein. Nicht also Fiktionen (wie MILL meint) bilden den Gegenstand der Geometrie, sondern Abstraktionen. Es gibt nicht einen besonderen mathematischen Raum, der als Objekt des Geometers diente, und einen von diesem verschiedenen physikalischen Raum, auf welchen die Eigenschaften des ersteren mehr oder weniger genau zu übertragen eine Sache der Erfahrung wäre. Der Raum des Geometers ist mit dem Raum, in dem sich die Naturkörper befinden, schlechthin identisch, und die geometrischen Abstraktionen haben zugleich eine reelle Bedeutung als Formen wirklicher (oder möglicher) Gegenstände. Die geometrischen Gebilde sind also einerseits Gegenstände der reinen Anschauung, andererseits aber sind sie im Ganzen unserer Erkenntnis doch nur Formen bestimmter (physikalischer) Gegenstände. So z. B. ist das Dreieck eine rein-anschauliche Figur und bildet mit allen aus dem Gesetz seiner Konstruktion folgenden Eigenschaften einen Gegenstand der Geometrie. Aber an Gegenständen der Erfahrung ist es nur die Form solcher, welche dreieckig sind. Farm ist überhaupt dasjenige, was den Grund dafür bildet, daß Mannigfaltiges in gewissen Verhältnissen geordnet erscheint. So finden wir im Raum das Mannigfaltige der Sinnesanschauung in gewissen Ausdehnungs- und Maßverhältnissen angeordnet. Der der in seinem »Lehrbuch der Arithmetik und Algebra« diesen Wissenschaften das folgende, »einzige Axiom« zugrunde legt: »Das gedachte Prinzip könnte wohl das Axiom der Inhärenz der Zeichen genannt werden. Es gibt uns die Gewißheit, daß bei allen unsern Entwicklungen und Schlußfolgerungen die Zeichen in unserer Erinnerung - noch fester aber am Papiere - haften.« DER,

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Raum ist also die Form der Sinnesanschauung. Da nun die Form der Nebeneinanderordnung des Mannigfaltigen der Sinnesanschauung nicht selbst wieder ein Gegenstand der Sinnesanschauung sein kann, so ist der Raum, obgleich die Form der Sinnesanschauung, doch selbst nur ein Gegenstand der reinen Anschauung. - Ist aber der Raum ein Gegenstand der reinen Anschauung, so ist es auch eine wissenschafl:liche Aufgabe, die gesetzmäßigen Eigenschaften dieser rein-anschaulichen Form zu erforschen. Die wissenschaftliche Erkenntnis des Raums ist aber die Geometrie. Die Geometrie ist also eine Wissenschaft aus reiner Anschauung.8

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»Beruhten die geometrischen Sätze auf reiner Anschauung, so brauchten wir sie nicht zu lernen«, sagt ERNST MAcH9 , einem sehr verbreiteten Mißverständnis Ausdruck gebend. Was heißt es denn, wenn wir sagen, daß wir einen geometrischen Satz lernen? MACH wird den wesentlichen Unterschied nicht leugnen wollen, der zwischen dem Erlernen historischer Tatsachen und dem Erlernen mathematischer Wahrheiten besteht. Die Kenntnis der ersteren ist für 8

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Ich hebe das letztere besonders deshalb hervor, weil daraus die Unhaltbarkeit der von HELMHOL TZ vertretenen Ansicht hervorgeht, nach der zwar der Raum selbst eine reine Anschauungsform sein, der Ursprung der Axiome dagegen in der Erfahrung liegen soll. Die Axiome sind in der Tat nichts anderes als die begriffliche Formulierung der einfachsten Grundverhältnisse der Raumanschauung selbst. Der Einwand, daß aus der Apriorität der Raumanschauung zwar die Apriorität gewisser, aber nicht notwendig aller geometrischer Axiome folgt, würde KANT wenigstens nicht treffen. Denn die Vernunftkritik behauptet nur die Existenz einer Wissenschaft vom Raum aus reiner Anschauung, gleichviel welcher Umfang dieser Wissenschaft zuzuschreiben ist. Angenommen, der Beweis der empirischen Natur des Parallelenaxioms wäre gelungen (was, wie wir gezeigt haben, nicht der Fall ist), so würde dieser Beweis die Kantische Behauptung nicht umstoßen, sondern nur dahin ergänzen, daß dieser Satz aus der Geometrie in die Empirie zu verweisen wäre. Die einmal von GAuss geäußerte Vermutung, »daß wir die Geometrie nicht vollständig a priori begründen können«, ist also mit der Kantischen Lehre sehr wohl vereinbar. (Vgl. Briefwechsel zwischen GAuss und BESSEL, S. 490.) Die Analyse der Empfindungen, 4. Auflage, 1903, S. 270.

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den einzelnen zufällig und kann nur durch Belehrung von außen her erworben werden. Das Erlernen mathematischer Wahrheiten dagegen besteht (wie bereits PLATON im Menon gezeigt hat) nicht sowohl in der Erwerbung der mathematischen Erkenntnis selbst, als vielmehr in der Erwerbung der Einsicht in dieselbe. Diese Einsicht allein ist es, die durch das Studium der mathematischen Wissenschaften erworben wird, und sie ist mithin ein zufälliger, von äußeren Umständen abhängender Besitz. Die mathematische Erkenntnis selbst aber, die man sich durch dies Studium nur zum Bewußtsein bringt, ist für jedermann notwendig, und jedermann kann sich eine Einsicht in dieselbe verschaffen, wenngleich, ob er es wirklich tut, nur von der Erfahrung abhängig ist. Da nach MACH alles in der Welt lediglich aus Empfindungen besteht10, so ist es freilich nur natürlich, daß er auch die Raumvorstellung nur als Empfindung angesehen wissen will. Aber es ist bemerkenswert, daß auch MACH sich genötigt sieht, zu gestehen, daß das, was er als »Raumempfindung« bezeichnet, »von der Sinnesempfindung zu unterscheiden« ist und daß die Raumempfindungen »den variierenden Sinnesempfindungen gegenüber ein festes Register bilden, in welches letztere eingeordnet werden«.11 Wären übrigens alle Wahrheiten, die wir erst »lernen« müssen, empirischen Ursprungs, so würde dies nicht allein von der Geometrie, sondern in gleicher Weise auch von der Arithmetik, ja sogar von der Logik gelten. Denn der Besitz keiner dieser Wissenschaften ist uns angeboren. Damit aber wäre zugleich die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit dieser Wissenschaften aufgehoben - eine Konsequenz, die selbst MACH schwerlich zu vertreten geneigt sein dürfte.

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Man hat behauptet, wenn die Erkenntnisquelle der Mathematik in der Anschauung läge, so würde ihren Sätzen die Genauigkeit fehlen. »Die Raumanschauung ist zunächst etwas Ungenaues, wel10

11

Ebenda, S. 10. Ebenda. S. 142.

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ches wir zum Zwecke der mathematischen Behandlung in den sogenannten Axiomen idealisieren«, sagt FELIX KLEIN. 12 Und in seinem berühmten Gutachten betreffend den dritten Band der Theorie der Transformationsgruppen von Lrn heißt es: »Die Ergebnisse irgendwelcher Beobachtungen gelten immer nur innerhalb bestimmter Genauigkeitsgrenzen und unter partikulären Bedingungen; indem wir die Axiome aufstellen, setzen wir an Stelle dieser Ergebnisse Aussagen von absoluter Präzision und Allgemeinheit. In dieser Idealisierung der empirischen Daten liegt meines Erachtens das eigentliche Wesen der Axiome.« 13 - Die Ergebnisse der Beobachtung, d. h. der empirischen Anschauung, gelten allerdings stets nur innerhalb bestimmter Genauigkeitsgrenzen und unter bestimmten Bedingungen. Allein, jede Idealisierung setzt ein Ideal voraus, und wir müssen uns daher fragen, von welcher Beschaffenheit und welchen Ursprungs denn das hier vorausgesetzte Ideal sein soll? Dies Ideal kann offenbar nicht selbst der Beobachtung entlehnt sein, da es ja gerade die Norm der Korrektur der Beobachtung bilden soll. Dies Ideal ist in der Tat nichts anderes als die reine Anschauung, und der hier als Idealisierung bezeichnete Prozeß besteht nicht sowohl in dem Übergang von der »Anschauung« zu den Axiomen als vielmehr in dem Übergang von der empirischen Anschauung zur reinen (nicht »inneren«) Anschauung. Die in den Axiomen enthaltene Idealisierung der empirischen Daten wäre ohne die Voraussetzung der reinen Anschauung gar nicht möglich, weil uns ohne diese jeder Maßstab fehlen würde, der uns als »Ideal« der Präzision dienen könnte, und weil uns ebenso jedes Kriterium fehlen würde, das die »absolute Allgemeinheit« dieser Aussagen gewährleisten könnte. Es ist wiederholt darauf aufmerksam gemacht worden, daß manche Fehler in der Geschichte der Mathematik durch eine einseitige Beachtung der Anschauung veranlaßt worden sind, indem diese dazu geführt hat, in übereilter Weise Sätze als allgemeingültig anzusehen, die es in der Tat nicht sind. Das berühmteste Beispiel 12

13

über Arithmetisierung der Mathematik. Nachrichten von der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. 1895. Heft 2, S. 83. Mathematische Annalen. 50. Band, 1898, S. 585.

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dieser Art ist die lange Zeit nicht nur für richtig, sondern sogar für selbstverständlich gehaltene Voraussetzung der Differenzierbarkeit aller stetigen Funktionen. Ein solcher Fehler liegt jedoch in keinem Falle in der mathematischen Anschauung selbst. Er beruht vielmehr entweder darauf, daß man im Vertrauen auf die ungenaue empirische Anschauung diese unbewußt der reinen unterschiebt, oder darauf, daß man sich mit einer unvollständigen Induktion begnügt, die man fälschlich wie eine vollständige ansieht, d. h. also auf einem aus der Anschauung gezogenen Schlusse. Das letztere ist der Fall bei dem genannten Beispiel. Die Stetigkeit ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Differenzierbarkeit, und erst die strengere Unterscheidung dieser Begriffe, nicht aber eine Korrektur der Anschauung führte zur Richtigstellung des wahren Sachverhalts. - Wenn sich nur die diff erenzierbaren stetigen Funktionen durch stetig verlaufende Kurven geometrisch darstellen lassen, und wenn sich trotzdem die Existenz nicht differenzierbarer stetiger Funktionen auf analytischem Wege beweisen läßt, so steht doch das Ergebnis dieses Beweises keineswegs mit der Anschauung in Widerspruch. Denn die geometrische Darstellbarkeit ist kein notwendiges Kriterium der Existenz eines mathematischen Begriffs. Vielmehr genügt in der Mathematik zur Feststellung der Existenz eines Begriffs die Nachweisung seiner Übereinstimmung mit sich selbst und mit den Axiomen. Die Axiome ihrerseits beziehen sich aber nicht nur unmittelbar auf die reine Anschauung, sondern sie können auch zu ihrer Möglichkeit diese unmittelbare Beziehung auf die Anschauung nicht entbehren. Dies gilt von den Axiomen der Analysis ebenso wie von denen der Geometrie. Es kann folglich auch jeder Existenzbeweis für einen geometrisch nicht darstellbaren und überhaupt nicht unmittelbar anschaulichen Begriff nur auf Grund einer mittelbaren Berufung auf die Anschauung geführt werden.

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Aus dem logischen Postulat der vollständigen Zurückführung unserer Erkenntnis auf ihre Prinzipien entspringt die Forderung, jeden überhaupt erweislichen Satz vermittelst rein syllogistischer Operationen auf die Axiome zurückzuführen. Es ist daher ein berechtigtes und der wissenschaftlichen Strenge förderliches Bestreben der neueren Mathematik, den Gebrauch der Anschauung aus der systematischen Entwicklung der Beweise zu eliminieren und insbesondere bei der Ableitung arithmetischer Sätze die Benutzung geometrischer Interpretationen zu vermeiden. Die erfolgreiche Durchführung dieser besonders von WEIERSTRASS ausgegangenen Bestrebungen hat zu der als »Arithmetisierung« bezeichneten Behandlungsweise der Mathematik geführt. Diese Bestrebungen haben zu mannigfachen Mißverständnissen Anlaß gegeben. Insbesondere hat man vielfach die Vermutung ausgesprochen, die schließliche Folge oder gar das eigentliche Ziel der Arithmetisierung läge in der gänzlichen Verdrängung der mathematischen Anschauung und in ihrer Ersetzung durch einen logischen Formalismus. Es läßt sich indessen leicht zeigen, daß diese Vermutung irrig ist und daß selbst die vollständig durchgeführte Arithmetisierung die mathematische Anschauung nicht entbehrlich machen kann. Ein Beweis ist nämlich nichts anderes als die logische Zurückführung eines Lehrsatzes auf die Axiome, und also, vermittelst dieser, auf die Anschauung. Während uns die unmittelbare Anschauung schon bei der Betrachtung komplizierterer geometrischer Gebilde sehr bald im Stiche läßt, besteht der richtig verstandene Zweck der Arithmetisierung gerade in einer möglichst vollständigen begrifflichen Analyse des in den Axiomen formulierten Gehalts der mathematischen Anschauung. Dies Verhältnis wird bei einer genaueren Betrachtung des Wesens der Arithmetisierung noch deutlicher werden. Strenggenommen sind es nämlich zwei verschiedene Forderungen, die man unter der Bezeichnung der »Arithmetisierung der Mathematik« zusammengefaßt hat und die nicht immer mit der nötigen Schärfe unterschieden worden sind: einerseits die Forderung der rein syllogistischen

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Ableitung jedes erweislichen mathematischen Satzes, und andererseits die Forderung der rein arithmetischen Bearbeitung arithmetischer Probleme oder, nach DEDEKINDS Ausdruck, die Forderung, »daß die Arithmetik sich aus sich selbst heraus entwickeln solle« 14 • Die eine Forderung läuft auf die Ausscheidung der Anschauung aus den mathematischen Beweisen hinaus, die andere auf die Ausscheidung geometrischer Interpretationen aus der Begründung der Arithmetik. Die eine hat zum Ziel eine strenge Trennung von Anschauung und Denken in der Mathematik, die andere eine strenge Trennung der Analysis von der Geometrie. Die Vermengung dieser beiden an sich richtigen Forderungen hat zu der fehlerhaften Forderung geführt, die Mathematik überhaupt auf die Arithmetik zurückzuführen, zu der irrigen Ansicht, nur das dürfe als gesicherter Bestand mathematischer Wissenschaft gelten, was durch ausschließlich arithmetische Beweisführung begründet werden könne. Die schließliche Konsequenz dieser letzteren Ansicht wäre die Ausscheidung der Geometrie aus der reinen Mathematik - eine Konsequenz, die wirklich bereits ihre Vertreter gefunden hat. In der Tat läßt sich ein geometrischer Satz nie restlos auf einen arithmetischen zurückführen, wenngleich sich den geometrischen Konstruktionen arithmetische Ausdrücke zuordnen lassen und man auf Grund dieser Zuordnung die Beziehungen zwischen den geometrischen Gebilden an der Hand derjenigen zwischen den entsprechenden arithmetischen studieren kann. Aber der ursprüngliche Unterschied zwischen der Geometrie und der Arithmetik fällt gleichwohl nicht mit dem Unterschied der anschaulichen Erkenntnis und des logischen Denkens zusammen. Geometrie und Arithmetik sind durch ihre Gegenstände unterschieden; die erstere hat es mit räumlich ausgedehnten Größen, die zweite hat es lediglich mit Zahlen zu tun. Anschauliche und gedachte Erkenntnis hingegen unterscheiden sich nicht hinsichtlich ihrer Gegenstände, sondern vielmehr hinsichtlich der Erkenntnisweise. Anschauung ist eine unmittelbare Erkenntnis ihrer Gegenstände, Denken hingegen die durch Begriffe vermittelte Erkenntnis derselben Gegenstände. Die Verwechslung dieser 14

Stetigkeit und irrationale Zahlen. § 3.

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beiden Unterschiede mußte in Verbindung mit der allgemein angenommenen Disjunktion zwischen Logik und Empirie notwendig zu dem Unternehmen führen, die Arithmetik der Logik und die Geometrie der Empirie zuzuweisen und somit die letztere aus der reinen Mathematik auszuschließen. Die Geometrie ist indessen so wenig Empirie wie die Arithmetik Logik. Vielmehr findet die Trennung anschaulicher und gedachter Erkenntnis ganz innerhalb beider Disziplinen statt. Das Postulat der systematischen Strenge, d. h. die Forderung, die Rolle der Anschauung aus den Beweisen auszuscheiden und auf die Begründung der Axiome einzuschränken, betrifft daher gleicherweise beide Wissenschaften und kann mithin ebensowenig zu einer völligen Beseitigung der Anschauung aus der Begründung der Arithmetik, wie zu einer Ausschließung der Geometrie aus der reinen Mathematik führen. Die Mathematik entwickelt sich also, obschon in Begriffen und durch Begriffe, dennoch aus der Anschauung.

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Vor der Entdeckung des Unterschieds der analytischen und synthetischen Urteile mußte freilich der Versuch einer prinzipiellen Scheidung zwischen Mathematik und Logik als ein müßiges und willkürliches Unternehmen erscheinen. Wenn für die Geometrie wenigstens diese Trennung heute unter den Mathematikern allgemeine Anerkennung findet, so hat dies, wie wir gesehen haben, seinen Grund in der Entdeckung der nicht-euklidischen Axiomensysteme, deren Möglichkeit auf das Evidenteste den synthetischen Charakter der geometrischen Axiome erweist. Der Umstand, daß in jüngster Zeit durch das Gelingen des Aufbaus der komplexen Zahlensysteme die analoge Arbeit auch für die Arithmetik geleistet worden ist, wird gewiß auch in dieser Disziplin die rein-logischen Begründungsversuche bald als unhaltbar und veraltet erscheinen lassen. Damit aber wird man zugleich gezwungen sein, die Alternative zwischen Logik und Erfahrung als Erkenntniskriterien endgültig aufzugeben, und so wird sich endlich auch der aus dieser irri-

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gen Alternative entsprungene geometrische Empirismus als nichtig erweisen. Um den analytischen Charakter der arithmetischen Urteile zu erhärten, hat man die Behauptung aufgestellt, daß es möglich sei, sie zu beweisen, »ohne Wahrheiten zu benutzen, welche nicht allgemein logischer Natur sind« 15 • Hierauf haben wir zunächst zu erwidern, daß, wenn man die analytischen Urteile als solche definiert, welche sich ausschließlich auf »die allgemeinen logischen Gesetze« gründen, sich die Frage erhebt, nach welchem Kriterium sich denn die »allgemein logische Natur« eines Gesetzes entscheiden lasse? Ein solches Kriterium werden wir fordern müssen, wenn wir nicht etwa von vornherein das Gebiet der Logik durch eine willkürliche Festsetzung dogmatisch abgrenzen wollen; in welchem Falle offenbar die Frage nach den Grenzen der Logik und der Arithmetik jedes wissenschaftliche Interesse verlieren würde. Ein solches Kriterium bietet sich in der Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile. Aber wir müssen wohl beachten, daß wir die Definition dieses Unterschiedes nicht wiederum auf den Begriff der Logik gründen dürfen, wofern wir nicht in einen offenbaren Zirkel im Erklären geraten wollen. 16 Ferner aber müssen wir daran erinnern, daß »die rein logische Natur der arithmetischen Schlußweisen« keineswegs die rein logische Natur der durch solche Schlußweisen erschlossenen Sätze bedingt. Wäre dies richtig, so würde sich alle Wissenschaft überhaupt, soweit sie nur irgend dem Postulat der systematischen Strenge genügt, in bloße Logik auflösen. Daß vielmehr die logische oder nicht-logische Natur eines Satzes davon ganz unabhängig ist, ob er rein logisch erschlossen ist oder nicht, geht schon daraus hervor, daß wir auch aus induktorisch gewonnenen Prämissen streng logische Schlüsse ziehen können. Die letztere Möglichkeit wird durch die theoretische Physik realisiert; und da also die Prämissen derselben 15 16

Vgl. FREGE, Grundlagen der Arithmetik, S. 4. Diesen Umstand scheint selbst KERRY übersehen zu haben, dessen klaren und gründlichen Ausführungen über die vorliegende Streitfrage wir im wesentlichen zustimmen müssen. (Vgl. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 11, S. 249-307.)

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zweifellos nicht logischer Natur sind, können auch die aus ihnen gezogenen Folgerungen nicht rein logischer Natur sein. Die logische oder nicht-logische Natur einer durch logische Schlüsse abgeleiteten Wahrheit hängt also allein von der logischen oder nicht-logischen Natur ihrer Prämissen ab. Halten wir uns nun an das angegebene Kriterium, so bedarf es nur geringen Nachdenkens, um den nicht-logischen Charakter der arithmetischen Prämissen, und somit der arithmetischen Wahrheiten überhaupt, zu erkennen. Wir brauchen hierzu nur den schon von LEIBNIZ aus angeblich rein logischen Prämissen geführten Beweis des Satzes 2 + 2 = 4 zu zergliedern. LEIBNIZ definiert die Zahlen 2, 3, 4, durch die Gleichungen: 1 + 1 = 2, 2 + 1 = 3, 3 + 1 =4, und meint aus diesen Definitionen allein den Beweis führen zu können. Allein, näher zugesehen bedürfen wir, um von der Gleichung 2 + 2 = 2 + (1 + 1) weiter schließen zu können, eines aus den aufgestellten Definitionen nicht zu entnehmenden Satzes, der uns zu der Gleichung führt: 2 + (1 +1) = (2 + 1) + 1. Erst wenn wir zu dieser letzteren Gleichung gelangt sind, werden wir aus den Definitionen weiter folgern dürfen: (2 + 1) + 1 = 3 + 1 = 4. Das bei dem Beweis stillschweigend vorausgesetzte, aus den Definitionen der vorkommenden Begriffe unableitbare Axiom ist das assoziative Gesetz der Addition. Die Formel a + (b + 1) = (a + b) + 1, die die Grassmannsche Formulierung dieses Axioms bildet, ist zwar, mathematisch betrachtet, eine reine Identität. Aber was der Mathematiker eine Identität nennt, ist keineswegs eine Identität im logischen Sinne. Denn das Gleichheitszeichen ist ein Zeichen für die Identität der Größe zweier Gegenstände. Aber die Identität der Größe zweier Gegenstände ist nicht die Identität zweier Begriffe. Es springt ferner sofort in die Augen, daß beispielsweise die Unendlichkeit der Zahlenreihe, also das Axiom, daß auf jede Zahl eine andere folgt, sich auf keine Weise als eine begriffliche Notwendigkeit herleiten läßt. Das Axiom entspringt also nicht aus reinem Denken, sondern aus reiner Anschauung. - Wir erkennen aber auch

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zugleich, daß einige Sätze, die man unter den arithmetischen Axiomen aufzuzählen pflegt, in der Tat logischen Ursprungs sind. Hierher gehört der Satz: Wenn zwei Größen einer dritten gleich sind, so sind sie auch untereinander gleich. Denn, wenn wir haben: a = b und b = c, so können wir, da Gleichheit Identität hinsichtlich der Größe bedeutet, in der ersten Gleichung b durch c substituieren und erhalten a = c. Der Satz geht mithin unmittelbar aus dem Begriff der Gleichheit hervor. - Hierher gehört aber auch das Prinzip der vollständigen Induktion: Ist ein Gesetz für das erste Glied einer Reihe erfüllt, und folgt aus seiner Gültigkeit für irgendein Glied seine Gültigkeit für das nächstfolgende Glied, so gilt es für alle Glieder der Reihe. Die logische Notwendigkeit dieses Satzes zeigt sich am deutlichsten, wenn man versucht, die Annahme seiner Ungültigkeit auch nur an irgendeinem Beispiele durchzuführen. Es läßt sich sehr wohl ohne logischen Widerspruch ein System von Zahlen denken, die z. B. das kommutative Gesetz der Multiplikation nicht erfüllen oder für die das archimedische Axiom nicht gilt. Es läßt sich hingegen kein arithmetisches System ohne logischen Widerspruch durchführen, das das genannte Gesetz der Größengleichheit oder das Prinzip der vollständigen Induktion nicht erfüllt. Das Mißlingen dieser Versuche lehrt uns ebenso bestimmt den logischen Ursprung der letzteren Gesetze einsehen, wie das Gelingen jener den synthetischen Charakter der ersteren. Auf solche Weise können wir aufs Genaueste die logische oder arithmetische Natur eines jeden vorgelegten Satzes entscheiden.

22 Natürlich unterliegt die Mathematik, wie jede Wissenschaft, den Gesetzen der Logik. Aber die Logik vermag nur negative Bedingungen der mathematischen Wahrheit aufzustellen, insofern sie den Widerspruch ausschließt. So ist z. B. der Begriff des Differentialquotienten einer an keiner Stelle stetigen Funktion ein logisch unmöglicher Begriff, denn er schließt einen Widerspruch ein. Allein, logische Widerspruchslosigkeit bedeutet noch nicht mathematische

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Existenz. Der Begriff der größten Primzahl, oder, um ein geometrisches Beispiel zu nennen, der Begriff eines regulären Siebzehnflächners, ist ein logisch möglicher, nichtsdestoweniger aber mathematisch nicht existierender Begriff. Denn, wenn er gleich keinen Widerspruch enthält, so widerstreitet er doch der mathematischen Anschauung. Die positiven Kriterien der mathematischen Existenz lassen sich daher aus bloßer Logik nicht ableiten.17 Um dennoch den logischen Charakter der Arithmetik um jeden Preis aufrechtzuerhalten, hat man sich bemüht, die Axiome durch geeignete Definitionen der in ihnen auf tretenden Begriffe zu ersetzen. Der Satz a · 1 = a, so argumentiert man beispielsweise, besage im Grunde nichts anderes als die Definition der Zahl 1. Nun mag allerdings zugegeben werden, daß wir die Zahl 1 durch diese Identität, d. h. also als Invariante der Multiplikation, definieren können. Aber alsdann bleibt uns noch die wesentliche Aussage übrig, daß es eine solche Invariante der Multiplikation auch wirklich gibt; und diese Aussage ist, wie jeder Existentialsatz, synthetisch. Und so würden auch die übrigen Axiome durch Definitionen niemals wirklich ersetzt werden können, da zu jeder neuen Definition auch wieder ein eigenes Axiom über die Existenz des definierten Begriffs oder der definierten Operation hinzutreten müßte. Oder, falls man die Existenz der definierten Gebilde beweisen will, so muß doch zur Möglichkeit jedes Existenzbeweises schon die Existenz der in der Definition als Elemente auftretenden Begriffe axiomatisch vorausgesetzt werden. - Hieran scheitert z. B. auch der Versuch, das oben genannte Grassmannsche Axiom als Definition der Addition aufzufassen. Denn abgesehen davon, daß wir, um den Sinn des + Zeichens auf der linken Seite der Gleichung durch die rechte Seite zu erklären, bereits die Bedeutung kennen müßten, die es auf der rechten Seite hat, - davon abgesehen enthält eine solche »Definition« schon die Voraussetzung, daß es von jeder beliebigen Zahl 17

Wer es freilich vorzieht, das, was wir, dem Sprachgebrauch gemäß, als logische Möglichkeit bezeichnen, »Existenz« zu nennen, der mag in der Widerspruchslosigkeit eines Begriffs einen hinreichenden Beweis seiner Existenz erblicken. Es dürfte sich jedoch empfehlen, wesentlich verschiedene Begriffe auch durch verschiedene Worte zu bezeichnen, statt ihre Verschiedenheit durch willkürliche Verletzung des Sprachgebrauchs ohne Not unkenntlich zu machen.

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und der Zahl 1 eine Summe gebe, daß also die Operation des Addierens in jedem Falle ausführbar sei. Diese Existentialaxiome lassen sich allerdings durch eine geeignete Methode auf ein minimales Maß einschränken. Dadurch nämlich, daß man die Zahlen von vornherein nur dadurch definiert, daß sie ein System von Dingen bilden, welches die in arithmetischen Axiomen formulierten Bedingungen erfüllt. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß alle durch diese Methode überhaupt ableitbaren Eigenschaften der Zahlen in dem bloßen Begriff der Zahl ihren Grund haben. Allein, so fruchtbar sich diese (auch in der Geometrie anwendbare) »axiomatische« Methode für gewisse mathematische Untersuchungen erweist, so ist doch geltend zu machen, daß den auf solche Weise definierten Dingen zwar, sofern die definierenden Bedingungen ein in sich widerspruchsloses System bilden, logische Möglichkeit, an und für sich aber noch keineswegs mathematische Existenz zukommt. 18 Dies zeigt sich sofort, wenn wir das System von Sätzen, das durch den Inbegriff der Axiome und der aus den Axiomen folgenden Theoreme gebildet wird, von dem System von Sätzen unterscheiden, das durch die Schlußfolgerungen gebildet wird, die von den Axiomen zu den aus ihnen folgenden Theoremen führen. Das zweite System besteht lediglich aus analytischen hypothetischen Urteilen; das erste System dagegen ausschließlich aus synthetischen: nämlich aus dem Inbegriff der Vordersätze und Nachsätze der hypothetischen Urteile des zweiten. Die Mittel der Logik können daher nur zur Aufstellung des zweiten Systems hinreichen, das in der Tat nichts anderes ist als ein logischer Formalis18

über die Anwendung der axiomatischen Methode auf die Arithmetik vgl. HrLBERT, über den Zahlbegriff (Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 8, 1900, S. 180 ff.), sowie: über die Grundlagen der Logik und der Arithmetik (Verhandlungen des dritten internationalen MathematikerKongresses in Heidelberg, 1905, S. 174 ff.). Es ist bemerkenswert, daß der in dem letztgenannten Vortrage erhobene Protest gegen den Empirismus von einem Forscher ausgeht, dessen eigene Arbeiten (vgl. Grundlagen der Geometrie, §§ 12, 13, 33) den synthetischen Charakter der arithmetischen Wahrheiten in das hellste Licht setzen. Es scheint daher die Durchführung der neuerdings von HrLBERT ausgehenden Bestrebungen rücksichtlich der Grundlagen der Arithmetik unvermeidlich gerade zu der von uns vertretenen kritischen Auffassung zu drängen.

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mus. Nach rein logischer Methode können wir also wohl hypothetisch urteilen: Wenn es Dinge gibt, die ein bestimmtes Axiomensystem befriedigen, so existiert auch alles das, was sich durch rein logische Schlußfolgerungen aus dem Axiomensystem ableiten läßt. Ja , wir können so viele verschiedene hypothetische Systeme der Arithmetik (und ebenso der Geometrie) aufstellen, als sich widerspruchslose Axiomensysteme denken lassen. Da sich aber die in den verschiedenen hypothetischen Systemen enthaltenen Systeme von Vorder- und Nachsätzen gegenseitig logisch ausschließen, so kann es unter diesen letzteren nur eins geben, das kategorisch behauptet werden darf. Zur Aufstellung dieses Systems ist die Logik unzureichend. Denn schon zur Aufstellung auch nur eines einzigen mathematischen Theorems bedarf es des Hinzukommens der Assertion zu den für sich problematischen Prämissen des zu seinem Beweise erforderlichen hypothetischen Systems. Also setzt auch die »axiomatische« Begründungsweise der Arithmetik von vornherein schon ein von dem durch die Axiome definierten Zahlbegriff unabhängiges Existentialaxiom voraus, von der Form: Es gibt Dinge, welche die durch das Axiomensystem postulierten Bedingungen erfüllen. - Es läßt sich folglich die Notwendigkeit wenigstens eines synthetischen Grundsatzes für jede auf ein eigenes Axiomensystem gegründete Disziplin auf keine Weise umgehen. Dieser Notwendigkeit hat man sich entziehen zu können geglaubt durch die Behauptung, die Frage nach der kategorischen Gültigkeit eines mathematischen Systems oder nach der Existenz der mathematischen Begriffe gehöre in die Naturwissenschaft und sei daher aus der Mathematik auszuschließen. Soll hiermit nur der Wunsch ausgesprochen werden, man möge der Bearbeitung der genannten Frage nicht den Namen »Mathematik« geben, sondern sie mit unter dem Namen der Naturwissenschaft befassen, so wäre dies ein rein terminologischer Vorschlag, gegen den wir nichts einzuwenden hätten, als daß er einen gefährlichen Irrtum nahelegt. Den Irrtum nämlich, die in Rede stehende Frage sei auf dem Wege der Beobachtung und des Experiments zu entscheiden. Denn unter »Naturwissenschaft« versteht der übliche Sprachgebrauch diejenige Wissenschaft, die sich der Methoden der Beobachtung und des Experiments

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bedient. - Will aber etwa die genannte Behauptung das Wort »Naturwissenschaft« in diesem herkömmlichen Sinne verstanden wissen, so beruht sie auf der Verwechslung des Begriffs der mathematischen Existenz mit dem Begriffe der empirischen Existenz. Das Kriterium der letzteren liegt in der Sinneswahrnehmung und bedarf zu seiner wissenschaftlichen Anwendung allerdings der Methoden der Naturwissenschaft. Das Kriterium der ersteren aber liegt ausschließlich in der reinen Anschauung und bedarf zu seiner Anwendung keinerlei naturwissenschaftlicher Methoden. Wem es schließlich scheinen sollte, daß der von uns als notwendig erwiesene synthetische Grundsatz eine zum Aufbau des kategorischen Systems zwar erforderliche, im übrigen aber für die Mathematik interesselose Beigabe zu dem logischen Formalismus der hypothetischen Systeme sei, den müssen wir daran erinnern, daß nicht nur die Möglichkeit des ganzen kategorischen Systems wesentlich auf diesem Grundsatze beruht, sondern daß auch die methodische Bedeutung, die den verschiedenen möglichen hypothetischen Systemen beiwohnt, gerade in den Aufklärungen besteht, die sie uns über die logischen Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Sätzen des kategorischen Systems erteilen, und daß daher das wissenschaftliche Interesse, das sich an die hypothetischen Systeme knüpft, ohne Rücksicht auf das kategorische System völlig hinfällig werden müßte. Wir würden die Mathematik ihrer wissenschaftlichen Würde berauben, wollten wir die Frage, ob wir es mit einer Aneinanderreihung von Hirngespinsten oder mit der Erkenntnis der Wahrheit zu tun haben, aus ihr streichen.

23 Es ist eine wohl von keinem Mathematiker bezweifelte, obzwar meist unbewußt die Forschung leitende Überzeugung, daß jedes sich uns darbietende mathematische Problem eine bestimmte Lösung zulasse; mag diese Lösung nun darin bestehen, daß man die gesuchte Antwort auf die vorgelegte Frage erteilt, oder darin, daß man den Grund der Unmöglichkeit, sie in der gesuchten Weise zu beantwor-

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ten, aufweist. Worauf gründet sich diese Überzeugung? Wenn die Quelle der mathematischen Wahrheit, wie wir zu zeigen suchten, nicht, wie die der logischen, in unseren eigenen Begriffen liegt, mit welchem Rechte können wir uns dann anmaßen, im Besitz der zur Auflösung jedes beliebigen mathematischen Problems hinreichenden Mittel zu sein? Ein solch eigentümlicher Vorzug scheint mit dem nicht-logischen Charakter der mathematischen Erkenntnis unverträglich zu sein. Schon in der populären Erörterung bisher ungelöster Probleme hören wir die Frage diskutieren, ob das Mißlingen ihrer Auflösung in einer »prinzipiellen« Unmöglichkeit seinen Grund habe, oder nur durch Hindernisse veranlaßt werde, welche sich durch die bloße Kraft unseres Verstandes überwinden lassen. Wenn nun die Frage aufgeworfen wird, ob und warum bei mathematischen Problemen eine solche prinzipielle Unlösbarkeit nicht vorkommen kann, so wird es zuerst erforderlich sein, dem Begriff der »prinzipiellen« Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Lösung einer Aufgabe eine präzise Formulierung zu geben. Es ist zunächst klar, daß ein Problem dann und nur dann vorliegt, wenn wir von einem Satze nicht entscheiden können, ob er wahr oder falsch ist. Ein solches Problem werden wir als prinzipiell lösbar oder unlösbar bezeichnen, je nachdem, ob wir im Besitz der zur Entscheidung der Richtigkeit oder Unrichtigkeit des fraglichen Satzes hinreichenden Kriterien sind oder nicht. Die Handhabung dieser Kriterien und ihre Anwendung auf den besonderen Fall mag noch so großen Schwierigkeiten unterliegen - solange diese Schwierigkeiten nur die vermittelnden logischen Operationen und nicht die ursprüngliche Gewinnung des Kriteriums selbst betreffen, werden wir sie als durch die bloße Kraft unseres Verstandes überwindlieh erachten. Die zur Entdeckung der wahren Figur der Marsbahn hinreichenden Kriterien waren in der Geometrie der Kegelschnitte des APOLLONIUS einerseits und durch die Tychonischen Beobachtungsreihen andererseits vollständig gegeben. Aber es bedurfte freilich der Genialität eines KEPLER, um durch die Anwendung der geeigneten logischen Methoden diese Daten für die wirkliche Auflösung des Problems fruchtbar zu machen.

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Welches sind nun die Prinzipien der Möglichkeit der Auflösung mathematischer Probleme? Und können wir behaupten, im vollständigen Besitz dieser Prinzipien zu sein? Unter dem Beweise eines Satzes hatten wir seine Zurückführung auf die Axiome vermittelst rein logischer Operationen verstanden. Die Kriterien, auf die wir beim Beweise eines Satzes zurückgehen, liegen also in den Axiomen. Da aber die Axiome, als Urteile, selbst der Begründung bedürfen, so können die ursprünglichen Kriterien der mathematisc.1i.en Wahrheit nicht in den Axiomen, sondern erst in der den Axiomen zugrunde liegenden unmittelbaren Erkenntnis enthalten sein. Wir wollen die Axiome, sofern sie die Gründe bilden, auf die sich ein System von Sätzen vermittelst rein logischer Operationen zurückführen läßt, während sie selbst nicht wiederum eine logische Zurückführung auf andere Erkenntnisse gestatten, als die logischen Prinzipien des Systems bezeichnen. Im Unterschied von diesen logischen Prinzipien eines Systems von Sätzen möge die unmittelbare Erkenntnis, die ihrerseits den Grund der Axiome und somit das allgemeine Kriterium der Wahrheit aller Sätze eines wissenschaftlichen Systems bildet, das konstitutive Prinzip dieses Systems heißen. Die Prinzipien der Möglichkeit der Auflösung eines Problems sind also in dem konstitutiven Prinzip desjenigen wissenschaftlichen Systems zu suchen, in dessen Gebiet das Problem fällt. Ob eine Wissenschaft von der Art ist, daß jedes beliebige in ihr Gebiet fallende Problem prinzipiell lösbar ist oder nicht, wird also davon abhängen, ob ihr konstitutives Prinzip einen abgeschlossenen, d. h. keiner Erweiterung fähigen Erkenntnisbereich bildet oder nicht. Die Frage, ob diese Bedingung bei der Mathematik erfüllt ist, haben wir eigentlich schon beantwortet durch den Nachweis, daß es in der Mathematik keine Hypothesen geben könne. Hypothesen sind Sätze, für deren Behauptung oder Verneinung kein hinreichender Grund vorliegt, für deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit wir also kein Kriterium besitzen. Eine Wissenschaft, in der es keine Hypothesen geben kann, kann also auch kein prinzipiell unlösbares Problem enthalten. Daß die Mathematik eine solche Wissenschaft in der Tat ist, erkennen wir als eine notwendige Folge der rein-an-

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schaulichen Natur ihres konstitutiven Prinzips. Wenn nämlich das konstitutive Prinzip der Mathematik in reiner Anschauung besteht, so ist es von der Erweiterung unserer Erfahrung unabhängig. Folglich liegen die Prinzipien der Möglichkeit der Auflösung mathematischer Probleme vollständig im Bereich unseres Verstandes, und es kann deshalb keine mathematische Aufgabe geben, von der nicht entweder eine positive Auflösung oder der Beweis ihrer Unlösbarkeit möglich wäre. Ein Astronom, der die Existenz eines intramerkuriellen Planeten behauptet, muß es sich notwendig gefallen lassen, daß man diese Behauptung so lange als eine bloße Hypothese gelten läßt, bis eine hinreichende Erweiterung unserer unmittelbaren Erkenntnis (der Beobachtung) ein Kriterium der Existenz eines solchen Planeten an die Hand gibt. Die unter den Physikern noch unentschiedene Frage, ob der Ursprung der Radioaktivität auf eine Umwandlung in der Konstitution der Atome oder auf die Absorption äußerer Strahlung zurückzuführen ist, wird sich durch keine Aufbietung noch so scharfsinniger Reflexionen, sondern einzig und allein durch geeignete Experimente befriedigend beantworten lassen. Denn die über diese Frage herrschende Ungewißheit hat ihren Grund nicht in der Unfähigkeit unseres Verstandes, ein in unserer Erkenntnis tatsächlich bestehendes Verhältnis durch Anwendung geeigneter logischer Operationen aufzuweisen, sondern in einer Unvollständigkeit unserer unmittelbaren Erkenntnis selbst. Wenn dagegen ein mathematischer Satz noch unbegründet ist - man denke nur an den großen Fermatsehen Satz aus der Zahlentheorie oder an das sogenannte Vierfarbenproblem aus der Analysis Situs -, so liegt dies nicht sowohl an einer Unvollständigkeit unserer unmittelbaren mathematischen Erkenntnis, als vielmehr an der Schwierigkeit der Auswahl und der mittelbaren Vergleichung geeigneter schon feststehender Sätze. So leicht sich nach dem Vorstehenden die prinzipielle Lösbarkeit jedes mathematischen Problems als eine Folge des rationalen Charakters der mathematischen Erkenntnis erweisen läßt, so unverständlich müßte dieser wichtige Vorzug der Mathematik für denjenigen bleiben, der ihren empirischen Ursprung behauptet. Ja seine Möglichkeit widerspricht geradezu der Voraussetzung des mathe-

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matischen Empirismus. Denn bei der notwendigen Unvollständigkeit ihres konstitutiven Prinzips kann eine empirische Wissenschaft niemals in den Besitz der zur Auflösung eines beliebigen Problems hinreichenden Bedingungen gelangen. Sie würde vielmehr eine prinzipielle Lösungsmöglichkeit nur für diejenigen Probleme beanspruchen dürfen, deren Entscheidungsgründe in dem ihr gerade zur Verfügung stehenden Beobachtungsmaterial enthalten sind. Das Zugeständnis, daß es sich in der Mathematik anders verhält, kann daher seinerseits zur Bestätigung des mathematischen Apriorismus dienen.

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Darin liegt das Merkwürdige und Rätselhafte der mathematischen Erkenntnis: Ihre Apodiktizität verbietet es, ihre Erkenntnisquelle in der Empirie zu suchen, und doch wissen wir andererseits durch die nicht-euklidische Geometrie, daß in der Logik ihre Erkenntnisquelle gewiß nicht liegen kann. KANT hat dies der Mathematik zugrunde liegende paradoxe Faktum durch den Terminus »reine Anschauung« formuliert. Die reine Anschauung ist, als Anschauung, eine Erkenntnis nicht-logischer Art. Und als »reine« Anschauung ist sie eine Erkenntnis nicht-empirischer Art. Mit der logischen hat sie die Notwendigkeit, mit der empirischen die Anschaulichkeit gemein, und steht so gleichsam in der Mitte zwischen diesen beiden. Dies Verhältnis ist es, das schon PLATON vorgeschwebt hat, wenn er sagt, daß die Erkenntnisweise der Geometer und verwandter Forscher etwas zwischen Sinnlichkeit und Verstand mitten inne sei. 19 über die eigentümliche Stellung der Mathematik innerhalb unserer Gesamterkenntnis hat neuerdings auch POINCARE eingehende Betrachtungen angestellt. Aus ähnlichen Gründen, wie den von uns § 15 erörterten, bricht PorNCARE vollständig mit dem mathematischen Empirismus. Er konstatiert, ähnlich wie KANT, die paradoxe 19

Vgl. C. BRINKMANN, über kritische Mathematik bei PLATON; in den Abhandlungen der Friesschen Schule, Band 1, S. 321 ff.

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Natur der mathematischen Erkenntnis, als einer Erkenntnis nichtlogischen Ursprungs und dennoch von apodiktischem Charakter. Je mehr wir diese Annäherung des großen französischen Mathematikers an den kritischen Standpunkt als einen Fortschritt anerkennen und je mehr wir seine scharfe Unterscheidung zwischen dem Ursprung der mathematischen Begriffe in der Selbsttätigkeit des Erkenntnisvermögens und ihrer Entwicklung durch die Erfahrung bewundern müssen, desto mehr müssen wir den Irrtum bedauern, der diesen Fortschritt beeinträchtigt und seiner kritischen Verwertung im Wege steht. Wenngleich nämlich PmNCARE die empiristische Erklärung des Ursprungs der geometrischen Axiome verwirft, so glaubt er dennoch ihre Apriorität nicht zugestehen zu dürfen: »Les axiomes geometriques sont-ils des jugements synthetiques a priori, comme disait KANT? Ils s'imposeraient alors nous avec une telle force, que nous ne pourrions concevoir la proposition contraire, ni Mtir sur elle un edifice theorique. I1 n'y aurait pas de geometrie non euclidienne.« 20 Dies beruht auf bloßem Mißverständnis. Der Unterschied der Apriorität und Aposteriorität ist nicht ein Unterschied der Stärke oder des Grades der Überzeugung, sondern er geht auf die Art des Ursprungs der Urteile. Nur analytische Urteile sind von der Art, daß ihr Gegenteil undenkbar ist, und da die Apriorität eines Urteils keineswegs seine analytische Natur bedingt, so ist auch durch die Apriorität eines Urteils noch nichts über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit seines Gegenteils entschieden. Was sollen die Axiome aber sein, wenn sie weder Urteile a posteriori noch Urteile a priori sein sollen? Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das Beispiel von dem astronomischen Dreieck. Wir sehen, daß wir hier ohne die Kantische Lehre von der reinen Anschauung gar keine wissenschaftliche Entscheidung treffen könnten. Wollten wir bloß auf Logik und Erfahrung Rücksicht nehmen, so könnten wir in der Tat ebensogut auf Grund des gemessenen Defekts auf die Ungültigkeit des euklidischen Axioms schließen, wie auch auf Grund des euklidischen

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La science et l'hypothese, p. 64.

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Axioms auf die Krummlinigkeit der Lichtstrahlen. überhaupt könnten wir ohne Rücksichtnahme auf die reine Anschauung irgendeine beliebige Geometrie der Erfahrung zugrunde legen. Die Frage: Welche Geometrie ist gültig? hätte dann gar keinen Sinn. Wir könnten vielmehr nur noch fragen: Welche Geometrie ist zweckentsprechend? Welche ist die bequemste? Wobei natürlich je nach dem ins Auge gefaßten Zweck bald diese, bald jene Geometrie die zweckmäßigste sein könnte. Mit einem Wort: Es wäre Sache der Konvention, welche Geometrie wir der Erfahrung zugrunde legen wollen. Diese Konsequenz hat PmNCARE in der Tat gezogen: »D'ou viennent les premiers de la geometrie? Nous sont-ils imposes par la logique? LOBATSCHEWSKY a montre que non en creant les geometries non euclidiennes. La geometrie derive-t-elle de l'experience? Une discussion approfondie nous montrera que non. Nous conclurons clone que ces principes ne sont que des conventions.« 21 Hier macht sich das dogmatische Vorurteil geltend, das Po1NCARE unmittelbar vor dem entscheidenden kritischen Schritt zurückhält. Der Ursprung der Geometrie liegt weder in der Logik noch in der Erfahrung. Mithin - so würden wir schließen - ist die Geometrie eine selbständige, sowohl von der Logik wie von der Erfahrung unabhängige Erkenntnisweise; d. h. ihre Urteile sind synthetische Urteile a priori. Po1NCARE aber verkennt die Möglichkeit dieser Wendung: die Vereinigung des nicht-logischen (synthetischen) mit dem nicht-empirischen (apodiktischen) Charakter der Geometrie erscheint ihm nur möglich unter Preisgabe ihres Erkenntniswertes. Auch Po1NCARE macht also die vorkritische Disjunktion zwischen Logik und Erfahrung als Kriterien der Wahrheit. 22 Aber gerade Po1NCARES eigene Erklärung vermag die Schwierig21 22

La science et l'hypothese, p. 5. Dem scheint es zu widersprechen, daß PorncARE selbst ausdrücklich die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori anerkennt, indem er das Prinzip der mathematischen Induktion für ein solches erklärt. Allein, schon die Begründung dieser Erklärung - durch die Unmöglichkeit einer diesem Prinzip widersprechenden Arithmetik - zeigt, daß dieser Widerspruch nur scheinbar ist und nur in den Worten liegen kann, indem auch an dieser Stelle eine Verwechslung der synthetischen Urteile a priori mit den analytischen Urteilen vorliegt.

Nicht-euklidische Geometrie

keit nicht zu heben. Entweder nämlich ist der Zweck, der unsere Konvention leitet und auf Grund dessen wir die Wahl zwischen den verschiedenen möglichen Geometrien treffen, selbst ein notwendiger und allgemeingültiger: dann würde uns seine Formulierung wieder auf irgendwelche synthetischen Urteile a priori zurückweisen, womit offenbar das Problem nicht gehoben, sondern nur zurückgeschoben wäre. Oder aber dieser Zweck besitzt keine Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit: dann ermangelte auch die diesem Zweck entsprechende Geometrie der Notwendigkeit und besäße nur zufällige Geltung. Die Erklärung leistet also auf keinen Fall, was sie verspricht. Nur die Kantische Erklärung ist imstande dies zu leisten. Sie löst den scheinbaren Widerspruch, in welchem die tatsächlichen Eigenschaften der mathematischen Erkenntnisweise stehen, indem sie seine Wurzel beseitigt: die irrige Disjunktion zwischen Logik und Empirie als Erkenntnisquellen. Mit der Beseitigung dieses Vorurteils verschwindet von selbst die dem Begriff des synthetischen Urteils a priori anhaftende Paradoxie. Die rein-anschauliche Erkenntnisweise der Mathematik ist eine Tatsache und kein Problem. Die Apodiktizität der Mathematik in Verbindung mit der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie bildet somit einen zuverlässigen Prüfstein für eine gesunde Philosophie der Mathematik. Ein einseitiges Philosophem greift voreilig einen dieser beiden Punkte heraus und macht ihn zum Gegenstand seiner Erklärungsversuche. Die Folge ist dann das Scheitern dieser Erklärungsversuche an dem anderen Punkte. So scheitert der logische Dogmatismus (wie ihn z.B. noch die Leibnizsche Schule vertrat) an der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie. So scheitert umgekehrt der Empirismus an der mathematischen Apodiktizität. Die kritische Methode KANTS hingegen leitet uns dadurch zu der allein richtigen Ansicht, daß sie uns lehrt, unter Ablehnung jedes voreiligen Erklärungsversuchs, uns zunächst in den vollständigen Besitz der Tatsachen zu setzen.

Kant und die nicht-euklidische Geometrie

Erschienen in der Illustrierten Zeitschrift für Astronomie und verwandte Gebiete »Das Weltall«, Jahrgang 6, Heft 10-12, S. 147-155, 174-182, 187-193. Auch als Sonderdruck in Heft 13 einer Folge von Vorträgen und Abhandlungen dieser Zeitschrift, Verlag der Treptower Sternwarte, Berlin-Treptow 1906. NELSON selber bezeichnet - siehe Fußnote 3 - diese Schrift als ein Referat, in dem er »eine populäre Ausführung« eines Teils der voranstehenden »Bemerkungen über die nicht-euklidische Geometrie ... « vorträgt.

Inhalt'~ I. II. III.

Die kritische Methode (5) Der vorkantische Dogmatismus (7) Der Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile (8) IV. Die mathematischen Axiome sind synthetische Urteile (11) V. Der Unterschied der Urteile a priori und a posteriori (13) VI. Die mathematischen Axiome sind Urteile a priori (16) VII. Die Selbständigkeit der mathematischen Erkenntnis (18) VIII. Die nicht-euklidische Geometrie (19) IX. Das Argument von Helmholtz (22) Der geometrische und der physikalische Raum (25) X. XI. Die astronomische Kontrolle des euklidischenAxioms (27) XII. Die aus der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie auf den Ursprung der Axiome zu ziehenden Schlüsse (27)

* Die in Klammern gesetzten Zahlen entsprechen der Paginierung im Sonderdruck.

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I Die kritische Methode Es ist zweifellos die Aufgabe der Wissenschaft, Erkenntnisse zu sammeln und die gesammelten zu erweitern. Aber noch nicht jede Ansammlung von Erkenntnissen werden wir als Wissenschaft bezeichnen. Wir fordern von der Wissenschaft eine bestimmte Anordnung der in ihr enthaltenen Erkenntnisse, und diese Anordnung muß die logische Form eines Systems haben. Diese systematische Form kommt durch Schlußfolgerungen zustande, vermittelst derer wir den gesammelten Stoff unserer Erkenntnisse auf eine beschränkte Zahl von Prinzipien zurückführen. Die Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnis besteht dann darin, daß wir von den gegebenen Erkenntnissen neue Anwendungen machen, daß wir neue Folgerungen aus ihnen ableiten. Wir können aber die Wissenschaft noch unter einem anderen Gesichtspunkte betrachten, als dies der auf die fortschreitende Erweiterung seines Gebietes bedachte Forscher tut. Statt nämlich von den gewonnenen Resultaten aus vorwärtsschauend zu fragen: wie können wir sie zur Erweiterung unserer Erkenntnis verwerten? können wir umgekehrt, rückwärts schauend, die Frage stellen: wie hängt das gegebene Resultat mit den Prinzipien zusammen, aus denen es ursprünglich abgeleitet ist? Wir können also die Reihe der Schlußfolgerungen einer Wissenschaft in doppelter Richtung durchlaufen: einerseits von den Voraussetzungen zu den Folgen vorwärtsschreitend, andererseits von den Folgen zu den Voraussetzungen rückwärtsschreitend. Das eine Mal bewegen wir uns in einem progressiven, das andere Mal in einem regressiven Gedankengang. So können wir z. B. in der Theorie des Mondes von der Voraussetzung einer stetig beschleunigenden Anziehungskraft der Erde ausgehen und aus dieser und der angenommenen Tangentialbewegung

1. Die kritische Methode

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die kreisförmige Bahn des Mondes konstruieren. Wir können uns aber auch die umgekehrte Aufgabe stellen, den Grund für die Behauptung aufzusuchen, daß die Kreisbewegung des Mondes eine stetig wirkende anziehende Kraft der Erde voraussetze. Es erweist sich dann diese Behauptung als eine Folge des allgemeinen Gesetzes, daß jeder Veränderung eine Ursache zugrunde liegt. Die Kreisbewegung ist nämlich eine Bewegung, deren Richtung mit einer gegen den Mittelpunkt des Kreises gerichteten Beschleunigung stetig verändert wird, und wir schließen hier aus dem allgemeinen Gesetz, daß auch die Veränderung der Richtung einer Bewegung ihre Ursache haben müsse. Der gegebene besondere Satz wird so durch ein regressives Verfahren auf eine allgemeine Voraussetzung zurückgeführt. Diese Voraussetzung wird dabei nicht begründet, sondern es wird vielmehr umgekehrt gezeigt, daß sie die Bedingung bildet, unter der allein der erstere Satz behauptet werden darf. Zu jeder vorliegenden Wissenschaft läßt sich also eine eigene Untersuchung denken, die die Prüfung der Voraussetzungen dieser Wissenschaft zur Aufgabe hat. Eine solche Prüfung der Voraussetzungen einer Wissenschaft wollen wir als die kritische Untersuchung derselben, oder kurz, als ihre Kritik bezeichnen. Es ist nun wohl klar, daß eine solche Kritik zwar für alle Wissenschaften möglich, aber doch nicht für alle in gleichem Grade nützlich oder gar erforderlich sein wird. Den größten Gegensatz scheinen in dieser Hinsicht die Mathematik und die Philosophie zu bilden. Die ersten Voraussetzungen der Mathematik bilden ein leicht übersehbares System von Sätzen, die einen völlig klaren, jedermann verständlichen und sogar einleuchtenden Inhalt haben. Und aus diesen Sätzen entwickelt der Mathematiker seine Wissenschaft nach so strengen und wohlerprobten Gesetzen, daß eine kritische Nachprüfung ihrer Grundlagen wenigstens für einen gedeihlichen Fortschritt der Mathematik selbst entbehrlich erscheinen muß. Ganz anders verhält es sich mit der Philosophie. Während in anderen Wissenschaften der Satz gilt: Contra principia negantem disputari nequit - wer mit mir in den Prinzipien uneins ist, mit dem kann ich nicht streiten -, so ist in der Philosophie gerade über die Prinzipien von jeher Streit gewesen, und noch heute dürfte es schwer sein, zwei Philoso-

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phen zu finden, die sich auch nur über die Formulierung eines einzigen Grundsatzes ihrer Wissenschaft einig wären. Für die Philosophie ist daher eine Kritik ihrer Grundlagen ein notwendiges Bedürfnis. Es ist bekannt, daß diese Forderung einer Kritik der philosophischen Erkenntnis zuerst von KANT erhoben und von ihm selbst, in der »Kritik der reinen Vernunft« (1781), ausgeführt worden ist. KANT hat bei dieser Gelegenheit auch die mathematische Erkenntnis einer kritischen Untersuchung gewürdigt, jedoch nur so weit, als er dessen zu dem negativen Zwecke bedurfte, eine gründliche Scheidung zwischen mathematischer und philosophischer Erkenntnis zu vollziehen. Er hat aber hierbei sehr wichtige Entdeckungen gemacht, die bereits die wesentlichen Grundlagen für die später ausgebildete, als selbständige Disziplin auftretende Kritik der mathematischen Erkenntnis enthalten. Die Idee einer systematischen Übertragung der kritischen Methode auf die Mathematik ist zuerst von FRIES (1798) ausgesprochen worden. Auch hat FRIES selbst den ersten Versuch gemacht, analog der kritischen Philosophie KANTS, die kritische Mathematik als ein selbständiges Lehrgebäude auszubauen. 1 Als eigentlicher Begründer der kritischen Mathematik ist also FRIES zu betrachten. Die kritische Mathematik hat, wie jede kritische Untersuchung, eine doppelte Aufgabe. Erstens nämlich hat sie die Grundsätze aufzusuchen, die als die logischen Prinzipien den mathematischen Theorien zugrunde liegen. Es ist dies die Aufgabe der von HrLBERT »axiomatisch« genannten Untersuchungsweise, die er dahin definiert, daß sie eine mathematische Wahrheit nicht mit Rücksicht auf neue, aus ihr abzuleitende Sätze zu erforschen habe, sondern »daß sie vielmehr die Stellung eines Satzes innerhalb des Systems der bekannten Wahrheiten in der Weise klarzulegen habe, daß sich sicher angeben läßt, welche Voraussetzungen zur Begründung jener Wahrheit notwendig und hinreichend sind«. 2 Diese axiomatische Untersuchung erschöpft indessen nicht die Aufgabe der kritischen Mathematik. Wir können nämlic..1-i den regressiven Gedankengang noch weiter fortsetzen, indem wir die Frage aufwerfen: Welches ist der Ursprung 1 JAKOB FRIEDRICH FRIES, Die mathematische Naturphilosophie, 1822. 2 DAVID HrLBERT, Grundlagen der Geometrie, 2. Auflage 1903, S. 88.

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der Axiome, und worauf beruht ihre Geltung? Die Untersuchung dieser Frage ist die zweite Aufgabe der kritischen Mathematik. Den Gegenstand dieser Aufgabe bildet die Erkenntnisquelle der mathemathischen Axiome und somit der mathematischen Wahrheiten überhaupt. Während also die erste Aufgabe wesentlich logischer Natur ist, ist die zweite Aufgabe erkenntnistheoretischer Natur. Während der axiomatische Teil der kritischen Mathematik sich im Laufe des verflossenen Jahrhunderts zu einer umfangreichen Wissenschaft entwickelt hat und sich zahlreicher, ebenso sicherer wie fruchtbarer Resultate rühmen kann, befindet sich der erkenntnistheoretische Teil derselben noch heute in einem höchst unentwickelten und unbefriedigenden Zustande. Selbst über die ersten, von KANT gelegten Grundlagen wird noch Streit geführt, und die ganze Disziplin gleicht in der Tat mehr noch einem Kampfplatze als einem festgegründeten Besitztum. Eine Hauptquelle dieser Streitigkeiten bilden zahlreiche Mißverständnisse, die durch populäre Schriften teils über die Lehren KANTS, teils auch über die modernen axiomatischen Untersuchungen unter dem Publikum Verbreitung gefunden haben. Das vorliegende Referat beabsichtigt, unter Berücksichtigung der wesentlichsten dieser Mißverständnisse, den Grundgedanken der hierhergehörigen Lehren KANTS in seinem Verhältnis zu den neueren axiomatischen Forschungen darzulegen. 3

3

Dieses Referat bildet eine populäre Ausführung eines Teils meiner im 2. und 3. Heft der »Abhandlungen der Friesschen Schule« mitgeteilten »Bemerkungen über die nicht-euklidische Geometrie und den Ursprung der mathematischen Gewißheit«. (Vandenhoeck und Ruprecht, 1905 und 1906. Im vorliegenden Band S. 1 ff.) Leser, die sich eingehender über den Gegenstand dieses Referates zu unterrichten wünschen, seien auf jene Abhandlung verwiesen.

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II Der vorkantische Dogmatismus

Werfen wir zuerst einen Blick auf die Ansichten, die vor dem Auftreten KANTS über unseren Gegenstand vorgeherrscht haben. ARISTOTELES, der als der erste den gesamten Stoff des menschlichen Wissens systematisch zu ordnen unternommen hatte, hatte die Lehre begründet, daß alle unsere Erkenntnisse in zwei Klassen zerfallen: in solche, die in der Sinneswahrnehmung, und in solche, die im Verstande ihren Ursprung haben. Die Sinneswahrnehmung wurde dabei als die Quelle der Erfahrung, der Verstand als die der Logik angenommen. Erfahrung und Logik bildeten das einzige Betriebskapital, mit dem die vorkantischen Forscher das gesamte Feld der Wissenschaft bewirtschafteten oder wenigstens zu bewirtschaften versuchten. Der Leibnizschen Unterscheidung zwischen den verites de fait und den verites de raison, der Humeschen Unterscheidung zwischen matters of fact und relations of ideas liegt derselbe Gedanke zugrunde wie der Aristotelischen Einteilung in Wahrnehmungs- und Verstandeserkenntnisse. Es lag nahe, auf Grund dieser Einteilung die Mathematik der Logik zuzuweisen. Denn die Mathematik lehrt uns nicht, zufällige Tatsachen kennen, sondern sie läßt uns notwendige Gesetze einsehen; ihre Wahrheiten enthalten nicht matters of fact, sondern relations of ideas; sie sind keine verites de fait, sondern verites de raison. Diese Ansicht von der Mathematik, daß sie nämlich eine Erkenntnis rein logischer Natur sei, ist in der Tat bis auf KANTS Zeit die allgemein herrschende gewesen. Selbst der skeptische HuME wagte nicht an dem logischen Ursprung der mathematischen Wahrheiten und ihrer durch diesen Ursprung gewährleisteten Allgemeingültigkeit zu zweifeln. »Die mathematischen Sätze«, so drückt er sich aus, »werden durch bloßes Denken gefunden, ohne Rücksicht auf irgendwelche Tatsachen. Wenn es auch niemals einen Kreis oder ein Dreieck in der Natur geben sollte, so würden doch die von EuKLID bewiesenen Wahrheiten in alle Ewigkeit ihre Gewißheit und Evidenz behalten. Von jeder Tatsache dagegen läßt sich das Gegenteil als möglich denken, denn es kann niemals einen Widerspruch ein-

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schließen.« 4 Ja, so weit ging das Vertrauen auf die Macht der logischen Form der mathematischen Schlußweise, daß man durch ihre Übertragung auf die Philosophie die gleiche Sicherheit und Evidenz auch in dieser erreichen zu können überzeugt war. »Geometricorum more demonstrando« hoffte man den philosophischen Stein der Weisen zu finden. Will man ein typisches Beispiel, so erinnere ich an die Schriften SPINOZAS, in denen man ja diese mathematische Methode zu philosophieren bis zur Karrikatur ausgebildet findet. Ich erinnere ferner an den charakteristischen Ausspruch PASCALS: Die wahre Methode bestehe darin, alle Wahrheiten zu beweisen, und wenn dies den Menschen bisher noch nicht gelungen sei, so könne der Grund hierfür nur in der natürlichen Unvollkommenheit des Menschengeistes gesucht werden. Es ist bekannt, daß diese Bemühungen, durch Nachahmung der Schlußweise der Mathematik die Philosophie auf dieselbe Stufe der Exaktheit zu erheben, nicht zu dem erhofften Ziele geführt haben. Das Fehlschlagen aller dieser Versuche war es, was KANT veranlaßte, die Frage nach der Herkunft der mathematischen Gewißheit von neuem einer gründlichen Prüfung zu unterziehen. Er geriet dadurch als erster auf den Versuch, jene durch ihr Alter ehrwürdige und durch ihre Ehrwürdigkeit gefestigte Aristotelische Lehre von den zwei Erkenntnisquellen einer radikalen Revision zu unterwerfen.

III Der Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile Der erste und zugleich entscheidende Schritt, den KANT über seine Vorgänger hinaus tat, war die Entdeckung des Unterschieds der analytischen und synthetischen Urteile. Diese Unterscheidung müssen wir genau besprechen, denn sie ist von grundlegender Bedeutung für unser Thema. Der Unterschied ist höchst einfach anzugeben. Sei »S ist P« ein Urteil, in dem S den Begriff des Subjekts, P den des Prädikats bedeutet. Dann ist P entweder schon in S enthalten, oder P ist noch 4

DAVID HuME, An enquiry concerning human understanding, 1748. Section rv, Part r.

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nicht in S enthalten, sondern kommt als etwas Neues zu ihm hinzu. Im ersten Falle heißt das Urteil analytisch, im anderen synthetisch. Wenn ich von einem Dreieck sage, daß es drei Seiten hat, so spreche ich ein analytisches Urteil aus; denn das Merkmal der Dreiseitigkeit liegt bereits im Begriff des Dreiecks, und ein Dreieck, das nicht drei Seiten hätte, kann ohne inneren Widerspruch nicht einmal gedacht werden. Sage ich dagegen von einem Dreieck, daß es gleichseitig ist, so spreche ich ein synthetisches Urteil aus; denn das Merkmal der Gleichseitigkeit liegt nicht im Begriff des Dreiecks, sondern kommt als etwas Neues zu ihm hinzu, und ein ungleichseitiges Dreieck kann sehr wohl als möglich gedacht werden. So unscheinbar und selbstverständlich nun diese Unterscheidung erscheinen mag, so ist sie doch ein höchst merkwürdiges Beispiel dafür, wie selbst die einfachsten und klarsten Dinge in der Philosophie noch einen Gegenstand des hartnäckigsten Streites bilden können. In der Tat wird noch heutigen Tages von der Mehrzahl der Philosophen gegen diese Unterscheidung polemisiert. Ehe wir daher darangehen, sie auf die mathematischen Urteile anzuwenden, müssen wir uns von ihrer Stichhaltigkeit überzeugen und zu diesem Zwecke die hauptsächlichsten der gegen sie erhobenen Einwände in Betrachtung ziehen. KANT führt als Beispiel eines analytischen Urteils an: Alle Körper sind ausgedehnt; als Beispiel eines synthetischen aber: Alle Körper sind schwer. Da hat man nun gefragt, ob denn nicht die Schwere eine ebenso allgemeine und notwendige Eigenschaft der Körper sei wie die Ausdehnung. Wenn sie dies nämlich sei, so gehöre sie offenbar ebenso notwendig zum Wesen des Körpers wie diese. Das Urteil: »Alle Körper sind schwer« sei also in genau demselben Maße analytisch wie das Urteil: »Alle Körper sind ausgedehnt«. Hierauf haben wir zu antworten, daß es sich nicht um die Frage handelt, was als allgemeine und notwendige Eigenschaft zum »Wesen« des Körpers gehört, sondern allein, was zu seinem Begriff gehört. Der Begriff aber ist weit weniger als die Gesamtheit aller dem Subjekt notwendig zukommenden Eigenschaften; er ist nämlich allein der Inbegriff derjenigen dem Subjekt notwendig zukommenden Eigenschaften, die zu seiner eindeutigen Bestimmung erforderlich und

III. Der Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile

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hinreichend sind; d. h. derjenigen, durch die es definiert ist. Zu solchen definierenden Merkmalen des Körpers gehört aber seine Schwere nicht. Wäre die Schwere ein den Körpern als solchen, vermöge ihres Begriffs, zukommendes Merkmal, so hätte sie sich von selbst verstehen müssen und hätte nicht erst im Laufe der wissenschaftlichen Erfahrung entdeckt zu werden brauchen. In der Tat besaßen die griechischen Naturforscher noch keine Vorstellung von der Schwere der Himmelskörper; vielmehr hat man dieselbe erst durch NEWTONS Entdeckung der allgemeinen Gravitation kennengelernt. Auch kommt die Schwere einem Körper gar nicht an und für sich zu, wie es doch sein müßte, wenn sie ein schon im Begriff des Körpers enthaltenes Merkmal wäre; sondern sie ist eine relative Eigenschaft und findet nur statt, sofern mehrere Körper in Wechselwirkung miteinander treten. Die Behauptung, das Urteil »Alle Körper sind schwer« sei analytisch, steht daher ganz auf einer Stufe mit jenem, im Gespräche zweier befreundeter Mütter vorkommenden Kompliment: »Ihr Sohn sieht dem Schiller so ähnlich, er ist sogar der Ähnlichere.« Man hat fernerhin behauptet, die Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen sei schwankend und unbestimmt, indem dasselbe Urteil bald als analytisch, bald als synthetisch betrachtet werden könne; ein Urteil, das für den einen analytisch sei, könne sehr wohl für den andern synthetisch sein; ja derselbe Mensch könne ein und dasselbe Urteil heute als synthetisch, morgen als analytisch ansehen. Man ist sogar so weit gegangen, zu behaupten, bei der gehörigen Entwicklung unserer Begriffe verwandelten sich alle Urteile in analytische, so daß es für eine vollendete Erkenntnis überhaupt keine synthetischen Urteile mehr geben könne. - Wir wollen diesen Einwand an einem Beispiel prüfen. Betrachten wir das Urteil: »Der Walfisch ist ein Säugetier.« Für den Zoologen, der etwa auf einer Naturforscher-Versammlung seine Untersuchungen über die anatomische Beschaffenheit der Walfische vorträgt, ist das Merkmal Säugetier bereits analytisch im Begriff des Walfisches enthalten. Nehmen wir aber etwa an, unter den Zuhörern des Zoologen befinde sich ein Bauer, der, auf dem Lande aufgewachsen, sich bisher bei dem Worte »Walfisch« stets eine Art

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Fisch vorgestellt hat, nun aber erfährt, daß der Walfisch, gerade wie andere Säugetiere, lebendige Junge zur Welt bringt. Diese Erfahrung ist für ihn etwas Neues, und das Urteil »Der Walfisch ist ein Säugetier« ist für ihn, indem er es hört, synthetisch. Damit aber, so argumentiert man etwa weiter, hat sich zugleich sein Begriff vom Walfisch verändert, es ist ein neues Merkmal hinzugetreten; der Begriff hat sich also erweitert und in Zukunft ist auch für den Bauern das Urteil ein analytisches. Der hieraus gegen die Kantische Einteilung abgeleitete Einwand ist sehr leicht zu widerlegen, wenn man sich nur die Mühe nimmt, das Urteil von seinem sprachlichen Ausdrucke, dem Satze zu unterscheiden. Die Kantische Einteilung spricht von Urteilen und den in ihnen auftretenden Begriffen, nicht aber von dem grammatischen Satze und den ihn bildenden Worten. Ein und derselbe Satz kann natürlich sehr verschiedene Urteile ausdrücken, je nachdem, welche Begriffe man mit den Worten verbindet. Die Ausdrücke: Ein Begriff »verändert«, »entwickelt« oder »erweitert sich«, sind im übrigen höchst ungenau und zum mindesten irreführend. Nicht unsere Begriffe, sondern unsere Erkenntnisse erweitern sich; ein Begriff ist, wenn er einmal gebildet ist, etwas absolut Feststehendes und Unveränderliches. Wohl aber können Worte ihre Bedeutung ändern, indem sie nämlich bald für den einen, bald für den anderen Begriff, bald für einen engeren, bald für einen weiteren, als Ausdruck dienen. Je nachdem also das Wort »Walfisch« einen engeren oder einen weiteren Begriff bezeichnet, kann der Satz: »Der Walfisch ist ein Säugetier« bald ein synthetisches, bald ein analytisches Urteil ausdrücken. Die angebliche Verwandlung von synthetischen Urteilen in analytische ist also eine Fabel. Der neueste und zweifellos originellste Einwand gegen die Kantische Einteilung rührt von dem französischen Logiker CouTURAT her. CouTURAT läßt keine Gelegenheit vorübergehen, KANT etwas am Zeuge zu flicken, und so hat er neuerdings die erstaunliche Entdeckung gemacht, daß die Einteilung in analytische und synthetische Urteile überhaupt nicht vollständig sein soll. 5 Ich meinerseits 5

Loms CouTURAT, »La philosophie des mathematiques de KANT« in der »Revue de metaphysique et de morale« 1904, S. 323.

III. Der Unterschied der analytischen und synthetischen Urteile

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vermag nun nicht einzusehen, wie man, ohne gegen den logischen Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten zu verstoßen, neben den beiden Fällen, daß ein Prädikat im Subjektsbegriff enthalten ist, und dem, daß es nicht in ihm enthalten ist, noch eine weitere Möglichkeit aufrechterhalten will. Vielmehr muß die Einteilung als ebenso vollständig angesehen werden wie die, daß ein Punkt entweder auf einer gegebenen Geraden liegt oder daß er nicht auf ihr liegt. Nichtsdestoweniger soll nach CouTURAT der Fall der partikulären Urteile, also der Urteile von der Form: »Einige S sind P«, das Gegenteil beweisen. Sie sollen einen Fall darstellen, wo das Prädikat weder im Subjektsbegriff liegt, noch außer ihm. Betrachten wir das Schulbeispiel: »Einige Menschen sind tugendhaft«. Daß der Begriff der Tugend nicht in dem des Menschen enthalten ist, dürfte klar sein; denn wäre er in ihm enthalten, so wären eben nicht nur einige, sondern alle Menschen tugendhaft. OdersollteCouTURATder Ansicht sein, daß der Begriff der Tugend im Begriff einiger Menschen enthalten, im Begriff anderer Menschen aber nicht enthalten ist? Ich wenigstens muß gestehen, daß ich mit einer solchen Behauptung keinen Sinn verbinden könnte. Denn es gibt nicht einen Begriff einiger Menschen und einen anderen Begriff anderer Menschen, sondern es gibt nur einen einzigen, nämlich allgemeinen, Begriff des Menschen, außerdem aber alle die Einzelwesen, die unter den allgemeinen Begriff des Menschen fallen, d. h. denen der Begriff Mensch als Merkmal zukommt, die, wie man sagt, den Umfang des Begriffs Mensch bilden. Unter diesen Einzelwesen, den Menschen, zeichnen sich nun einige dadurch aus, daß ihnen außer dem Merkmal Mensch auch noch das Merkmal tugendhaft zukommt, während es den anderen fehlt. Einern Wesen als Merkmal zukommen heißt aber nicht: im Inhalt eines Begriffs enthalten sein. Es ist also hier dem Logiker passiert, daß er den Inhalt mit dem Umfang des Begriffs verwechselt hat.

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IV Die mathematischen Axiome sind synthetische Urteile. Wie verhalten sich nun die mathematischen Urteile zu dieser Einteilung? Es leuchtet zunächst ein, daß die Definitionen mathematischer Begriffe, wie alle Definitionen überhaupt, analytische Urteile sind. Denn eine Definition ist nichts anderes als die vollständige Zergliederung des Begriffs, sie dient als Kriterium dafür, ob ein Gegenstand (oder eine Klasse von Gegenständen) unter den definierten Begriff fällt oder nicht. Aber auch alle Schlüsse, durch die wir zum Beweise mathematischer Sätze gelangen, sind analytische Urteile. Der Schluß ist nämlich die Ableitung eines Urteils aus anderen Urteilen, und zwar muß diese Ableitung so beschaffen sein, daß die in dem abgeleiteten Urteile enthaltene Behauptung ihren hinreichenden Grund in den Prämissen hat, aus denen sie erschlossen wird. Ein Schluß, der dieser Bedingung nicht genügte, dessen Schlußsatz also mehr behauptete, als in den Prämissen enthalten war, wäre ein Trugschluß. Die Ableitung, der eigentliche Akt des Schließens selbst, ist also ein analytisches Urteil, nämlich ein solches, in dem die Prämissen das Subjekt und die Abfolge des Schlußsatzes aus ihnen das Prädikat bilden. Da jeder Schluß Prämissen voraussetzt, so müssen, damit überhaupt ein Schluß möglich sein soll, irgendwelche Prämissen als erster, nicht wieder beweisbarer Ausgangspunkt gegeben sein. Es entsteht nun die Frage, ob diese Prämissen analytischer oder synthetischer Natur sind, - eine Frage, die nach dem Vorangehenden gleichbedeutend mit derjenigen ist, ob die Sätze der Mathematik aus bloßen Definitionen ableitbar sind oder noch andere, von bloßen Definitionen verschiedene Grundsätze, sogenannte Axiome, voraussetzen. Wenn LEIBNIZ behauptet hatte, daß »jede Wahrheit ihren apriorischen, aus dem Begriff der Termini gezogenen Beweis hat«, so war damit offenbar so viel gesagt wie, daß sich alle Theoreme aus ausschließlich analytischen Urteilen ableiten lassen. LEIBNIZ hat uns selbst ein Beispiel für seine Behauptung gegeben, indem er versucht hat, für den Satz 2 + 2 = 4 eine solche Ableitung zu geben. Betrachten wir diesen Beweis etwas näher.

IV. Die mathematischen Axiome sind synthetische Urteile

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definiert die Zahlen 2, 3, 4 durch die Gleichungen: 1. 1 + 1 2, 2. 2 + 1 = 3, 3. 3 + 1 = 4, und meint, aus diesen Definitionen allein den Beweis führen zu können nach folgender Schluß weise: 4. 2 + 2 2 + 1 + 1, 5. 2 + 1 + 1 = 3 + 1, 6. 3 + 1 = 4. Allein, näher zugesehen läßt sich die Gleichung 5. 2 + 1 + 1 = 3 + 1 aus den drei aufgestellten Definitionen allein nicht ableiten. Dies wird sofort ersichtlich, wenn wir die von LEIBNIZ übersehenen Klammern in die Gleichung einführen: 2 + 2 = 2 + (1 + 1), 7. 2 +(1 + 1)=(2 + 1)+ 1, (2 + 1) + 1 = 3 + 1. 3 + 1 = 4. Man sieht hier ohne weiteres, daß wir für die Gleichung 7. 2 +(1 + 1)=(2 + 1)+ 1, ein besonderes Axiom voraussetzen müssen, das aus den vorangeschickten Definitionen nicht ableitbar ist, ein Axiom von der Form: a +(b + c)=(a + b)+ c. Dieses Axiom, das sogenannte assoziative Gesetz der Addition, ist zwar eine mathematische Identität. Aber was der Mathematiker eine Identität nennt, ist keineswegs eine Identität im logischen Sinne. Denn das Gleichheitszeichen bedeutet nur die Identität der Größe zweier Gegenstände. Die Identität der Größe zweier Gegenstände ist aber nicht die Identität zweier Begriffe. Die von LEIBNIZ übersehene Voraussetzung ist also in der Tat ein synthetischer Grundsatz. Daß schon die einfachsten arithmetischen Operationen synthetische Voraussetzungen einschließen, läßt sich auch auf folgendem Wege einsehen. Wenn wir mit LEIBNIZ die Reihe der ganzen Zahlen durch sukzessive Addition der Eins definieren, so hat dies offenbar nur dann einen Sinn, wenn wir voraussetzen, daß diese AdLEIBNIZ

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dition der Eins immer wieder möglich ist, daß wir bei der Wiederholung dieser Operation immer wieder ein neues Resultat erhalten. Dieser Voraussetzung liegt aber die Behauptung zugrunde, daß auf jede Zahl eine andere folgt. Diese Behauptung der allgemeinen Existenz einer folgenden Zahl kann nun kein analytisches Urteil sein. Denn es ist eine der wichtigsten Entdeckungen KANTS, daß alle Existenzbehauptungen synthetische Urteile sein müssen. Ein Gegenstand kann vollständig definiert sein, ohne daß dadurch über seine Existenz oder Nichtexistenz irgend etwas ausgemacht ist. Könnte die Existenz eines Gegenstandes aus bloßen Begriffen erschlossen werden, so wäre in der Tat gegen den ontologischen Gottesbeweis der mittelalterlichen Scholastiker nichts einzuwenden. Der ontologische Gottesbeweis schließt so: Gott ist - dies soll seine Definition sein - das allervollkommenste Wesen. Folglich darf ihm keine Beschaffenheit fehlen, also auch nicht die der Existenz; folglich existiert Gott. - Existenz oder Nichtexistenz sind nun aber gar keine Beschaffenheiten irgendwelcher Dinge, sondern drücken nur das Verhältnis unseres Erkenntnisvermögens zu den Dingen aus. Hundert mögliche Taler sind ihrer begrifflichen Beschaffenheit nach genau so viel wie hundert wirkliche Taler; der Unterschied ist nur der, daß die einen von uns bloß gedacht werden, die anderen aber in der Anschauung gegeben sind. Die Existenz kann also nie zu den definierenden Merkmalen eines Dinges gehören. Folglich können auch die bloßen Definitionen nicht zum Aufbau der Mathematik genügen. Dies wird bei einer Betrachtung der geometrischen Grundsätze noch deutlicher werden. Nehmen wir z. B. den Satz: »Die gerade Linie ist die kürzeste zwischen zwei Punkten.« Der Begriff der Geraden enthält nicht den Begriff der Länge, er enthält überhaupt keine quantitative Bestimmung, sondern nur eine qualitative hinsichtlich der Richtung. Der Begriff des Kürzesten kommt also als etwas völlig Neues im Prädikat hinzu. Oder, wenn wir den Satz betrachten: »Die Winkelsumme im geradlinigen Dreieck beträgt zwei Rechte«, so ist ebenfalls klar, daß im Begriff der Winkelsumme noch keine Bestimmung ihrer Größe liegt; das Urteil ist also zweifellos synthetisch. Sind aber die mathematischen Axiome synthetische Urteile, so

V. Der Unterschied der Urteile a priori und a posteriori

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sind auch alle auf die Axiome gegründeten Lehrsätze synthetisch. Denn wenn die Lehrsätze auch, wie wir uns überzeugt haben, durch rein analytische Urteile erschlossen werden, so dienen doch diese analytischen Urteile nur zur Vermittlung; und der Grund der Gültigkeit der Lehrsätze liegt nicht in den Schlüssen, vermittelst deren sie abgeleitet werden, sondern einzig und allein in den Axiomen, aus denen sie abgeleitet werden. Diese Unterscheidung zwischen der logischen Schlußform, die nur zur mittelbaren Ableitung der Lehrsätze dient, und den Axiomen, die den eigentlichen Grund ihrer Gültigkeit enthalten, ist von der größten Wichtigkeit. Vor KANT hatte man nie daran gedacht, diese Unterscheidung durchzuführen. Das Pascalsche Ideal der wahren Methode, nämlich der Methode, alle Wahrheiten zu beweisen, fällt mit der Aufklärung dieses Unterschieds von selbst zusammen. Nicht an der »natürlichen Unvollkommenheit des menschlichen Geistes« liegt es, wenn sich dies Ideal bisher nicht hat realisieren lassen, sondern an dem inneren Widerspruch im Begriffe dieses Ideales selbst. Jede beweisbare Wahrheit setzt notwendig zu ihrer eigenen Möglichkeit irgendwelche unbeweisbaren Wahrheiten voraus. Und zwar ist eine unbeweisbare Wahrheit so weit entfernt, irgendwie ungewisser zu sein, als eine beweisbare, daß vielmehr die letztere ihre Gewißheit einzig und allein von der unbeweisbaren entlehnen kann.

V Der Unterschied der Urteile a priori und a posteriori

Jedes Urteil bedarf, um als wahr behauptet zu werden, eines Grundes. Es erhebt sich daher die Frage nach dem Grunde der Gültigkeit der mathematischen Axiome. Dieser Grund der Axiome kann offenbar nicht wieder in Urteilen bestehen; denn sonst wären sie beweisbar, d. h. sie wären gar keine Axiome. Der Grund der Gültigkeit der Axiome kann aber auch nicht in Begriffen liegen; denn sonst wären sie analytisch. Eine solche Vorstellungsweise, die weder in Begriffen noch in Urteilen besteht, bezeichnet KANT als Anschauung. Es gilt also der Schluß, daß die mathematischen

Kant und die nicht-euklidische Geometrie

Axiome ihren Grund in der Anschauung haben. Was ist dies aber für eine Anschauung, und in welchem Verhältnis steht sie zur Sinnesanschauung? Um KANTS Antwort auf diese Frage verstehen zu können, müssen wir zuerst eine zweite von ihm eingeführte Einteilung der Erkenntnisse kennen lernen: die Einteilung in Erkenntnisse a posteriori und Erkenntnisse a priori. Ein Urteil heißt a posteriori oder empirisch, wenn es sich auf sinnliche Wahrnehmung gründet; es heißt ein Urteil a priori, wenn dies nicht der Fall ist. Diese Einteilung ist sicher ebenso vollständig wie die in analytische und synthetische Urteile. Aber die Frage ist: Gibt es Urteile a priori? Nun, daß dies in der Tat der Fall ist, das lehren uns die analytischen Urteile. Denn um ein analytisches Urteil einzusehen, d. h. um zu wissen, ob ein Merkmal schon in einem Begriff enthalten ist, hätte es keinen Sinn, die Wahrnehmung zu befragen, da wir selbst ja den Begriff gebildet haben und also nur auf seine Definition zurückzugehen brauchen. Dies gilt auch in dem Falle, wo der Subjektsbegriff des analytischen Urteils ein empirischer ist. Denn nicht auf den Ursprung des Subjektsbegriffs kommt es an, sondern auf den Grund seiner Verbindung mit dem Prädikat. Die Katze sei definiert als das fleischfressende Säugetier mit einziehbaren Krallen. Der Begriff der Katze ist zweifellos empirischen Ursprungs; aber das Urteil: die Katze hat einziehbare Krallen, gilt nichtsdestoweniger mit Notwendigkeit und a priori. Denn eine gegenteilige Sinneswahrnehmung ist gar nicht denkbar, weil, auf Grund der Definition der Katze, ein Wesen, dem die im Prädikat des Urteils genannte Eigenschaft nicht zukäme, gar nicht unter den Begriff der Katze gebracht werden könnte. Alle analytischen Urteile sind also Urteile a priori. Verbinden wir die Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile mit derjenigen der Urteile a posteriori und a priori, so erhalten wir folgendes System möglicher Urteilsarten: analytische Urteile a priori, analytische Urteile a posteriori, synthetische Urteile a priori, synthetische Urteile a posteriori. Der zweite Fall, der der analytischen Urteile a posteriori, scheidet

V. Der Unterschied der Urteile a priori und a posteriori

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nach dem eben Festgestellten von vornherein aus. Wenn aber alle analytischen Urteile Urteile a priori sind, so ist damit noch nicht gesagt, daß auch umgekehrt alle Urteile a priori analytisch sind. Es entsteht also die Frage: Gibt es synthetische Urteile a priori? Ehe wir aber an diese Frage herangehen, müssen wir auf eine heutzutage sehr verbreitete Ansicht Rücksicht nehmen, eine Ansicht nämlich, die von vornherein die eben aufgeworfene Frage für eine müßige oder ungereimte erklärt, indem sie sich auf die Behauptung beruft, es könne überhaupt gar keine Erkenntnisse a priori geben, denn die einzige Quelle der menschlichen Erkenntnis sei die Sinneswahrnehmung. Diese Behauptung, der sogenannte Empirismus, könnte vielleicht schon durch das eben über das analytische Urteil Gesagte als hinreichend wiederlegt gelten. Doch erscheint es mit Rücksicht auf die gegenwärtige Verbreitung und das Ansehen dieser Lehre wünschenswert, etwas näher auf sie einzugehen. »Daß Wahrnehmung die Urquelle aller Erkenntnis sei«, so sagt E. SCHRÖDER am Beginn seiner »Vorlesungen über die Algebra der Logik«, »wird - nachdem die Verfechter ,angeborener< Erkenntnisse aus dem Felde geschlagen sind - nur noch von denjenigen bestritten, die eine göttliche Offenbarung annehmen.« Auf die Gefahr hin, unter die Vertreter des Offenbarungsdogmas gerechnet zu werden, möchte ich mir die Frage erlauben: Woher weiß denn SCHRÖDER, daß die Wahrnehmung die Quelle aller Erkenntnis sei? Woher stammt und worauf gründet sich die Allgemeinheit dieser Behauptung? Welches ist die Quelle der in ihr ausgesprochenen Erkenntnis? Die Wahrnehmung kann es nicht sein; denn es ist allgemein zugegeben, daß die Wahrnehmung nur auf einzelne Fälle geht, also stets nur eine beschränkte, nämlich endliche, wenn auch noch so große Zahl von Fällen übersehen läßt. Jedes wirklich allgemeine Urteil geht über das Gebiet des Wahrnehmbaren hinaus, es setzt eine andere Erkenntnisquelle voraus als die Wahrnehmung. Also kann auch SCHRÖDER nicht von allen Erkenntnissen etwas behaupten, ohne die Kompetenz der Wahrnehmung zu überschreiten. Man sieht, die Schrödersche Behauptung hebt sich selbst auf, denn sie enthält einen offenbaren Widerspruch. - Man könnte vielleicht erwidern, die Behauptung beanspruche keine Allgemeinheit in dem strengen

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Kant und die nicht-euklidische Geometrie

Sinne, daß sie jede Ausnahme ausschließe. Aber es ist nicht schwer einzusehen, daß eine solche Einschränkung der Behauptung nicht möglich ist, ohne ihren Sinn zu vernichten. Denn wenn nur sehr viele, aber nicht notwendig und ausnahmslos alle Erkenntnisse der Wahrnehmung entstammen, so ist damit bereits die Möglichkeit von Erkenntnissen a priori zugestanden, und der empiristische Protest gegen diese Möglichkeit verliert seinen Sinn. Der Widersinn der Schröderschen Behauptung ist also auf keine Weise wegzuschaffen. Wenn SCHRÖDER die Annahme von Erkenntnissen a priori mit derjenigen einer göttlichen Offenbarung auf eine Stufe stellt, so müssen wir entgegnen, daß der von ihm angenommene Empirismus ein viel schlimmeres und unvernünftigeres Dogma ist als das Offenbarungsdogma. Denn während wir von einer göttlichen Offenbarung nichts wissen, also keinen Grund haben sie anzunehmen, enthält das Schrödersche Dogma einen offenbaren Widerspruch, und es bleibt erstaunlich, daß ein exakter Logiker so blind sein kann, dies nicht zu bemerken. Wäre es nicht vernünftiger und dem Standpunkt der Erfahrung angemessener, zuerst einmal die vorliegenden Tatsachen des Erkennens zu prüfen, statt von einem blindlings aufgerafften Dogma wie von einem ausgemachten Faktum auszugehen? Denselben Vorwurf muß ich auch gegen ÜsTwALD erheben, der im ersten Hefte der neuen, von ihm begründeten »Annalen der Naturphilosophie«, gleichsam als Leitmotiv des ganzen Unternehmens, den Empirismus als einzig möglichen Standpunkt proklamiert und auf Grund dieser Behauptung gegen KANT zu Felde zieht. Wir lesen da: »Für den heutigen Naturforscher gibt es keine Erkenntnis a priori und daher auch kein apodiktisches Wissen .... Man darf nur eine Wahrscheinlichkeit von c!ö= 0 dafür annehmen, daß irgendeine ins Unbegrenzte erstreckte oder absolute Behauptung die Wahrheit trifft.« Woher, frage ich, die Apodiktizität dieses Satzes? Die Wahrscheinlichkeit, daß er die Wahrheit trifft, ist ja nach ÜSTWALD c!ö= O; er ist also ganz bestimmt falsch. Wollte aber ÜSTWALD, um diesem Widerspruch zu entgehen, den Satz dahin einschränken, daß jeder andere Satz als dieser eine, empiristische, unendlich unwahrscheinlich ist, so ist der Empirismus bereits durchbrochen; denn es gibt dann doch jedenfalls einen apodiktischen Satz. - Der ganze

VI. Die mathematischen Urteile sind Urteile a priori

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Scherz dieses Empirismus ist also um nichts besser als das bekannte Sophisma des lügenden Kreters. Wenn Epimenides, der Kreter, sagt: »Alle Kreter sind Lügner«, so hat er notwendig gelogen. Denn wenn es wahr wäre, daß alle Kreter lügen, so müßte dies auch Epimenides tun. Um nichts besser, sage ich, als diese Lüge des Epimenides ist das Dogma des Empirismus.

VI Die mathematischen Axiome sind Urteile a priori. Die Einteilung der Urteile in Urteile a posteriori und Urteile a priori ist also eine durchaus berechtigte. Mithin ist auch die Frage, in welche Klasse die mathematischen Urteile gehören, eine berechtigte Frage und bedarf jedenfalls der näheren Untersuchung. Welches Mittel haben wir aber, um die Apriorität eines Urteils zu erkennen? Nun, ein solches Kennzeichen haben wir ja bereits angewandt: es besteht in der strengen Allgemeinheit und Notwendigkeit. Unsere Sinne zeigen uns wohl, was hier oder dort, zu dieser oder jener Zeit ist, aber nicht, was überall und jederzeit gilt. Eine solche notwendige und allgemeine Geltung haftet aber den mathematischen Wahrheiten an. Ein mathematischer Satz, man nehme, welchen man wolle, gilt nicht nur hier auf dem Papier oder dort an der Tafel, sondern er gilt mit derselben Genauigkeit auch auf dem Monde, und mit wieder derselben jenseits der Milchstraße. Das bereits erwähnte Axiom, daß die gerade Linie die kürzeste zwischen zwei Punkten ist, spricht nicht von dieser oder jener geraden Linie, sondern von allen Geraden überhaupt. Sehen wir selbst davon ab, daß Punkte und Linien überhaupt nicht Gegenstände sinnlicher Bcobad1tung werden können, so müßten wir doch, da zwischen zwei Punkten unendlich viele Linien möglich sind, erst diese unendlich vielen Linien mit der Geraden verglichen haben, ehe wir zu einer allgemeinen Aussage über ihr Längenverhältnis berechtigt wären. Dazu allein bedürften wir aber schon einer unendlichen Zeit. Und doch hätten wir damit den Satz erst für eine einzige Gerade gefunden, während es der Geraden unendlich viele im

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Kant und die nicht-euklidische Geometrie

Raume gibt. Und selbst von dieser einen Geraden könnten wir nur sagen: »So oft wir bisher beobachtet haben, war sie kürzer als jede mit ihr verglichene Krumme.« Ob dies sich morgen oder zu einer beliebigen anderen Zeit ebenso verhalten werde, darüber wären wir auf Grund unserer Messungen zu keinem Urteile berechtigt. Die mathematische Anschauung, d. h. die Anschauung, auf die sich die mathematischen Axiome gründen, kann also nicht die Anschauung unserer Sinne sein. Sie muß einen von der Zufälligkeit und Ungenauigkeit der Sinneswahrnehmung unabhängigen Ursprung haben. KANT nannte sie deshalb die »reine« Anschauung. Wir können uns indessen noch auf einem anderen Wege von der Apriorität der mathematischen Wahrheiten überzeugen. Wären nämlich die Axiome der Mathematik empirisch, so hieße das soviel wie, daß sie durch Messung an sinnlich gegebenen Naturkörpern gefunden wären. Nun können wir aber gar keine Messung ausführen, ohne dazu schon mathematische Voraussetzungen zugrunde zu legen. Die Möglichkeit des Messens beruht selbst erst auf der Anwendung bestimmter, durch empirische Messung nicht wieder kontrollierbarer, und zwar mathematischer Gesetze. Alles Messen besteht in der Vergleichung von Größen. Die Möglichkeit der Vergleichung verschiedener Größen schließt aber bereits eine besondere, und zwar auch rein mathematisch sehr wichtige, Voraussetzung ein, nämlich das archimedische Axiom. Dies Axiom läßt sich folgendermaßen formulieren: Sind a und b zwei von Null verschiedene Größen, so existiert stets ein Vielfaches von a, das größer ist als b. Nur unter Voraussetzung dieses Axioms ist es möglich, eine Größe b durch eine andere a zu messen. Da also dieses Axiom eine notwendige Bedingung der Meßbarkeit von Größen bildet, so kann es seinerseits nicht durch Messung begründet werden. Jede Messung beruht ferner auf der Forttragung eines Maßstabes an dem zu messenden Gegenstande und setzt die Unveränderlichkeit dieses Maßstabes voraus. Diese Unveränderlichkeit ist empirisch nur kontrollierbar durch Vergleichung mit einem anderen Maßstabe, von dem aber wiederum schon feststehen muß, daß er unveränderlich ist. Diese Unveränderlichkeit ist nun nur möglich unter Voraussetzung des den Kongruenzsätzen zugrunde liegenden

VI. Die mathematischen Axiome sind Urteile a priori

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Axioms, daß sich eine Figur ohne Formänderung im Raume bewegen läßt. Dieses Axiom bildet also ebenfalls eine Bedingung der Möglichkeit des Messens und läßt sich daher selbst nicht durch Messung begründen. Nach dem bisher Gesagten könnte es vielleicht so scheinen, als ob wir mit dem Ausdruck »reine Anschauung« nur eine zur Erklärung der Möglichkeit der mathematischen Urteile ersonnene Hypothese bezeichneten. Daß dem nicht so ist, wollen wir dadurch zeigen, daß wir geradezu die reine Anschauung selbst als ein Faktum aufweisen und dann, umgekehrt wie vorher, die Möglichkeit der mathematischen Sätze aus diesem Faktum ableiten. Und zwar wollen wir dies am Beispiel der geometrischen Anschauung zeigen. Wir brauchen hierzu nur die sinnliche Wahrnehmung etwas näher zu betrachten. Die Sinneswahrnehmung ist nämlich nicht, wie es bei oberflächlicher Betrachtung den Anschein haben könnte, etwas Einfaches und Selbständiges, sondern sie erweist sich als etwas Zusammengesetztes und Unselbständiges. Wenn wir z. B. eine Wahrnehmung des Gesichtssinnes betrachten, etwa die Wahrnehmung einer bestimmten Farbe, so können wir diese Wahrnehmung in Gedanken noch zergliedern, indem wir nämlich das spezifisch Sinnliche an ihr, also die Farbe mit ihrer Qualität und Intensität, unterscheiden von der räumlichen (wenigstens flächenhaften) Ausdehnung, ohne die wir doch keine Farbe vorzustellen vermögen. Diese beiden Elemente der \Vahrnehmung zeigen einen sehr verschiedenen Charakter. Wir können sowohl die Qualität als auch die Intensität der Farbenempfindung (in der Wahrnehmung selbst sowohl als auch im Erinnerungsbilde) variieren lassen: Wir können z. B. an die Stelle einer roten eine grüne Farbe treten lassen, und wir können andererseits die Intensität der roten Farbe, ohne dabei ihre Qualität zu ändern, beliebig verschiedene Grade annehmen und sogar bis zu Null abnehmen lassen. Die räumliche Ausdehnung aber können wir uns in keiner Weise veränderlich vorstellen. Bei allen, noch so mannigfachen Veränderungen an der Empfindungsqualität und Intensität bleibt die räumliche Ausdehnung unverändert erhalten. Die Vorstellung der räumlichen Ausdehnung hat also den Charakter der Notwendigkeit und Beständigkeit, die Vorstellung des sie erfüllen-

Kant und die nicht-euklidische Geometrie

den sinnlichen Inhaltes hat dagegen den Charakter der Zufälligkeit und Veränderlichkeit. Wir können also an der Sinneswahrnehmung ihren Inhalt von ihrer Form unterscheiden. »Form« ist nämlich überhaupt dasjenige, was den Grund dafür bildet, daß Mannigfaltiges in gewissen Verhältnissen geordnet erscheint. So finden wir den mannigfaltigen Inhalt unserer sinnlichen Anschauung in einer bestimmten, nämlich räumlichen, Form angeordnet. Die Raumanschauung ist also die Form der Sinnesanschauung. Da nun die Raumanschauung eine Bedingung der Möglichkeit der Sinnesanschauung bildet, so ist klar, daß sie selbst ihrerseits von der Sinnesanschauung unabhängig ist. Die Raumanschauung ist also in der Tat eine reine Anschauung. Vielleicht noch deutlicher als durch die Notwendigkeit kennzeichnet sich die Apriorität der Raumanschauung durch zwei andere Eigenschaften: die der Unendlichkeit und Stetigkeit. Die sinnliche Beobachtung bleibt stets, wie weit sie auch fortschreiten mag, in Grenzen eingeschlossen. Wie weit wir auch mit der Zusammensetzung oder Teilung eines empirisch gegebenen Ganzen fortgehen mögen, so reicht doch die bloße sinnliche Beobachtung nicht hin, uns die Gewißheit zu geben, daß sich diese Zusammensetzung und Teilung über jede Grenze hinaus fortsetzen läßt. Die Merkmale der Stetigkeit und Unendlichkeit sind also sichere Kennzeichen der Apriorität der Raumanschauung. Ist aber der Raum ein Gegenstand der reinen Anschauung, so können wir, indem wir von dem empirischen Inhalte in unserer Vorstellung abstrahieren, die Beschaffenheiten des Raumes vor der reinen Anschauung untersuchen und den so abgesonderten Gehalt derselben in Urteilen formulieren. Diese Urteile werden jedenfalls synthetisch sein, denn sie sind ja der Anschauung entnommen. Sie werden andererseits Urteile a priori sein, denn die Anschauung, auf die sie sich gründen, ist eine reine Anschauung. Diese Urteile werden wir weiterhin als Prämissen zu Schlüssen anwenden können und so eine Wissenschaft aus synthetischen Urteilen a priori zustande bringen. Die Wissenschaft vom Raume ist nun aber die Geometrie. Somit haben wir in der Tat die Möglichkeit der Geometrie aus dem direkt auf gewiesenen Faktum der reinen Anschauung abgeleitet.

VII. Die Selbständigkeit der mathematischen Erkenntnis

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VII Die Selbständigkeit der mathematischen Erkenntnis Das Resultat unserer bisherigen Ausführungen können wir in den einen Satz zusammenfassen: Die mathematischen Urteile sind synthetische Urteile a priori. Vergleichen wir einmal dieses Resultat mit der eingangs erwähnten vorkantischen Lehre. An Stelle der alten Einteilung der Urteile in logische und empirische haben wir zwei neue Einteilungen gesetzt: die in analytische und synthetische Urteile, und die in Urteile a priori und a posteriori. Wie verhalten sich diese Einteilungen zueinander? Zunächst ist leicht zu bemerken, daß das erste Glied der alten Einteilung, die Logik, mit dem Gebiet der analytischen Urteile zusammenfällt. Denn als die Erkenntnisquelle der Logik wurde der Verstand bezeichnet. Der Verstand ist aber an und für sich leer und dient nicht sowohl zur Erweiterung unserer Erkenntnis als vielmehr zur Zergliederung schon gegebener. Er ist also gerade die Quelle der analytischen Urteile. Andererseits hatten wir gesehen, daß zwar alle analytischen Urteile auch Urteile a priori sind, daß aber die Umkehrung dieses Satzes nicht zutrifft; nicht alle Urteile a priori sind analytisch, sondern es gibt synthetische Urteile a priori, und dies sind gerade die mathematischen. Diese synthetischen Urteile a priori fehlen in der vorkantischen Einteilung; ihre Entdeckung ist der wesentliche Gewinn der von KANT eingeführten neuen Einteilungen. Wir können uns dies am einfachsten durch folgendes Schema deutlich machen: apnon a posteriori analytisch

Logik

-

synthetisch

Mathematik

Empirie

Die Kantischen Einteilungen sind also zwar beide vollständig, aber sie decken sich nicht. Nicht alle Urteile a priori sind analytisch, oder, was dasselbe bedeutet, nicht alle synthetischen Urteile sind empirisch. Wir können den Fehler des ARISTOTELES und seiner Nach-

Kant und die nicht-euklidische Geometrie

folger bis auf LEIBNIZ und HuME geradezu dadurch bezeichnen, daß wir sagen: ihr Fehler besteht in der falschen Identifizierung der beiden Kantischen Einteilungen, nämlich in der fehlerhaften Umkehrung des richtigen Satzes, daß alle analytischen Urteile Urteile a priori sind. Auf Grund dieses Fehlers konnte man freilich nicht umhin, von der Apriorität der mathematischen Urteile auf ihre analytische Natur zu schließen, und so mußte man zu dem Irrtum kommen, die Mathematik der Logik zuzuweisen. Auf demselben Fehler aber beruht es, wenn viele neuere Forscher, die diesen Irrtum durchschauten, die mathematischen Wahrheiten auf Erfahrung zu gründen versucht haben. Wenn man nämlich mit ARISTOTELES von der Voraussetzung ausgeht, daß alle Erkenntnis entweder logischer oder empirischer Natur ist, so ist freilich die nicht-logische Natur eines Urteils nur mit seinem empirischen Ursprung vereinbar; gerade so, wie der von den Früheren richtig erkannte nicht-empirische Ursprung der Mathematik nur mit ihrer logischen Natur vereinbar erscheinen mußte. Den Fortschritt KANTS aber können wir am einfachsten so bezeichnen: KANT hat die Selbständigkeit der mathematischen Erkenntnis entdeckt. Die Mathematik, dies ist das Resultat seiner Untersuchungen, ist sowohl von der Erfahrung als auch von der Logik unabhängig. Die reine Anschauung der Mathematik verbindet mit der Anschaulichkeit der empirischen Erkenntnisweise die Apriorität der logischen und steht so gleichsam in der Mitte zwischen diesen beiden. In dieser Eigentümlichkeit ihrer Erkenntnisquelle, daß sie nämlich Anschaulichkeit mit Apriorität vereinigt, liegt der Grund der Evidenz der mathematischen Erkenntnis einerseits und ihrer strengen Notwendigkeit andererseits. Die logische Form der Schlüsse und Beweise kann nur zur Übertragung der Gewißheit von den Grundsätzen auf die Lehrsätze dienen. Wohnte die apodiktische Geltung den Grundsätzen nicht von vornherein kraft ihres rein-anschaulichen Ursprungs bei, so würde doch bei aller Strenge der Beweise den Lehrsätzen dieselbe Zufälligkeit und Unsicherheit anhaften wie den Grundsätzen. Damit ist der Grund des Mißlingens der Anwendung der mathematischen Schlußweise in der Philosophie ohne weiteres aufgeklärt. Denn die erfolgreiche Anwen-

VIII. Die nicht-euklidische Geometrie

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dung dieser Methode setzt zu ihrer Möglichkeit bereits die der Mathematik eigentümliche Erkenntnisquelle voraus. In der Beschaffenheit dieser ursprünglichen Erkenntnisquelle, in der reinen Anschauung, nicht in der logischen Form der Schlüsse liegt der eigentliche Grund der mathematischen Gewißheit.

VIII Die nicht-euklidische Geometrie Es bleibt uns noch übrig, das Resultat unserer erkenntnistheoretischen Betrachtungen mit den neueren, schon anfangs erwähnten, axiomatischen Forschungen zu vergleichen. Erinnern wir uns hierfür der logischen Forderung, von der wir ursprünglich ausgegangen sind, der Forderung nämlich, den gesamten Inhalt einer Wissenschaft vermittelst logischer Schlußfolgerungen auf eine beschränkte Anzahl von Prinzipien zurückzuführen. Diese Forderung drückt nichts anderes aus als die Aufgabe, jeden überhaupt beweisbaren Satz auch wirklich zu beweisen. Wir können sie deshalb als das Postulat der systematischen Strenge bezeichnen. Diesem Postulat in der Mathematik Rechnung zu tragen, war eine der Hauptbemühungen der wissenschaftlichen Arbeit des vorigen Jahrhunderts. Die mathematischen Axiome sind unmittelbar evidente Wahrheiten. Aber diese unmittelbare Evidenz genügt nicht zur Charakteristik eines Axioms, sondern nur diejenigen unmittelbar evidenten Sätze gelten als Axiome, auf deren Beweis wir verzichten. So ist es z. B. ein unmittelbar evidenter Satz, daß eine Kurve, wenn sie in dem Intervalle zwischen einem negativen und einem positiven Werte stetig verläuft, mindestens einmal innerhalb dieses Intervalles den Wert Null annimmt. Nichtsdestoweniger ist dieser Satz kein Axiom, er ist vielmehr von BOLZANO auf einem sogar sehr umständlichen Wege bewiesen worden. Es entsteht also die Aufgabe, ein System von Axiomen aufzustellen, derart, daß keins derselben aus den andern logisch hergeleitet werden kann. Wie läßt sich nun die logische Unabhängigkeit der Axiome prüfen? Die zur Lösung dieser Aufgabe ausgearbeitete Methode hat

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Kant und die nicht-euklidische Geometrie

sich aus einer Kritik der euklidischen Parallelentheorie entwickelt. Auf die Geschichte dieser Kritik der Parallelentheorie müssen wir etwas näher eingehen; denn gerade hierüber sind durch gewisse populäre Darstellungen völlig unzutreffende und irreführende Ansichten verbreitet worden. Man bekommt da etwa folgendes zu lesen: Nachdem EUKLID und seine Nachfolger lange Zeit als selbstverständlich angenommen hatten, daß sich durch einen Punkt zu einer Geraden in einer Ebene nur eine Parallele ziehen lasse, hätten einige kühne Geister angefangen, diesen Satz in Zweifel zu ziehen. Durch diese Zweifel veranlaßt, hätten andere versucht, einen Beweis des Satzes zu geben. Dieser Versuch sei mißlungen, und somit sei erwiesen, daß jener Satz nicht notwendig richtig zu sein brauche. Durch die hiermit zusammenhängenden Untersuchungen von RIEMANN und HELMHOLTZ sowie von anderen berühmten Männern sei dann auch der Satz von der Unendlichkeit des Raumes zweifelhaft geworden. Zwar genügten unsere heutigen Beobachtungsmittel noch nicht, um den Krümmungsradius des Raumes zu messen. Doch würden sich ohne Zweifel später astronomische Messungen anstellen lassen, aus denen auf die Endlichkeit des Raumes geschlossen werden könne. Es sei hierzu nur nötig nachzuweisen, daß die Lichtstrahlen an ihren Ausgangspunkt zurückkehren, in welchem Falle wir in der Lage sein würden, unseren eigenen Hinterkopf vor uns zu sehen. Und was dergleichen Phantastereien mehr sind. Die Sache verhält sich so. Unter den von EUKLID aufgestellten Grundsätzen der Geometrie befindet sich auch der Satz: Wenn zwei Gerade von einer dritten geschnitten werden und die inneren an derselben Seite der Schneidenden liegenden Winkel zusammen weniger als zwei Rechte betragen, so schneiden sich die beiden Geraden auf der Seite dieser Winkel. Dieser Satz, der speziell als euklidisches Axiom bezeichnet wird, nimmt insofern eine Sonderstellung ein, als sich eine große Reihe von Lehrsätzen ohne ihn beweisen läßt. Erst zum Beweise seines 29. Lehrsatzes bedient sich EUKLID des genannten Axioms. Es ist daher schon früh die Frage aufgeworfen worden, ob dies Axiom sich nicht vielleicht ganz ausschalten lasse und aus den übrigen Voraussetzungen EUKLIDS bewiesen werden könne. Die zahlreich angestellten Versuche, den Satz zu bewei-

VIII. Die nicht-euklidische Geometrie

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sen, schlugen indessen sämtlich fehl und wurden gegen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts endgültig aufgegeben. An die Stelle dieser vergeblichen Bemühungen, den Satz zu beweisen, trat nun die Aufgabe, seine Unbeweisbarkeit darzutun. Zur Lösung dieser Aufgabe schlug LOBA TSCHEWSKY folgendes Verfahren ein: Wenn das euklidische Axiom von dem System der übrigen Axiome logisch unabhängig ist, so sind diese nicht hinreichend, um über seine Gültigkeit zu entscheiden, sie müssen also mit seinem Gegenteil ebenso verträglich sein wie mit ihm selbst. Es muß dann möglich sein, eine in sich konsequente Geometrie zu entwickeln, in der eine dem euklidischen Axiom widersprechende Annahme zugrunde gelegt wird. Der Beweis der inneren Widerspruchslosigkeit einer dem euklidischen Axiom widersprechenden Geometrie wäre daher zugleich ein überzeugender Beweis der Unbeweisbarkeit des euklidischen Axioms. Nun ist das euklidische Axiom gleichbedeutend mit dem sogenannten Parallelensatz: In einer Ebene läßt sich durch einen Punkt außerhalb einer Geraden nur eine Gerade ziehen, die die erstere nicht schneidet. LoBA TSCHEWSKY versuchte daher eine Geometrie auszubilden, unter Beibehaltung aller übrigen Axiome, während er den Parallelensatz durch die Annahme ersetzte, daß sich in einer Ebene durch einen Punkt außerhalb einer Geraden mehr als eine nicht schneidende Gerade ziehen lassen. Es gelang ihm, diese Geometrie systematisch durchzuführen, ohne in den Folgerungen auf einen logischen Widerspruch zu stoßen. Daß ein solcher auch bei weiterer Entwicklung seiner Geometrie niemals auftreten kann, ohne einen Widerspruch in der gemeinen, euklidischen Geometrie selbst nach sich zu ziehen, ist später von BELTRAMI, KLEIN und anderen nachgewiesen worden. Es ist für die von LoBATSCHEWSKY ausgebildete »nicht-euklidische« Geometrie charakteristisch, daß die Summe der Winkel des geradlinigen Dreiecks nicht wie in der euklidischen zwei Rechte, sondern weniger als zwei Rechte beträgt, und daß dieser Betrag um so geringer ist, je größer der Flächeninhalt des Dreiecks ist. Die Differenz zwischen der Winkelsumme eines Dreiecks und zwei Rechten, der sogenannte Defekt, steht nämlich zu dem Flächeninhalt des Dreiecks in einem Verhältnis, welches auf Grund der Kongruenzaxiome

Kant und die nicht-euklidische Geometrie

einen konstanten Wert hat. Diese Konstante bezeichnet man, nach einer der Flächentheorie entlehnten Ausdrucksweise, als das »Krümmungsmaß« des Raumes. Der Wert desselben beträgt in der euklidischen Geometrie Null, während er in der Lobatschewskyschen Geometrie negativ ist. Man sieht ohne weiteres, daß neben der Lobatschewskyschen noch eine andere nicht-euklidische Geometrie möglich ist, nämlich diejenige, die ein positives Krümmungsmaß des Raumes zugrunde legt. Dies ist die sogenannte Riemannsche Geometrie. Sie ist dadurch charakterisiert, daß sie annimmt, in einer Ebene lasse sich durch einen Punkt außerhalb einer Geraden keine Parallele zu ihr ziehen, und durch die sich daraus ergebende Folgerung, daß die Winkelsumme im geradlinigen Dreieck größer als zwei Rechte ist. Sie ist ferner dadurch merkwürdig, daß auf Grund ihrer Annahmen dem Raume nicht mehr wie in der gewöhnlichen Geometrie unendliche Ausdehnung zugeschrieben werden kann. Vielmehr muß zwischen Unendlichkeit und Unbegrenztheit unterschieden werden. Analog der Kugeloberfläche, die zwar keine Grenze hat, aber endlich ist, muß der Riemannsche Raum als zwar unbegrenzt, aber endlich gedacht werden. Das Parallelenaxiom ist nicht das einzige, dessen logische Unabhängigkeit durch die Methode der »nicht-euklidischen« Geometrie erwiesen worden ist. In der modernen Axiomatik nimmt es in der Tat gar keine Ausnahmestellung mehr ein. Der Beweis seiner Unbeweisbarkeit bildet nur das erste und gleichsam klassische Beispiel einer nach streng logischer Methode geführten kritischen Untersuchung der Grundlagen der Geometrie. Seit LoBATSCHEWSKY, GAuss und RIEMANN hat die erweiterte Anwendung dieser Methode zur Gründung einer neuen, umfangreichen und selbständigen Disziplin der Mathematik geführt. Auch auf die Grundlagen der Arithmetik beginnt man in neuerer Zeit mit Erfolg dieselbe Forschungsmethode anzuwenden. Der Unabhängigkeitsbeweis wird hier durch die Aufstellung »komplexer Zahlensysteme« geführt, d. h. durch den Nachweis der logischen Widerspruchslosigkeit eines Zahlensystems, das nicht sämtliche durch das vollständige System der arithmetischen Axiome bezeichneten Forderungen erfüllt. Zu diesem Axiomensystem gehört z. B.

IX. Das Argument von Helmholtz

das bereits genannte »archimedische« Axiom: Wenn a und b zwei beliebige von Null verschiedene Zahlen sind, so gibt es stets ein Vielfaches von a, das größer ist als b. Der Unabhängigkeitsbeweis für dieses Axiom ist in der Tat durch Nachweisung der Möglichkeit eines »nicht-archimedischen« Zahlensystems erbracht worden.

IX Das Argument von H elmholtz Die angeführten Beispiele werden genügen, um die methodische Bedeutung, die die nicht-euklidische Geometrie für die kritische Mathematik besitzt, deutlich hervortreten zu lassen. Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, in welchem Verhältnis die nicht-euklidischen Untersuchungen zu dem erkenntnistheoretischen Problem des Ursprungs der mathematischen Axiome stehen, und welche Belehrungen uns aus jenen Untersuchungen für dieses Problem erwachsen. Es ist bekannt, welch heftiger Streit seit der Veröffentlichung von HELMHOLTZ' diesbezüglichen Arbeiten über diese Frage entbrannt ist. Nach den vorangeschickten Darlegungen der Kantischen Lehre einerseits und der Methode der nicht-euklidischen Geometrie andererseits werden wir keine Schwierigkeit finden, die Mißverständnisse, die die Streitfrage verdunkelt haben, zu beseitigen und dadurch eine äußerst einfache Lösung der Frage zu gewinnen. Der Kantischen Lehre, die mathematischen Axiome seien synthetische Urteile a priori, liegen die beiden Feststellungen zugrunde: 1. die Axiome sind nicht logischen Ursprungs, 2. sie gelten unabhängig von aller Erfahrung. Aus der ersten Behauptung folgert KANT ihren Ursprung aus der Anschauung; aus der zweiten schließt er auf den nicht-empirischen Charakter dieser Anschauung. Welche Schlüsse lassen sich aus der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie zur Bestätigung oder zur Widerlegung dieser Sätze ziehen? Wenn die Axiome von aller Erfahrung unabhängig gelten, so sind sie notwendige Wahrheiten. Daraus haben nun manche so weiter geschlossen: Notwendige Wahrheiten sind solche, deren Gegenteil

Kant und die nicht-euklidische Geometrie

unmöglich ist. Nun beweist aber die nicht-euklidische Geometrie die Möglichkeit des Gegenteils der Axiome. Folglich können die Axiome nicht Urteile a priori sein. - So schließt z. B. POINCARE, wenn er sagt: »Sind die geometrischen Axiome, wie KANT behauptete, synthetische Urteile a priori? Sie würden dann für uns eine solche Notwendigkeit haben, daß es uns unmöglich wäre, ihr Gegenteil zu denken und auf diesem ein theoretisches Lehrgebäude zu errichten. Es würde keine nicht-euklidische Geometrie geben.« 6 Der Fehler dieses Schlusses beruht auf einem zweifachen Gebrauch des Wortes »unmöglich«. Die Unmöglichkeit des Gegenteils eines Satzes kann nämlich einmal darin ihren Grund haben, daß sein Gegenteil einen inneren Widerspruch einschließt, d. h. daß die Verneinung seines Prädikatsbegriffs der Definition seines Subjektsbegriffs widerspricht. Dies ist der Fall bei der Verneinung analytischer Urteile. Die Unmöglichkeit des Gegenteils eines Satzes kann aber auch darauf beruhen, daß seine Verneinung irgendeiner anderen, sonst schon feststehenden Wahrheit widerstreitet, z.B. der Anschauung, die wir von dem Gegenstande besitzen. Das letztere ist offenbar der Fall bei der Verneinung synthetischer Urteile. Die Notwendigkeit der ersten Art ist rein logischer Natur und kommt ausschließlich analytischen Urteilen zu. Die Notwendigkeit der zweiten Art ist synthetischer Natur und bedingt keineswegs die logische Unmöglichkeit des Gegenteils. Die nicht-euklidische Geometrie bedarf aber für ihre Zwecke lediglich der logischen Möglichkeit ihres Systems, d. h. ihrer inneren Widerspruchslosigkeit, und es gehört zu den gröbsten Mißverständnissen dieser axiomatischen Untersuchungen, daß sie bezweckten, die Gültigkeit der euklidischen Axiome umzustoßen. Nichtsdestoweniger ist - namentlich infolge der Autorität von HELMHOLTZ - noch heute die Ansicht verbreitet, daß die Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie die Gültigkeit der euklidischen zweifelhaft mache, und man hat, durch diese Meinung veranlaßt, das Vorrecht der letzteren auf ein bloßes Gewohnheitsrecht zurückzuführen versucht. Ein Geometer, der so schließen würde, würde offenbar den Ast absägen, auf dem er sitzt; 6

H. PorNCARE, La science et l'hypothese. Chap. setzung ist an dieser Stelle ungenau.)

III.

(Die Lindemannsche Über-

IX. Das Argument von Helmholtz

er würde die Selbständigkeit seiner eigenen Wissenschaft untergraben und sie in ein bloßes Spiel mit analytischen Sätzen auflösen, nämlich mit der Ableitung der logischen Folgen aus beliebigen, durch Gewohnheit oder Bequemlichkeit bestimmten Annahmen, ohne den Gesichtspunkt der Wahrheit dieser Annahmen und ihrer Folgen. So daß z. B. einmal auf einem Naturforscher-Kongreß durch Abstimmung beschlossen werden könnte, statt der euklidischen irgendeine nicht-euklidische Geometrie der Physik zugrunde zu legen, oder daß einmal eine nach in Europa angestellten Berechnungen gebaute Brücke in Amerika einstürzt, weil dort der Krümmungsradius des Raumes ein anderer ist. Suchen wir nach einem Grunde für eine solche Ansicht, so können wir ihn in nichts anderem finden als in dem seit ARISTOTELES traditionell gewordenen, von KANT bekämpften Dogma, das als Kriterien der Wahrheit nur die Logik und die Erfahrung kennt. Nach diesem Dogma sind alle notwendigen Wahrheiten logischen Ursprungs, und es ist eine notwendige Konsequenz dieses Dogmas, daß alle Sätze, die sich der Zuständigkeit der Logik entziehen, aus der Erfahrung stammen. - Auf dieses Dogma lassen sich in der Tat sehr leicht alle die Versuche zurückführen, die man gemacht hat, von der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie auf den empirischen Ursprung der Axiome weiterzuschließen, - Versuche, die übrigens auf die Begründer der nicht-euklidischen Geometrie selbst zurückgehen. Wenn z. B. LoBATSCHEWSKY daraus, daß der Parallelensatz »keine notwendige Folge unserer Begriffe vom Raume ist«, folgert, also »könne nur die Erfahrung, z. B. die wirkliche Messung von den drei Winkeln eines geradlinigen Dreiecks, die Wahrheit dieser Annahme bestätigen« 7, so schließt er offenbar von dem nicht-logischen Ursprung des Satzes auf seinen empirischen Ursprung. Er setzt also das Vorurteil von der Vollständigkeit der Einteilung aller Urteile in logische und empirische voraus. - Wenn RIEMANN daraus, »daß die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Größenbegriffen ableiten lassen«, schließt, »daß diejenigen Eigenschaften, durch welche sich der Raum von anderen denkba7

N.

J. LoBATSCHEWSKY, Pangeometrie, 1856, § 9.

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Kant und die nicht-euklidische Geometrie

ren dreifach ausgedehnten Größen unterscheidet, nur aus der Erfahrung entnommen werden können« 8, - so liegt diesem Schluß dasselbe Vorurteil zugrunde. Es ist wahrscheinlich, daß LoBATSCHEWSKY und RIEMANN KANTS Vernunfl:kritik nicht gekannt haben, und ihr Irrtum wird durch diese Unkenntnis begreiflich. Anders steht es mit HELMHOLTZ, der sich geradezu gegen KANT wendet. Und doch besteht unleugbar der Kernpunkt seines Angriffs in nichts anderem als in einer Wiederholung des Lobatschewsky-Riemannschen Trugschlusses. HELMH0LTZ sagt nämlich: » Wenn wir aber Denknotwendigkeiten auf diese Annahme freier Beweglichkeit fester Raumgebilde mit unveränderter Form nach jeder Stelle des Raumes hin bauen wollen, so müssen wir die Frage aufwerfen, ob diese Annahme keine logisch unerwiesene Voraussetzung einschließt. Wir werden gleich nachher sehen, daß sie eine solche einschließt, und zwar eine sehr folgenreiche. Wenn sie das aber tut, so ist jeder Kongruenzbeweis auf eine nur aus der Erfahrung genommene Tatsache gestützt.« 9 In diesem Argument wird mit klaren Worten von dem nicht-logischen Ursprung der Axiome auf ihren empirischen Ursprung geschlossen. Dieser Schluß setzt offenbar neben der ausgesprochenen Prämisse vom nicht-logischen Ursprung der Axiome stillschweigend als zweite Prämisse die Annahme voraus: » Jede logisch unerwiesene Voraussetzung ist der Erfahrung entnommen.« Gerade diese Annahme aber war es gewesen, deren Richtigkeit KANT in Zweifel gezogen hatte. Gerade diese Einteilung in Logik und Erfahrung war es gewesen, deren Vollständigkeit KANT bestritten hatte. Es besteht also die unbestreitbare Tatsache, daß die von HELMHOLTZ versuchte Widerlegung KANTS einen offenbaren Trugschluß enthält. Man wird uns vermutlich entgegenhalten, es sei doch höchst unwahrscheinlich, daß ein so scharfer Denker wie HELMHOL TZ einem so handgreiflichen Trugschlusse zum Opfer gefallen sein sollte. Ich antworte darauf, daß es auch sehr unwahrscheinlich ist, daß HELMHOLTZ 8

B. RIEMANN, über die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen, 1867, s. 2. 9 Populär-wissenschaftliche Vorträge. 3. Auflage, 2. Bd., 1. Vortrag, S. 7.

X. Der geometrische und der physikalische Raum

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seine Kenntnis der Kantischen Lehre mehr aus originalem Studium als aus historischen Darstellungen geschöpft hat, und daß er daher, um den in Rede stehenden Trugschluß zu begehen, kein unklarerer Denker gewesen zu sein braucht, als sonst irgendein Vorkantianer. Daß HELMHOLTZ jedenfalls keine gründliche Kenntnis auch nur der Einleitung zur Kantischen Kritik der reinen Vernunft besessen haben kann, das geht, wie jeder Leser sich selbst überzeugen mag, unzweifelhaft hervor aus der folgenden Stelle (S. 8) seiner »Einleitung zu den Vorlesungen über theoretische Physik«: »STUART MILL war der erste, welcher diese wichtige Unterscheidung machte und also diejenigen Eigenschaften, welche in die Definition eines Begriffes hineingehören und an und für sich zusammengenommen genügend sind, die Definition festzustellen, von den Eigenschaften trennte, die außerdem noch immer bei den einzelnen Wesen vorhanden sind, - die unter den Begriff gehören.« Hier wird einem englischen Logiker aus der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Entdeckung zugeschrieben, die gerade die grundlegende und entscheidende Tat von KANTS Kritik der reinen Vernunft bildet, nämlich die Entdeckung des Unterschieds der analytischen und synthetischen Urteile. Der eigentliche Fehler von HELMHOLTZ besteht also nicht sowohl in dem nachgewiesenen logischen Irrtum, als vielmehr in dem praktischen Mißgriff, gegen eine Lehre anzukämpfen, ohne eine genügende Kenntnis ihres Inhalts zu besitzen. - Es wäre nicht nötig, dies hervorzuheben, wenn nicht leider immer wieder gewisse Dilettanten die Pietätlosigkeit besäßen, in blindem Autoritätsglauben die mißlungenen erkenntnistheoretischen Versuche des großen Physikers als eine besonders rühmenswerte Leistung anzupreisen.

X Der geometrische und der physikalische Raum

Es ist hier der Ort, eines Zweifels zu gedenken, der vielen erhebliche Schwierigkeiten bereitet hat und der auch in den Helmholtzschen Argumentationen eine gewisse Rolle spielt. Gesetzt nämlich, es sei zugegeben, daß sich die Sätze der Geometrie auf reine

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Kant und die nicht-euklidische Geometrie

Anschauung gründen, so erhebt sich die Frage, ob denn unsere reine Anschauung des Raumes auch mit dem physikalischen Raume, in dem sich die Naturkörper befinden, übereinstimmt. Ehe diese Übereinstimmung nicht nachgewiesen sei - so hat man argumentiert -, könnten doch die geometrischen Axiome nur als »Hypothesen« betrachtet werden; wozu noch komme, daß der Nachweis dieser Übereinstimmung, da er nur durch empirische Messung zu führen sei, stets mit der unvermeidlichen Ungenauigkeit unserer Meßinstrumente behaftet bleiben müsse, woraus denn folgen würde, daß den Axiomen nie mehr als eine angenäherte Geltung zugeschrieben werden könne. Der konsequenteste Vertreter dieser Anschauung ist der schon erwähnte englische Logiker MILL. Dieser ist so weit gegangen, zu behaupten, die Notwendigkeit der mathematischen Wahrheiten sei eine pure »Illusion, die man nicht anders aufrechterhalten könne, als durch die Annahme, daß sich die mathematischen Wahrheiten auf rein imaginäre Gegenstände beziehen und nur deren Eigenschaften ausdrücken«. »Daß die Halbmesser eines Kreises gleich sind, sei von allen Kreisen wahr, so weit es von irgendeinem wahr sei, allein es sei von keinem einzigen Kreise genau wahr; es sei nur annähernd wahr - so annähernd, daß man in der Praxis keinen Irrtum von Bedeutung begeht, wenn man es als genau wahr annimmt.« 10 Es ist nicht schwer, die Verwechslung zu durchschauen, die dieser Argumentation zugrunde liegt. Allerdings werden wir die kreisförmige Gestalt einem Naturkörper stets nur mit der durch die Ungenauigkeit unserer Beobachtungsmittel bedingten Annäherung zuschreiben können. Auf keine Weise aber folgt aus diesem Umstand, daß der geometrische Satz über den Kreis ungenau ist. Denn dieser Satz spricht nicht von der Gestalt irgendwelcher Naturkörper, sondern vom Kreise. Wenn wir die Speichen eines Rades nachmessen und sie verschieden lang finden, so werden wir hieraus nicht schließen, daß der Satz von der Gleichheit der Halbmesser eines Kreises ungenau ist, sondern wir werden schließen, daß die Gestalt des Rades nicht genau kreisförmig ist. - Aus den Marsbeobachtun10

J. S. MrLL, System der Logik, 2. Buch, 5. Kapitel, § 1.

X. Der geometrische und der physikalische Raum

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gen TYcHo DE BRAHES hatte KEPLER auf die elliptische Figur der Marsbahn geschlossen, und auf diesen Schluß gründet sich sein erstes Gesetz der Planetenbewegung. Als nun die späteren Astronomen bei genauerer Beobachtung entdeckten, daß die Planetenbahnen gewisse Abweichungen von der ihnen von KEPLER zugeschriebenen Form zeigten, da schlossen sie nicht auf die Ungültigkeit der geometrischen Gesetze der Kegelschnitte, sondern sie schlossen auf die Ungenauigkeit des ersten Keplerschen Gesetzes; sie suchten die Abweichungen von diesem Gesetze aus physischen Gründen zu erklären, und sie fanden diese Gründe in der Attraktion, die die verschiedenen Planeten aufeinander ausüben. Nach MILLS Grundsätzen hätten sie ebensogut oder vielleicht besser die geometrische »Hypothese« aufgeben können, nach der die Summe der Brennstrahlen bei der Ellipse konstant ist, sie hätten ein neues geometrisches Gesetz auf suchen müssen, nämlich das Gesetz, nach dem diese Summe variiert. Die Absurdität einer solchen Schlußweise ist in die Augen fallend. Der Fehler, aus dem diese Forderung einer empirischen Kontrolle der Axiome entspringt, liegt schon in der Unterscheidung des geometrischen Raumes unserer reinen Anschauung von dem sogenannten physikalischen Raume, in dem sich die Naturkörper befinden sollen. Die Unterscheidung dieser beiden Räume ist eine der wunderlichsten Phantasien, die ein unkritisches Denken irregeleitet haben. Es liegt schlechterdings kein vernünftiger Grund - weder eine Tatsache der Erfahrung noch ein Gesetz der Mathematik oder der Logik - vor, der eine solche Unterscheidung rechtfertigen könnte. Der Gesichtspunkt, unter dem der Geometer den Raum und die räumlichen Figuren betrachtet, ist freilich ein anderer als der, unter dem der Physiker sie betrachtet. Der eine macht die geometrischen Figuren geradezu zum Gegenstande seiner Forschung, indem er von den physischen Dingen, an denen sie sich gerade finden, völlig abstrahiert. Für den Physiker hingegen sind die geometrischen Figuren nur die Formen derjenigen Gegenstände, auf die sich das Interesse seiner Forschung richtet. Aber dieser Unterschied liegt lediglich in uns und in dem Gesichtspunkte unserer Betrachtungsweise; der Raum selbst bleibt dabei ungeteilt ein und derselbe. Es kann

Kant und die nicht-euklidische Geometrie

nämlich recht wohl etwas, was den Gegenstand einer gewissen Betrachtungsweise ausmacht, in Rücksicht einer anderen Betrachtungsweise die bloße Form eines Gegenstandes sein. So sind die Gegenstände der reinen Anschauung im Ganzen unserer Erkenntnis nur Formen bestimmter, nämlich physikalischer, Gegenstände. Das Dreieck z. B. ist eine rein anschauliche Figur und bildet mit allen aus dem Gesetz seiner Konstruktion folgenden Eigenschaften einen Gegenstand der Geometrie. An Gegenständen der Erfahrung aber ist es nur die Form solcher, welche dreieckig sind. Das Wort »Gegenstand« hat nämlich eine doppelte Bedeutung: in der einen bezeichnet es das in einer Vorstellung unmittelbar Vorgestellte, was, wenn die Vorstellung Anschauung ist, auch etwas Objektives und nicht eine bloße Illusion ist; in der anderen dagegen bezeichnet es das vollständig bestimmte wirkliche Einzelwesen. Es gibt also nicht einen besonderen mathematischen Raum, der als Objekt des Geometers diente, und einen von diesem verschiedenen physikalischen Raum, auf welchen die Eigenschaften des ersteren mehr oder weniger genau zu übertragen eine Sache der Erfahrung wäre. Der Raum des Geometers ist mit dem Raum, in dem sich die Naturkörper befinden, schlechthin identisch, und die geometrischen Abstraktionen haben zugleich eine reelle Bedeutung als Formen wirklicher (oder möglicher) Gegenstände. Das Problem der Übereinstimmung der reinen Geometrie mit der Erfahrung - das Problem der sogenannten »physischen« Geometrie - ist also ein Scheinproblem.

XI Die astronomische Kontrolle des euklidischen Axioms

Hiernach werden wir auch den Vorschlag LoBA TSCHEWSKYs zu beurteilen haben, das Parallelenaxiom auf empirischem Wege zu kontrollieren. Nehmen wir einmal an, wir wollten durch Nachmessung der Winkel eines geradlinigen Dreiecks zwischen den verschiedenen logisch möglichen Geometrien, der Lobatschewskyschen, der euklidischen und der Riemannschen, entscheiden. Bedenken wir zuerst, daß die mathematisch geforderte absolute Genauigkeit

XI. Die astronomische Kontrolle des euklidischen Axioms

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durch empirische Messung unerreichbar ist. Wir würden vielleicht die Winkelsumme um einen gewissen Bruchteil einer Sekunde nahe bei zwei Rechten finden, bald darüber, bald darunter, und würden vielleicht auch durch Berechnung des Mittelwertes der gefundenen Beträge zwei Rechten um so näher kommen, je mehr wir die Beobachtungen häufen. Ob die euklidische Geometrie genau oder nur angenähert gilt, wäre so nicht zu entscheiden. Man hat, mit Rücksicht darauf, daß in allen drei Geometrien die Differenz zwischen der Winkelsumme und zwei Rechten dem Flächeninhalt des Dreiecks porportional ist, vorgeschlagen, durch Messung möglichst großer astronomischer Dreiecke die Frage zu entscheiden. Denn bei diesen könnte sich eine so große Abweichung von zwei Rechten herausstellen, daß wir gewiß sein könnten, daß der festgestellte Defekt nicht auf die Ungenauigkeit unserer Beobachtungsmittel zurückzuführen ist. Ist es also zwar unmöglich, die Gültigkeit des euklidischen Axioms a posteriori zu erweisen, so ließe sich doch vielleicht seine Ungültigkeit a posteriori erweisen. Sehen wir ab von der Schwierigkeit, die Parallaxe eines Sterns unabhängig von dem euklidischen Axiom zu bestimmen; nehmen wir etwa an, wir hätten, ohne Anwendung dieses Axioms, das durch den Durchmesser der Erdbahn und den Sirius gebildete Dreieck ausgemessen und hätten einen Defekt von drei Sekunden gefunden, während wir aus anderen Gründen wissen, daß die durch die Ungenauigkeit unserer Beobachtungsmittel bedingte Fehlergrenze 0,6 Sekunden nicht übersteigen kann. - Welcher Schluß wäre aus diesem Beobachtungsergebnis zu ziehen? Was haben wir denn eigentlich gemessen? Die Winkel eines geradlinigen Dreiecks? Offenbar nicht. Denn die den Sirius mit der Erde verbindende Gerade ist uns empirisch gar nicht gegeben, sondern nur der vom Sirius zu uns gelangende Lichtstrahl, von dem wir annehmen, daß er geradlinige Form hat. Würden wir also aus unseren Messungen schließen, daß die Winkelsumme des geradlinigen Dreiecks mehr als zwei Rechte beträgt, gemäß der Riemannschen Geometrie, entgegen der euklidischen? Würden wir nicht vielmehr umgekehrt schließen - oder doch jedenfalls logisch ebensogut schließen können -, daß unsere Voraus-

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Kant und die nicht-euklidische Geometrie

setzung der Geradlinigkeit der Lichtstrahlen unzutreffend war und daß wir somit gar kein geradliniges Dreieck gemessen haben? Also weder die Gültigkeit noch die Ungültigkeit der euklidischen Geometrie läßt sich auf empirischem Wege nachweisen. Die Erfahrung kann die Axiome weder bestätigen noch widerlegen.

XII Die aus der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie auf den Ursprung der Axiome zu ziehenden Schlüsse

Was kann nach alledem aus der Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie für die Erkenntnistheorie gefolgert werden? Nicht mehr und nicht weniger als der nicht-logische Ursprung der Axiome. Daraus, daß der euklidische Raum nur einen besonderen Fall einer dreifach ausgedehnten Mannigfaltigkeit bildet, geht nur hervor, daß, wie RIEMANN es ausdrückt, »die Sätze der Geometrie sich nicht aus allgemeinen Größenbegriffen ableiten lassen«. Mit anderen Worten: die Möglichkeit der nicht-euklidischen Geometrie ist ein unwidersprechlicher Beweis des synthetischen Charakters der geometrischen Wahrheiten. Es liegt auf der Hand, daß aus dieser Tatsache ein Schluß gegen die Apriorität der Axiome schlechterdings unmöglich ist. Denn die logische Widerspruchslosigkeit des Gegenteils findet bei allen synthetischen Sätzen als solchen statt, sie mögen nun a priori oder a posteriori gewiß sein. Es ist also ausgeschlossen, daß aus den Untersuchungen der nicht-euklidischen Systeme jemals etwas für die Beantwortung der Aprioritätsfrage geleistet wird. Jene axiomatischen Untersuchungen haben mit dieser erkenntnistheoretischen Frage nicht das Geringste zu tun und sind von der Art ihrer Beantwortung gänzlich unabhängig. Die diese Frage betreffende Behauptung KANTS wird daher durch die nicht-euklidische Geometrie gar nicht berührt. So weit sich also überhaupt die Angelegenheiten der nicht-euklidischen Geometrie mit denen der Kantischen Lehre berühren, nämlich in bezug auf KANTS Entdeckung des nicht-logischen Ursprungs

Anhang

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der Axiome, so können wir behaupten, daß die neuere Mathematik auf einem unabhängigen Wege eine glänzende Bestätigung der Kantischen Entdeckung geliefert hat.

Anhang'; Eine Diskussionsbemerkung Historisch ist zu dem Vortrag zunächst zu bemerken, daß KANTS Argument von den symmetrischen Gegenständen nicht die Grundlage seiner von GAuss beanstandeten Ansichten gewesen ist. KANT begründet mit diesem Argument lediglich die Anschaulichkeit der geometrischen Erkenntnis, d. h. ihren nicht-logischen Ursprung, also denjenigen Bestandteil seiner Lehre, mit dem GAUSS einverstanden ist. Zweitens ist historisch zu erinnern, daß es sich in der Vorgeschichte der nicht-euklidischen Geometrie nicht um die Frage der Richtigkeit, sondern um die der Beweisbarkeit des Parallelenaxioms handelt, worauf bereits LAMBERT ausdrücklich aufmerksam macht. Das fragliche Argument von GAuss läuft auf den folgenden Schluß hinaus: Das Parallelenaxiom ist aus den anderen Axiomen logisch nicht herzuleiten; folglich ist es empirischen Ursprungs. Dieser Schluß hat einen Obersatz, der von GAUSS stillschweigend vorausgesetzt wird, von KANT aber gerade in Frage gezogen worden ist, nämlich die Annahme, daß alle nicht auf Logik reduzierbare Erkenntnis empirischen Ursprungs ist. Das Argument ist also eine petitio principii. Was aber GAuss' Berufung auf den nicht-logischen Ursprung des ,,. Als Anhang sei hier eine Diskussionsbemerkung angefügt, die NELSON auf dem III. Internationalen Kongreß für Philosophie in Heidelberg (1908) zum gleichen Thema gemacht hat. Er antwortete damit auf einen Vortrag von P. MANSION: »GAuss contre KANT sur la geometrie non euclidienne.« Erschienen im Kongreßbericht, herausgegeben von T. ELSENHANS, Heidelberg 1909, S. 448.

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Kant und die nicht-euklidische Geometrie

Parallelenaxioms betrifft, so ist hier zwischen KANT und GAuss kein Streit. Denn gerade KANT hat als erster mit voller Schärfe den nichtlogischen (synthetischen) Charakter nicht nur des Parallelenaxioms, sondern aller geometrischen Axiome erkannt. Herr MANSION behauptet ferner, daß KANTS Ansicht über die arithmetischen Urteile durch den schon von LEIBNIZ für derartige Urteile geführten Beweis hinfällig gemacht sei. Der Leibnizsche Beweis genügt aber keineswegs unseren heutigen Anforderungen an Strenge. Er setzt stillschweigend und unbemerkt gewisse Axiome voraus, deren Zurückführung auf formal-logische Grundsätze auch heute noch nicht einwandfrei gelungen ist, wie die neueren Arbeiten, besonders ZERMELOs, deutlich zeigen.

Bemerkungen zu den Paradoxien von Russell und Burali-Forti

Die folgende Abhandlung ist erarbeitet worden in Diskussionen der Jakob-Friedrich-Fries-Gesellschaft, die NELSON mit Freunden und Schülern zusammen gegründet hatte. Als Verfasser zeichnen KuRT GRELLING und LEONARD NELSON gemeinsam; Anhang I ist von HEINRICH GoESCH, Anhang n von GERHARD HESSENBERG beigetragen, Anhang ur bringt eine Schlußbemerkung der beiden Verfasser, KURT GRELLING und LEONARD NELSON. Die Arbeit erschien in den Abhandlungen der Friesschen Schule, neue Folge, herausgegeben von GERHARD HESSENBERG, KARL KAISER und LEONARD NELSON, zweiter Band, drittes Heft, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1908, S. 301-334, und in dem Sammelband: LEONARD NELSON, Beiträge zur Philosophie der Logik und Mathematik, Verlag öffentliches Leben, Frankfurt a. M. 1959, S. 56-87. Einige kommentierende Bemerkungen, die PAUL BERNAYS diesem Neudruck als Anhang IV angefügt hat, sind in dem hier folgenden Abdruck an den Textstellen, auf die sie sich jeweils beziehen, als redaktionelle, durch einen * gekennzeichnete Fußnoten wiedergegeben. Der Ausgabe im Sammelband von 1959 hat PAUL BERNAYS das folgende »Geleitwort« vorangestellt: Die nachfolgende Abhandlung erschien in der Anfangszeit der Diskussionen über die mengentheoretischen Paradoxien und bedeutete einen markanten Beitrag zu diesem Gegenstand. Seitdem ist das Interesse an diesen Paradoxien dauernd wach geblieben. Die Untersuchungen über die Grundlagen der Mathematik haben immer wieder und auf mannigfache Weise an diese Paradoxien angeknüpft. Einerseits suchte man auf verschiedene Arten in der Grundlegung der Mathematik dem in den Paradoxien sich zeigenden Sachverhalt gerechtzuwerden. Andererseits hat man die Schlußweisen, auf denen die Paradoxien beruhen, zur erweiterten Anwendung gebracht, und insbesondere hat auf diesem Wege KURT GÖDEL ein sehr weittragendes Ergebnis gewonnen. Aber auch die philosophische Erörterung der Paradoxien ist weitergeführt worden - ohne daß übrigens eine Einhelligkeit der Ansichten erreicht worden wäre. Allenthalben wird dabei auch speziell auf die Paradoxie des Begriffes »heterologisch« Bezug genommen, welche in der vor-

97 liegenden Abhandlung zuerst aufgestellt wurde. Eine besonders interessante Diskussion ist diejenige von PAUL FrNSLER und HANS LrPPS »über die Lösung von Paradoxien« (Phil. Anzeiger rr, Jg. 1927). GRELLING und NELSON machen ausdrücklich nicht den Anspruch, eine Lösung der Paradoxien zu geben. Wie schwierig und einschneidend die hier vorliegende Problematik ist, kommt besonders nachdrücklich in ALFRED TARSKIS Untersuchung »Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Sprachen« (Studia Philosophica 1 [1935], insbesondere§ 1) zur Geltung. Selbst für den mathematischen Gebrauch gelingt die Behebung der Widersprüche nur dadurch, daß wir auf diejenige Form der systematischen Anlage verzichten, zu der man an sich wohl am meisten tendieren würde - den »Idealkalkül«, nach der Bezeichnung von HEINRICH SCHOLZ. Und bezüglich der Art, in welcher das am besten geschieht, findet noch bis heute ein grundlagentheoretischer Wettbewerb statt. So ist es begreiflich, daß auch gegenwärtig das Thema der Paradoxien im Blickfeld des philosophischen wie des mathematisch-grundlagentheoretischen Interesses steht. Das Neuerscheinen der Abhandlung von GRELLING und NELSON wird von dem wissenschaftlich Orientierten um der historischen Anknüpfung willen begrüßt werden. Für den Nichtkenner bildet die Abhandlung auch heute noch eine sehr gute Einführung in den Gegenstand. Paul Bernays

lnhalt':- 1

§ 1 Einleitung

(303, 59)

I. Formulierung der Paradoxien § 2 Die Russellschen und Burali-Fortischen Paradoxien (303, 59) II. Allgemeine Form des Paradoxons § 3 Aufstellung der allgemeinen Formel (305, 61) § 4 Zurückführung der in § 2 dargestellten Paradoxien auf die Formel. Erweiterung des Bereichs der Paradoxien vermittelst der Formel (306, 62) III. Die Voraussetzungen des Paradoxons § 5 Zergliederung der Voraussetzungen der Formel (309, 64)

§ 6

§ 7 § 8 § 9

,,t

IV. Diskussion der Lösungsmöglichkeiten Zurückweisung einer Einschränkung der »allgemeinen« Voraussetzungen (312, 66) Prüfung der einzelnen Paradoxien an der Hand der Formel (312, 67) »Auflösung« und »Berichtigung«. FREGES Lösungsversuch. Kritik dieses Versuchs (314, 68) RussELLS »Nicht-Mengen-Theorie«. Nachweis der Unzulänglichkeit dieser Theorie (317, 71)

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Von den in Klammern angegebenen Seitenzahlen entspricht die erste der Paginierung im Abhandlungsheft, die zweite der im Sammelband »Beiträge zur Philosophie der Logik und Mathematik«.

Inhalt

§ 10 Übertragung dieses Nachweises auf die von Po1NCARE vorgeschlagene Lösung (318, 72) § 11 Kritik des Vorschlags, nur solche Sätze zuzulassen, deren Sphäre durch Aufzählung ihrer Elemente erschöpft werden kann (319, 72) § 12 Kritik eines Versuchs, die in § 9 bis 11 diskutierten Theorien von dem aufgewiesenen Widerspruch zu befreien (319, 73)

V. Besprechung eines Berichtigungsversuchs § 13 Ein Versuch, an Stelle der paradoxen Begriffsbildungen Definitionen einzuführen, die im übrigen denselben Umfang haben und nur die paradoxen Gegenstände ausschließen. Nachweis, daß dieses Ausschließungsverfahren zu einer neuen Paradoxie Anlaß gibt (320, 73) § 14 Beweis der Unmöglichkeit, diese Paradoxie durch fortgesetzte Anwendung des Ausschließungsverfahrens zu beseitigen (321, 74) § 15 GoESCHS Vorschlag, die gesamte durch das angegebene Ausschließungsverfahren definierte Reihe paradoxer Elemente auszuschließen. Erörterung der Bedingungen der Anwendbarkeit dieses Berichtigungsversuchs (322, 75) Anhang I Bemerkungen zu Kapitel IV der vorstehenden Abhandlung. Von H. GoESCH (324, 78) Anhang II Bemerkungen zur vorstehenden Abhandlung. Von G. HESSENBERG (328, 81) Anhang III über zwei das Paradoxon betreffende Abhandlungen des Herrn E. ZERMELO. Von K. GRELLINGund L. NELSON (331, 83)

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§ 1 In seinen »Principles of Mathematics« ist Herr BERTRAND RussELL bekanntlich auf einen die Grundlagen der Mengenlehre betreffenden Widerspruch geführt worden, der bisher noch immer seiner Auflösung harrt. Ein analoger, ebenfalls unaufgelöster Widerspruch liegt in der von Herrn BuRALI-FORTI stammenden Paradoxie vor. Wir beabsichtigen hier nicht, die zahlreich vorliegenden Lösungsversuche um einen neuen zu vermehren, sondern lediglich einige Ergebnisse der mündlichen Diskussion über diesen Gegenstand mitzuteilen, die sowohl für sich selbst einiges Interesse bieten dürften, als auch dazu dienen können, vorliegende Scheinlösungen zu beseitigen und zukünftigen vorzubeugen. Wir werden dabei einige briefliche Mitteilungen des Herrn HEINRICH GoESCH heranziehen, die uns dieser für diesen Zweck gütigst zur Verfügung gestellt hat.

I Formulierung der Paradoxien § 2 Die speziell durch den Namen RusSELLS bekannt gewordene Paradoxie ist diese. Jede Menge enthält sich entweder selbst als Element oder nicht. Folglich gilt dies auch für die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten. Angenommen nun, diese Menge enthalte sich selbst, so ist sie ihrer Definition zufolge eine sich selbst nicht enthaltende Menge, was der Annahme widerspricht. Angenommen aber, sie enthalte sich nicht selbst, wäre also nicht eine der Mengen, die sich nicht selbst enthalten, so wäre sie eine Menge, die sich selbst enthält, wiederum entgegen der Annahme. - Wir werden diese Paradoxie im folgenden als Pi bezeichnen. Ein anderes der Mengenlehre angehöriges Paradoxon ist von

I. Formulierung der Paradoxien

IOI

RussELL auf Pi zurückgeführt worden. 1 Es ist dieses. Nach einem bekannten Theorem 2 ist die Menge M aller Teilmengen einer Menge M von höherer Mächtigkeit als M. Dies kann für die Menge D aller Dinge nicht gut zutreffen, da es eine Menge von höherer Mächtigkeit als D nicht geben kann. - Diese Paradoxie möge mit P2 bezeichnet werden. Ein drittes mengentheoretisches Paradoxon ist von BuRALI-FORTI veröffentlicht worden. Jede Menge von Ordnungszahlen definiert eine nicht in ihr enthaltene Ordnungszahl. 3 Dies müßte auch für die Menge Waller Ordnungszahlen gelten, was der Definition von W widerspricht. Dieses Paradoxon läßt sich in anderer Form auch so darstellen. W ist wohlgeordnet. 4 Der Ordnungstypus~ von W wäre daher ein Element von W. Der Abschnitt dieses Elementes hätte den Ordnungstypus t 4 Das heißt, W wäre einem seiner Abschnitte ähnlich, entgegen dem Satze, daß keine wohlgeordnete Menge einem ihrer Abschnitte ähnlich ist. 5 Daß diese beiden Paradoxien nur zwei verschiedene Formen eines und desselben paradoxen Tatbestandes sind - wir wollen ihn P3 nennen -, erkennt man daraus, daß die durch die Menge W definierte nicht in ihr enthaltene Ordnungszahl µ identisch ist mit dem Ordnungstypus ~ von W. µ ist nämlich definiert als diejenige Zahl, die auf W unmittelbar folgt. W ist also die Menge aller Ordnungszahlen, die µ vorangehen; denn jedes Element von W geht ~t voran, nach der Definition von µ; jede µ vorangehende Ordnungszahl ist aber auch in W enthalten, nach der Definition von W. Also istµ identisch mit dem Ordnungstypus~ von W. 6 Daß Paradoxien dieser Art aber auch außerhalb der Mengenlehre vorkommen können, ist bereits von RusSELL bemerkt worden. Er gibt dafür folgendes Beispiel. Jeder Begriff kommt sich entwe1

Man sehe HESSENBERG, Grundbegriffe der Mengenlehre; in den Abhandlungen der Friesschen Schule, Band 1, S. 628 ff. 2 Vgl. HESSENBERG, s. 526 f. 3 HESSENBERG, § 40, Satz XXXIII. 4 HESSENBERG, a. a. 0., Satz XXXII. 5 HESSENBERG, § 36, Satz XXIII. 6 HESSENBERG, § 40, Satz XXX.

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Zu den Paradoxien von Russell und Burali-Forti

der selbst als Merkmal zu oder nicht. Die ersteren mögen »prädikabel« genannt werden, die zweiten »imprädikabel«. 7 Der Begriff »imprädikabel« ist nun seinerseits entweder prädikabel oder imprädikabel. Angenommen, er sei prädikabel, so ist er, seiner Definition zufolge, imprädikabel. Angenommen, er sei imprädikabel, komme sich also nicht als Merkmal zu, so wäre er nicht imprädikabel. Beide Annahmen führen also auf einen Widerspruch. - Diese Paradoxie möge mit P4 bezeichnet werden.

II Allgemeine Form des Paradoxons

§ 3 Es ist uns nun gelungen, eine allgemeine Formel zu finden, welche Pi, Pa und P4 als Spezialfälle einschließt und mit deren Hilfe sich der Bereich der Paradoxie wesentlich erweitern läßt. Sei M die Menge aller Mengen, M' eine ihrer Teilmengen und

ein Element gibt, das keinem Elemente in M' zugeordnet ist, so gehört dieses Element jedenfalls zu Y, und unser Paradoxon würde durch seine Existenz in keiner Weise berührt. (2) hingegen ist notwendig; denn wenn (2) nicht erfüllt wäre, könnten wir nicht schließen, daß cp(Y) existiert. Wenn (3) nicht gilt, so kann es vorkommen, daß cp ( M) = cp ( M') zwar Element von M, aber nicht von M' ist. cp(M) wäre dann nicht eindeutig als Element von X oder Y bestimmt. Man könnte nun, 12

Es sei bemerkt, daß der Satz der Identität in kategorischer Form (»Jedes a ist a.-) von (1) und (n) unabhängig ist.

III. Die Voraussetzungen des Paradoxons

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um die Vollständigkeit der Zweiteilung von

der Raum, überhaupt nicht mehr ein einfaches Faktum ist.« (238 f.) Die von GAuss gestellte Frage »ist dem Weltgefühl nach antik, hätte also von einem Denker unserer Sphäre nicht gestellt werden sollen. Sie verschließt den Einblick in den wahren Tiefsinn dieses geistigen Phänomens.« (246.) Hier entsteht wieder die Frage: Woher weiß dies SPENGLER? Den wahren Tiefsinn erkennt er an der Übereinstimmung mit dem Zeitgeist, den Zeitgeist aber erkennt er an der Übereinstimmung mit dem wahren Tiefsinn. Denn wie will er beweisen, daß nicht vielleicht gerade die Gaussche Denkart die »unserer Sphäre« ist, wenn nicht daraus, daß sie »den Einblick in den wahren Tiefsinn« verschließt? - Darüber hinaus aber muß man fragen: Warum hätte die Frage von GAuss »nicht gestellt werden sollen«? Woher dieses Werturteil? Welcher Nachteil ist für GAuss damit verbunden, daß seine Denkart dem Weltgefühl nach antik ist? Oder welcher Nachteil für den Zeitgeist damit, einen berühmten Namen weniger zu seinen Repräsentanten zu zählen? Man sieht, mit wie gutem Grunde GAuss »über seine Entdeckung bis fast an sein Lebensende geschwiegen« hat, »weil er >das Geschrei der Böotier< fürchtete.« (238.) Da war KANT unvorsichtiger. Bereits in seiner ersten Schrift (dreißig Jahre vor GAuss' Geburt) spricht er von der Möglichkeit, Geometrien beliebig vieler Dimensionen zu entwickeln; elf Jahre vor der »Kritik der reinen Vernunft« erörtert er die Frage der experimentellen Nachprüfung der geometrischen Axiome, und in der »Kritik« führt er den Nachweis, daß die Aufhebung dieser Axiome niemals zu einem logischen Widerspruch führen kann. Zum Dank schreien noch heute die Böotier über KANTS »der Antike nachgesprochene« »allzu populäre Ansicht«. (235.) Danach »ging KANT, der für einen abendländischen Denker in unverzeihlicher

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Spuk

Weise vor der ,Mathematik der Femen< auswich und sich stets, ganz ,antik,, auf winzige Figuren berief, an denen gerade ihrer Kleinheit wegen das spezifisch abendländische, das infinitesimale Raumproblem gar nicht in Erscheinung treten konnte, von einer naiven Größenvergleichung aus«. (98 f.) »So verdarb er sich das Raumproblem durch seine Beziehung auf eine Allerweltsgeometrie. Der Zufall hat es gewollt, daß wenige Jahre nach der Vollendung seines Hauptwerkes GAuss die erste der nicht-euklidischen Geometrien entdeckte.« »KANT ... hätte zwischen Formen der Anschauung und des Verstandes gar nicht scheiden dürfen, denn sein Begriff Raum umfaßt bereits beides.« »Wenn die Geometrie statt ,des Raumes, mehrfach unendliche Zahlenmannigfaltigkeiten zugrunde legt, unter denen die dreidimensionale ein an sich nicht ausgezeichneter Einzelfall ist, und innerhalb dieser höchst transzendenten Gruppen funktionale Gebilde hinsichtlich ihrer Struktur untersucht, so hat jede überhaupt mögliche Art von sinnlicher Anschauung aufgehört, sich formal mit mathematischen Tatsachen im Gebiete solcher Extensionen zu berühren .... Die Mathematik ist von der Form des Angeschauten ganz unabhängig.« »Es war ein schwerer und für einen Zeitgenossen EuLERs und LAGRANGES unverzeihlicher Irrtum, die antike Schulgeometrie, denn an sie hat KANT immer gedacht, in den Formen der erlebten Natur abgebildet finden zu wollen.« »Der echte Theoretiker, wie eben KANT, weiß niemals, was er wirklich gesehen hat.« (235 ff.) »KANT ist als Mathematiker ohne Bedeutung.« »Die Kritik der reinen Vernunft verrät, daß ihm nur die Elementarmathematik wirklich lebendig ist, zum großen Schaden seiner Raum- und Zeittheorie, die eine Prüfung durch die schwersten Fragen der Infinitesimalrechnung erfordert hätte.« (512.) »Die Vielzahl der in sich widerspruchslosen Geometrien ... widerspricht sicherlich gewissen bisher nie angezweifelten Sätzen der Erkenntnistheorie, vor allem derjenigen KANTS«. (612.) Nehmen wir an, diese Darstellung entspräche den geschichtlichen Tatsachen ebenso vollkommen, wie sie ihnen widerspricht, so bliebe doch auch hier die Frage: Woher das Urteil über KANTS »allzu populäre Ansicht«, seinen »schweren und unverzeihlichen Irrtum«, sein »unverzeihliches« Ausweichen vor der Mathematik der Femen?

6. Abschnitt. »Es gibt keine Mathematik«

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Daß das Festhalten an der antiken Schulgeometrie ein Irrtum ist, würde ja voraussetzen, daß die abendländische Mathematik der Fernen objektiv wahr ist. Sie soll ja aber nur für den abendländischen Geist wahr sein. Wenn SPENGLER jedoch nur sagen wollte, daß das Ausweichen vor der Mathematik der Fernen »für einen abendländischen Denker unverzeihlich« ist, so wäre erst zu beweisen gewesen, daß KANT ein abendländischer Denker war; eine Annahme, gegen die doch gerade sein Ausweichen vor der Mathematik der Fernen zu sprechen scheint. Im übrigen aber ist nicht einmal einzusehen, warum, wenn es für einen abendländischen Denker überhaupt möglich ist, der abendländischen Denkart auszuweichen, dies für ihn nicht auch verzeihlich sein soll. Es wäre allenfalls zu verstehen, daß die antike Denkart für einen Denker unverzeihlich wäre, der auf eine abendländische Denkart Anspruch macht. Dieser Anspruch ist ja aber von KANT niemals erhoben worden.

16. Kapitel Das Geheimnis der Raumwerdung

Den letzten und stärksten Stoß erfährt die vermeintliche Allgemeingültigkeit der Geometrie durch das Unternehmen SPENGLERS, die Identität und Konstanz des Raumes selbst als ein »Vorurteil« zu erweisen und die Lehre zu begründen, »der Raum« sei ein »Erlebnis des einzelnen wachen Menschen, nicht mehr.« (233, 239.) Wir kennen den Weg, den er dabei einschlägt: er besteht in der Ignorierung des Unterschieds zwischen dem Raume und der Vorstellung des Raumes. So begreifen wir ohne weiteres ein Ergebnis wie das, »daß der Raum, wie ihn KANT mit unbedingter Gewißheit um sich sah, als er über seine Theorie nachdachte, für seine Vorfahren zur Karolingerzeit auch nicht annähernd in dieser exakten Gestalt vorhanden« (235) und »für den antiken Menschen« überhaupt »nicht vorhanden« (117) war. Ist er doch »allein aus unserm Seelentum als dessen Abbild und Ausdruck entstanden und allein für unsere Art des wachen Daseins wirklich, notwendig und natürlich«. (118.) »Raum ist ein Wort, das ... anscheinend der ganzen Menschheit an-

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Spuk

gehört und in Wahrheit nur innerhalb der abendländischen Kultur die Geltung hat, die wir ihm mit innerer Notwendigkeit zuschreiben.« (421.) Er ist, wie wir wissen, »lediglich« ein »Barockphänomen« »von vergänglicher Bedeutung, einige Jahrhunderte hindurch und nur für den westeuropäischen Menschen >wahrFremde< anzuwenden«. »Das Aussprechen des richtigen Namens (in der Physik des richtigen Begriffes) ist eine Beschwörung. So entstehen Gottheiten und wissenschaftliche Grundbegriffe zuerst als Namen, die man anruft und an die sich eine sinnlich immer bestimmtere Vorstellung knüpft. Aus dem numen wird ein deus, aus dem Begriff eine Theorie.« »Der Namenzauber ... hebt nicht nur heraus, grenzt aus der Fülle bewegter Eindrücke ab, er macht auch das >Fremde, der Gestaltungskraft des eigenen Ursymbols erreichbar.« (557 f.) »Es ist ein großes Vorurteil, jemals an Stelle >anthropomorpher, Vorstellungen >die Wahrheit, setzen zu können. Andere als anthropomorphe Vorstellungen gibt es überhaupt nicht.« (533.) 88 Wir müssen bedauern, daß SPENGLER es unterlassen hat, diese Theorie durch ihre Durchführung auch nur an einem einzigen physikalischen Gesetz zu erproben.

Jede Atomlehre ist ein Mythus, die kinetische Gastheorie ist es so gut wie die Edda.« (584.)

88 »

7. Abschnitt. »Es gibt keine Physik«

5II

4. Kapitel

»Alles Exakte an sich ist sinnlos«

SPENGLER geht sogar noch weiter, indem er der Formel, in der der Physiker sein Gesetz ausspricht, jede Bedeutung überhaupt abstreitet. Einzig den bildlichen Vorstellungen, die sich mit einer solchen Formel verbinden lassen, will er eine gewisse Bedeutung zugestehen, wenn auch nur die physiognomische Bedeutung eines Symbols für das in ihnen zum Ausdruck kommende Seelentum. (528.) »Alles Exakte an sich ist sinnlos.« (529.) Diese Entdeckung wird folgendermaßen erläutert: »Der Ausdrucks = fgt 2 bedeutet gar nichts, solange ich bei den Buchstaben nicht an bestimmte Worte und deren Bildsinn denke. Kleide ich die toten Zeichen aber in Worte, gebe ich ihnen Fleisch, Körper, Leben, eine sinnliche Weltbedeutung überhaupt, so habe ich die Schranken einer bloßen Ordnung überschritten.« Erst das »Bild«, die »Vision ... macht aus einer mathematischen Formel ein wirkliches Naturgesetz«. (529.) 89 Für SPENGLER bedeutet der Ausdruck also gar nichts, solange er dabei nicht an bestimmte Worte und deren Bildsinn denkt. Es geht ihm also gerade umgekehrt wie dem Physiker, dem der Ausdruck nur so lange etwas bedeutet, als er nicht an Worte denkt, sondern an das, was die Worte gemäß ihrem Sinn bedeuten, wobei dieser Sinn für ihn kein bildlicher ist, sondern ein begrifflich bestimmter. Das Zeichen - Buchstabe sowohl wie Wort - hat für ihn einen Sinn überhaupt nur, insofern ihm ein Begriff eindeutig zugeordnet ist. Also wirklich gerade das nach SPENGLER Sinnlose und sogar nur dieses hat für den Physiker einen Sinn. Wenn SPENGLER andererseits sagt, daß durch das Denken an Worte und deren Bildsinn die Schranken einer bloßen Ordnung überschritten werden, so müssen wir ihn fragen, ob denn eine bloße 89

»Zahlen, Formeln, Gesetze bedeuten nichts, sind nichts. Sie müssen einen Leib haben, den ihnen ein lebendes Menschentum verleiht, indem es in ihnen ... sich zum Ausdruck bringt .... Und deshalb gibt es keine absolute Physik, nur einzelne, auftauchende und schwindende Physiken innerhalb einzelner Kulturen.« (533.)

51.2.

Spuk

Ordnung »gar nichts« ist. Der Physiker erhebt für die Bedeutung seiner Formel in der Tat nicht den Anspruch, daß sie die Schranken einer bloßen Ordnung überschreitet. So bedeutet ihm die Formel s = ¾gt 2 weder Worte noch deren Bildsinn, sondern eine bloße Ordnung im Verhältnis des von einem frei fallenden Körper zurückgelegten Raumes zu seiner Fallzeit. Dem Physiker bedeutet die bloße Ordnung so viel, daß er sie allem Chaos von Worten, Bildern und Geisterbeschwörungen vorzieht. Er ist zufrieden, wenn er die eine Größe aus der anderen berechnen, von der einen auf die andere schließen kann. Er ist daher insofern bescheiden, als er gern alle weiteren Worte, sowie alle bildliche oder symbolische Deutung seiner Formel den zu höherer Einsicht Berufenen überläßt. Er ist aber insofern freilich um so unbescheidener, als er sich keinen Reichtum an Worten als Ersatz für deren mangelnden Sinn bieten läßt.

5. Kapitel Der Mißgriff der Physik

SPENGLER seinerseits sieht gerade hierin den entscheidenden »Mißgriff« der Physik. (542.) Wir kennen seine Ansicht, wonach Begriffe nur zur Anwendung auf Starres und Totes taugen, auf das wirkliche Geschehen, das »Werden« aber unanwendbar sind. Daher der unvermeidliche Widerspruch im Grundproblem der Physik und insbesondere der Mechanik. Daher »die ewige Verlegenheit aller Physik als des Ausdrucks einer Seele. Alle Physik ist Behandlung des Bewegungsproblems, in dem das Problem des Lebens selbst liegt, nicht als ob es eines Tages lösbar wäre, sondern obwohl es unlösbar ist.« »Das Erlebte an sich, losgelöst vom lebendigen Akt des Betrachters, Objekt geworden, tot, anorganisch, starr - das ist jetzt die Natur als Mechanismus, das heißt als etwas mathematisch zu Erschöpfendes.« »Das vollkommene System der mechanischen Naturanschauung ist ... reine Ausgedehntheit, logisch und zahlenmäßig geordnet, nichts Lebendiges, sondern etwas Gewordenes und Totes. Dem widerspricht aber die Idee der Bewegung. Sie stammt unmit-

7. Abschnitt. »Es gibt keine Physik«

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telbar aus dem Lebensgefühl, sie ist Zeit, Richtung, Schicksal, und so dringt sie als Fremdkörper in die Einheit eines mechanischen Systems, dessen zeitlos starre Folgerichtigkeit sie zerstört. Die Bewegung ... ist ... kein physikalischer Begriff, der jemals erschöpfend definiert werden könnte.« »Für den, der Natur ... erkennt, ... ist sie System und nichts weiter und folglich Bewegung in ihr ein Widerspruch.« (543 f.) SPENGLER scheint also wirklich zu meinen, daß, weil »die Formenwelt der Physik genau so weit reicht wie die verwandten der Zahlen und Begriffe« (542), die Bewegung eine Zahl oder ein Begriff sein müßte, wenn sie der physikalischen Erforschung zugänglich sein sollte. Und er schließt folgerichtig, daß das »Bewegungsproblem« für die Physik unlösbar ist. Nun sind aber Begriffe gar nicht die Gegenstände der physikalischen Forschung, sondern nur ein Mittel zur Abgrenzung ihrer Gegenstände. Und diese »Grenzsetzung«, die der Begriff vollzieht, gilt keineswegs nur in der »Sphäre des Gewordenen« (529) im Sinne des Unveränderlichen oder Starren, sondern findet ihre physikalische Anwendung gerade auf die Sphäre des Werdens und so auch der Bewegung. Wie ja auch die physikalische »Notwendigkeit« - nach SPENGLER eine solche »im Gewordnen« und dadurch von der historischen oder schicksalhaften Notwendigkeit des Werdens unterschieden - nach dem früher Erörterten in Wahrheit nur im Bereich des Werdens gilt. Daß SPENGLER dies bestreitet, liegt gerade an seiner Verwechslung von Begriffen und Gegenständen. Denn, wie uns aus dem Früheren genugsam bekannt ist, tritt in seiner mystischen Logik an die Stelle der Unterordnung einzelner Gegenstände unter einen allgemeinen Begriff ihre Einordnung in einen allgemeinen Gegenstand: den wesenhaften Typus. So überträgt sich unvermeidlich die Starrheit des Begriffs auf die an ihm teilhabenden Gegenstände, und die Aufgabe der begrifflichen Bestimmung des Veränderlichen und Werdenden erscheint als widerspruchsvoll und somit unlösbar. Diese Verwechslung von Begriff und Gegenstand läßt ihn in den begrifflichen Trennungen eine »Zersetzung der Einheit des Handgreiflichen« (553) sehen, d. h. eine Aufhebung der tatsächlichen

514

Spuk

Einheit des anschaulich Gegebenen. Das »Abgrenzen, Einfassen, Einteilen«, das der Begriff vollzieht, führt schließlich »auf ,Atome