Die Krise der Organspende: Anspruch, Analyse und Kritik aktueller Aufklärungsbemühungen im Kontext der postmortalen Organspende in Deutschland [1 ed.] 9783428549283, 9783428149285

Seit November 2012 gilt in Deutschland die sogenannte »Entscheidungslösung«. Sie verfolgt das Ziel, die Zahl der Organsp

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German Pages 224 Year 2018

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Die Krise der Organspende: Anspruch, Analyse und Kritik aktueller Aufklärungsbemühungen im Kontext der postmortalen Organspende in Deutschland [1 ed.]
 9783428549283, 9783428149285

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Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft Band 30

Die Krise der Organspende Anspruch, Analyse und Kritik aktueller Aufklärungsbemühungen im Kontext der postmortalen Organspende in Deutschland

Herausgegeben von Andrea M. Esser, Antje Kahl, Daniel Kersting, Christoph G. W. Schäfer und Tina Weber

Duncker & Humblot · Berlin

ESSER/KAHL/KERSTING/SCHÄFER/WEBER (Hrsg.)

Die Krise der Organspende

Sozialwissenschaftliche Abhandlungen der Görres-Gesellschaft in Verbindung mit Martin Albrow, Cardiff · Hans Bertram, Berlin · Karl Martin Bolte, München · Walter L. Bühl, München · Lars Clausen, Kiel · Roland Eckert, Trier · Friedrich Fürstenberg, Bonn · Dieter Giesen, Berlin · Alois Hahn, Trier · Horst-Jürgen Helle, München · Jan Siebert van Hessen, Bilthoven · Robert Hettlage, Regensburg · Ronald Hitzler, Dortmund · Wolfgang Jäger, Freiburg i. Br. · Werner Kaltefleiter †, Kiel · Franz-Xaver Kaufmann, Bielefeld · Henrik Kreutz, Nürnberg · Heinz Laufer †, München · Wolfgang Lipp, Würzburg · Nikolaus Lobkowicz, Eichstätt-Ingolstadt · Thomas Luckmann, Konstanz · Kurt Lüscher, Konstanz · Rainer Mackensen, Berlin · Georg Mantzaridis, Thessaloniki · Norbert Martin, Koblenz · Julius Morel †, Innsbruck · Peter Paul Müller-Schmid, Freiburg i. Ü. · Elisabeth Noelle, Mainz · Horst Reimann †, Augsburg · Walter Rüegg, Bern · Johannes Schasching, Rom · Erwin K. Scheuch †, Köln · Gerhard Schmidtchen, Zürich · Helmut Schoeck †, Mainz · Dieter Schwab, Regensburg · Hans-Peter Schwarz, Bonn · Mario Signore, Lecce · HansGeorg Soeffner, Konstanz · Josef Solař, Brno · Franz Stimmer, Lüneburg · Friedrich H. Tenbruck †, Tübingen · Paul Trappe, Basel · Laszlo Vaskovics, Bamberg · Jef Verhoeven, Leuven · Anton C. Zijderveld, Rotterdam · Valentin Zsifkovits, Graz

Herausgegeben von Michael N. Ebertz, Freiburg i. Br. · Hubert Knoblauch, Berlin · Winfried Gebhardt, Koblenz · Werner Schneider, Augsburg · Arnold Zingerle, Bayreuth

Band 30

Die Krise der Organspende Anspruch, Analyse und Kritik aktueller Aufklärungsbemühungen im Kontext der postmortalen Organspende in Deutschland

Herausgegeben von Andrea M. Esser, Antje Kahl, Daniel Kersting, Christoph G. W. Schäfer und Tina Weber

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0935-4999 ISBN 978-3-428-14928-5 (Print) ISBN 978-3-428-54928-3 (E-Book) ISBN 978-3-428-84928-4 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Inhaltsverzeichnis Andrea M. Esser, Antje Kahl, Daniel Kersting, Christoph G. W. Schäfer und Tina Weber Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 I. Krise der Organspende? – Empirische Untersuchungen Ludger Fittkau Beschaffen als Mission. Der TK-Gesundheitsmanager Norbert Klusen als Aktivist im deutschen Transplantationssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Antje Kahl und Tina Weber Zur Konstruktion von Wissen über die Organspende unter besonderer Berücksichtigung des Hirntodes (I). Eine Analyse von Bevölkerungsbefragungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Antje Kahl und Tina Weber Zur Konstruktion von Wissen über die Organspende unter besonderer Berücksichtigung des Hirntodes (II). Analyse des audiovisuellen „Aufklärungsmaterials“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung . . . . . . . . . . . 51 Solveig Lena Hansen und Silke Schicktanz Bilder fürs Leben: Versteckte moralische Botschaften als Reaktion auf die Krise der Organspende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Stephanie Kaiser Postmortales „Weiterleben“ durch Organspende. Eine Analyse des deutschen Printmediendiskurses der letzten fünfzig Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Rainer Leschke Transmortalität und mediale Prothesen. Mediale Maßnahmen gegen die Zeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

6 Inhaltsverzeichnis II. Aufklärung – Normativität – Kritik: Philosophische Analysen Matthias Vogel Bilder und Gründe. Überlegungen zum Verhältnis von Aufklärung und visuellen Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Theda Rehbock Freiheit oder Leben? Warum die Aufklärung „postmortaler“ Organspender so gering geschätzt wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Andrea M. Esser und Daniel Kersting „Ich schenk’ dir mein Herz …“ Pragmatistische Analyse und Kritik aktueller Aufklärungskampagnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Autoren- und Autorinnenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221

Einleitung Andrea M. Esser, Antje Kahl, Daniel Kersting, Christoph G. W. Schäfer und Tina Weber Im Sommer 2012 wurde in Deutschland ein neues Transplantationsgesetz (TPG) verabschiedet. Das erklärte Ziel der Gesetzesinitiative bestand darin, die Zahl der Organspenden in Deutschland zu erhöhen. Die seitdem geltende Regelung, die sogenannte „Entscheidungslösung“, setzt auf die autonome Urteils- und Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger und auf deren umfassende Aufklärung v. a. durch die Krankenkassen. Seitdem wird die Bevölkerung von staatlichen Institutionen wie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und Interessenverbänden nicht nur regelmäßig über Ablauf und Organisation der Organspende informiert, sondern auch dazu aufgefordert, einen Organspendeausweis auszufüllen und auf diese Weise die je eigene Haltung zur Organspende schriftlich zu dokumentieren. Nahezu zeitgleich mit der Neuregelung des Transplantationsgesetzes wurden Unregelmäßigkeiten bei der Organzuteilung an verschiedenen Transplantationszentren bekannt. In den öffentlichen Medien wird seitdem von diesen Ereignissen unter dem Sammelbegriff des „Organspendeskandals“ berichtet. Das Bekanntwerden der Ereignisse und die Bündelung der Berichterstattung zu einem Skandal aber birgt die Gefahr, so betonte die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) mehrfach, dass die Bereitschaft der Bevölkerung, Organe zu spenden, sinken werde. Tatsächlich können statistische Untersuchungen belegen, dass die Anzahl der Organspenderinnen und Organspender in den Jahren 2012 und 2013 um 13 % und 16 % zurückgegangen ist. Ob allerdings zwischen beiden Entwicklungen – dem Bekanntwerden der Unregelmäßigkeiten bei der Organzuteilung und dem Rückgang der Spendebereitschaft – ein kausaler Zusammenhang besteht, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, ist durchaus fragwürdig, denn die jüngere Entwicklung steht in einer Kontinuität zu dem generellen Trend einer abnehmenden Anzahl an Transplantationen, die bereits seit dem Jahr 2007 bekannt ist. Zwischen 2007 und 2014 sank die Zahl der Organ- und Gewebespenden weiter stetig um insgesamt 34 % – in absoluten Zahlen ausgedrückt: von 1313 auf 864 Organ- und Gewebespenden jährlich. Gegenwärtige Erhebungen legen die Einschätzung nahe, dass sich die Anzahl

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der Transplantationen auf diesem Niveau nun zu stabilisieren scheint. Ob die intensivierten Aufklärungsbemühungen der Krankenkassen, der Verbände und der Bunderegierung, die in Folge der neuen Entscheidungslösung eingesetzt haben, künftig zu einer Veränderung der Spendezahlen führen werden, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht prognostizieren. Beide Ereignisse, die Gesetzesänderung sowie der sogenannte Organspendeskandal, haben in Deutschland zu einer erhöhten medialen Sichtbarkeit der Organspende geführt. Zum einen ist die Einführung der Entscheidungslösung mit neuen Informationskampagnen und mit dem erklärten Ziel einer verstärkten Aufklärung der Bevölkerung verbunden. Zum anderen wird seit einigen Jahren in einem Ausmaß über das Transplantationssystem berichtet wie dies selten zuvor der Fall war. Der vorliegende Themenband macht es sich zur Aufgabe, die gegenwärtige Situation der Organspende aus einer interdisziplinäreren Perspektive zu analysieren und dabei die gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen, die zur Erhöhung des Organaufkommens führen sollen, einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Im Zentrum des Bandes stehen dabei die Fragen, welche Akteure welches Wissen über Organspende auf welche Weise bereitstellen und vermitteln und ob der Aufklärungsanspruch, der nicht nur gesetzlich gefordert wird, sondern dem sich die Kampagnen der DSO und der BZgA ausdrücklich selbst unterstellen, angemessen eingelöst wird. Diese grundlegenden Fragen standen und stehen bislang nicht im Fokus der öffentlichen Diskussion. Ihre Bearbeitung ist aber schon deshalb unerlässlich, weil die politischen und rechtlichen Maßnahmen zur Förderung der Spendebereitschaft aus normativer Perspektive nur dann zu rechtfertigen sind, wenn sie es den Bürgerinnen und Bürgern auch ermöglichen, sich umfassend zu informieren, ein wohlbegründetes Urteil zu bilden und auf dieser Grundlage zu einer selbstbestimmten Entscheidung zu gelangen, d. h. wenn der Anspruch auf Aufklärung also so verstanden wird, dass die Bürgerinnen und Bürger dadurch in die Lage versetzt werden, als aufgeklärte Personen zu einer vernünftigen Entscheidung zu gelangen. Zeigt sich hingegen – und darin liegt der zentrale kritische Befund dieses Bandes –, dass die Aufklärungskampagnen öffentlicher Institutionen von einer einseitig interessegeleiteten Informationspolitik vereinnahmt werden, so ist auch die Legitimität der neueingeführten „Entscheidungslösung“ insofern grundlegend gefährdet. Die zum Zweck der Aufklärung verwendeten Mittel wären dann nämlich gerade nicht dazu geeignet, das Ziel der Aufklärung – eine gut informierte und rücksichtlich dieses Wissens über Organtransplantation wohlerwogene Entscheidung zu treffen – umzusetzen. Unter diesem Erkenntnisinteresse widmen sich die Beiträge im ersten Teil  des Bandes konkreten Darstellungen und Darstellungsweisen von Or-

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ganspende in öffentlichen Diskursen. In der Analyse einzelner Aufklärungskampagnen arbeiten sie aus journalistischer, soziologischer, medizinethischer und -historischer sowie medienphilosophischer Perspektive heraus, welche gesellschaftlichen Topoi in den jeweiligen Darstellungen verwendet, welche ästhetischen Wirkungen jeweils evoziert und welche Argumentationsfiguren aufgebaut werden. Die Ergebnisse dieser Analysen zeigen deutlich die Dominanz bestimmter Topoi und ermöglichen es dadurch auch herauszuarbeiten, welche Positionen und Perspektiven, Begründungsfiguren und Standpunkte in den Darstellungen gleichzeitig ausgeblendet, verdrängt oder diskreditiert werden. So zeichnen sich etwa die Plakatwerbung, die sich vor allem an junge Menschen richtet, aber auch die Informationsmaterialien der BZgA und der DSO durch eine bemerkenswerte graphisch-künstlerische Originalität, durch hohe Professionalität und Witz aus. Sie zielen überwiegend darauf ab, die Adressatinnen und Adressaten affektiv und emotional anzusprechen und sie damit zu einer positiven Erklärung für die Organspende zu bewegen. Auch in den Texten, die explizit zur Aufklärung über die konkreten Abläufe und Ziele der Organspende verfasst wurden, sowie in vielen Medienbeiträgen zum Thema trifft man häufig auf einseitige, in hohem Maße simplifizierende Darstellungen. In ihnen werden die komplexen Sachverhalte nur schlagwortartig dargestellt, die damit verbundenen Fragen auf vereinfachte Formulierungen reduziert und weitverbreitete Fehlschlüsse unbeirrt wiederholt. Entsprechend dieser Befunde scheint es zunehmend zweifelhaft, dass sowohl die bundesweiten Kampagnen, in denen die Öffentlichkeit auf die Gesetzesänderung des TPG vorbereitet werden sollte, wie auch die aktuell zirkulierenden Informationsbroschüren und -unterlagen tatsächlich den Ansprüchen einer umfassenden, ausgewogenen Informationsvermittlung entsprechen, die den Namen der „Aufklärung“ verdienen. Eröffnet wird dieser erste Teil des Bandes durch einen Beitrag von Ludgar Fittkau, der im Stil einer investigativen Rekonstruktion und darauf aufbauenden soziologischen Analyse die eng gesteckten Grenzen wissenschaftlicher Analyse überschreitet, um konkret und anschaulich entlang des Portraits eines Gesundheitsmanagers die Bandbreite aktueller Aufklärungsbemühungen im Kontext der Organspende zu vermitteln. Angeregt von systemtheoretischen Überlegungen im Anschluss an Niklas Luhmann arbeitet Fittkau die moralisierenden, ökonomischen sowie auch religiösen Aspekte des gegenwärtigen Organspendesystems heraus, das sich seiner Ansicht nach das Motto „Beschaffen als Mission“ zu eigen gemacht hat. In seinem Beitrag werden zentrale Probleme des geltenden Hirntodkriteriums ebenso aufgezeigt wie die Verstrickung großer Transplantationszentren in den sogenannten Organspendeskandal im Sommer 2012. Am Beispiel konkreter Materialien und Selbstbeschreibungen der Techniker Krankenkasse deckt Fittkau die Strategien auf, mit denen die Krankenkassen gegenwärtig

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versuchen, Misstrauen und Zweifel an der Organspende innerhalb der Bevölkerung zu zerstreuen. Diesen Strategien gehen auch Antje Kahl und Tina Weber in ihren beiden Beiträgen nach. In deren Zentrum steht die Frage, welches Wissen über die Organspende und speziell über den Hirntod von den institutionellen Akteuren auf welche Weise hergestellt wird. Die Autorinnen zeigen dabei Darstellungsstrategien der Wissensvermittlung auf, durch die das Hirntodkriterium von den Adressaten und Adressatinnen als unproblematisch wahrgenommen werden soll. Im Fokus ihrer Beiträge steht dabei eine der zentralen Einrichtungen, denen der gesetzliche Auftrag zur Aufklärung der Bevölkerung überantwortet ist: die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). In ihrem ersten Beitrag untersuchen die Autorinnen das methodische Design der Bevölkerungsumfragen, die im Auftrag BZgA in den letzten Jahren durchgeführt worden sind. Dabei machen sie deutlich, dass durch die spezifische Art und Weise, wie diese Umfragen durchgeführt und ausgewertet worden sind, ein anderes – möglicherweise weniger eindeutiges Ergebnis – als das veröffentlichte, nahezu ausgeschlossen war. Die Umfragen – so das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung – produzieren selbst ein bestimmtes inhaltliches Wissen über den Hirntod, das der Öffentlichkeit dann wiederum im Verweis auf diese Studien vermitteln soll, dass das Konzept des Hirntodes und der Hirntod als Todeskriterium in der Bevölkerung bereits akzeptiert seien und entsprechend nicht mit Akzeptanz- und Akzeptabilitätsproblemen zu kämpfen hätten. In ihrem zweiten Beitrag analysieren Kahl und Weber die inhaltliche und filmtechnische Gestaltung von audio-visuellen BZgA-Kampagnen aus dem Jahr 2012. Sie fragen, ob und inwiefern das in der Bevölkerungsbefragung hergestellte Wissen in die von der BZgA produzierten audio-visuellen Kampagnen einfließt bzw. berücksichtigt wird. Die Analyse legt die Vermutung nahe, dass die Kampagnen im Grunde keine Aufklärung über die Organspende und den Hirntod leisten, sondern vielmehr durch in hohem Maße einseitige und simplifizierende Darstellungen von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der Organspendepraxis und dem Hirntodkriterium gerade ablenken wollen. Einer kritischen Analyse von medialen Mitteln widmet sich auch der Beitrag von Solveig Lena Hansen und Silke Schicktanz anhand konkreter Aufklärungsmaterialien. Zeitgleich mit dem deutschen Transplantationsgesetz (TPG), das 1997 eingeführt und 2012 novelliert wurde, erschienen im öffentlichen Raum die ersten bundesweiten Poster-Kampagnen. Initiiert waren diese unter anderem von öffentlichen Stellen wie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) und der Stiftung „fürs Leben“ mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die „Krise der Organ-

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spende“ zu lenken. Anhand einer Kampagne der Stiftung „fürs Leben“ aus dem Jahr 2014 untersuchen die Autorinnen mit Hilfe des Social Semiotic Approach (SSA) die multimodalen Funktionen visuell-verbaler Kommunikationen und diskutieren, wie die explizit und implizit enthaltenen Botschaften (Appelle) zu bewerten sind. Sie bieten mit dieser systematischen Analyse einen neuen Ansatz für die bioethische Debatte, da eine Reflexion der Funktionen visueller Diskurse als Kreatoren moralischer Argumente bisher vernachlässigt wurde. Die letzten beiden Beiträge des ersten Teils widmen sich einem Motiv, das vor allem in jüngeren Organspendekampagnen und -diskursen immer wieder anzutreffen ist, dem Motiv der „Transmortalität“. Mit „Transmortalität“ wird die Vorstellung bezeichnet, dass die Organtransplantation den Spenderinnen und Spendern die Möglichkeit eröffnet, nach ihrem Tod im Körper einer anderen Person als Teil eben dieses Körpers zu existieren und dadurch in irgendeiner Weise weiter wirken zu können. Stephanie Kaiser untersucht im Hinblick auf dieses Motiv die mediale Berichterstattung über die Organspende in Deutschland. Während die Empfindungen der Organempfänger, die dank der Spende „ihr“ Leben weiterleben können, so die Autorin, bereits hinlänglich untersucht worden seien, sei dagegen bisher kaum beleuchtet worden, ob Vorstellungen von Transmortalität auch die Entscheidung potentieller Spenderinnen und Spender für oder gegen eine Organspende beeinflussen könnten. Um darüber Aufschluss zu erlangen, untersucht die Autorin, wie die Idee einer postmortalen (Teil-)Existenz durch die Spende von Organen medial transportiert wird. Im Rahmen ihrer Untersuchung werden acht meinungsführende, überregionale Zeitungen und Zeitschriften der BRD für eine Printmedienanalyse über den Zeitraum von 1960 bis 2012 ausgewertet. Das Ergebnis dieser Analyse zeigt, dass die Vorstellung eines postmortalen Weiterlebens durch Organspende tatsächlich ein häufiges Motiv darstellt, in dem die Organe in der Regel mit der Person der Organspender identifiziert werden. Rainer Leschke widmet sich dem Thema Transmortalität aus einer kulturund medienphilosophischen Perspektive. Er verfolgt den Zusammenhang von Medialität und Transmortalität im Rahmen einer Analyse der kulturellen Bedeutung des Verhältnisses von Speichermedien und körperlicher Integrität von Subjekten und zeigt im Rekurs auf die europäische und nordamerikanische Kultur- und Ideengeschichte, dass jegliche Form der Entfernung und Abgabe von Körperteilen in einem hohen Maße angstbesetzt ist und war. Aus diesem Grund sei eine medial vermittelte positive Codierung der Entnahme und Abgabe von Teilen des Körpers unwahrscheinlich. Die Schwierigkeiten, die wir mit der Weitergabe von Organen haben, gründen, so vermutet Leschke, letztlich darin, dass wir es bei einem explantierten, fragmentierten und auf andere zerstreuten Körper nicht mehr mit einem

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einheitlichen, sinnfähigen Akteur zu tun haben. Denn die Möglichkeit von Sinn gründet in der Subjekthaftigkeit, die, so Leschke weiter, durch die Zerstörung der Integrität des Körpers gerade verloren geht. Seine Analysen legen nahe, dass die „Krise der Organspende“ in tiefliegenden kulturellen Dimensionen unseres Umgangs mit dem Tod angelegt ist, die sich auch durch den Versuch der Re-Codierungen, wie ihn die gegenwärtigen medialen Kampagnen unternehmen, nicht nennenswert beeinflussen lassen. Der zweite Teil des Bandes nähert sich unter einer philosophisch-begrifflichen Perspektive der Frage nach der Bedeutung des in der öffentlichen Diskussion sowie im Gesetzestext verwendeten Begriffs der Aufklärung im Kontext der Organspende. Es wird danach gefragt, was dieser Begriff sinnvollerweise bedeuten kann und ob sich der mit diesem Begriff verbundene normative Anspruch auf der Basis der gegenwärtigen Informationspolitik überhaupt einlösen lässt. In dem Beitrag von Matthias Vogel richtet sich die philosophische Reflexion zunächst auf den Aufklärungsbegriff selbst. „Aufklärung“ wird als ein offener und sozialer Lern- und Erfahrungsprozess bestimmt, der darauf angelegt ist, unsere Verstehensmöglichkeiten zu entfalten. Vogel zeigt, dass wir über eine Vielzahl nicht-sprachlicher, medialer Artikulationsmöglichkeiten verfügen, die Gegenstand unseres Verstehens sind. Vor dem Hintergrund dieser Einsicht, so Vogel, verändern sich auch die Ansprüche für gelingende Selbstbestimmung: Selbstbestimmte Entscheidungen werden nicht allein auf der Basis von bestimmten Präferenzen, die gegeneinander abgewogen werden, gefällt. Ein solches Präferenzmodell stellt nämlich gar nicht den Standard-, sondern den Sonderfall von Selbstbestimmung dar. In selbstbestimmten Entscheidungen fragen wir uns vielmehr, wer wir sind und sein wollen, entwerfen Bilder unserer selbst und lassen uns in diesen Entwürfen eben auch mehr oder weniger bewusst von jenen Bildern leiten, die uns etwa aus Werbekampagnen verfügbar sind. Aus dieser Einsicht folgert Vogel, dass Werbekampagnen auch im Kontext der Organspende nicht per se einem Aufklärungsanspruch zuwiderlaufen müssen, solange sie unsere Fähigkeit zu verstehen nicht unterminieren. Theda Rehbock geht in ihrem Beitrag dem Zusammenhang von Aufklärung und Autonomie nach. Als Ausgangspunkt ihrer Überlegung dient die Beobachtung, dass der Respekt vor Autonomie im Falle der postmortalen Organspende viel geringer geschätzt wird als im Falle der Lebendspende. Den Grund hierfür sieht Rehbock in einem kritikbedürftigen utilitaristischliberalistischen Verständnis von Freiheit als Selbstbestimmung, dem sie ein umfassenderes an Kant und Arendt orientiertes Verständnis von Freiheit als Autonomie gegenüberstellt. Auf dieser Grundlage wird deutlich, dass die Relativierung der Autonomie und die unzureichende Aufklärung potentieller

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Organspenderinnen und Organspender eine Geringschätzung und Missachtung dessen impliziert, was den Menschen zum Menschen macht: das Sprechen und Handeln. Aus dieser Einsicht werden schließlich einige gewichtige Konsequenzen für die moralische Beurteilung, rechtliche Regelung und humane Gestaltung der „postmortalen“ Organspendepraxis gezogen. Der abschließende Beitrag von Andrea M. Esser und Daniel Kersting legt auf der Basis einer pragmatistischen Methode dar, was genau an den aktuellen Informationskampagnen verfehlt und kritikbedürftig ist. Sie leisten allesamt, so ihre These, einem „abstrakten Denken“ im Hegel’schen Sinne Vorschub, indem sie erstens einen heroischen Individualismus propagieren, der die interpersonale und soziale Dimension der Organspende ausblendet, zweitens in einen moralischen Dogmatismus führen, der eine Verständigung über die Legitimität dieser Praxis blockiert und schließlich magisch-mythische Vorstellungen einer Transmortalität evozieren, wodurch eine realistische Perspektive auf das Phänomen des eigenen sowie fremden Todes verstellt wird. Im Rahmen einer pragmatistischen Analyse und Kritik konkreter Darstellungen zeigen die Autorin und der Autor auf, dass „abstraktes Denken“ in der Praxis in eine fatale Dialektik führt, die allerdings im Rahmen eines pragmatistischen Verständnisses von Aufklärung überwunden werden kann. Auf der Basis dieses Aufklärungsverständnisses werden abschließend drei konkrete Bedingungen formuliert, denen Aufklärungsbemühungen im Kontext der Organspende zu genügen haben, wenn sie tatsächlich einen Beitrag zur Aufklärung leisten sollen. Die in diesem Band versammelten Untersuchungen stellen analytischkritische Perspektiven auf aktuelle Praktiken im Kontext der Organtransplantation her und verstehen sich als konstruktive Beiträge zur Korrektur und Orientierung der öffentlichen Diskussion. Aus den diagnostizierten Problemen werden jeweils implizit oder explizit Konsequenzen und Empfehlungen für ein Projekt der Aufklärung über die Praxis der Organspende gezogen und Modifikationsmöglichkeiten aufgezeigt, so dass die gegenwärtigen Aufklärungsbemühungen dem erhobenen Anspruch auch gerecht werden. Gleichwohl können und sollen in den Beiträgen keine simplen Rezepte oder Richtlinien für Aufklärungskampagnen präsentiert werden. Denn die Idee der Aufklärung ist die Idee eines genuin auf Offenheit angelegten diskursiven Prozesses der kritischen Auseinandersetzung. Sie setzt voraus, dass alle von der Organspende möglicherweise Betroffenen – und das sind letzten Endes wir alle – die gleiche Möglichkeit haben, an diesem Prozess der Auseinandersetzung teilzunehmen. Diese Teilnahme beschränkt sich nicht nur auf das Recht alle relevanten Informationen erhalten zu können, sondern schließt auch die Möglichkeit ein, durch aktive Teilnahme an den Kontroversen verschiedene Perspektiven und Argumente nach- und mitzuvollziehen, um dadurch schließlich selbst beurteilen können, welche Aspekte

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in welchen Hinsichten als relevante Information zu gewichten sind. Die praktische Frage, wie sich wissenschaftliche, politische und moralphilosophische Kontroversen in der öffentlichen Diskussion angemessen vermitteln lassen, kann schon aus diesen Gründen im Rahmen des vorliegenden Themenbandes gar nicht abschließend beantwortet werden. Uns haben sich in der Zusammenarbeit zu diesem Band folgenden Fragen gestellt: Was bedeutet der Ausdruck „Hirntod“ und welche konkreten Konsequenzen hat es, den Hirntod zum Todeskriterium zu bestimmen? Wie kann angemessen über die tatsächlichen Abläufe im Rahmen einer Organtransplantation, d. h. über die Verfahren der Explantation und der Spenderkonditionierung „aufgeklärt“ werden? In welcher Form und unter welcher Verwendungsweise welcher medialen Mittel ist es möglich, dem Anspruch adäquater Aufklärung Genüge zu tun? Wie können die Bürgerinnen und Bürger ihre Verunsicherungen selbst artikulieren, damit diese öffentlich Gehör findet? Liegt in der Praxis der postmortalen Organspende vielleicht selbst ein Verunsicherungsmoment, das sich auch durch noch so umfassende Aufklärungskampagnen nicht vollständig auflösen lässt? Diese Fragen können möglicherweise auch den öffentlichen Diskurs weiter voranbringen, wenn die entsprechenden Antworten darin nicht nur dogmatisch gesetzt, sondern ihrerseits auch wieder einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Mit Blick auf ein solches sich selbstreflexiv-prozesshaft vollziehendes Verständnis von Aufklärung begreifen sich die hier versammelten Texte selbst als Momente eines solchen Prozesses. Wir hoffen jedenfalls, mit diesem Band einen in diesem Sinne konstruktiven Beitrag zur Fortsetzung einer wichtigen Diskussion zu leistet. Besonders danken wir den versammelten Autorinnen und Autoren dieses Bandes, welche der Einladung gefolgt sind, ihre Überlegungen bei der Tagung „Transplantation–Transmortalität–Transparenz“ im Juni 2013 im Rahmen der von der DFG geförderten Kolleg-Forschergruppe „Religiöse Individualisierung in historischer Perspektive“ am Max-Weber-Kolleg in Erfurt zu entwickeln und hier vorzulegen. Unser Dank gilt auch der Volkswagen Stiftung, welche die konsekutiven Forschungsprojekte „Tod und toter Körper“ und „Transmortalität“ finanziert hat und damit eine ganze Reihe von Tagungen und Publikationen zu diesen gesellschaftlich in hohem Maße relevanten Fragen ermöglicht hat.

I. Krise der Organspende? – Empirische Untersuchungen

Beschaffen als Mission Der TK-Gesundheitsmanager Norbert Klusen als Aktivist im deutschen Transplantationssystem Ludger Fittkau „Der Zugriff erzeugt (…) Knappheit, während zugleich Knappheit als Motiv für den Zugriff fungiert.“1

Es gibt im Internet viele Fotos von Dr. rer. oec. Norbert Klusen, Honorarprofessor für Gesundheitspolitik und internationale Gesundheitssysteme an der Universität Hannover: Ein gutaussehender Siebenundsechzigjähriger, das silbergraue Haar sorgfältig geschnitten. Er trägt graue oder schwarze Anzüge über dem weißen Hemd und hat gestreifte Krawatten in verschiedenen Farben gebunden. Wer denkt: „Das ist ein Managertyp“, liegt nicht falsch. Der nachfolgende Beitrag beleuchtet die Reich- und Tragweite seiner Aktivitäten und hinterfragt das rund um die Mortalität (bei der Hauptdiagnose Herzinfarkt liegt der Wert der durchschnittlichen Krankenhaussterblichkeit in Deutschland etwa bei 8 Prozent)2 in deutschen Kliniken etablierte Organbeschaffungswesen. I. Umrisse der Funktionen eines Akteurs Von 1996 bis 2012 war Norbert Klusen Vorstandsvorsitzender der Techniker-Krankenkasse, mit rund 7 Millionen Mitgliedern eine der größten deutschen Krankenkassen. Auch nach der Zeit im TK-Vorstand engagiert er sich im System der Krankenbehandlung: Als einer von zwei Vertretern des GKV-Spitzenverbandes ist Klusen im Stiftungsrat der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) tätig gewesen. Die DSO mit Sitz in Frankfurt am Main hat den gesetzlichen Auftrag, in Zusammenarbeit mit der europäischen Verteilungsagentur Eurotransplant die Verteilung humaner Organe in Deutschland zu koordinieren. Hierzu beschäftigt die Stiftung 200 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Der Stiftungsrat, in den Norbert Klusen sich einbringt, fungiert als Aufsichtsrat der DSO. 1  Luhmann,

S. 179.

2  Zukunftswerkstatt

Innovative Versorgung – Notfallversorgung.

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Ludger Fittkau

„Er bestellt den Vorstand und überwacht dessen Tätigkeit. Seine ehrenamtlichen Mitglieder setzen sich zusammen aus je zwei Vertretern der Deutschen Transplantationsgesellschaft e. V., der Bundesärztekammer, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, des GKV-Spitzenverbands, des Bundesministeriums für Gesundheit und der Gesundheitsministerkonferenz der Länder. Zwei Vertreter aus Patientenverbänden nehmen ohne Stimmrecht an den Sitzungen des Stiftungsrats teil.“3

Bevor Norbert Klusen Anfang 2013 diesem Gremium beitrat, das für die Organtransplantation in Deutschland eine große Bedeutung hat, war die DSO in ihre wohl größte Krise seit Verabschiedung des deutschen Transplantationsgesetzes im Jahr 1997 geraten. Auslöser waren die sogenannten Organspende-Skandale4, aufgedeckt im Jahr 2012. In rund 50 Transplantationszentren an deutschen Kliniken hatten Ärzte Formulare manipuliert und Humanorgane (bzw. Patienten) gesetzeswidrig am offiziellen WartelistenVerfahren vorbeigeschleust. Staatsanwaltschaften wurden eingeschalten. Die Diskussion über das Versagen von Kontrollgremien erfasste schnell auch die Frankfurter Organverteilungsinstitution.5 Die Zahl der Organspenden sank nach Bekanntwerden der Manipulationen im Laufe des Jahres 2012 deutlich. Daran ändern auch Gesetzesänderungen, die die Organbeschaffung vereinfachen sollen, im gleichen Jahr zunächst nichts. In einer Pressemitteilung am 7.1.2013 äußert sich die DSO als zentrale Organverteilungs-Akteurin zum zurückliegenden Jahr wie folgt: „Das Jahr 2012 war ein bewegtes Jahr für die Organspende und Transplantation. Die Novellierung des Transplantationsgesetzes und die Einführung der Entscheidungslösung zur Förderung der Organspende wurden überschattet von den Vorwürfen gegenüber einzelnen Transplantationskliniken, Daten manipuliert und damit Patienten schneller zu einem Spenderorgan verholfen zu haben.“6

Der DSO wurde in der Öffentlichkeit ein Versagen ihrer Koordinierungsfunktion vorgeworfen. Auch Irritation aufgrund einer möglicherweise zu großer Nähe der DSO zu anderen Akteuren und den Eigenbelangen des Transplantationssystems7 schwang in den öffentlichen Kommentierungen mit. Mehrere Mitglieder des Stiftungsrates traten zurück und die Strukturen der Deutschen Stiftung Organtransplantation wurden geprüft: „Die DSO ist nach anhaltender Kritik derzeit im Umbruch, personell und zum Teil in ihren Strukturen. So ist von politischer Seite entschieden worden, die Aufsicht zu verstärken. Der Stiftungsrat, der den Vorstand bestellt und überwacht, soll erweitert werden um zwei Vertreter der Länder und einen Vertreter des Bun3  DSO-Website,

Stiftungsrat. Online. Transplantationsskandal (7.8.2012). 5  Welt Online. Organskandal (31.7.2012). 6  DSO-Pressemitteilung, Zahl der Organspenden in 2012 dramatisch gesunken. 7  Als soziologische Analyse unter systemtheoretischem Gesichtspunkt hierzu nach wie vor maßgeblich Feuerstein. 4  Spiegel



Beschaffen als Mission – Klusen als Aktivist im Transplantationssystem 19 des als ordentliche Mitglieder. Dazu ist eine Satzungsänderung erforderlich, die die Stiftungsaufsichtsbehörden genehmigen müssen.“8

Auch Krankenkassen wie etwa die Barmer GEK diskutierten in dieser Phase öffentlich, ob die künftige Kontrolle des deutschen Transplantationssystems nicht besser „durch eine Art Bundesbehörde in Anlehnung wie etwa an das Robert-Koch-Institut oder auch das Paul-Ehrlich-Institut“ gewährleistet wäre.9 Ex-TK-Manager Norbert Klusen übernahm in dieser Krise den Sitz im neu konstituierten Gremium der DSO. Dies ist freilich nicht die einzige Funktion im System der Krankenbehandlung sowie in der Wissenschaft, die Norbert Klusen auch nach dem Ende seiner langjährigen Managertätigkeit als Chef der Techniker-Krankenkasse innehat. So wirkte Klusen seit 2013 als „einer der renommiertesten Experten im deutschen Gesundheits­wesen“10 im achtköpfigen „Medical Advisory Board“ des Unternehmens Median Kliniken mit 43 Einrichtungen nach eigenen Angaben „der größte private Betreiber von Rehabilitationskliniken“11 mit. Außerdem lehrte Klusen Internationale Gesundheitspolitik und Gesundheitsökonomie in Hannover, zeitweilig auch in den USA. Zudem war er Vorstandsmitglied der Initiative für Gesundheitswirtschaft e. V. Hierbei handelt es sich um einen Zusammenschluss von Krankenkassen, Pharmaunternehmen sowie einigen Universitätskliniken mit dem Ziel, für die „Gesundheitsbranche“ zu werben: „Um Qualität und moderne Versorgungskonzepte zu schaffen, muss die Politik den Wettbewerb und die Aussicht der Anbieter auf Wachstum und Gewinn zulassen. Die IGW will darum ein Bewusstsein für die Bedeutung der Branche in der Politik, aber auch innerhalb der Gesundheitswirtschaft selbst schaffen, denn nur gemeinsam, durch unternehmerische, kreative und innovative Kooperation aller Akteure sind die kommenden Jahre steuer- und gestaltbar.“12

Norbert Klusen ist innerhalb der Gesundheitswirtschaft vor allem ein Spezialist im Feld der Organtransplantation. Aus unterschiedlichen Perspektiven ist ihm der Sektor vertraut. Zum einen ist ihm die ökonomische Draufsicht auf Organverteilungsfragen bekannt: So ist die Transplantation von Nieren der mit Abstand größte Bereich der Organverpflanzungschirurgie, aber 2013 wurden in Deutschland auch rund 1000 Lebern verpflanzt oder etwas mehr als 300 Herztransplantationen durchgeführt.13 Dazu kom8  Siegmund-Schulze.

9  L’hoest/Marschall,

S. 265. Kliniken. 11  Median Kliniken-Website. 12  Initiative Gesundheitswirtschaft-Website. 13  „Im Jahr 2013 wurden in Deutschland 1.547 Nieren nach postmortaler Organspende und 725 nach einer Lebendspende transplantiert“ (DSO-Website, Nierentransplantationen). 10  Median

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men Pankreas-, Lungen- und einige Dünndarmtransplantationen.14 Als ehemaliger Chef der Techniker-Krankenkasse und Gesundheitsökonom weiß Klusen, dass Nierenimplantationen im Vergleich zur Dialyse das kostengünstigere Verfahren sind. Auch Patienten mit fortgeschrittenen Lebererkrankungen können wegen Beeinträchtigungen der Nierenfunktionen Dialysen unterzogen werden. Hier etwa Zahlen der Deutschen Gesellschaft für Nephrologie, des größten Zusammenschlusses von Nieren-Fachärzten in Deutschland: „Man rechnet jährlich pro Dialysepatient etwa mit 40.000 Euro Kosten p. a., die Transplantation ist mit ca. 18.000 Euro die kostengünstigste Therapie, ihre Zahl ist durch die Organspenderproblematik allerdings limitiert.“15

Die „Organspenderproblematik“, also das Dilemma der Knappheit von Organen, kennt Norbert Klusen freilich nicht nur als Ex-Chef der TK und heutiges Mitglied des Stiftungsrates der DSO. Eine zweite Perspektive ist die des existenziell Betroffenen, denn 2008 wurde ihm eine Leber implantiert. Auch hierzu spricht er öffentlich und gewährt Einblicke: „Ich hatte nur das Problem, dass ich ‒ wie andere auch ‒ als Patient erst fast schon tot sein musste, bevor ich ein neues Organ bekam. Ich hatte eine chronische Entzündung der Gallengänge, brauchte deshalb eine neue Leber und stand etwa fünf Jahre auf der Warteliste.“16

Aus Sicht eines Betroffenen erscheint Knappheit als dringend zu änderndes Schicksal. Norbert Klusen ist aber nicht nur Betroffener. Er ist jemand, der das eine wie das andere medial kommuniziert: in Massenmedien und in Medienmaterial der Branche. „Ich hatte Glück. Jetzt will ich alles dafür tun, damit auch andere ein neues Organ bekommen“.17 Norbert Klusen setzt sich 2008 unter anderem öffentlich für die sogenannte Widerspruchslösung ein, die in einigen europäischen Ländern Gesetz ist. Danach kann jeder als Organspender herangezogen werden, der nicht ausdrücklich widersprochen hat.18 II. Die Knappheit und die Spendenwerbung „Zugriffsentscheidungen oder Verteilungsentscheidungen“, so der Soziologe Niklas Luhmann, verleihen „dem Problem der Knappheit ein Flair des Tragischen, da Entscheidungen, die in dieser Situation getroffen werden, 14  DSO-Website, 15  Deutsche 16  Kewes.

17  Opresnik.

18  Görlitzer.

Pankreastransplantationen. Gesellschaft für Nephrologie.



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sich typisch mit ihren Folgen in Widerspruch setzen zu den Werten, die sie vertreten“19. Knappe Ressourcen im System der Krankenbehandlung stehen im Widerspruch zur öffentlich immer wieder vertretenen Position, hierzulande bekomme jeder die Behandlung, die er benötige. Die unvermeidlichen Verteilungsentscheidungen werden durch rhetorischen Verweis auf Werte gewissermaßen abgemildert. Die Werte, die seitens der DSO wie von Kostenträgern im Feld der Organtransplantation öffentlich vertreten werden, sind Altruismus und mutige Nächstenliebe des Spenders.20 Doch das sogenannte Hirntod-Kriterium als auch in Deutschland gültiges Kriterium für den Moment des Zugriffs auf das Organ des Spenders ist seit seiner Einführung Ende der 1960er Jahre international umstritten. „Für den, der zugreift, verringert sich die im Zugriff vorausgesetzte Knappheit. Für alle anderen vergrößert sie sich.“21 Transplantationsmediziner, die auf die Organe zugreifen, erhöhen damit ihren professionellen Handlungsspielraum und bieten den Organ-Anwärtern auf den Wartelisten Perspektiven. Für die Organgeber wird der Lebensfaden abgeschnitten. Bis weit in die 1960er Jahre hinein wurden heute sogenannte „Hirntote“ als irreversibel komatös bezeichnet. Sie galten bis zur damals erstmals erfolgreichen Transplantation von Organen als Sterbende, aber nicht als bereits Verstorbene ‒ wie heute in der Definition des deutschen Transplantationsgesetzes. Durch die Explantation von durchbluteten Organen werden irreversibel komatöse Menschen aktiv zu Tode gebracht. Dies war manchen Ärzten bereits vor einem halben Jahrhundert bewusst: „Euthanasie und Organtransplantation zeigen sich nun als verbunden. Sie sind Ausdruck desselben Prozesses. Es ist ein Prozess, der bewirkt, daß der uns bekannte Mensch von einst beinahe überholt erscheint […] Menschliche Organe und Teile davon werden ohne Gewissensbisse von Sterbenden oder gerade Gestorbenen auf Menschen übertragen, die noch nicht sterben wollen. Dieses Phänomen zeigt sich deutlich in einem mächtigen kulturellen Widerstand gegen das Leben ‚reduzierter Menschen‘, die vielleicht monatelang Sterbende sind. Ich will noch einmal nachdrücklich sagen, daß ich hier kein Plädoyer für oder gegen Euthanasie beziehungsweise pro oder contra Organtransplantation führen will. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß hier Prozesse in Gang gekommen sind, die in Zukunft be-

19  Luhmann,

S. 178. ist die Haltung der katholischen Kirche (auch sie ja nicht nur Religionsgemeinschaft, sondern eine Kostenträgerin im Gesundheitswesen), die Organspende als „Akt der Nächstenliebe“ bezeichnet, etwa bei einem Pressegespräch zu „aktuellen bioethischen Fragen“ anlässlich der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 6.10.2011 (Deutsche Bischofskonferenz). 21  Luhmann, S. 181. 20  Exemplarisch

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wirken werden, daß sich die Würde des menschlichen Körpers, des menschlichen Lebens oder menschliches Sterbens beträchtlich verändern wird.“22

In der Debatte, die hierzu bereits früh in der niederländischen Ärztezeitung Medisch Contact zu den ethischen Konsequenzen der ersten gelungenen Herztransplantation 1967 geführt wird,23 meldet sich auch der Arzt J. Ekelsmans zu Wort. Er war später einer der Begründer der Niederländischen Vereinigung für freiwillige Euthanasie. Die im Zuge der Organtransplantation veränderten Todeskriterien zeigen laut Ekelmans, dass das Leben im biologischen Sinne nicht mehr sicher zu definieren sei: „Zwischen dem vollständigen, optimalen Funktionieren und dem ‚Ganz und Garnicht-Funktionieren‘ liegt ein weites Terrain von schlechtem oder teilweisen Funktionieren, wo mehr oder weniger willkürlich bei einem gewissen Maß von Funktionsverlust die Grenze zwischen Leben und Tod gefunden wird, besser: gewählt wird, vielleicht mit opportunistischen Gründen, angelehnt an den Bedarf der Organtransplanteure.“24

Auch die öffentliche Diskussion im Vorfeld der Verabschiedung des deutschen Transplantationsgesetzes im Jahr 1997 wirft bisweilen den Zusammenhang von Sterbehilfe und Organbedarf auf.25 Die Techniker-Krankenkasse (TK) beschäftigt sich mit dem Umstand, dass auch heute noch viele Menschen den sogenannten Hirntod nicht für den Tod des Menschen halten. In der TK-Broschüre Entscheidung fürs Leben greifen die Autoren (als fachliche Beraterin wird u. a. die DSO angegeben) zunächst die Erfahrung eines irritierten Besuchers am Krankenbett eines Hirntoten namens Klaus auf, die nichts mit kulturell bekannten Todeszeichen wie Leichenstarre oder Totenflecke zu tun hat: „Ganz rosig liegt er da. Er sieht aus wie gestern auch. Fast noch besser, denke ich. Als ob er schläft. Seine Augen sind geschlossen. Sie Hände liegen auf der Bettdecke. Sein Brustkorb hebt und senkt sich. Der Schlauch des Beatmungsgeräts steckt in seinem Mund. Ein weißes Band, über den Hinterkopf gespannt, hält den Schlauch an seinem Platz. Am Monitor sehe ich die geschwungene grüne Linie für den Herzschlag und die roten Zacken für den Blutdruck. Es gibt keine Hoffnung mehr, sagt der Arzt, Klaus ist tot. Hirntot. Ich kann es nicht glauben.“26

In der Folge wird versucht, die Wahrnehmungsirritation des Besuchers am Krankenbett von Klaus zu zerstreuen: „Das Koma ist eine tiefe Bewusstlosigkeit. Es ist ein Symptom des Hirntods, nicht der Hirntod selbst. Beim Koma arbeiten Teile des Gehirns noch, zum Bei22  Leering,

S. 784 (eigene Übersetzung aus dem Niederländischen, L.F). S.  267 f. 24  Ekelmans, S. 792. 25  Roß; Schröter-Kunhardt. 26  Techniker Krankenkasse, S. 5. 23  Fittkau,



Beschaffen als Mission – Klusen als Aktivist im Transplantationssystem 23 spiel der Hirnstamm. Ein hirntoter Mensch ist nicht nur ohne Bewusstsein. Er ist tot.“27

An anderer Stelle der Broschüre wird der Hirntod, über den die TK-Autoren und ihre DSO-Berater einräumen, dass er auch „für Ärzte und Pflegekräfte ein irritierender Anblick“ sein könne, schlichtweg als ein „Punkt“ bestimmt, von dem aus niemand „ins Leben zurückkehren“ könne.28 Definitionsversuche solcher Art können offenbar jedoch die Skepsis relevanter Bevölkerungsgruppen hinsichtlich des Hirntodkonzepts nicht beseitigen. Die Zahlen beweisen dies seit langem. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) veröffentlicht 2013 eine Umfrage der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, nach der ein Viertel aller Deutschen, die keine Organe spenden wollen, den Hirntod als Tod des Menschen nicht anerkennen.29 Wo die für das Transplantationssystem nützlichen Todes-Definitionen nicht helfen, die offenbar tief sitzende Skepsis vieler Menschen zu nehmen, wählen auch die Kostenträger des deutschen Gesundheitswesens den Weg der Werbung ‒ also des Marketings mittels regelrechter PRKampagnen. Die Versicherungen gehen dabei in Form und Aufwand unterschiedlich weit. Die Techniker-Krankenkasse hat sich hier nun besonders hervorgetan. Unter ihrem Chef Norbert Klusen setzte sie jahrelang enorme Ressourcen dafür ein, Misstrauen gegen die Todesdefinition der Transplanteure zu zerstreuen und die soziale Wahrnehmung der Organknappheit zu erhöhen, welche mit den historisch vergleichsweise neuen Transplantationstechniken entstand. Denn das System der Organchirurgie etablierte sich erst seit den 1960er Jahren insbesondere in den Ländern mit einem hochtechnisierten System der Krankenbehandlung. 1967 wurde etwa das europäische Organverteilungsinstrument „Eurotransplant“ gegründet.30 Im Jahr 2008 (also in dem Jahr, in dem der Vorsitzende der TK selbst eine Leber erhielt) startete die TK ihre Kampagne Von Mensch zu Mensch. Die Kasse produzierte den Unterrichtsfilm Organspende macht Schule, mit welchem Schulen ‒ Lehrpersonal, aber auch Schülerinnen und Schüler ‒ bewegt werden sollten, sich im Unterricht mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Organspende macht Schule“ kommuniziert eine klare Botschaft. Aus der Sicht der Skeptiker der Explantation und Organweitergabe ist er jedoch tendenziös. Der Film enthält Experteninterviews mit Transplantationsmedi27  Ebd.

S. 7. S. 6. 29  DSO-Website, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – Repräsentativbefragung. 30  BZgA-Online-Portal, Die Geschichte der Organtransplantation. 28  Ebd.

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zinern und Neurologen, Gespräche mit transplantierten Patienten sowie viele weitere Informationen zur Organspende. Auffällig ist die gezielte Ansprache Jugendlicher. Hip Hopper Bo Flower steuert den Titelsong zum Musikprojekt „Von Mensch zu Mensch“ bei, Sängerin Nele, die in ihrem Song „Für Dich da“ das Thema Organspende in sanften Soulklängen umsetzt, führt mit ihm gemeinsam durch einen Film, der Anregungen und Unterstützung gibt, wie das Thema „Spendenbereitschaft“ didaktisch umgesetzt werden kann.31 Die Künstler haben die kassenfinanzierte Kampagne weiterhin unterstützt. Noch 2012 ist der Hip-Hop-Musiker Bo Flower monatelang im Auftrag der Techniker-Krankenkasse unterwegs, um mit seinem Song und in Gesprächen für „mehr warme Herzen“ zu werben.32 Ein Jahr später sieht man den Sänger in einem Film über diese Werbetour berichten, und auch die Krankheitsgeschichte der Ehefrau des SPD-Fraktionsvorsitzenden Frank-Walter Steinmeier sowie die Lungentransplantation des Sängers Roland Kaiser wurden präsentiert.33 Bereits fünf Jahre zuvor hatte die TK gemeinsam mit der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) und dem privat finanzierten Organspende-Unterstützungsverein Junge Helden e. V. den bekannten Schauspieler Jürgen Vogel für eine Werbe-Kampagne in Cinemaxx-Kinos gewonnen ‒ also in Kinokomplexen, die besonders gern von jungen Kinofans aufgesucht werden.34 Ebenso begann die TK, Städtewettbewerbe zur Organspende durchzuführen: Wo werden die meisten Spendeausweise unterzeichnet? Allein im Jahr 2011 fand diese Art von wettbewerblichem Vorgehen, das private Schneeballsysteme anstoßen soll, an 15 Orten statt. „Schulisches Lernen“, jugendgerechte Musik- und Filmbotschaften, Wettspiel: Insbesondere dem Charakter des Wettspiels ist es inhärent, dass es die Knappheit nicht leugnen muss: aus der wahrgenommenen Beschränkung werden die Spielregeln gewonnen35 sowie ein über die gute Tat hinausgehender, vergemeinschaftender Unterhaltungswert. Ähnlich wurde an der Universität Paderborn der Tag des Hochschulsports in die Aktion einbezogen. Ein in der Wortwahl der Organwerbung vielfach wiederkehrendes Element ist dasjenige der Heroisierung von Spenden. Die bereits seit 2004 gemeinsam von TK und der Bild-Zeitung durchgeführte Kampagne „Stille 31  Kultusministerium 32  Bauer.

33  Richter-Kuhlmann. 34  TK/Presseportal,

Sachsen-Anhalt-Website.

Jürgen Vogel stellt neue Kampagne für Organspende vor. Knappheit ist, wie immer dieser Begriff bestimmt wird, eine soziale Wahrnehmung von Beschränkungen gemeint, an die soziale Regulierungen anschließen können.“ (Luhmann, S. 177) 35  „Mit



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Helden des Alltags“ lobt 2009 den mit mehreren tausend Euro dotierten Gesundheitspreis „pulsus“ nicht nur für die „Ärzte oder Schwestern des Jahres“ aus, sondern auch für die Kategorie „Organhelden des Alltags“. Norbert Klusen, damals noch Vorstands-Vorsitzende der TK, erklärte sich dazu zunächst wie folgt: „Der Pulsus richtet sich an all die Menschen, die durch eigene Kraft ein schweres Schicksal gemeistert oder anderen geholfen haben. Diese Menschen sind Vorbild für andere und verdienen größte Aufmerksamkeit.“36 2012 erhält dann allerdings Norbert Klusen selbst die Auszeichnung – in seiner Mehrfachrolle als „Organheld“ (wobei er kein Organ spendete, sondern empfing: auch die Organempfänger fungieren somit als „Helden“) sowie als öffentlicher Erzieher, der im Feld der Organbeschaffung Wirkung erzielt. Es geht hier um die die Verbindung von persönlicher Betroffenheit und öffentlicher Werbewirksamkeit, Klusen verkörpert eine öffentliche Figur, die diese Bereiche verbindet. Die Pressemitteilung streicht dies heraus: „Einen Ehrenpreis erhielt Professor Dr. Norbert Klusen, Vorsitzender des Vorstandes der TK, der vor acht Jahren den ‚pulsus-Award‘ mit ins Leben gerufen hat. Er gilt als Chef ‚mit Visionen und Herz‘. Dass er auch selbst Kämpfer ist, hat er nach eigener schwerer Erkrankung eindrucksvoll unter Beweis gestellt.“37

III. Moralisierung der Organgewinnung durch Personalisierung des Anspruchs auf Organe Wenn Knappheit „überhaupt Orientierungspunkt“ für soziale Regulierungen werden soll, so Luhmann, bedarf es zunächst einer „moralische[n] Codierung“: gerade auch Formen der (was Gewinne angeht) asymmetrischen Gabe gehen mit bestimmten Fassungen des Verhaltens einher. Je nach sozialstrukturellem und kulturell-semantischem Kontext könne „das Tugendschema variiert und mehr die Durchsetzungsfähigkeit (…) oder mehr die generalisierte Reziprozität, die soziale Verpflichtung zum Abgeben und Helfen, in den Vordergrund gerückt werden“.38 Gesundheitsmärkte stehen eindeutig unter dem Vorzeichen von Abgeben und Helfen. Die in Europa für die Organgewinnung gewählte Form der Spende wäre anders undenkbar ‒ wobei wohlgemerkt nur die Organweggabe als Spende erfolgt, nicht die Weitergabe von Organen, denn diese ist zwar der öffentlich finanzierten Medizin überantwortet, setzt durchaus aber ja Zahlungen voraus. 36  TK/Presseportal, Pulsus 2010: TK und Bild suchen wieder stille Helden des Alltags. 37  Axel Springer-Presseinformationen. 38  Luhmann, S.  185 f.

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Moral, die als Form der Bearbeitung von Knappheit ansetzt, behebt freilich Bedarfslagen nicht. Sie schafft vielmehr lokal (rigide) Alternativen zwischen „lobenswert“ und „vorwerfbar“ ‒ und bleibt aus der Draufsicht wie für Betroffene ein zweischneidiges Schwert. Der „Teilnehmer“, schreibt Luhmann weiter, in unserem Kontext sind das etwa die Menschen auf der Warteliste für ein Organ, „erlebt Knappheit nach wie vor als (relative) Deprivation, und er sucht nach wie vor, Moral zu mobilisieren, um seine Lage im Kontext steigernder Erwartungen, also steigender Knappheit, zu verbessern“.39 Und auch das Gesundheitssystem hatte bekanntlich zu keinem Zeitpunkt reale Chancen, allein durch Spenden von Hirntoten den Organbedarf zu decken: je rentabler das Verfahren und desto höher die Überlebensrate von Transplantierten mit Anspruch auf zweite, dritte und weitere Organe, desto rascher wachsen notwendigerweise die Wartelisten an. Lebendspende – das ist eine Möglichkeit, die Knappheit mittels Mobilisierung einer Form von Moral zu bekämpfen, die eine neue Form der Gabe vorstellbar macht und als löblich / bewundernswert / heroisch öffentlich inszeniert. Die Lebendspende betrifft Angehörige eines potentiellen Organem­ pfängers. Wie ein typisches Betroffenendilemma aussehen kann, teilt der Organverteilungs-Experte Norbert Klusen, obzwar Ex-TK-Chef, aus der Empfängerperspektive mit: „Die Ärzte haben mir gesagt wie groß der Organmangel ist, und dass ich fast gar keine Chance hätte. Ich sollte mich deshalb um einen Lebendspender kümmern. Eine Leber kann ja gesplittet werden. Dem Spender wird der größere Teil abgenommen. Der wird dem Empfänger eingesetzt und wächst an, und auch beim Spender findet die Leber fast zu voller Größe zurück. So einen Lebendspender hätte ich eventuell auch gehabt: einer meiner Söhne. Das habe ich aber schließlich abgelehnt. Das Risiko ist nicht sehr groß. Die Sorge um den eigenen Sohn, der damals 28 war, überwog aber.“40

Interessant ist hier der neuerliche Heroismus einer Ablehnung der Chance für sich selbst zugunsten der Gesundheit des Sohnes. Weniger das Risiko allerdings ‒ das sei ja „nicht sehr groß“ ‒ als vielmehr die väterliche Geste erscheinen als Beweggrund. Indirekt wird freilich auch und vor allem das Annehmen der Leber aus einem sterbenden oder „hirntoten“ Körper für gänzlich unbedenklich erklärt. Und der Organempfänger führt sich vor als jemand, der seinerseits eine Wahl hat: Keinesfalls griff Norbert Klusen also blind oder gar gierig nach dem Organ. Immerhin dürfte der offenbar zum Behandlungsalltag regulär hinzugehörige Hinweis, ein Erkrankter solle sich selbst um Spender kümmern, in nicht wenigen Familien zu moralischen Zwickmühlen geführt haben: Im Jahr 2013 wurden nach Auskunft der DSO 39  Luhmann, 40  Kewes.

S. 186.



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hierzulande 83 Lebertransplantationen nach einer Lebendspende durchgeführt. Zehnmal mehr Lebern oder Teil-Lebern kamen von den sogenannten „Hirntoten“, also im Sterbeprozess für explantierbar erklärten Patienten. Wie für die Betroffenenstatements, in der letzten Variante einschließlich des Vorführens der Möglichkeit einer direkten Anspruchsstellung im Rahmen der eigenen Familie (hier dann: heroisch negiert), ließe sich auch für die oben genannten PR-Maßnahmen eine moralische Komponente isolieren. Bis zur großen Vertrauenskrise des Transplantationssystems Mitte 2012 verliefen die dergestalt enorm vielfältigen Aktionen der Techniker-Krankenkasse zur Erhöhung der Organspende-Bereitschaft vergleichsweise erfolgreich: „Der jüngsten Befragung zufolge hat nun fast ein Viertel der Erwachsenen in Deutschland einen Organspendeausweis (21 Prozent). Zum Vergleich: 2008 waren es 14 Prozent, 2010 dann 18 Prozent. Bei den TK-Versicherten ist es mittlerweile sogar fast ein Drittel (31 Prozent).“41

Die Mitte 2012 bekannt gewordenen Organspendeskandale rund um Wartelisten prominenter Kliniken bedeuteten eine Zäsur gerade auch für die moralische Codierung der Transplantationsmedizin. Das Vertrauen der potentiellen Spender nicht nur in das Todeskriterium und in das medizintechnisch Machbare, sondern nun zusätzlich auch in das Vergabesystem wurde grundlegend erschüttert. Die Verfügbarkeit der „Hirntoten“ als Organspender ging sofort deutlich zurück: Die Zahl der Spender (in der Praxis oft: entsprechender Angehörigenentscheidungen) sank 2013 bundesweit um 16,3 Prozent von 1046 auf 876. Die Summe der gespendeten Organe sank von 3511 im Jahr 2012 auf 3034 in 2013 und damit um 13,6 Prozent.42 IV. Der Faktor Ökonomie Geld ist das Medium, das es erlaubt, Knappheiten marktförmig so umzulenken, dass die Chance auf Alternativen oder Kompensationslösungen für Mangelsituationen steigen.43 Das deutsche System der Krankenbehandlung ist kein reines Marktgeschehen. Insbesondere muss es die traditionelle Aura des Arztethos bewahren, demzufolge es dem Arzt um den Patienten geht (und allenfalls sekundär um Gewinn). Dennoch äußert sich die Deutsche Stiftung Organtransplantation am 14.5.2013 in Frankfurt am Main zu der „oft gestellten Frage“: Wollten sich die Ärzte durch die Manipulationen 41  Ärzteblatt

online, Organspenden: So informieren die Krankenkassen.

42  Hilljenhoff/Klinkhammer.

43  „Das Problem der Knappheit verändert sich […], in dem Maße, in dem das Kommunikationsmedium Geld die Kontrolle der Wirtschaft übernimmt.“ (Luhmann, S. 194)

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bereichern? Die DSO räumt ein, ökonomische Motive hätten beim Skandal eine  – womöglich entscheidende ‒ Rolle gespielt: „Dazu kommt, dass der Konkurrenzdruck unter den Kliniken groß ist, da für die Aufrechterhaltung der Transplantationsprogramme bestimmte Mindestmengen an Transplantationen einzelner Organe erfüllt werden müssen. Dadurch werden falsche Anreize gesetzt und der Konkurrenzdruck unter den Kliniken verschärft.“44

Im Zuge der Aufarbeitung der Skandale gerät noch im August 2014 auch das Deutsche Herzzentrum in Berlin unter Manipulationsverdacht und in den Folgejahren sind weitere Fälle bekannt geworden. Medienberichten zufolge sollen wie zuvor in Göttingen, München und anderswo in den Jahren 2010 bis 2012 Patienten Medikamente bekommen haben, ohne dass dies ausreichend begründet worden sei. Die Medikamente könnten demnach eingesetzt worden sein, um die Patienten auf den Wartelisten für Spenderherzen vorrücken zu lassen und zu erreichen, dass sie früher bei einer Transplantation berücksichtigt werden. Die Staatsanwaltschaft bestätigt, dass die Prioritätenliste in mehreren Fällen manipuliert worden sein könnte. Erkenntnisse über die Folgen der mutmaßlichen Manipulationen gebe es bislang nicht. „Wir wissen noch nicht, ob Patienten zu Tode gekommen sind“, sagt der Sprecher der Staatsanwaltschaft. Nicht der Tod als solcher ist hier das Problem (bei der Transplantation lebenswichtiger Organe sterben häufig Patienten), sondern die Tatsache, dass Patiententode auf ärztliches Bereicherungsinteresse zurückgehen könnten – sie beträfe das System. Ähnlich gefährlich ist für das Transplantationswesen der Verdacht erzwungener Spenden oder gar von Organverkauf. Bereits 2008, dem Jahr in dem er nach langem Warten seine Leber bekam, beklagte der damalige TK-Chef Norbert Klusen, dass viele das Thema Transplantation mit dem „Thema Organhandel“ verbänden. Eine Umfrage der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2013 zeigt tatsächlich, dass 60 Prozent der Befragten, die mit einer Organ- oder Gewebeentnahme im Falle ihres Todes nicht einverstanden sind, sich vor Missbrauch durch Organhandel fürchten.45 Hier paaren sich die Sorge vor der Gier der anderen mit dem Misstrauen gegen die Ärzteschaft als Macht, der gegenüber man sich als Laie oder spätestens als Patient ohnmächtig fühlt. Möglicherweise blitzt mit dem Gedanken an den Geldwert des eigenen Körpers ein Bewusstsein dafür auf, wie eigenartig die geradezu kapitaläquivalente Funktion ist, die lebendige Kör44  DSO-Pressemitteilung, Eine Entscheidung zur Organspende ist wichtig – gerade jetzt. 45  DSO-Website, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung – Repräsentativbefragung.



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perstoffe im Feld der Organtransfers übernehmen. Der Körper selbst, so die Philosophin Petra Gehring, zirkuliere in der Biomedizin heutigen Typs nicht mehr länger „für Geld“ sondern ‒ verwandelt in eine „eigenartige technogene Substanz“ ‒ tatsächlich „wie Geld“.46 Eben diese Kapitalisierung der Körperstoffe selbst (und der Lebenszeit, die sie versprechen) muss Medizin mehr noch als den bloßen Bereicherungsverdacht verdecken ‒ was sie für den Vorwurf der Ökonomisierung von Therapiesituationen verletzlich macht. Die aktuellen Organspende Skandale und ihre mediale Verarbeitung knüpfen aber auch an historische Erzählungen des Unbehagens über Medizinverbrechen an, die, wie der Historiker Valentin Groebner herausarbeitet, auch Organraub und kriminellen Organhandel thematisieren: „In Europa können diese Geschichten auch durch intensivierte Public Relations über den rein karitativen Charakter von Organspenden nicht zurückgedrängt werden, wie die Verantwortlichen der französischen, holländischen und deutschen Fördervereine für Organspende mit Besorgnis festgestellt haben. Offenbar werden diese Erzählungen durch Organspende-Kampagnen eher vervielfältigt und gefördert, als private ‚eigene‘ Version, von Mund zu Mund weitergetragen: ‚Ein Bekannter eines Freundes von mir hat aber erlebt, dass …‘ Die Ethnologinnen Vincent-Campion und Scheper-Hughes haben vorgeschlagen, diese Geschichten als ‚protest narratives‘ aufzufassen, in denen sich kollektives Unbehagen artikuliert.“47

Auch Groebner weist als realen Hintergrund der großen Zahl der Berichte und Gerüchte über Kriminalgeschichten rund um das Transplantationswesen auf „die rasche Zunahme von Organtransplantationen seit der Entwicklung neuer Immunsuppressiva in den letzten zwanzig Jahren“ hin: Bis 2003 seien weltweit etwa 52.000 Herztransplantationen durchgeführt worden, eine halbe Million Nieren- und etwa zwei Millionen Hornhauttransplantationen, der weit überwiegende Teil in den USA und in Westeuropa. Allein in Deutschland seien bis 2007 über 5000 Herzen, 6000 Lebern und 40.000 Nieren von einem Menschen auf einen anderen übertragen worden. „Das sind knappe, kostbare Stücke fremder Körper.“48 Groebner sieht hier ein kollektives Gedächtnis am Werke, das im Krankenhaus und speziell im OP-Saal eben nicht nur Orte der „moralischen Ökonomie“ erkennt, sondern das die Aktionsräume der Chirurgie vor allem im Falle von Knappheit von Körpersubstanzen auch als Orte des – möglicherweise gewaltförmigen – Zugriffs der Ärzte auf das lebendige „Material“ betrachtet. Etwa zum Zwecke medizinischer Forschung oder der Gewinnmaximierung einer Klinik: 46  Gehring,

S. 17. S. 73.

47  Groebner, 48  Ebd.

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„Natürlich sind moderne Organspenden und ihre Vorläufer nicht dasselbe: zum Glück. Aber die Analyse der jahrhundertealten Geschichten kann helfen zu erklären […] warum heute, trotz drei Jahrzehnten von Aufklärungskampagnen, die angesichts knapper Organe die Bereitschaft zur Organspende bei Lebenden und zur Organentnahme von Hirntoten erhöhen sollen, das Thema weiterhin umgeben ist von erschreckenden, weit verbreiteten und ziemlich wirkungsvollen ‚good stories‘.“49

Die Techniker-Krankenkasse gehört gleichwohl in der zweiten Jahreshälfte 2012 zu den ersten Akteuren im Transplantationssystem, die nach dem Skandal in die Offensive gingen. Dazu nutzt das Unternehmen Änderungen des Transplantationsgesetzes, die im November 2012 in Kraft getreten sind: Krankenkassen werden nun im Rahmen der sogenannten „Informationslösung“ zur Klärung der Spendenbereitschaft gesetzlich verpflichtet, alle Bürger ab 16 Jahren regelmäßig zu Fragen der Organ- beziehungsweise Gewebespende und Transplantation aufzuklären und sie schriftlich zu befragen, ob sie Organspender sein wollen.50 Die meisten Krankenkassen halten sich nach den Skandalen von 2012 zunächst ganz bewusst damit zurück, die neue gesetzliche Verpflichtung umzusetzen. Sie verschieben es auf das Jahr 2013, ihre Mitglieder flächendeckend anzuschreiben. „Angesichts der Berichte über Organspendeskandale in den vergangenen Monaten hielten wir einen früheren Versand für wenig erfolgversprechend“, erklärte etwa Bettina Prigge von der Pressestelle der Kaufmännischen Krankenkassen (KKH) gegenüber dem Ärzteblatt online.51 Auch die IKK classic entscheidet sich, ihre etwa drei Millionen Versicherten erst in der zweiten Jahreshälfte 2013 persönlich anzuschreiben und zu informieren. „Wir halten dies auch mit Blick auf den inzwischen eingetretenen zeitlichen Abstand zu den so genannten Organspendeskandalen für einen geeigneten Zeitpunkt“, erläutert Pressesprecher Michael Förstermann.52 Solche vorsichtigen Reaktionen bezeichnet Jens Baas, Nachfolger Klusens im Amt des TK-Vorstands, als eine „Herausstehlen aus der Verantwortung“ (Borstel, 2012). Bereits im November 2012 schickt die TechnikerKrankenkasse ihren 7 Millionen Mitgliedern zeitgleich mit dem Inkrafttreten der Gesetzesnovelle flächendeckend einen hochwertigen Organspendeausweis nebst Befragung. Die Organbeschaffung soll schnell wieder in Gang kommen. Die TK „hat dafür die Form einer Sonderausgabe ihres Mitgliedermagazins gewählt; der enthaltene Ausweis war keiner zum Ausschneiden, sondern ein beigefügtes Kunststoffexemplar“.53 Doch das Vorpreschen der TK mit neuen Werbeaktionen für die Organtransplantation noch auf dem 49  Groebner,

S. 73.

51  Ärzteblatt

online, Organspenden: So informieren die Krankenkassen.

50  AOK. 52  Ebd. 53  Ebd.



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Höhepunkt des Skandals stößt in den Massenmedien auch auf Kritik. Dabei wird nicht zuletzt über den Zusammenhang zur persönlichen Betroffenheit von Norbert Klusen spekuliert.54 Jedoch auch die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO) versucht bereits wenige Monate nach der öffentlichen Brüskierung des Systems wieder Tritt zu fassen. Neben der Berufung des Ex-TK-Managers Norbert Klusen in den Stiftungsrat der Frankfurter Organverteilungszentrale gehört auch die Benennung eines neuen Geschäftsführers Anfang 2013 zum Maßnahmenpaket. Dr. Rainer Hess, seit 1. Januar 2013 hauptamtlicher Vorstand der DSO, appelliert aus gegebenem Anlass an alle Partner, gemeinsam für mehr Transparenz zu sorgen und über eine strengere Qualitätssicherung zukünftig einen Missbrauch des Systems zu verhindern: „Das Vertrauen müssen wir uns neu verdienen. Die Organspende und die Organübertragung sind zwar getrennte Bereiche mit eigenen Regeln, aber wenn Ärzte bei der Transplantation manipulieren, ist das gesamte System betroffen. Gleichzeitig hat sich am Wert der Organspende nichts geändert. Die Manipulationen sind zu verurteilen, aber ich gehe davon aus, dass kein Patient ein Organ bekommen hat, der es nicht auch gebraucht hätte. Die Organspende rettet das Leben von schwerkranken Patienten – und das sollte unsere wichtigste Motivation sein, nämlich zu helfen.“55

Stellungnahmen wie diese zeigen deutlich, wie gegen den Ökonomieverdacht sich eine Logik der Moral zu restituieren versucht – hier nun mit dem zusätzlichen Stichwort der „Transparenz“. Die DSO streicht heraus, wie wenig die Manipulationen an der moralischen Codierung des Transplantationssystems geändert hätten. V. Ein Hauch von Religion? Zu beachten ist, dass die Geste des Helfens nicht selten über eine bloße Zuwendungsmoral hinausschießt. So versucht die DSO nicht nur, etwa im Aufruf zum „Tag der Organspende“ am 1. Juni 2013, die mit altruistischen Gedanken verbundenen und seit langem in der Organspendewerbung verwendeten Begriffe „wertvolles Geschenk“ und „Solidarität“ den diskursprägenden „Datenmanipulationen“ entgegenzusetzen. Es wird außerdem auf einen „ökumenischen Dankgottesdienst“ hingewiesen, in dem „traditionell“ all denjenigen Menschen „symbolisch gedankt“ werde, „die durch ihre Zustimmung zur Organspende anderen ein Weiterleben ermöglicht haben“.56 Die Organabgabe wird an die Weihen religiöser Rituale geknüpft, man geht in ein 54  Heinrich.

55  DSO-Pressemitteilung, 56  DSO-Pressemitteilung,

Zahl der Organspenden in 2012 dramatisch gesunken. „Richtig. Wichtig. Lebenswichtig“.

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Gotteshaus, um sich beim Spender zu bedanken. Auch Norbert Klusen pflegte, folgt man seinen öffentlichen Bekundungen, dieses Ritual. Und zwar zusätzlich zum Dankesbrief, den er nach erfolgreichem Zugriff auf sein neues Organ an die Angehörigen des ihm unbekannten Spenders gerichtet habe: „Ich habe der Familie über die Deutsche Stiftung Organtransplantation anonym einen Brief geschrieben. Ich habe mich bedankt. Und immer, wenn ich in einer Kirche bin, zünde ich für meinen Spender eine Kerze an.“57

Die Überführung der Organspende aus dem profanen Bereich der Büros, der OP-Säle und Rehakliniken in religiöse Sphären erleichtert möglicherweise den paradoxen Vorgang, dass jemand zunächst künstlich am Leben gehalten und dann aktiv zu Tode gebracht wird, um das Weiterleben eines anderen zu ermöglichen, weniger ambivalent erscheinen zu lassen. Auch Luhmann empfiehlt in seinen Überlegungen zur Knappheit, „einen Blick auf einen Parallelvorgang im Bereich der Religion zu werfen“.58 In diesem Feld werde ebenfalls das „Heilige“ (wie das ökonomisch Wertvolle) zunächst „paradox konstituiert“: „Als Einheit von Schrecken und Entzücken, von Repulsion und Attraktion. Von lähmender Angst und befreiender Freude. […] Wer gut handelt, kann sich im Bereich des Heiligen sicher und wohl fühlen; wer schlecht handelt, muß sich fürchten. […] Auch Knappheit muß sich aus ihrer eigenen Ambivalenz befreien und auch dies geschieht zunächst im Horizont von Religion über moralische Codierung.“59

Am 1. Juni 2013, dem „Tag der Organspende“, bietet die DSO Sakralität auf, namentlich wohl um die Skandale des Vorjahres in den Hintergrund zu drängen. Der anberaumte Gottesdienst findet in der ‒ so wörtlich – „Hohen Domkirche zu Essen“ statt. Gleich neben dem Kirchengebäude auf dem Essener Willy-Brandt-Platz geht es freilich schon wieder profaner zu: Dort wird, ebenfalls durch die DSO, ein sogenannter „Marktplatz für das Leben“ organisiert – der schon erwähnte Rapper fehlt auch diesmal nicht: „Das Bühnenprogramm besteht aus einer Mischung aus Musik und Talk. Dort treten die Künstler Katja Ebstein, Chris Andrews, The Lords, Le Kid, Bo Flower & Deniz, die Dritte Hälfte und The Dandys auf. Durch das Programm führt der ARD-Moderator Dennis Wilms.“60 Ein Jahr später gibt es in Stuttgart „Live-Auftritte von prominenten Künstlerinnen und Künstlern wie Laith Al-Deen, Edo Zanki, Sydney Youngblood und Mary Roos. Die Veranstaltung steht unter dem Motto „Richtig. Wichtig. Lebenswichtig“.61 57  Kewes.

58  Luhmann,

S. 184. S. 185. 60  DSO-Pressemitteilung, „Richtig, Wichtig, Lebenswichtig“. 61  Ebd. 59  Luhmann,



Beschaffen als Mission – Klusen als Aktivist im Transplantationssystem 33

Christliche Dank-Gottesdienste gehören seit Jahren regelmäßig zu den bundesweit veranstalteten Tagen der Organspende. Und auch andere Religionsgemeinschaften sind als potentielle Katalysatoren für das Transplantationssystem interessant. Die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA), die seit 2012 mit der Techniker-Krankenkasse beim Projekt Organspende macht Schule zusammenarbeitet, macht das in einem Internet-Aufritt unter dem Motto Organspende schenkt Leben deutlich. Die Behörde weist darauf hin, dass eine islamische Gelehrtenkonferenz in Jordanien Herztod und Hirntod gleichgesetzt habe62 und auch der Zentralrat der Muslime in Deutschland das hiesige Transplantationsgesetz „als mit dem islamischen Prinzip vereinbar“ erkläre. Als aktive Werberin für die Transplantationsmedizin verschweigt die BZgA immerhin nicht, dass es im Judentum und im Buddhismus starke Bedenken gegen das Hirntodkonzept gibt, das der Or­ gantransplantation zugrunde liegt. Für den Buddhismus gehe der Sterbeprozess „über die Feststellung des Hirntodes hinaus. Tot ist der Mensch demnach erst, wenn das Bewusstsein vollständig den Körper verlassen hat und in eine neue Existenz eingetreten“ sei63. VI. Die Medien sind schuld Im Oktober 2013 ehrt die DSO die Berliner Charité für ihr besonderes Engagement in Sachen Organtransplantation. Im Sommer 2014 werden jedoch ausgerechnet beim mit der Charité verknüpften Berliner Deutschen Herzzentrum ebenfalls Manipulationen im Zusammenhang mit Organtransplantationen bekannt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, die DSO, für die Klusen inzwischen arbeitet, sieht sich neuerlich zur Stellungnahme gezwungen. Wie schon früher setzt die Organverteilungsorganisation auf den Versuch, mögliche Manipulationen an den Wartelisten vom eigentlichen Transplantationsgeschehen zu trennen: „Wir hoffen, dass diese Manipulationsvorwürfe nicht zu einer erneuten Verunsicherung in der Bevölkerung und damit einem Rückgang der Organspendebereitschaft führen. Wir gehen davon aus, dass die Menschen sehr wohl verstehen, dass die Organspende selbst von diesen Manipulationen nicht betroffen ist und die Patienten auf der Warteliste nach wie vor auf die Spendebereitschaft der Menschen angewiesen sind.“64

Die Techniker-Krankenkasse (TK) hat unterdessen neue Faktoren identifiziert, die sich aus ihrer Sicht negativ auf die Bereitschaft zur Organspende auswirken könnten: TV-Serien. Eine aktuelle US-Studie zeige am Beispiel 62  BZgA-Online-Portal

„Organspende schenkt Leben“, o. J. a). „Organspende schenkt Leben“, o. J. b). 64  DSO-Pressemitteilung, Statement Dr. med. Axel Rahmel. 63  BZgA-Online-Portal

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der amerikanischen Arztserie Grey’s Anatomy, dass vor allem die Meinung junger ‒ vornehmlich weiblicher ‒ Zuschauer zwischen 18 und 24 Jahren durch die Darstellung in der Serie in unerwünschter Weise beeinflusst werde: „Nachdem nun auch ein deutscher Fernsehsender ankündigte, das Thema Organhandel in einer Vorabendserie zu thematisieren, befürchtet die Techniker Krankenkasse (TK), dass sich die fiktive Darstellung auch hierzulande real auf die Spendebereitschaft auswirkt.“65

Die TK tritt also als Medien-Kritikerin auf. Ob das die Spendebereitschaft erhöhen wird, darf bezweifelt werden. Der Vorstoß zeigt, wie vielfältig die Argumente und Interventionsformen sind, derer sich die DSO im Laufe der Jahre zu bedienen gelernt hat. In den Vorstandsetagen von DSO und kooperationsfreudigen Kassen wird mit Vorstößen der verschiedensten Art regelrecht experimentiert. Norbert Klusen ist ein solcher Experimentator, der zugleich, als Typus, die changierenden Rollen in einer Person vereint, die das Gewinnungs- und Verteilungssystem bereithält. Der Tod des einen statt des Todes des anderen ‒ als könnten Tode sich gegenseitig aufheben ‒ bildet die Fiktion einer bloßen Welt der gelungenen Verteilungen ein Zentrum, um das sich wie ein großes, unglückliches Karussell das deutsche Transplantationswesens dreht. Das Ausgansproblem bleibt unauflösbar. Es liegt darin, dass OrganKnappheit „durch Zugriff erzeugt und behoben, vermehrt und verringert wird“.66 Entscheidend bleibt so, wer zugreifen kann und wer nicht. Wer an welcher Stelle im System teilnimmt. Das Transplantationssystem produziert immer Verlierer. Der Kategorie der Gerechtigkeit entgleitet es auf diese Weise. Literatur Ärzteblatt online: Deutsches Herzzentrum bei Organspenden unter Manipulationsverdacht (22.8.2014), verfügbar unter: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/59842/ Deutsches-Herzzentrum-bei-Organspenden-unter-Manipulationsverdacht?s=Deut sche+Stiftung+Organtransplantation (letzter Zugriff: 6.10.2016). ‒ Organspenden: So informieren die Krankenkassen (1.6.2013), verfügbar unter: http://www.aerzteblatt.de/nachrichten/54628/Organspende-So-informieren-dieKrankenkassen?s=Techniker-Krankenkasse+Organspende (letzter Zugriff: 6.10. 2016). AOK: Das Gesetz zur Änderung des Transplantationsgesetzes und die OrganspendeReform, verfügbar unter: http://www.aok-gesundheitspartner.de/bund/krankenhaus/ gesetzgebung/index_06894.html (letzter Zugriff: 6.10.2016). Axel Springer-Presseinformationen: „pulsus-Award“ 2012: Bild am Sonntag und Techniker Krankenkasse ehren Helden im Bereich Gesundheit (24.5.2012), ver65  TK-Pressemitteilungen. 66  Luhmann,

S. 181.



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Ludger Fittkau und-bild-am-sonntag-suchen-wieder-stille-helden-des-alltags (letzter Zugriff: 6.10. 2016).

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Zur Konstruktion von Wissen über die Organspende unter besonderer Berücksichtigung des Hirntodes (I) Eine Analyse von Bevölkerungsbefragungen1 Antje Kahl und Tina Weber Der folgende Beitrag sowie der sich diesem Beitrag anschließende, ebenfalls von uns verfasste Artikel „Zur Konstruktion von Wissen über die Organspende unter besonderer Berücksichtigung des Hirntodes – Analyse des audiovisuellen ‚Aufklärungsmaterials‘ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung“ lenken den Fokus der Betrachtung auf eine Leerstelle der gegenwärtigen Organspende-Debatte: das Hirntodkonzept. Gefragt wird in beiden Artikeln danach, welches Wissen über die Organspende und speziell den Hirntod wie hergestellt wird, so dass das Hirntodkriterium als so unproblematisch gilt, dass es nicht öffentlich diskutiert werden muss. Analysiert werden hierzu die zwei zentralen Praktiken einer der beiden wichtigsten Organisationen, die sich um die Vermittlung von Wissen über die Organspende bemühen: Organspendebezogene Bevölkerungsbefragungen und audio-visuelle Kampagnen der BZgA, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.2 Während sich der zweite unserer Beiträge der Analyse der Gestaltung des audiovisuellen „Aufklärungsmaterials“ der BZgA aus dem Jahr 2012 widmet, wird im vorliegenden Artikel die einzige den Hirntod berücksichtigende Bevölkerungsbefragung der BZgA aus dem Jahr 2010 untersucht. Hierbei wird gezeigt, wie Wissen über den Hirntod durch die Art der Gestaltung und Auswertung der Befragung nicht erhoben, sondern (als bestimmtes Wissen) hergestellt wird. Anschließend werden einige Ergebnisse aus einer 1  Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts „Tod und toter Körper. Transmortalität“, das im Rahmen der Förderinitiative „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ von der VolkswagenStiftung gefördert wird. Die Analyse des Materials für diesen Beitrag wurde durch Leila Akremi und Christopher Grieser unterstützt. 2  Neben der BZgA ist die DSO, die Deutsche Stiftung Organtransplantation, der Hauptakteur der Vermittlung von Wissen über die Organspende. Da die DSO selbst aber keine kontinuierlichen Bevölkerungsbefragungen erhebt, konzentrieren wir uns im Rahmen dieses Artikels auf die BZgA.

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Antje Kahl und Tina Weber

eigens von uns erstellen und vom EMNID-Institut durchgeführten repräsentativen Bevölkerungsbefragung vorgestellt, die sich ebenfalls mit der Frage nach dem Wissen über den Hirntod in der deutschen Bevölkerung befasst. Ausgehend von unserer Kritik an der Art und Weise der Gestaltung und Auswertung der BZgA-Befragung wollen wir zeigen, wie unterschiedlich die Einschätzung zum Wissen der Bevölkerung über den Hirntod ausfallen kann, wenn andere Fragen in einer repräsentativen Befragung gestellt bzw. die Fragen anders gestellt werden. I. Wie durch Bevölkerungsbefragungen und deren Auswertung Wissen über die Organspende, insbesondere den Hirntod, hergestellt wird: Das Beispiel der BZgA-Befragungen Was die Bevölkerung über den Hirntod denkt, ist bislang weitgehend unerforscht. Eine Ausnahme bildet hier die Umfrage aus dem Jahr 2010 „Einstellung, Wissen und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organund Gewebespende“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Die BZgA ist eine Fachbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit. Auf der Grundlage des Transplantationsgesetzes § 2 erfüllt sie nach eigenen Angaben auf ihrer Homepage die gesetzliche Aufgabe der Aufklärung zum Thema Organ- und Gewebespende. Dies tut sie durch Kampagnen – um solche aber entwickeln zu können und so ihren „Informations- und Kommunikationsaufgaben“ gerecht zu werden, ist die BZgA selbst auf Wissen angewiesen. Zu diesem Zweck wurden in den letzten Jahren von der BZgA wiederholt Umfragen durchgeführt: Allgemeine Bevölkerungsbefragungen liegen für die Jahre 1999, 2000, 2001 (alle unter dem Titel „Die Organspendebereitschaft in der Bundesrepublik Deutschland“), 2008 („Organ- und Gewebespende. Repräsentative Befragung der Allgemeinbevölkerung“) sowie 2010 und 2013 (beide unter dem Titel „Einstellung, Wissen und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organ- und Gewebespende“) vor. Im Folgenden werden wir uns ausführlicher der BZgA-Befragung aus dem Jahr 2010 zuwenden.3 Wir werden uns v. a. auf die Ausführungen zum Themenfeld Hirntod konzentrieren und zeigen, wie die BZgA auf methodisch unzulässige Weise letztlich zu dem Schluss kommen kann, dass der Hirntod für die Bevölkerung kein Problem darstellt. Genauer lautet die BZgA-Argumentation: Der Hirntod ist allgemein bekannt und wird allgemein verstanden, 3  Bei der Ersterstellung dieses Manuskriptes lag die Befragung der BZgA aus dem Jahr 2013 noch nicht vor. Da sie bezüglich des Hirntodes inhaltlich aber keine wesentlichen Veränderungen aufweist, beschränken wir uns hier auf die Analyse der 2010er Befragung.



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (I)

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weshalb die Organspende insofern kein grundsätzliches Problem darstellt, weil wer das Hirntodkonzept verstanden hat, hat keine Angst vor einer vorzeitigen Organ- und Gewebeentnahme.4 In unserer Analyse der Befragung wurde jedoch deutlich, dass auf die Art und Weise, wie diese Befragung durchgeführt und analysiert worden ist, ein anderes Ergebnis gar nicht hätte zustande kommen können. D. h. hier wird ein ganz bestimmtes Wissen über den Hirntod produziert, welches dann wiederum auf dem Wege der Veröffentlichung der Studie der Öffentlichkeit zeigen soll, dass der Hirntod in der Bevölkerung akzeptiert ist und somit kein Problem darstellt. In der Befragung werden drei verschiedene Fragen zum Hirntod gestellt: a) bezüglich des Vorliegens des Hirntodes als Kriterium für die Organ- und Gewebespende, b) bezüglich des Verständnisses der Bedeutung des Begriffs Hirntod und c) bezüglich des Verständnisses der Bedeutung der Hirntoddiagnose. Zu a) Zum Vorliegen des Hirntodes als Kriterium für die Organ- und Gewebespende:

Quelle: BZgA, 2010, S. 12, Abb. 8.

Abbildung 1: In Deutschland gilt als Kriterium für die mögliche Organ- und Gewebeentnahme das Vorliegen …

Als Kriterium für eine mögliche Organ- und Gewebespende werden folgende Antwortmöglichkeiten vorgegeben: der Herztod, der Hirntod, das 4  BZgA,

S. 4, S. 58.

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Antje Kahl und Tina Weber

Koma. 21 % der Befragten geben den Herztod als Kriterium für eine mögliche Organ- und Gewebespende an, 70 % den Hirntod und 4 % das Koma. Zu b) Zum Verständnis der Bedeutung des Begriffs Hirntod:

Quelle: BZgA, 2010, S. 12, Abb. 9.

Abbildung 2: Was versteht man ihrer Meinung nach unter dem Begriff „Hirntod“?

Für das Verständnis des Hirntodes lauten die Antwortvorgaben: „Komaartiger Zustand, aus dem man manchmal, aber nicht immer wieder erwachen kann“, „Den nicht wieder herstellbaren Ausfall aller Hirnfunktionen“, „Schädigung des Gehirns, bei der nur die denkenden und fühlenden Funktionen ausgefallen sind“. 76 % der Befragten wählen hier die richtige Antwortvorgabe aus und die BZgA kommt entsprechend zu dem Schluss: „Die Definition des Hirntodes (nicht wieder herstellbarer Ausfall von Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm) kennen drei Viertel (76 %) aller Befragten“.5 Hier ist kritisch anzumerken, dass es sich aufgrund der ausgewählten Antwortvorgaben um eine Suggestivfrage handelt und es entsprechend sehr wahrscheinlich ist, dass die richtige Antwort angekreuzt wird. Daraus zu schließen, die Befragten hätten das Hirntodkriterium verstanden, ist zumindest gewagt.

5  BZgA,

S. 12.



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (I)

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Zu c) Zum Verständnis der Bedeutung der Hirntoddiagnose:

Quelle: BZgA, 2010, S. 20, Abb. 17.

Abbildung 3: Kann eine hirntote Person wieder ein normales Leben führen?

Das Verständnis der Bedeutung der Hirntoddiagnose wurde anhand der Frage „Kann eine hirntote Person wieder ein normales Leben führen?“ und den dazugehörigen Antwortvorgaben „ja“, „mit Einschränkung“, „nein“ erhoben. Mit „ja“ antworten 2 % der Befragten, 12 % gaben an „mit Einschränkung“ und 85 % antworteten mit „nein“. Abgesehen davon, dass nicht definiert worden ist, was mit einem ‚normalen Leben‘ gemeint sein soll, wäre hier anzumerken, dass die BZgA in der Auswertung dieser Frage zu folgendem Schluss kommt: „Insgesamt ist der deutlichen Mehrheit der Befragten klar, dass der Hirntod den Tod des Menschen darstellt“.6 Diese Schlussfolgerung ist diesmal nicht nur gewagt, sondern sie ist aus der Frage und dem Antwortverhalten schlicht nicht abzuleiten, denn im Umkehrschluss würde dies bedeuten, es gäbe nur die beiden Zustände „normales Leben“ oder „Tod“. Die Gleichsetzung der Antwort „nein“ mit dem Zustand „Tod“ ist unzulässig, denn sie unterschlägt alle Antworten, die zum Ausdruck bringen würden, dass eine hirntote Person ein nicht-normales Leben führen könnte und entsprechend nicht tot wäre. In Abgrenzung zu der BZgA-Befragung stellen wir die These auf, dass man zu anderen Ergebnissen kommen könnte, wenn man andere Fragen stellt bzw. die Fragen anders formuliert und auswertet – und der Hirntod 6  BZgA,

S. 20.

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Antje Kahl und Tina Weber

dann nicht mehr ganz so unproblematisch ist, wie die BZgA es darstellt. Unsere eigene repräsentative Umfrage mit knapp eintausend deutschen Teilnehmern wurde im November 2013 durch das Meinungsforschungsinstitut TNS EMNID im CAPI Verfahren durchgeführt.7 Im Folgenden werden wir die Ergebnisse der Studie vorstellen, die sich direkt auf den Hirntod beziehen.8 II. Wie durch Bevölkerungsbefragungen und deren Auswertung Wissen über die Organspende, insbesondere den Hirntod, hergestellt wird: Das Beispiel der von uns erstellten Bevölkerungsbefragung9 Unter anderem wollten auch wir in unserer Befragung herausfinden, welches Wissen über den Hirntod vorhanden ist. In unserem Fragebogen sollten die Befragten zunächst offen selbst formulieren, was sie unter dem Begriff Hirntod verstehen. In der nachfolgenden Tabelle sind die hierbei getroffenen Aussagen abgebildet.10 Für die Analyse wurden zunächst jeweils in einer Zeile die Aussagen zusammengefasst, die inhaltlich sehr eng zusammenhängen. Die in einer Zeile zusammengeführten Aussagen werden durch „ / “ voneinander getrennt.

7  CAPI bedeutet, dass es sich um eine Befragung handelt, die nicht am Telefon durchgeführt worden ist, sondern computergestützt, face to face im Rahmen einer Mehrthemenbefragung bei den Befragten zu Hause. 8  Unsere Befragung enthielt außerdem weitere Fragen zur Einstellung zur Organspende und zum Transplantationssystem sowie zu Aspekten der Transmortalität, also dem Weiterwirken nach Eintritt des Todes (vgl. Kahl/Weber). 9  Dass auch wir durch unsere Forschung Wissen in bestimmter Weise produzieren, sollte nicht außer Acht gelassen werden. Auch alles wissenschaftliche Wissen wird hergestellt und unterliegt bestimmten Grundannahmen und Methoden der Wissensproduktion. Wir möchten damit jedoch nicht behaupten, dass deswegen alles wissenschaftliche Wissen in seiner Gültigkeit angezweifelt werden muss. Wichtig ist jedoch, die Art und Weise der Herstellung des Wissens nachvollziehbar darzustellen und zu reflektieren. 10  Da es sich um eine offene Frage handelt, stimmt die Anzahl aller Nennungen nicht mit der Anzahl aller befragten Personen überein, weil hier Mehrfachaussagen möglich waren.



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (I)

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Tabelle 1 Wissen über den Hirntod – offene Frage Aussagen

Absolute Häufigkeit der Nennungen (n = 989)

1. Ausfall der Hirnfunktionen/Gehirn ist ausgeschaltet/ Gehirnzellen sind tot/Gehirn funktioniert nicht mehr/ Gehirn ist abgestorben

392

2. Mensch ist tot/lebt nicht mehr/Mensch ist klinisch tot/ das Leben ist zu Ende/der Mensch ist gestorben/ Todeszeichen/keine Anzeichen von Leben

230

3. Mensch wird nur noch von Maschinen am Leben gehalten/Mensch wird nur noch künstlich am Leben erhalten

164

4. es sind keine Gehirnströme mehr vorhanden/Hirn­ ströme sind nicht mehr messbar/Hirnströme sind auf null/keine messbaren Hirnfunktionen

108

5. es lebt nur noch der Körper

 83

6. Menschen liegen im Koma/Wachkoma

 69

7. Organe werden nur noch durch Maschinen am Leben gehalten/es arbeiten nur noch die Organe

 73

8. nur das Herz schlägt noch/Herz-Kreislaufsystem arbeitet noch

 60

9. keine Heilung/keine Rettung möglich

 55

10. Mensch ist nicht mehr ansprechbar/kann sich nicht mehr bemerkbar machen

 43

11. keine geistigen Funktionen mehr/Verstand existiert nicht mehr/keine steuerbaren Gedanken mehr

 32

12. Gehirn bekommt keinen Sauerstoff mehr/nur noch wenig Sauerstoff

24

13. Zustand zwischen Leben und Tod

 18

14. Körperfunktionen fallen aus

 16

15. es dürfen Organe entnommen werden/Organspende ist möglich

 17

16. Gehirn ist (stark) beschädigt

 15 (Fortsetzung nächste Seite)

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Antje Kahl und Tina Weber

(Fortsetzung Tabelle 1) Aussagen

17. kein eigenständiges Leben mehr möglich/hilflos

Absolute Häufigkeit der Nennungen (n = 989)  11

18. aussetzen verschiedener Hirnfunktionen

8

19. keine Angabe/weiß nicht

14

20. sonstige Antworten

61

Zunächst lässt sich feststellen, dass in einem äußerst geringen Ausmaß (insgesamt nur 14 Nennungen; Zeile 19) die Antworten „weiß nicht“ bzw. „keine Angabe“ angegeben wurden. Es lässt sich also nicht sagen, dass die Befragten nichts über den Hirntod wissen. Zu einem ebenfalls äußerst geringen Anteil wurde von den Befragten selbst die Verknüpfung von Hirntod und Organspende hergestellt (insgesamt nur 17 Nennungen; Zeile 15).11 Dies deutet möglicherweise darauf hin, dass die Problemkopplung von Hirntod und Organspende bei den Befragten eventuell gar nicht in der Weise vorhanden ist, wie wir, die wir uns wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigen, uns das gemeinhin vorstellen. Darauf werden wir aber später noch einmal zurückkommen. Der größte Teil der Antworten bezog sich auf das Gehirn und seine Funktionsfähigkeit bzw. Nicht-Funktionsfähigkeit (Aussagen in den Zeilen 1, 4, 11, 12, 16 und 18). Der Ausfall von Hirnfunktionen wurde hier jedoch nicht eindeutig mit dem Tod verknüpft. In deutlich weniger Nennungen setzten die Befragten den Hirntod ausdrücklich mit dem Lebensende und dem Tod des Menschen gleich (Aussagen in Zeile 2). Für die zugrundeliegende Frage, ob der Hirntod als Tod des Menschen angesehen wird, lässt sich außerdem feststellen, dass es neben dem Antwortbündel, in welchem dies deutlich zum Ausdruck gebracht wird (Aussagen in Zeile 2), ein weiteres Antwortbündel gibt, welches die Benennung oder Assoziation von Leben beinhaltet (Aussagen in den Zeilen 3, 5, 7, 8, 13 und 17). Dieses ist in der Häufigkeit der Nennungen sogar noch etwas stärker ausgeprägt als das Antwortbündel, in welchem der Hirntod ausdrücklich mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt wird. Außerdem gibt es 11  Da die Befragung Bestandteil einer Mehrthemenbefragung war, gab es zu dem Themenblock unserer Befragung nur einen ganz kurzen Einleitungstext. In diesem kurzen Einleitungstext wurde den Befragten nicht mitgeteilt, dass es um das Thema Organspende geht, sondern es war vom Lebensende die Rede.



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (I)

47

noch einen kleineren Anteil von Befragten, in deren Verständnis des Hirntodes Begriffe wie Koma oder Wachkoma genannt werden (Aussagen in Zeile 6). Die Beantwortung dieser ersten, offenen Frage zeigt insgesamt gleich zu Beginn, dass die mit dem Hirntod verbundenen Vorstellungen der Befragten weitaus komplexer und auch ambivalenter sind, als es in der BZgA-Befragung dargestellt worden ist. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn wir uns die nächste geschlossene Frage zum Hirntodverständnis ansehen. Diese beinhaltete Aussagen über den Hirntod, denen die Befragten zustimmen oder nicht zustimmen sollten. Tabelle 2 Wissen über den Hirntod – geschlossene Frage Stimme zu in %

Stimme nicht zu in %

Weiß nicht/k.A in %

a) Der Hirntod ist ein behandelbarer Zustand.

 9

84

 7

b) Beim Hirntod sind alle Hirnfunktionen ausgefallen und können nicht wiederhergestellt werden.

82

11

 7

c) Hirntote Personen können noch ein ganz normales Leben führen.12

 5

91

 4

d) Hirntote Personen werden maschinell unterstützt beatmet.

74

19

 7

e) Der Hirntod ist ein unumkehrbarer Zustand eines Sterbeprozesses.

79

14

 7

f) Hirntote zeigen Schmerzreaktionen.

17

69

15

Aussagen

(Fortsetzung nächste Seite) 12  Trotz der von uns geäußerten Kritik an dieser Formulierung in der BZgABefragung haben wir sie für unsere Umfrage übernommen. Der Grund dafür ist, dass es sich hierbei an sich um eine interessante Formulierung handelt, von der auch wir gerne wissen wollten, wie viele der Befragten ihr zustimmen würden. Unsere Kritik bezog sich auf die Art der Verwendung dieser Antwortvorgabe im Rahmen der BZgA-Befragung, denn es macht schließlich einen Unterschied, ob sie als eine von drei Antworten vorgegeben wird, von denen ein Befragter die für ihn zutreffendste auswählen soll (wie bei der BZgA-Befragung) – oder ob sie (wie bei uns) eine von mehreren möglichen Antwortvorgaben ist, bei der nur entschieden werden soll, ob man ihr zustimmt oder nicht (aber eben ohne andere Antwortmöglichkeiten dafür ausschließen zu müssen).

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Antje Kahl und Tina Weber

(Fortsetzung Tabelle 2) Stimme zu in %

Stimme nicht zu in %

Weiß nicht/k.A in %

g) Hirntote sehen aus wie schlafende Personen.

76

13

10

h) Beim Hirntod fallen einige Bereiche des Gehirns aus, so dass das Leben des Menschen stark eingeschränkt wird.

36

58

 7

i) Der Hirntod ist ein sicheres Todes­ zeichen.

75

19

 6

j) Der Hirntod ist ein komaähnlicher Zustand, aus dem man wieder erwachen kann.

21

73

 6

k) Hirntote befinden sich geistig im Jenseits.

63

24

13

l) Der Hirntod ist einen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod.

55

38

 8

Aussagen

Wir sehen hier eine deutliche (75 % oder mehr) Zustimmung zu den Antwortvorgaben b), d), e), g) und i): – b) Beim Hirntod sind alle Hirnfunktionen ausgefallen und können nicht wiederhergestellt werden. – d) Hirntote Personen werden maschinell unterstützt beatmet. – e) Der Hirntod ist ein unumkehrbarer Zustand eines Sterbeprozesses. – g) Hirntote sehen aus wie schlafende Personen. – i) Der Hirntod ist ein sicheres Todeszeichen. Besonders auffällig sind die hohen Zustimmungswerte sowohl zur Antwortvorgabe e) „Der Hirntod ist ein unumkehrbarer Zustand eines Sterbeprozesses“ als auch zur Antwortvorgabe i) „Der Hirntod ist ein sicheres Todeszeichen“. Bei der Erstellung des Fragebogens nahmen wir an, dass es sich hierbei um sich einander ausschließende Antwortvorgaben handelt, weswegen uns die sehr hohen Zustimmungswerte auf beide Antwortvorgaben überraschten. Die genauere Analyse der Daten ergab des Weiteren, dass zwischen diesen beiden Antwortvorgaben außerdem eine sehr hohe Korrelation besteht: Die Antworten auf diese zwei Vorgaben überschneiden sich zu 83 %, also 83 % der Befragten, die e) zugestimmt haben, haben auch i) zugestimmt. Weil dies erklärungsbedürftig erscheint, haben wir hierfür zwei Thesen aufgestellt:



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (I)

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(1) Eine erste These wäre, dass die Befragten es nicht so genau nehmen oder sich nicht festlegen wollen. Sie unterscheiden also nicht so exakt und ausschließend zwischen dem Zustand des Todes und dem Sterbeprozess, wie wir uns das bei der Konstruktion des Fragebogens vorgestellt hatten und wie es eine medizinisch orientierte Leben- / Tod-Unterscheidung, die möglichst exakt zwischen Sterben als Zustand des Lebendigseins und Tod als Zustand des Nicht-Lebendigseins differenzieren will, verlangen würde. (2) Die zweite These nennen wir die Ambiguität des sicheren Todeszeichens: Es gibt vielleicht eine Differenz zwischen einem medizinischen Verständnis dieses Begriffs (als auf einen eingetretenen Tod verweisend – und damit in die Vergangenheit gerichtet) und einem Laienverständnis dieses Begriffs (als auf einen sicher eintretenden Tod verweisend – und damit in die Zukunft gerichtet). Wenn Laien den Begriff „sicheres Todeszeichen“ in dieser Form verstehen würden, ergäbe sich kein Widerspruch zwischen den Aussagen e) und i), denn beides würde auf den sicher zukünftig eintreffenden Tod verweisen. Allerdings stünde dies im Gegensatz zum medizinischen Verständnis dieses Begriffs und zum Hirntod als Zustand des bereits eingetretenen Todes. Was wir außerdem sehen, sind in gewissem, zum Teil überraschend hohem Maß vorhandene Zustimmungswerte zu den Aussagen, die den Hirntod sozusagen als Zwischenzustand markieren: l), h) und j), aber auch f) oder a): – l) Der Hirntod ist einen Zwischenzustand zwischen Leben und Tod. (55 % Zustimmung) – h) Beim Hirntod fallen einige Bereiche des Gehirns aus, so dass das Leben des Menschen stark eingeschränkt wird. (36 % Zustimmung) – j) Der Hirntod ist ein komaähnlicher Zustand, aus dem man wieder erwachen kann. (21 % Zustimmung) – f) Hirntote zeigen Schmerzreaktionen. (17 % Zustimmung) – a) Der Hirntod ist ein behandelbarer Zustand. (9 % Zustimmung) Das Fazit lautet auch hier, dass die Eindeutigkeit der BZgA-Befragung hinsichtlich des Verständnisses des Hirntodes durch unsere Ergebnisse nicht bestätigt werden kann. Stattdessen zeigten sich auch hier eine Ambivalenz hinsichtlich des Verständnisses des Hirntodes und z. T. sehr hohe Zustimmungswerte zu Aussagen, die nicht dem medizinischen Verständnis des Hirntodes entsprechen.

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Antje Kahl und Tina Weber

III. Zusammenfassung Ausgehend von unserer Kritik an der Art und Weise der Gestaltung und Auswertung der BZgA-Bevölkerungsbefragungen zur Organspendebereitschaft wurden in diesem Beitrag einige Ergebnisse einer eigens erhobenen Bevölkerungsbefragung vorgestellt. Die Ergebnisse der Befragung zeigen, dass die mit dem Hirntod verbundenen Vorstellungen der Befragten weitaus komplexer und ambivalenter sind als es in früheren Befragungen der BZgA dargestellt worden ist. Von einer Eindeutigkeit hinsichtlich des Verständnisses des Hirntodes kann keine Rede sein. Dass die Bevölkerung den Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichsetzt, kann in dieser Verallgemeinerung ebenfalls nicht geschlussfolgert werden. Die Verknüpfung von Hirntod und Organspende wurde von den Befragten allerdings kaum eigenständig hergestellt. Dies könnte darauf hindeuten, dass die im wissenschaftlichen Diskurs vorzufindende Problemkopplung von Hirntod und Organspende bei den Befragten selbst nicht in dieser Weise vorhanden ist. Aber auch das würde nicht zwangsläufig bedeuten, dass der Hirntod kein Problem darstellt. Denn immerhin 28 % der Befragten stimmten der Aussage „Hirntote Patienten sollten nicht als Organspender benutzt werden“ zu und 37 % hätten, wenn sie selbst auf ein fremdes Organ angewiesen wären, lieber ein künstliches oder ein aus Stammzellen gezüchtetes Organ als das Organ eines Hirntoten.13 Hierin können deutliche Hinweise darauf gesehen werden, dass der Hirntod vielleicht doch nicht so unproblematisch für die Organspende ist, wie die BZgA es darstellt. Es wäre zu überlegen, ob diesen Ambivalenzen und Komplexitäten im Kontext der Frage, wie Aufklärung hinsichtlich der Organspende gestaltet werden könnte oder sollte, mehr Beachtung beizumessen wäre. Literatur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Einstellung, Wissen und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organ- und Gewebespende, 2010, verfügbar unter: www.bzga.de/forschung/studien-untersuchungen/studien/organ-und-gewebe spende/?sub=71 (letzter Zugriff: 30.04.2013). Kahl, Antje/Weber, Tina: Einstellungen zur Organspende, das Wissen über den Hirntod und Transmortalitätsvorstellungen in der deutschen Bevölkerung, in: Antje Kahl/Hubert Knoblauch/Tina Weber (Hrsg.): Transmortalität. Organspende, Tod und tote Körper in der heutigen Gesellschaft. Weinheim: Belz Juventa 2017, S. 132–168. 13  Beide Aussagen entstammen einem Themenblock der Befragung, in dem es um die Einstellung zur Organspende und zum Transplantationssystem ging. Zur ausführlicheren Darstellung dieses Themenblocks vgl. Kahl/Weber.

Zur Konstruktion von Wissen über die Organspende unter besonderer Berücksichtigung des Hirntodes (II) Analyse des audiovisuellen „Aufklärungsmaterials“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung1 Antje Kahl und Tina Weber I. Einleitung Der folgende Beitrag ist der zweite Teil unserer bereits hier im Band vorgestellten Untersuchung und baut auf dem ersten Teil „Zur Konstruktion von Wissen über die Organspende unter besonderer Berücksichtigung des Hirntodes – Eine Analyse von Bevölkerungsbefragungen“ auf. In der von uns in diesem ersten Beitrag analysierten Bevölkerungsbefragung der BZgA „Einstellung, Wissen und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organund Gewebespende“ aus dem Jahr 2010 wird von der BZgA zusammenfassend darauf hingewiesen, dass Wissen für die Entscheidung für oder gegen eine Organspende relevant ist und daher verstärkt vermittelt werden muss: „Die Untersuchungsergebnisse der Wissensstandserhebung geben wichtige Hinweise für ein besseren [sic, A. K. / T. W.] Verständnis des Organspendeverhaltens und bestärken die Vermutung, dass durch gezielte Aufklärungsarbeit in Form von kontinuierlichen Informationsbereitstellung [sic, A. K. / T. W.] und das Angebot einer personalen Kommunikation (z. B. über das Infotelefon Organspende) die Organ- und Gewebespendebereitschaft positiv beeinflusst werden kann [Hervorhebung A. K. / T. W.].“2

In diesem einen Satz zeigt sich bereits das potentielle Dilemma der „Aufklärungsarbeit“ der BZgA: Obwohl sowohl Aufklärung als auch Informationsbereitstellung doch gemeinhin ergebnisoffen zu gestalten sind, wird hier davon ausgegangen, dass durch beides die Organ- und Gewebespendebereitschaft letztlich „positiv beeinflusst werden kann“. In der folgenden Unter1  Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojektes „Tod und toter Körper. Transmortalität“, das im Rahmen der Förderinitiative „Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften“ von der VolkswagenStiftung gefördert wird. Die Analyse des Materials für diesen Beitrag wurde durch unsere studentische Hilfskraft Patrick Schubert unterstützt. 2  BZgA, S. 55.

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Antje Kahl und Tina Weber

suchung soll deshalb gezeigt werden, ob Wissen und wenn ja, welches Wissen die BZgA im Zuge ihrer „Aufklärungsarbeit“ zur Verfügung stellt. Zur Beantwortung dieser Fragen wird das audiovisuelle Aufklärungsmaterial, dass zeitlich nach der Studie aus dem Jahr 2010 produziert wurde, untersucht. II. Analyse Die Untersuchung basiert auf der struktural-hermeneutischen Symbolanalyse.3 Die Analyseschritte unterteilen sich in: 1. Ersteindrucksanalyse Durch die Ersteindrucksanalyse werden Primärbotschaft, dargestellte Objekte und Personen, verwendete markante Stilmomente und die primäre Inszenierungsmachart bestimmt. 2. Hypothetische Typenbildung Die hypothetische Typenbildung wertet die Ersteindrucksanalyse aus, die Forschergruppe sichtet das Material und sucht nach Familienähnlichkeiten. 3. Typenbildung Die Typenbildung dient der Zuordnung des Gesamtmaterials zu den Typen und der Auswahl eines Prototyps, der die meisten Merkmale der jeweiligen Klasse enthält. 4. Einzelfallanalyse Die Einzelfallanalyse wurde auf Basis des dreistufigen Analysemodells (Deskription, Rekonstruktion und Interpretation) durchgeführt: – Ziel der Deskription ist eine methodisch kontrollierte Vertextung der Bildelemente, die eine genaue und lückenlose Erfassung aller Bilddaten, die als konstitutive Elemente der symbolischen Bildbotschaft stehen könnten und somit als eine möglichst ganzheitliche Datenstruktur rekonstruiert und interpretiert werden können, ermöglicht. – Die Rekonstruktion ist eine Bedeutungs- oder Formanalyse der bereits deskriptiv beschriebenen Elemente auf symbolische Bedeutungsgehalte hin. Die Rekonstruktion ist ein Hilfsmittel zur Erschließung der einzelnen Elemente und ihrer Sinnstruktur. – In der Interpretation werden die rekonstruierten symbolischen Bedeutungsgehalte nach Ausdrucksformen von kulturellen Sinnmustern aufgeschlüsselt. 3  Müller-Doohm.



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 53 1. Ersteindrucksanalyse

Insgesamt wurden 65 Kurzfilme von Interessenverbänden zum Thema Organspende recherchiert und 32 Kurzfilme der BZgA genauer untersucht. Letztere wurden im Jahr 2012 von der BZgA überwiegend als Interviews im Rahmen der Aktion „Von Mensch zu Mensch“ veröffentlicht.4 Damit wurde das bis dahin im Material vorherrschende Format des Spots (vornehmlich durch die DSO betrieben) durch das des persönlichen, emotionalen Interviews ergänzt. Diese 32 Kurzfilme teilten sich dennoch in weitere unterschiedliche Formate auf, nämlich Interviews, Erfahrungsberichte, ein Musikvideo sowie filmisches Schulmaterial, wobei das Schulmaterial aus Interviews, Erfahrungsberichten, Filmbeiträgen und zwei Musikclips besteht. Die Ersteindrucksanalyse zeigt, dass die audiovisuelle BZgA-Kampagne (Interviews, Erfahrungsberichte, Schulmaterial und Musikvideos) umfangreiche Kenntnisse und positive Erfahrungen zur Organspende größtenteils aus der Perspektive junger Organempfänger, von Transplantationsmedizinern und DSO- bzw. Eurotransplant-Mitarbeitern vermittelt. Die Vermittlung von Wissen über den toten Spender, den Tod und den Hirntod wird eher selten vorgenommen. So lassen sich diese Themen kurz in nur drei der 25 Interviews wiederfinden. Die Aufnahmen bspw. von einer Frau, die ihren Bruder zur Organspende freigegeben hat und den Hirntod anspricht, wird gleich zweimal verwertet: als Erfahrungsbericht und im Schulmaterial. Im Schulmaterial kommen außerdem Ärzte und DSO-Mitarbeiter auf diese Themen zu sprechen. 2. Hypothetische Typenbildung

Die hypothetische Typenbildung erfolgte nach Familienähnlichkeiten hinsichtlich der Formate und diente der Zuordnung des Gesamtmaterials zu den Typen, die nun inhaltlich kurz vorgestellt werden. a) Interviews Die visuelle Ebene zeichnet sich dadurch aus, dass die kameratechnische Bildgestaltung der Kurzfilme sich auf das Wesentliche beschränkt, indem vor allem natürlich gehaltene Verhältnisse dargestellt werden. Das persönliche Gespräch zwischen dem Moderator und den jeweiligen Betroffenen wird typischerweise mit vielen Nah- und Halbnaheinstellungen und Schuss4  Eine Auflistung der dieser Analyse zugrundeliegenden Materialien befindet sich im Anhang (Tabelle 1).

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Antje Kahl und Tina Weber

Gegenschuss-Einstellungen in Szene gesetzt. Die Kamerahandlung verbleibt meistens in der Normalperspektive, die Kamera ist meistens statisch und das Licht wird im Normalstil aufgenommen. Es gibt keine besonderen Stilmomente oder Stilgegensätze und es werden vorwiegend simple Montagen genutzt, Filter oder zusätzliche Farbgebung (Kontraste, Nuancen) aber eher sparsam verwendet. Der Bildinhalt wird bei den Interviews mit den Betroffenen fast durchgängig durch vier Darstellungsmuster bestimmt: (1) die Gegenüberstellung der Interviewpartner im Gespräch, (2) ihre sportlichen Aktivitäten in der Natur, (3) die Interviewpartner im häuslichen / familiären Kontext und (4) arbeitend an ihrem Arbeitsplatz. Dabei stehen die Betroffenen immer im Vordergrund und handeln je nach Darstellungsmuster entweder erzählend, Sport treibend in grüner Natur, häusliche Tätigkeiten verrichtend oder arbeitend. Auffällig ist, dass Organempfänger größtenteils als junge, sportlich aktive, gesund lebende, familiär eingebundene und produktiv im Arbeitsleben stehende Personen inszeniert werden. Die auditive Ebene zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die meisten Interviewleitfäden von einem gemeinsamen dramaturgischen Aufbau geprägt sind. Eingangs wird gefragt, wie die Situation der Betroffenen vor der Organspende erlebt wurde. Dann werden Fragen zur Organtransplantation gestellt und anschließend zur Lebenssituation mit dem neuen Organ nach der Transplantation. Dabei wird nie die Frage nach der Dankbarkeit dem Spender gegenüber ausgelassen. Der Inhalt des jeweils Gesagten differiert natürlich abhängig vom jeweils Erlebten und davon, ob ein (potentieller) Organempfänger oder ein Angehöriger eines Spenders befragt wird, aber es gibt Formulierungen bzw. Topoi der Interviewpartner, die immer wiederkehren: (a) Neues Leben: Die Interviewten (besonders Organempfänger) werden Sport treibend im Grünen (Farbsymbolik: Hoffnung, Leben) gezeigt, wobei sie immer wieder darauf hinweisen, dass sie nun entweder wieder ein „normales und gesundes Leben“ führen können oder / und mit dem „neuen Leben“ „verantwortungsbewusst“ umgehen. Außerdem werden die interviewten Organempfänger fast immer bei der Arbeit gezeigt und sie selbst weisen häufig darauf hin, dass sie schon bald nach der Transplantation wieder in ihr normales Arbeitsleben zurückkehren konnten. In diesem Zusammenhang werden auch die Familien thematisiert: Durch die empfangene Organspende sind die Betroffenen in der Lage, wieder an der Erziehung ihrer Kinder mitzuwirken und durch ihre wiederhergestellte Arbeitsfähigkeit für die Familie zu sorgen.



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 55

(b) Tiefe Dankbarkeit: Die Betroffenen beschreiben, dass sie wieder in der Lage sind, das „Leben in vollen Zügen zu genießen“ und dies sehr wohl zu schätzen wissen. (c) Geschenk: Viele Organempfänger sprechen vom „Geschenk des Spenders“. Dieses Geschenk wollen sie pfleglich behandeln und „wertschätzen“. (d) Sinn: Sinnformulierungen werden weniger häufig geäußert, nämlich nur dann, wenn Angehörige zur Organspende freigegeben wurden. Aus Sicht der zwei Angehörigen, die im Material zu Wort kommen, führten die durch die DSO übermittelten Dankesschreiben von den jeweiligen Organempfängern dazu, dass „der als sinnlos erfahrenen Situation des Todes eines nahen Angehörigen rückwirkend ein Sinn verliehen werden konnte“. Diese Wirkung durch die Freigabe der Organe, um das Leben anderer Menschen zu retten und damit dem Tod Sinn zu verleihen, wird dabei als sehr eindrücklich beschrieben („der Kreis schließt sich“, „I-Tüpfelchen“). b) Erfahrungsberichte Die Erfahrungsberichte ähneln den Interviews sehr, Unterschiede ergeben sich vor allem hinsichtlich der Länge. Die Erfahrungsberichte sind kürzer als die Interviews, zudem fehlt der Moderator bzw. der Interviewer und der Produktionskontext unterscheidet sich insofern, als dass die Filme von einer anderen Homepage als die der Interviews angeboten werden. Eine Ausnahme bildet jedoch der Erfahrungsbericht von einer Person, die als Frau Donauer vorgestellt wird. Diese schildert den Entscheidungsprozess bezüglich der Organspende nach dem Todesfall ihres Bruders. Die Erklärungsfigur setzt sich aus einer als sinnlos erfahrenen Situation (Tod des Bruders) und der durch die Freigabe des Angehörigen zur Organspende Sinn verliehenen Situation (Rettung anderer Menschen, „Kreis schließt sich“) zusammen. c) Unterrichtsmaterial Das Unterrichtmaterial zeigt einen Film, in dem zwei Musiker eine 9. Schulklasse bei der Auseinandersetzung mit dem Thema Organspende in ihrer Projektwoche begleiten. Die beiden Musiker und eine Stimme aus dem Off führen durch den Film, stellen Fragen und beantworten Fragen zur Organspende. Zudem werden die Fragen der Stimme aus dem Off häufig schriftlich eingeblendet. Es werden außerdem Ärzte zur Hirntoddiagnostik befragt, Betroffene und Spenderangehörige kommen ebenfalls zu Wort und die jeweiligen Stichworte werden neben dem Bild eingeblendet. Weitere

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Antje Kahl und Tina Weber

einzelne Sachverhalte werden von Vertretern der DSO, Vertretern von Eurotransplant und von Klinikern erläutert. Der gesamte Beitrag konzentriert sich zusammenhängend auf die Themen Organempfänger, Hirntoddiagnostik, Ablauf der Organspende, Entscheidungsprozesse, Missbrauch, Lebendspende, Religion und den Organspendeausweis. Das Thema Missbrauch und die im Unterrichtsmaterial vorgenommene Bagatellisierung des potentiellen Missbrauchs von Organspenden wurde jedoch schon kurze Zeit später von dem sogenannten „Organspende-Skandal“ 2013 eingeholt. Bo: „Horrorstorys wie aus Hollywood gibt es wirklichem Leben natürlich nicht. Gäbe es eine Organspende-Mafia, würde es die wirklich interessieren, ob du einen Organspende-Ausweis hast oder nicht?“ Prof. Kirste: „Nun, es gibt natürlich in Deutschland immer wieder ein paar Leute, die gegen Organspende argumentieren und die auch irgendwelche Fälle erzählen, man kann sagen, zum Glück sind diese Fälle alle uralt. Vor Jahren, 20, 25 Jahre liegen die zurück und haben sich zum Teil auch im Ausland abgespielt, gar nicht in Deutschland. In Deutschland ist das gesamte System der Transplantation, von der Spende bis zur Transplantation geregelt. Mit dem Transplantationsgesetz, das ist 1997 verabschiedet worden, und seitdem hat es nicht mehr ein einzigen Fall mehr gegeben in Deutschland, wo es irgendwelche rechtlichen Probleme in dem Zusammenhang gab.“

Das Bonusmaterial enthält Interviews mit Ärzten sowie mit Vertretern von Eurotransplant, den (zum zweiten Mal verwendeten) Erfahrungsbericht von Frau Donauer, die ihren als hirntot diagnostizierten Bruder zur Organspende freigegeben hat, und Musikclips von Bo / Flo und Nele. Sängerin Nele präsentiert ihr Lied „Für dich da“ (deutschsprachige Pop-Ballade) als inhaltlich normativen Appell an die Zuhörer.5 Visuell ist der Film dazu im Stil eines sogenannten 80er Jahre-Kuschelrock-Clips aufgebaut. Die Sängerin selbst steht in einem verlassenen und sehr heruntergekommenen Fabrikgebäude und singt allein (ohne dass weitere Musiker und ihre Instrumente zu sehen sind), während das Bild mit sepia- oder rosafarbenen Filter eingefärbt wird. Immer wieder werden Organempfänger eingeblendet und auch Transplantionspersonal bei der Arbeit. Der Rapper Flo Bauer (Künstlername Bo Flower) präsentiert sein Lied „Von Mensch zu Mensch“ (deutschsprachiger Rap / R&B) vor einem rotweißen, computeranimierten Hintergrund. Auch hier werden, ähnlich wie beim ersten Clip-Bilder vom Transplantationsprozess (hin und her eilendes, ärztliches Personal mit Organtaschen bzw. -koffern) eingeblendet. Drei weitere Personen mit unterschiedlicher ethnischer Herkunft werden eingeblen5  Hier einige beispielhafte Ausschnitte aus den Strophen: „Stell dir vor dein Herz verliert den Rhythmus.“ / „Jemand schenkt dir sein Herz und ist für dich da. In deiner Not stark und unsichtbar, jemand gibt dir die Chance, will, dass du lebst.“ / „Zweites Mal geboren“ / „Jeden Tag kann ein Unglück geschehen“.



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 57

det, Bo und ein zweiter Sänger rappen in Kleidungsstücken unterschiedlicher Berufsgruppen. Auch hier richtet sich ein inhaltlicher normativer Appell an die Zuhörer.6 d) Musikfilme Im Anschluss an die vorherigen Clips soll nun auch der „Ich lebe dich“Musikclip, produziert zur Kampagne von „Organpaten werden“ von C. B. Green (Genre unbekannt), vorgestellt werden. Hier richtet sich kein direkter normativer Appell an den Zuhörer, stattdessen wird ein „Dankeschön“-Lied aus der Perspektive eines Organempfängers gesungen.7 Auf der Bildebene wechselt der Clip zwischen unterschiedlichen Einstellungen: Auf der einen Seite wird der Sänger mit Gitarre auf einem Steg am See gezeigt und auf der anderen Seite ein kleines, kränkelndes Mädchen zuhause im Gesundungsprozess. Es bleibt unklar, ob der Sänger oder das dargestellte kleine Mädchen Empfänger oder Spender ist. Wie in den beiden vorherigen Videoclips geht es hier nicht vorrangig um Wissensvermittlung, weswegen diese Clips nicht in die weitere Analyse aufgenommen wurden. 3. Typenbildung

Im Anschluss an die hypothetische Typenbildung wurde der Schwerpunkt bei der Typenbildung nicht auf die Auswahl derjenigen Prototypen gelegt, die die meisten Merkmale der jeweiligen Klasse enthalten, sondern es wurde unserer Fragestellung entsprechend auf die Thematisierung des Hirntods fokussiert. Insgesamt wurden in sechs der 32 Beiträge Thematisierungen des Hirntods gefunden. Im Folgenden werden die Stellungnahmen einer Mutter (Angehörige eines Organspenders), eines Priesters (religiöser Experte), eines Prominenten (Schlagersänger) sowie eines Arztes (medizinischer Experte) untersucht. Die zwei weiteren Aufnahmen werden wegen Dopplungen als Organspender-Angehörige hier nicht vorgestellt.

6  Aus den Lyrics: „Leben ist Nehmen und Geben, Angst / Ignoranz / Es warten viele auf Organe / Von Mensch zu Mensch brauchen wir mehr Liebe, mehr Gefühle, mehr warme Herzen.“ 7  Aus den Lyrics: „Ich lebe dich (2x) Ich lebe dich und mich pfadadada, Nun lack ich nauf (Alternativ: Nun w(/l)ach ich auf), weil du mich trägst, Ich weine, weil du mich erweckst, Ich fühle das nur viel mehr, Ich lebe dich und mich in mir, uhuhuu, Ich kenne dich nicht, ich hab dich nie gesehen, Und dennoch bist du wunderschön. Ich fühl dich gut, du wirst mit mir gehen, Danke, dass wir uns verstehen, Ich lebe dich (2x) (1 Strophe).“

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Antje Kahl und Tina Weber 4. Einzelfallanalyse mit Schwerpunkt Hirntod

In der Einzelfallanalyse werden nun, wie gesagt, diejenigen Materialien untersucht, die sich vor allem auch mit der Wissensvermittlung zum Thema Hirntod beschäftigen. Dazu wurden diejenigen Einstellungen separiert, in denen über den Hirntod gesprochen wird. Die Einstellungen wurden (1) deskriptiv protokolliert, (2) rekonstruiert und (3) interpretiert. Die Deskriptionsprotokolle befinden sich jeweils im Anhang, die Rekonstruktion und die Interpretation werden nun vorgestellt: a) Die Mutter eines Organspenders äußert sich zum Hirntod aa) Deskription Siehe Anhang, Tabelle 2. bb) Rekonstruktion Auf der Bildebene finden sich typische Kameratechniken, die üblicherweise eingesetzt werden, um Dialoge szenisch zu inszenieren. Dazu gehören harte Schnitte, die normale Perspektive, over-the-shoulder-shots und shotreverse-shot-Einstellungen. Auf diese Weise nimmt der Zuschauer durch die Position der Kamera die Rolle des jeweiligen Zuhörers ein. Dargestellt wird zudem auch die gerade zuhörende Person, wodurch eine Situation suggeriert wird, in der eine wechselseitige Verständigung stattfindet. Neben den Kameratechniken finden sich auf der Bildebene folgende Bildelemente: Beide Personen sitzen sich auf einem hellgrünen Sofa gegenüber und hinter ihnen befinden sich jeweils grüne Pflanzen, hinter Flo, dem Interviewer, außerdem noch eine grüne Wand. Diese Farbsymbolik, die wenigen klaren Bildelemente und die Beleuchtung im Normalstil erzeugen eine naturalistische, klare und angenehme Atmosphäre. Auf Tonebene wird zuerst der Unfall eines kleinen Jungen thematisiert, der in Folge eines Sturzes aus einem Fenster schwere Kopfverletzungen erlitten hat. Anschließend wird über durchgeführte medizinische Untersuchungen gesprochen, an die sich die Mutter (M) des Jungen nicht genau erinnern kann. Sie kann sich jedoch daran erinnern, dass nach Feststellung des Umstandes, dass das Gehirn nicht mehr richtig durchblutet wurde, die „ganz normale Hirntoddiagnostik, die im Gesetz steht“, durchgeführt wurde. M: „Naja, es sind natürlich Untersuchungen durchgeführt worden. CTs gemacht worden, so eine Kontrastmitteluntersuchung ist gemacht worden, um die Durchblutung im Gehirn zu überprüfen, um zu gucken, was ist da noch? Viele verschiedene Untersuchungen waren es, von denen ich aber auch keine Ahnung hab, was



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 59 genau das gewesen ist. Ähm und als dann irgendwann klar war, das Gehirn wird nicht mehr durchblutet, da ist der Hirntod da, da läuft ja dann diese ganz normale Hirntoddiagnostik, die im Gesetz steht, ab.“

Während die Angemessenheit der durchgeführten medizinischen Untersuchungen von der Befragten nicht bewertet wird, so beurteilt sie aber die Durchführung der Hirntoddiagnostik mit dem Verweis auf die gesetzliche Regelung als „normal“. Etwas später im Interview spricht die Befragte deutlich darüber, welche Folgeprobleme dieses „blinde Vertrauen“ für sie hatte: Dadurch, dass der Körper ihres Kindes keine Anzeichen des Todes zeigte, war es ihr nicht möglich, ihre Trauer durch eine Verabschiedung des Kindes zu bewältigen. M: „Ich weiß nicht, ob man das Abschied nennen kann. Ähm es war kein Abschied. Peter [der verstorbene Sohn] war an diesen Maschinen; er lag in diesem Bett und er war für uns nicht sichtbar tot. Wir haben uns nicht von unserem toten Kind verabschiedet. Und das war auch später nicht möglich.“

Auf die Nachfrage, warum eine Verabschiedung nicht möglich war, führt die Befragte im Anschluss statt der schon gegebenen Begründung neue Gründe an. Sie erzählt, sie wäre einfach nicht in der Lage gewesen, ihre Wünsche durchzusetzen. Was sie genau damit meint, wird nicht weiter erläutert. Deutlich wird jedoch, dass diese Kehrtwendung für die Argumentationsstruktur sehr wichtig wird. Im Anschluss stellt Flo nämlich die (Suggestiv-)Frage: Flo: „Also kann man eigentlich sagen, dass die Organspende nicht direkt etwas damit zu tun hat, dass man sich nicht verabschieden kann?“

Diese Nachfrage wird von der Befragten bejaht, mit dem Hinweis, dass die Wunden der Organentnahme ganz normal versorgt werden und man dem Körper nichts ansieht. Diese Aussagen sind nicht deckungsgleich mit den bereits getätigten Aussagen, dass das Kind nicht sichtbar tot war und sich deshalb nicht verabschiedet werden konnte. Die widersprüchliche Argumentation auf der auditiven Ebene steht im Kontrast zur Bildebene, die einen hoffnungsvollen, klaren Bildeindruck vermittelt, der mit der sehr ruhigen und gefassten Sprechweise der Befragten korrespondiert. Abgerundet wird der vermittelte Eindruck, alles habe sich zum Guten gewendet dadurch, dass die Befragte auf die (Suggestiv-)Frage des Interviewers, „inwiefern hilft das bei der Bearbeitung der Trauer?“, antwortet, dass dadurch „etwas Sinnvolles aus der ganzen Sinnlosigkeit des Unfalls“ gemacht werden konnte. cc) Interpretation Sehr deutlich wird in diesem Film, wie sich die Inszenierung der Bildebene auf den Inhalt der Tonebene auswirkt. Folgt man der Argumentation des Gesagten, so ist die zentrale Aussage, dass das lebendige Aussehen des

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Antje Kahl und Tina Weber

hirntoten Körpers einer Verabschiedung im Wege stand. Der Interviewer stellt daraufhin Nachfragen, die suggestiven Charakter haben und nicht auf die geschilderte Problematik eingehen. Daraufhin verändert die Befragte inhaltlich ihre Aussagen und behauptet am Ende das Gegenteil. Durch die Inszenierung des Filmes mit typischen Kameratechniken, die einen Dialog und eine wechselseitige Verständigung suggerieren, die aber genau genommen gar nicht stattfindet, wird der inhaltliche Widerspruch aufgefangen und verdeckt. Das Dargestellte wirkt dadurch insgesamt wieder stimmig und geschlossen. Insgesamt zeigt diese Intervieweinstellung, dass Aussagen über den Hirntod, die nicht Vokabeln wie „normal“, „gesetzlich geregelt“ oder „sinnvoll“ beinhalten, zwar zugelassen, aber nicht wirklich integriert werden können. b) Ein Priester äußert sich zum Hirntod aa) Deskription Siehe Anhang, Tabelle 3. bb) Rekonstruktion Auf der Bildebene dominiert eingangs ein großes, herrschaftliches Gebäude, vor dem sich eine weite grüne Rasenfläche befindet. Auf der Rasenfläche spielen einige Kinder. Im Vordergrund des Bildes sind Flo und sein Interviewpartner, ein Krankenhausseelsorger zugleich Priester und Mönch, zu sehen, die langsam vom Gebäude weg auf einem Weg spazieren. Die mobile Kamera hält einen konstanten Abstand zu den beiden Personen, wodurch das Bild durchgehend leicht wackelt. Dadurch wird ein sehr lebendiger Eindruck erzeugt, der im Zusammenhang mit der natürlichen Belichtung, der grünen Wiese und den spielenden Kindern eine lockere Atmosphäre erzeugt. Durch die schwarze, enganliegende Bekleidung sowie die deutlich dominanten Handgesten, mit denen der Priester seine Aussagen unterstreicht, wird sein Expertenstatus herausgestellt. Auf der Tonebene wird die lockere Atmosphäre durch anfänglich im Hintergrund noch zu hörende Kinderstimmen unterstrichen. Zum Thema Hirntod äußert sich der Befragte folgendermaßen: P: „Wichtig ist mir, dass jeder sachlich korrekt über Organspende informiert ist. Informiert (lauter) ist. Und dass er dann auf Grund von diesen Informationen, die sachlich korrekt sind, auch eine für sich tragfähige Entscheidung fällt. Man kann diskutieren über Hirntod rauf und runter, am Ende stellt sich die Frage: Wenn der Hirntod als Tod des Menschen diagnostiziert ist, gibt es zwei Möglichkeiten: A) es werden die Apparate abgeschaltet und ich nehm meine noch brauchbaren



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 61 Organe mit ins Grab. Oder B) ich erkläre mich als Organspender bereit und rette anderen Menschen das Leben.“

In diesem Ausschnitt erklärt der Pfarrer, es sei ihm wichtig, dass die Menschen sachlich korrekt informiert werden. Schon im übernächsten Satz definiert er aber den Hirntod als Tod des Menschen, welcher zwei Handlungsmöglichkeiten erzeuge. Hier scheitert der Anspruch an sachliche Information bereits an der Satzkonstruktion, denn der Hirntod kann zwar diagnostiziert werden, aber der Hirntod kann nicht als Tod des Menschen diagnostiziert werden. Zudem gibt es neben den beiden dargestellten Optionen auch noch weitere Alternativen und die beiden dargestellten Optionen müssen in dieser Vereinfachung auch nicht zutreffen, denn „Apparate“ (medizintechnische Geräte, die den Körper künstlich am Leben erhalten) müssen nicht abgeschaltet werden, nicht jede / r hat für die Organspende brauchbare Organe und nicht alle gespendeten Organe „retten“ anderen Menschen das Leben. Die beiden Handlungsoptionen A) und B) werden etwas hemdsärmelig durch eine vorgestreckte, dominante Handgestik und das Aufzählen an zwei Fingern verdeutlicht. Zusätzlich wird diese Aufzählung auch dadurch gerahmt, dass am Ende der Einstellung eingespielte sakrale Klänge zu hören sind. Dieses verwendete audiotechnische Gestaltungsmittel steht ebenfalls im Kontrast zum Anspruch einer sachlichen Informationsvermittlung. Das Gespräch wird anschließend vor einem anderen Hintergrund fortgeführt. Die Bildebene nimmt die durch die Musik im vorangegangenen Teil eingeführten sakralen Bezüge wieder auf: Beide Personen sitzen nun, sich unterhaltend, auf Holzbänken, während im Hintergrund unscharf das Innere einer Kirche sichtbar wird. Dargestellt wird das Gespräch durch typische Kameratechniken wie die Aufnahme in der Halbnahen, eine statische Kamerabewegung sowie over-the-shoulder und shot-reverse-shot Einstellungen. Durch unzureichende Ausleuchtung ähnelt die Einstellung dem low key stil, wodurch eine schummrige Atmosphäre in der Kirche erzeugt wird. Des Weiteren sind auch in diesen Einstellungen wieder die deutlichen und schwungvollen Handgesten des Befragten zu sehen, die seinen Aussagen Gewicht verleihen sollen. Auf der Tonebene findet sich in der Kirche ein Element, dass den Aussagen des Befragten zusätzlich Nachdruck verleihen soll: Allem Gesprochenen folgt, erzeugt durch den hohen Kirchenraum, ein akustischer Nachhall. Gefragt nach seinem Wissen über den Hirntod, äußert sich der Befragte noch einmal folgendermaßen: P: „Bei uns in Deutschland gilt jemand als hirntot, wenn Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm abgestorben sind. Das heißt, dieser Hirntote kann keine Schmerzen empfinden. Er selber, als Person, Bewusstsein, Wahrnehmung; es ist alles erloschen.“ Flo: „Wie kommt es denn zum Hirntod?“

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Antje Kahl und Tina Weber

P: „Unter dem Strich ist es immer eine Nichtversorgung des Gehirns mit Nährstoffen und Sauerstoff. Die Folge davon: Ein Absterben der Gehirnzellen und irgendwann ist das Gehirn nicht mehr funktionsfähig. Es kommt zum sogenannten Hirnödem und nach dem Ödem platzen alle Gehirnzellen auf und es gibt oben im Kopf keine Gehirnstruktur mehr zu diagnostizieren, sondern im Kopf ist nur noch MATSCH.“

Der Befragte gibt sein Wissen bezüglich des Hirntodes in einfachen Worten wieder. Inhaltlich sind die Aussagen so lange zulässig, bis er auf die „aufplatzenden Gehirnzellen“ und den „Matsch im Kopf“ zu sprechen kommt. Hier wird der Anspruch einer sachlich korrekten Informationsvermittlung nicht mehr eingehalten. Wiederum ist es die visuelle und auditive Inszenierung, die dem Gesagten trotz fragwürdigen Inhalts Autorität verleiht. Weiterhin äußert sich der Befragte, nachdem ein Video eingespielt wurde, das eine junge Frau zeigt, die sich Sorgen macht, dass von den Ärzten nicht mehr alles Mögliche getan wird, wenn sie einen Organspenderausweis bei sich trägt, folgendermaßen: P: „Ich kenne die Sorgen, die die Menschen haben. Sie ist völlig, wirklich VÖLLIG unberechtigt. Jeder Arzt ist zunächst bemüht, das konkrete Leben zu retten, was vor ihm ist. Und da ist unsere deutsche Gesetzgebung mit dem Transplantationsgesetz wirklich PERfekt. Erst dann, wenn man sieht, dieser Patient, er reagiert nicht wie wir erwarten, was ist da? Und dann läuft die Diagnose in Richtung Hirntod. Und dann gibt es die erste Runde, die dann überwunden werden muss; ja, er scheint hirntot zu sein, weil die erste Hirntoddiagnostik hat Hirntod ergeben. Bis dorthin wird alles für sein Leben getan. Es ist zu überprüfen, ob dies ob jene Ursachen wirklich ausgeschlossen wurden, wie z. B. eine Vergiftung. Vergiftungen, bestimmte Vergiftungen können Symptome aufzeigen, die wie Hirntod aussehen. Und erst dann, wenn die auch von zwei unabhängigen, erfahrenen Ärzten als Ergebnis erbracht sagt, ja dieser Mensch ist hirntot, erst dann ist das Thema Organspende für diesen Patienten überhaupt relevant.“

Auch bei diesen Ausführungen gibt es problematische Passagen und das freie Reden über die Hirntoddiagnostik scheint beim Pfarrer weniger eingeübt. Dennoch wird der Eindruck erzeugt, dass es sich hier um eine Beweisführung des Pfarrers handelt und nicht um seine Bewertung, in der er vor allem auf das Transplantationsgesetz verweist. Auffällig bleibt die ausdrückliche Betonung der „völlig unberechtigten Sorgen“, des „perfekten Transplantationsgesetzes“ und den „zwei unabhängigen, erfahrenen Ärzten“. Überdies spricht der Pfarrer über „die Sorgen der Menschen“ als würden ihn umfassende Kenntnisse davon entlasten, selbst ein Mensch zu sein. In Verbindung mit der sakralen Bildebene sowie der nachhallenden Akustik auf der Tonebene wirken seine Ausführungen recht eindrücklich. Seinem Anspruch, ausschließlich sachlich korrekte Informationen über die Organspende zu vermitteln, kann er jedoch insgesamt nicht gerecht werden.



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 63

cc) Interpretation In diesem Beitrag wird den Aussagen des Befragten durch filmtechnische Einsatzmittel sehr großes symbolisches Gewicht verliehen. Zum einen wirkt die kirchliche Kulisse und Akustik im Zusammenhang mit der Rolle des Pfarrers als Seelsorger besonders nachdrücklich. Sein religiöser Expertenstatus wird auf diese Weise auf medizinische Sachverhalte erweitert. Dem religiösen Experten, der über medizinische Abläufe spricht, wird ein erweitertes Kompetenzspektrum zugeschrieben. Das Motto der Kampagnenfilme „Informieren statt missionieren“ scheint in diesem Beitrag wenig zu greifen. c) Ein Prominenter äußert sich zum Hirntod aa) Deskription Siehe Anhang, Tabelle 4. bb) Rekonstruktion Auf der Bildebene ist die kameratechnische Bildgestaltung von einer recht einfachen Handhabung (statisch, harte Schnitte und halbnahe Einstellungen) geprägt. So auch der Bildinhalt: In einer shot-reverse-shot Gegenüberstellung der Interviewpartner sitzen sich der junge und vorgebeugt-interessierte Rapper Flo in Kaputzenjacke und der ältere, weit zurückgelehnte Schlagersänger Roland Kaiser im Anzug gegenüber. Der unscharfe Hintergrund wird wenige Male scharf gestellt, so dass man in einem Spiegel hinter Roland Kaiser, den Interviewer sieht, aber eben auch über ihm den Fernseher mit einem laufenden Fußballspiel. Im Gespräch schaut Roland Kaiser auch immer wieder über Flo hinweg, vermutlich um das Fußballspiel zu verfolgen. Auf der Tonebene wird der Hirntod in Bezug auf die Frage, was man dem Bundesgesundheitsminister hinsichtlich der Verbesserung der Organtransplantation vorschlagen könnte, folgendermaßen vom Interviewpartner thematisiert: RK: „Die meisten Problematiken haben wir in der Information. Die Leute wissen zu wenig. Sie wissen z. B. kaum, dass man also ähm erst mal ähm den Hirntod erlangt haben muss, bevor man überhaupt als Spender in Frage kommt. Viele haben Angst: Was passiert mit mir, wenn ich in irgendwelche Unfälle verwickelt werde und ich habe so einen Spenderausweis mit. Mein Gott: Die erste Pflicht eines Arztes ist, das Leben zu retten. Und so ein Hirntod muss ja nicht nur einfach eintreten, der muss bestätigt werden von zwei unabhängigen Neurologen. Das ist ja alles höchst kompliziert. Deswegen kann man da auch nicht einfach von Missbrauch ausgehen. Ich finde, das sind wichtige Punkte. Da muss man den Leuten

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erklären: die Wahrscheinlichkeit, dass du ein Organ brauchst, ist dreimal so hoch wie die, dass du Spender wirst. Diese Zahlen muss man den Leuten durch ein höheres Maß an Information mitgeben. Ich glaube, da ist ein großes Defizit in diesem Land. Information erleichtert Leuten ne Entscheidung und verbessert Entscheidungsfähigkeiten.“

Auch Roland Kaiser scheint es wichtig zu sein, zu versichern, dass niemand vorschnell als Spender in Frage kommt. Die zeitlich zuerst stattfindende „Erlangung des Hirntodes“ ist wesentlicher Bestandteil seiner Erklärung. „Erlangen“ steht für etwas erreichen, etwas gewinnen und kommt aus dem Mittelhochdeutschen „erlangen, zu: langen = sich ausstrecken“. Wie das Erlangen eines Hirntodes bewerkstelligt werden kann, wird nicht weiter ausgeführt. Nach Roland Kaiser kann ein Hirntod aber auch „eintreten“ und muss dann aber durch „zwei unabhängige Neurologen“ bestätigt werden. Von wem oder was die beiden Neurologen unabhängig sein müssen, wird auch hier nicht erklärt. Dieser Prozess der Bestätigung ist jedoch „höchst kompliziert“. Diese Aussage wird in einen kausalen Zusammenhang mit dem Stichwort „Missbrauch“ gestellt. Roland Kaiser hält den Vorgang der Hirntoddiagnostik für „höchst kompliziert“, weswegen seiner Meinung nach auch kein Missbrauch befürchtet werden müsse. Für ihn ist es daher wichtig, dass mehr Informationen vermittelt werden, um Entscheidungen zu treffen. Wie diese Informationen aussehen und welche Entscheidungen gefällt werden sollten, wird jedoch kaum ausgeführt. Die Informationen sollten aber seiner Meinung nach Zahlen beinhalten, die verdeutlichen, dass die Wahrscheinlichkeit, Organempfänger zu werden, dreimal so hoch ist, wie die Wahrscheinlichkeit, Organspender zu werden. Auf welche Statistiken sich hier berufen wird, bleibt allerdings offen. cc) Interpretation Im Vergleich zum vorherigen Film könnten diese Aufnahmen nicht schlichter ausfallen, zumindest was Bildebene (Kulisse: Konzertgarderobe und Fußballspiel) und Tonebene (die letzten Worte Roland Kaisers zur Entscheidungsfindung werden von Klavierklängen begleitet) betrifft. Das von der BZgA freigegebene Kampagnenmaterial hat sich zur Aufgabe gemacht, mehr Informationen über die Organspende zu vermitteln. Nach einem religiösen Experten wird hier nun ein prominenter Schlagersänger zur Stellungnahme gebeten. Auch hier weiß der Befragte, dass es „den Leuten“ vor allem an Informationen mangelt, um Entscheidungen treffen zu können. Die Informationen über den Hirntod, die dann aber im Gespräch vermittelt werden, sind in ihrer Schlüssigkeit eher fragwürdig, berufen sich auf das Pflichtgefühl von Ärzten sowie die Kompliziertheit des Vorgangs der Hirntoddiagnostik und bedürften weiterer Ausführungen. Es wird über die Wich-



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 65

tigkeit der Vermittlung von Wissen für Entscheidungsprozesse gesprochen und gleichzeitig gezeigt, dass nicht genügend Wissen vorhanden ist, um diese Vermittlung zu gewährleisten. d) Ärzte äußern sich zum Hirntod aa) Deskription Siehe Anhang, Tabelle 5. bb) Rekonstruktion Die Bildebene der ersten Einstellung enthält einige dynamische Elemente. Die Kamerabewegungen sind fließend und zeigen Flo in normaler Perspektive. Die Steadicam dreht sich um Flo, der auf einem Schulhof steht, wodurch das Bild einen unruhigeren Charakter erhält. Sein spielerisch-spontanes Balancieren erzeugt einen Eindruck von juveniler Leichtigkeit, was zudem durch die legere, dem Hip Hop Freizeit-Look entsprechende Kleidung unterstützt wird. Auf der Tonebene ähneln Wortwahl und Inhalt der Umgangssprache jüngerer Personen. Insgesamt erzeugt die erste Einstellung einen lockeren und ungezwungenen Eindruck vom Moderator, während er das Thema Hirntod einleitet: F: „Als Spender kommt man sowieso nur in Frage, wenn man am Hirntod gestorben ist.“

Der Ausschnitt über den Hirntod wird fortgeführt mit einer weiblichen Stimme aus dem Off, die den Zuschauer mit Informationen über die Rahmenbedingungen der Organspende versorgt. Off: „Voraussetzung für die Organspende ist der Hirntod. Dies ist nur bei einem von hundert Verstorbenen im Krankenhaus der Fall.“

Der Bildinhalt besteht aus einem Standbild mit blauem Hintergrund, auf dem mittig in weißer Schrift „Hirntod“ steht. Der Einleitung folgt eine Einstellung, die vom Bildaufbau einem typischen Lehrfilm für Präsentationen bzw. Dokumentationen für Schulen ähnelt. Die sprechende Person, ein weißer Mann mittleren Alters in weißem Kittel mit Hemd und Namensschild, im Hintergrund laufende medizintechnische Gerätschaften – eindeutig ein Arzt und damit medizinische Autoritätsperson –, nimmt nur den rechten kleinen Teil des Gesamtbildes ein. Unter diesem Bild wird Name, Titel und Spezialgebiet des Experten auf einer blauen Präsentationsfläche eingeblendet. Auf der linken Seite werden auf einer beinahe die Hälfte des Gesamtbildes einnehmenden blauen Präsentationsfläche die als zentral erachteten Aussagen stichpunktartig aufgelistet. Insgesamt erhält

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Antje Kahl und Tina Weber

das Bild dadurch den Charakter einer auf wissenschaftlichen Untersuchungsresultaten basierenden Power-Point-Präsentation. Auf der Tonebene wird der rationale Wissenschaftsduktus (im Kontrast zur vorherigen Einstellung) aufrechterhalten und durch Wortwahl, Geschwindigkeit und Tonfall des Experten unterstützt. Inhaltlich argumentiert der Experte, dass der Patient mit Hirntod bereits rechtlich tot ist und nur durch die Unterstützung der Intensivmedizin der Eindruck des Lebens künstlich aufrechterhalten wird. Auf der Bild-Ebene wird gleichzeitig links vom Experten in einer Art Auflistung von „Fakten“, die Aussage, dass der Patient bereits gestorben ist, hervorgehoben. A: „Es ist für Angehörige oft schwer zu begreifen, dass der Patient, dessen Herz sie noch schlagen sehen, schon verstorben ist, dessen Hirntod festgestellt wurde. Gesetzlich ist es so, mit der Feststellung des Hirntodes ist der Patient verstorben, ja, und wir erhalten nur künstlich, durch unsere moderne Intensivmedizin, durch Beatmungsgeräte und weitere Maschinen und starke Medikamente die Herzfunktion, die Kreislauffunktion und die Lungenfunktion aufrecht.“

In der folgenden Einstellung bleibt das Gesamtbild erhalten, nur der medizinische Experte und die medizintechnischen Gerätschaften im Hintergrund werden ausgetauscht. Name, Titel und Berufsfeld werden entsprechend angepasst. Die Aussage des Experten betont die Unwiederbringlichkeit des Lebens bei Hirntodpatienten, indem gesagt wird, das Leben sei mehr als die Summe der Organfunktionen und nur durch ein funktionierendes Gehirn zu erbringen. Auf Bildebene, links in der „Faktenliste“, wird dieses ebenfalls hervorgehoben. A: „Das Leben ist ja mehr als die Summe einzelner Organfunktionen sondern setzt ja voraus, dass diese Organfunktionen durch das Gehirn zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden. Und diese Steuerung durch das Gehirn ist bei hirntoten Patienten erloschen und auch unwiederbringlich erloschen.“

Die nächste Einstellung wird wieder auf der Bildebene durch die Art der Montage (Blende über Ausbleichen des Bildes über Weiß; vgl. Einstellung 3) von den vorangegangenen getrennt. Diesmal ist die Sängerin Nele vor der Schule stehend im Bild zu sehen. Der gesamte Bildeindruck ist statisch und ernster, als dies in den oberen, dynamischen Einstellungen bei Flo der Fall war. Vermutlich soll dies die Ernsthaftigkeit und Wichtigkeit des Gesagten unterstreichen. Die Tonebene, speziell die Art und Weise, in der die Moderatorin ihren Text vorträgt, ist formaler und erinnert an die Ansage einer Nachrichtensprecherin. Lediglich die Kleidung, insbesondere das rot leuchtende, um den Hals geworfene, seidenartige Schaltuch bricht mit dem sehr formalen Eindruck. Im Wesentlichen lautet die Kernaussage, die in dieser Einstellung gemacht wird, dass potenzielle Spender keinen Missbrauch fürchten müssen, weil der Gesetzgeber die Hirntoddiagnostik geregelt hat. Argumentativ wird die vermutete potenzielle Angst also nur durch



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 67

Rückgriff auf die gesetzliche Regelung und Legitimierung der diagnostischen Vorgehensweise bei Hirntoten bearbeitet. N: „Manche Menschen haben Angst, zu früh für tot erklärt zu werden, da dringend Organe benötigt werden. Diese Sorge ist unbegründet, denn der Gesetzgeber hat ganz klar im Transplantationsgesetz geregelt, dass zwei Ärzte unabhängig voneinander den Tod feststellen müssen. Beide dürfen nichts mit der Transplantation zu tun haben.“

Die folgende Einstellung wird durch eine Blende über Blau von der vorherigen getrennt. Der Bildaufbau ähnelt wieder dem Lehrfilm. Auf der Tonebene wird durch den Arzt erklärt, dass das Hirntodkriterium auf wissenschaftlichen Kriterien beruht und nur zweifelsfrei Bestand haben kann. A: „Die Feststellung des Hirntodes unterliegt einer ganz strengen Regelung, die durch die Bundesärztekammer festgelegt ist und diese Regelungen sind wissenschaftlich begründet und es ist auch ganz klar belegt, dass bei leisesten Zweifeln an der Hirntoddiagnose diese nicht gestellt werden kann.“

Der medizinische Experte beruft sich auf Aussagen von Kollegen von der Bundesärztekammer und anderen Wissenschaftlern, um so die Sicherheit der Hirntoddiagnostik argumentativ zu untermauern. Sängerin Nele hingegen bezieht sich in ihren Aussagen auf gesetzliche Regelungen. Beide Personen belegen ihre Argumentation mit Verweisen auf medizinische oder juristische Regelungen und verzichten dabei auf die Darstellung von öffentlichen Diskursen, möglichen Risiken oder negativen Gegenbeispielen von fehlerhaften Diagnosen. Durch die stichpunktartige Aufzählung der wesentlichen Argumentationspunkte in der „Faktenliste“ wird die bereits verkürzte Darstellung auf der Bildebene noch einmal vereinfacht. Das ausführliche Interview zum Hirntod, so zeigt eine Einblendung an, ist im „Bonusmaterial“ enthalten. Dieses Interview ist 03:52 Minuten lang, wobei die einzelnen Schritte der Hirntoddiagnostik erklärt werden, wie es nach der Hirntoddiagnostik weitergeht, ob man nach der Feststellung des Hirntods automatisch Organspender wird und wie geklärt wird, ob man als Organspender in Frage kommt. Wieder geht es um die Versicherung, dass niemand zu früh oder gar unfreiwillig als Organspender in Betracht gezogen wird. cc) Interpretation In diesem Beitrag werden Laien und medizinische Experten so inszeniert, dass sich Jugendlichkeit vs. Professionalität auf Bild- und Tonebene kontrastiv gegenüberstehen. Die professionelle Seite wird lehrfilmhaft im Powerpoint-Präsentationsstil dargestellt und es werden Verweise zu anderen Experten, sei es im medizinischen oder im juristischen System, getätigt. Wissen über den Hirntod selbst wird nicht vermittelt, dafür aber die Absicherung des Verfahrens durch „gesetzliche Regelungen“ und „wissen-

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Antje Kahl und Tina Weber

schaftliche Kriterien“. Die Erläuterungen zum Hirntod im Bonusmaterial zeigen deutlich die Wichtigkeit der Vermittlung von Wissen: das Bonusmaterial ist nicht Teil des regulären Schulmaterials, in der Länge sogar kürzer als die Musikclips und es werden auch hier keinerlei geschichtliche Abrisse, gesellschaftliche Debatten oder gar kritische Nachfragen thematisiert. Das vermittelte Wissen über den Hirntod bleibt verkürzt und einseitig dargestellt. III. Zusammenfassung Die struktural-hermeneutische Filmanalyse der 32 Kurzfilme hat sich auf visueller und auditiver Ebene der Darstellung und Vermittlung von Wissen über den Hirntod gewidmet. Dieses Wissen wurde in den 32 Kurzfilmen unterschiedlich häufig thematisiert. Die explizite Thematisierung des Hirntodkriteriums wurde sechsmal vorgenommen. In der Mehrzahl der Beiträge lässt sich diese Thematisierung entsprechend nicht wiederfinden. Vom Tod im Allgemeinen und vom Tod der Spender / innen im Besonderen ist in den Filmen nur indirekt die Rede. So sprechen Organempfänger weder davon, dass sie hätten sterben können, noch davon, dass jemand anderes gestorben ist, um ein Organ zu spenden. Es werden lediglich Formulierungen verwendet wie „dann wäre ich jetzt nicht mehr hier“, „ins Himmelreich aufgestiegen“ oder „jemand hat mir ein neues Leben geschenkt“ bzw. „ein großes Geschenk gemacht“. Die verwendeten Euphemismen vermeiden die Thematisierung des Umstandes, dass die Organspende meistens mit dem Tod mindestens eines Menschen einhergeht und rücken stattdessen die positive Seite des Weiterlebens des Empfängers in den Vordergrund. Besonders der immer wiederkehrende Topos des „neuen Lebens“ ist irreführend, da eigentlich eher davon gesprochen werden kann, dass auf Grundlage des Todes einer Person andere Leben weitergeführt werden können. Von einem „neuen Leben“ im wörtlichen Sinne kann genau genommen nicht die Rede sein. Bezüglich der Thematisierung des Hirntodkriteriums sind einige Auffälligkeiten festzustellen. Laut BZgA ist die Vermittlung von Wissen für die Zustimmung zur Organspende relevant, also, so schlussfolgern sie, muss Wissen vermittelt werden. Ziel der Analyse war es herauszufinden, welches Wissen über den Hirntod wie vermittelt wird. Das Hirntodkriterium wird insgesamt nur sechsmal im untersuchten Material thematisiert, wobei nur bei den Medizinern medizinisch sachliche und korrekte Informationen vermittelt werden. Wesentliches Augenmerk aller Beiträge liegt auf der Versicherung des „normalen“, „gesetzlich geregelten“ und „medizinisch“ wie „wissenschaftlich“ geprüften Transplantationsverfahrens. Man könnte meinen, es geht den Produzenten der Beiträge nicht um die Vermittlung von



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 69

Wissen, sondern um eine Imagekampagne für „saubere Transplantationsverfahren“. Spannend ist dabei vor allem, dass immer wieder auf die gesetzliche Regelung der Hirntoddiagnostik Bezug genommen wird und sie dadurch den Status einer unstrittigen Tatsache erhält. Es wird der Eindruck vermittelt, allein die Tatsache, dass es ein Gesetz gibt, reiche aus, jeden Zweifel, sowohl an der Organspendepraxis selbst als auch an ihrer praktischen Durchführung, auszuräumen. Auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen stützen sich gleichermaßen Laien wie medizinische Experten, wenn es um die Frage der Legitimität der Hirntoddiagnostik geht. Dies ist insofern fragwürdig, als dass das Recht sich bei der Festlegung der Vorgaben bezüglich der Hirntoddiagnostik wiederum auf Erkenntnisse des medizinischen Systems stützen muss. Die Definition des Hirntodes wird vom medizinischen System selbst vorgenommen und auf Grundlage dieser Definition sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen entworfen worden. In diesen Kontexten wird der Hirntod gerahmt und verhandelt, wobei die Argumentation ohne jeglichen Verweis auf Unsicherheiten, Kontingenzen oder Fragen bezüglich der geschichtlichen Diskursformation des Hirntodes ausgeführt wird. Ob damit jedoch letztlich das Vertrauen ins Transplantationssystem gestärkt und somit die Anzahl zustimmend ausgefüllter Organspendeausweise gesteigert werden kann, bleibt fraglich. Wenig fraglich dagegen bleibt, dass der Anspruch auf ergebnisoffene Aufklärung hier nicht eingelöst wird. Literatur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Einstellung, Wissen und Verhalten der Allgemeinbevölkerung zur Organ- und Gewebespende (2010), verfügbar unter: www.bzga.de/forschung/studien-untersuchungen/studien/organ-undgewebespende/?sub=71 (letzter Zugriff: 30.04.2013). Müller-Doohm, Stefan: Bildinterpretation als struktural hermeneutische Symbolanalyse, in: Ronald Hitzler/Anne Honer (Hrsg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Opladen 1997, S. 81–108.

70

Antje Kahl und Tina Weber

Anhang Tabelle 1 Tabellarische Auflistung des Materials der BZgA von 2012 Nr.

Titel

Format

Quelle

 1

Organspende macht Schule

Schulmaterial

HP Organspende-Info BZgA

 2

Ich lebe dich

Musikvideo

HP Organpaten (BZgA)

 3

Lebensgeschichte_W.Ludwig

Erfahrungsbericht

HP Organpaten (BZgA)

 4

Lebensgeschichte_D.Kracht

Erfahrungsbericht

HP Organpaten (BZgA)

 5

Lebensgeschichte_R.Messing

Erfahrungsbericht

HP Organpaten (BZgA)

 6

Lebensgeschichte_ Berisha

Erfahrungsbericht

HP Organpaten (BZgA)

 7

Lebensgeschichte_Donauer (AUSNAHME)

Erfahrungsbericht

HP Organpaten (BZgA)

 8

Lebensgeschichte_Quary

Erfahrungsbericht

HP Organpaten (BZgA)

 9

Auf einen Kaffee mit dem Bundesgesundheitsminister

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

10

Jasmins neue Niere

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

11

Roland Kaiser

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

12

Alex und ihr neues Herz

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

13

Fußballlegende wartet auf Spenderlunge

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

14

Organspende kann Leben retten

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

15

Straßenaktion zur Organ­ spende in HH-City

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

16

Von der Warteliste zur Goldmedaille

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

17

Tag der Organspende

Interview

HP Von Mensch zu Mensch



Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 71 Nr.

Titel

Format

Quelle

18

Organspende ‒ ein Akt der Nächstenliebe

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

19

Freundschaft am Krankenbett

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

20

Organspende. Liebe. ­Engagement

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

21

großes Herz im Kleingarten

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

22

Hip-Hop-Jam bei der Blutwäsche

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

23

Treffen am Reichstag

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

24

Familie. Dialyse. Europapark

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

25

eine ganz große kleine Schwester

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

26

Wenn Kinder lachen können

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

27

Die Kite-Surferin mit dem neuen Herzen

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

28

Im Gespräch mit Frank ­Walter Steinmeier

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

29

Von einem süßen Spross und ein paar fiesen Sprossen

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

30

Eine große Entscheidung fürs Leben (AUSNAHME)

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

31

Von Musiker zu Musiker über Organspende

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

32

Straßenumfrage

Interview

HP Von Mensch zu Mensch

1

KE Nr.

Objektbeschreibung ‒ Vordergrund: jeweils eine weibliche bzw. eine ­männliche Person ‒ Mittelgrund: ‒ Hintergrund: verschwommen (hinter der männlichen Person: grünes Sofa, einige grüne Pflanzen, grüne Wand; hinter der weiblichen Person: (grünes Sofa, grüne Pflanzen mit gelben Blüten).

Perspektive: normale Perspektive

Einstellungsgröße: Groß

Bewegung: statische Kamera, over the shoulder und reverseangle shots Montage: harte Schnitte

WP: … die schwersten Verletzungen waren eben die am Kopf. Es war eben so schwerwiegend, dass das Hirn irgendwann eingeklemmt gewesen ist und keine Durchblutung mehr gewährleistet war. Flo: Und dann hat jemand gesagt, ok es gibt eine Diagnostik und Hirntod oder wie kann man sich das vorstellen? Wie läuft das dann ab? WP: Naja es sind natürlich Untersuchungen durchgeführt worden. CTs gemacht worden, so eine Kontrastmitteluntersuchung ist gemacht worden, um die Durchblutung im Gehirn zu überprüfen, um zu gucken, was ist da noch? Viele verschiedene Untersuchungen waren es, von denen ich aber auch keine Ahnung hab; was genau das gewesen ist. Ähm und als dann irgendwann klar war, das Gehirn wird nicht mehr durchblutet, da ist der Hirntod da, da läuft ja dann diese ganz normale Hirntoddiagnostik, die im Gesetz steht ab.

Bildelemente:

Kamerahandlung:

1:42

Sprache (Transkription)

Bildinhalt

Kameratechnische Bildgestaltung

m:ss

Tonebene

Bildebene

Zeit

KE = Kameraeinstellung

Deskription Filmprotokoll Nr. Titel: Von Mensch zu Mensch – Folge 22, Eine große Entscheidung fürs Leben Jahr: 2012: Länge total (m:ss): 9:00

Tabelle 2 Deskriptionsprotokoll 1: Die Mutter eines Organspenders erklärt den Hirntod

Einzel­geräusche /  Musik

72 Antje Kahl und Tina Weber

„---“

[…]

6:00

3

[…]

2:33

4:54

2

Licht: normal belichtet

[…]

„---“

[…]

Konfiguration der ­dargestellten Objekte: Bildhandlung: Beide Personen sitzen sich gegenüber und reden abwechselnd. Bildtotalitätseindruck: Klar, aufgeräumt

[…]

Flo: Und wie habt ihr euch dann verabschiedet? WP: Ich weiß nicht, ob man das Abschied nennen kann. Ähm es war kein Abschied. Peter [der verstorbene Sohn] war an diesen Maschinen; er lag in diesem Bett und er war für uns nicht sichtbar tot. Wir haben uns nicht von unserem toten Kind verabschiedet. Und das war auch später nicht möglich. Flo: Wieso war das nicht möglich? WP: Weil es immer wieder Menschen gegeben hat … ich selber war nicht in der Lage meine eigenen Bedürfnisse, meine Wünsche auch durchzusetzen. Dazu war ich damals einfach nicht in der Lage, mir fehlte einfach die Kraft dazu. Flo: Also kann man eigentlich sagen, dass die Organspende nicht direkt etwas damit zu tun hat, dass man sich nicht verabschieden kann? WP: Nein. Die Organspende hat damit nichts zu tun. Man kann sich nach einer Organspende immer verabschieden, wie gesagt, man sieht dem Körper nichts an. Außer eben einer Bauchwunde, die aber wie bei jeder anderen OP ganz normal versorgt und verschlossen wird. [Später  – Minute 7:19 ‒ Flo: inwiefern hilft das bei der Bearbeitung der Trauer? WP: Wir haben noch etwas sinnvolles aus der ganzen Sinnlosigkeit des Unfalls machen können.]

[…]

[…]

[…]

Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 73

3:37

2

[…]

Einstellungsgröße: Halbnah Licht: natürliche Belichtung

[…]

[…]

Pfarrer: Wichtig ist mir, dass jeder sachlich korrekt über Organspende informiert ist. INFORMIERT ist. Und das er dann auf Grund von dieser Informationen, die sachlich korrekt sind auch eine für sich tragfähige Entscheidung fällt. Man kann diskutieren über Hirntod rauf und runter, am ende stellt sich die Frage: Wenn der Hirntod als Tod des Menschen diagnostiziert ist, gibt es zwei Möglichkeiten. a) es werden die Apparate abgeschaltet und ich nehm meine noch brauchbaren Organe mit ins Grab. Oder b) ich erkläre mich als Organspender bereit und rette anderen Menschen das Leben.

Objektbeschreibung ‒ Vordergrund: Zwei männliche Personen ‒ Mittelgrund: ‒ Hintergrund: Grüne Wiesen vor einem herrschaftlichen Gebäude und spielende Kinder Konfiguration der ­dargestellten Objekte: Bildhandlung: Beide Personen laufen langsam nebeneinander her, die rechte Person spricht Bildtotalitätseindruck: ruhig

Perspektive: normale Perspektive

Bewegung: dynamische Kamera, Kamera fährt nach hinten, um Abstand zu den Personen konstant zu halten

Flo: Was ist dir wichtig an dem Thema?

Bildelemente:

Kamerahandlung:

2:51

Sprache (Transkription)

Bildinhalt

Kameratechnische Bildgestaltung

m:ss

Tonebene

Bildebene

Zeit

1

KE Nr.

KE = Kameraeinstellung

Deskription Filmprotokoll Nr. Titel: Von Mensch zu Mensch ‒ Folge 10, Organspende ‒ ein Akt der Nächstenliebe Jahr: 2012: Länge total (m:ss): 8:24

Tabelle 3 Deskriptionsprotokoll 2: Ein Priester erklärt den Hirntod

[…]

Am Anfang der Einstellung Kinderstimmen Am Ende der Einstellung einsetzende sakrale Klänge.

Einzelgeräusche /  Musik

74 Antje Kahl und Tina Weber

4:25

5.28

6:01

3

4

5

„---“

[…]

Licht: etwas unterbelichtet, Lichtquelle rechts bzw. links von den Personen

Einstellungsgröße: Nah

„---„

[…]

Bildtotalitätseindruck: Sakral, Expertengespräch

Konfiguration der ­dargestellten Objekte: Bildhandlung: Beide Personen sitzen einander gegenüber und reden abwechselnd. Auffallend sind die dominanten Handgesten, die der Pfarrer verwendet.

Objektbeschreibung ‒ Vordergrund: jeweils eine männliche Person ‒ Mittelgrund: ‒ Hintergrund: verschwommen (das Innenraum einer Kirche / Kapelle)

Perspektive: normale Perspektive

Bewegung: statische Kamera, over the shoulder und reverseangle-shots

Bildelemente:

Kamerahandlung:

Echo; Am Ende der Einstellung einsetzende Titelmusik der Kampagne

[…]

Nachhall ‒ Echo

(Fortsetzung nächste Seite)

Pfarrer: Ich kenne die Sorgen die die Menschen haben; Sie ist völlig, wirklich VÖLLIG unberechtigt. Jeder Arzt ist zunächst bemüht, das konkrete Leben zu retten, was vor ihm ist. Und da ist unsere deutsche Gesetzgebung mit dem Transplantationsgesetz wirklich PERfekt. Erst dann, wenn man sieht, dieser Patient, er reagiert nicht wie wir erwarten, was ist da? Und dann

[…]

Pfarrer: Unter dem Strich ist es immer eine Nichtversorgung des Gehirn mit Nährstoffen und Sauerstoff. Die Folge davon. Ein Absterben der Gehirnzellen und irgendwann ist das Gehirn nicht mehr funktionsfähig, es kommt zum sogenannten Hirnödem und nach dem Ödem platzen alle Gehirnzellen auf und es gibt oben im Kopf keine Gehirnstruktur mehr zu diagnostizieren, sondern im Kopf ist nur noch Matsch.

Flo: Wie kommt es denn zum Hirntod?

Pfarrer: Bei uns in Deutschland gilt jemand als hirntot, wenn Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm abgestorben sind. Das heißt, dieser Hirntote kann keine Schmerzen empfinden. Er selber, als Person, Bewusstsein, Wahrnehmung; es ist alles erloschen.

Flo: Im Zusammenhang mit Organspende spricht man ja vom Hirntod. Kannst Du mir was über den Hirntod erzählen?

Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 75

6

KE Nr.

[…]

Kameratechnische Bildgestaltung

m:ss

7.28

Bildebene

Zeit

(Fortsetzung Tabelle 3)

[…]

Bildinhalt

[…]

läuft die Diagnose in Richtung Hirntod. Und dann gibt es die erste Runde, die dann überwunden werden muss; ja, er scheint hirntot zu sein, weil die erste Hirntoddiagnostik hat Hirntod ergeben. Bis dorthin wird alles für sein Leben getan. Es ist zu überprüfen, ob dies ob jene Ursachen wirklich ausgeschlossen wurden, wie z. B. eine Vergiftung. Vergiftungen, bestimmte Vergiftungen können Symptome aufzeigen, die wie Hirntod aussehen. Und erst dann wenn die auch von zwei unabhängigen, erfahrenen Ärzten als Ergebnis erbracht sagt, ja dieser Mensch ist hirntot, erst dann ist das Thema Organspende für diesen Patienten überhaupt relevant.

Sprache (Transkription)

Tonebene

[…]

Einzelgeräusche /  Musik

76 Antje Kahl und Tina Weber

1

KE Nr.

Bildelemente:

Kamerahandlung:

Licht: normal belichtet, von links

Bildtotalitätseindruck: Informell aber ernsthaft

Konfiguration der ­ dargestellten Objekte: Bildhandlung: Männliche Personen sprechen und schauen jeweils links und rechts an der Kamera vorbei.

Objektbeschreibung ‒ Vordergrund: Gesicht zweier männlicher Person Bewegung: statische Kamera ‒ Mittelgrund: ‒ Hintergrund: Verschwommener Montage: harte Schnitte, Hintergrund (Umkleidekabine), reverse-angel-shot Es ist erkennbar, dass ein FußEinstellungsgröße: Halbnah ballspiel auf einem Fernseher läuft, direkt über / hinter dem Moderator

Perspektive: normale Perspektive

Kameratechnische ­Bildgestaltung

m:ss

1:39

Bildinhalt

Bildebene

Zeit

KE = Kameraeinstellung

Deskription Filmprotokoll Nr. Titel: Von Mensch zu Mensch ‒ Folge 2, Flo Baur trifft Roland Kaiser Jahr: 2012: Länge total (m:ss): 8:01

keine

Einzelgeräusche /  Musik

(Fortsetzung nächste Seite)

RK: Meine Gedanken an den Spender sind durchwachsen von einem hohen Maß an Dankbarkeit. Und ich kann ja nur eine Form von Dankbarkeit ihm gegenüber haben indem ich mit dem Organ so sorgfältig wie möglich umgehe und so lange wie möglich damit leben kann, dass seine Spende, wenn man das so profan ausdrücken will, sich gelohnt hat. Ja?

Sprache (Transkription)

Tonebene

Tabelle 4 Deskriptionsprotokoll 3: Ein Prominenter erklärt den Hirntod Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 77

4:38

3

„---“

[…]

Kameratechnische ­Bildgestaltung

m:ss

2:03

Bildebene

Zeit

2

KE Nr.

(Fortsetzung Tabelle 4)

„---“

[…]

Bildinhalt

Flo: Ich werd mich ja auch mit dem Bundesgesundheitsminister unterhalten und jetzt stell ich gern mal die Frage, was könnte man Ihm denn als Anregung mitgeben, wenn du jetzt die Möglichkeit hättest zu sagen, Mensch das müsste man verbessern und das könnte man tun. RK: […] Die meisten Problematiken haben wir in der Information. Die Leute wissen zu wenig. Sie wissen z. B. kaum, dass man also ähm erst mal ähm den Hirntod erlangt haben muss, bevor man überhaupt als Spender in Frage kommt. Viele haben Angst: Was passiert mit mir wenn ich in irgendwelche Unfälle ver­ wickelt werde und ich habe so einen Spenderausweis mit. Mein Gott: Die erste Pflicht eines Arztes ist das Leben zu retten. Und so ein Hirntod muss ja nicht nur einfach eintreten, der muss bestätigt werden von zwei unabhängigen Neurologen. Das ist ja alles höchst kompliziert. Deswegen kann man da auch nicht einfach von Missbrauch ausgehen. Ich finde das sind wichtige Punkte. Da muss man den Leuten erklären: die Wahrscheinlichkeit dass du ein Organ brauchst ist dreimal so hoch wie die, dass du Spender wirst. Diese Zahlen muss man den Leuten durch ein höheres Maß an Information mitgeben. Information erleichtert Leute die Entscheidung und verbessert Entscheidungsfähigkeiten.

[…]

Sprache (Transkription)

Tonebene

Leise Klavier Musik setzt ein

[…]

Einzelgeräusche /  Musik

78 Antje Kahl und Tina Weber

4:32

5

Montage: weiche Blende

Bewegung: statische Kamera

In den übrigen zwei Dritteln: Videobild, darunter blaue Fläche mit Namen und Beruf der sprechende Person

Im linken Bilddrittel eine blaue Fläche auf der nach und nach folgende Schriftzüge eingeblendet werden: – Hirntod – Wenn der Patient gestorben ist, werden Atmung und Herzschlag nur noch künstlich aufrechterhalten.

Kamerahandlung:

Perspektive: normale Perspektive

Blauer Bildhintergrund, mittig in weißer Schrift: Hirntod



Montage: harter Schnitt



Kameratechnische Bildgestaltung

m:ss

4:24

Bildinhalt

Bildebene

Zeit

4

KE Nr.



Einzelgeräusche /  Musik

(Fortsetzung nächste Seite)

Arzt: Es ist für Angehörige oft schwer zu begreifen, dass der Patient dessen Herz sie noch schlagen sehen, schon verstorben ist, dessen Hirntod festgestellt wurde. Gesetzlich ist es so, mit der Feststellung des Hirntodes ist der Patient verstorben, ja, und wir erhalten nur künstlich, durch unsere moderne Intensivmedizin durch Beatmungsgeräte und weitere Maschinen und starke Medikamente die Herzfunktion, die Kreislauffunktion und die Lungenfunktion aufrecht.

Arzt: Voraussetzung für die Organspende ist der Hirntod. Dies ist nur bei einem von hundert verstorbenen im Krankenhaus der Fall.



Sprache (Transkription)

Tonebene

KE = Kameraeinstellung

Deskription Filmprotokoll Nr. Titel: Organspende macht Schule – Hauptfilm Jahr: 2012: Länge total (m:ss): 21:57

Tabelle 5 Deskriptionsprotokoll 4: Ärzte erklären den Hirntod Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 79

6

KE Nr.

4:56

Kameratechnische Bildgestaltung

m:ss

Montage: weiche Blende

Bewegung: statische Kamera

Perspektive: normale Perspektive

Kamerahandlung:

Licht: normale Beleuchtung

Einstellungsgröße: Halbnah

Bildebene

Zeit

(Fortsetzung Tabelle 5)

Ergänzt wird: – Das Leben ist mehr als die Summe der Organfunktionen

Im linken Bilddrittel eine blaue Fläche auf der folgende Schriftzüge eingeblendet sind: – Hirntod – Wenn der Patient gestorben ist, werden Atmung und Herzschlag nur noch künstlich aufrechterhalten.

Bildtotalitätseindruck: Expertenaussage

Konfiguration der dargestellten Objekte: Bildhandlung: Die Person spricht direkt in die Kamera.

Objektbeschreibung ‒ Vordergrund: männliche Person mit weißem Kittel und Namensschild ‒ Mittelgrund: ‒ Hintergrund: medizinisches Gerät

Bildelemente (Videobild):

Bildinhalt

Arzt: Das Leben ist ja mehr als die Summe einzelner Organfunktionen, sondern setzt ja voraus, dass diese Organfunktionen durch das Gehirn zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt werden. Und diese Steuerung durch das Gehirn ist bei hirntoten Patienten erloschen und auch unwiederbringlich erloschen.

Sprache (Transkription)

Tonebene Einzelgeräusche /  Musik

80 Antje Kahl und Tina Weber

7

5:11

Montage: weiche Blende über Aufhellung des Bildes

Konfiguration der dargestellten Objekte: Bildhandlung: Die Person spricht direkt in die Kamera. Am Ende des Redeteils lächelt sie etwas.

Objektbeschreibung ‒ Vordergrund: weibliche Person mit einem auffällig leuchtend, roten Schal ‒ Mittelgrund: ‒ Hintergrund: Backsteinfarbenes Gebäude mit weißen Fensterrahmen

Perspektive: leichte untersicht

Bewegung: statische Kamera

Bildelemente:

Bildtotalitätseindruck: Expertenaussage

Konfiguration der dargestellten Objekte: Bildhandlung: Die Person spricht rechts an der Kamera vorbei.

Objektbeschreibung ‒ Vordergrund: männliche Person mit weißem Kittel. Ansicht. Von schräg-links ‒ Mittelgrund: ‒ Hintergrund: medizinisches Gerät, zwei Displays

Bildelemente (Videobild):

In den übrigen zwei Dritteln: Videobild, darunter blaue Fläche mit Namen und Beruf der sprechende Person

Kamerahandlung:

Licht: leicht unterbelichtet, Lichtquelle: rechts hinter der Kamera

Einstellungsgröße: Nah

(Fortsetzung nächste Seite)

Arzt: Manche Menschen haben Angst, zu früh für tot erklärt zu werden, da dringend Organe benötigt werden. Diese Sorge ist unbegründet, denn der Gesetzgeber hat ganz klar im Transplantationsgesetz geregelt, dass zwei Ärzte unabhängig voneinander den Tod feststellen müssen. Beide dürfen nichts mit der Transplantation zu tun haben.

Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 81

8

KE Nr.

5:29

Kameratechnische Bildgestaltung

m:ss

Am Anfang noch eingeblendet: – Kasten: Ausführliches Interview im Bonusmaterial

In den übrigen zwei Dritteln: Videobild, darunter blaue Fläche mit Namen und Beruf der sprechende Person

Licht: leicht unterbelichtet, Lichtquelle: rechts hinter der Kamera

Im linken Bilddrittel eine blaue Fläche auf der folgende Schriftzüge eingeblendet werden: – Hirntoddiagnostik – Die Regelungen sind durch die Bundesärztekammer festgelegt. – Die Kriterien sind wissenschaftlich begründet. – Bei leisesten Zweifeln kann die Dia­ gnose Hirntod nicht gestellt werden.

Bildtotalitätseindruck: ernst

Bildinhalt

Einstellungsgröße: Nah

Montage: Schnitt mit anschließendem Aufblenden

Bewegung: statische Kamera

Perspektive: normale Perspektive

Kamerahandlung:

Licht: natürliche Beleuchtung, Lichtquelle eher links

Einstellungsgröße: Halbnah

Bildebene

Zeit

(Fortsetzung Tabelle 5)

Arzt: Die Feststellung des Hirntodes unterliegt einer ganz strengen Regelung, die durch die Bundesärztekammer festgelegt ist und diese Regelungen sind wissenschaftlich begründet und es ist auch ganz klar belegt, dass bei leisesten Zweifeln an der Hirntoddiagnose diese nicht gestellt werden kann.

Sprache (Transkription)

Tonebene Einzelgeräusche /  Musik

82 Antje Kahl und Tina Weber

6:46

[…]

[…]

Bildtotalitätseindruck: Expertenaussage

Konfiguration der dargestellten Objekte: Bildhandlung: Die Person spricht rechts an der Kamera vorbei.

Objektbeschreibung ‒ Vordergrund: männliche Person mit weißem Kittel. Ansicht. Von schräg-links ‒ Mittelgrund: ‒ Hintergrund: medizinisches Gerät, ein Display

Bildelemente (Videobild):

[…]

[…]

Wissen über die Organspende unter Berücksichtigung des Hirntodes (II) 83

Bilder fürs Leben: Versteckte moralische Botschaften als Reaktion auf die Krise der Organspende Solveig Lena Hansen und Silke Schicktanz* I. Einleitung Im April 2012 wird der Alltag am Fernbahnhof des Frankfurter Flughafens durch ein ungewöhnliches Ereignis unterbrochen: Bahnreisende, die an längere Wartezeit aufgrund von Streiks, Unfällen oder technische Störungen gewöhnt sind, treffen auf den nierenkranken 27-jährigen Michael. Mitsamt eines portablen Dialysegeräts wartet er wie sie am Bahnsteig, allerdings „nicht auf den Zug, sondern auf ein Spenderorgan“.1 Parallel zu dieser Performance gibt es andernorts noch zwei ähnliche Situationen: Die 26-jährige Jennifer wartet im selben Zeitraum mit einem Beatmungsgerät am Frankfurter Flughafen auf eine Lunge, der 22-jährige Kevin wiederum an einer Landstraße mitsamt seinem künstlichen Unterstützungssystem auf ein Herz. Zwei Jahre später sind aus diesen Aktionen drei verschiedene Kampagnenmotive entstanden, bei denen die Situationen verfremdet und die Bilder montiert wurden; Michael, z. B. an dem U-Bahnhof Gesundbrunnen in Berlin (siehe Abbildungen 1, 2 und 3).2 Ziel dieser Aktionen war es, eine Situation, die sonst nur im Krankenhaus stattfindet, öffentlich zu machen und somit emotionale Reaktionen zu erzeu*  Diese Forschungsarbeit wurde mit Mitteln der DFG, im Rahmen des Projektes „ ‚Ich möchte lieber nicht‘. Das Unbehagen mit der Organspende und die Praxis der Kritik. Eine soziologische und ethische Analyse“, GZ SCHI 631/7-1, gefördert. Wir danken Felix Hagenström für Hintergrundrecherchen zu der Wartekampagne und Manuel Schaper für Literaturhinweise zur Bildanalyse. Zudem danken wir unseren Projektpartnern, Larissa Pfaller und Frank Adloff für ihre konstruktive Kritik sowie Gitit Bar-On und Nurit Guttmann für ihr fachliches, impulsgebendes Feedback im Rahmen unseres Projektworkshops „To whom it may concern … Methodological and ethical perspectives of visual health communication“ am 07. Oktober 2015 in Göttingen. 1  Stiftung fürs Leben, Presseinformation. 2  Bilder und Videos dieser Aktion sind zu finden unter: http://www.fuers-leben. de/informieren/downloads/wartekampagne-2014.html (letzter Zugriff: 30.05.2017). Auf der Homepage der Stiftung fürs Leben ist der vollständige Name der abgebildeten Personen aufgeführt, auf den Plakaten jedoch nur der Vorname. Wir beschränken uns bei der hier vorgelegten Analyse auf den Vornamen.

86

Solveig Lena Hansen und Silke Schicktanz

Abbildung 1: „Wartekampagne“ der DSO / Stiftung fürs Leben, 2014, Motiv: Jennifer Bras

Abbildung 2: „Wartekampagne“ der DSO / Stiftung fürs Leben, 2014, Motiv: Kevin Kerrutt



Bilder fürs Leben: Reaktion auf die Krise der Organspende

87

Abbildung 3: „Wartekampagne“ der DSO / Stiftung fürs Leben, 2014, Motiv: Michael Stapf

gen.3 Die Praxis, konkret betroffene Personen ins Rampenlicht zu stellen, kann als Versuch gewertet werden, der „Krise der Organspende“ entgegenzuwirken. Eine Krise der Organspende, d. h. eine als zu niedrig eingeschätzte Spendebereitschaft trotz flächendeckender Information und rechtlicher Regelung, ist in Deutschland4 allerdings nicht erst seit der Reaktion auf den sogenannten Organverteilungsskandal zu beobachten. Vielmehr muss konstatiert werden, dass zumindest in der deutschen Diskussion seit über einer Dekade dieser „krisenhafte“ Dauerzustand Bestandteil der deutschen Diskussion um Organspende ist.5 In diesem Sinne ist diese Kampagne als Diskursbeitrag zu 3  Stiftung

fürs Leben, Presseinformation. Problematisierung der Spenderzahlen in Deutschland kann allerdings mit den auf EU-Ebene zugenommenen „Harmonisierungsbemühungen“ in Verbindung gebracht werden, da gerade in den letzten Jahren vermehrt immer wieder betont wird, dass Deutschland im europäischen Vergleich, z. B. zu Spanien oder Österreich, ein viel zu geringes Spenderaufkommen pro Einwohner zeige (vgl. European Commission). 5  Vgl. z. B. Engels/Badura-Lotter/Schicktanz. Dies zeigen aktuelle repräsentative Bevölkerungsumfragen (vgl. dazu die Beiträge von Kahl/Weber in diesem Band): Eine nicht unerhebliche Anzahl von Personen ist gegenüber dem Hirntodkriterium, dem Transplantationssystem oder den Verteilungskriterien skeptisch eingestellt. 4  Die

88

Solveig Lena Hansen und Silke Schicktanz

sehen, der wie manche juristische und ethische Beiträge die Erhöhung der Spendebereitschaft mit verschiedensten Mitteln auszuloten versucht.6 Im Folgenden wollen wir an dieser Kampagne der Stiftung fürs Leben exemplarisch zweierlei diskutieren: Erstens, wie die Inhalte solcher BildText-Kompositionen im öffentlichen Raum methodisch für die bioethische Analyse zugänglich gemacht werden können; und zweitens, wie der diskursive Beitrag solcher Organspendekampagnen inhaltlich zu bewerten ist. In Bezug zum ersten Anliegen bildet die exemplarische Kampagnenanalyse einen neuen Ansatz für die empirische Ethik. Es geht uns darum auszuloten, wie die argumentative Rolle des Bildes in Ergänzung zum Text für die bioethische Reflexion systematischer als bisher analysiert werden kann.7 Dies baut auf der Beobachtung auf, dass eine kritisch-ethische Reflexion solch ‚visueller Ansprachen‘ bisher aussteht. Die wenigen bisherigen Auseinandersetzungen8 mit derartigen Kampagnen erlauben bereits wichtige Erkenntnisse. Unser Anliegen geht jedoch einen Schritt weiter, indem es eine strukturierte und tiefergehende Analyse aufbauend auf theoretischen Referenzpunkte vorschlägt, um damit systematischer als bisher die Rolle von Bild-Text-Interaktionen, wie wir sie in Gesundheitskampagnen, Internetdarstellungen, Werbematerialien etc. finden, für die angewandte ethische Reflexion zugänglich zu machen. Um diese Leerstelle zu füllen, bedarf es jedoch eines ausformulierten methodischen Instrumentariums. Wir schlagen einen multimodalen, d. h. auf das Zusammenspiel verschiedener Bedeutungsebenen abzielenden, Ansatz vor, um hierdurch der Vielschichtigkeit moralischer Apelle Rechnung zu tragen. So sollte es gelingen, systematischer als bisher der Rolle von Kampagnen als diskursiver Ressource nachzugehen und ihre Verwendung kritisch zu reflektieren. Diese kritische Reflexion bezieht sich einerseits auf die rationale Überprüfung von Konsistenz und Kohärenz in Bezug auf die inhärenten und übergeordneten Wertvorstellungen, die mit dieser Verwendung einhergehen. Andererseits kann diese kritische Prüfung auch darüber hinausgehen, in dem alternative, konträre Ansichten und antithetische, ethische Reflexionsmuster mobilisiert werden. Im vorliegenden Beitrag werden wir uns allerdings vorrangig auf die erste Form der kritischen Reflexion im zweiten Teil der Analyse fokussieren.

z. B. Breyer et al.; Nationaler Ethikrat. Cattani. 8  Vgl. Kaiser/Groß; Rogge. 6  Vgl. 7  Vgl.



Bilder fürs Leben: Reaktion auf die Krise der Organspende

89

II. Methodischer Hintergrund: Zur moralischen Ikonographie von Gesundheitskampagnen Was sind Gesundheitskampagnen? Für ein solches Vorgehen ist zunächst einmal eine Begriffsklärung nötig. Öffentliche Gesundheitskampagnen weisen vier wesentliche Merkmale auf:9 (1) Sie sind strategisch organisiert; (2) sie basieren auf der Intention, ein vorher festgelegtes Ergebnis zu erzielen; (3) sie haben eine große Zielgruppe als Publikum und (4) sie haben in der Regel einen exakt bestimmbaren Anfangsund Endpunkt. Wer strategisch eine große Zielgruppe erreichen will, sieht sich mit der Frage konfrontiert, welche Botschaften durch das entsprechende Text-Bild-Verhältnis vermittelt werden und welche Informationen auf diese Weise die Zielgruppe erreichen. Damit sind derartige Kampagnen ein äußerst wichtiges Medium, um die diskursive Landschaft, die sich bereits in den Bewertungsdiskursen zu Wissenschaft, Gesundheit oder anderen öffentlichen Kontroversen (z. B. Umgang mit marginalisierten Gruppen) aufspannt, verantwortlich mitzugestalten. Gleichwohl funktionieren diese Kampagnen in der Form eines „Social Marketing“, vom Standpunkt der Akteure her, nach den gleichen Prinzipien wie andere Werbeplakate im öffentlichen Raum. Insofern ist es wenig überraschend, dass die Betrachtenden keiner neutralen „Information“, sondern vielmehr einer persuasiven, auf Handlungsänderung abzielenden Beeinflussung ausgesetzt sind.10 Die analytische Kommunikationswissenschaft stellt zwar Methoden für die Analyse des Verhältnisses von Moralprinzipien und vermittelten Botschaften bereit und fragt, welche gesellschaftlichen Werte solchen Kampagnen zugrunde liegen.11 Sie befasst sich jedoch nicht mit der systematischen Erfassung des Text-Bild-Verhältnisses in der visuellen Kommunikation und verweigert zudem den normativen Schritt einer Bewertung solcher visuellen Appelle. Sie bleibt insofern mit Blick auf die Hybridität, die bioethischen Fragen inhärent ist, unvollständig:12 Aus einer solchen Perspektive geht es nicht nur um vordergründige moralische Forderungen, sondern auch um implizite anthropologische und epistemologische Prämissen, die in bioethischen Problemstellungen und Aussagen enthalten sind. Es ist dabei anzunehmen, dass gerade Bilder auch diese beiden letzten Komponenten durch versteckte Argumente, implizite Forderungen oder überzogene Repräsentationen vermitteln können.13 Springston. S.  24 f. 11  Vgl. Guttman. 12  Schicktanz. 13  Vgl. Guttman, S. 11. 9  Vgl.

10  Simons,

90

Solveig Lena Hansen und Silke Schicktanz

Ein klassischer, durchaus überzeugender und verwendeter Zugang zur Bildanalyse ist in der Methode der Ikonographie zu finden (aus dem Griechischen, „eikón“, d. h. Bild und „gráphein“, also schreiben). Sie bezeichnet das systematische Erschließen eines künstlerischen Themas und geht auf den Kunsthistoriker Erwin Panofsky zurück.14 Seine ikonographisch-ikonologische Methode verfährt dreistufig: zunächst wird eine sog. vorikonographische Beschreibung durchgeführt, in der eine erste Annäherung an das zu beschreibende Bild vorgenommen wird.15 Der zweite Schritt beinhaltet eine ikonographische Analyse, die das Konzept des entsprechenden Bildes fasst. Der letzte Schritt schließlich umfasst eine ikonologische Interpretation, die das Bild als Zeugnis seiner Zeit für gesellschaftliche Grundhaltungen und kulturelle Werte versteht.16 Hieran anschließend formuliert die politische Ikonographie, dass Bilder keine rein repräsentativen Objekte, sondern gerade im politischen Kontext häufig Ausdruck von interessengeleitetem Handeln der Akteure sind. Das Ergebnis eines bildlich festgehaltenen politischen Meinungsbildungsprozesses (z. B. einer Rede oder einer Demonstration), ist somit nichts, was die Realität bloß abbildet – es kann diese bewusst im Sinne der politischen Strategie nur als Ausschnitt zeigen oder verzerren.17 Ganz ähnlich lassen sich diese methodischen und epistemischen Prämissen auf eine moralische Ikonographie übertragen, die den Einsatz von Bildern nur als eine scheinbare Repräsentation versteht, welche sich bei näherer Betrachtung als strategisches Handeln mit moralischer Bedeutung herausstellt. An der etablierten Methode der Ikonographie wurde allerdings zum einen die mangelnde Einbeziehung formeller Gesichtspunkte, d. h. die Anordnung und Wirkung graphischer Elemente kritisiert; zum anderen die fehlende Kontextualisierung der jeweiligen analysierten Bildquellen.18 Schließlich bleibt ein solch bildanalytischer Zugang für Gesundheitskampagnen unterbestimmt, da diese multimodal sind:19 Sie bedienen mit der 14  Panofskys Bezugspunkte sind wiederum die kulturwissenschaftliche Wende der Kunstgeschichte durch Aby Warburg, der als erster den Kontext eines Gemäldes systematisch in die Analyse miteinbezog und so neue interpretative Ergebnisse liefern konnte. Warburg entwickelte die Idee einer kontextsensitiven Kunstwissenschaft, die für verschiedene Bildquellen (nicht nur der sogenannten ‚Hochkultur‘) verwendet wird (vgl. Kopp-Schmidt, S. 48–50). 15  Dabei wird versucht, einer spontanen Wahrnehmung zu entsprechen, die jegliches Kontextwissen ausblendet. Es werden die Formen und Motive des Bildes auf einer sehr allgemeinen Ebene identifiziert, um die Atmosphäre des Bildes zu erfassen. Aus Kapazitätsgründen werden wir diesen Analyseschritt hier auslassen. 16  Vgl. Kuhn; Kopp-Schmidt. 17  Fleckner/Warnke/Ziegler, S. 8. 18  Dies liegt darin begründet, dass Panofskys Analysemethode für Gemälde mit religiöser Symbolik entwickelt wurde (vgl. Kopp-Schmidt, S. 44). 19  Vgl. Kress; van Leeuwen, Multimodality and Multimodal Research.



Bilder fürs Leben: Reaktion auf die Krise der Organspende

91

Kombination aus Text und Bild immer zwei Darstellungsmodi zugleich. Untersuchungsmethoden zur Multimodalität behalten somit im Blick, dass die Spezifika eines visuell-verbalen Sprechaktes im öffentlichen Raum gerade im Zusammenspiel beider Modi bestehen, die sich auf Moralprinzipien beziehen, um eine Handlungsveränderung zu bewirken.20 Anders als die Ikonographie berücksichtigt ein solcher Ansatz zudem, dass der Zuschauer einen Kontakt zum Bild aufbaut, mit ihm interagiert und evtl. beeinflusst wird. Dem Aspekt der Multimodalität und dem konkreten Ziel, gesellschaftspolitisch relevante, öffentlich vorgebrachte Appelle im Kontext der Biomedizin zu analysieren, wird die Sozialsemiotik als kritische Erweiterung klassischer Bildbeschreibung am ehesten gerecht, da sie deren potentielle Wirkung auf die Betrachter und das Zusammenspiel von Text-BildElementen untersucht.21 Die Sozialsemiotik versteht Zeichen als Ausdruck und Bedingungen sozialer Ordnungen; d. h. als Ressource sozialen Handelns: Bilder sind Mittel für soziale, interaktive Austauschprozesse, sog. Zeichenressourcen, die selbst beständiger Erweiterung und Veränderung unterworfen sind.22 Die Nutzung dieser Ressource wiederum kann nicht durch das Bild selbst erklärt werden, sie ist vielmehr ein Ergebnis der kulturellen und kognitiven Entwicklung des Menschen.23 Im Gegensatz zur klassischen Zeichenlehre fokussiert die Sozialsemiotik also die Entstehung und Bedeutung dieser Zeichen in kulturellen, interaktiven Kontexten, die selbst als semiotische Gebilde verstanden werden.24 Dies macht gerade die Sozialsemiotik sehr anschlussfähig für bioethische Analysen – unter sozialsemiotischer Perspektive rückt dann nämlich die Frage in den Fokus, wie in moralisch relevanten Kontexten die Kampagne als Bild-Text-Ressource von wem genutzt wird. Für die Analyse moralischer Appelle in Gesundheitskampagnen lässt sich damit der Frage nachgehen, wie die jeweiligen Elemente eines Bildes eingesetzt werden, um in sozialer Hinsicht Bedeutung zu generieren. Dabei gehen wir davon 20  Ein Beispiel für ein Moralprinzip sind Gesundheitskampagnen mit Responsibilisierungsstrategien, d. h. mit Appellen, die sich auf die Verantwortung des Individuums gegenüber der eigenen Gesundheit und der Gesundheit anderer beziehen, wie z. B. in HIV/AIDS-Kampagnen. Sie beziehen sich letztlich auf das Moralprinzip der Autonomie und des Nicht-Schadens: Ein autonomes Subjekt soll aus rationalen Gründen entscheiden, Kondome beim Geschlechtsverkehr zu verwenden, um sich und andere nicht zu infizieren – schließlich möchte es selbst dieser Gefahr auch nicht ausgesetzt sein (vgl. Guttman, S. 191). Ob dann die in diesen Kampagnen enthaltenen Prinzipien berechtigt sind oder eher ethisch fragwürdig, muss in einem zweiten, davon getrennten Schritt der ethischen Reflexion geprüft werden. 21  Vgl. Kress/van Leeuwen. 22  Vgl. Stöckl. 23  Vgl. ebd. 24  Vgl. Halliday.

92

Solveig Lena Hansen und Silke Schicktanz

aus, dass die verwendeten Bilder aktive Objekte sind, welche die soziale Wirklichkeit, nämlich das Transplantationssystem – also die komplexe Interaktion zwischen Medizinsystem, Spendepraxis und Normordnung – beeinflussen sollen. Sozialsemiotische Ansätze gehen von drei sog. Meta-Funktionen,25 d. h. konstitutiven Regeln für visuelle Kommunikation aus: 1. Ein Bild repräsentiert Entitäten, d. h. Gegenstände, Handlungen, aber auch Gefühle etc. (Rep­ resentational Meaning); 2. ein Bild etabliert eine bestimmte Art des Kontakts mit dem Betrachter (Interactive Meaning) und 3. ein Bild erzeugt eine Struktur durch die Anordnung einzelner Elemente (Compositional Meaning). Auf der repräsentativen Bedeutungsebene kann bspw. eine Kampagne daraufhin untersucht werden, welche Entitäten gezeigt (denotiert) werden. Auf der interaktiven Ebene wird untersucht, welche Beziehung zwischen Bild und Betrachter etabliert wird. Auf der kompositionellen Bedeutungsebene wird nach dem Informationswert der einzelnen Bestandteile und ihrem Verhältnis zueinander gefragt, d. h. welche Elemente der Kommunikation zentral bzw. nebensächlich sind. Sozialsemiotische Ansätze formulieren darüber hinaus eine Vielzahl von Kategorien zur Beschreibung von Bildern bzw. Text-Bild-Verhältnissen.26 III. Methodische Konkretisierung An dieser Stelle folgen wir der Zusammenfassung des sozialsemiotischen Ansatzes durch Jewitt und Oyama und der Weiterentwicklung zur multimodalen Bild-Text-Analyse durch Stöckl.27 Jeder der drei Meta-Funktionen eines Bildes, also der representational, interactive und compositional mean­ ing, ordnen wir verschiedene Analysekategorien zu, die wir zunächst kurz erklären und dann exemplarisch auf ein Kampagnenmotiv der eingangs genannten Wartekampagne anwenden. 1. Repräsentative Bedeutung: Narrative / konzeptuelle Strukturen und Vektoren

Auf der repräsentativen Bedeutungsebene lässt sich zunächst zwischen narrativen und konzeptuellen Strukturen eines Bildes unterscheiden. Während narrative Strukturen die Entitäten in einer Situation zeigen, die von Handlungen bzw. Ereignissen durchzogen ist, sind konzeptionelle Bilder 25  Stöckl,

S. 211. et al. 27  Vgl. Jewitt/Oyama; Stöckl. 26  Hansen



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statisch, d. h. sie klassifizieren die Eigenschaften der Entitäten.28 Vektoren wiederum sind tatsächlich vorhandene oder auch gedachte Linien zwischen den Elementen eines Bildes. Ein Vektor zeichnet sich dadurch aus, dass er eine Beziehung zwischen den Akteuren im Bild und ihren Zielen, wie z. B. Gegenständen oder anderen Personen, herstellt. Auf diese Weise verbindet er die räumliche Anordnung im Bild mit der sozialen Bedeutung der dargestellten Handlung. 2. Interaktive Bedeutung: Distanz, Kontakt, Point-of-View

Mit der Kategorie der Distanz lässt sich analysieren, wie nah oder fern uns eine präsentierte Person erscheint: „A close-up (head and shoulders or less) suggests an intimate / personal relationship; a medium shot (cutting off the human figure somewhere between the waist and the knees) suggests a social relationship […]; and a ‚long shot‘ […] suggests an impersonal relationship […].“29 Natürlich sind, entsprechend zur Gestaltung sozialer Beziehungen, hier verschiedene Grade der „Nähe“ bzw. „Ferne“ denkbar, sowie Unter- und Zwischenstufen eines Close-up, eines medium oder long shot. Auf der funktionalen Ebene der Interaktion unterscheidet die Sozialsemiotik weiterhin zwischen Bildern mit „demand“ oder „offer“.30 In die erste Kategorie fallen Bilder, die symbolisch etwas vom Betrachtenden fordern oder ihm einen Bedarf suggerieren. Dies wird besonders am Gesichtsausdruck der Akteure deutlich, die z. B. Rücksichtnahme oder auch Mitleid fordern können. Ein Bild, das ein Angebot oder einen Vorschlag macht, präsentiert hingegen Informationen, ohne direkt etwas zu fordern. Als dritte Kategorie der Interaktion mit dem Betrachter lässt sich der Point of View nennen, also die Perspektive, aus der eine Person gezeigt wird: Blickt diese bspw. aus dem Bild auf uns herab, wird ihre Position symbolisch als machtvoll konnotiert; blicken wir auf sie herab, verhält es sich andersherum. Wird uns eine Person frontal präsentiert, sind wir maximal in ihre Situation, d. h. ihre Geschichte und Gefühle involviert, wird sie uns von hinten präsentiert, bekommen wir nur einen sehr begrenzten Eindruck von ihr.31

29  Ebd.,

Jewitt/Oyama, S. 141. S. 146.

31  Vgl.

ebd., S. 135.

28  Vgl.

30  Ebd.

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Solveig Lena Hansen und Silke Schicktanz 3. Kompositive Bedeutung: Informationswert, Framing, Realitätswert, Salienz

Während sich mit den Kategorien der Distanz, des Kontakts und des Point-of-View also analysieren lässt, wie das Bild mit dem Zuschauer interagiert, lässt sich schließlich unter dem Begriff der kompositionellen Bedeutung insbesondere das Text-Bild-Verhältnis fassen. Hier geht es um die Frage, wie diese beiden Elemente in Beziehung stehen und wie sie gewichtet werden. Auch hier lassen sich nach Jewitt und Oyama Unterkategorien finden,32 von denen uns vorrangig der sogenannte Informationswert, die Rahmung (Framing) und die Modalität (Realitätswert) wichtig erscheinen. Des Weiteren kann hier die Salienz, also die visuelle Bedeutsamkeit z. B. durch farbliche Hervorhebung genannt werden. Der Informationswert wird durch die Positionierung der einzelnen Elemente im Bild hergestellt. In westlichen Kulturen, die es gewohnt sind, von links oben nach rechts unten zu lesen, wird den Informationen je nach ihrer Positionierung unterschiedlich viel Relevanz zugewiesen.33 Das, was als gegeben vorausgesetzt wird, z. B. die soziale Normalität, ist links im Bild positioniert; das, was als neu erscheint, ist rechts abgebildet.34 Ähnlich verhält es sich mit der Dichotomie oben vs. unten: Oben wird, so argumentiert die Sozialsemiotik, ein Ideal oder eine Wunschvorstellung platziert; unten jedoch „ ‚down to earth information‘ “35; Aussagen also, die uns als Betrachtende von diesem Ideal auf den Boden der Tatsachen zurückbringen. Mit der Kategorie des Framings lässt sich wiederum die Kontinuität bzw. Diskontinuität einzelner Elemente beschreiben, d. h. die (fehlenden) Verbindungen zwischen einzelnen Elementen, die sich z. B. in Trennlinien oder der farblichen Gestaltung äußern.36 Die Modalität schließlich bezieht sich auf den Realitätswert eines Bildes: Je höher die Wahrscheinlichkeit, dass das gezeigte Motiv auch mit dem bloßen Auge genauso wahrgenommen würde, desto höher ist theoretisch seine Modalität. IV. „Warten auf Gesundheit“: Analyse der repräsentativen, ­interaktiven und kompositiven Bedeutungen des Kampagnenmotivs Im Folgenden werden wir die oben ausformulierten Analysekategorien auf eines der Kampagnenmotive anwenden (s. o., Abbildung 3) und die 32  Vgl.

ebd., S. 147. ebd., S. 148. 34  Vgl. ebd. 35  Ebd. 36  Vgl. ebd., S. 150. 33  Vgl.



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Bedeutungen des Bildes in der Interaktion mit dem appellativen Text herausarbeiten. Um die Zwischenergebnisse eines größeren Forschungszusammenhanges hier konzentriert darstellen zu können, schließen wir unsere Interpretation der jeweiligen Metafunktion direkt an die Analyse an. 1. Repräsentative Bedeutung des Bildes

Das Kampagnenmotiv mit Michael zeigt eine statische Situation, die sich durch Isolation auszeichnet. Das Bild ist jedoch nicht als konzeptuell, sondern durchaus als narrativ zu bezeichnen, was insbesondere an den Vektoren deutlich wird: Den auffälligsten unter ihnen markieren die Bahnschienen, die eine mögliche Bewegung und damit einen Ausweg aus der Situation bieten. Im übertragenen Sinne lässt sich dieser Vektor als die potentielle, aber bisher nicht realisierte Hilfe für Michael interpretieren; sozusagen der mögliche Zug, der anhält und ihn zur Gesundheit mitnimmt – auf den er also wartet. Gerade dieser Vektor, der nicht von der Person selbst ausgeht, ist zentral für das Bild, da er ihm eine Tiefe verleiht. Von Michaels Beinen ausgehend weist zudem eine diagonale Linie in Richtung der Schienen, die verdeutlicht, wie sehr sein gesamter Körper auf diese Möglichkeit eines potentiell herankommenden Zuges ausgerichtet ist. Ein weiterer, wichtiger Vektor verläuft von Michaels rechter Hand, die durch den Shunt an das Dialysegerät gebunden ist, zu dem Schild der ­U-Bahn-Station. Durch diese Bindung an die Blutwäsche, so vermittelt uns dieser Vektor, ist der Gesundbrunnen trotz sichtbarer Nähe unerreichbar für Michael. Oder, anders formuliert: Er wurde zum Gesundbrunnen transportiert, doch stellt dieser ohne die Existenz anderer Menschen (nämlich potentieller Spender) keine Gesundung in Aussicht. Ein dritter, sehr wichtiger Vektor verläuft von Michaels Augen nach links oben, hin zu einem Gegenstand, den wir auf dem Bild nicht sehen können. Jewitt und Oyama bezeichnen diese Form des Blicks, als „non-transactive“, im Gegensatz zu einer transaktiven Beziehung zwischen Betrachtendem und Betrachtetem, bei der wir das Objekt, auf den der Vektor des Blicks abzielt, ebenfalls sehen.37 Sie stellen weiterhin fest, dass der Gesichtsausdruck einer Figur die Wirkung des Vektors noch verstärken kann,38 was auch im Fall von Michael zutrifft: Sein Blick zeigt Teilnahmslosigkeit bis hin zur Resignation ob der Gewissheit, dass heute Abend der „Zug abgefahren ist“, er also keine Niere mehr bekommt. Bereits die Analyse der narrativen Struktur des Bildes mittels Vektoren legt frei, dass die Repräsentation des Wartens 37  Ebd., 38  Vgl.

S. 143. ebd.

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auf ein Organ weitaus tiefergehender konzeptualisiert ist als es auf den ersten Blick scheint. Die U-Bahn-Station wird hier zu einem speziellen Setting mit Wirkung auf den Betrachter, die durchaus intendiert ist. Sie überspitzt eine Situation des Alltags, die wir alle kennen, nämlich das isolierte Abwarten. Überspitzt wird diese Situation insbesondere dadurch, dass das Abwarten eines chronisch Kranken hier in eine dunkle U-Bahn Station verlegt ist: Michaels Warten, so sollen wir es uns vorstellen, gleicht emotional unserem tatenlosen, wenn nicht gar handlungsunfähigen Abwarten an einer U-Bahn Station. Nur ist der Unterschied, dass wir uns in der Regel nur sehr kurz an einem solchen Ort aufhalten, Michael aber jahrelang (wenn wir ihm nicht helfen). 2. Interaktive Bedeutung des Bildes

Michael wird weder im Close-Up (Großaufnahme) noch in einer distanzierten Darstellung (aus der Ferne) gezeigt. Durch die Decke als Accessoire, die auf Höhe seiner Nieren beginnt, sehen wir nur seinen Oberkörper aus mittlerer Entfernung (Halbtotale). Eine Person, die auf ein Organ wartet, rückt hier nahe an uns heran, sie ist aber dennoch so weit entfernt, dass wir ihre Situation des Abwartens mit einer gewissen Distanz betrachten und auch reflektieren können. Damit korrespondiert unter der Kategorie des contact die Tatsache, dass Michael uns nicht direkt anblickt und insofern auch nichts von uns fordert. Anders wäre die bildliche Darstellung, wenn uns der Betroffene in einem Close-Up direkt anschauen würde, was als „ ‚demand‘ picture“ bezeichnet wird.39 Doch Michael schaut eben nicht direkt in die Kamera, sondern zur Seite; und dementsprechend lautet der Text auch nicht: „Ich warte seit acht Jahren. Auf eine neue Niere. Bitte helft mir!“; sondern es wird vielmehr von einem neutralen Beobachter die Szenerie kommentiert und über Michael gesprochen, wenn es heißt: „Michael wartet seit 8 Jahren. Auf eine neue Niere. Lasst uns helfen.“ So wird, bei aller Emotionalisierung und Personalisierung der Organtransplantation, eine objektive Darstellung des Leidens inszeniert, die uns zu Beobachtern der Szenerie macht.40 Zwar scheint die Aussage „Lasst uns helfen!“ ein unverbindlicher Vorschlag des Beobachters der Szenerie zu sein, jedoch wird dies durch die visuelle Untermauerung als moralische Pflicht des Helfens begründet. Gerade durch die visuelle Ansprache des leidenden und einsamen Michaels wirkt das Bild hier wie ein Imperativ. Während nämlich die pragmatische Funktion des Sprechaktes hier behauptend („Michael wartet seit 39  Ebd., S. 145. Man denke hier z. B. an die Kampagne einiger Hilfsorganisationen, die mit den plakatfüllenden Gesichtern kleiner, meist offensichtlich unterernährter und arm aussehender Kinder für Geldspenden werben. 40  Vgl. ebd., S. 146.



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acht Jahren. Auf eine neue Niere.“) bzw. direktiv („Lasst uns helfen.“) zu verstehen ist, wird erst durch das Bild Evidenz für eine Solidarpflicht für die Organspende argumentiert. Begründet wird dies mit dem moralisch relevanten Leiden von Michael, für das uns das Bild eine Evidenz stiftet.41 Dies wird durch den gewählten Point-of-View noch verstärkt: Michael wird uns von der Seite gezeigt; eine Positionierung, die als Präsentation auf Augenhöhe gilt42. Dadurch wird visuell der Vorschlag des Helfens untermauert; er lässt uns zu Zuschauern der Situation werden. Zugleich haben wir eine leichte Froschperspektive auf Michael: Denken wir uns eine horizontale Linie mittig durch das Bild, die einer Positionierung auf Augenhöhe entspräche, so ist Michael leicht darüber positioniert, d. h. wir blicken zu ihm auf. 3. Kompositive Bedeutung

Bei der Komposition des vorliegenden Bildes fällt auf, dass es vier wichtige Elemente beinhaltet: Die digitale Anzeigetafel oben, den dialysierenden Michael rechts, das textuell vermittelte Argument der Hilfsbedürftigkeit unten und die analoge Beschriftung „Gesundbrunnen“ links. Zentraler Fluchtpunkt des Bildes ist ein unscheinbares Element mit großer Symbolkraft, nämlich eine Tür am Ende des Gleises und die Schalt- bzw. Schließanalage daneben. Dieses Element, das mittig, aber doch im Hintergrund angeordnet ist, verweist auf Michaels Situation, den Ausweg nicht selbst wählen zu können oder „den Schalter umzulegen“, obwohl er weiß, dass es möglich wäre. Auch die Anordnung der vier Elemente des Bildes ist sicherlich nicht zufällig gewählt. Das Gegebene, Bekannte ist hier der „Gesundbrunnen“, also die Situation, nicht auf ein Organ zu warten; gesund zu sein. Michaels Positionierung wiederum entspricht Idee der Sozialsemiotik, dass etwas Neues, Ungewohntes, dem der Betrachter besondere Aufmerksamkeit schenken soll, in westlichen Kulturen rechts im Bild positioniert ist.43 So wird also unsere Aufmerksamkeit vom gewohnten Normalzustand der Gesundheit zu ihrem Gegenteil gelenkt. Auch das Verhältnis von Oben und Unten kann im Sinne der Sozialsemiotik wie folgt gedeutet werden: Oben im Bild ist ein Ideal; die Uhr signalisiert ein Ende des Arbeitsalltages nachts um 0:30 Uhr, ein Zeitpunkt, an dem die meisten Betrachter schlafen bzw. die Wartenden schnell nach Hause wollen. Unten, mittels Schrift, findet sich die ‚bodenständige‘ Information: Während sie keinen Gedanken mehr an das Leid Kranker verschwenden, wartet Michael, einsam und mit einer evidenzstiftenden Funktion des Bildes vgl. Mersch. Jewitt/Oyama. 43  Vgl. ebd. 41  Zur

42  Vgl.

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Dialyse über Nacht, wie sie tatsächlich von einigen Betroffenen in Anspruch genommen wird.44 Mit der Kategorie des Framing lässt sich wiederum analysieren, dass sich diese fünf Elemente des Bildes, d. h. die Schaltstelle in der Mitte, die Uhr oben, Michael rechts, die Schrift unten und links nicht kontrastiv gegenüber stehen. Eine Verbindung zwischen ihnen wird wiederum gerade dadurch geschaffen, dass in allen dieselbe Farbe, nämlich weiß, vorkommt und dass es keine Trennlinien gibt, die das Bild klar in oben / unten oder rechts / links aufteilen. Vielmehr wird durch die imaginären Vektoren (s. o.) eine Verbindung der vier Elemente zueinander geschaffen. Unter dem Aspekt der Modalität schließlich stellt sich die Frage, wie „realistisch“ das dargestellte Setting ist. Die Standard-Brennweite von 35 mm für Kinofilme und Fotos ist heutzutage die Norm für eine naturalistische Darstellung, obwohl diese nicht der eigentlichen Wahrnehmung des menschlichen Auges entspricht.45 Sobald ein Bild von dieser „Normaleinstellung“ abweiche, z. B. durch größere Schärfe, Farbsättigung oder eine tiefere Perspektive, sinke der Realitätswert: Das Bild wirke so „ ‚more than real‘, or ‚surreal‘, ‚fantastic‘ or ‚ghostly‘ “.46 Entsprechend gewinne es an Bedeutungspotential, wenn es seine eigene Machart demonstriere. Dies trifft auch auf das Motiv mit Michael zu, welches durch die Bildtiefe und Farbsättigung surreal wirkt. Ähnlich verhält es sich mit der Salienz, also dem Kontrast und der Hervorhebung einzelner Elemente des Bildes. Auffällig ist bei dem ausgewählten Bild ein starker Kontrast zwischen der schwarzen Uhr und den kalten Farben der Umgebung. Dies betont noch einmal die isolierte Situation Michaels (eine farbliche Einbettung, die an ein Krankenhaus erinnert) und die markante, ihm allgegenwärtige, ablaufende Zeit. Die bildliche Konstruktion von Realitätswert und die Salienz werden besonders deutlich, wenn die Darstellung mit einem Bild des Making-Of kontrastiert wird (Abbildung 4). Gerade durch die eigene Entlarvung als Komposition spricht dieses Bild jedoch nicht nur unseren Verstand, sondern auch unsere Sinne an: Die Darstellung eines jungen Mannes, der an einer leergefegten U-Bahn-Station dialysiert wird, ist surreal. Zudem sind U-Bahn-Stationen weder wochentags noch an Feiertagen um diese Zeit leer und es gibt auch keinen Betriebsschluss um ca. 0:30 Uhr. Doch es ist nicht nur unsere Ratio, die hier motiviert werden soll, sondern insbesondere unser Mitleid: Als Betrachter der Plakate wird uns von einem Beobachter der Szene eine verzweifelt wartende, d. h. leidende Person gezeigt. Mit einer solchen medialen Vermittlungsstrategie eines scheinbar neutralen Beobachters erster Ordnung (Erzäh44  Wöhlke/Doyé,

S. 85. Jewitt/Oyama. 46  Ebd., S. 151. 45  Vgl.



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Abbildung 4: „Wartekampagne“ der DSO / Stiftung fürs Leben, 2014, Making Of des Motivs Michael Stapf

ler), der das Geschehen vor der Kamera kommentiert, wird zugleich der Beobachter zweiter Ordnung (der Rezipient des Plakats) durch den ersten, neutralen Beobachter angesprochen und moralisch aufgrund des erwarteten Mitleids verpflichtet. Seine Unterlassung, sein Nicht-Helfen, so scheint es, verschlimmert den Zustand der betreffenden, leidenden Person. Hier kann mit Luc Boltanski (1999, S. 12) die Öffentlichkeit als „moral spectator“ verstanden werden, die durch eine „politics of pity“ angesprochen wird, gleichzeitig aber distanziert ist:47 „A politics of pity, that is to say a politics which takes hold of suffering in order to make of it a political argument par excellence, must […] be able to be orchestrated by a formula which enables this tension to be overcome by combining within a single statement both a realistic world be reported by an uninvolved spectator observing from anywhere and, in view of the ban on pure factuality, a world of people who are affected and whose concern promises commitment.“48

Gerade durch die visuell als neutral dargestellte moralische Instanz, die das Geschehen vor der Kamera (wie die Betrachter) als Leid bewertet, repräsentiert dieses lokale und drastische Beispiel visuell den sprichwörtlichen 47  Boltanski, 48  Ebd.,

S. 12. S.  33 f.

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„Tod auf der Warteliste“49, eine Metapher, die uns im Diskurs um die Or­ gantransplantation als potentielle Spender anspricht und verpflichtet, dem Sterbenden durch einen zustimmend ausgefüllten Ausweis zu helfen. Die Nicht-Handelnden, so scheint es, sind verantwortlich für das Leiden des entsprechenden Patienten, da sie sein Leid vermeiden könnten. Der abwartende, reglose, unentschiedene oder gar Nicht-Spender verschlimmert oder verursacht in dieser Logik das Warten der Patienten. In der spätmodernen, medienvermittelten Gesellschaft teilt sich die moralische Gemeinschaft in die Leidenden und die Nicht-Leidenden, wobei die Nicht-Leidenden die Leidenden mit medial vermittelter Distanz beobachten.50 Diese Beschreibung Boltanskis, die auch als Kritik an der medialen Zuschaustellung von Leid (z. B. der Erdbebenopfer) und der damit einhergehenden Distanz des Betrachters zu verstehen ist, lässt sich auf das System der Organtransplantation übertragen: Auch hier wird an Mitgefühl, Solidarität und Spendebereitschaft appelliert, letztlich bleiben die Akteure dennoch anonym. Michael, der auf „unsere Hilfe wartet“ und uns durch seine Identität als Patienten mit der Situation des Betroffenen konfrontiert, würde wiederum nie erfahren, wer ihm ggf. geholfen und sein Warten beendet hat; es sei denn, seine Angehörigen spenden als Lebendspender eine Niere. Der Appell des „Helfens“ scheint uns selbstverständlich, da er durch einen moralisch neutralen Beobachter der Szene vorgebracht wird. Doch was wären die Konsequenzen unserer „Hilfe“? Kommt sie direkt dem dort gezeigten, leidenden Menschen zugute? Gibt es noch Alternativen, sein Warten zu verkürzen oder zumindest zu erleichtern? Wie stehen die Chancen, dass unsere Hilfe ihn tatsächlich erreicht und seine Lebensqualität verbessert? Diese offenen Fragen, die sich gerade durch die plakative Botschaft ergeben, führen als Ergebnis der Analyse zu der Erkenntnis, dass es sich hier gerade nicht um Information zur Organtransplantation handelt, sondern vielmehr um eine Strategie, einer stagnierenden Zahl von spendebereiten Personen entgegenzuwirken.51 Ein solcher Appell kann keine Information sein, sondern vielmehr der Versuch einer Überzeugung, die darauf abzielt,

49  Breyer

et al. Boltanski. 51  Auch wenn hier vorrangig auf die Bereitschaft zur postmortalen Organspende abgezielt wird, ist es wichtig zu reflektieren, inwiefern diese Kampagnen genauso gut auch als Aufforderung für die Lebendorganspende zu interpretieren sind (vgl. Wöhlke). Dies ist insofern problematisch, da rechtlich einerseits diese Option nur im engen Familien- bzw. Freundschaftsgefüge erlaubt ist, aber deren Ausweitung auf sogenannte anonyme oder auch gezielte Fremdlebendspende in der Ethik diskutiert wird und in der Rechtspraxis anderer Länder (z. B. USA) erlaubt ist. 50  Vgl.



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die Urteile und Handlungen anderer zu beeinflussen.52 Eine Informationsvermittlung hingegen, die nicht darauf abzielt, das öffentliche Gegenüber zu überreden, sondern es mit einem guten, zwanglos vorgetragenen Argument in einem Diskurs zu überzeugen, „appelliert nicht an den bloßen Glauben des Publikums, sondern setzt gerade auf seine Fähigkeit, etwas freiwillig und reflektierend aufzunehmen“53. Dementsprechend kann diesem Bild eine motivierende, aber keine aufklärende Funktion zugeschrieben werden – ein Hinweis, den es auch kritisch bei anderen sogenannten Aufklärungskampagnen zu reflektieren gilt. Die Motivation ist zwar auf den allerersten Leseeindruck nicht ‚fordernd‘ gemeint, jedoch erzeugt die subtile Interaktion von Bild und Text eine Ambivalenz oder gar alternative Lesart, nämlich dass aus der vermeintlich unverbindlichen Aufforderung „Lasst uns helfen“ ein moralischer Imperativ wird, und damit eine Aufforderung zum Handeln, der man sich kaum entziehen kann. V. Kontextanalyse der Kampagne Gerade der Kontrast mit dem Making-of-Bild verdeutlicht, dass das Bild eine inszenierte und visuell verfestigte Performance ist und dass die Verwendung von Bildern stets in konkrete Situationen und die Handlungen von Akteuren eingebettet ist.54 Dieser Performance wollen wir uns nun abschließend mit einer Kontextanalyse nähern, bevor wir die ethische Reflexion der ‚Wartekampagne‘ vornehmen. Damit beziehen wird uns also nicht nur auf das fertige, verbreitete „Medienbild“, sondern auch auf das „Konzeptbild“,55 d. h. diejenigen Ideen, die im Entstehungs- und Produktionsprozess dem tatsächlichen materiell vorhandenen Bild vorausgehen. Die Initiatorin dieser Kampagne ist die Stiftung fürs Leben, die 2008 aus der Initiative „Fürs Leben. Für Organspende“ der Deutschen Stiftung Or­ gantransplantation (DSO) hervorging.56 Das Stiftungsvermögen umfasste Simons/Jones, S. 24. S. 9. 54  Vgl. Bock/Isermann/Knieper; Schneider. 55  Isermann/Knieper, S. 306. 56  Die DSO ist nach dem Transplantationsgesetz mit der Koordination der postmortalen Organspende in Deutschland beauftragt, d. h. sie betreut die Organentnahme und Hirntoddiagnostik, sieht in ihrem Selbstverständnis aber auch den „Dialog mit der Öffentlichkeit für mehr Information und Transparenz“ als eine Aufgabe (vgl. http://www.dso.de/dso/aufgaben-und-ziele.html, letzter Zugriff: 30.05.2017). 2009 wurde aus dieser Initiative die von der DSO in Treuhand geführte „Stiftung fürs Leben“. Diese Treuhandschaft wurde jedoch im Zusammenhang mit einer Umstrukturierung der DSO und der Novellierung des Transplantationsgesetzes abgegeben, wobei die Aufklärung zur Organspende an die Bundeszentrale für gesundheitliche 52  Vgl.

53  Rogge,

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nach einer anonymen Spende eine Million Euro zur Finanzierung der Kampagnen bis ins Jahr 2014.57 Die Wartekampagne wurde 2012 zunächst über sogenannte Infoscreens58 an S- und U-Bahnhöfen in 14 deutschen Städten verbreitet.59 Zwei Jahre später entstanden hieraus drei verschiedene Plakatmotive, deren „beklemmende Situation“ von Februar bis Juni 2014 bundesweit an Bahnhöfen zu sehen war und mit denen „Menschen erreicht und ihre Situation mit der Wartesituation der Patienten gespiegelt“ wurden.60 Werden diese Aussagen des Auftraggebers berücksichtigt, ergibt sich der Eindruck, dass mit der Emotionalisierung und der direkten Ansprache der Zuschauer durchaus offen und transparent umgegangen wird. Eine ähnliche Strategie zeigt sich, wenn die Selbstaussagen der Werbeagentur, Ogilvy & Mather, in die Analyse einbezogen werden: „Die Organspendeskandale der vergangenen zwei Jahre haben uns vergessen lassen, worum es eigentlich bei einer Organspende geht. Ogilvy & Mather Berlin bringt die Diskussion wieder auf den Punkt: Mit der Fortsetzung der Wartekampagne im Auftrag der Stiftung FÜRS LEBEN stellen die Berliner wieder die Patienten in den Fokus. Die Menschen, die jahrelang warten müssen, manchmal vergeblich. Drei echte Patienten aus der Warteliste werden in verschiedenen Wartesituationen gezeigt, die jeder von uns kennt – auf dem Bahnhof, an der Bushaltestelle, am Flughafen.“61 Aufklärung (BZgA) übergeben wurde. Die DSO sucht derzeit nach einem neuen Träger für die Stiftung fürs Leben und wird voraussichtlich in der Zukunft keine eigenen Kampagnen mehr entwerfen bzw. verbreiten (vgl. http://www.dso.de/dsopressemitteilungen/einzelansicht/article/deutsche-stiftung-organtransplantation-setztsuche-nach-neuem-traeger-fuer-treuhandstiftung-fort.html, letzter Zugriff: 30.05. 2017). 57  Vgl. http://www.fuers-leben.de/fileadmin/user_upload/fuers-leben.de/Presse/Ar chiv_2009/stiftungsgruendung.pdf (letzter Zugriff: 30.05.2017). 58  Infoscreens sind Bildschirme, die ähnlich wie analoge Werbemedien an Bahnhöfen mit wechselnden, digitalen Bildern Informationen (wie z. B. Wettervorhersagen und Nachrichten) aber auch Werbung verbreiten. 59  Isermann/Knieper, S. 306. 60  Vgl. http://www.presseportal.de/pm/71568/2660314 (nicht mehr abrufbar). 61  http://www.ogilvy.de/Ogilvy-Deutschland/Ogilvy-Mather-Germany/Company/ Ueber-uns#/Ogilvy-Deutschland/Ogilvy-Mather-Berlin/Work/Stiftung-fuers-Leben/ Wartekampagne-2014/Wartekampagne-fuer-Organspende-geht-in-die-2.-Runde (nicht mehr abrufbar). Für den ersten Teil der Kampagne, also die Aktion mit Michael Stapf im Jahr 2012, hat die Werbeagentur den Global Award bekommen, der weltweit für die beste Health Care-Werbung vergeben wird (vgl. http://www.theglobalawards.com/ winners/2012/pieces.php?iid=443671&pid=1 (letzter Zugriff: 30.05.2017). Die Global Awards gelten als höchste Auszeichnung in diesem Bereich. Den Auftrag an diese Agentur zu vergeben, war sicher eine strategisch gut durchgeplante (und finanziell kostspielige) Angelegenheit: Olgivy & Mather ist, wie viele andere deutsche Werbeagenturen auch, eine Tochtergesellschaft mit amerikanischen Wurzeln. Aktuell betreibt der Mutterkonzern 450 Büros in 169 Ländern (Nöcker, S. 102). Damit gehört diese Agentur deutlich national wie international zu den größten ihres Business.



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Die Werbestrategie, die hier angewandt wird, setzt also auf Authentizität: „Echtes“ Leiden, „wirkliche“ Emotionen machen diese Kampagne so besonders – es wird keine erfolgreiche Transplantation gezeigt und auch nicht das Spenden als heroischer Akt angepriesen, sondern es wird mit Betroffenheit argumentiert. Gleichwohl bleibt auch das Argument der Authentizität und die ‚Fokussierung des Patienten‘ eine Werbestrategie. Diese Strategie ist ‚ganz im Sinne des Erfinders‘, d. h. sie entspricht dem Gründer der Agentur, David Ogilvy, der meint, „daß eine gute Anzeige das Produkt verkaufen muß, ohne die Aufmerksamkeit auf sich selbst zu ziehen. Die Aufmerksamkeit […] sollte ganz auf das Produkt gelenkt werden, und der Leser sollte […] sagen: ‚Das habe ich noch nicht gewusst.‘ “62 Versteht man die Organspende als das ‚Produkt‘, das hier implizit angepriesen wird, dann geht diese Strategie hier auf: Unsere Aufmerksamkeit richtet sich auf Michael und auf das, was wir zwar wissen, aber selten vor Augen haben – nämlich das Leiden und die zähe Zeit des Wartens auf ein Organ. Ergänzt wird dies durch die Elemente, die uns dennoch die Inszenierung des Plakats vor Augen führen, z. B. die Bezeichnung der Haltestelle als „Gesundbrunnen“63. Sie ist eine Referenz für Besucher und Bewohner Berlins, weckt bei anderen jedoch als Haltestelle eher kulturhistorische Assoziationen, bei denen man an Heilquellen denken soll. Mit Stöckl lässt sich diese Bezeichnung als „Extension“64 bezeichnen, indem die Schrift zwar zum Bild gehört, es aber zugleich auch mit neuem Informationsgehalt versorgt. Das Warten am menschenleeren „Gesundbrunnen“ ist eine begriffliche Zuordnung, die eine Metakommunikation zwischen Bild und Text darstellt. VI. Ethische Reflexionen im Anschluss an die Wartekampagne Auf den ersten Blick bietet das Kampagnenmotiv folgende Darstellung: Es handelt sich um die Situation eines wartenden, schwerkranken Menschen. Dieser bittet oder bettelt nicht, sondern verharrt würdevoll. Durch eine mittlere Distanz scheint er uns nahe zu sein und unser Gefühl anzurühren – der moralische Handlungsdruck scheint sich langsam aber stetig in uns zu erhöhen, je länger wir das Bild betrachten. Die lockere Aufforderung: „Lasst uns helfen!“ wird somit zunehmend zu einem „Du musst helfen!“

62  Ogilvy,

S. 115. handelt es sich um die realexistierende Haltestelle ‚Gesundbrunnen‘ im U-Bahnnetz von Berlin. Dass die Szene ursprünglich in Frankfurt aufgenommen wurde (s. o.), illustriert die Konstruiertheit des Plakats. 64  Stöckl, S. 216. 63  Hierbei

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Der von uns verwendete multimodale Zugang bietet eine Analyse der repräsentativen, interaktiven und kompositionellen Funktionen von Gesundheitskampagnen, die ein tiefgründiges Bild abgeben und zeigen, dass auf allen drei Ebenen die moralisch relevante Aufforderung zum Helfen durch Bild und Text entsprechend umgesetzt wird. Auf der repräsentativen Ebene führt sie eine moralisch-deskriptive Prämisse der Not, der sozialen Isolation und der Hilflosigkeit des Wartenden ein. Die Hilfe ist hypothetisch ‚greifbar‘ (was die Vektorenanalyse verdeutlicht), aber sie tritt noch nicht ein. Auf der interaktiven Ebene wird distanziertes Mitleid beim Zuschauer erzeugt und zugleich seine Rolle als Helfer deutlich, indem Michaels Leid offeriert wird. Der visuell aufgebaute Kontakt wird schließlich durch den Vorschlag einer helfenden Handlung ergänzt, der vordergründig als Idee erscheint, durch die visuelle Untermauerung jedoch als Imperativ. Gerade im deutschsprachigen Raum hat z. B. die Pflicht zur Hilfe im Notfall (bzw. Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung) eine breite konsensuelle Unterstützung, was hingegen in anderen Kulturkreisen nicht unbedingt der Fall ist.65 In einer krisenhaften Zeit der Organspende, so ließe sich schließen, soll so wieder an eine Pflicht des Helfens erinnert werden. Die visuelle Komposition ergänzt diese Aufforderung, indem sie die gewohnte Gesundheit des Nicht-Betroffenen mit dem ungewohnten Leiden vergleicht. Von subtiler, da zentral im Hintergrund angeordneter Position, ist dabei die rote Ampel und die verschlossene Tür, die uns als topografische Kulisse66 an die symbolische Ausweglosigkeit Michaels erinnert. Wir haben es als potentielle Spender in der Hand, den Zug für Michael zu lenken. Durch die Modalität, die die Szenerie künstlich wirken lässt, entlarvt sich das Bild schließlich selbst als bearbeitetes Foto. Für eine ethische Analyse wiederum ist es nun notwendig, die ineinandergreifenden moralischen Argumente genauer zu beleuchten und in den breiteren Debattenstand zu stellen. Dabei erscheint uns eine kohärentistische Vorgehensweise angebracht.67 Diese bindet die lebenspraktische Verwendung von konkreten moralischen Regeln, wie wir sie in diesen Kampagnen finden, sukzessive an andere konkrete medizinethische Regeln sowie dahinterliegende Moralprinzipien, wie sie im ethisch-rechtlichen Diskurs zur Organspende zu finden sind, zurück. Während der Text auf dem Plakat mit der unverbindlichen, fast kumpelhaften Aufforderung „Lasst uns helfen!“ an das Prinzip der Fürsorge bzw. Currie. Hansen. 67  Vgl. für die Medizinethik Daniels; Marckmann/Mayer sowie allgemein NidaRümelin; Timmons. 65  Vgl. 66  Vgl.



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des Wohltuns erinnert, zeigt sich nun nach eingehender Analyse, dass es hier nicht allein um die Aufforderung zum „Helfen“ geht. Fürsorge und Wohltun werden als übergeordnete professionsethische Aufforderung und ärztliche Motivation verstanden, anderen zu helfen, Gutes zu tun. Ob die Kampagne tatsächlich Personen zum „Helfen“ bewegt, ist eine eigene empirische Frage, die mit der vorliegenden Analyse nicht beantwortet werden kann. Die Analyse zielt vielmehr auf Hintergrundthesen über mögliche Wirkmechanismen und auch deren ethische Legitimität ab. Somit kann sie empirischer Forschung zur Perzeption und Handlungsmotivation als Hintergrundfolie dienen. Wie bei vielen Interpretationsanalysen bleibt jedoch noch die Frage offen, ob diese analysierte Bedeutung sowohl der Intention der Gestalter sowie der tatsächlichen Rezeption durch ein (gemischtes, z. B. nicht akademisches) Publikum entspricht.68 Die weitere Deutung des Bildes legt aber eine wesentlich konkretere, engere Lesart des moralischen Inhalts für den Adressaten nahe: „Du musst einem Mitmenschen in dieser ausweglosen Notsituation helfen, denn dein Unterlassen führt zu sozialer Isolation, Krankheit und schließlich zum Tod!“ Damit wird die konkrete ethische Begründungslage eine ganz andere: Es geht hier nicht um die freiwillige Entscheidung eines Mitbürgers einem anderen Menschen zu helfen (Stichwort: altruistische Spende), sondern es entsteht eine Argumentationssituation der allgemeinen Pflicht zur Lebensrettung. Die moralphilosophische Begründung, den Wert der Gesundheit oder Lebensqualität substantiell zu verbessern, wird zumeist aus verschiedenen Theorien abgeleitet. Entweder aus einer traditionell konsequentialistischen Theorie, bei der Handlungen sich am positiven Ziel (Wohltun und Glück steigern, Leiden minimieren) orientieren sollen oder auch aus der spätmodernen, feministischen Care-Ethik, bei der Fürsorge vor allem dem Erhalt sozialer Beziehungen dient.69 Dabei bleiben normativ-praktische Fragen zu klären: Gilt die moralisch relevante Gesamtbotschaft des Motivs für jeden, als Maxime für den Arzt bzw. das Gesundheitspersonal oder für Menschen, die in enger Verbundenheit zueinander stehen? Natürlich ließe sich die Aufforderung, Leben zu retten – wenn man so die Aufforderung interpretiert – auch mit deontologischen Vorstellungen zur Menschenwürde oder dem Leben als unveräußerliche Grundlage menschlichen Handelns in Einklang bringen. Mit beiden theoretischen Rückbindungsstrategien würde somit die „allgemeine“ Gültigkeit betont, die für jeden gelten sollte. Dieser Inhalt steht bei genauerer Betrachtung durchaus im Gegensatz zum ethisch-rechtlichen Diskurs in Deutschland, in dem weitgehend Konsens 68  Vgl. 69  Vgl.

Bock/Isermann/Knieper; Schneider. Held.

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darüber besteht, dass es keine Solidarpflicht zur Organspende gibt. Selbst Vertreter einer Widerspruchslösung argumentieren in der Regel nicht mit einer Solidarpflicht. Vielmehr weisen sie darauf hin, dass diese Regelung einer freiwilligen Entscheidung sogar näher komme, da quantitative Umfragen die breite Unterstützung für die Organspende ausdrücken.70 Das medizinethische Gebot des Helfens und Lebensrettens, das als Hauptziel ärztlichen Handelns gesehen wird71, wird damit auf die breite Bevölkerung ausgedehnt. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist das Warten: Zwar ist jemanden warten zu lassen nicht per se unmoralisch, gilt aber als unhöflich. Im Kontext der Organspende hat das Warten jedoch eine andere moralische Bedeutung. Zum einen korreliert eine lange Wartezeit mit der Zunahme an Dringlichkeit für eine Organspende, da sich der Gesamtzustand bei Patienten verschlechtert.72 Dringlichkeit gilt als wesentliches, wenn nicht einziges moralisches Verteilungsprinzip bei der Organtransplantation. Hinzu kommt die Rücksicht auf Erfolgsaussicht. Die Erfolgsaussicht bezieht sich auf die Frage, ob angesichts der knappen Ressource Organ der Empfänger noch einen signifikanten Mehrwert in Form von Lebensqualität und Lebenszeit hat.73 Beide Kriterien sind in sinnvoller Weise gegeneinander abzuwägen, was durchaus eine Herausforderung darstellt, denn in der Praxis können sie zu widersprüchlichen Entscheidungen führen: Je nach Erkrankungsursache kann ein Patient mit langer Wartezeit eher den Status höchster Dringlichkeit beanspruchen, aber geringe Erfolgsaussichten mitbringen, da bereits viele Organe mitgeschädigt sind;74 umgekehrt kann eine frühe Organtransplantation bei der noch keine echte Dringlichkeit besteht, Erfolgsaussicht bedeuten, so Breyer et al. die Musterberufungsordnung der Bundesärztekammer unter http://www. bundesaerztekammer.de/recht/berufsrecht/muster-berufsordnung-aerzte/muster-be rufsordnung/ (letzter Zugriff: 30.05.2017). 72  Die durchschnittliche Wartezeit in Deutschland auf eine Nierentransplantation beträgt fünf bis sechs Jahre (vgl. http://www.dso.de/organspende-und-transplantation/ warteliste-und-vermittlung/niere.html, letzter Zugriff: 30.05.2017). Michaels Wartezeit mit acht Jahren liegt damit schon erheblich darüber. Es liegt daher nahe, dass er eine neue Niere besonders dringlich benötigt, was aber von vielen Faktoren abhängt. So gibt es Patienten, die mehrere Jahrzehnte mit einer Dialyse zurechtkommen, für andere sind die Nebenwirkungen und eingeschränkte Funktion hingegen nach wenigen Jahren eine enorme Belastung, die lebensbedrohlich werden kann. 73  Vgl. Frei. 74  Dieses Problem wird häufig in der öffentlichen Debatte ausgeblendet. Es ist aber in der medizinischen Versorgung äußerst schwerwiegend. Es lässt sich u. a. an den Fünfjahresüberlebensraten von transplantierten Patienten ablesen, die für die verschiedenen Organgruppen variieren (z. B. bei Niere > 95 %; bei Herz < 60 %; vgl. Klein/Stafinski/Menon; Meyer et al.). 70  Vgl. 71  Vgl.



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dass Patienten mit einem transplantierten Organ 30 Jahre und länger leben. Darin zeichnet sich aber auch eine langfristige Ambivalenz der Organtransplantation ab, die kaum thematisiert wird: Stehen mehr und mehr Organe zur Verfügung, werden die Standards in der Behandlung nach ‚unten‘ gehen, d. h. es wird standardmäßig immer früher transplantiert werden. Umgekehrt wird damit – vor allem auch mit Blick auf die demographische Entwicklung – die Zahl der Patienten, die von einer Organtransplantation profitieren können, steigen und nicht sinken. Der Bedarf an Organen wird sich somit kaum decken lassen, da er mit dem Angebot mitwächst. Mit diesem Wissen lässt sich insbesondere die moralische Grundlage einer impliziten motivationalen Aufforderung wie in dieser Kampagne kritisieren: Zwar kann in der Tat situativ die aktuelle Situation der Warteliste für die Betroffenen höchst problematisch sein und einen Beweggrund darstellen, sich zur Organspende bereit zu erklären. Aber ob es die enge, einseitige Darstellung und die implizite moralische Rede von der Pflicht zum Helfen rechtfertigt, lässt sich bezweifeln. Die kontextuelle Ebene der Kampagne verweist noch auf den allgemeinen Zustand der Organspendebereitschaft: Befindet sich wirklich nur der Patient Michael in einer Krise oder nicht doch das ganze Transplantationssystem? Nach dem Bekanntwerden des sogenannten Verteilungsskandals an mehreren deutschen Universitätstransplantationszentren (vor allem Lebertransplantationen), wurde vielfach von einer Krise der Organspendebereitschaft gesprochen und angesichts von Unregelmäßigkeiten entsprechend reagiert.75 In der Tat ist die Zahl der postmortal gespendeten Organe zeitnah signifikant gesunken und erholt sich nur langsam. Ob die sinkende Bereitschaft allerdings tatsächlich allein eine Reaktion der Öffentlichkeit ist, bleibt noch genauer zu prüfen. Vielmehr hegen wir den Verdacht, dass es sich hier auch um ein komplexes Phänomen innerhalb des Gesundheitswesens handelt. Zum Beispiel zeigen erste Ergebnisse einer vergleichenden Befragung von Studierenden aus dem Jahre 2009 und 2014 (also vor und nach dem Skandal), dass die passive Bereitschaft zur postmortalen Organspende signifikant zugenommen hat und sich die Anzahl ausgefüllter Organspendeausweise unter den Teilnehmenden während dieser Zeit verdoppelt hat.76 Es lässt sich also empirisch nicht ausschließen, dass derartige Kampagnen, die auf der sozialen Konvention der Hilfe aufbauen, wirken.77 Zumin75  Vgl. Haarhoff; http://www.bundesaerztekammer.de/presse/pressemitteilungen/ news-detail/jahresbericht-20142015-der-pruefungs-und-ueberwachungskommissionvorgelegt/ (letzter Zugriff: 30.05.2017). 76  Vgl. Schicktanz/Pfaller/Hansen. 77  Nach einem Rückgang der Organspenden zwischen 2010–2015 (Nashan/Hahnenkamp/Rahmel/Lilie), stabilisiert sich die Zahl der postmortal gespendeten Organe

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dest wird in einer Krise des Transplantationsystems mit der Not Einzelner argumentiert und uns durch die visuellen Appelle suggeriert, dass wir ihnen helfen müssen – gleichwohl kann diese Hilfe eher als Unterstützung des Systems denn als Hilfe für die konkret betroffene Person gesehen werden. Die Plakatkampagne kann lediglich motivieren; sie wird – obwohl sie es aus strategischen Gründen suggeriert – weder Michael direkt helfen noch umfassend über Organtransplantation aufklären. Konkrete Hilfe für Michael wird jedoch gerade durch das Bild in Aussicht gestellt, indem er in eine dem Betrachter bekannte Situation transportiert wird, die dessen Empathie und Identifikationsvermögen anregen. Die Logik scheint auf eine reziproke, universalisierbare Solidarpflicht hinauszulaufen: Würde ich warten wie Michael, würde ich auch wollen, dass mir jemand hilft. Argumente für die Solidarpflicht zielen jedoch sowohl an der möglichen Entscheidungsfreiheit von Patienten, ein Organ abzulehnen, als auch an der relativ verbreiteten Idee der Organspende als supererogatorischer Handlung78 vorbei. Dies zeigt sich auch während unserer laufenden qualitativen Erhebung mit Laien, die ein eher ablehnendes oder unsicheres Verhältnis zur Organspende haben und von denen einige ein transplantiertes Organ gänzlich ablehnen. Kritik richtet sich vorrangig gegen die einseitige Moralisierung, den Hirntod als Tod des Menschen, mangelnde Neutralität und fehlende Information. In dieses Gesamtbild eingeordnet, bekommen die o. g. Kampagnen noch eine zweite Bedeutung: es ist zu vermuten, dass sie als Mittel des Krisenmanagements selbst neue moralische Krisen hervorrufen können. VII. Fazit Kampagnen können als visuelle Argumente für eine bestimmte Technik, in diesem Fall die Organtransplantation, verstanden werden, denen Moralannahmen zugrunde liegen.79 Die Bezeichnung einer solch multimodalen Kampagne als „Argument“ meint nicht, dass Bilder – gleich sprachlichen mittlerweile auf niedrigem Niveau wieder (vgl. aktuelle Statistik der DSO unter http://www.dso.de/, letzter Zugriff: 30.05.2017). Die Faktoren können hierzu aber vielfältig sein: neben der intensiven Bewerbung auch die Kampagnen, Krankenkassen, evtl. die mediale Diskussion um die ‚Skandale‘, die letztlich so interpretiert werden können, dass Medien und nun auch Profession (z. B. neue Konktrollmechanismen) funktionieren. 78  Zur Organspende als supererogatorischer Handlung vgl. Witschen. Für eine moralische Pflicht zur Organspende argumentiert Birnbacher. Kritisch dazu: Kersting. 79  Vgl. Schweppenhäuser.



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Ausdrücken – propositionalen Gehalt haben. Es beinhaltet jedoch, dass die Funktion, d. h. die argumentative Rolle eines Bildes dieselbe sein kann wie die einer sprachlichen Äußerung, sofern das Argumentieren als zweckgerichtetes, kommunikatives Handeln verstanden wird: „Wir brauchen das Bild, um das Argument zu verstehen, und wir brauchen den Text, um das Bild zu verstehen.“80 Verstehen wir also ein Bild von seiner funktionalen Wirkungsweise in kommunikativen Kontexten als Argument, so sollte es derselben kritischen Prüfung standhalten wie sprachliche Aussagen: In diesem Zusammenhang lässt sich bspw. fragen, ob Kampagnen als Beitrag zum öffentlichen Diskurs die allgemeinen Kriterien der Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit erfüllen.81 Ähnlich wie man sich in der empirischen Ethik mit sprachlichen Äußerungen verschiedener Herkunft beschäftigt, kann man entsprechend diese Form der Reflexion nun auf die Kombination von sprachlichen und bildlichen Kommunikationsmitteln für die öffentlichen Gesundheitskampagnen übertragen. Aus ethischer Perspektive beschäftigt uns damit die weiterführende Frage, welche Bedingungen ein Prozess der visuellen Kommunikation erfüllen sollte, sodass die Angesprochenen einen zwanglosen, offenen Diskurs über moralisch-praktische Fragen führen können, der es ihnen ermöglicht, sich auf gemeinsame, für alle akzeptable konkrete Gehalte von Normen und praktische Regeln zu verständigen.82 Dabei sind mehrere Ebenen in den Blick zu nehmen: Zum einen der akademische Expertendiskurs zur Bioethik und zum anderen der öffentlich, medial oder staatlich vorstrukturierte Diskurs. Beide sind, wenngleich in unterschiedlicher Weise, verantwortbar für diese Ermöglichung besserer Diskursbedingungen. Der bioethische Expertendiskurs und seine Interaktion mit der Öffentlichkeit ist häufig noch durch offensichtliche Asymmetrien, Einseitigkeiten und Kommunikationsschwierigkeiten geprägt und kann durch spezielle Methoden der deliberativen Inklusion erweitert werden.83 Die Gestaltung eines öffentlichen bioethischen Diskursraums, z. B. durch staatlich beauftragte Behörden oder Institute, und wie sie mittels visueller Handlungsaufforderungen, Kampagnen oder politischer Maßnahme diesen zu beeinflussen versuchen, ist hingegen noch recht wenig aus ethischer Sicht reflektiert worden.

80  Mössner,

S. 39. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 354. 82  Vgl. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, S. 59. 83  Vgl. Schicktanz/Schweda/Wynne. 81  Vgl.

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Wenn sich der Eindruck verdichtet, dass Institutionen84 eines demokratischen, pluralistischen Rechtsstaates bestimmte einseitige Deutungs- und Bedeutungsangebote vorgeben, und damit gesellschaftliche Verständigungsprozesse implizit unterwandern oder auf moralisch illegitime, weil strategische Weise zu steuern versuchen, sollte dies wesentlich stärker in den Fokus der Bioethikforschung geraten als bisher geschehen. Wie die exemplarische Analyse der o. g. Gesundheitskampagne andeutet, spielen kontextuelle Faktoren eine entscheidende Rolle. Denn die Frage, wer das Bild gestaltet hat, wie es finanziert wurde und wie es an die Öffentlichkeit gelangte, weisen auf grundlegende gesundheitspolitische und politisch-ethische Fragen hin: Besteht Vertrauen in die entscheidenden und finanzierten Institutionen? Wie wurden die Entscheidungen für oder gegen bestimmte Appelle getroffen (hierarchisch, deliberativ oder transparent)? Sind sie konsistent mit anderen gesundheitspolitischen Handlungen? Bevor wir also die eigentlich zentrale politisch-ethische Frage beantworten können, welche anderen Deutungs- und Bedeutungsangebote Institutionen eines demokratischen Rechtsstaates im Feld der Organtransplantation machen können oder sogar sollten, um ihrer öffentlichen Aufgabe der Kommunikation, des Austausches und der Verständigung gerecht zu werden, müssen wir genauer als bisher verstehen, was eigentlich bereits diskursiv verhandelt wird. Aus diesem Grunde scheint uns das Unterfangen, noch mehr über die visuelle Verhandlung der Organspende in Zeiten der Krise zu diskutieren, als äußerst notwendiges Unterfangen, das allerdings erst am Anfang steht. Literatur Birnbacher, Dieter: Organtransplantation – Stand der ethischen Debatte, in: Gerd Brudermüller/Kurt Seelmann (Hrsg.): Organtransplantation, Würzburg 2000, S. 13–28. Bock, Annekatrin/Isermann, Holger/Knieper, Thomas: Ikonologische Kontextanalyse, in: Thomas Petersen/Clemens Schwender (Hrsg.): Die Entschlüsselung der Bilder – Methoden zur Erforschung visueller Kommunikation, Köln 2011, S. 56–71. Boltanski, Luc: Distant Suffering. Morality, Media and Politics, New York 1999. Breyer, Friedrich/Van den Daele, Wolfgang/Engelhard, Margret/Gubernatis, Gundolf/ Kliemt, Hartmut/Kopetzki, Christian/Schlitt, Hans J./Taupitz, Jochen: Organmangel: Ist der Tod auf der Warteliste unvermeidbar?, Berlin 2006. 84  Zu diesen Institutionen gehören auch Akteure der Transplantationsmedizin wie die DSO oder die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, wenn sie mit öffentlichen Geldern gefördert werden.



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Postmortales „Weiterleben“ durch Organspende? Eine Analyse des deutschen Printmediendiskurses der letzten fünfzig Jahre1 Stephanie Kaiser I. Einführung2 „Wir hoffen sehr, dass es Ihnen ein Trost ist, dass es heute ein fröhliches und starkes Kind gibt, mit dem auch ihr Kind weiterlebt.“3 Dieses Zitat stammt aus einem Brief, der von den Eltern eines wieder genesenen Kindes, welches dank Organtransplantation ins Leben zurückkehren konnte, an die Eltern des verstorbenen Kindes geschrieben wurde, dessen Körper zur Organspende freigegeben wurde. Hier drückt sich ein besonderes Motiv pro Organspende aus: Die tröstliche oder auch verlockende Option, dass Teile eines toten Menschen in anderen weiterleben. Dieses, hier sogenannte postmortale Weiterleben von Organspendern ist ein Phänomen, das erst seit wenigen Jahren in das Blickfeld wissenschaftlicher Studien und populärmedialer Betrachtungen getreten ist. Im Gegensatz zu Organempfängern sind Studien über tatsächliche (und nicht nur potentielle) Organspender und ihre Angehörigen nur sehr selten zu finden und beschränken sich meist auf marginale qualitative Äußerungen im Rahmen von anderen Forschungsfragen des Themenfeldes Organtransplantation. Der vorliegende Beitrag soll aufzeigen, welche Konzepte zum Thema postmortale Existenzen durch Organspende medial verhandelt werden. Welche Rolle spielt das Motiv des Weiterlebens nach dem Tod für die Organspendebereitschaft? Nachgezeichnet wird eine Rezeptionsgeschichte dieses 1  Der Beitrag wurde im Rahmen des von der VolkswagenStiftung geförderten Forschungsprojektes „Tod und toter Körper – Transmortalität“ im Teilprojekt III Medizingeschichte und Medizinethik (Leitung: Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik Groß, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Uniklinik der RWTH Aachen University) verfasst. 2  Dieser Beitrag entstand im Rahmen der Tagung „Transplantation – Transmortalität – Transparenz“ vom 20. bis zum 21. Juni 2013 (Max-Weber-Kolleg Erfurt) und spiegelt jenen Forschungsstand wider. Eine zeitlich erweiterte Version findet sich in Kaiser. 3  Kirste, S. 165.

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Deutungsmusters in der überregionalen Berichterstattung in Deutschland im Themenfeld Organspende. Die empirische Grundlage für diese Studie bilden sechs ausgesuchte Printmedien, die einer breiten, nicht medizinisch oder philosophisch vorgebildeten Leserschaft bundesweit zugänglich sind. Einer Studie des OECD zufolge, gaben 71 Prozent der Erwachsenen an „to have read a newspaper recently / the day before“ – womit Deutschland leicht über dem internationalen Durchschnitt lag.4 Massenmedien haben somit eine tiefgreifende, richtungs- und meinungsbildende Wirkung auf die öffentliche Wahrnehmung5 und damit auch auf die Themenfelder Organspende und Transplantation. Die Datenerhebung umfasst den Zeitraum ab Januar 1960 bis November 2012. 23 Artikel erfüllen das definierte Aufgreifkriterium und werden einer systematischen, standardisierten Analyse unterzogen. II. Überlegungen zur Begrifflichkeit „Weiterleben“ Zwischen den Begriffen Leben und Tod besteht ein kontradiktorisches Verhältnis, an dem auch der rasanteste medizinisch-naturwissenschaftliche Fortschritt nichts ändert. Doch das bloße logische Gegensatzverhältnis, wer lebt, ist nicht tot und wer tot ist, lebt nicht,6 wird zunehmend aufgebrochen – nicht zuletzt durch das Hirntodkriterium. Im Wissenschaftsdiskurs mehren sich Aussagen, Hirntote befänden sich in einer „Grauzone“ beziehungsweise einem „Vagheits-Bereich“ zwischen Leben und Tod – bei ihnen handele es sich nicht um Tote, allerdings auch nicht um Lebende.7 Nach medizinischen Maßstäben bleibt nach dem Ausfall des Gehirns noch ein Rest an Lebendigkeit im Organismus, aber das jeweils individuelle, „menschliche Leben“ hat sein Ende gefunden.8 Das Deutungsmuster „Weiterleben durch Organspende“ verdient innerhalb der transplant community besondere Beachtung, da es diametral zum konventionell als altruistischen Akt angesehenen Organspende steht, indem es den persönlichen Nutzen des Spenders oder eben auch der Angehörigen herausstreicht. In diesem Beitrag wird unter postmortalem Weiterleben Folgendes verstanden: Ein Teil des Organspenders kann den Tod überdauern und noch eine Wirkung abgeben oder erzeugen. Ein Organ stünde dann in einem Kausalverhältnis zu dem Weiterleben des Spenders. In dem konkreten Fall soll es um menschliche Organe gehen, die nach dem Tod des Spenders in die Körper der Empfänger eingesetzt werden. In jenen „neuen“ Körpern, 4  OECD,

S. 29. S. 189–196. 6  Esser, 2012, S. 222–223. 7  Denkhaus/Dabrock, S. 142; Stoecker, S. 427. 8  Esser, S. 236–237. 5  Simon,



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in denen die Spendeorgane funktionsfähig bleiben, besteht somit ein Teil des Organismus des Spenders fort und bleibt auf eine metaphorische, vielleicht auch metaphysische Weise lebendig. Doch „postmortal“ reicht als Begrifflichkeit nicht aus, um diesen Zustand zu beschreiben, da es sich nur auf den Bereich nach – lat. „post“ – dem Tod und auf den toten Körper bezieht, das Motiv des Weiterlebens aber eine weitere Dimension annimmt. Die neu eingeführte Begrifflichkeit „transmortal“ beziehungsweise „Transmortalität“ ist dafür besser geeignet.9 Medizinisch-technische Neuerungen erzeugen Möglichkeiten, so dass im Resultat der menschliche Körper nicht mehr problemlos dem simplen Gegensatz tot / lebendig zugeordnet werden kann. Der Körper kann dienstbar gemacht werden und seine Teile fortbestehen, so dass der Tod als Beendigung aller menschlichen Handlungsmöglichkeiten relativiert oder zumindest in Frage gestellt wird. III. Forschungsstand Bei einer anonymen Fragebogenuntersuchung (N = 61) in Deutschland, die Organspende-bezogene Entscheidungsprozesse der Angehörigen nach dem plötzlichen Hirntod eines nahestehenden Menschen nachzuvollziehen suchte, wurde unter offenen Fragen das Motiv, dass „ein Teil des Toten so weiterlebt“, als dritthäufigste Antwort pro Organspende aufgezeigt (n = 6; 10 Prozent).10 Eine andere Studie (N = 271), durchgeführt in Frankreich mit unbezahlten freiwilligen Teilnehmern, ermittelte „Living on Through a Receiver“ als dritthäufigstes Motiv (10 Prozent), welches für eine Organspende spräche. Dieser Faktor drückt die Idee aus, „that one can survive by donating organ to other people“.11 Jenes Motiv erfährt alleinstehend, häufig in qualitativer Form, Erwähnung. So konnte das Deutungsmuster in einer Todesanzeige aus dem Jahr 1996 gefunden werden, welche das Schicksal eines tödlich verunglückten 41-Jährigen mitteilte: „Sein Herz schlägt jetzt in einem anderen Menschen weiter“.12 In Leserforen finden sich öfter Einzelaussagen, die das Motiv der postmortalen Existenz von Organspendern aufgreifen. Ein Nutzer stellte im Forum des Nachrichtenmagazins Spiegel im Mai 2012, rund um Änderungen des deutschen Transplantationsgesetzes von 1997, fest: „Mir ist ein partielles Weiterleben zumindest einiger Organe lieber“.13 Auch im Diskussionsforum der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung finden 9  Vgl. http://www.todundtoterkoerper.eu/projekt.php (letzter Zugriff: 01.10.2016); Groß et al., S. 13. 10  Muthny/Wesslau/Smit, S. 5. 11  Guedj/Sastre/Mullet, S. 421–422. 12  Groß/Tag/Schweikardt, S. 13–14. 13  Spiegel Online-Forum.

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sich ähnliche Ansichten: „Wenn ich sterbe, kann ein Teil von mir weiter leben!“14 Interessanterweise führt die Homepage der Malteser Krankenhäuser unter Gründen für den Organmangel folgendes an: „Unbehagen bei der Vorstellung, dass eigene Organe in einem fremden Organismus weiterleben“.15 In diesem Kontext taucht das Motiv des partiellen Weiterlebens des Spenders als Anlass auf, keine Organe zu spenden. Vereinzelt findet sich das Motiv auch in qualitativ ausgewerteten Interviews mit Organempfängern und erfährt dort eine Ausweitung. Beispielsweise verknüpft sich der Gedanke an den (einmal eintretenden) Tod des Empfängers mit dem (bereits eingetretenen) Tod des Spenders, der ein Organ gegeben hat, „das nur durch mich [= den Empfänger] weiterlebt, nur durch mein Weiterleben seinen Sinn erhält“.16 Romane und Filme verarbeiten gerne auflagensteigernd und publikumswirksam das Thema Organspende sowie das Weiterleben der Spender in den Empfängern. Dabei spielt der Gedanke, dass tote Spender Eigenschaften auf die jeweiligen Empfänger projizieren, eine herausgehobene Rolle.17 Doch mehrheitlich liegen (autobiographische) Berichte vor, die von Transplantierten verfasst sind oder aus ihrem Blickwinkel geschrieben und sich besonders mit dem Verhältnis zum eigenen Körper nach einer Transplantation auseinandersetzen.18 IV. Untersuchungsmethode Für die Studie wurden bundesweit sechs Tageszeitungen, namentlich Die Welt, Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Frankfurter Rundschau, Bild, die Tageszeitung (taz) analysiert sowie das wöchentliche Nachrichtenmagazin Der Spiegel und die wöchentliche Zeitung Die Zeit. Es wurde Wert darauf gelegt, dass die untersuchten Printmedien unterschied­liche Gesellschaftsschichten, geographischen Raum und politisches Spektrum ausreichend abdecken. Alle haben eine Reichweite von über 0,3 Millionen Leser pro Ausgabe und sind online verfügbar. Diese Quellen dürfen als meinungsbildend bezeichnet werden und haben eine weite Verbreitung.19 Die ausgewählten Medien wurden online für die folgenden Suchbegriffe mit Trunkie14  BZgA,

Organpaten. in Deutschland. 16  Kalitzkus, S. 198. 17  Beispielhafte Romane: Drakulic, Slavenka: Das Prinzip Sehnsucht, Reinbek 1989; Hoffmann, Gerhardt: Mein Herz hat mich verlassen, Stuttgart 1997; Mohr, Angela: Vergiss nicht, dass du tot bist, Würzburg 2013. Beispielhafte Filme: The Eye, 2008; Heart, 1999 u. a. 18  U. a. Claussen; Müller-Nienstedt; Wellendorf; Baureithel/Bergmann. 19  Pressemedien II. 15  Malteser



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Ausgeschlossen: kein konkreter, inhaltlicher Forschungsbezug (n = 23)

Einschluss in Literatursuche (n = 23)

Abbildung 1: Flow-Chart zum Selektionsprozess des Textkorpus

rung überprüft: „(partielles) Weiterleben / Fortwirken / Weiterwirken / Weiterexistieren“, „Weiterleben in / von / durch Teile(n)“, „postmortale / transmortale Existenz“, diese wiederum waren verknüpft mit den Begriffen „Organ­ spende(r)“, „Organtransplantation“ sowie „Postmortalität“ und „Transmortalität“. Einbezogen wurden Artikel der Zeitperiode 1. Januar 1960 bis 30. November 2012. Als Startpunkt wurde das frühste mögliche Jahr verwendet, das die Online-Archive aller sechs Medien gemein haben. Aufgrund des relativ marginalen Charakters des untersuchten Motivs wurden sämtliche journalistischen Darstellungsformen miteinbezogen, auch Leserbriefe. Eine reine Schlagwörtersuche innerhalb der Online-Archive ergab 6.893 Treffer, da alle Zeitschriften beziehungsweise Zeitungen in hohem Maße zum Rahmenthema Organspende publiziert haben. Zwei Datenbanken mussten aufgrund der fehlenden Thematik ausgeschlossen werden. Von den insgesamt 96 Artikeln in den sechs verbliebenen Archiven (Die Welt, Süddeutsche Zeitung, Bild, taz, Der Spiegel und Die Zeit), die hinsichtlich Titel, Teaser und der zugänglichen Kurzzusammenfassung einen Forschungsbezug erahnen ließen, befassten sich nach der Gesamttextanalyse lediglich 23 (0,24 Prozent) mit dem Aspekt des Weiterlebens. Dieser Selektionsprozess wird mit Hilfe eines Flow Charts dargestellt (Abbildung 1).

120

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Für die Auswertung jener 23 Artikel wurde ein Kategoriensystem auf Grundlage bereits existierender Forschungsarbeiten über amerikanische, britische und kanadische Printmedien erstellt.20 Die eingeschlossenen Artikel wurden regelmäßig miteinander verglichen, bis keine neuen Kategorien mehr auftraten und somit die Themenbereiche vollständig erfasst waren. Für die qualitative Analyse wurden die ausgewählten Texte in ein Kodierungssystem eingepasst und in (1) formale Merkmale der Artikel (Tonfall, Gattung, Handlungsrahmen, Gewichtung / Verteilung innerhalb des Artikels, zeitlicher Fokus) und (2) inhaltliche Ebene (Argumentationsstrategien und -figuren, diskutierte Problemfelder) unterteilt. V. Ergebnisse Die Anzahl von 23 Artikeln über 52 Jahre, die sich mit dem Motiv des postmortalen Weiterlebens von Organspendern befasst, ist als klein zu bezeichnen. Von den betrachteten Medien wurde in der Süddeutschen Zeitung (n = 12) am Häufigsten über den Gegenstand dieser Studie berichtet, die Bild Zeitung (n = 5) folgte an zweiter Stelle (Abbildung 2). Primäres und alleinig recherchiertes Thema war das untersuchte Motiv lediglich in fünf Artikeln.

Süddeutsche Zeitung

Die Tageszeitung Der Spiegel Die Welt Die Zeit

Bild 0

2

4

6

8

10

12

Abbildung 2: Umfang der Berichterstattung nach Medien (N = 23)

20  Einsiedel;

Racine/Waldman/Palmour/Illes.

14



Postmortales „Weiterleben“ durch Organspende?

121

1. Formale Kriterien

a) Konnotation der Artikel Der Tonfall der Artikel war mehrheitlich positiv (61 Prozent; neutral 17 Prozent, negativ 22 Prozent) (Abbildung 3). Medizinische Details beziehungsweise Beweisführung waren nicht zu finden. Es überwog die Zuversicht, dass die Organe nach der Transplantation als Teile des verstorbenen Menschen weiterleben, dass Leben weitergegeben würde, obwohl nur der Glaube und die Hoffnung ausgedrückt werden können, dass mit diesen Teilen auch der Spender weiterlebt. Betrachtet man die Konnotation der 23 Artikel über den gesamten Untersuchungszeitraum ist auffällig, dass die neutrale und negative Berichterstattung auf keine bestimmte Zeitspanne begrenzt ist, sondern vereinzelt über Jahre hinweg immer wieder vorkommt. Dabei wird umso deutlicher, dass die mediale Berichterstattung seit 2007 überwiegend positiv ist und dieser Trend auch anhält (Abbildung 4).

Neutral

Negativ

17%

22%

Positiv 61%

Abbildung 3: Konnotation der Artikel (N = 23)

b) Gattung der Artikel Die überwiegende journalistische Darstellungsform ist der „Bericht“ (n = 7). Charakteristisch hierfür sind eine Länge und Tiefe, die über eine bloße „Nachricht“ hinausgehen, zudem enthält ein Bericht mehr Einzelheiten und Hintergrundinformationen, zitiert Urteile und Experten und gibt Einschätzungen. Es lagen aber in allen Darstellungsformen mindestens einmal vor: Interview, Nachricht, Reportage, Glosse, Kommentar, Kurzmeldung, Porträt, Kritik, Feature, Leitartikel.

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4,5 4 3,5 3 2,5

Neutral Positiv

2

Negativ

1,5 1 0,5

12 20

11 20

10 20

09 20

08 20

07 20

06 20

05 20

04 20

95 19

83 19

19

68

0

Abbildung 4: Konnotation der Artikel (Untersuchungszeitraum gerafft dargestellt, N = 23)

c) Handlungsrahmen der Artikel Der geographische Fokus der meisten Artikel war auf Deutschland ausgerichtet (n = 11). Einen internationalen Fokus hatten lediglich sechs Artikel.21 Die restlichen sechs Texte wiesen keinen geographischen Bezug auf. d) Gewichtung / Verteilung innerhalb der Artikel Die untersuchte Thematik war vornehmlich im Text platziert, allerdings mit geringer Gewichtung: sie nahm dort nur 10 bis 20 Prozent des Platzes ein. Häufig wurde der Begriff des Weiterlebens (oder vergleichbar) als Aufhänger im Titel oder im Teaser genutzt (n = 10), was die Vermutung zulässt, dass der Hinweis auf einen solchen transmortalen Ansatz die Lesenden neugierig macht. Beispiele hierfür waren etwa ein Artikel in der Süddeutschen mit dem Titel „Soll mein Herz in einem fremden Körper schlagen?“22 21  Drei Artikel beschäftigten sich mit Palästina, einer mit Australien, ein weiterer konzentrierte sich auf Antalya in der Türkei. Ein Artikel bezog sich auf eine Nachricht aus dem U.S.-Bundesstaat New York. 22  Uhlmann.



Postmortales „Weiterleben“ durch Organspende?

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7 6 5 4 3

2 1

12 20

11 20

10 20

09 20

08 20

07 20

06 20

05 20

04 20

95 19

83 19

19

68

0

Abbildung 5: Häufigkeitsverteilung der Artikel (Untersuchungszeitraum gerafft dargestellt, N = 23)

oder die Überschrift „Dieser Tote lebt in vier Menschen weiter“, veröffentlicht in der Bild.23 e) Zeitlicher Fokus der Artikel Die zeitliche Ebene (Abbildung 5) bekräftigte die These, dass es sich bei Transmortalität im Zusammenhang mit Organspende um ein rezentes Phänomen handelt. Die Mehrheit der Artikel (83 Prozent) fiel in die 2000er Jahre. Nachdem das Thema ab 2004 drei Jahre pausiert hatte, kam es 2007 wieder auf. Kontextuell ist dies unter anderem mit der Grote Donor Show zu erklären, einer umstrittenen niederländischen Fernsehsendung, in der eine todkranke Frau auf drei „Kandidaten“ für ihre angebliche Spenderniere trifft. Die endgültige Entscheidung darüber, wer das Organ erhalten würde, sollte live und unter Einbeziehung der Zuschauer getroffen werden. In Europa ethisch umstritten, entpuppte sich die Sendung als Schwindel, woraufhin der niederländische Medienminister von einem „sagenhaften Trick“ sprach, durch den der Fernsehsender die Aufmerksamkeit der Bürger auf den Mangel an Spenderorganen gelenkt hätte.24 Der Höchstwert der Artikelanzahl lag im Jahr 2012, in dem der Deutsche Bundestag eine neue Organspende-Regelung beschloss. Diese beinhaltete, 23  Ucta/Quassowsky/Völkerling. 24  AFP/Ap/omi;

Kna; Eikenaar; BBC/Anonymus; CBS/AP.

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dass alle Versicherten ab Sommer 2012 von ihren Krankenkassen schriftlich nach ihrer Einstellung bezüglich Organspende gefragt werden. Schließlich sollte die Entscheidung auf der elektronischen Gesundheitskarte gespeichert werden.25 Im Nachgang an die neue gesetzliche Regelung können deutsche Nutzer des sozialen Netzwerkes Facebook seit November 2012 ihre Statusmeldung auf „Organspender“ erweitern, was in anderen Ländern bereits vorher möglich geworden war. Die Bild mutmaßte, dass dies zu einem Anstieg der Spendenbereitschaft geführt habe.26 Das große Interesse an der Thematik ließ sich auch mit der Aufdeckung von Manipulationsskandalen der deutschen Transplantationsmedizin in der zweiten Jahreshälfte 2012 erklären, die zu dem niedrigsten Stand an Organspenden seit zehn Jahren geführt hatte.27 Zusammengefasst ist festzuhalten, dass in den ausgewählten Medien das Thema vor allem dann präsent war, als sich in dem zeitlichen Rahmen neue juristische Regelungen oder ‚Skandale‘ ereigneten. 2. Inhaltliche Ebene

Weiterleben wurde im analysierten Textkorpus mehrheitlich als immaterielles, geistiges Erinnern verstanden, etwa verschriftlicht in Kondolenzeinträgen, und trat häufig in Verbindung mit Verstorbenen auf, die „in den Gedanken und in der Dankbarkeit derer [weiterleben], die durch ihn das Leben erst erleben durften“.28 Auch aus satirischem Blickwinkel wurde jenes Deutungsmuster betrachtet. So etwa bei Jassir Arafat, dem verstorbenen Präsident der palästinensischen Autonomiegebiete, über dessen mögliche Weiterexistenz in mehreren Leibern gespottet wurde: „Seine Organe verpflanzt man in verschiedene Palästinenserführer, wo sie unnachgiebig für die gerechte Sache kämpfen.“29 Argumentationsfiguren, die gegen eine Organspende sprachen, waren im Textkorpus nicht zu finden, was darauf schließen lässt, dass die Medien sich vorbehaltlos dem Werben für Organspende angeschlossen haben. Obwohl ausschließlich Artikel analysiert wurden, die das Motiv des postmortalen Weiterlebens nach einer Organentnahme beinhalten, fanden sich in den Texten auch weitere Argumentationsmuster (siehe Tabelle). In der Majorität der Artikel (n = 19) kamen mehrere Motive vor, die sich auch teilweise inhaltlich berührten. Diese werden im Einzelnen nachfolgend beleuchtet. 25  BZgA,

Neue gesetzliche Regelungen im Transplantationsgesetz.

26  Bild.de/Anonymus. 27  dba/dpa. 28  von

der Tann.

29  Zippert.



Postmortales „Weiterleben“ durch Organspende?

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Motive für Organspende, Häufigkeit innerhalb der ausgewählten Artikel (N = 23) Motiv

Anzahl der Artikel

1. Weiterleben des Spenders bzw. seiner Teile / Organe (Besonderheit: Weiterleben des Herzens)

23 (7)

2. Rettung anderer Menschenleben /  Weiterleben der Empfänger ermöglichen

13

5.  Sinngebung des Todes und Trost

 4

6. Altruismus

 2

Das postmortale Weiterleben des Spenders wurde häufig mit dem Organ Herz verbunden (n = 7). Es steht metaphorisch für das Sein des Menschen, für die menschliche Seele. Durch sein Herz lebt der Spender für die Hinterbliebenen intensiver und greifbarer weiter als durch andere Organe und es wird auch nach der Transplantation als Organ des Spenders und nicht des Empfängers angesehen. Zwei Beispiele seien „Alexanders Herz schlägt jetzt in einem anderen Körper“30 und ein „Drusenmädchen, in dem das Herz seines Sohnes schlägt“31. Auffallend war die Zuordnung des Spendeorgans zu dem Spender, das für den Empfänger fremd – also nicht eigen – war. Hier erfolgte die Personifikation der Organe mit dem Spender. Eine explizite Identifikation des Spenders mit dem Empfänger fand dagegen sehr selten statt. Lediglich vereinzelt fanden sich Aussagen wie etwa „Der Georg läuft irgendwo umeinander“.32 Auch eine Werbeagentur nutzte als Reklame für Organspende einen kleinen Jungen, der zu dem Slogan „Das andere Kind ist jetzt im Himmel. Nur sein Herz ist hier bei mir“ von einem Plakat lächelte.33 Da es sich in diesen Fällen um Kinder oder Jugendliche handelte, die sowohl Organspender wie auch Organempfänger waren, kann vermutet werden, dass das Alter des Spenders für die Motivation der Angehörigen entscheidend ist – wenn keine letztwillige Verfügung des Verstorbenen vorliegt. Die Idee eines irgendwie gearteten Weiterlebens des Spenders spielte für die Angehörigen eine nicht zu unterschätzende Rolle (n = 8), sie stellte eine Argumentationsstrategie zugunsten einer Entscheidung pro Organspende dar. Das am zweithäufigsten auftauchende Motiv (n = 13) im vorliegenden Textkorpus bezog sich auf die traditionelle Sicht beziehungsweise Aufgabe 30  Liebelt.

31  Knoben,

S. 15. S. R2. 33  Haarhoff. 32  Czeguhn,

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der Organspende, nämlich die Rettung anderer Menschenleben (n = 9). Jener Beweggrund verhelfe dem Tod zu Sinnhaftigkeit, der aufgrund der Organexplantation und der damit verbundenen Genesung und Heilung weiterer Menschen als „nicht ganz umsonst“ aufgefasst werde.34 Noch im Tod könne somit „einem anderen Menschen das Leben gerettet“ werden.35 Ethische Problemfelder ließen sich nur in geringem Maß feststellen. Die Gewebespende, die innerhalb der Berichterstattung zwar abgegrenzt von der Organspende betrachtet wurde, aber in Deutschland über den Organspendeausweis (!) geregelt wird, fand marginale Beachtung. Kritisiert wurde die, von Politikern und Medizinern in der Öffentlichkeit kaum thematisierte, Verwertung von Gewebe. Im Gegensatz zur Organspende würden mit der Gewebespende nur in Ausnahmefällen Leben gerettet, entscheidend sei vielmehr die Kommerzialisierung dieser Leichenteile.36 Diese „moderne Art der Reinkarnation“ wurde skeptisch gesehen. So etwa im Ressort „Wissen“ der Süddeutschen Zeitung, welches kritisch auf die Unterschiede zwischen Organ- und Gewebespende hinwies und dies unter Zuhilfenahme der Idee des postmortalen Weiterlebens tat: „Der Spender lebt also nicht wie bei der Organspende in einem oder wenigen Empfängern weiter, sondern im Ex­ tremfall in 60 oder mehr Personen.“37 Auch bei Organspenden finden sich häufig Aufzählungen wieder – als Zusammenstellung, in wie vielen Menschen der Spender weiterleben würde. Die Zeit etwa meldete 1968, „daß in Houston (Texas) Organe einer jungen Frau, die sich durch einen Kopfschuß umgebracht hatte, in vier Männern weiterlebten. Operation gelungen. Einer hat ihr Herz bekommen, zwei je eine Niere, dem vierten wurden Teile ihrer Lunge eingesetzt.“38 Entgegen der Erwartungen tauchte die untersuchte Thematik auch in Artikeln auf, die Experteninterviews beinhalteten beziehungsweise eindeutig medizinwissenschaftlich ausgelegt waren (n = 9). Hervorzuheben ist ein Artikel, der offenbart, dass das Motiv des Weiterlebens auch von Ärzten im Rahmen des Angehörigengesprächs aufgegriffen wurde: Der Arzt „muß den Eltern sagen, daß der Sohn gestorben ist, nicht zu retten war. Und er muß, im nächsten Satz, davon sprechen, daß die inneren Organe gesund sind und weiterleben könnten, wenn sie gespendet werden“.39

34  Schneider. 35  Liebelt. 36  Keller;

Berndt, S. 20. S. 20. 38  Zeit.de/Anonymus. 39  Halter. 37  Berndt,



Postmortales „Weiterleben“ durch Organspende?

127

VI. Diskussion und Zusammenfassung Insgesamt fanden sich in einem Untersuchungszeitraum von 52 Jahren 23 Artikel, die sich explizit mit dem Nachleben des Organspenders befassten, mit zunehmender Häufigkeit seit den 2000er Jahren. Deutlich hervorzuheben ist, dass die Artikelanzahl zu klein für eine quantitative Analyse war. In einem nächsten Schritt sollte der Textkorpus vergrößert werden, indem beispielsweise regionale Zeitungen einbezogen werden, um einen gesellschaftlich differenzierteren Einblick zu erhalten, da auch der Umgang mit Transplantationen in ländlichen Krankeneinrichtungen ein anderer ist als in Großkliniken. Es bleibt festzuhalten, dass die Idee eines postmortalen Weiterlebens durch Organspende ein marginales und rezentes Phänomen im deutschen Printmediendiskurs darstellt. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass sich die Öffentlichkeit durch Informations- und Werbekampagnen pro Organspende eher in der Rolle des potentiellen Organempfängers sieht und eben nicht in der des „Lieferanten“. Da jedoch seit 2010 eine steigende Tendenz an Artikeln zu der Thematik auszumachen war, erscheint eine Weiterverfolgung des Themas lohnenswert, da es von den Medien vorherrschend positiv angegangen wurde. Deutlich wurde, dass für die Angehörigen ein „Weiterleben“ des Spenders entscheidend zur Zustimmung zur Organspende beitragen kann. Für sie bietet die Organspende einen Weg, wie sie den Verstorbenen „am Leben erhalten“ können.40 Sie handeln aus einer „egoistischen“ beziehungsweise eigennützigen Motivation heraus, welche diametral zum traditionell „altruistischen“ Motiv der Rettung anderer Menschenleben steht. Trotz der geringen Größe dieser Printmedienanalyse sollte das Argument des postmortalen, partiellen Weiterlebens von Organspendern innerhalb des Forschungsfeldes Organ- und Gewebespende ernst genommen werden. Allerdings darf aus ethischer Sicht mit diesem Motiv weder in Werbekampagnen noch bei Angehörigengesprächen geworben werden. Die Beantwortung der Frage, ob es sich beim Deutungsmuster Weiterleben durch Organspende um eine neue gesellschaftlich relevante Interpretationsart von öffentlicher Bedeutung handelt, bleibt einer umfangreicheren Studie vorbehalten, welche das gesamte Motivspektrum innerhalb des Themenkomplexes Organspende über einen längeren Zeitverlauf beobachtet. Dies würde die Möglichkeit eröffnen, darzustellen, wie viel Gewicht das Argument des „Weiterlebens“ im Organspendediskurs tatsächlich einnimmt.41 40  Volkert.

41  Kahl/Weber.

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Transmortalität und mediale Prothesen Mediale Maßnahmen gegen die Zeit Rainer Leschke Als Speichertechnologien sind Medientechniken immer auch Maßnahmen, die die Folgen der Zeit wenn nicht außer Kraft zu setzen, so doch zu kompensieren versprechen. Allerdings wird die Interaktivität durch Speichertechnologien mit der Folge ausgesetzt, dass in der medialen Speicherung offenbar genau jene Qualitäten eines Subjekts verloren zu gehen scheinen, die üblicher Weise für seine Lebendigkeit verantwortlich gemacht werden. Mediale Speicher tradieren Reliquien und keine Subjekte und sie verfügen nur in einem sehr eingeschränkten Maße über jene Lebensechtheit, die ihnen gelegentlich attestiert wird. Medienvermittelter Unsterblichkeit gelingt es letztlich nicht, so etwas wie Subjektqualität zu bewahren. Selbst die Tradierung eines Subjekts als sinnhaftes Ereignis, was immer noch den komplexesten Modus medialer Aufbewahrung darstellt, ist nicht interaktionsfähig und damit grundsätzlich defizitär. Medientechnologische Transmortalität scheitert damit letztlich an der Grenze des Subjekts. Umgekehrt sind es genau diese Elemente des Subjekts, deren Verlust in medialen Narrationen so enorm negativ besetzt wird. Vom Simulationsverbot und dem Verbot, den Körper als Ressource zu nutzen, über das Verbot der selbständigen Synthese eines Körpers und die Angst vor dem Verlust der Körpergrenze bis hin zur kulturellen Bewertungslogik von Prothesen, all diese Motive, die endlose Mengen von Narrationen befüttern, sind zentriert um den Imperativ einer unbedingten Erhaltung und eines absoluten Werts des Subjekts. Und diese spezifische Subjektkonstitution wird letztlich auch durch die Form der gegenwärtigen Ökonomie gestützt, die auf der Trennung von moralischem und ökonomischem Subjekt basiert. Die Spende kommt in diesem ökonomischen Modell schlicht nicht vor und eine Ökonomie der Gabe gehört definitiv einer früheren kulturellen Epoche an. Insofern stehen die mediale Bewahrung des Subjekts, die stabile Kopplung von Körper und Subjekt sowie die gegenwärtige Verfasstheit des ökonomischen Subjekts mit all den von diesen Motiven ausgelösten Ängsten der Idee der Organspende massiv im Wege.

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Rainer Leschke

I. Zur Kompensationslogik der Medien Medien sind stets auch erfunden worden, um der Zeit einen Strich durch die Rechnung zu machen. Und dass und wie dies gelungen ist, ist schon ziemlich früh bemerkt worden. Etwa wenn Platon davon spricht, dass jemand „eine Kunst in Schriften hinterlässt“ im Vertrauen darauf, dass „etwas Deutliches und Sicheres durch die Buchstaben kommen könne“1. Dass dem dann aber nicht so sei, dass mediale Archivierungs- und Erinnerungstechniken von eher zweifelhafter Güte seien, gehört seit Platons Auftakt zu den Standards der Medienkritik. Umgekehrt verdankt sich das schlichte Wissen um diese Zweifel nichts anderem als medialen Speichertechnologien. Medienkritik gründet insofern in einem performativen Selbstwiderspruch, denn die Erinnerung ihrer Geschichte setzt voraus, dass Platons Verdacht, zumindest was das Tilgen der Zeit anbelangt, nicht in Gänze zugetroffen haben kann, wüsste man doch ansonsten nichts von ihm. Dennoch sind Medien seither gleichsam ritualisiert in jene Dialektik von vermutetem Ungenügen und überbordenden Versprechen eingeschrieben: Medien machen unsterblich und zugleich bedeuten sie immer auch zumindest einen kleinen Tod. Dieses partielle Sterben beschwören die Medien aufgrund ihrer technischen Unvollkommenheit bei der Erfassung der Potentiale des Menschlichen herauf und noch jedes neue Medium ist mit dem Versprechen angetreten, dieser Unvollkommenheit wenigstens ein kleines Stück weit abzuhelfen. Dennoch blieb es mehr oder minder dabei: Medien teilen das Schicksal von Prothesen, nämlich in jedem Fall allenfalls beschränkte Ergänzungen des Menschen zu sein. Zugleich erweitern sie das Spektrum und die Perspektiven des Mängelwesens2 Mensch. Wenn, wie Freud einst formulierte, mithilfe von Technologien „der Mensch […] sozusagen eine Art Prothesengott geworden“3 sei oder aber nach Ernst Kapp Kultur als Organprojektion gedacht wird, wie das dann etwa auch von McLuhan mit den „Extensions of Man“4 modelliert wurde, dann bleibt in all diesen Fällen jene Leistung medialer Technologien unberücksichtigt, nämlich die, als Technologie des Archivierens eine Maßnahme gegen die Zeit zu sein. Medien bergen also zwei strukturelle Gegensätze in sich: nämlich den zwischen Prothetik und Natürlichkeit und den von stillgestellter und verge1  Platon,

275 d.

2  „Morphologisch

ist nämlich der Mensch im Gegensatz zu allen höheren Säugern hauptsächlich durch Mängel bestimmt, die jeweils im exakt biologischen Sinne als Unangepaßtheiten, Unspezialisiertheiten, als Primitivismen, d. h. als Unentwickeltes zu bezeichnen sind: also wesentlich negativ.“ (Gehlen, S. 31) 3  Freud, S. 87. 4  McLuhan.



Transmortalität und mediale Prothesen

133

hender Zeit. Selbst wenn während des Medienumbruchs um 1900 die Fähigkeit von Medien so etwas wie Transmortalität zu organisieren noch ziemlich präsent war5 und sie erst in der Folge mit der zunehmenden Narrativierung und Fiktionalisierung von Medien wie dem Film wieder in den Hintergrund gedrängt wurde, so wird die mediale Unsterblichkeit doch mittlerweile ziemlich selbstverständlich genommen: Nicht nur hat inzwischen jeder, wie Benjamin das einmal äußerte, das Recht, gefilmt zu werden, erworben, oder, wie das Warhol ebenfalls medial rückversichert formulierte, das Recht auf eine Viertelstunde mediengestützter Berühmtheit6. Die Ubiquität medialer Repräsentation, wobei die Erfordernisse der Speicherung zunehmend das Sein und die Teilnahme selbst zu subvertieren drohen, diskriminiert nicht mehr die Traditionsfähigkeit von Subjekten. Es gelingt kaum mehr einem Subjekt, gelebt zu haben, ohne mediale Spuren zu hinterlassen. Und dieses unterscheidungslose Anwachsen medialer Spuren sorgt geradezu für eine Inversion der aktuellen Perspektive: Sie handelt nämlich von der Schwierigkeit, in den Medien überhaupt noch sterben zu können. Die Annahme, dass das Netz sich nach Nietzsche als gnadenlos erweise, da es nun einmal nichts vergesse, bedeutet eben auch, dass zumindest die medialen Repräsentationen noch des gewöhnlichsten Selbst inzwischen nahezu unsterblich geworden sind. Amazon würde auch Verstorbene, solange es diese oder ihre Erben nur zuließen, weiterhin mit der passenden Literatur versorgen und das gilt für alle interessierten Akteure, die fleißig digitale Spuren gesammelt haben. Diese vollkommen banale mediale Unsterblichkeit, der allmählich wachsende Berg nicht nur von Karteileichen, sondern von real Verstorbenen in Sozialen Netzwerken, die Schwierigkeiten, E-Mailadressen abzuschalten oder deren digitale Repräsentationen und Spuren zu tilgen, steht in lebhaftem Gegensatz zu jenen Vorstellungen von Unsterblichkeit, die bekanntlich bei nichts weniger als bei den Ideen der Göttlichkeit Anleihen machten. II. Die strukturellen Defizite medialer Speicherlogiken Die Banalisierung einer medial gefeatureten Transmortalität, für die Unsterblichkeit vor allem zu einer Frage der Speicherkapazität und der Kompatibilität von Software und technischen Plattformen geworden ist, verstärkt die Differenz gegenüber jener im Kontrast zur grundlegenden Qualität des Humanen, der Sterblichkeit, angenommen Transmortalität eher noch, als dass er eingeebnet würde. Denn die medial gespeicherten Daten mögen ja Subjekte repräsentieren, ihnen geht aber zwangsläufig die vornehmste Ei5  Macho.

6  „In the future, everyone will be world-famous for 15 minutes.“ (Kaplan, S. 755:17)

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genschaft eines Subjekts verloren, nämlich die des Eingriffs, und wenn man die Bedeutung, die die Interaktivität in den Neuen Medien seit den 60er Jahren erlangt hat, berücksichtigt, dann wird deutlich, wie defizitär eine mittels medialer Speichertechnologien generierte Unsterblichkeit letztlich doch ausfällt, selbst wenn man einmal andauernde Aktivitäten von Avataren und Softwareagenten unterstellt. Mediale Speicher vergrößern gleichsam nur die vorhandene Friedhofsfläche um ein virtuelles Feld. Ihnen mangelt es ausgerechnet an jener Interaktivität, die Platon bereits als zentrales Manko der Schrift aufwies und die er als Indiz der konstitutiven Leblosigkeit medialer Speichertechnologien7 wertete und dieses Defizit scheint systematisch unüberbrückbar zu sein. Insofern gibt es einen weiteren konstitutiven Kontrast: nämlich den von der Leblosigkeit medialer Speicher und der Lebendigkeit des natürlichen Lebens. Mediale Speichertechnologien sind keineswegs makellos, sondern sie verfügen augenscheinlich ebenfalls über genau jene systematischen Defizite, mit denen die Medien generell beschwert sind. Das Versprechen digitaler Medientechnologien, die Defizite, mit denen die Massenmedien traditionell behaftet waren, mittels der Interaktivität endlich zu heilen8, ein Versprechen, das für erstaunlich viele Bereiche als erfüllt gelten kann, genau dieses Versprechen dürfte jedoch für den Bereich der Speichertechnologien zumindest solange verwehrt sein, solange das Subjekt nicht vollständig medial simuliert werden kann. Und deren aktuelle Grenze liegt eben genau bei jener Simulation der subjektiven Interventionsmöglichkeit und nicht zuletzt bei der sozialen und kulturellen Akzeptanz von derartigen Subjektsimulationen. Sämtliche Versprechen der Leistungssteigerung, mit denen die mediale Prothetik sich selbst vergessen machen und in Natürlichkeit untergehen lassen will, erstrecken sich mit Bedacht nicht auf jene Simulation des Selbst, sondern sie reduzieren sich vor allem darauf, dessen Spuren einzusammeln. 7  „Denn dieses Schlimme hat doch die Schrift, Phaidros, und ist darin ganz eigentlich der Malerei ähnlich; denn auch diese stellt ihre Ausgeburten hin als lebend, wenn man sie aber etwas fragt, so schweigen sie gar ehrwürdig still. Ebenso auch die Schriften: Du könntest glauben, sie sprächen, als verständen sie etwas, fragst du sie aber lernbegierig über das Gesagte, so bezeichnen sie doch nur stets ein und dasselbe.“ (Platon, 275d-e) 8  „Creative, interactive communication requires a plastic or moldable medium that can be modeled, a dynamic medium in which premises will flow into consequences, and above all a common medium that can be contributed to and experimented with by all Such a medium is at hand ‒ the programmed digital computer. Its presence can change the nature and value of communication even more profoundly than did the printing press and the picture tube, for, as we shall show, a well-programmed computer can provide direct access both to informational resources and to the processes for making use of the resources.“ (Licklider/Taylor, S. 22)



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Mediale Unsterblichkeit generiert so vor allem Reliquien von Subjekten und bewahrt nicht diese selbst. Jegliche mediale Repräsentation und Spur eignet sich daher ausschließlich zur Verehrung oder Ignoranz, nicht aber zur Interaktion: Mediale Speicher bewahren insofern gleichsam die Friedhofsruhe. Wenn dem aber so ist, dann generieren Medien keinerlei Unsterblichkeit, sondern sie schaffen vielmehr Material für jene Umstellung des Kommunikationsmodus von alltäglicher Interaktion auf Verehrung oder Vergessen. Die Nutzung medialer Speicher ist insofern zwangsläufig mit einer derartigen Umstellung von Kommunikationsmodi verbunden. Mediale Transmortalitätsideen verdanken sich, zumindest solange Subjekte nicht wenigstens einigermaßen überzeugend simulierbar sind, einem gedanklichen oder metaphorischen Kurzschluss: Sie neigen dazu, die Beschränkungen, die für mediale Speicher gelten, zu vergessen. Medien töten durch den Switch des Kommunikationsmodus von aktiv zu passiv. Historisch wirft das im Übrigen ein bezeichnendes Licht auf die traditionellen Massenmedien, in denen Lebendigkeit nur auf Seiten der Produzenten vorkam und der Rezipient sich bereits lange bevor ihn das Schicksal ewiger Passivität ereilte in einer durch Medienapparate stabilisierten Starre und Unbeweglichkeit, also jenem charakteristischen Mangel an Aktivität, gehalten wurde. Die Idee von einem medialen Weiterleben fällt also insgesamt ziemlich bescheiden aus: Es handelt sich um den Fortbestand als kulturelle Daten und Material, und das generiert nur wenig mehr Trost als den, in jedem Fall auch biologisches Material darzustellen. Die mediale Technologie hat insofern einen Modus von Transmortalität entwickelt, der nicht nur gewöhnlich weil ubiquitär ausfällt, sondern der gerade auch als kultureller Beitrag kaum jemals mehr als statistische Relevanz hat. Und insofern unterscheiden sich die medialen Spuren letztlich doch nicht wesentlich von jenen statistischen Spuren, die Subjekte selbst in vergleichsweise archaischen Medienkulturen, sofern sie nur des Zählens mächtig waren, immer schon hinterlassen haben. Die Bebilderung der Statistik bedeutet insofern keinen gravierenden Erkenntnisgewinn und sicherlich nur einen marginalen Zuwachs kulturellen Wissens. Vielmehr sind die anfallenden Daten offenkundig so irrelevant, dass sie genauso gut auch hätten vergessen werden können. III. Ereignis, Subjekt und Sinn Man hat es also mit zwei Modi des medialen Gedächtnisses zu tun: der statistischen Repräsentation als Datenmaterial und der Repräsentation als Ereignis. Die Differenz zwischen den beiden Modi der medialen Aufbewahrung liegt offensichtlich in der Anschluss- und Traditionsfähigkeit. Die

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Verarbeitung als Ereignis konstituiert in jedem Fall Subjekte, die Verarbeitung als Material verhindert genau dieses. Das Ereignis setzt das Subjekt in jedem Fall voraus, ist es selbst doch zuallererst als sein Erzeugnis definiert. Das Ereignis ist eine sinnhafte Kopplung historischer Daten und überträgt damit den sinnspezifischen Modus der Komplexitätsreduktion auf geschichtliche Prozesse. Diese Reduktion auf eine Identität, also die des Sinns, setzt umgekehrt die Konstruktion eines Subjekts voraus, das das Ereignis anstößt und ihm sein Motiv liefert. Ohne eine solche rückversichernde Kopplung an ein Subjekt würde die sinnhafte Schließung des Ereignisses in einem Sinn wiederum nicht funktionieren. Insofern konstituiert das Ereignis das Subjekt zumindest als eine Leerstelle, die zu besetzen ist. Die Verarbeitung als mediales Ereignis setzt eine kulturelle Verdichtung und Zentrierung von Daten in einem sinnkodierten Cluster voraus. Die Anschlussfähigkeit wird dabei nicht auf der Ebene der Daten, sondern auf der des Sinns hergestellt. Insofern unterscheidet sich der Nachruhm von jeglicher anderen medialen Strategie der Archivierung. Das schlichte Datenmaterial, also etwa die Unzahl von Facebook-Einträgen, verfügt demgegenüber über keinen Eigensinn, dem Ereignis wird dieser jedoch notwendig unterstellt. Mediale Archive sind subjektfähig nur innerhalb solcher sinnhaften Cluster, allerdings sind diese wiederum nicht aktiv und d. h., sie stiften vielleicht Nachruhm, sie sind aber noch längst keine gangbaren Modelle von Transmortalität. Insofern lässt sich eine Art mediales Ranking des Lebendigen generieren: interaktionsfähiges Subjekt, passives Subjekt, passives, medial als Subjekt repräsentiertes Subjekt und mediale Datenspuren von Subjekten, rein mediale Daten, die nicht mehr Individuen zurechenbar sind. Die einfache Dichotomie Leben – Tod findet sich mithin unterlegt von einer Art Kontinuum zwischen Leben und Tod, was die Komplexität der Verhältnisse letztlich bestimmt. Die Erzeugung von Trennschärfe in diesem Kontinuum oder aber deren drohende Auflösung sind als Detektion der Grenzen des Menschlichen fortgesetztes Thema medialer Narrationen und gehören damit offenkundig zu den tragenden Konstituenten gegenwärtiger Kulturen. Dass die Grenze der Attribuierbarkeit von Sinn sich weitgehend analog zu diesem Kontinuum bewegt, verstärkt die kulturelle Bedeutung, über die diese Unterscheidung und ihre mediale oder technologische Differenzierung verfügen, noch zusätzlich. IV. Mediale Formen und Imagines Nun sind Medien stets ein wenig mehr als bloße Technologie, denn sie verfügen über einen kaum zu unterschätzenden kulturellen Einfluss, so dass Technologiewandel stets auch kulturelle Implikationen aufweisen. Medien transportieren, speichern, vervielfältigen und repräsentieren mit all den ih-



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nen zur Verfügung stehenden Features jene Imagines, die Kulturen im Umgang mit den in ihnen aufgekommenen Themen und Problemen entworfen haben. Medien entwickeln und verfestigen dabei Sprach-, Bild- und Tonregelungen, die nicht selten selbst Medienwechsel und kulturellen Wandel auffällig unbeschadet überstehen können. Derartige mediale Formen und Imagines regeln, weil sie sich gegenüber ihren jeweiligen funktionalen Produktionskontexten längst verselbständigt haben, vergleichsweise unauffällig und dennoch ziemlich nachhaltig kulturelle Ein- und Wertschätzungen weitgehend unabhängig von rationalen Erwägungen und sie etablieren dabei zudem noch eine eigene wesentlich metaphorisch getriebene Binnenlogik. Mediale Formen und Imagines prägen also kulturelles und affektives Verhalten und sie sollten daher konsultiert werden, wenn es um kollektive Verhaltensauffälligkeiten geht. Und hier lassen sich, was alles andere als verwunderlich ist, gerade auch im Kontext von Transmortalität, Prothetik, Leben und Tod ganze Bildwelten und -logiken feststellen, die auf kulturelles Verhalten und die entsprechenden Befindlichkeiten nicht ohne Einfluss geblieben sein dürften. Auch wenn sich aus einer Medienanalyse nur wenig Objektives und Notwendiges über Transmortalität erfahren lässt, so kann man doch mithilfe medialer Formen und Imagines das eine oder andere über die Befindlichkeit, mit der die Medien rechnen und mit der dann konsequenterweise auch alle anderen Akteure in diesem Feld zu rechnen haben, sagen. Und diese Befindlichkeit ist vor allem eines, nämlich negativ. 1. Das Simulationsverbot

Selbst die geglückte Simulation des Menschen, die immerhin das zentrale, in der medialen Technologiegeschichte mitlaufende Telos der technischen Entwicklung darstellt, ist medienkulturell alles andere als gut beleumundet. Denn sobald sie fiktional imaginiert wird, wird eine auch nur halbwegs überzeugende Simulation des Subjekts9 als schlichter Horror wahrgenommen und die Identifikation und Differenzierung, also die Wiederherstellung der Grenze zwischen Mensch und Artefakt, wird als erstrebenswertes Handlungsziel imaginiert. In der medialen Repräsentation wird nämlich eine prinzipielle Konkurrenz zwischen Simulation und Subjekt heraufbeschworen, die die Beseitigung des künstlichen Substituts als legitim erscheinen lässt und demgemäß eine Ununterscheidbarkeit von Simulation und Simuliertem als worst case konstruiert. Die Bewertung der medialen oder technologischen Simulation von Subjekten fällt also, wie die Literatur9  Vgl. Narrationsmodelle, die die Trennung simulierter von echten Menschen thematisieren, wie etwa die Detektion von Replikanten in Blade Runner (USA 1982).

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und Filmgeschichte künstlicher Menschen und die Schwierigkeiten der KI sowie die ungeheure Vorsicht bei der Implementation von Experten- und Assistenzsystemen hinreichend gezeigt haben dürften, zwangsläufig negativ aus. 2. Der Verlust der Körpergrenzen

Selbst medienvermittelte Transmortalität ist, so ließ sich feststellen, wesenhaft subjekt- und sinngebunden. Die reine Technik hingegen erzeugt wenig mehr als bloße Datenmengen. Wenn es aber jeder medienvermittelten Transmortalität zwangsläufig an Subjektqualität gebricht, dann ist es auch kein Wunder, dass die Idee, mittels eines schlichten Stücks Fleischs in einem anderen Körper und im Interesse eines anderen Selbst weiterzuleben, nicht sonderlich attraktiv sein kann. Transmortalität wird dabei gerade auch medial durchaus widersprüchlich kodiert: nämlich als Rettung und Bewahrung einerseits, als Gefährdung andererseits. Eine positive Kodierung von Transmortalität kommt in den Medien praktisch nicht vor, sondern es herrschen vor allem Ängste vor und dieses Angstpotential wird als narrative Ressource nachhaltig genutzt. Daher ist es zweifellos auch kein Zufall, dass Transmortalität hoch mit jenen Genres korreliert, die ihr Geschäft vornehmlich mit Angst und Schrecken betreiben. Vampir-, SciFi-, Kriegs-, Kriminal- und Horrorfilm sind die Genres, in denen vorzugsweise die Imagines von Transmortalität organisiert sind. In all diesen Narrativen kommen im Allgemeinen keine von der Transmortalität stimulierten Erlösungsmodelle vor, sondern es handelt sich vorzugsweise um Bedrohungsszenarios. Das Abtrennen von Körperteilen hat ein enorm hohes Schreckenspotential. Allein schon die Tatsache, dass es hierbei kulturell eingespielte Hierarchien des Verlusts gibt, macht deutlich, dass es sich dabei offensichtlich um eine kulturell durchaus bedeutsame Differenz handelt. Die Idee, angesichts einer solch eingefleischten sowie kulturell bewährten und erprobten Angstkonstellation auf Freiwilligkeit bei der Organspende zu setzen, dürfte systematisch verfehlt sein. Wenn die Medien und ihre Verarbeitung von Tod als Indikatoren für eine kulturelle Verarbeitung des Todes gewertet werden können, dann müsste klar sein, dass die Idee des Weiterlebens in einem anderen Körper nicht wirklich überzeugen kann. Das, was weiterlebt, ist nicht wichtig, sondern das, was stirbt, ist wichtig und ausgerechnet das wird dadurch gestört, dass in seine Einheit eingegriffen und deren Vollständigkeit aufgehoben wird. Das Weitergegebene ist eben kein Subjekt, sondern ein Körperteil, auch wenn manche Geschichten etwas anderes insinuieren. Die Hürde, die für eine Abgabe von Körperteilen genommen werden muss, ist enorm angstbesetzt und damit ziemlich hoch. Offenbar gilt der Verlust der



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Integrität des Körpers selbst noch für den toten Körper. Die Ängste sind dabei immerhin so groß, dass man den toten Körper eher verrotten lässt, als dass man ihn einer weiteren Nutzung zuführt. 3. Der Körper als Ressource

Die kulturelle Kopplung von Körper und Subjekt ist offenbar hinreichend stabil und exklusiv, so dass es zu einer konventionalisierten Wertübertragung vom Subjekt auf den Körper kommt, was wiederum spezifische Grenzen des Handelns heraufbeschwört: Die Nutzung des menschlichen Körpers zu anderen Funktionen als der, die natürliche materielle Grundlage eines Subjekts zu bilden, wird narrativ als unerlaubte Entwertung des Menschlichen konstruiert.10 Die Würde des Narrativs Mensch ist eben auch die Würde und der Wert des Körpers selbst und daraus folgen rigide Einschränkungen für seinen Gebrauch. 4. Der zusammengesetzte Körper

Die Identität des Subjekts ist offenbar hinreichend wirkmächtig, dass sie quasi gewohnheitsmäßig auf die Einheit und Integrität des Körpers übertragen wird. Die künstliche Herstellung der Einheit ist dann folgerichtig tabuisiert: So verläuft die Montage eines Menschen11, d. h. die Herstellung eines Ganzen aus Fragmenten, selten glücklich, sondern endet in der Regel tragisch. Schöpfungsprozesse in der Tradition des Prometheus-Mythos werden als Hybris und Vergehen markiert und damit systematisch geächtet. Sie färben dabei auf ganze gesellschaftliche Funktionssysteme wie die Wissenschaft und insbesondere die Medizin ab, die in all diesen Szenarien keine besonders gute Figur macht. Hybris und Grenze menschlicher Rationalität sind dabei immerhin so hoch konventionalisiert, dass sie zu einem eigenen außerordentlich populären Figurenkonzept wie dem Mad Scientist12 verdichtet werden konnten. Man hat es in diesem Zusammenhang mithin mit einer gedoppelten Devianz zu tun: Der wahnsinnige Schöpfer gebiert in einem rational technischen Schöpfungsprozess Monster mit mangelnden sozialen Fähigkeiten. 10  Vgl.

The Matrix (1999); The Human Centipede (2010). Frankenstein (1931). 12  Dieses Rollenfach hat zwar eine ziemlich lange Tradition, die bis in die Commedia dell’arte zurückreicht, und auch im 18. Jh. nachhaltig genutzt wurde (nicht zuletzt von Lessings „Der junge Gelehrte“ oder Goethes „Faust“), allerdings ist das Modell des sozialen und kulturellen Schrecken produzierenden, unverantwortlichen Wissenschaftlers insbesondere nach dem 2. Weltkrieg aufgekommen und im HorrorFilm der 50er Jahre geradezu kultiviert worden. 11  Vgl.

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Rainer Leschke 5. Die mediale Logik der Prothesen

Die Medien sind nicht nur selbst Prothesen, sondern sie arbeiten mit an einer kulturellen Ordnung der Prothesen und der Transmortalität. Dabei sind die Unterscheidungen, die die Medien dem kulturellen Gedächtnis überantworten, erstaunlich präzise und differenziert. Medien unterscheiden so etwa zwischen guten und schlechten Prothesen: Diejenigen Prothesen, die technologisch allgemein-menschliche Fähigkeiten erweitern, werden in der Regel als positiv markiert. Demgegenüber werden diejenigen Prothesen, die individuelle Defizite kompensieren zwar individuell akzeptiert, es dominiert jedoch in der Bewertung das körperliche Defizit des Individuums, und d. h. die Bilanz fällt insbesondere im Vergleich zu einem unversehrten Individuum insgesamt negativ aus. Die schlechten Prothesen identifizieren solcherart defizitäre Subjekte und fungieren damit als Indikatoren des moralisch Fragwürdigen. Die guten Prothesen hingegen promovieren den ohnehin kompletten Helden zum Supersubjekt, wie man es von Superheldencomic bis hin zu den James-Bond-Erzählungen kennt. 6. Die Logik der Gabe

Die Idee der Spende fußt auf einer Art Anti-Ökonomie, zumindest aber einer archaischen Form der Ökonomie, nämlich der Logik der Gabe. Mauss verweist darauf, dass der Austausch in archaischen Gesellschaften quasi in einer anderen Taktung funktioniert, indem einer Gabe, die nicht zurückgewiesen werden kann, eine Gegengabe folgt und dadurch eine Art Überbietungsspiel initiiert wird, an dessen Ende wiederum ein Machteffekt steht. Dabei sind der Einsatz und das Risiko kaum geringer als beim kapitalistischen Tausch von Äquivalenten: „… es ist wirklich die Persona, die auf dem Spiel steht und die man beim Potlatsch, dem Spiel der Gaben, verliert, so wie man sie im Krieg oder aufgrund eines Verstoßes gegen das Ritual verlieren kann. In all diesen Gesellschaften ist man darauf bedacht zu geben.“13

Mauss verweist darauf, dass Elemente dieses Potlatsch-Systems eben nicht nur auf archaische Gesellschaften beschränkt geblieben seien, sondern dass die Ablösung durch eine kapitalistische Ökonomie noch nicht eine solche Durchdringungstiefe erreicht habe, dass solche Elemente der Gabenlogik vollständig verschwunden seien: „Ein großer Teil unserer Moral und unseres Lebens schlechthin steht noch immer in jener Atmosphäre der Verpflichtung und Freiheit zur Gabe. Zum Glück ist noch 13  Mauss,

93 f.



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nicht alles in Begriffen des Kaufs und des Verkaufs klassifiziert. Die Dinge haben neben ihrem materiellen auch einen Gefühlswert.“14

Auch wenn Mauss in diesem Zusammenhang ökonomisch ein wenig naiv agiert und er die Dialektik von Gebrauchs- und Tauschwert offenbar nicht ganz verstanden hat, so trifft seine Annahme doch im Kern durchaus zu, allerdings aus einem vollkommen anderen Grund, der seine Ursache in der Konstruktion des bürgerlichen Subjekts hat: Die Trennung von moralischem und ökonomischen Subjekt, die bereits von Kant mittels der Termini der Würde und des Nutzens installiert wurde: „Im Reich der Zwecke hat alles einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über den Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“15

Diese Trennung von Moral und Ökonomie, die konstitutiv für die kapitalistische Ökonomie ist, deren Bedeutung Mauss jedoch wie gesagt weitgehend unterschätzt16, macht deutlich, wie enorm problematisch das kulturelle Umfeld für die Idee der Organspende ist: Die massive Moralisierung des Vorgangs steht in lebhaftem Gegensatz zur ökonomischen Logik, die ansonsten das Verhalten der Subjekte mit Ausnahme weniger Enklaven17 nahezu vollständig reguliert. Dennoch hat Mauss zweifellos Recht, wenn er konstatiert: „Das Thema der Gabe, der Freiwilligkeit und des Zwangs der Gabe, der Großzügigkeit und des Interesses, taucht in unserer Gesellschaft wieder auf wie ein beherrschendes, doch lange vergessenes Motiv.“18

Was Mauss jedoch vollkommen falsch einschätzt ist die Form, in der die Ökonomie der Gabe wiederkehrt, nämlich als Problem und damit als ein 14  Mauss,

157. 68. 16  „Man kann sagen, daß heute ein großer Teil des industriellen und kommerziellen Rechts mit der Moral in Konflikt steht. Die wirtschaftlichen Vorurteile des Volkes und der Produzenten entspringen ihrem festen Willen, der Sache zu folgen, die sie produziert haben, und der intensiven Empfindung, daß ihre Arbeit weiterverkauft wird, ohne daß sie am Gewinn teilhaben.“ (Mauss, 159) Mauss’ Vorstellungen entspringen einer vergleichsweise romantischen Vorstellung von Ökonomie, die noch nicht einmal Adam Smith’s Marktmodell geschweige denn Marx’ Tauschabstraktion zur Kenntnis genommen zu haben scheint. Die Moralisierung des Ökonomischen begreift daher das konstitutive Schisma des 18. Jhs. nicht und reagiert vergleichsweise hilflos. Ähnliches gilt für eine verfehlte Einschätzung des autonomen Kunstsystems (vgl. Mauss, 159 f.). 17  Wie etwa der Familie, in der die Spende ja in der Tat auch weitgehend unproblematisch ist. 18  Mauss, 161. 15  Kant,

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Defizit, was systemimmanent offenbar nicht zu kompensieren ist. Das ändert allerdings nichts daran, dass die beiden Ökonomien prinzipiell nicht kompatibel sind und daher der Widerspruch grundsätzlich nicht zu heilen ist. Darunter leidet letztlich auch Baudrillards Applikation der Mauss’schen Ökonomie der Gabe auf die Medien: „Die Massenmedien sind dadurch charakterisiert, daß sie anti-mediatorisch sind, intransitiv, dadurch, daß sie Nicht-Kommunikation fabrizieren – vorausgesetzt, man findet sich bereit, Kommunikation als Austausch zu definieren, als reziproken Raum von Rede und Antwort (…), als Raum also einer Verantwortung (…) ‒, und zwar nicht im Sinne psychologischer oder moralischer Verantwortung, sondern als eine vom einen zum anderen im Austausch sich herstellende persönliche Korrelation. (…) Die gesamte Architektur der Medien gründet sich jedoch auf diese letztere Definition: die Medien sind dasjenige, welche die Antwort für immer untersagt, das, was jeden Tauschprozeß verunmöglicht (…). Darin liegt ihre wirkliche Abstraktheit. Und in dieser Abstraktheit gründet das System der sozialen Kontrolle und der Macht. Um diesen Terminus der Antwort richtig zu begreifen, muß man ihn in einem starken Sinne verstehen und dazu sich auf das beziehen, was in den primitiven Gesellschaften sein Äquivalent ist: die Macht gehört demjenigen, der zu geben vermag und dem nicht zurückgegeben werden kann.“19 „Das System herausfordern durch eine Gabe, auf die es nicht antworten kann, es sei denn durch seinen eigenen Tod und Zusammenbruch.“20

Baudrillard unterstellt hier implizit, dass eine Ökonomie der Gabe die kapitalistische Tauschrationalität unterlaufen habe, was jedoch keineswegs notwendig der Fall sein muss, da sich sämtliche Verhältnisse, die Baudrillard mittels des Modells der Gabe zu beschreiben sucht, auch in Parametern der kapitalistischen Ökonomie formulieren lassen. Wenn aber die Medien in ihrem Kommunikationsmodell nach den Parametern der Gabe funktionierten, dann ist es nur schwer erklärlich, warum das Subjektmodell so nachhaltig mit dem Modell der Gabe konfligiert. Insofern dürfte das Modell der Gabe mit einiger Sicherheit weder für die Beschreibung des Mediensystems noch für die des Verhaltens des Subjekts taugen. Und zugleich erklärt sich aus diesem Kontext heraus die enorme Schwäche der Verpflichtung zur Gabe oder Spende. V. Implikationen der Identität Offenbar konzentrieren sich alle relevanten Motive medial etablierter Imagines auf eine Gefährdung der Identität des Subjekts. Das Subjekt ist offenbar gleichzeitig durch seinen enormen Wert und seine ständige Gefähr19  Baudrillard, 20  Baudrillard,

Requiem, 91. Tausch, 64 ff.



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dung gekennzeichnet. Die Serie der medial inszenierten Verlustängste ist allemal bemerkenswert und in all diesen Fällen geht es um eine durch die Aufhebung der körperlichen Integrität signalisierte Gefährdung eines Subjektes. Dabei lassen sich die Verlustängste durchaus auch außerhalb psychologischer Parameter begründen: Die Fragmentierung oder Re-Montage des Körpers stellt eine rabiate Gefährdung von Sinn und damit eine Bedrohung des Subjekts selbst dar. Sinn ist zumindest seit dem 18. Jh. an die Identität und Integrität eines Werkes gekoppelt – zur Not muss dieses durch mühevolle Rekonstruktionen wiederhergestellt werden. Diese Identität des Werks ist zugleich die Voraussetzung für die Zuschreibung zu einem Subjekt, das quasi durch sein Werk aufgerufen wird. Das Fragment ist daher per se nur als supplementiertes überhaupt sinnfähig. Er bedarf der Sinnprothese und die ist wie die Prothesen der Medien eben auch vor allem schlechter als das integre Werk. Und das zusammengestückelte Werk muss ohne die Deckung durch ein Subjekt auskommen, wenigstens das, dem es zugeschrieben werden soll. Darin liegen dann auch die Schwierigkeiten der Hermeneutik mit bestimmten Kunstformen der Moderne begründet. Wenn also das Ganze die Voraussetzung von Sinn ist, dann ist der Verlust der Vollständigkeit eben zugleich der drohende Verlust des Sinns und der Identität. Insofern sind die Schwierigkeiten, die wir mit der Weitergabe von Organen offenkundig haben, alles andere als verwunderlich und es nimmt genauso wenig wunder, dass die Fragmentierung des Körpers, die Zerstreuung und der Verlust durchweg negativ besetzt sind und medial entsprechend negativ dargestellt werden. Man hat es schlicht mit nicht-sinnfähigen Akteuren zu tun und diese sind dann naturgemäß nicht weiter von Bedeutung. Umgekehrt aber gefährdet die Aufgabe der Integrität des Körpers das Subjekt selbst, was dann zu der fatalen kulturellen Bilanz führt, nach der ein Subjekt für ein Stück Fleisch riskiert wird. Nimmt man dann noch hinzu, dass die basalen Parameter des ökonomischen Systems geändert werden müssten, wird deutlich, welch eine komplexe Aufgabe hier zu lösen ist, die sich, soviel dürfte sicher sein, nicht durch gutgemeinte Werbekampagnen erledigen lassen wird. Literatur Baudrillard, Jean: Requiem für die Medien, in: ders.: Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen, Berlin 1978. – Der symbolische Tausch und der Tod, München 1982. Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, in: ders.: Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt am Main 1970, S. 63–129.

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Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, in: ders.: Gesamtausgabe, Bd. 3, Frankfurt am Main 1993. Hartmann, Frank: Extensionen des Menschen – Prothesen des Geistes. Medientheoretische Annäherung an das Mängelwesen Mensch, in: Merz. Medien + Erziehung. Zeitschrift für Medienpädagogik, 47 (3), S. 163–168. Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: ders.: Kritik der Praktischen Vernunft. Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werkausgabe, Bd. VII, Frankfurt am Main 1977, S. 7–102. Kaplan, Justin (Hrsg.): Bartlett’s Familiar Quotations, Boston 1992, S. 758:17. Kapp, Ernst: Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Cultur aus neuen Gesichtspunkten, Braunschweig 1877. Licklider, Joseph C. R./Taylor, Robert W.: The Computer as a Communication Device, in: Science and Technology, April 1968. Macho, Thomas: Die Stimmen der Doppelgänger, in: Phonorama. Eine Kultur­ geschichte der Stimme als Medium, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin 2004. Mauss, Marcel: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Frankfurt am Main 1990. McLuhan, Marshall: Understanding Media: The Extensions of Man, London/New York 2008. Platon: Phaidros, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg 2008.

II. Aufklärung – Normativität – Kritik: Philosophische Analysen

Bilder und Gründe Überlegungen zum Verhältnis von Aufklärung und visuellen Medien Matthias Vogel In welchem Rahmen kann man sinnvoll darüber nachdenken, ob Kampagnen, die sich wesentlich visueller Medien bedienen, wie viele derer, die zur Organspende aufrufen, akzeptable Formen der Einflussnahme auf Willensbildungsprozesse in demokratischen Gesellschaften darstellen? Und was heißt es, solche Überlegungen in einer Perspektive anzustellen, die sich einem aufklärerischen Anspruch verbunden weiß? Theoretikerinnen und Theoretiker, die mit einem aufklärerischen Anspruch auftreten, sehen sich schnell mit weitreichenden Einwänden konfrontiert. Ich nenne nur zwei für die Fragestellung besonders relevante: (1) Wer etwas mit Gründen kritisiert, artikuliert nicht bloß Evaluationen, sondern orientiert sich an Normen, die als Maßstäbe der Kritik fungieren. Solche Maßstäbe sind jedoch selbst nicht sakrosankt, sondern ihrerseits begründungbedürftig. Die Aufklärer sollten sich daher eingestehen, dass ihre normative Perspektive auf ein Phänomen auch nur eine von vielen möglichen Perspektiven ist. Sie sollten zugestehen, dass ihre normativen Maßstäbe selbst in einem kontingenten historischen und kulturellen Kontext stehen. Daher sollten sie nicht vorgeben, über einen Maßstab zu verfügen, der ihrer Kritik mehr Dignität verleiht als die divergierenden Stellungnahmen in der Auseinandersetzung um ein Phänomen. Wer sich diesen Einwand zu eigen macht, verweist gern darauf, dass Aufklärung selbst nur eine Strategie unter vielen im unübersichtlichen Gewebe einer Kultur ist, die – bei Lichte betrachtet – nicht besser dasteht als andere. (2) Ein zweiter Einwand verweist darauf, dass Bilder oder Bildsequenzen keine Argumente sind. An ihnen mag manches gelungen oder misslungen sein, es mag auch eine Praxis in unserer Kultur geben, über Bilder zu diskutieren, aber solche Debatten stützen sich – abgesehen von wissenschaftlichen Analysen bildnerischer Mittel und Stile – weitgehend auf subjektive Reaktionen, darunter ästhetische Bewertungen. Dem einen gefällt es, dem anderen nicht. Und selbst wenn ästhetische Urteile auf

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die Zustimmung anderer zielen mögen, so hat die mögliche Zustimmung nicht die Form der Anerkennung eines Geltungsanspruchs, der geeignet ist, Handlungen zu begründen und zu motivieren, die über das bloße Bewerten hinausgehen. Kurz: Einerlei, wie es um den Status der Aufklärung steht, Bilder sind gar keine Gegenstände, die Geltungsansprüche von der Art erbeben, die die Aufklärer im Lichte ihrer normativen Kriterien prüfen könnten. Wenn man diesen Einwänden nichts entgegensetzten könnte, dann könnte man im Rahmen moralischer oder politischer Diskurse lediglich über die Ziele von Kampagnen streiten, und zwar so, als handele es sich um sprachlich artikulierte Aufrufe, dieses oder jenes zu tun (oder zu lassen). Die zum Einsatz gebrachten spezifischen bildlichen Mittel hingegen wären allenfalls ein möglicher Gegenstand der empirischen Wirkungsforschung, der bestenfalls auf seine Effektivität relativ zu den Zielen der Kampagnen getestet werden könnte, oder ein Gegenstand ästhetischer Kommentare. I. Aufklärung und Gründe Es gehört zum alltäglichen Geschäft einer sich aufklärenden Gesellschaft, Thesen, Theorien, Handlungsempfehlungen sowie Verbote oder Gebote auf ihre Begründung hin zu prüfen. Derartige Vorschläge bilden ein Netzwerk von Kriterien, Regeln oder Maximen, die geeignet sind, unserem Denken und Handeln Orientierung durch Gründe zu geben. Maximen müssen geeignet sein, uns Antworten auf die Fragen zu liefern, wie wir handeln oder was wir glauben sollen. Sie antworten auf unser Bedürfnis, uns rational in der Welt zu orientieren. Damit sie diese Rolle erfüllen können, müssen wir selbst Einsicht in ihre Begründung nehmen können. Denn wir verstehen die Maximen als rationale Maximen nur insofern wir sie als begründet verstehen. In einer gewissen Hinsicht heißt verstehen nichts anderes, als das zu Verstehende in einem inferentiellen Netzwerk von Gedanken zu positionieren, die wir für überwiegend wahr und konsistent halten.1 Wenn wir uns als Wesen verstehen, für die es wesentlich ist, sich selbst zu bestimmen, dann läuft der Versuch, dies zu tun, darauf hinaus, sich an Maximen zu orientieren, die sich auf Gründe stützen, die wir selbst verstehen und vor dem Hintergrund unserer rationalen Standards als Gründe akzeptieren. Im Hintergrund solcher Überlegungen steht die Vorstellung, dass wir unsere Angelegenheiten besser regeln könnten, wenn wir uns unserer Vernunft bedienen, wenn wir uns also an guten Gründen orientieren; und Aufklärung ist jener Prozess, in dem wir solche Gründe prüfen. 1  Vgl.

etwa Davidson, Interpretation, sowie Davidson, Tiere.



Verhältnis von Aufklärung und visuellen Medien

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Das Projekt der Aufklärung ist Gegenstand vielfältiger Kritik gewesen, darunter der Kritik durch die Postmodernen, die heute teils verstummt ist, teils den Weg durch die Institutionen angetreten hat, wie man unschwer etwa an den programmatischen Schriften der neueren Kulturphilosophie erkennen kann.2 Wichtige Aspekte dieser Aufklärungskritik bilden die folgenden Motive: (1) Im Geiste einer Reaktualisierung der Form Marxscher Ideologiekritik ist darauf hingewiesen worden, dass Aufklärung die pseudo-universalistische Ideologie einer spezifischen Kultur (mit griechisch-jüdisch-christlichen Wurzeln) sei, die sich als Mittelpunkt der Welt betrachtet, der es aber in Wahrheit um nichts anderes als ihre partikularen Interessen an der Herrschaft über den Planeten und seine natürlichen Ressourcen gehe. (2) Es ist darauf hingewiesen worden, dass der Prozess der Aufklärung mit einer Dialektik einhergehe, in deren Folge die Ermächtigung gegenüber der Natur mit einer Herrschaft über die eigene Natur zu bezahlen sei. (3) Kritiker haben der Aufklärung ein ihr systematisch innewohnendes Moment der Gewalttätigkeit vorgehalten, das sich darin zeige, dass das Andere der Vernunft, das Nichtidentische, das Inkommensurable, das Kontingente und Heterogene unter die Begriffe einer notwendig schematischen Vernunft gebracht werden solle. (4) Die Aufklärung ist als ein hypertrophiertes Begründungsprogramm beschrieben worden, das der Illusion erliege, unser Leben könne mehr als Experimentieren sein. (5) Und schließlich ist die Aufklärung immer wieder und nicht zuletzt der vereinseitigenden Privilegierung einiger unserer kognitiven Kompetenzen bezichtigt worden. Diese Motive dürften so bekannt sein, dass es nicht nötig ist, ihre jeweiligen Wurzeln zu nennen. Wo immer aber mit derartiger Kritik etwas Verständliches gesagt wird, steht das Projekt der Aufklärung so lange nicht auf dem Spiel, solange auf die Kritik prinzipiell lernend reagiert werden kann. Aufklärungskritik – das wird man sagen dürfen – ist für dieses Projekt nicht der herausfordernde Ausnahmefall, sie stellt vielmehr den Normalfall in einem sozialen Lernprozess dar, der sich um Orientierung an Gründen bemüht. Eine erste, aber eben noch nicht hinreichende Bestimmung der Aufklärung könnte darin bestehen, zu sagen, dass Aufklärung ein offener Lernpro2  Vgl. Göller/Recki/Konersmann u. a. sowie Schwemmer, kritisch dazu Vogel, Kulturbegriff.

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zess ist. ‚Offen‘ insofern, als wir das Ziel dieses Prozesses zwar abstrakt, aber eben nicht konkret bestimmen können, weil wir nämlich in Absehung von zukünftigen Lernprozessen keinen Zugriff auf das haben können, was uns infolge dieser Lernschritte einsichtig geworden sein könnte. Hinreichend ist die Bestimmung aber auch deshalb nicht, weil nicht jeder Lernprozess schon einer ist, in dessen Verlauf wir über bessere Gründe verfügen. Lernen, in einem minimalen Sinn, ist nicht mehr als kognitive Adaption, aber nicht jede kognitive Adaption ist schon ein Beitrag zum Prozess der Aufklärung. Was zeichnet dann Aufklärung gegenüber bloßem Lernen aus? Ich möchte – wenig originell – vorschlagen: Die Orientierung an Vernunft. II. Vernunft Manch einer mag sich fragen, was damit gewonnen ist. Kann man nicht die Vorbehalte, die man gegen die Aufklärung hat, auch gegen die Vernunft mobilisieren, die doch auch im Hintergrund des Bildes steht, das ich eingangs skizziert habe? Nach meiner Auffassung kann man das nur, wenn man einen Begriff der Vernunft unterstellt, der entstellend verkürzt ist. Es gibt eine Vielzahl philosophischer Versuche, zu erläutern, was Vernunft ist. Diese Versuche stützen ihr Verständnis der Vernunft auf ganz unterschiedliche Kompetenzen, die Menschen typischerweise auszeichnen: (1) die Fähigkeit, sich im Rahmen von sozialen Praktiken des Urteilens an Kriterien zu orientieren3; (2) die Fähigkeit, Verhältnisse herbeizuführen, die sich an allgemeiner Zumutbarkeit oder Zustimmungsfähigkeit orientieren4; (3) die Fähigkeit, in einem Prozess kritischer Reflexion Mittel zu entwickeln, deren Einsatz Probleme erfolgreicher löst als andere Mittel5; (4) die Fähigkeit, sich in einer verständigungsorientierten Diskussion, die sich allein an Gründen orientiert, über Geltungsansprüche zu verständigen6. Ich kann diese Vorschläge hier weder detailliert kritisieren noch ihre Tugenden würdigen. Sie alle scheinen mir jedoch nicht geeignet zu sein, eine Fähigkeit ins Spiel zu bringen, die zugleich hinreichend allgemein und hinreichend spezifisch ist, um Vernunft angemessen auszuzeichnen und so Kambartel. Mittelstraß. 5  Vgl. Gosepath. 6  Vgl. Habermas. 3  Vgl. 4  Vgl.



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den etablieren Formen der Vernunftkritik zu entkommen. Ich will vielmehr einen Vorschlag unterbreiten, der mir geeignet zu sein scheint, der Kritik, die die genannten Vorschläge erfahren haben, zu entgehen. Mein Vorschlag besagt im Kern, dass der Ausdruck „Vernunft“ unser Vermögen bezeichnet, zu verstehen. „Verstehen“ ist ein Erfolgsverb; was also zeichnet den Erfolg aus? Den Standardfall des sprachlichen Verstehens können wir so erläutern, dass wir eine Äußerung so verstehen, dass sie sagt, wie es sich verhält oder wie es sich verhalten soll. Damit haben wir jedoch nur eine erste Hypothese. Um diese Hypothese zu stabilisieren, müssen wir sie in ein Netzwerk von Gedanken einbetten, die wir der Sprecherin zuschreiben und dieses Netzwerk muss „größtenteils widerspruchsfrei und nach unseren eigenen Maßstäben wahr sein“ (Davidson, 1990, S. 199). Das klingt nach purem Imperialismus, aber man kann sich sehr schnell deutlich machen, dass hier eine untere Grenze des Verstehens markiert wird. Denn wenn wir die meisten Äußerungen eines Sprechers für falsch halten, dann müssen wir uns fragen, ob wir diese Äußerungen überhaupt angemessen verstehen. Und ganz Analoges gilt, wenn wir feststellen, dass der Sprecher überwiegend widersprüchliche Gedanken hat. Sprachliche Äußerungen zu verstehen, setzt voraus, dass Sprecherin und Interpret elementare und nichtunterbietbare normative Standards teilen – Standards, bei denen wir nicht umhinkönnen, sie als Bedingung der Möglichkeit sprachlichen Verstehens zu betrachten. Denn was sagt jemand, der p und nicht-p sagt? Und was sagt jemand, der sagt: (1)  A impliziert B und (2)  A ist der Fall; (3)  also ist auch Nicht-B der Fall? Massive Inkonsistenz setzt dem Verstehen sprachlicher Äußerungen grundlegende Grenzen. Diese Grenzen sind weder kulturvariant noch sind sie an Perspektiven gebunden, die man auch verändern könnte.7 Wenn wir diese Überlegungen nun für die Bestimmung eines minimalen Begriffs der Aufklärung nutzen, dann könnten wir Aufklärung folgendermaßen bestimmen: (A) „Aufklärung ist der soziale Prozess, in dem wir unsere Fähigkeit zu verstehen entfalten und verstehen lernen.“8 7  Es ist nicht leicht, den Umfang dieser verstehenskonstitutiven Prinzipien genau zu bestimmen. Während das Prinzip der Transitivität und das Kontingenzprinzip mit guten Gründen zu diesen Prinzipien gezählt werden können, ist das etwa mit Blick auf das Prinzip der Konservativität eher fraglich. Vgl. dazu Vogel, Medien, S. 104 f. 8  Vogel, Medien, S. 35.

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Eine Pointe der Strategie, einen minimalen Aufklärungsbegriff auszuzeichnen, besteht darin, dass dieser Vorschlag gerade nicht geeignet ist, Vorwürfen wie den eingangs genannten viel Angriffsfläche zu bieten. Gegen (A) kann nicht geltend gemacht werden, ein faktisch partikulares Projekt „des Westens“ zu sein, selbst wenn es deskriptiv richtig sein sollte, dass die gesellschaftliche Implementierung des Aufklärungsprozesses in unterschiedlichen Kulturen ein unterschiedliches Gewicht hat. Um die These der Privilegierung bestimmter kognitiver Kompetenzen zu plausibilisieren, bedürfte es einer bestimmten Analyse von Verstehensprozessen. Da (A) sich nicht auf bestimmte Formen des Verstehens festlegt, darüber hinaus aber auch die Entfaltung und das Verstehen dieser Formen verlangt, scheinen mir Vereinseitigungsthesen eher schlechte Karten zu haben – jedenfalls dann, wenn man die ganze Vielfalt des Verstehens systematisch ins Spiel bringt. Mit Blick auf die Herrschaftsdiagnose erlaubt es (A) zu sagen: Ja, es mag sein, dass Ergebnisse des Verstehens immer auch geeignet sein können, die Chancen für die Beherrschung von Phänomenen zu verbessern; es mag sogar Kontexte geben, in denen wir unser Verständnis eines Phänomens an der Fähigkeit messen, bestimmte Ergebnisse kontrolliert zu erzeugen. Doch wenn wir Kritik an diesen Prozessen mobilisieren wollen, dann einzig, indem wir uns solcher Ressourcen bedienen, die wir Rahmen des Aufklärungsprozesses gewinnen. Mit Blick auf die Kritik an der Vernunft gilt ein ähnliches Prinzip, wie das, das in der Verfassung der Bundesrepublik9 die Abwahl des Kanzlers regelt: das Prinzip des konstruktiven Misstrauensvotums. (PKM) Eine gegebene Konzeption der Vernunft kann nur dann aufgegeben werden, wenn es eine neue vernünftigere Konzeption der Vernunft gibt, die uns verständlich macht, was an der alten Konzeption defizitär ist. In allen anderen Fällen, ist es unmöglich, zu sagen, warum man die gegebene Konzeption aufgeben sollte. Man könnte es nicht verstehen, weil man es ohne besseren Grund täte. Jedes kritische Votum, das dieses Prinzip erfüllt, sprengt jedoch nicht den Rahmen der Aufklärung, sondern treibt den Aufklärungsprozess voran. Das traditionelle Bild der Aufklärung als ein Programm der Entfaltung der Vernunft ist daher insofern richtig, als die Vernunft wesentlich das Vermögen ist, zu verstehen, Aufklärung aber nichts anderes ist als der Prozess des Entfaltens unserer Verstehensfähigkeiten.

9  GG

Art. 67, S. 1.



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III. Bilder und Gründe In dem bisher entworfenen Bild habe ich wie selbstverständlich vorausgesetzt, dass das Medium, in dem sich die Prozesse der Aufklärung vollziehen, ebenjenes Medium ist, mit dessen Hilfe wir propositional differenzierte Gedanken individuieren und artikulieren können, in dem wir Gründe verlangen und geben können – also die Sprache. Die Philosophie, insbesondere die Philosophie, die sich im Anschluss an den linguistic turn entwickelt hat, neigt dazu, die Vernunft als eine Fähigkeit zu beschreiben, die sich paradigmatisch in jenen Kontexten zeigt, in denen wir sprachliche Äußerungen verstehen. Eine sprachliche Äußerung zu verstehen, heißt gemäß den Analysen etwa von Davidson oder Brandom nichts anderes, als die Äußerung zu rationalisieren oder jene Berechtigungen und Verpflichtungen zu identifizieren, die sich ein Sprecher mit einer Äußerung einhandelt. Ich will nun nicht leugnen, dass diese Analysen unser Verständnis sprachlichen Verstehens vertieft haben und sich dabei auf eine für uns zentrale Form des Verstehens beziehen. Aber ich möchte mit Nachdruck darauf aufmerksam machen, dass wir neben sprachlichen Äußerungen, die typischerweise Wahrheits- oder Erfüllungsbedingungen haben, über eine Vielzahl von nichtsprachlichen medialen Artikulationsformen verfügen, die weder Wahrheits- noch Erfüllungsbedingungen haben, gleichwohl aber sowohl Gegenstände unseres Verstehens sind als auch Formen, die Ressourcen dafür bereitstellen, zu artikulieren, wie und wer wir sind oder sein wollen. Meine These lautet also: (SB)  Nichtsprachliche Medien stellen Möglichkeiten bereit, die zur Entwicklung eines Selbstverständnisses beitragen können. Selbstverständnisse erschöpfen sich nicht in Selbstbeschreibungen. Um diesen Punkt in der Theorie der Vernunft angemessen berücksichtigen zu können, bedürfen wir einer allgemeineren Analyse des Verstehens. Im Mittelpunkt dieser Analyse steht die These: (V)  Jeder Akt des Verstehens hat die Form: Ein x als ein y denken. Die Idee ist folgende: Wenn wir uns auf etwas (x) beziehen und es als ein etwas (ein y) betrachten, dann stiftet dieses y eine Hinsicht, unter die wir x stellen. Ich kann eine Banane als ein Lebensmittel betrachten oder als Frucht eines Staudengewächses oder (wie spielende Kinder es manchmal tun) als einen Telefonhörer. In diesen Fällen ist die Hinsicht y begrifflich bestimmt, aber genau das scheint mir keineswegs zwingend zu sein. Bevor ich gleich auf nichtsprachliche Hinsichten zu sprechen komme, unternehme ich einen weiteren Schritt zur Plausibilisierung von (V). Gottlob Frege hat zwischen der Bedeutung und dem Sinn von Ausdrücken un-

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terschieden. Bedeutung ist in Freges Verständnis im wesentlichen Referenz. Die Ausdrücke „Morgenstern“ und „Abendstern“ haben dieselbe Referenz, sie referieren auf die Venus. Aber sie unterscheiden sich mit Blick auf den Sinn, oder, wie Frege sagt, mit Blick auf die Gegebenheitsweise. Der Morgenstern ist das, worauf wir uns als hellster Himmelskörper am Morgenhimmel beziehen, der Abendstern der hellste am Abendhimmel. Was für Namen wie „Morgenstern“ und „Venus“ gilt, gilt – wie das gleichfalls klassische Beispiel zeigt – auch für Begriffe: (1) Öpidus begehrt seine Mutter. (2) Öpidus begehrt Iokaste. (3) Ödipus begehrt die Königin von Theben, aber nicht als seine Mutter. Die allermeisten zeitgenössischen Philosophen dürften Ödipus’ Fähigkeit, sich in diesen Hinsichten auf Iokaste zu beziehen, an solche Begriffe binden, die diese Hinsicht artikulieren. Um Iokaste als seine Mutter oder als Königin von Theben zu begehren, muss Ödipus über die Begriffe „Mutter“ und „Königin“ verfügen. Selbst wenn das richtig ist, so ist keineswegs klar, ob es sich allgemein so verhält, denn wir sagen im Falle etwa eines Musikstücks, „Ich höre das so …“ und machen eine Geste. Wenn das richtig ist, dann könnten wir Musik und wohl auch Bilder durch Hinsichten strukturieren, die selbst nicht begrifflich artikuliert sein müssen10. Wenn wir die Praxis betrachten, in der wir zu erläutern versuchen, wie wir nichtsprachliche Äußerungen verstehen – und wir machen ja einen Unterschied zwischen Fällen, in denen wir etwa ein Musikstück oder ein Bild verstehen, und solchen, in denen uns dies nicht gelingt –, dann stellen wir fest, dass wir uns dabei häufig nichtsprachlicher Mittel bedienen: Übende Musiker versuchen, einander ihr jeweiliges Verständnis eines Musikstücks gestisch, mimisch, mithilfe anderer lautlicher Äußerungen und eben auch mithilfe von Bildern zu vermitteln. Dabei nutzen sie nichtsprachliche Hinsichten, um zu zeigen, wie sie x auffassen. Das y in meiner Bestimmung (V) kann also auch nichtsprachlich bestimmt sein. Nach meinem Eindruck ist es nun so, dass wir gerade angesichts sinnlich reich strukturierter Gegenstände dazu neigen, uns die Form unseres mit ihnen verbundenen Erfahrens mittels suggestiver sinnlicher Mittel zu vergegenwärtigen. Wenn wir versuchen, diese Überlegungen zu nutzen, um den Sinn eines Bildes allgemein zu bestimmen, könnten wir sagen: (SB)  Der Sinn eines Bildes ist der Komplex von Hinsichten, die seine Wahrnehmung zu einer Erfahrung integrieren11. 10  Vogel, 11  Vogel,

Erfahren, S. 112 f. Sinn.



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Es bedarf nun zweier weiterer Schritte, um die Rolle solcher sinnlichen Medien im Kontext von Prozessen des Selbstverstehens in den Blick zu bekommen. Ich hatte eingangs gesagt, dass die Vernunft Gründe bereitstellt, die uns dabei helfen, zu entscheiden, was wir tun und glauben sollen. Nun möchte ich jedoch deutlich machen, dass dieses Bild zu einfach ist. Denn es ist zwar richtig, dass wir uns als Selbstbestimmer mithilfe von Gründen bestimmen, aber es gibt Sorten von Fragen, bei denen Gründe zunächst keine hinreichende Antwort auf unser Entscheidungsproblem geben können. Und es gibt ja vielleicht auch Situationen, in denen die vorliegenden Gründe die Entscheidung gar nicht eindeutig zu bestimmen vermögen. In diesen Fällen fragen wir uns nicht nur, was unsere Präferenzen, Wünsche und Absichten sind, wir fragen uns vielmehr, wer wir sind oder wer wir sein wollen.12 Dann entwerfen wir nicht selten anschauliche Bilder davon, wer wir sind, und diese Bilder geben manchmal besser Auskunft darüber, wie wir handeln sollten, als ein großer wohlgeordneter Stapel von Präferenzen und Überzeugungen – also von Gründen. In diesen Fällen fungieren Bilder als Formen, in denen wir ein anschauliches Selbstverständnis artikulieren, das nicht primär und nicht auf jeder Ebene durch sprachliche Begriffe bestimmt ist. Es scheint, als könnten solche Bilder selbst die Rolle von Gründen übernehmen. Aber ich möchte vorsichtiger sagen, dass die Hinsichten, die das Bild in derartigen Situationen bereitstellt, prinzipiell – jedenfalls in relevanten Hinsichten – auch sprachlich artikuliert werden könnten. Was das Bild leistet besteht darin, einen Vorgriff auf unartikulierte Aspekte zu gewinnen, die wir in der Situation der Entscheidung gerade noch nicht in Form eines Begriffes artikulieren können. Das Bild bietet uns gewissermaßen Halt an etwas, an dem unser Versuch, die relevante Hinsicht zu artikulieren, Maß nehmen kann. Wenn diese Überlegungen tragfähig sind, dann können wir sagen, dass auch nichtsprachliche Medien eine respektable Rolle in einem Prozess spielen können, in dem wir uns aus Vernunft selbst zu bestimmen versuchen, denn wir können diese Prozesse nun so beschreiben, dass sie durch nichtsprachlich gegebene Hinsichten bereichert werden, wobei diese Hinsichten reflexiv in den Raum der Gründe integriert werden können. Im Folgenden möchte ich diese Überlegungen nutzen, um die Kompatibilität von visuellen Kampagnen mit aufklärerischen Ansprüchen zu prüfen. 12  Solche Situationen stellen sich beispielsweise ein, wenn man sich fragt, ob man eine attraktive Stelle in einer unattraktiven Stadt annehmen soll, oder besser auf einer unattraktiven Stelle in einer attraktiven Stadt bleibt. Meine Überlegungen hier stützen sich natürlich auf Korsgaard, Sources, und dies., Self-Constitution.

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IV. Ein hypothetisches Test-Szenario Gehen wie einmal von der kontrafaktischen Annahme aus, wir wären im Rahmen eines weitreichenden Konsenses, der sich im Anschluss an eine intensive gesellschaftliche Debatte, in der alle relevanten Positionen und Gesichtspunkte Berücksichtigung gefunden haben, eingestellt hat, zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Maxime gerechtfertigt sei. Und nehmen wir weiter an, diese Maxime besage, es sei moralisch geboten, dem eigenen Willen verbindlichen Ausdruck zu verleihen, ob man im Falle des eigenen Todes bereit ist, seine Organe für die Transplantation freizugeben. Darüber hinaus besage der Konsens, dass die postmortale Entnahme von Organen nur im Falle des Vorliegens einer förmlichen Zustimmungserklärung durchgeführt werden darf. Wenn wir nun in einem der Aufklärung verpflichteten Kontext Leute dazu bewegen wollen, dieser Maxime zu folgen, dann kann das zunächst nichts anderes heißen, als ihnen die Begründung der Maxime zugänglich zu machen. Deshalb publiziert die Bundesregierung eine Broschüre, die die Debatte dokumentiert und die gesamte Argumentation zur Begründung der Organspendenentscheidungsmaxime übersichtlich und angemessen präsentiert. Nun wird die Zahl derer, die einen Organspendeausweis bei sich tragen, durch diese Aktion leider nur marginal erhöht. Da die Maxime wohlbegründet sei, wird deshalb vorgeschlagen, für die Zustimmung mit Mitteln zu werben, die empirisch besser geeignet seien, um bei den Adressaten motivational wirksam zu werden. Um eine für die Fragestellung relevante Situation zu beschreiben, müssen wir annehmen, dass es nach Voraussetzung hinreichende normative Gründe dafür gibt, der Maxime zu folgen. Warum aber entfalten diese Gründe so selten motivationale Kraft? Mindestens folgende Erklärungen stehen im Raum: (1) Die Adressaten akzeptieren die Argumentation, reklamieren aber, dass in ihrem Fall ein Wunsch oder eine Überzeugung vorliegt, der oder die in der Argumentation nicht berücksichtigt wurde. Sie sagen: „Es gibt gute normative Gründe, aber diese Gründe können in meinem Fall keine motivierenden Gründe sein.“ (2) Die Adressaten vermeiden die Anstrengung, sich die Gründe vor Augen zu führen; sie vertagen die Auseinandersetzung mit dem Thema, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich das Ende ihres Lebens nicht vergegenwärtigen wollen. Sie haben Präferenzen, die sie daran hindern, die Begründung der Maxime zu verstehen. (3) Die Adressaten stimmen der Begründung in vollem Umfang zu und akzeptieren die Maxime als für sich selbst einschlägig und gerechtfer-



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tigt, tun gleichwohl aber nicht, was die Maxime gebietet. In diesen Fällen müssen wir von Willensschwäche oder einer anderen Form der Irrationalität ausgehen. Fragen wir nun im nächsten Schritt, wie der Einsatz der Werbemittel gerechtfertigt werden könnte. Die instrumentalistische Fraktion sagt: (IF) Die Maxime ist gerechtfertigt. Also ist Werbung, die der Befolgung der Maxime dient, gerechtfertigt. Diejenige Werbung, die die Befolgung der gerechtfertigten Maxime bewirkt, ist selbst gerechtfertigt. Es liegt meines Erachtens auf der Hand, dass diese Position nicht akzeptabel sein kann, denn sie suspendiert den Status des Adressaten der Werbung als Selbstbestimmer. Akzeptable Werbung muss diesen Status nicht nur intakt lassen, sondern sie muss ihm gerecht werden. Und das heißt, dass der Prozess, durch den sich die Wirksamkeit der Werbung einstellt, so beschaffen sein muss, dass die Wirkung der Werbung als Folge eines Verstehensprozesses eintritt. Gegen den Instrumentalismus lässt sich geltend machen, dass wir nicht bloß normkonformes Verhalten wollen, sondern Handlungen, die aus Gründen vollzogen werden, die für die Handelnden selbst rational motivierende Gründe sind. Würden insbesondere diejenigen, die Vorbehalte gegen die Maxime oder mit ihr unvereinbare Präferenzen haben, infolge der Werbung plötzlich maximenkonform handeln, so müssten wir uns die größten Sorgen machen. Daher ergibt sich folgende Gegenposition: (K) Die aufklärerischen Kritiker des instrumentalistischen Ansatzes vertreten die Idee, dass in der Perspektive von Selbstbestimmern nur solche Werbung akzeptabel ist, deren intendierte Wirkungen sich infolge von Prozessen des Verstehens einstellen. Die Pointe eines bekannten DFB-Werbespots13 – so die Vertreter von (K) – sei nicht, auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass die Eltern der Nationalspieler das Spiel ihrer Kinder freundschaftlich verbunden gemeinsam im Fernsehen betrachten; sie bestehe vielmehr darin, diese Möglichkeit anschaulich zu machen. Die sprachliche Beschreibung liefere zwar das Kriterium, es fehle ihr aber die Anschauung. Der Spot hingegen baue darauf, dass die Zuschauer die relevante Hinsicht den Bildern entnehmen, die ihnen das gewünschte Verhältnis zu Einwanderern anschaulich macht. Aus diesem Grunde gehe es nicht darum, die Maximenbefolgung einfach zu bewirken, sondern darum, sie dadurch zu bewirken, dass sich Rezipienten das Befolgen oder Nichtbefolgen der Maxime in Kontexten der Imagi13  DFB.

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nation anschaulich machen. Das stehe gar nicht im Kontrast zu Gründen, es verleihe den Gründen nur Flügel. Jemand zu sein, der ohne Flügel engelsgleich hilft; jemand zu sein, der seine Organe post mortem für die Transplantation frei gibt, wie er sein Altpapier ins Recycling gibt; jemand zu sein, der sich wie der Max Ballauf oder die Kati Wilhelm vor einen anderen hinstellen und sagen kann: „Ja, ich habe die Entscheidung getroffen“, das seien die imaginativen Ressourcen, die die Werbung ins Spiel bringe. Diese Ressourcen seien aber nicht unabhängig vom Verstehen und sie ersetzten Gründe nicht. Man muss nicht lange darüber nachgrübeln, welche der beiden Positionen ein differenzierteres Bild der Rolle von Werbung zeichnet, aber es ist unklar, ob die zuletzt genannte Position differenziert genug ist. Daher bleibt in jedem Einzelfall zu prüfen, ob die Hinsichten, die Rezipienten durch die Bilder erfassen könnten, mit den Gründen vereinbar sind, aus denen unsere Maxime befolgt werden sollte. Damit ist natürlich nur ein Anfang gemacht. Da ich selbst nicht ganz sicher bin, ob mir meine obigen Überlegungen durchweg transparent sind, schließe ich mit einer Übersicht über einige zentrale Schritte: (1) Aufklärung impliziert notwendig einen Prozess des Selbstverstehens. (2) Jeder Prozess des Verstehens hat die Form, ein x als y zu denken – also etwas unter einer Hinsicht zu betrachten. (3) Unser Selbstverstehen erschöpft sich nicht in Selbstbeschreibung. (4) Rationale Selbstbestimmer sind wir insofern, als wir unser Handeln und Denken durch etwas bestimmen, das wir selbst als Gründe verstehen. (5) Gründe sind notwendig begrifflich artikuliert, denn ein Grund zu sein heißt, Prämisse eines Arguments sein zu können. (6) Es gibt Entscheidungen, bei denen wir an sprachlich artikulierten Gründen allein keinen Halt finden. (7) Angesicht solcher Entscheidungen fragen wir uns typischerweise, was es hieße, jemand zu sein, der sich so oder anders entscheidet. Wenn das Problem unübersichtlich ist, fragen wir uns, wer wir sein wollen, indem wir uns die Folgen der Entscheidungen anschaulich machen. (8) Halt finden wir in solchen Situationen eher an einem Selbstbild, das sich nicht in unseren Selbstbeschreibungen erschöpft – ein Selbstbild in dem Aspekte dessen, was es heißt, die Person zu sein, die ich bin (oder sein will), anschaulich gegeben sind. (9) Hilfreiche Bilder machen uns Angebote, diejenigen Hinsichten, die ihre Wahrnehmung integrieren, als Hinsichten auf uns zu verwenden.



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(10) Solche Hinsichten können mit unserem Selbstbild harmonieren oder in Spannung zu ihm stehen; sie können uns herausfordern, unser Selbstbild zu prüfen. Leisten sie dies, werden wir immer in der Lage sein, diese Hinsichten selbst begrifflich zu artikulieren und so auf die Form von Gründen zu bringen. Eine aufklärerische Perspektive auf unsere Belange muss sich nicht zwingend der Mittel der Werbung enthalten, solange diese Werbung sich der Mittel enthält, deren Effekte geeignet sind, die Prozesse der Selbstbestimmung im Rahmen von Verstehensprozessen zu untergraben. Literatur Davidson, Donald: Radikale Interpretation, in: ders.: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt am Main 1990, S. 183–203. ‒ Vernünftige Tiere, in: ders.: Subjektiv, intersubjektiv, objektiv, Frankfurt am Main 2004, S. 167–185. DFB: TV-Spot „más integracion“ (2008), verfügbar unter: https://www.youtube.com/ watch?v=T3m4c8j780E (letzter Zugriff: 06.10.2016). Göller, Thomas/Recki, Birgit/Konersmann, Ralf/Schwemmer, Oswald: Die kulturwissenschaftliche Wende in den Geisteswissenschaften und die Philosophie. Diskussion, in: Information Philosophie, 3 (2005), S. 20–32. Gosepath, Stefan: Aufgeklärtes Eigeninteresse. Eine Theorie theoretischer und praktischer Rationalität, Frankfurt am Main 1992. Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns (2 Bde.), Frankfurt am Main 1985. Kambartel, Friedrich: Vernunft: Kriterium oder Kultur. Zur Definierbarkeit des Vernünftigen, in: ders.: Philosophie der humanen Welt, Frankfurt a. M. 1989, S. 27– 43. Korsgaard, Christine: The Sources of Normativity, Cambridge 1996. ‒ Self-Constitution: Agency, Identity and Integrity, Oxford 2009. Mittelstraß, Jürgen: Von der Vernunft, in: ders.: Der Flug der Eule, Frankfurt am Main 1989, S. 120–141. Schwemmer, Oswald: Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung, München 2005. Vogel, Matthias: Medien der Vernunft, Frankfurt am Main 2001. ‒ Geist, Kultur, Medien. Überlegungen zu einem nicht-essentialistischen Kulturbegriff, in: Simone Dietz/Timo Skrandies (Hrsg.): Mediale Markierungen. Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken, Bielefeld 2007, S. 45–82. ‒ Nachvollzug und die Erfahrung musikalischen Sinns, in: Alexander Becker/Matthias Vogel (Hrsg.): Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik Frankfurt am Main 2007, S. 314–368.

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‒ Ästhetisches Erfahren  – Ein Phantom?, in: Stefan Deines/Jasper Liptow/Martin Seel (Hrsg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse, Berlin 2013, S. 91–119.

Freiheit oder Leben? Warum die Aufklärung „postmortaler“ Organspender so gering geschätzt wird Theda Rehbock Es ist ein großer Unterschied, ob die Freiheit oder das Leben als der Güter höchstes angesetzt wird. Hannah Arendt1

I. Freiheit der Entscheidung zur „Organspende“: Realität oder Lippenbekenntnis? Wie groß der „Unterschied“, den Hannah Arendt anspricht, ist, wenn das Leben anstelle der Freiheit als „der Güter höchstes“ gilt, das zeigt sich, trotz Einführung des Autonomieprinzips, in der heutigen Medizin und Medizin­ ethik. Besonders deutlich wird dieser Vorrang des Lebens vor der Freiheit im Bereich der „postmortalen“ Organspende. Die Neufassung des Transplantationsgesetzes (TPG) von 2012 heißt zwar „Entscheidungslösung“ und fordert in § 1 Abs. 1 „eine breite Aufklärung der Bevölkerung zu den Möglichkeiten der Organ- und Gewebespende, um eine informierte und unabhängige Entscheidung jedes Einzelnen zu ermöglichen.“ In § 2 wird diese Forderung präzisiert: „Die Aufklärung hat die gesamte Tragweite der Entscheidung zu umfassen und muss ergebnisoffen sein.“ Im Fall der „postmortalen“ Organspende wird allerdings an keiner Stelle im Gesetz konkretisiert, wie und worüber genau zu informieren ist, und durch welche Maßnahmen und Vorkehrungen die Ergebnisoffenheit der Aufklärung und die Freiwilligkeit der Entscheidung zu gewährleisten sind. Es bleibt bei allgemeinen Absichtserklärungen; der Gesetzestext ist in dieser Hinsicht zahnlos.2 Für die Lebendspende dagegen wird im § 8 des TPG detailliert aufgelistet, wie und worüber der 1  Arendt,

Was ist Politik? S. 70. hervorzuheben ist allerdings, dass inzwischen der Deutsche Ethikrat dieses Problem in einer Stellungnahme Hirntod und Entscheidung zur Organspende (24. Februar 2015) aufgegriffen und Verbesserungen der Information, Aufklärung und Kommunikation im Hinblick auf die Entscheidungsfreiheit angemahnt hat. An dem grundsätzlichen Problem einer Relativierung der Freiheit zugunsten des Le2  Positiv

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Spender aufzuklären ist, und gefordert zu prüfen, ob er einwilligungsfähig ist, die Aufklärung verstanden und die Entscheidung wirklich freiwillig getroffen hat. Für diese Prüfung ist eine unabhängige Kommission einzurichten. Diese Differenz der Regelungen zwischen „postmortaler“ Spende und Lebendspende ist dadurch zu erklären, dass für den lebenden Spender aus der Spende Risiken für Leben und Gesundheit resultieren, die für den Spender, wenn er (hirn)tot ist, nicht mehr vorhanden sind. In § 2 des Gesetzes wird zwar explizit betont, niemand könne „verpflichtet werden, eine Erklärung zur Organ- und Gewebespende abzugeben“. Das bedeutet, dass von gesetzlichen Sanktionen abgesehen wird, wenn sich jemand nicht erklärt.3 Die Erhöhung der Organspendebereitschaft, und damit die Erhöhung des Organaufkommens zwecks Lebensrettung von Organempfängern, wird aber im ersten Satz, der den Aussagen zur Aufklärung unmittelbar vorangeht, zum Hauptziel des Gesetzes erklärt. Die flächendeckende Aufklärung der Bevölkerung soll zudem für staatliche und soziale Institutionen eine sanktionierbare Pflicht sein.4 Dadurch werden potentielle „postmortale“ Organspender in hohem Maße moralisch unter Druck gesetzt, und das soll offenbar so sein. Die Aufklärung wird also nicht um der Freiheit und Autonomie des Bürgers willen gefordert, sondern hat rein instrumentellen Charakter, und zwar als Mittel für den übergeordneten Gemeinwohlzweck der angeblichen Bewahrung von Leben. Das zeigt sich auch in den durch das Bundesministerium für Gesundheit initiierten „Aufklärungskampagnen“, die faktisch den Charakter von Werbekampagnen haben. Mit dramatischen, zu Herzen gehenden Darstellungen des Organmangels und des für viele Menschen drohenden „Todes auf der Warteliste“ sprechen sie vehement das Mitgefühl und die Hilfsbereitschaft der Menschen an. Dafür werden prominente, einflussreiche Persönlichkeiten wie der Schauspieler Klaus J. Behrendt alias Tatortkommissar Max Ballauf eingespannt, der auf großen Plakaten auffordernd seinen Organspendeausweis vorzeigt: „Ich entscheide. Es tut gut, etwas geklärt zu haben.“ Unausgesprochen ist darin die Botschaft enthalten: „Das solltest Du auch tun.“ Sein Engagement kommentiert Behrendt an anderer Stelle mit den Worten: „Es ist doch egoistisch, sich mitsamt seinen Organen verbuddeln zu lassen, bensschutzes, das in diesem Aufsatz deutlich werden soll, ändert sich dadurch aber nichts Wesentliches. 3  Auch diese Frage wurde allerdings im Gesetzgebungsverfahren durchaus kontrovers diskutiert, so gab es auch Befürworter von gewissen Sanktionen. 4  „Ziel des Gesetzes ist es, die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland zu fördern. Hierzu soll jede Bürgerin und jeder Bürger regelmäßig im Leben in die Lage versetzt werden, sich mit der Frage seiner eigenen Spendebereitschaft ernsthaft zu befassen und aufgefordert werden, die jeweilige Erklärung auch zu dokumentieren.“ (§ 1 TPG)



Aufklärung „postmortaler“ Organspender

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mit denen andere noch unbeschwert leben könnten.“5 Wer möchte nicht anderen Menschen helfen, zumal mit so geringem Aufwand? Es gibt wohl nur wenige Menschen, die so kaltherzig sein können. Was gibt es da noch zu überlegen und zu entscheiden? Wer doch überlegt und sich nicht entscheiden kann, gilt entweder als uninformiert oder als hartherzig und gleichgültig gegenüber dem Leid seiner Mitmenschen. Wie steht es vor diesem Hintergrund mit der Entscheidungsfreiheit? „Niemand bekennt sich gerne (halb-)öffentlich zu einer Haltung, die im öffentlichen Diskurs als unmoralisch, unsolidarisch oder unaufgeklärt dargestellt wird“6, so stellt Weyma Lübbe in ihrer Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens fest. Offener und ehrlicher sind demgegenüber Positionen, die explizit damit argumentieren, dass es ethisch zu rechtfertigen sei, unter bestimmten Umständen, wenn es um den Schutz von Leben und Gesundheit Dritter gehe, das Recht des Einzelnen auf Selbstbestimmung einzuschränken. Bemerkenswerterweise argumentieren christlich-kirchliche Stellungnahmen in dieser Hinsicht, anders als in anderen Bereichen der Medizinethik, ganz ähnlich wie säkular-liberale Positionen. 1990 appellierten die Evangelische und die Katholische Kirche in einer gemeinsamen Erklärung zur Organtransplantation an „die Möglichkeit, über den Tod hinaus sein Leben für den Nächsten hinzugeben“7. Zwar wird auf die Freiwilligkeit der Spende Wert gelegt, ebenso auf respektvollen Umgang mit dem Leichnam, zugleich aber heißt es unmissverständlich: „Den Interessen des Organempfängers am Weiterleben und erst recht am Überleben ist, bei allem Respekt vor dem fortwirkenden Persönlichkeitsrecht des Toten, Vorrang einzuräumen.“8 Unter Umständen könne daher ein Eingriff in das Persönlichkeitsrecht durch einen „Notstand“ gerechtfertigt werden. Auch das „Recht auf Integrität des Leichnams“ besäße „keine absolute Gültigkeit“; es könne „zurücktreten hinter der Solidarität mit einem schwerkranken oder gar vom Tod bedrohten Mitmenschen“9. Der Nationale Ethikrat, Vorläufer des heutigen Deutschen Ethikrates, sprach sich 2007 in der Stellungnahme Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland für die Widerspruchslösung aus. Im Fall der Widerspruchslösung soll die Zustimmung unterstellt werden können, solange nicht aus5  Kolhoff. 6  Lübbe,

S. 2. Bischofskonferenz/Rat der EKD, S.  1 f. 8  Ebd., S. 11. 9  Ebd. 7  Deutsche

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drücklich widersprochen wird, obwohl das Ausbleiben des Widerspruchs oft wahrscheinlich auf Unkenntnis oder mangelnder Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit der Thematik beruht, nicht aber auf informierter, autonomer Zustimmung zur Organspende. In der Stellungnahme wird sogar zugestanden, dass es sich bei der Widerspruchslösung um einen „Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht“ und „in die körperliche Integrität des Verstorbenen“ handele; dieser Eingriff werde jedoch „durch die höherwertigen Rechtsgüter der Erhaltung des Lebens und der Gesundheit von Patienten gerechtfertigt“10. Für den Fall der Widerspruchslösung ist auch zu bedenken, dass der Druck zur Information und Auseinandersetzung über das Thema im Grunde wegfällt, dass also nicht einmal ein Anreiz dafür besteht, für die Organspende zu werben, sondern eher ein Anreiz, möglichst wenig darüber öffentlich verlauten zu lassen, damit niemand zum Widerspruch animiert wird. Denn allzu wahrheitsgetreue, detaillierte Schilderungen des tatsächlichen Ablaufs von Hirntoddiagnosen und Organexplantationen und der damit verbundenen Probleme – etwa für Angehörige oder Pflegende, die mit dem Hirntoten einen noch atmenden und lebendig aussehenden angeblichen Leichnam vor sich haben, nicht in Ruhe Abschied nehmen können usw. – könnten abschreckend wirken.11 Diese Vorrangstellung des Lebens- und Gesundheitsschutzes gegenüber der Freiheit und Autonomie des Patienten ist keineswegs eine Besonderheit der Organspendepraxis. Eine ähnliche Relativierung des Selbstbestimmungsrechtes – und damit des Rechtes auf bzw. der Pflicht zur Aufklärung – findet sich in der medizinischen Forschung, wo es bei der Teilnahme von Patienten an medizinischen Studien ebenfalls um das Leben und die Gesundheit Dritter geht, aber auch in anderen Bereichen der Medizinethik, wo für diese Relativierung paternalistisch mit dem Leben und Wohl des Patienten argumentiert wird. Diese allgemeine, aus meiner Sicht ethisch höchst fragwürdige Tendenz zur Einschränkung der Autonomie zugunsten des Lebensschutzes in der Medizinethik möchte ich zunächst (II.) genauer aufzeigen. Im Anschluss daran mache ich (III.) deutlich, dass und wie diese Tendenz angelegt ist in dem kritikbedürftigen utilitaristisch-liberalistischen Verständnis von Freiheit bzw. Selbstbestimmung bei John Stuart Mill, und stelle dieser Konzeption als vorzuziehende Alternative das umfassendere und adäquatere Kantische Verständnis von Autonomie gegenüber. Um die Kantische Position besser verständlich zu machen und zu stärken, mache ich in einem weiteren Schritt (IV.), anknüpfend an Hannah Arendt, deutlich, dass die Relativierung der Autonomie und die unzureichende Aufklärung 10  Nationaler

Ethikrat, S. 47. hierzu Baureithel/Bergmann; Bergmann (III.3); Hiemetzberger; Kalitzkus, Leben durch den Tod; dies., Dein Tod, mein Leben; Striebel/Link. 11  Vgl.



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potentieller Organspender eine Geringschätzung und Missachtung dessen impliziert, was den Menschen zum Menschen macht: das Sprechen und Handeln. Abschließend zeige ich (V.) die Konsequenzen auf, die aus meiner Sicht aus den vorangegangenen Analysen für die moralische Beurteilung, rechtliche Regelung und humane Gestaltung der „postmortalen“ Organspendepraxis zu ziehen sind. II. Relativierung der Autonomie zugunsten des Lebensschutzes in der Medizinethik Aufklärung und Information der Patienten gewannen nach dem Zweiten Weltkrieg in Form der rechtlichen Forderung des Informed Consent besondere Bedeutung vor dem Hintergrund des Missbrauchs der Medizin im Nationalsozialismus durch lebensgefährliche, gesundheitsschädliche Humanexperimente, die ohne freiwillige Zustimmung der Probanden erfolgten und auch nach dem Krieg noch praktiziert wurden.12 Man nahm an, niemand würde sich freiwillig einer solchen Gefährdung des eigenen Lebens unterziehen. Hauptgrund für die Einführung des Informed Consent war also der Schutz von Patienten und Probanden vor gesundheitlichen Schäden und Risiken. „Particularly in early writings, informed consent is treated as a means of minimizing risk of harm to subjects“13, so Ruth Faden und Tom L. Beauchamp in ihrem Buch über die Geschichte und Theorie des Inform­ed Consent. Erst im Zusammenhang mit der Kritik des ärztlichen Paternalismus, der sich allein auf die Prinzipien des Nicht-Schadens und der Fürsorge gründet, gewinnt das Prinzip der Achtung der Autonomie in der Medizinethik an Bedeutung. Faden und Beauchamp kritisieren „beneficence based justifications of the consent requirement“14 und gründen die Forderung des Informed Consent auf das Prinzip des Respect for Autonomy, das sie als eigenständiges Prinzip verstehen. Die Forderung, Patienten oder Probanden über ihre Krankheiten, mögliche Therapien und die Teilnahme an Studien hinreichend zu informieren und nicht ohne ihre Zustimmung tätig zu werden, gründe sich auf ihr Recht, als autonome Personen geachtet zu werden, und nicht lediglich auf die Fürsorge für ihr Leben und ihr Wohl.15 Beauchamp und Childress verstehen allerdings die medizinethischen Prinzipien generell als nicht unbedingt, sondern nur prima facie gültig. Das 12  Das

wurde für die USA vor allem von Henry Beecher aufgedeckt. S. 222.

13  Faden/Beauchamp, 14  Ebd. 15  Vgl.

auch Beauchamp/Childress, S.  103 ff.

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bedeutet, dass sie gegen die anderen Prinzipien abgewogen, durch diese unter bestimmten Umständen eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt werden können.16 Das ist zum Beispiel auch dann möglich, wenn eine Verletzung des Autonomieprinzips, etwa durch ein Vorenthalten relevanter Informationen oder sogar durch eine Lüge, für den Patienten einen bedeutenden Vorteil oder Nutzen („a major benefit“) bringt, sodass sie unter Rekurs auf das Prinzip der Fürsorge gerechtfertigt werden kann. Ein Patient hat nur dann die Freiheit, für sein Leben und seine Gesundheit riskante Entscheidungen zu treffen, wenn zum einen gesichert ist, dass seine Entscheidung hinreichend autonom bzw. „kompetent“ ist, und wenn zum anderen das Risiko nicht allzu hoch ist.17 Der alte ärztliche Paternalismus bleibt so erheblich weitgehender erhalten als es auf den ersten Blick aussieht. Auch wenn es um das Leben und die Gesundheit Dritter geht, halten viele Medizinethiker eine solche Relativierung des Autonomieprinzips unter bestimmten Umständen für gerechtfertigt. Wenn die Teilnahme an einer Studie für den Probanden so gut wie ohne Risiko für Leib und Leben, aber für den medizinischen Fortschritt und die Lebensrettung zukünftiger Patienten als höchst erfolgsversprechend erscheint, sollte es dann nicht gerechtfertigt sein, die Anforderungen an Prozeduren des Informed Consent zu reduzieren – zumal dann, wenn diese Anforderungen die Forschung behindern und verzögern?18 In vergleichbarer Weise nutzenorientiert argumentieren auch Beauchamp und Childress im Fall der rechtlichen Regelung der Or­ gantransplantation für die Widerspruchslösung, die bei jedem Einzelnen, der nicht explizit widersprochen habe, eine mutmaßliche Zustimmung („presum­ed consent“) annimmt. Angesichts des „tremendous gap between the number of organs donated each year and the number of patients await­ ing a transplant“ sei eine solche Einschränkung des Selbstbestimmungsrechtes ethisch gerechtfertigt.19 16  Ebd.,

S.  14 ff. die Bindung der Achtung der Autonomie an mentale Fähigkeiten, an die so genannte Kompetenz, ein verkappter, kritikbedürftiger Paternalismus ist, habe ich an anderer Stelle ausführlicher gezeigt. Vgl. Rehbock, Personsein in Grenzsituationen, Kap. X; Rehbock, Wie kann ich wissen, was du willst? 18  Im Juni 2010 fand in Uppsala eine Konferenz statt mit dem Titel „Is Medical Ethics Really in the Best Interest of the Patient?“. Ein besonders provokativer Beitrag von Simon Whitney rechnete vor, wie viele Menschenleben die Behinderung und Verzögerung der Forschung durch die erforderlichen Prüfverfahren von Ethikkommissionen gekostet hätten. Vgl. http://www.crb.uu.se/symposia/2010/ (letzter Zugriff: 01.10.2016) und Hansson/Chadwick, S. 368 f. Zum Gedanken der Risikoabhängigkeit der Notwendigkeit „for robust informed consent“ mit Hinweisen auf die einschlägige Literatur vgl. auch Eyal, S. 33. 19  Dass Beauchamp und Childress dennoch nicht für die Einführung der Widerspruchslösung plädieren, hat rein pragmatische Gründe: Sie glauben nicht, dass diese 17  Dass



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Ein weiterer Grund für die Relativierung des Autonomieprinzips im Fall der „postmortalen“ Organspende besteht darin, dass Hirntote per definitionem als tot gelten und gemäß einer verbreiteten Auffassung Toten nicht der gleiche moralische und rechtliche Status zuzuerkennen ist wie den Lebenden. Dieter Birnbacher zufolge findet mit dem Tod „ein radikaler ontologischer Absturz“ statt: „der irreversible Übergang von der Person zur Sache“20. „Der Leichnam“, so Johann S. Ach, Michael Anderheiden und Michael Quante, sei „kein Mitglied der Spezies Mensch mehr und damit strenggenommen auch nicht mehr durch die Menschenwürde geschützt“21. Zwar gäbe es über den Tod hinausreichende posthumous interests der ehemals lebenden Personen, sie könnten jedoch nicht das gleiche Gewicht haben wie die auf etwas im Leben bezogenen Interessen. Aus Sicht dieser drei Autoren sind zwar die „Interessen der verstorbenen Person“ zu berücksichtigen, die Interessen der Angehörigen, die die Explantation erleben müssen, seien aber zumindest ebenso wichtig; und vor allem „die vitalen Interessen“ der Organempfängerin, deren Leben mithilfe der Organe gerettet werden kann, müssten „als die prima facie gewichtigsten Interessen in das Abwägungskalkül eingehen“22. Gegen diese Auffassung, die den Toten den moralischen und rechtlichen Status der Person und damit den (vollen) Anspruch auf Achtung ihrer Würde, ihrer Autonomie und ihrer Rechte abspricht, habe ich bereits an anderer Stelle ausführlich argumentiert.23 In diesem Beitrag möchte ich diese Argumentation weiterführen und durch eine Klärung des Autonomiebegriffs und der daraus folgenden Konsequenzen für die Praxis der Aufklärung über die „postmortale“ Organtransplantation stärken. Zunächst ist zu zeigen, dass und warum das in der Medizinethik John Stuart Mill folgende Standardverständnis von Autonomie als individuelle Selbstbestimmung unzureichend und durch das adäquatere Kantische Verständnis von Autonomie zu ersetzen ist.

Regelung in den USA akzeptiert würde, und wenn sie doch akzeptiert würde, würde sie aufgrund zu hoher Ablehnungsquoten nicht das Ziel einer Erhöhung der Zahl von Spenderorganen bewirken. 20  Birnbacher, S. 81. 21  Ach/Anderheiden/Quante, S. 70. 22  Ebd., S. 57. 23  Vgl. Rehbock, Personsein in Grenzsituationen; Rehbock, Person über den Tod hinaus?; Rehbock, Person oder Sache?

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III. Unbedingte moralische Autonomie versus bedingte individuelle Selbstbestimmung: Kant versus Mill John Stuart Mill verteidigt die individuelle Freiheit oder Selbstbestimmung so vehement gegen jede paternalistische Fremdbestimmung durch den Staat oder die Gesellschaft, weil er von ihrem hohen Wert und Nutzen sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft überzeugt ist. Sie ist für ihn das am besten geeignete Mittel zur Verwirklichung des individuellen Glücks und allgemeinen Wohlergehens: „Each ist the proper guardian of his own health, whether bodily, or mental or spiritual.“24 Darin äußert sich Mills utilitaristische und somit konsequentialistische Begründung der Freiheit. Um seinen antipaternalistischen Grundsatz – dass Einschränkungen der Freiheit nur zum Schutz Dritter, nicht aber aus Fürsorge für das Wohl dessen, der diese Einschränkung erleidet, erfolgen dürfen – zu begründen, mache er, so Mill, nicht von der Idee eines abstrakten Rechtes Gebrauch, das von der Nützlichkeit unabhängig sei. Nützlichkeit im weitesten Sinne sei vielmehr „the ultimate appeal on all ethical questions“25. Dieser Begründungsansatz impliziert diverse mögliche Ansätze zur Einschränkung der Freiheit des Einzelnen um des Nutzens willen. Das gilt, wie die folgenden zwei Beispiele bei Mill zeigen, sowohl erstens für die individuelle Entscheidungsfreiheit in persönlichen Angelegenheiten als auch zweitens für die moralische Urteils- und Handlungsfreiheit im Sinne individueller Verantwortung. Erstens: Indem Mill seinen antipaternalistischen Grundsatz auf Menschen mit völlig ausgereiften Fähigkeiten („human beings in the maturity of their faculties“26) einschränkt, sind Kinder und rechtlich noch unmündige Jugendliche ebenso ausgeschlossen wie Völker, die in ihrer Entwicklung noch zurückgeblieben seien. Da sie über die Fähigkeit zum Gebrauch der Freiheit nicht (ausreichend) verfügten, könnten sie also davon nicht profitieren, so Mills These. Sie seien daher vor den schädlichen Folgen ihres eigenen Wollens und Handelns zu schützen. Wenn der Gebrauch der Freiheit zum Nutzen für das Wohl des Einzelnen und der Gesellschaft sein soll, dann findet er da seine Grenzen, wo dieser Nutzen nicht mehr gewährleistet ist. Doch wo genau ist diese Grenze zu ziehen, und anhand welcher Kriterien? Diese im Grunde unlösbare Frage beschäftigt die medizinethische Diskussion über Autonomie und informed consent bis heute. Der Denkansatz ist im Grunde sehr paternalistisch, sofern im Zweifelsfall das externe Urteil 24  Mill,

S. 42. S. 36. 26  Ebd., S. 34. 25  Ebd.,



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über Nutzen oder Schaden der individuellen Entscheidung oder Handlung Vorrang hat gegenüber der Gewährung der Freiheit.27 Zweitens: Eingriffe in die Freiheit durch soziale oder staatliche Sanktionen sind, wie gesagt, aus Mills Sicht dann zu rechtfertigen, wenn die Freiheit missbraucht wird, um anderen Menschen zu schaden. Dies könne, wie er betont, nicht nur durch aktives Handeln geschehen, sondern auch durch ein Unterlassen von „many positive acts for the benefit of others, which he may rightfully be compelled to perform“28. Neben der Verpflichtung zu Zeugenaussagen vor Gericht oder der Landesverteidigung gehören dazu, Mill zufolge, auch „certain acts of individual beneficence, such as saving a fellow-creature’s life“29. Das seien Handlungen, wozu der Mensch jedem anderen Menschen gegenüber verpflichtet sei und für deren Unterlassung er mit Recht durch die Gesellschaft verantwortlich gemacht werden könne, wenngleich man mit dem Zwang in diesem Fall etwas vorsichtiger sein müsse. Mill verfügt aber über keine prinzipielle Unterscheidung zwischen Handeln und unterlassener Hilfeleistung. Im Grunde scheint es sich eher um 27  Ich stimme Thomas Gutmann zu, wenn er, ebenfalls mit Bezug auf Mill, feststellt: „Die konsequentialistische Ethik birgt ein massives paternalistisches Potential und verfügt nicht über theorieinterne Mittel dazu, es angemessen zu begrenzen“ (Gutmann, S. 47). Doch auch seinen eigenen, alternativen Grundsatz, dass „paternalistische Eingriffe a) grundsätzlich problematisch, d. h. begründungsbedürftig“ und „b) begrenzt sein“ (ebd., S. 3) müssen, halte ich für zu wenig antipaternalistisch. Denn es bleibt unklar, worin genau paternalistische Eingriffe, die sich rechtfertigen lassen, bestehen und wodurch sie begründet werden können, wenn dies nicht (allein) unter Rekurs auf das Wohl des Betroffenen und somit paternalistisch geschehen soll. Mein Vorschlag lautet in Kürze: Paternalistische Eingriffe sind nur zu rechtfertigen, wenn sie sich gegen vom Betreffenden geäußerte Wünsche, Präferenzen, Willensbekundungen wenden, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit dem tatsächlichen Willen übereinstimmen, und wenn die Freiheit nur vorübergehend eingeschränkt wird, etwa durch das Vorenthalten von für eine Entscheidung notwendigen Informationen, um einen für deren Verständnis günstigeren Zeitpunkt abzuwarten. Solche Eingriffe lassen sich prinzipiell nur rechtfertigen, wenn mit guten Gründen damit zu rechnen ist, dass der Betreffende nachträglich oder mutmaßlich solchen Eingriffen zustimmen wird und mit ihnen einverstanden sein kann; dass sie also letztlich seinem Willen entsprechen, sodass sie nicht paternalistisch sind. Das heißt: nicht im Sinne eines Handelns gegen den Willen des Anderen. Oder es kann sein, dass man diese Sicherheit nicht hat und sich in einem unlösbaren Dilemma befindet, wofür es überhaupt keine Rechtfertigungen oder allgemeinen Regelungen geben kann. Paternalismus im strengen Sinne – als ein Handeln gegen den Willen des Anderen – ist gemäß dieser These unter allen Umständen falsch, der Wille oder die Autonomie und damit die Würde des Anderen ist immer und überall die das Handeln unbedingt orientierende ethische Leitlinie. Zur ausführlichen Begründung dieser Position vgl. Rehbock, Personsein in Grenzsituationen, Kap. X. 28  Mill, S. 38. 29  Ebd.

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eine graduelle Differenzierung zu handeln, sodass im allgemeinen Unterlassungen, zum Beispiel einer Lebensrettung, zwar etwas weniger schlimm und daher weniger scharf zu ahnden seien als aktive Handlungen, etwa einer Tötung, aber nicht kategorisch anders einzuordnen und zu beurteilen sind. Ähnlich wie konsequentialistisch argumentierende Ethiker der Gegenwart ist auch Mill der Auffassung, dass die Unterlassung einer Handlung moralisch gesehen prinzipiell ebenso schlecht (oder gut) sein könne wie das aktive Handeln: „A person may cause evil to others not only by his actions but by his inaction, and in either case he is justly accountable to them for the injury.“30 In dieser Weise moralischer Fremdbestimmung argumentieren heute liberale Bioethiker ebenso wie Vertreter der Kirche, wenn sie die mangelnde Bereitschaft zur „postmortalen“ Organspende im Sinne unterlassener Hilfeleistung und Nächstenliebe interpretieren, die eine Einschränkung der individuellen Entscheidungsfreiheit rechtfertigen könne. Der individuellen moralischen Autonomie, Verantwortung und Urteilskraft wird damit ein nur geringer Stellenwert zuerkannt. Betrachten wir demgegenüber das Verständnis der Freiheit und der Autonomie bei Kant, so ist zunächst festzustellen, dass Kant, im Namen individueller Freiheit des Strebens nach dem je eigenen Glück, eine ähnlich paternalismuskritische Position vertritt wie Mill, wenn er schreibt: „Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, […] nicht Abbruch tut.“31 „Ich kann niemand nach meinem Begriff von Glückseligkeit wohltun (außer unmündigen Kindern oder Gestörten), sondern nach jenes seinen Begriffen, dem ich eine Wohltat zu erweisen gedenke.“32

Im Hinblick auf die Einschränkung der Freiheit im Fall eingeschränkter Urteils- und Entscheidungsfähigkeit, etwa bei Kindern oder psychisch Kranken, ist offenbar auch Kant nicht der Auffassung, dass man ihnen ihre Wünsche, Neigungen, Vorlieben uneingeschränkt erfüllen, ihnen keine Grenzen setzen und keinen Widerstand leisten sollte. Liest man jedoch genauer, fällt ein entscheidender Unterschied auf. Nach Kant ist eine Einschränkung der Freiheit des Einzelnen nur gerechtfertigt, wenn dieser die Freiheit anderer bedroht, während Mill die Einschränkung der Freiheit im Falle eines Schadens für andere als notwendig ansieht. Kant 30  Ebd.

31  Kant, 32  Kant,

Über den Gemeinspruch, S. 290. Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 454.



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gründet sowohl die Achtung der Freiheit als auch ihre Einschränkung nicht auf irgendeinen Nutzen, im Sinne des Wohlergehens, sondern allein auf die Freiheit – im negativen Sinne der „Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür“ – als dem „einzigen, ursprünglichen, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehenden Recht“33. Das ist eine unabhängig vom Nutzen zugängliche Quelle der Begründung, die Mill ausdrücklich ablehnt. Ein Eingriff in oder Angriff auf die Freiheit, der nicht rechtmäßig um der Freiheit anderer willen erfolgt, ist aus Kantischer Sicht unzulässig und strafbar, nicht lediglich aufgrund des daraus resultierenden Schadens, sondern aufgrund des dadurch geschehenden Unrechts. Auch das paternalistische Eingreifen in die Freiheit von „unmündigen Kindern oder Gestörten“ lässt sich auf dieser Grundlage anders begründen. Dieses Eingreifen geschieht aus der Kantischen Sicht, wie ich sie verstehe und rekonstruiere, nicht lediglich zu ihrem Nutzen und Wohl, das der Erwachsene oder geistig Gesunde besser zu kennen meint als das Kind oder der Kranke, sondern um ihrer Freiheit willen, worauf auch das paternalistische Handeln als höchstem Maßstab bezogen bleiben muss. Von daher ist es auch klarer zu begrenzen. Wenn die Freiheit nicht lediglich als Voraussetzung oder Bestandteil des Wohlergehens verstanden wird, sondern als ein unbedingt geltendes Recht des Menschen, und wenn ein Eingriff in die Freiheit nur um der Freiheit willen, nicht lediglich um des Nutzens willen, erfolgen kann, dann sind solche Eingriffe erheblich schwerer zu rechtfertigen und leichter einzuschränken. Auch die paternalistische Bevormundung durch staatliche Gesetze – wenn der Staat dem Einzelnen vorschreibt, was für ihn nützlich oder schädlich ist, und ihn dementsprechend zum Handeln zwingt – ist Kant zufolge nicht lediglich als hinderlich oder schädlich für das allgemeine Wohlergehen anzusehen, sondern als ein Unrecht; dabei handle es sich sogar, wie Kant sagt, um den „größten denkbaren Despotismus“34. Kant geht zudem noch weiter, wenn er sagt, dass der Staat mittels rechtlicher Sanktionen zwar die „Befugnis zu zwingen“35 habe, dass dieser 33  Kant,

Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 237. Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaftig nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatsoberhaupts, und […] bloß von seiner Gütigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus (Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen aufhebt).“ (Kant, Über den Gemeinspruch, S. 290 f.) 35  Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 231. 34  „Eine

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Zwang aber nur äußerlich sein dürfe, indem er die Handlungsfreiheit einschränke. Die moralische Besserung und Gesinnung des Täters muss der Staat durch eine gerechte Strafe zwar ermöglichen, indem der Täter durch die Strafe das Unrecht seiner Tat einsehen kann, er darf sie durch eine ungerechte Strafe nicht verhindern; der Staat kann und darf diese Besserung und Gesinnung aber nicht zu erzwingen versuchen. Die moralisch gute Gesinnung sei zwar eine wünschenswerte und zu erhoffende Folge der Strafe, nicht aber deren eigentlicher Zweck, wie Kant gegen Theorien einwendet, die die Prävention zukünftiger Verbrechen durch Abschreckung oder Besserung für den einzigen Zweck der Strafe halten.36 Diese Differenzierung zwischen äußerer und innerer Freiheit, die bei Mill so nicht zu finden ist, ist Kant möglich durch seine Differenzierung zwischen der Willkür, die sich nur am je eigenen individuellen Glück orientiert und als solche nicht eigentlich frei, weil abhängig von den je eigenen Bedürfnissen, Wünschen oder Neigungen ist, und dem Willen, der als „freie Willkür“ auch die Freiheit von sich selbst,37 das heißt von den eigenen Bedürfnissen, Wünschen, Neigungen usf., einschließt. Diese innere Freiheit ist notwendige Bedingung der positiven Freiheit im Sinne der moralischen Autonomie ist. Sie besteht in dem Vermögen, nicht nur in Orientierung am je eigenen Interesse, Vorteil und Glück zu handeln, sondern aufgrund eigener vernünftiger Einsicht in einer transsubjektiven Perspektive, in der es dem Handelnden um eine für alle, das heißt, für sich und alle anderen, gute Praxis geht. Notwendige Bedingung einer guten Praxis ist es, jeden anderen, ebenso wie sich selbst, in seiner Freiheit und Autonomie zu achten, sowie im Rahmen der dadurch gesetzten moralischen und rechtlichen Grenzen und der je eigenen Möglichkeiten für das Wohl jedes anderen, ebenso wie für das eigene Wohl und Glück, zu sorgen. Die staatliche „Befugnis zu zwingen“ wird damit auf zweifache Weise begrenzt. Zum einen darf staatlicher Zwang nur äußerlich die Handlungsfreiheit einschränken, zum anderen darf er, als „Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit“38, nur um der Freiheit der anderen willen geschehen. Das heißt aus Kantischer Sicht, dass staatlicher Zwang auf Unrecht zu beschränken ist – im Sinne der Verletzung von Rechtspflichten, wodurch der Rechtsbrecher durch aktives Handeln und Eingreifen in die Freiheit der anderen eben diese Freiheit bedroht. Der Staat darf also den Einzelnen nur dazu zwingen, eben dieses nicht zu tun; er darf ihn aber nicht zur Erfüllung darüber hinaus gehender Tugendpflichten in Form „praktischer Liebe“, Hilfe oder Unterstützung für andere zwingen, so fundamental und konstitutiv sie, Rehbock, Freiheit, Autonomie und Menschenwürde des Straftäters. S. 128. 38  Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 231. 36  Vgl.

37  Kambartel,



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Kants Moralphilosophie und Tugendlehre zufolge, für eine moralische Kultur auch sein mögen. Die beiden Arten von moralischen Verpflichtungen der Gerechtigkeit und der Menschenliebe, wie sie klassischerweise bezeichnet werden, sind gleichermaßen grundlegend und notwendig für die moralische Kultur. Als vollkommene und unvollkommene Pflichten sind sie aber nach Kant kategorisch voneinander zu unterscheiden. Worin vollkommene Pflichten bestehen, ist sehr genau und eindeutig bestimmbar, ihre Verletzung ist in gravierenden Fällen wie Mord, Diebstahl oder Betrug strafrechtlich relevant und sanktionierbar. Unvollkommene Pflichten der Hilfe und Unterstützung für andere in Notlagen hingegen sind in ihrem Inhalt und ihrer Reichweite nicht genau bestimmbar. Wie weit ich in meinen Anstrengungen gehe, um für das gute Leben anderer bzw. für das gemeinsame gute Leben und allgemeine Wohl zu sorgen, liegt angesichts der jeweiligen situativen und individuellen Lebensumstände, Möglichkeiten usw. in meinem eigenen Ermessen. Aufgrund dessen bedarf es für die Erfüllung unvollkommener Hilfspflichten in besonderem Maße nicht nur der Autonomie, sondern auch der Urteilskraft, die sich, Kant zufolge, nicht allgemein regulieren und erlernen lässt. Sie ist vielmehr in immer neuen Situationen immer neu zu üben und praktizieren. Während im Recht, insbesondere im Strafrecht, der Spielraum für die Auslegung der allgemeinen Gesetze angesichts individueller Gegebenheiten mittels der Urteilskraft besonders gering und eng begrenzt ist, ist diese Freiheit der Beurteilung des Einzelfalls im Lichte allgemeiner moralischer Grundsätze im Gebiet der Hilfe und Unterstützung für andere Menschen in Notlagen in besonders hohem Maße gefragt. Im Blick auf die „Organspende“ sind daher die spezifischen Umstände dieser Form der Hilfe besonders zu berücksichtigen, statt ganz abstrakt diese Art der Hilfe und Lebensrettung mit herkömmlichen Formen dieser Hilfe gleichzusetzen und unmittelbar an das Mitgefühl zu apellieren. Aus diesem Grund ist die Aufklärung über die spezifischen Umstände der Transplantationspraxis zwecks Ermöglichung des eigenen Urteils und der freien, verantwortlichen Entscheidung für oder gegen diese Art der Hilfe von ganz besonderer Bedeutung. Die Autonomie im Kantischen Sinne schließt also einerseits die Beschränkung der individuellen Selbstbestimmung im Sinne von Selbstbeschränkung oder „Selbstzwang“ ein. Eben damit aber wird diese Beschränkung nicht als eine äußerliche gedacht, sondern als eine durch eigene Vernunft und Einsicht selbst vollzogene. Das moralische Urteil kann dem Urteilenden, anders als etwa in technischen Fragen, nicht von anderen, etwa von „Experten“ der Ethik, abgenommen werden. Er muss es selbst auf der Grundlage des ihm zur Verfügung stehenden Wissens vollziehen, weshalb die für dieses Wissen sorgende Aufklärung für das moralische Urteil so

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besonders wichtig ist. Gemäß dem Sinn, den Kant dem Begriff der Aufklärung verliehen hat, kann sie, sofern sie durch andere erfolgt, nur darin bestehen, es dem Anderen zu ermöglichen, dass er sich selbst aufklärt. Wie schon in Bezug auf das Thema Strafe zum Ausdruck gebracht, werden dadurch dem von außen zulässigen und notwendigen Zwang zusätzliche Grenzen gesetzt. Nicht nur zu meinem eigenen Wohl darf der Staat nicht in meine Freiheit eingreifen, auch zu einer moralischen Gesinnung oder Haltung kann und darf er nicht zu zwingen versuchen. Ausschließlich das äußere Handeln darf er in Fällen einer gravierenden Verletzung vollkommener Pflichten, die zugleich Rechtspflichten sind, und nur in extremen Fällen der Verletzung unvollkommener Pflichten, etwa im Fall unterlassener Hilfeleistung durch Ärzte, mit Hilfe von Zwangsmaßnahmen begrenzen oder verhindern.39 Vor allem aber stellt die Autonomie und die in der Autonomie gründende Würde des Menschen aus Kantischer Sicht eine Grenze für das Handeln dar, die unter keinen Umständen verletzt werden darf, sondern unbedingt zu achten ist. Auch die durch die Strafe erfolgende äußere Einschränkung der Freiheit des Anderen ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie so beschaffen ist, dass sie die innere Freiheit und Autonomie des Straftäters respektiert, indem sie ihm die Einsicht in das Unrecht seiner Tat ermöglicht bzw. diese nicht verhindert, was zum Beispiel nur dann möglich ist, wenn die Strafe gerecht ist, statt nur zu Präventionszwecken zu erfolgen. Sogar schwerstes Unrecht also legitimiert nicht zur Missachtung der Würde und Autonomie. Das gilt erst recht für Menschen, die sich anderen Menschen gegenüber wenig hilfsbereit zeigen. Man kann, darf und sollte gegebenenfalls an ihre Hilfsbereitschaft appellieren, darf sie aber in keiner Weise dazu zwingen, nötigen, zu diesem Zweck manipulieren oder gar in ihre Freiheit und Selbstbestimmung eingreifen. Man ist vielmehr dazu verpflichtet, sie ganz besonders sorgfältig über alle für das eigene Handeln relevanten Umstände ohne Manipulationsversuche aufzuklären, um ihnen ein eigenes freies Urteil zu ermöglichen. Ebenso ist man aber auch verpflichtet, ihr Recht auf NichtWissen und Nicht-Beschäftigung mit dieser Frage zu respektieren. So wie ich schon im Fall materieller Spenden nicht in der Lage und nicht verpflichtet bin, jeder Art von Aufruf und moralischem Appell Gehör zu schenken und meine Aufmerksamkeit zu widmen, so gilt dies erst recht, wenn es um 39  Es mag zwar gute Gründe geben, auch um der Freiheit willen in bestimmten Fällen unterlassene Hilfeleistung – etwa durch Ärzte oder durch Eltern aufgrund ihrer besonderen Rolle und Verantwortung – als staatlich sanktionierbare Verletzung einer Rechtspflicht anzusehen. Die grundsätzliche Bedeutung der kategorialen Differenzierung zwischen beiden Arten von Pflichten wird aber dadurch nicht in Frage gestellt.



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den eigenen Körper bzw. Leib, um das eigene Leben und Sterben, und damit um das Persönlichste geht, das es überhaupt gibt. In dieser Hinsicht äußert sich Hans Jonas durchaus im Kantischen Sinne, wenn er sagt: „niemand hat ein Recht auf eines anderen Leib.“40 Es hat daher auch niemand eine Pflicht, anderen Menschen Teile des eigenen Leibes, und sei es zwecks Lebensrettung, zur Verfügung zu stellen. Die Freiheit und Autonomie des Menschen ist aus Kantischer Sicht, im Unterschied zu Mills Auffassung, also kein in Orientierung am Nutzen abwägbares Gut, sondern ein unbedingt zu achtendes moralisches Recht des Menschen, ganz unabhängig von irgendwelchen Nutzenerwägungen. Jeder Versuch einer Relativierung dieses Rechtes hat, konsequent zu Ende gedacht, den Verlust der Autonomie, und damit einen Verlust des eigentlich Menschlichen des Menschen und eine Inhumanisierung der menschlichen Praxis zur Folge. Dieses eigentlich Menschliche besteht, Hannah Arendt zufolge, im „Sprechen und Handeln“. IV. Sprechen und Handeln: Warum mangelnde Aufklärung eine Inhumanisierung der Praxis zur Folge hat Die Freiheit und Autonomie oder Selbstbestimmung des Einzelnen im anti-paternalistischen, subjektivistisch-liberalistischen Sinne – wie sie von Mill, weniger in dem Sinne, wie sie von Kant verstanden wird – gilt allgemein als eine besondere Errungenschaft der Moderne, die gegen die Fremdbestimmung durch Kirche, Staat und Tradition verteidigt werden musste. Hannah Arendt dagegen versteht die Freiheit im Kontrast dazu im transsubjektiven Kantischen Sinne als moralische Autonomie, sowie im politischen Sinne als ein positives Vermögen, die gemeinschaftliche Welt durch je eigenes Sprechen und Handeln auf einzigartige, durch andere unvertretbare Weise aktiv (mit) zu gestalten. Der Begriff der Autonomie ist so, bei Arendt wie bei Kant, untrennbar mit der Idee der Würde des Einzelnen verknüpft, gewinnt bei ihr aber darüber hinaus einen noch stärker auf die Gemeinschaft und Politik bezogenen Charakter. Damit schlägt sie einen Bogen zurück in die Antike, wo der politische Sinn der Freiheit im Vordergrund stand. Die so verstandene Freiheit ist, wie sie in meinen Augen überzeugend zeigt, im Kern keine Errungenschaft der Neuzeit oder Moderne, sondern antiken Ursprungs. Sie ist sogar im Gegenteil in der Neuzeit, Moderne und Gegenwart ganz besonders bedroht und gefährdet. In der Antike stand Freiheit nicht nur im Gegensatz zu Zwang und Gewalt, sondern in erster Linie im Gegensatz 40  Jonas,

S. 223.

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zur Fremdbestimmung durch die Notwendigkeiten des Lebens, von denen die Arbeit der unfreien Sklaven und Frauen im Haushalt bestimmt war. Politische Freiheit wurde also als Freiheit von diesen Lebensnotwendigkeiten und für ein freies, aktives Mitwirken am gemeinschaftlich-öffentlichen Leben der Polis verstanden. Das neuzeitliche Verständnis von Politik und Freiheit zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, dass Politik mehr und mehr zu einem Mittel der Sicherung nicht nur der Freiheit, sondern insbesondere der elementaren Bedürfnisse und Notwendigkeiten des Lebens geworden ist und dass Freiheit vorwiegend im Sinne der Freiheit des Individuums von der Politik, und von der Bedrohung durch die Gewalt des Staates verstanden wird. Das ist besonders deutlich bei Hobbes, Mill und anderen festzustellen, aber auch Kant ist nicht ganz frei davon. Die Unfreiheit, die in der Antike ein Kennzeichen des Haushaltes war, hat sich in der Neuzeit aus Arendts Sicht auf die Politik und Gesellschaft ausgebreitet, sodass die Freiheit mehr und mehr in Gegensatz zur Politik trat, während sie ursprünglich den Sinn des Politischen ausmachte.41 Die neuzeitliche Entwicklung bedrohe und ruiniere nicht nur „das spezifisch Politische“, sondern damit auch das spezifisch Menschliche; das, was den Menschen zum Menschen mache. Das ist für Arendt das sich in der Ausübung der politischen Freiheit manifestierende Sprechen und Handeln des Menschen, das sich als das eigentlich Menschliche vom Arbeiten und vom Herstellen unterscheide.42 Das den Lebensnotwendigkeiten unterworfene und auf das Konsumieren, auf das Verbrauchen von vergänglichen Dingen zielende Arbeiten sei die unfreiste der menschlichen Tätigkeiten, die am meisten durch die leiblich bedingte Abhängigkeit des Menschen von der Natur charakterisiert sei. Das Herstellen als das Produzieren von Dingen, die die Vergänglichkeit der Natur überdauern und eine auf Dauer, Tradition und Geschichte ausgerichtete menschliche Welt möglich machen, ermögliche ein größeres Maß an Freiheit gegenüber der Natur. Doch auch das Herstellen sei der Orientierung am Nutzen für die Erfüllung von Bedürfnissen, Wünschen und Interessen und damit der instrumentellen Zweck-MittelLogik unterworfen und somit, wie schon Kant es sah, durch eine nur relative Freiheit gekennzeichnet. Allein im Handeln und Sprechen, das eine Geschichte hervorbringe, manifestiere sich die Freiheit des Menschen im vollen Sinne als individuelle Person in ihrer Einzigartigkeit und Selbstzweckhaftigkeit, und damit in ihrer Würde als jemand im Unterschied zu etwas, als wer im Unterschied zum 41  Vgl.

Arendt, Was ist Politik?. Vita activa, besonders Kap. 5.

42  Arendt,



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was. Arendt versteht die Freiheit nicht in einem illusionären Sinne individualistisch als absolute Souveränität und Unabhängigkeit. Notwendige Bedingung ist vielmehr die Pluralität der Menschen, und damit die Gemeinsamkeit der Sprache und eine gemeinschaftliche, öffentliche Welt, in der die Menschen miteinander handeln und sich miteinander verständigen. Nur in diesem gemeinsamen „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“43 ist es den Einzelnen möglich, auf ihre unverwechselbare, individuelle Weise durch ihr Sprechen und Handeln (archein / agere) einen absoluten Anfang zu setzen und eine Geschichte zu beginnen, für deren Fortsetzung sie auf das Mithandeln (prattein / gerere) der anderen angewiesen seien, so wie andere für ihre Geschichte auf ihr Mithandeln angewiesen sind. Ohne die Pluralität der Menschen und ihrer unterschiedlichen Perspektiven im Kontext einer gemeinsamen Sprache und eines gemeinsam geteilten öffentlichen Raumes wäre den Einzelnen zudem, wie Arendt der Phänomenologie Husserls und Heideggers folgend klarmacht, gar kein Bezug zu einer von ihnen unabhängigen Wirklichkeit möglich: „Die Gegenwart anderer, die sehen, was wir sehen, und hören, was wir hören, versichert uns der Realität der Welt und unser selbst.“44 Die zunehmende Entwicklung des privaten Innenlebens sei, trotz der dadurch erfolgten Bereicherung, zugleich „auf Kosten des Vertrauens in die Wirklichkeit der Welt und der in ihr erscheinenden Menschen“ zustande gekommen.45 Vor diesem Hintergrund wird die, auch von Arendt hervorgehobene, besondere Bedeutung der Wahrhaftigkeit bzw. die besondere Gefahr der Lüge und der Täuschung für die Freiheit deutlich, die, wie schon Aristoteles zeigt, nicht nur durch äußeren Zwang und Gewalt, sondern auch durch einen Mangel an Wissen bedroht ist. Weil die Einzelnen keinen unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit haben, sondern nur vermittelt über die gemeinsame Sprache und leibliche Verfassung, und weil den Einzelnen immer nur ein winziger Teil der Wirklichkeit in eigener Anschauung und in einer begrenzten eigenen Perspektive zugänglich ist, sind wir für unsere Orientierung und unser Handeln in der Welt ständig und in jeder Hinsicht auf die Mitwirkung anderer, auf ihre andersartigen Perspektiven auf die Welt und dabei insbesondere auf ihre wahrhaftige Rede uns gegenüber angewiesen. Die härteste und unmittelbarste Form der Unwahrhaftigkeit ist die Lüge im Sinne der klassischen Definition als bewusste Falschaussage, verbunden mit der Absicht, die anderen über die wahren Verhältnisse zu täuschen. Die Lüge in diesem eng definierten Sinne ist nur möglich bezüglich eindeutiger Tatsachenwahrheiten. „Vorsätzliche Unwahrheit, die glatte Lüge“, so Arendt, 43  Arendt, 44  Ebd., 45  Ebd.

Vita activa, S. 225. S. 63.

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„spielt nur im Bereich faktischer Feststellungen eine Rolle.“46 Im Hinblick auf Tatsachenwahrheiten seien wir, so Arendt, besonders auf die anderen angewiesen, da Tatsachenaussagen nicht durch reines Denken zu überprüfen sind, wie etwa mathematische oder logische Aussagen, sondern nur durch die empirische Anschauung, die wir als Individuen, wie gesagt, immer nur von einem winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit haben können. Das meiste von der Welt wissen wir durch andere, indem wir uns auf ihre wahrhaftigen Auskünfte verlassen. Der Lügner hindert uns daran, so Harry Frankfurt, mit der Wirklichkeit in Kontakt zu treten: „Lies are designed to damage our grasp of reality.“47 Die einzelne Lüge mag für sich genommen nur eine kleine Erschütterung unseres Wirklichkeitsbezuges bedeuten. Wird aber das Lügen zu einer allgemeinen Praxis, wie es Arendts Analyse zufolge in totalitären Staaten der Fall ist, dann wird: „der menschliche Orientierungssinn im Bereich des Wirklichen, der ohne die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit nicht funktionieren kann, vernichtet […]. Konsequentes Lügen ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt den Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem der Mensch stehen könnte, zu errichten.“48

Noch gefährlicher aber wird die Unwahrhaftigkeit, wenn sie auf Selbsttäuschung, mangelnder Selbstkritik und einer Verwirrung in den Begriffen beruht. Damit ist die notwendige Voraussetzung oder Bedingung der Möglichkeit wahrer oder unwahrer Aussagen in Frage gestellt, die uns die Beziehung zur Wirklichkeit ermöglichen. Je mehr eine Verwirrung in den Begriffen um sich greift, desto mehr gewinnt die vermeintliche Wirklichkeit illusionären Charakter. Die allgemeine Praxis des Lügens, der Täuschung und der Selbsttäuschung, verbunden mit einem Mangel an Selbstkritik und Sprachkritik, ist in der Medizin besonders verbreitet. Hier geht es um die Beziehung nicht zur äußeren Wirklichkeit, sondern zur Wirklichkeit unseres eigenen Körpers, zu dem uns die Distanz fehlt, um ihn so objektiv untersuchen zu können, wie es für den Anderen, etwa für den Arzt, möglich ist. Wenn der Arzt uns sein Wissen über unseren eigenen Körper vorenthält oder uns sogar darüber täuscht, indem er lügt – das heißt: das Gegenteil dessen sagt, was er weiß – hindert er uns daran, mit uns selbst in Kontakt zu treten. Wir werden nicht nur von der Welt, sondern auch von uns selbst entfremdet und gehindert, auf der Basis der Tatsachen unser Leben in den für uns existenziellsten Angelegenheiten selbst zu bestimmen. Begründet wird dieses ärztliche Verhalten klassischer Weise durch ein „therapeutisches Privileg“, das heißt: 46  Arendt,

Wahrheit und Politik, S. 15. S. 78. 48  Arendt, Wahrheit und Politik, S. 52. 47  Frankfurt,



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unter Rekurs auf therapeutische Gründe und die ärztliche Verpflichtung der Fürsorge für das Wohl des Patienten.49 Betrachten wir die Praxis der „Organspende“, wo es um das Leben und die Gesundheit unbekannter Dritter geht, so ist die „Aufklärung“ hier weniger durch die glatte Lüge geprägt als vielmehr durch ein Verschweigen und Verschleiern von für eine aufgeklärte, autonome Entscheidung wesentlichen Umständen – etwa der Tatsache, dass der angeblich Tote unter intensivmedizinischen Bedingungen des Hirntodes sich für die unmittelbare Erfahrung gravierend von einem Leichnam im herkömmlichen Sinne unterscheidet. Insofern auch solche Formen der Täuschung unser Verhältnis zur Realität und unser Begreifen der Realität beschädigen, sind sie moralisch nicht weniger schlimm als die Lüge, wie zum Beispiel Bernard Williams gezeigt hat.50 Diese Formen der Täuschung sind zudem oft sehr viel schwerer zu durchschauen als eine simple Lüge. Sie erfolgen nicht durch die konsequente Praxis direkter und bewusster Falschaussage wider besseres Wissen; und auch nicht nur durch ein bewusstes Verschleiern der Tatsachen, sondern auch auf der Ebene der Sprache bzw. der Begriffe und ihrer Verwirrung. Das gilt, seit der Hirntod als hinreichendes Kriterium nicht nur für die Organentnahme, sondern auch für den Tod des Menschen bestimmt wurde, insbesondere für die Rede von der postmortalen Spende, von der Entnahme der Organe nach dem (angeblich) vollständigen Tod des Menschen. Damit wird suggeriert, man habe es zu diesem Zeitpunkt mit einem vollständig leblosen Leichnam im herkömmlichen Sinne zu tun. Solange jemand noch nicht direkt mit einem Hirntoten konfrontiert wurde, kommt er kaum auf die Idee, dass der angeblich Tote noch atmet, einen funktionierenden Kreislauf hat, sehr lebendig aussieht, zu körperlichen Reaktionen und reflexhaften leiblichen Bewegungen fähig ist, Krankheiten und Verletzungen bekämpfen kann, monatelang schwanger sein und ein Kind gebären kann usw. Und wer, etwa als Angehörige oder als Mitglied eines Pflege- oder Explantationsteams, doch direkt damit konfrontiert wird oder kritisch nachhakt, wird darüber „aufgeklärt“, dass diese Phänomene angeblich täuschenden Charakter hätten; der Hirntote sei, weil die lebensnotwendigen Hirnfunktionen irreversibel ausgefallen seien, in Wirklichkeit tot und erscheine nur als lebendig. Der Tod bekommt damit eine abstrakte Realität; man ist gezwungen, gegen die eigene Anschauung an die Autorität medizinischer Erklärungen zu 49  Zu diesem Problem der paternalistischen Lüge vgl. ausführlicher Rehbock, Aus Liebe lügen? 50  Anders als Williams bin ich aber nicht der Meinung, dass dadurch die traditionelle moralische Sonderstellung der Lüge als einer per se, dem Begriff nach moralisch schlechten Handlung, wie sie von Augustinus und Kant gesehen wurde, in Frage gestellt wird. Vgl. dazu Rehbock, Aus Liebe lügen?

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glauben. Anders als in anderen Fällen von Schein oder Täuschung ist in diesen Fällen aber gar nicht klar, worin die eigentliche, den Sinnen verborgene Wirklichkeit des Todes bestehen soll, wenn nicht in der unmittelbaren Erfahrung und Anschauung der leiblichen Realität des Toten, der keine der für Lebende typischen Lebensregungen mehr zeigt, wozu insbesondere das Atmen und der Herzschlag gehören, und der nicht mehr lebendig aussieht, sondern die bekannten sicheren Todeszeichen (Leichenstarre, Totenflecken usw.) zeigt. Es ist ziemlich gut zu verstehen, was es heißen kann, dass ein Mensch nur scheinbar tot ist; das ist zum Beispiel dadurch erfahrbar, dass er wiederbelebt werden kann. Was es aber heißen soll, dass ein Mensch nur scheinbar lebt, ist nicht in gleicher Weise, ja im Grunde überhaupt nicht zu verstehen. Die Tatsache, dass ein Sterbeprozess durch den unumkehrbaren Ausfall lebenswichtiger Organe (vermutlich) irreversibel ist, ist in keinem Fall – egal, ob es sich um Hirn, Herz oder Leber handelt – ein hinreichendes Kriterium für den Tod eines Menschen. Sie ist eine hinreichende Bedingung dafür, die Apparate abzustellen und damit den Menschen sterben zu lassen. Warum sollte der Ausfall des Gehirns eine Ausnahme bilden? Wenn das damit begründet wird, dass die Hirnfunktionen das mentale Leben eines Menschen und die Steuerung des Organismus ermöglichen, dann handelt es sich um eine abstrakt-theoretische Begründung. Sie widerspricht dem alltäglichen, in der menschlichen Erfahrung gegründeten Gebrauch der Begriffe Leben und Tod, demgemäß leibliche Phänomene wie das Atmen oder der Herzschlag als untrüglicher Ausdruck des Lebens verstanden werden. Daraus resultiert die bis heute hartnäckige Irritation, Verunsicherung und auch Empörung von Menschen, wenn ihnen die Diskrepanz zwischen theoretischer Erklärung und faktischer Erfahrung im Umgang mit Hirntoten zugemutet wird und sie nicht ohne weiteres bereit sind, gegen den unmittelbaren Augenschein an die Autorität medizinischer Erklärungen zu glauben. Es kann aber auch sein und ist wohl oft der Fall, dass diejenigen, die für die „Aufklärungskampagnen“ in den Medien, Krankenkassen, der Deutschen Stiftung für Organtransplantation (DSO) usw. zuständig sind, selbst an ihre „Botschaft“ glauben, die realen Verhältnisse – etwa der aggressiven Hirntoddiagnostik, der lebendigen Erscheinungsweise des Hirntoten und aufwendigen Praxis der Organentnahme – kaum aus eigener Anschauung kennen oder sie, motiviert durch Mitgefühl und den Wunsch nach Lebensrettung für die leidenden Organempfänger, verdrängen, und somit der Selbsttäuschung unterliegen. Ja, sogar im unmittelbaren Blick auf die realen Verhältnisse kann die Verblendung so weit gehen, dass man aufgrund vermeintlichen Wissens zu sehen meint, was man tatsächlich nicht sieht. Aufgrund der medizinischen Bestimmung des Hirntodes als Tod des Menschen meint man, einen toten Menschen zu sehen, obwohl dieser Tote tatsächlich sehr lebendig aussieht.



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Hannah Arendt zufolge ist „die Selbsttäuschung die gefährlichste Form des Lügens, und zwar sowohl für die Welt als auch für den Lügner“51; denn sie ist am schwersten durchschaubar, weil der sich selbst täuschende Lügner viel eher den Eindruck der Glaubwürdigkeit macht. Arendt denkt dabei vor allem an politische Ideologie und Propaganda, aber auch die Medizin kann diesen ideologischen Charakter annehmen. Fixiert auf das hehre Ziel der Rettung von Menschenleben und auf den Kampf gegen Krankheit und Tod, scheint alles andere, und damit gerade das Wesentliche dessen, was den Menschen zum Menschen macht, unwichtig zu sein. Auf diese Weise kommt es nicht nur zu einer Missachtung der Autonomie und Würde des Einzelnen, sondern zur Entfremdung von der Wirklichkeit und von sich selbst, zu der von Arendt angesprochen Desorientierung und Bodenlosigkeit menschlichen Lebens und Handelns. Das ist sozusagen die existenzielle und anthropologische Dimension der ethischen Grundbegriffe der Autonomie und der Würde, deren Achtung ohne Wahrhaftigkeit im Reden und Handeln nicht möglich ist. Ob es unter den Bedingungen des Hirntodes zu rechtfertigen wäre, dem Sterbenden Organe zu entnehmen, ist zu diskutieren und möglicherweise, unter strengen Anforderungen hinsichtlich der Feststellung des Willens des Spenders, zu bejahen. Diese offene und unweigerlich schwierige Auseinandersetzung zu vermeiden und durch eine definitorische Maßnahme zu umgehen, die Verwirrung in unsere fundamentalsten Begriffe bringt und die Menschen schwer verunsichert, ist jedoch Ausdruck großer intellektueller Unredlichkeit und mangelnder Wahrhaftigkeit. Abschließend fasse ich die Konsequenzen zusammen, die aus den bisherigen Analysen zum Begriff der Autonomie aus meiner Sicht für die moralische Beurteilung, rechtliche Regelung und humane Gestaltung der Praxis „postmortaler Organspende“, insbesondere hinsichtlich der Aufklärung zu ziehen sind. V. Nicht Ob, sondern Wie: Für eine unbedingte Achtung der Autonomie und wahrhaftige Aufklärung! Die Hauptkonsequenz aus den bisherigen Analysen besteht darin, dass die Verpflichtung zur Achtung der Autonomie und zur Wahrhaftigkeit uneingeschränkt gegenüber jedem Menschen in jeder Lebenslage unbedingte Geltung hat. Sie gilt gegenüber potentiellen Organspendern nicht weniger als gegenüber aktuellen Patienten, gegenüber Toten nicht weniger als ge51  Arendt,

Wahrheit und Politik, S. 46 f.

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genüber Lebenden. Nicht ob, sondern wie – in welcher Weise, durch welche konkreten Formen des Handelns und Sprechens – diese Achtung und Aufklärung zu erfolgen hat, ist abhängig von der konkreten Situation und damit eine Sache der Urteilskraft. Welche konkreten Ansprüche ein Individuum hat bzw. welche konkreten moralischen Pflichten wir ihm oder ihr gegenüber haben, hängt selbstverständlich ab von der konkreten (Art der) Situation, in der sich jemand befindet. Das liegt nicht einfach fest oder unmittelbar auf der Hand, sondern ist, auch auf der Ebene der philosophischen Reflexion, mithilfe der reflektierenden Urteilskraft herauszufinden.52 Es wäre zum Beispiel unsinnig, toten Menschen einen Anspruch auf den Schutz ihres Lebens zuzuschreiben. Selbstverständlich kann man sie auch nicht mehr aufklären, das muss zu Lebzeiten geschehen. Es ist aber nicht unmöglich, sondern notwendig, wie Kant im § 35 seiner Rechtslehre hervorhebt, dem Toten aufgrund seiner Taten und Verdienste zu Lebzeiten einen „guten Namen“ oder Ruf zuzuschreiben, der auch nach seinem Tod durch böse Nachrede, Unwahrheiten oder falsche Vorwürfe verletzt oder beleidigt werden kann. Im Unterschied zu einer körperlichen Verletzung ist es für eine persönliche Beleidigung nicht erforderlich, dass der Beleidigte die Beleidigung subjektiv erlebt oder empfindet. Sie ist vielmehr im Gegenteil desto schlimmer, je weniger der Beleidigte sich selbst dagegen zur Wehr setzen kann. Andere sind dann umso mehr verpflichtet, sich sozusagen stellvertretend für den Beleidigten von der Beleidigung betroffen zu fühlen und ihn gegen seine Verleumder zu verteidigen. Kant spricht hier, wie ich meine zutreffend, von einem „Recht des Menschen nach seinem Tode gegen die Überlebenden“53. Es ginge dabei nicht um den Glauben an die Existenz „abgeschiedener Seelen“ oder ähnliches; es sei vielmehr „von nichts weiter als dem rein moralischen und rechtlichen Verhältnis“ die Rede, das „unter Menschen auch im Leben statthat“ und von den räumlichen und zeitlichen Bedingungen unabhängig die gemeinschaftliche menschliche Praxis konstituiert.54 52  Philosophisch-ethische Reflexion erfordert daher immer sowohl eine Arbeit an den Grundbegriffen oder Prinzipien als auch eine damit einhergehende Betätigung der Urteilskraft im Hinblick auf die jeweilige Anwendung, Konkretisierung oder Vermittlung der Begriffe oder Prinzipien in bzw. mit (bestimmten Arten von) spezifischen Situationen. Auch in praktischen Fragen ist dem Kantischen Grundsatz zu folgen: dass wir ohne Begriffe und Prinzipien in den Situationen blind und dass die Begriffe oder Prinzipien ohne die Situationsbezüge inhaltsleer wären. 53  Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 296. 54  „Der, welcher nach hundert Jahren mir etwas Böses fälschlich nachsagt, beleidigt mich schon jetzt; denn im reinen Rechtsverhältnisse, welches ganz intellektuell ist, wird von allen physischen Bedingungen (der Zeit) abstrahiert, und der Ehrenräuber (Kalumniant) ist ebensowohl strafbar, als ob er es in meiner Lebzeit getan hätte.“ (Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 295, Anm.)



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In diesem Sinne versteht auch Hannah Arendt die gemeinsame Welt, in die wir durch die Geburt eintreten und die wir mit dem Tod verlassen, als eine Welt, die über diese Grenzen unseres Lebens hinausreicht und an der wir über diese Grenzen hinaus als gleichberechtigte Mitglieder der Gemeinschaft teilhaben: „Die Welt haben wir nicht nur gemeinsam mit denen, die mit uns leben, sondern auch mit denen, die vor uns waren, und denen, die nach uns kommen werden“.55 Diese Transzendierung der Grenzen des Lebens wird möglich durch die Geschichte und die Geschichten, in denen wir mittels der Erinnerung und der Einbildungskraft Vergangenes vergegenwärtigen und Zukünftiges antizipieren können, sowie durch unser Sprechen und Handeln, durch das wir auch über unseren Tod hinaus nicht nur einen verwesenden Körper, sondern leibliche Spuren hinterlassen, etwa in Form von schriftlichen Dokumenten, zu unserer Person gehörigen Gegenständen oder in den Erinnerungen der Überlebenden; so bleiben wir als Personen über unseren Tod hinaus gegenwärtig.56 Die Rechte, die sich Toten sinnvollerweise zuschreiben lassen, gelten ebenso unbedingt, können also ebenso wenig durch andere Rechte relativiert oder außer Kraft gesetzt werden wie die Rechte von Lebenden. Das gilt auch für das Recht auf Achtung des Willens gegenüber Toten. Es gibt rechtliche Instrumente, wie etwa eine notariell beglaubigte schriftliche Willenserklärung in Form eines Testamentes, womit es möglich ist, seinem Willen über den eigenen Tod hinaus Ausdruck und Geltung zu verschaffen. Darin äußert sich die Möglichkeit, antizipatorisch auch die Zeit nach dem eigenen Tod als etwas anzusehen, was uns nicht gleichgültig ist, woran uns gelegen ist, wozu wir uns verhalten und worauf wir Einfluss nehmen können57. Was dann tatsächlich nach unserem Tod geschieht, kann somit Teil des eigenen Lebens sowie des eigenen Glücks oder der Glückseligkeit (eudaimonia) sein, wie sie in der Antike in einem nicht rein subjektivistischen, sondern objektiven Sinne verstanden wurde.58

55  Arendt,

Vita activa, S. 69. hierzu ausführlicher Rehbock, Person über den Tod hinaus?; Rehbock, Person oder Sache? 57  Auch wer sagt, es sei ihm egal, was etwa mit den eigenen Organen nach dem eigenen Tod geschehe, entscheidet sich zu dieser Haltung. Das ist eine, aber nicht die einzige Möglichkeit, sich zu der Zeit nach seinem Tode zu verhalten. 58  In diesem Sinne sagt etwa Aristoteles, auch Ereignisse nach dem Tode könnten noch einen Einfluss darauf haben, ob das Leben eines Menschen glücklich genannt werden kann: „Denn auch für den Toten ist, denkt man, etwas ein Übel oder ein Gut, ganz ebenso, wie es das für einen Lebenden sein kann, obwohl er es nicht wahrnimmt, wie Ehre und Unehre, Wohlergehen und Unglück der Kinder und der Nachkommen überhaupt.“ (Aristoteles, 1100a16–20). 56  Vgl.

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Selbstverständlich können wir nicht Beliebiges vorausverfügen. Dem postmortalen Willen sind, ebenso wie dem Willen zu Lebzeiten, durch Moral und Recht Grenzen gesetzt. Wir können zum Beispiel nicht beliebige Formen der Bestattung oder die Unterlassung einer rechtlich erforderlichen Obduktion verfügen, oder irgendetwas, was anderen schaden oder Unrecht zufügen könnte. Die Nicht-Erfüllung solcher Willenserklärungen im Fall von Toten ist ebenso notwendig wie die Bestrafung von Unrecht im Falle von Lebenden. In dieser Hinsicht ist Zwang nicht nur zulässig, sondern notwendig. Wir können aber nicht gezwungen oder auch nur irgendwie genötigt werden, unser Vermögen für moralisch wertvolle Zwecke, etwa für die Bekämpfung von Armut und Hunger, zur Verfügung zu stellen. Und noch weniger können wir verpflichtet werden, unseren Körper, der unmittelbarer als unser Vermögen mit uns als Personen verbunden ist, oder Teile davon für die Verwertung zum Nutzen anderer Menschen zur Verfügung zu stellen. Hierbei handelt es sich um unvollkommene Tugendpflichten. Sie gelten – dies ist, Kant folgend, noch mal zu betonen – zwar nicht weniger unbedingt als vollkommene Rechtspflichten, etwa der Achtung der Autonomie und der Wahrhaftigkeit, sie sind aber hinsichtlich ihrer Reichweite und der daraus resultierenden konkreten Handlungen mittels der Urteilskraft in erheblich höherem Maße auslegungsbedürftig. Sie werden zudem zum einen begrenzt durch Pflichten gegenüber uns selbst; die Hilfe für andere darf nicht bis zur „Aufopferung seiner eigenen Glückseligkeit (seiner wahren Bedürfnisse)“ gehen59. Zum anderen werden sie begrenzt durch die vollkommenen Pflichten gegenüber anderen. Die Hilfe darf nicht so weit gehen, dass sie die Pflicht zur Achtung der Würde seiner selbst und des Anderen, sowie der daraus resultierenden Rechtspflichten, wie der Pflicht zur Achtung der Autonomie und der Wahrhaftigkeit, verletzt.60 Vollkommene Rechtspflichten bilden sozusagen einen Schutzwall gegen ausufernde Tugend und „Menschenliebe“. Versteht man Autonomie nicht im Millschen, sondern im Kantischen Sinne, so ist, entgegen einer verbreiteten Meinung, von dem potentiellen Organspender durchaus zu erwarten, dass es ihm nicht gleichgültig ist, was mit seinen Organen nach seinem Tod oder Hirntod geschieht, und dass es ihm nicht lediglich darauf ankommt, durch die Explantation keine Schmerzen oder keinen Schaden für sein persönliches Leben zu erleiden, so berechtigt dieses Interesse natürlich ist. Doch wer sich im moralischen Sinne autonom für die Spende der eigenen Organe entscheidet, handelt aufgrund der 59  Kant,

Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre, S. 394. Kant ist daher zum Beispiel eine Pflicht, aus „Menschliebe“ zum Wohle eines Anderen zu lügen und ihm oder einem Dritten damit Unrecht zu tun, eine begriffliche Unmöglichkeit. Vgl. dazu ausführlicher Rehbock, Sprache und Moral; Rehbock, Aus Liebe lügen? 60  Nach



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Überzeugung, dass er damit eine Praxis insgesamt unterstützt, d. h. eine aus der Perspektive aller Beteiligten und damit objektiv gute medizinische und gesellschaftliche Praxis. Dass diese Praxis tatsächlich gut ist, liegt im Fall der Transplantationspraxis nicht so unmittelbar auf der Hand, wie es durch so genannte Aufklärungskampagnen meist suggeriert wird. Der Akt einer Unterschrift unter einen Organspendeausweis unterscheidet sich gravierend von einem Akt der Nächstenliebe gegenüber einem hilfsbedürftigen Menschen in einer unmittelbar bestehenden und als solchen überschaubaren Notsituation. Dass bzw. inwieweit meine Organe potentiellen Empfängern irgendwann helfen werden, ist keinesfalls so gewiss, wie Hochglanzbroschüren es uns glauben machen wollen. Die für die Empfänger belastenden Aspekte der Transplantation, die oft kein völlig gesundes, unbeschwertes Lebens mit dem neuen Organ ermöglichen, werden verschwiegen. Für Angehörige, Pflegende und Transplanteure ist der Umgang mit dem hirntoten Spender – der mittels einer zum Teil aggressiven Diagnostik für tot erklärt wird, für die unmittelbare Wahrnehmung aber sehr lebendig ist – psychisch und existenziell in hohem Maße belastend. Ob der Hirntote wirklich im vollen Sinne tot ist, welcher moralische Status (hirn)toten Menschen zuzuerkennen ist, und inwieweit die Transplantationsmedizin eine humane Kultur des Umgangs mit Sterbenden und Toten möglicherweise schwer beeinträchtigt, das alles ist Gegenstand anhaltender kontroverser Debatten, also alles andere als geklärt. Aufgrund dieser besonderen ethischen Problematik bedarf es eines besonders hohen Aufwandes an offener, ehrlicher und propagandafreier Aufklärung. Allein auf dieser Grundlage wäre ein wirkliches freies Urteil und eine wirkliche autonome Entscheidung über die „postmortale“ Organspende möglich. Damit die Achtung der Autonomie des Organspenders tatsächlich gewährleistet ist, ist zudem die schriftliche Dokumentation der Aufklärung und der Entscheidung unerlässlich. Rechtlich gesehen ist daher nur die enge Zustimmungslösung moralisch zu rechtfertigen. Nur unter dieser Voraussetzung können Organempfänger sicher sein, dass es sich um eine wirklich freiwillig und autonom erfolgte Spende handelt, und damit im eigentlichen Sinn um eine Spende handelt. Angehörigen kann nicht zugemutet werden, wie es durch die in Deutschland gültige erweiterte Zustimmungslösung vorgesehen ist, im Falle des Fehlens eines Organspendeausweises, an Stelle des Spenders, allein seinem mutmaßlichen Willen entsprechend, zu entscheiden. Da Angehörige selbst von den Folgen seiner Entscheidung betroffen sind, ist vielmehr zu erwägen, ob ihnen nicht ein Vetorecht zustehen sollte. Die in vieler Hinsicht fragwürdige Transplantatonspraxis ist aber auch ein Anlass, die hochtechnisierte Medizin insgesamt kritisch daraufhin zu befragen, inwieweit sie trotz aller Forschrittlichkeit zugleich zu einer Ideologie der Lebensrettung geworden ist. In dubio pro vita, heißt es oft auch in der

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Medizinethik. Doch die ausschließliche, alles Handeln dominierende Orientierung an der Bewahrung des Lebens und der Gesundheit hat zugleich den Verlust dessen zur Folge, was den Menschen zum Menschen macht und seine Würde ausmacht: die Freiheit des Sprechens und Handelns, durch die allein der Einzelne als Mensch im „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“61 in Erscheinung treten kann. Literatur Ach, Johann S./Anderheiden, Michael/Quante, Michael: Ethik der Organtransplantation, Erlangen 2000. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München/Zürich 1981. ‒ Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlass, München/Zürich 2003. ‒ Wahrheit und Politik, in: dies./Patrizia Nanz (Hrsg.): Wahrheit und Politik, Berlin 2006, S. 7–62. Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. v. Olof Gigon, Zürich/München 1967. Baureithel, Ulrike/Bergmann, Anna: Herzloser Tod. Das Dilemma der Organspende, Stuttgart 1999. Beauchamp, Tom L./Childress, James F.: The Principles of Biomedical Ethics, Oxford 2009. Beecher, Henry K.: Ethics and Clinical Research, in: New England Journal of Med­ icine, 274 (24), S. 1354–1360. Bergmann, Anna: Der entseelte Patient. Die moderne Medizin und der Tod, Berlin 2004. Birnbacher, Dieter: Philosophische Überlegungen zum Status des menschlichen Leichnams, in: Hans K. Wellmer/Gisela Bockenheimer-Lucius (Hrsg.): Zum Umgang mit der Leiche in der Medizin. Research in Legal Medicine/Rechtsmedizinische Forschungsergebnisse, Bd. 23, Lübeck 2000, S. 79–85. Deutsche Bischofskonferenz/Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland: Organtransplantationen. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD, Bonn/Hannover 1990. Deutscher Ethikrat: Hirntod und Entscheidung zur Organspende, 2015, verfügbar unter: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-hirntod-und-entscheidung -zur-organspende.pdf (letzter Zugriff: 30.04.2016). Eyal, Nir: Informed Consent, in: Edward N. Zalta (Hrsg.): The Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2012, verfügbar unter: http://plato.stanford.edu/archives/ fall2012/entries/informed-consent/ (letzter Zugriff: 30.04.2016). Faden, Ruth R./Beauchamp, Tom L.: A History and Theory of Informed Consent, New York/Oxford 1986. 61  Arendt,

Vita activa, S. 222.



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„Ich schenk’ dir mein Herz …“ Pragmatistische Analyse und Kritik aktueller Aufklärungskampagnen Andrea M. Esser und Daniel Kersting Am 1. November 2012 ist eine Novellierung des Transplantationsgesetzes (TPG) in Kraft getreten. Fortan sind Krankenkassen dazu verpflichtet, ihre Mitglieder in regelmäßigen Abständen sowohl auf die Möglichkeit der postmortalen Organspende hinzuweisen als auch zu einer Erklärung ihrer Haltung zur Organ- und Gewebespende aufzufordern. Der Initiative zu dieser Gesetzesänderung ging eine mehrjährige politische Debatte voraus, die vor allem von der Frage geprägt war, wie man den bereits zum damaligen Zeitpunkt bestehenden Mangeln an Spenderorganen, den sogenannten „Organmangel“1, beheben könne. Untersuchungen der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO) hatten ergeben, dass durchschnittlich dreimal so viele Menschen auf ein Spenderorgan warten wie Transplantate zur Verfügung stehen.2 Eine solche Diskrepanz zwischen „Bedarf“ und „Nachfrage“ an Spenderorganen ist zwar kein neues Phänomen – sie begleitet die Transplantationsmedizin vielmehr von Anfang an.3 Gleichwohl sind schon einige Jahre vor der Novellierung des TPG die politischen Anstrengungen deutlich verstärkt worden, um diese Diskrepanz zu verringern. Neben Verbesserungen der institutionellen Abläufe wurden dabei vor allem Maßnahmen diskutiert, um die Spendebereitschaft der Bevölkerung zu erhöhen. In den öffentlichen Debatten konnte man etwa auf die Vorschläge treffen, die bis 2012 geltende erweitere Zustimmungslösung durch die Widerspruchslösung4 zu ersetzen5, finanzielle Anreize zur Organspende zu schaffen oder ein soge1  Breyer

et al. http://www.dso.de/organspende-und-transplantation/warteliste-und-vermitt lung.html (letzter Zugriff: 01.08.2016). 3  Vgl. Decker, S.  27 ff. 4  Die erweitere Zustimmungslösung besagt, dass eine Entnahme von Organen nur dann legal ist, wenn die Person zu Lebzeiten, oder aber – wenn keine Willenserklärung vorliegt – ihre Angehörigen gemäß ihrem mutmaßlichen Willen einer Entnahme zustimmen. Die Widerspruchslösung sieht vor, dass prinzipiell jede Person als postmortale Organspenderin in Frage kommen kann, es sei denn, die Person dokumentierte zu Lebzeiten explizit ihre Ablehnung. 5  Vgl. Nationaler Ethikrat, S.  33 ff. 2  Vgl.:

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nanntes „Club-Modell“6 zu etablieren. Keine dieser Überlegungen konnte sich 2012 bei der Überarbeitung des TPG durchset­zen. Stattdessen hat sich der Ge­setzgeber dazu entschlossen, ein anderes Mittel zur Steigerung der Zahl der Organspenden in Deutschland zu ergreifen, das er mit dem traditionsreichen Namen „Aufklärung“ gekennzeichnet hat: Die Bevölkerung soll zunächst umfassend über die Möglichkeit, die Bedeutung sowie die Umstände postmortaler Organ- und Gewebespende aufgeklärt werden und dann zu einer Erklärung der eigenen Haltung angeregt bzw. aufgefordert werden. Mit dieser als „Erklärungslösung“ bezeichneten Maßnahme soll sowohl dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger_innen als auch der Fürsorge gegenüber denen, die auf Spenderorgane warten, Rechnung getragen werden. Wir werden im Folgenden die Frage stellen, was der Gesetzgeber in diesem Zusammenhang unter einer „Aufklärung über Organspende“ verstanden wissen wollte. Nach einer kurzen Skizze dieses Verständnisses werden wir an einigen Beispielen demonstrieren, wie die „Aufklärung“ im Kontext der Organspende von den zuständigen Institutionen gegenwärtig tatsächlich geleistet wird (I.). Die genauere Analyse dieser Beispiele lässt unserer Ansicht nach durchaus Zweifel daran aufkommen, dass die aktuellen Aufklärungsmaßnahmen überhaupt noch als ein Beitrag zur Aufklärung im Sinne des Gesetzgebers verstanden werden können – ein Zweifel, der bereits in anderen Beiträgen dieses Bandes artikuliert wurde.7 Um diesen Zweifel aber nicht nur zu äußern, sondern auch zu begründen, wollen wir uns in einem zweiten Schritt (II.) zunächst über den Begriff der Aufklärung verständigen (II.1.) und die Grundzüge einer Methode skizzieren, auf deren Basis geprüft werden kann, ob die medialen Darstellungen der Kampagnen den Ansprüchen dieses Begriffs auch genügen (II.2.). Auf der Basis dieser Methode lässt sich unserer Ansicht nach deutlich zeigen, dass die Kampagnen einer angemessenen Aufklärung über Organspende sogar abträglich sind. Denn statt über die konkreten Umstände der Organspende zu informieren und die Bevölkerung über diejenigen Aspekte aufzuklären, die für eine selbstbestimmte Erklärung relevant sein könnten, arbeiten die Kampagnen überwiegend mit unreflektierten Gemeinplätzen, verklärenden Darstel6  Vgl. Breyer et al., S. 112 ff. Das Club-Modell sieht vor, dass nur die Menschen, die sich auch selbst als potentielle Spender_innen regis­triert haben, im Falle eigener Bedürftigkeit ein Organ bekommen und andere nicht. Diesem Modell liegt die Überzeugung zugrunde, es seien die „Trittbrettfahrer“, die für den „Organmangel“ verantwortlich sind, und das Kalkül, man könne den Mangel beseitigen, wenn man diese Gruppe von Menschen entwe­ der zur Spende moti­ viert oder vom Kreis der Empfänger_innen ausschließt. Einen Überblick über die diskutierten Maßnahmen geben Breyer et al., S. 111–122, 229–236. 7  Vgl. Fittkau; Kahl/Weber; Hansen/Schicktanz sowie Rehbock in diesem Band.



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lungen und holzschnittartigen Verkürzungen der tatsächlichen Herausforderungen. Sie leisten, statt konkrete Hilfestellung zu geben, vielmehr einem „abstrakten Denken“ im Hegelschen Sinne Vorschub. Abstraktes Denken ist deshalb problematisch, weil es sowohl unsere Vorstellungen als auch unsere Gedanken von der Komplexität der Lebenswelt und den Gegebenheiten und Problemen, mit denen wir darin konfrontiert sind, wegleitet und in der Folge dazu führt, dass wir auch unser Handeln und Entscheiden auf unterkomplexe und reduktive Darstellungen der Lebenswelt gründen. Auch in den aktuellen Organspendekampagnen, so die These, die wir im dritten Schritt belegen möchten, lässt sich abstraktes Denken nachweisen und zwar in Darstellungen, die erstens einen heroischen Individualismus propagieren, der die interpersonale und soziale Dimension der Organspende ausblendet (III.1.), die zweitens in einen moralischen Dogmatismus führen, der differenzierte praktische Überlegung und Verständigung über die Legitimität dieser Praxis blockiert (III.2.) und die schließlich drittens einem magischmythischen Verständnis von Transmortalität Vorschub leisten, das eine realistische Perspektive auf das Phänomen des eigenen sowie fremden Todes verstellt, weil in ihm die existenzielle Dimension des Todes geleugnet wird (III.3.). Im Anschluss an diese Kritik sollen abschließend einige Bedingungen skizziert werden, denen Aufklärungsbemühungen über Organspende zu genügen haben, wenn sie tatsächlich einen Beitrag zur Aufklärung leisten sollen (IV.). I. Anspruch und Wirklichkeit aktueller Aufklärungsbemühungen – Die Problemstellung Das Ziel des neuen Gesetzes besteht gemäß § 1 Abs. 1 TPG darin, „die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland zu fördern.“ Hierzu soll jede Bürgerin und jeder Bürger re­gelmäßig im Leben in die Lage versetzt werden, sich mit der Frage der eigenen Spen­debereitschaft ernst­haft zu befassen und aufgefordert werden, die jeweilige Erklärung auch zu do­kumentieren. Um eine infor­ mierte und unabhängige Entscheidung jedes Einzelnen zu ermögli­chen, sieht dieses Gesetz eine breite Auf­klärung der Bevölkerung zu den Möglichkeiten der Or­gan- und Gewebespende vor. Wie die „breite Aufklärung der Bevölkerung“ betrieben werden soll, wird in § 2 Abs. 1 und 2a TPG durchaus schon konkretisiert. Dort liest man, dass die „nach Landesrecht zuständigen Stellen […], ins­besondere die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, sowie die Krankenkassen“ über die „Möglichkeiten“ und „Voraussetzungen“ der postmortalen Organ- und Gewebe­spende informieren sollen, „einschließ­lich der Bedeutung einer zu Lebzeiten abgegebenen Erklärung“ sowie über „den möglichen Nut­ zen“, den die medizinische Anwendung von Organen und Gewebe für „kranke

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Menschen“ hat. Dabei sollen die Aufklärungsmaterialien über „die gesamte Tragweite der Entscheidung“ informieren und „ergebnisoffen“ sein. Zwar soll zur Entscheidung „aufgefordert“ werden, diese Aufforderung darf aber „keine Entschei­dungspflicht“ suggerieren. Durch diese Schritte soll schließlich jeder Einzelne in die Lage versetzt werden, sich mit „der Frage seiner eigenen Spendebereitschaft ernsthaft zu befassen“, um „eine informierte und unabhängige Entscheidung“8 treffen zu können. Mit der Novellierung wird der Aufklärung über Organspende also durchaus eine größere Bedeutung beigemes­sen als in der bisherigen Regelung, zugleich wird aber auch die konkrete Ausgestaltung der geforderten Aufklärung deutlicher bestimmt und stärker normiert. Die in diesem Zusammenhang genannten Zwecke und Kriterien der Aufklärung werfen allerdings einige wichtige Fragen auf: Wie weit geht die „gesamte Tragweite“ einer Entscheidung für oder gegen eine Organspende? Über welche Informationen sollten die Bürger_innen verfügen, um sie tatsächlich ermessen zu können? In Form welcher Medien können entsprechende Informationen angemessen vermittelt werden? Und wie könnte man Kriterien für die Angemessen­heit gewinnen? In Bezug auf alle angesprochenen Felder stellt sich aber die Frage, wie in dem Prozess der „Aufklärung“ Ergebnisoffenheit gewahrt werden kann, wenn die Gesetzesänderung insgesamt dem Zweck unterstellt ist, „die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland zu fördern“9. Auf diese Frage gibt nicht nur der Gesetzestext selbst keine Antwort, sie wurde auch im Vorfeld der Gesetzgebung nicht zur Diskussion gestellt. In der novellierten Fassung verweist das Gesetz vielmehr nur auf die „nach Landesrecht zuständigen Stellen“10, insbe­ sondere auf die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) sowie auf die Krankenkassen, die damit beauftragt sind, den Aufklärungsanspruch einzulösen. Sichtet man nun die aktuellen Kampagnen sowie das Informationsmaterial der Krankenkassen, wird man schnell bemerken, dass die Materialien ihre Adressat_innen vor allem emotional ansprechen, um sie zunächst zu einer Auseinandersetzung mit dem Thema zu bewegen und dann aber auch zu einer positiven Stellungnahme zur Organspende zu motivieren. In der Regel wird die Absicht, dass es vorrangig darum geht, die Bürger_innen zu einer positiven Erklärung und einer Entscheidung für die Organspende zu bewegen keineswegs verschleiert. Beides sprechen schon die Überschriften und auch die anschließenden Texte entweder deutlich aus (etwa durch Kampagnen, die den Namen „PRO Organspende“ tragen), oder sie legen es 8  § 1

Abs. 1 TPG. Hervorh. d. Verf. 10  § 2 Abs. 1 TPG. 9  Ebd.,



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durch die gewählte Ikonographie nahe (wie etwa in Kampagnen, die mit Comichelden wie Superman oder Spiderman arbeiten, bzw. in OrganspendeInitiativen, die sich „Junge Helden“11 nennen). Schon diese kurze Betrachtung der Kampagnen lässt erkennen, dass es sich bei ihnen vorrangig um Motivationsmaßnahmen handelt. Sie wollen ihre Rezipient_innen dazu bewegen, dass sie auch ohne weitere Information, ohne reflektierte Begründung und auch ohne selbst gefasste Überzeugung die propagierten Ziele annehmen und verwirklichen. Bereits dieser Befund wirft die Frage auf, ob es sich bei den aktuellen Kampagnen überhaupt um einen Beitrag in aufklärerischer Absicht handeln kann. Eine Klärung hierüber zu erzielen, erscheint uns schon deshalb wichtig, weil solche Kampagnen durchaus unser Selbstverständnis und unser Handeln auf subtile Weise prägen. Sicherlich sind die verschiedenen Strategien, mit denen Kampagnen dieser Art ihre Botschaft vermitteln und die intendierten emotionalen Wirkungen hervorrufen, nahezu allen Mitgliedern moderner Gesellschaften längst bekannt. Wir sind heute an soziale und politische Werbung gewöhnt und durchschauen in der Regel schnell, dass und welche Intentionen damit verfolgt werden. Dieses allgemeine Wissen schützt uns aber nicht davor, dass wir als Adressat_innen dieser Kampagnen im konkreten Fall dennoch von ihren Wirkungen erreicht und in bestimmter Weise – sei es kognitiv oder emotional – von ihnen geprägt werden. Auch wenn uns also grundsätzlich klar sein mag, dass auch die aktuellen Organspendekampagnen vor allem Werbemaßnahmen darstellen, die eine positive Haltung und positive Erklärungen zur Organspende bewirken sollen, so ist es unerlässlich, sich über diese generelle Werbebotschaft hinaus auch die konkreten Inhalte bewusst zu machen, die sie jeweils vermitteln. Nur dann sind sie einer reflektierten kritischen Prüfung zugänglich, sodass verhindert werden kann, dass sie unsere Überzeugungen und Emotionen prägen und unkontrolliert unser Entscheiden und Handeln leiten. Aus diesem Grund sollte die Beschäftigung mit den Darstellungen der jeweiligen Kampagne über die Dekodierung ihrer offensichtlichen und allgemeinen Intentionen hinausgehen und an den jeweils konkreten Darstellungen die durch sie vermittelten intellektuellen Gehalten, Sichtweisen und emotionalen Wirkungen herausarbeiten. Als methodische Grundlage einer solchen Analyse scheint uns der pragmatistische Ansatz von Charles S. Peirce geeignet – sowie das damit verbundene kritische Verständnis von Aufklärung, das wir im Folgenden skizzieren werden.

11  http://www.junge-helden.de

(letzter Zugriff: 01.08.2016).

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Andrea M. Esser und Daniel Kersting II. Begriffliche und methodische Grundlagen: Aufklärung und pragmatistische Sinnkritik 1. Was ist Aufklärung?

„Aufklärung“ ist im Wesentlichen ein sozialer und in der Anlage selbstbezüglicher Prüfungsprozess, der sowohl von Personen als auch von Institutionen vollzogen werden kann. Darin sollen insbesondere implizite Voraussetzungen tatsächlich erhobener Ansprüche, Behauptungen und Überzeugungen explizit gemacht werden, um sie auf ihre Konsistenz und Kohärenz prüfen zu können und sie gegebenenfalls auch einer Korrektur zugänglich zu machen. Ein in dem Sinne verstandener Aufklärungsprozess steht unter dem Ideal der Wahrheit und zielt darauf ab, ihr sozusagen einen Schritt näher zu kommen. In Bezug auf diese allgemeine Begriffsbestimmung sind sich die meisten philosophischen Theorien trotz bestehender Differenzen in der weiteren Ausgestaltung weitgehend einig. Schon in dieser allgemeinen Bestimmung ist angedeutet, dass die Rede von „Aufklärung“ in gewisser Weise ein normatives Verständnis von Wahrheit und Vernunft einschließt.12 Damit ist allerdings nicht schon gesagt, dass im Rahmen von Aufklärungsprozessen ein „externer“ Standpunkt außerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse und Meinungen beansprucht werden müsse, um die zur Prüfung vorgelegten Meinungen mit Normen und Ansprüchen zu konfrontieren. Vielmehr genügt es, solche normativen Ansprüche, die explizit oder implizit mit jedem partikularen Beitrag zu einer Diskussion oder Debatte notwendig verbunden sind, zum Anlass und Ausgang einer methodisch geleiteten Prüfung ihrer Legitimität zu nehmen. In der Explikation der Voraussetzungen und der Entwicklung ihrer theoretischen sowie praktischen Implikationen, die sich aus den jeweiligen Beiträgen ziehen lassen, können Aufklärungsprozesse nach ihrer Widerspruchsfreiheit, Schlüssigkeit und Übereinstimmung mit bereits geprüften Normen oder Überzeugungen fragen und sie so als vernünftig stützen bzw. als unvernünftig kritisieren. Die Vernunft, von der in diesem Zusammenhang die Rede ist, bezeichnet also keine gegebene Eigenschaft oder Disposition – sei es von Aussagen, von denkenden Subjekten, von sozialen Systemen oder Institutionen. Der Ausdruck kennzeichnet – sofern ja die Vernünftigkeit zugleich Gegenstand, Instrument und Maßstab solcher Kritik ist – vielmehr nur die Gesamtheit der orientierenden Momente dieses selbstbezüglichen Prozesses der Kritik. Entsprechend ist „die“ Vernunft auch nichts anderes als ein reflexiv und während dieses 12  Wir folgen hierin einem Kantischen Verständnis von Aufklärung, wie es sich z. B. in der kleinen Schrift „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (Kant) skizziert findet. Eine produktive Weiterentwicklung dieser Idee und eine erhellende Kritik verkürzter Aufklärungsverständnisse leistet Vogel, S. 17–46.

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Prozesses zu bestimmender, einer regressiven Analyse zugänglicher „Funktionsbegriff“13. Das, was unter diesem Begriff als „vernünftig“ beurteilt wird, steht auf diese Weise ebenfalls der Kritik offen und muss auch selbst immer wieder auf den Prozess der Aufklärung zurückbezogen und erneut in ihn integriert werden. In der so charakterisierten Figur der reflexiven Selbstkritik treten daher Verfahren der Begründung anstelle feststehender Werte in den Stand eines normativen Fundaments. Alle Versuche, die Rede von „Vernunft“ zu substantialisieren, zu reifizieren oder ihre normative Dimension zu neutralisieren, müssen vor diesem Hintergrund als dogmatische „Abdichtung“ eines der Sache nach als genuin auf Offenheit angelegten Prozesses erscheinen und können auf seiner Grundlage auch als solche ausgezeichnet werden. Diese knappe Theorieskizze lässt bereits das Anliegen als verfehlt erscheinen, dass einige wenige (die Aufklärer_innen) Andere (die aufklärungsbedürftigen Bür­ger_innen) über eine bestimmte Praxis (hier: der Organspende) „aufklären“. Besonders problematisch würde ein solches Verständnis von Aufklärung dann, wenn es damit einhergeht, andere einseitig mit bestimmten Denkinhalten zu versorgen, die sie zur Annahme einer bestimmten Überzeugung bewegen sollen. Genau dies scheint der Gesetzgeber in Bezug auf die Organspende aller­dings zu intendieren, wenn er im TPG vorschreibt, das Gesetz zur Aufklärung über Organ­spende solle dem Zweck dienen, „die Bereitschaft zur Organspende in Deutschland zu för­dern“14. Im Namen der Aufklärung einen solchen inhaltlich be­stimmten Zweck zu propagieren, widerspricht nicht nur der kritischen Theorieanlage des skizzierten Aufklärungsverständnisses, sondern bereits dem im TPG formulierten formalen Anspruch, die Aufklä­ rung habe „ergebnisoffen“15 zu erfolgen und solle den Einzelnen eine „ernst­ haft[e]“16 Auseinandersetzung mit dem Thema ermöglichen: denn hier­durch wird ein partikula­rer Zweck als allgemein verbindlich festgelegt, wobei sich seine Le­gitimität doch erst inner­ halb von Aufklärungsprozessen zu erweisen hätte. Einem solchen einsei­tigen Aufklärungsverständnis liegt zum einen, wie wir später noch verdeutlichen werden, ein individualistisch verkürztes Verständnis von Wissen und Wahrheit zu Grunde. Es verleitet zu dem Irrtum, dass der Begriff der Wahrheit ausreichend als die Korrespondenz von Wissen und Sachverhalt bestimmt sei, die von einem Individuum lediglich erfasst und begriffen werden müsse. Tatsächlich lassen sich aber bereits aus der anfänglichen Explikation und den Ermöglichungsbedingungen von gerechtfertigtem wahren Wissen gute Cassirer, S.  7 ff. Abs. 1 TPG. 15  § 2 Abs. 1 TPG. 16  § 1 Abs. 1 TPG. 13  Vgl. 14  § 1

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Gründe dafür gewinnen, dass Wissen und Wahrheit immer auch interpersonalen Verstehensbedingungen genügen und in sozialen Bildungsprozessen vermittelbar sein müssen. Zum anderen führt ein solches Verständnis von Aufklärung auf das Problem, dass am Ende offenbleibt, wer die „Aufklärer_innen“ und ihre Über­zeugungen aufklärt und warum gerade sie  – in diesem Fall: die Krankenkassen und die BZgA – und nicht andere an der Praxis Beteiligte für diese Auf­gabe kompetent sein sollten. Im Rahmen des oben skizzierten Aufklärungsverständnisses ergeben sich diese problematischen Konsequenzen gerade nicht, weil es auf Grund seiner selbstbezüglich-kritischen Anlage den Aufklärungsprozess immer weiter vorantreibt, ohne einen absoluten Anfang gemacht zu haben oder einen Abschluss dieses Prozesses behaupten zu müssen. Sofern Aufklärung dabei von vornherein als ein interpersonales und soziales Unternehmen aufgefasst wird, eröffnet es ferner die Möglichkeit, abweichende Perspektiven und kritische Einwände – ganz gleich, ob sie das Resultat eigener oder fremder Einsichten sind – als Irritationen, positiv: als Anlässe für eine Erweiterung bisher erreichter Einsichten zu nehmen. Die dadurch zurückgelegte Entwicklung kann dann als Ganze ihrerseits mit dem Begriff der Aufklärung bezeichnet werden. Konkrete Verfahren und Maßnahmen, die beanspruchen, nach Aufklärung zu streben, müssen unseres Erachtens dieser selbstbezüglichen, kritischen, prozessualen und normativen Anlage des Aufklärungsbegriffs Rechnung tragen. Um nun zu prüfen, ob und inwiefern einzelne Darstellungen diesem Anspruch genügen, oder eben nicht, bedarf es allerdings noch einer Methode, auf deren Basis sich die jeweils konkreten Sinngehalte der Darstellung benennen und schließlich auch unter dem Anspruch des skizzierten Aufklärungs­ verständnisses prüfen lassen. Die pragmatistische Bedeutungstheorie von Charles S. Peirce stellt unseres Erachtens für beide Aufgaben – nicht nur für die Explikation und Klärung von Bedeutungen, sondern auch für ihre kritische Reflexion – eine geeignete methodische Grundlage dar. Denn diese Bedeutungstheorie gründet in einer umfassenderen Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die ihrerseits als ein aufklärerisches Unternehmen angelegt ist. 2. Wissenschaftliche Methode und pragmatistische Sinnkritik

Peirce entwickelt seine pragmatistische Bedeutungstheorie auf der Grundlage der sogenannten „Methode der Wissenschaft“, die ihrerseits auf einem breit angelegten Logikkonzept gründet. Logik wird darin als „Wissenschaft von den Bedingungen“ verstanden, die es ermöglichen, dass wir Symbole auf Gegenstände beziehen können17. Der Zeichen- bzw. Medienbegriff, den die17  Vgl.

Peirce, Harvard-Vorlesung, S. 104.



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ses Konzept zur Anwendung bringt, wird in einem handlungstheoretischen Kontext entfaltet. Auf diese Weise können auch die bedeutungsvermittelnden, erfahrungsstrukturierenden Dimensionen nicht-sprachlicher und ästhetischer Medien bzw. Zeichen sowie ihre Wirkungen für die menschliche Praxis und das menschliche Selbstverhältnis erschlossen werden. Sein Ansatz bildet deshalb einen geeigneten Anknüpfungspunkt, um auch visuell vermittelte Gehalte zu untersuchen und eine kritische Perspektive auf sie zu entwickeln. Die Verwirklichung der „Wissenschaftlichen Methode“ hat Peirce allein im Rahmen eines kooperativ fortschreitenden Prozesses der Prüfung grundsätzlich fallibeler Hypothesen einer zeitlich und räumlich unbegrenzten, insofern also idealen Forschungsgemeinschaft für möglich erachtet. Die Begriffe „Wahrheit“ und „Richtigkeit“ erhalten in diesem Prozess den Status von „regulativen Ideen“, die deshalb in jedem konkreten Akt der Forschung postuliert werden müssen, weil anderenfalls Forschung als Prozess und Streben nach Aufklärung nicht einmal angemessen beschrieben noch in seiner Ausrichtung eingesehen bzw. verstanden werden könnte. Zugleich legt Peirce damit alle Einsichten, Überzeugungen und Forschungsresultate, die zu Recht als „Wissen“ gelten können sollen, darauf fest, dass sie genuin öffentlich („transparent“) sein müssen und dass in den Verfahren ihrer weiteren Bestimmung niemand per se ausgeschlossen werden darf, der oder die zur Verbesserung der Verfahren hilfreich sein könnte. Dieser „holistische“ Ansatz wendet sich damit auch gegen vereinfachende, trivialisierende Denkweisen, in denen Bedeutungen von anderen Bedeutungen isoliert, Wissen individualisiert und komplexe Bedeutungen reduziert werden. Kurz: in denen „abstraktes Denken“ an die Stelle konkreter Sinnkritik und ihrer Entfaltung im pragmatischen Zusammenhang gesetzt werden. Die „wissenschaftliche Methode“ wird von Peirce als ein dialektischer Prozess schrittweiser Aufklärung entwickelt.18 Dieser Prozess steuert nicht planvoll und mit notwendiger Sicherheit direkt ein Ziel an, sondern operiert auf der Grundlage eines Verfahrens, das gerade durch die Aufdeckung von Fehlern und Irrwegen produktiv vorangetrieben wird und uns auf diese Weise, also auf indirektem Wege, der Wahrheit näherbringt. Uns geht es nämlich, wie Peirce meint, in der Regel in unseren Untersuchungen wie auch in unseren alltäglichen Schlussfolgerungen gar nicht um „die“ Wahrheit, sondern nur darum, möglichst schnell einen Zweifel zum Schweigen zu bringen und eine Überzeugung festzulegen – ganz gleich ob diese Über18  Peirce führt diese Methode in seiner frühen Schrift „The Fixation of Belief“ von 1877 ein (vgl. Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung), die zusammen mit der Schrift „How to Make Our Ideas Clear“ von 1878 (vgl. Peirce, Wie unsere Ideen zu klären sind) als Gründungsschriften des Pragmatismus gelten können. Wir werden uns im Folgenden v. a. auf diese beiden Aufsätze beziehen.

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zeugung nun wahr ist oder falsch.19 Und wir verfahren auf diese Weise, weil wir handeln müssen und es nur dann möglich ist zu handeln, wenn man eine Überzeugung hat. Umgekehrt gilt freilich: Dass man eine Überzeugung hat, kann man daran erkennen, dass man bereit ist, auch entsprechend zu handeln. Peirce begründet diesen Zusammenhang im Rahmen seiner sogenannten „belief-doubt-theory“: Gemäß dieser Theorie lässt sich einer Person genau dann eine Überzeugung zuschreiben, wenn sie etwas für wahr hält und sich zugleich von diesem für wahr Gehaltenen im Handeln leiten lässt. Denn eine Überzeugung zu haben schließt „die Einrichtung einer Regel des Handelns“ oder, wie Peirce auch sagt, einer „Verhaltensgewohnheit“, einem „habit“, ein.20 Tritt ein Phänomen auf, das sich auf der Basis bestehender Überzeugungen nicht erklären lässt oder einer bereits gesetzten Überzeugung logisch wiederspricht, dann macht sich ein Zweifel bemerkbar – ein „unangenehmer und unbefriedigender Zustand“21, von dem wir uns möglichst schnell durch die Festlegung einer neuen Überzeugung befreien wollen. Damit kommt dem Unterschied von „Zweifel“ und „Überzeugung“ nicht lediglich eine psychologische Dimension zu. Diese beiden Zustände sind vielmehr durch ihre jeweils verschiedenen Wirkungen, die sie auf uns haben, unterschieden: Während eine Überzeugung uns dazu befähigt, „uns in bestimmter Weise zu verhalten, wenn die Gelegenheit da ist“, hat der Zweifel hingegen „keinerlei derartige Wirkung auf unser Handeln, aber er regt uns zum Forschen an, bis er beseitigt ist“.22 Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage, warum wir uns nicht mit der erstbesten Antwort zufriedengeben, die sich uns zur Erklärung eines Phänomens anbietet. Oder anders gefragt: Wie kann überhaupt ein realer Zweifel entstehen, wenn eine Überzeugung zu erringen das Einzige ist, wonach wir streben? Zur Klärung dieser Frage verweist Peirce auf die Erfahrung einer besonderen Dialektik, nämlich auf die Erfahrung, dass sich Festlegungen von Überzeugungen selbst destruieren, wenn die Regeln, die ihrem schlussfolgernden Denken zugrunde liegen, nicht an den Gesetzen der Logik orientiert sind. Das Defizit solcher Formen zeigt sich also nicht daran, dass sie nicht zur „Wahrheit“ führen, sondern daran, dass Tatsachen ausgemacht werden, die der gesetzten Überzeugung widersprechen und deshalb nicht mehr in dieselbe integriert werden können. Es stellt sich also ein Widerspruch ein zwischen den Resultaten der Methode, seine Überzeu19  „Insofern ist das einzige Ziel des Forschens, eine Meinung festzulegen“ (Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung, S. 301). 20  Peirce, Wie unsere Ideen zu klären sind, S. 334. 21  Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung, S. 300. 22  Ebd., S. 301.

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gungen festzulegen, und den Inhalten der Erfahrung, die auf der Grundlage dieser Überzeugungen gemacht wird. Dabei ist es vor allem die konkrete Praxis, die sich an die jeweiligen Überzeugungen anschließt, an der die jeweiligen Formen ihre Bewährung finden müssen und finden werden. Peirce diskutiert verschiedene Methoden, wie man Überzeugungen festlegen kann, und zeigt, welches Moment in ihnen sozusagen selbstdestruktiv wirkt. In unserem Zusammenhang ist vor allem die erste der von ihm untersuchten Methoden, die „Methode der Beharrlichkeit“23 (method of tenac­ ity) von Relevanz: Ihre Vertreter_innen setzen eine irgendwann gefasste inhaltliche Überzeugung als Wahrheit und halten beharrlich an ihr fest. Sie verfügen über ausgeklügelte Strategien, nur bestätigende Erfahrungen als „Tatsachen“ gelten zu lassen und weisen Abweichungen als Ausnahmen oder Irrtümer zurück. Durch argumentative Gegenrede ist diese Methode nicht zu erschüttern, schon deshalb nicht, weil ihre Überzeugungen auch nicht auf argumentativem Wege gewonnen werden. In der Praxis scheitert diese Methode früher oder später: Als allgemeine Wahrheit gedacht, produziert sie unweigerlich konkurrierende Überzeugungen, ohne ein Instrumentarium zu ihrer Bewertung oder Integration an die Hand zu geben. Das erregt aber notwendig Zweifel – und so ist ein Beharren auf der eigenen Überzeugung nur mehr in der Isolation möglich. Was die „Methode der Beharrlichkeit“ erschüttert, ist also nicht die Wahrheit, sondern das Auftreten anderer Überzeugungen, die wiederum von anderen in eben derselben Weise für wahr gehalten werden. Dies kollidiert nicht etwa mit dem Wunsch nach Sozialität. Was auf lange Sicht selbstdestruktiv wirkt, ist allein die Tatsache, dass diese Methode den permanent drohenden Zweifel nicht integrieren kann. Auch die anderen Methoden, die Peirce in diesem Zusammenhang analysiert – die „Methode der Autorität“ und die „Apriori-Methode“ – scheitern im Ergebnis an dem Zweifel, den sie selbst produzieren, weil sie keine begrifflichen Mittel bereitstellen, um mit ihm umzugehen. Alle diese „Methoden“ sind also in der Konsequenz mit der Schwierigkeit konfrontiert, dass sie Überzeugungen, die denen widersprechen, die auf ihrer Grundlage gebildet werden, lediglich bekämpfen, disqualifizieren oder ausschließen, nicht aber integrieren können. Das hat zur Folge, dass sie selbst „polemogen“ wirken – d. h., wer ihnen folgt, muss sehr viel geistige Energie für die Untermauerung und Verteidigung des eigenen Standpunktes aufwenden, weil andere Meinungen und Sichtweisen nicht dazu genutzt werden können, die eigene Position zu kritisieren und weiterzuentwickeln. Am Ende hat nach Peirce nur die „Methode der Wissenschaft“ Bestand. Sie ist eine Methode, die immer schon bestehende Wissenszusammenhänge fortsetzt, ohne jemals einen absoluten Anfang gemacht haben zu müssen. 23  Vgl.

ebd., S. 304 f.

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Die wissenschaftliche Methode arbeitet also mit dem Begriff der Wahrheit, statt ihn zu setzen oder vorweg zu bestimmen, so dass deutlich wird, was jeweils den realen Zweifel tatsächlich erregt. Er gründet in der Unzufriedenheit über einander widersprechende Sätze, die sich auf ein und denselben Gegenstand beziehen. Dieser Zweifel ist damit nicht nur wirklich, sondern zugleich auch spezifisch und gerichtet. An die Hypothese der Wahrheit gebunden, erweist er sich außerdem als produktiv und kann als Einsicht in die prinzipielle Fallibilität aller Erkenntnis methodisch integriert werden. Aus diesem selbstbezüglich-kritischen und prozessualen Ansatz leitet Peirce nun ein Verfahren her, dass auch zur Klärung unserer Ideen und Gedanken und den konkreten Inhalten unserer Begriffe, Darstellungen oder allgemein der Zeichen, in denen wir denken und uns verständigen, erfolgversprechend sein kann. Dazu lässt sich die bereits erwähnte Verbindung zwischen unseren Überzeugungen und unserem Handeln nutzen: Gelangen wir in unserem Denken und Forschen zur Festlegung einer Überzeugung, so haben wir zugleich auch entsprechende Verhaltensdispositionen, einen habit, eingerichtet. Solche habits festzulegen, bezeichnet Peirce als den vornehmlichen Zweck unseres Denkens. Was immer nun mit einem Gedanken verbunden, aber für diesen Zweck irrelevant ist, das mag zwar „ein Zuwachs“ für den Gedanken sein, ist aber selbst „kein Teil von ihm“24. Entsprechend folgert Peirce: „Um die Bedeutung eines Gedankens zu entwickeln, haben wir daher einfach nur zu bestimmen, welche Verhaltensweisen er erzeugt, denn was ein Gegenstand bedeutet, besteht einfach in den Verhaltensweisen, die er involviert“25. Es gibt also nach Peirce keinen Bedeutungsunterschied, der sich nicht auch als Unterschied in der Praxis auswirkte – und unsere Idee von etwas ist dann die Idee von den möglichen Wirkungen und Konsequenzen dieses Etwas in der Praxis und nichts darüber hinaus. In all diesen Formulierungen darf man die experimentelle Dimension nicht übersehen: Es handelt sich bei der „Bedeutung“ eines Gedankens nämlich nicht um seine tatsächlichen Folgen, bei dem Begreifen einer Idee nicht um ihre faktischen Wirkungen. Was sich die wissenschaftliche Methode zu Nutze macht, sind nicht faktisch vorliegende Verbindungen zwischen Überzeugungen und Handlungen, sondern Verbindungen zwischen bestimmten Überzeugungen und bestimmten Handlungen, die auf der Grundlage schlussfolgernden Denkens entwickelt und im Rahmen eines Aufklärungsprozesses gerechtfertigt werden können. Deutlicher wird dieser Unterschied in der Formel, die Peirce später „Pragmatische Maxime“ nennt. Sie lautet: „Überlege, welche Wirkungen, die denkbarerweise praktische Relevanz haben könnten, wir dem Gegenstand unseres Begriffs in unserer 24  Peirce, 25  Ebd.

Wie unsere Ideen zu klären sind, S. 337.



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Vorstellung zuschreiben. Dann ist unser Begriff dieser Wirkungen das Ganze unseres Begriffes des Gegenstandes“26. Es geht also darum, die möglichen Konsequenzen in der Vorstellung kohärent und konsistent zu entwickeln und in einem konzeptuellen Gefüge von Bedingungsverhältnissen die Bedingungen der Erfahrung mit den erfahrenen Eigenschaften eines Gegenstandes zu vergleichen. Entscheidend ist, dass man diese Relation auch umkehren kann: Die Feststellung solcher Bedingungsverhältnisse erlaubt auch die Bestimmung der Begriffe von Gegenständen. Wir sind deshalb aufgefordert, solche konditionalen Relationen nicht nur in den vorhandenen Verhältnissen aufzuweisen, sondern sie auch in der Vorstellung zu erzeugen und für unser Handeln fruchtbar zu machen. III. „Abstraktes Denkens“ in Bildern – Pragmatistische Analyse und Kritik Wenden wir uns nun mit diesem methodischen Instrumentarium den aktuellen Kampagnen zu, dann sollte sich die Frage klären lassen, welche konkreten Gedanken bzw. Überzeugungen sich in den nicht-sprachlichen Darstellungen ausdrücken und wie sie unter dem skizzierten Aufklärungsverständnis zu beurteilen wären. Hierzu werden wir im Folgenden exemplarisch einige Überzeugungen und Inhalte, die sich in den jeweiligen Darstellungen ausdrücken, rekonstruieren und überlegen, wie sie aus sinnkritischer Perspektive heraus zu beurteilen wären und wie sie sich zu dem vorgeblichen Ziel der Kampagne, der Aufklärung über Organspende, verhalten. Dabei wird sich zeigen, dass sich die untersuchten Beispiele in bestimmter Hinsicht ähneln: Ihr Modus der Darstellung lässt sich dahingehend auf den Begriff bringen, dass ihre Inhalte auf je verschiedene, aber für den Einzelfall genau zu bestimmende Weise einem „abstrakten Denken“ Vorschub leisten. Was unter „abstraktem Denken“ zu verstehen ist, hat Hegel in seiner kleinen Schrift „Wer denkt abstrakt?“27 feinsinnig dargestellt. Danach verfehlt abstraktes Denken das Ideal, die Wirklichkeit in ihren vielfältigen Facetten zu erfassen, und zwar deshalb, weil es, so Hegels Formulierung, mit seinen Urteilen fälschlicherweise die „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend“28 macht. In der Subsumtion unter einzelne Prädikate bestimmender 26  Ebd., S. 339. „Consider what effects, that might conceivably have practical bearings, we conceive the object of our conception to have. Then, our conception of these effects is the whole of our conception of the object.“ (Peirce, How to Make Our Ideas Clear, S. 132) 27  Hegel, Wer denkt abstrakt? 28  Vgl. Hegel, Geschichte, S. 553: „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.“

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Urteile werden immer nur eine Seite und immer nur ein Teil der Wirklichkeit erfasst und dargestellt. Wenn aber die in solchen Urteilen als wirklich erscheinenden partikularen Bestimmungen eines bestimmten Phänomens schon für erschöpfende Bestimmungen der ganzen Wirklichkeit gehalten und als solche absolut gesetzt werden, dann verwandeln sie sich in ein einseitiges, eben „abstraktes Denken“. Auf diese Weise zerstört diese Form zu denken die Vielfältigkeit und Komplexität der Wirklichkeit. Wer „abstrakt“ denkt, löst so gesehen das in den wirklichen Zusammenhang Gebundene aus den Relationen, in denen es zu anderem Wirklichen steht. Aus diesem Zusammenhang gerissen, verwandelt es sich in ein davon Geschiedenes. Bestimmte Qualitäten, die einem Sachverhalt nur innerhalb dieser Relationen zukommen, erscheinen dann als Eigenschaften des Sachverhaltes und „vertilgen“29 unter Umständen andere, im wirklichen Zusammenhang damit ebenfalls verbundene Qualitäten, die nicht diesen vermeintlichen Eigenschaften entsprechen. Die „geschiedenen“ Prädikate erstarren in der Folge zu abstrakten Definitionen und Gemeinplätzen, die nicht mit den konkreten Fällen vermittelt sind. Und sofern ihre Bedeutungen als unabhängig von den dynamischen und interpersonalen Verhältnissen der Wirklichkeit ausgegeben werden, sind sie auch nicht mit den vielen Bedeutungsdimensionen, die konkrete Fälle annehmen können, vermittelbar. Einem in diesem Verständnis abstrakten Denken arbeiten konkrete Darstellungen dann zu, wenn durch sie bzw. in ihnen an die Stelle von Darstellungsweisen, die zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit komplexen Sachverhalten führen würden, solche treten, die zu differenzierten Sichtweisen weder anregen noch die erforderlichen Informationen bereitstellen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die jeweiligen Darstellungen über ihre offensichtliche Intention hinaus durch die besondere Art und Weise der Präsentation der Sachverhalte simplifizierende Einschätzungen nahelegen und uns mit dem, was sie instanziieren, auf ein reduktives Bild der tatsächlichen Verhältnisse festlegen. Abstraktes Denken wirkt sich vor allem im Zusammenhang der Praxis problematisch aus, wenn wir darauf unser privates oder öffentliches Handeln gründen. Dann nämlich besteht die Gefahr, dass wir in der praktischen Gestaltung unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit Tatsachen schaffen, deren mögliche und tatsächliche Bedeutungen und Wirkungen wir nicht antizipiert und kritisch kontrolliert haben. In diesen Fällen sind wir dann nicht mehr „Herr unserer eigenen Sinnintention“30, wie es Peirce formuliert hat. Das ist deshalb ein Problem, weil dadurch in der Praxis unweigerlich auf lange Sicht gesehen ein performativer Widerspruch eintritt, der 29  Ebd.,

S. 577. Wie unsere Ideen zu klären sind, S. 330.

30  Peirce,



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eine reale Verunsicherung, einen permanenten Zweifel in Bezug auf die Richtigkeit und Angemessenheit unseres weiteren Handelns hervorruft. In eine solche problematische Dialektik, das möchten wir im Folgenden zeigen, leiten auch die Darstellungen der aktuellen Organspendekampagnen, indem sie (1) einen Individualismus des Wissens und der Entscheidung für richtig und vernünftig ausgeben, (2) einem moralischen Dogmatismus Vorschub leisten und (3) ein Transmortalitätsverständnis begünstigen, das sich auf magisch-mythischen Vorstellungen gründet.31 1. Individualismus

Die aktuellen Kampagnen heben ganz auf die Selbstbestimmung der Einzelnen und ihre individuelle Entscheidung ab. So findet sich beispielsweise auf dem Informationsschreiben, das die AOK, die größte deutsche Krankenkasse, im Frühjahr 2013 an ihre Mitglieder verschickt hat, bereits auf dem Briefumschlag in großen grünen Buchstaben der Satz: „Nur einer sollte entscheiden. Und das sind Sie.“ Aber auch in Kampagnen mit Titeln wie „Organ­spende – Das ist meine Entscheidung“32 oder Slogans der Art „Ich entscheide selbst“33 und „Das kannst Du auch. Organspende heißt Leben retten“34, wird die individuelle Entscheidung und Handlungsmacht ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt. Dabei setzen die Kampagnen ganz auf willensstarke, mutige und selbstbewusste Personen, deren Entschlossenheit zum Durchgreifen durch groß porträtierte Personen des öffentlichen Lebens in heldenhafter Pose ins Bild gesetzt wird. Oft wird vom Motiv des Helden, der Leben rettet, auch ganz direkt Gebrauch gemacht, etwa in Kampagnen, die mit Comicfiguren wie Superman arbeiten, oder von Organspende-Initiativen, die sich „Junge Helden“ nennen.35 Dem Heroismus spielen auch schon ästhetisch die Isolation des Individuums aus seiner Mitwelt und von 31  Die folgenden Untersuchungen haben strikt exemplarischen Charakter und erheben keinen Anspruch darauf, die aktuellen Aufklärungsbemühungen in der Breite ihrer verschiedenen medialen Präsentationen zu erfassen. Um ein vollständigeres Bild zu erhalten, wären weitere empirische Untersuchungen hinzuzuziehen, wie sie etwa in den Beiträgen von Kahl/Weber sowie Hansen/Schicktanz in diesem Band vorgelegt werden. 32  Vgl. Plakatserie: „Entscheidungslösung“ der BZgA: http://www.bzga.de/info materialien/?sid=276 (letzter Zugriff: 01.08.2016). 33  Vgl. BZgA: Infobroschüre zur Organspende zum Thema Organpate, http:// www.organpaten.de/sites/all/files/files/Flyer_Infotour2011_Final.pdf (letzter Zugriff: 01.12.2014). 34  Vgl. http://www.pressebox.de/attachment/243277/CLPneu.pdf (letzter Zugriff: 01.08.2016). 35  http://www.junge-helden.de (letzter Zugriff: 01.08.2016).

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den Nahestehenden zu sowie der Rückgriff auf religiöse Motive („Du bist Gott“36). Offenbar sollen die Adressat_innen in ihren Selbstbeschreibungen auf diese Stilisierung zurückgreifen. Die Heldendarstellungen lassen sich nämlich unter Umständen zur Stabilisierung von einmal gefassten Entschlüssen gegen Widerstände von außen (Eltern, Partner_innen, Kinder) nutzen und sorgen auf diese Weise für die notwendige Standhaftigkeit in belastenden Situationen und gegen „irrationale“ Anwandlungen. Diese individualistische Anlage der Darstellungen leistet unseres Erachtens in zweierlei Hinsicht einem abstrakten Denken Vorschub: Erstens verleitet sie dazu, nur die eigenen Überzeugungen und Vorstellungen des Guten in den Überlegungs- und Entscheidungsprozess einzubeziehen, nicht aber die Perspektive Anderer, vor allem die der Angehörigen. Die Angehörigen werden – übrigens nicht nur in den Kampagnen, sondern auch im politischen und medialen Diskurs über die Organspende – in der Regel zu einer homogenen, aber nicht konstitutiven Größe zusammengefasst. Sie müssen allenfalls von der entscheidenden Person über ihre Entscheidung „informiert“ werden, damit sie wissen, was das Individuum will („Weiss jemand, was Du willst?“37) und entsprechend handeln können, oder sie kommen ausschließlich als Beteiligte in Betracht, die von der Bürde der Entscheidung zu entlasten seien.38 Ein solcher Diskurs verdrängt jedoch die Tatsache, dass der Tod – anders, als die Vorstellung einer rein individuellen Entscheidung suggeriert – ein interpersonales Ereignis darstellt. Zwar ist es sicher richtig, dass der Tod immer nur einer bestimmten Person widerfährt, aber daraus ist nicht schon zu folgern, dass dieses Ereignis deshalb im praktischen Zusammenhang isoliert betrachtet werden darf. Tatsächlich müssen nämlich vor allem die anderen Gesellschaftsmitglieder und insbesondere die Angehörigen mit dem Tod einer Person zurechtkommen und diese spezifische Erfahrung in die Kontinuität des Bewusstseins und der eigenen Vorstellungen über den Tod integrieren. Ihre Deutungen des Erlebten gehen daher notwendig über den Tod der betreffenden Person hinaus und schließen zum Beispiel auch das ein, was mit dem Leichnam geschieht und wie mit ihm verfahren wird. Der Tod als physiologisch beschreibbares Ereignis mag zwar allein das Individuum betreffen, die Gefahr des abstrakten Denkens tritt aber dann ein, wenn man meint, von der Kontinuität der Deutungen, die trotz dieses Ereignisses im interpersonalen Zusammenhang gegeben ist, absehen zu können. Für die Nahestehenden ist möglicherweise auch der Leichnam auf Grund sich überstür36  http://www.grafik-guerilla.de/wp-content/uploads/2011/01/DU-BIST-GOTT.jpg (letzter Zugriff: 01.08.2016). 37  http://www.badenertagblatt.ch/schweiz/neulancierung-der-sensibilisierung kampagne-zu-organspenden-1312799 (letzter Zugriff: 01.08.2016). 38  Die vorgebliche Entlastungsfunktion einer „Erklärungslösung“ wird immer wieder als Argumente für diese Reglung angeführt. Kritisch dazu: Lübbe.



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zender Ereignisse oder überraschender Wendungen nicht so schnell auf seine dinglichen Qualitäten zu reduzieren, wie es nötig wäre, um sich zu ihm in ein instrumentelles Verhältnis zu setzen, wie es die Organspende erfordert. Die Erwartung, dass zur Regelung dieser Situation eine vorweg getroffene Festlegung auf bestimmte Handlungen und Haltungen mit Sicherheit eine befriedigende Lösung darstellt, hat eine hohe Wahrscheinlichkeit, in der interpersonalen Situation des Todes als unangemessen erlebt zu werden. Zweitens verengen die Kampagnen die Auseinandersetzung mit dem Thema auf den Akt des Entscheidens unter einer binären Entscheidungsstruktur: „Organspende – Ja oder Nein?“39. Dabei beinhaltet diese Entscheidung eine Entscheidung für oder gegen eine klar geregelte und rechtlich normierte Praxis. Was in den Darstellungen dieser scheinbar vollkommen berechenbaren und übersichtlichen Entscheidungssituation nicht thematisiert wird, ist das Faktum, dass sich gerade die besonderen Umstände des zukünftig eigenen Todes der Vorabverfügung des jeweiligen Individuums entzieht. Denn die entscheidende Person kann ja die Situation, für die eine Handlungsentscheidung getroffen wird, nur im Allgemeinen und schematisch antizipieren, aber weder die besonderen Bedingungen der Situation, noch deren konkrete Wirkung auf die, die in der Situation beteiligt sein werden, absehen. Es kann nicht einmal mit Sicherheit abschätzen, wer in der konkreten Situation tatsächlich beteiligt sein wird. Dennoch werden die Beteiligten durch die Entscheidung auf bestimmte Handlungen festgelegt sein, die im weiteren die Situation wesentlich prägen werden, allerdings ohne dass diese Handlungen auf die besonderen Verhältnisse abgestimmt wären, oder in der Situation noch korrigiert werden könnten. Das führt nun unweigerlich dazu, dass die getroffene Festlegung unter den besonderen Umständen zukünftiger Situationen mit den Überzeugungen anderer beteiligter Menschen kollidiert oder kollidieren kann. Es gehört also, so lässt sich mit Peirce sagen, zu den „practical bearings“ einer solchen individualistisch verengten und von den besonderen Umständen losgelösten „Entscheidung“, dass diese voraussichtlich Diskrepanzerfahrungen hervorrufen wird. Das bedeutet, es müsste eigentlich als eine „denkbare“ Folge berücksichtigt werden und gehört damit zu der Bedeutung des Konzepts der Zustimmung zur Organspende, dass eine Handlung, die auf ihrer Grundlage vollzogen wird, in der konkreten Situation einen Zweifel an der eigenen Überzeugung hervorbringen könnte. Genau diese mögliche praktische Konsequenz wird in den Kampagnen aber gerade nicht kommuniziert. Dass die Umstände des eigenen Todes sich möglicherweise ganz anders gestalten könnten, als es die monokausalen Projektionen der Umstände und der Situation des Todes, die vorliegenden Erfahrungen oder die medial vermittelten 39  https://hessen.aok.de/inhalt/organspende-ja-oder-nein/ (letzter Zugriff: 01.08.2016).

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Vorstellungen in die Zukunft glauben machen, wird sprachlich und ästhetisch ausgeblendet oder nur insoweit thematisiert, als dies Faktoren sind, die man, gerade weil man über sie nichts Genaues wissen kann, auch nicht berücksichtigen müsse. Damit führen die Inhalte der jeweiligen Darstellungen also, soviel lässt sich als Ergebnis dieses ersten Analyseschrittes festhalten, in eben jene performativen Widersprüche, die Peirce im Rahmen seiner Methodenkritik als Indizien dafür ausweisen konnte, dass der Gestaltung der Praxis eine einseitige oder reduktive Darstellung der Wirklichkeit zugrunde gelegt worden ist. In diesem Fall entstehen die Widersprüche auf Grund der Dialektik, die zwischen der individualistisch geprägten Überzeugung eintritt, dass der Tod allein das Individuum betreffe und der Erfahrung, dass der Tod ein interpersonales Ereignis ist, so dass mit ihm auch jede praktische Entscheidung im interpersonalen Zusammenhang steht. Da die Darstellungen der Kampagnen selbst keine Mittel zur Verfügung stellen, um diese Dialektik zu durchbrechen – im Gegenteil: ihre Bilder und Slogans führen ja gerade in jene Dialektik – zwingen sie in der Konsequenz alle an der Praxis Beteiligten dazu, der „Methode der Beharrlichkeit“ zu folgen und sich also mit den entstehenden Verhältnisse bloß abzufinden, anstatt sie zur Zufriedenheit aller zu gestalten. 2. Moralischer Dogmatismus

Ein weiteres gemeinsames Merkmal der Kampagnen besteht darin, dass sie nicht nur zu einer selbstbestimmten Entscheidung ermutigen, sondern zugleich auch unmissverständlich aussprechen, worin die richtige Entscheidung besteht: „Fürs Leben. Für Organspende“40. Doch nicht nur sprachlich durch die Slogans, sondern auch bildlich durch eine „Ikonographie des Guten“41 wird eine „Pro-Einstellung“ zur Organspende vermittelt und die Organspende in den Rang eines moralisch schätzenswerten Aktes der Hilfeleistung oder der Nächstenliebe gehoben. Weil die Darstellungen nicht zuletzt aufgrund eines eklatanten Mangels an weiteren Informationen suggerieren, man könne durch die bloße Unterschrift auf einem Organ­ spendeausweis „Leben retten“, und weil der Wert des Lebens absolut gesetzt 40  Vgl.

http://www.fuers-leben.de/ (letzter Zugriff: 01.08.2016). wird mit Motiven wie Superman, Adam und Eva, Gott und Engeln: vgl. z. B. die Kampagnen mit den Bildaufschriften: „Du bist Gott“, http://www. grafik-guerilla.de/wp-content/uploads/2011/01/DU-BIST-GOTT.jpg (letzter Zugriff: 01.08.2016), http://www.gesundheitlicheaufklaerung.de/organspende-und-hirntodsagt-man-uns-alles (letzter Zugriff: 01.08.2016) oder: „Man muss kein Engel sein, um ein Leben zu retten“, http://www.archive.designpf.com/2011/10/11/ausstellungorganspende/ (letzter Zugriff: 01.08.2016). 41  Gearbeitet

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wird, erzeugen die Kampagnen zugleich die Vorstellung, der zufolge sich all jene, die sich der Unterschrift „verweigern“, der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machten. Wer nicht spendet, so ihre implizite Botschaft, ist für den „Tod auf der Warteliste“42 moralisch verantwortlich oder nimmt ihn zumindest billigend in Kauf. Folgt man dieser Logik, dann scheint ein höherer moralischer Druck zur Spende, wie er in den skizzierten Kampagnen und Informationsmateri­alien gegenwärtig aufgebaut wird, ein durchaus legitimes Mittel zu sein, um die Zahl der Organspenden zu erhöhen.43 Untersucht man diese moralischen Intuitionen im Hinblick auf ihre begrifflichen Implikationen, dann lässt sich zeigen, dass diese Intuitionen letztlich in einen moralischen Dogmatismus führen. Die Kampagnen setzen die Überzeugung ins Bild, das allgemeine Werte wie Nächstenliebe oder Lebensrettung durch feststehende standardisierbare Handlungen ausgedrückt oder realisiert werden könnten und dass sie deshalb auch unter Absehung von allen Umständen (und ebenso: unter allen Umständen) verwirklicht werden könnten. Doch dieser Überzeugung liegt ein fragwürdiges Verständnis sowohl unseres Handelns als auch moralischer Werte oder Güter zu Grunde. Tatsächlich wohnt der moralische Gehalt oder die Qualität einer Handlung dieser gar nicht per se inne – es gibt „die Handlung“ ja nicht außerhalb eines konkreten Handlungskontextes. Vielmehr ist ihre jeweilige Qualität immer nur im jeweils individuellen Vollzug und in der Gemeinschaft mit anderen unter Berücksichtigung der jeweiligen Handlungssituation bestimmbar. Deshalb entzieht sich der „Wert“ einer Handlung auch prinzipiell einer Standardisierung in Form von Handlungsanweisungen. Ebenso erhalten auch Güter, die im Allgemeinen als wünschenswert gelten (wie zum Beispiel die Lebensverlängerung) erst unter den jeweils besonderen Umständen des jeweils konkreten Lebens einen Wert oder eben keinen Wert. Das gilt auch für den vermeintlich absoluten Wert des Lebens: Was das Leben zu einem guten Leben macht oder eben nicht, ist nicht „an sich“ zu bestimmen, sondern hängt von weitergehenden Evaluierungen ab. Die Verbindung von bestimmten Handlungen („Unterschreiben eines Organspendeausweises“) mit bestimmten Werten („Leben retten“) stellt so gesehen einen weiteren Höhepunkt der Entdifferenzierung und des abstrakten Denkens dar. Im Horizont dieses Denkens können religiöse oder kulturelle Vorbehalte gegenüber der Organspende ebenso wenig einen Anspruch auf moralischen Schutz geltend machen, wie der Wunsch, nicht auf der Intensivstation zu sterben oder wie Zweifel an der Hirntodkon42  Breyer,

et al. einen größeren moralischen Druck zur Spende plädieren u. a. auch einige Moralphilosoph_innen: vgl. etwa Birnbacher, S. 20; Harris, S. 301–305; SchöneSeifert, S.  41 f.; Hoerster, S. 109. Als Akt der Nächstenliebe wird die postmortale Organspende auch explizit von den beiden großen christlichen Kirchen in Deutschland gewertet (vgl. Deutsche Bischofskonferenz/Rat der EKD, S. 23). 43  Für

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zeption. Würde man nämlich mit den moralisierenden Appellen aus den Organspendekampagnen ernst machen, dann bedeutete dies in letzter Konsequenz, dass es keine im moralischen Sinne guten Gründe gegen eine Spende geben könnte. Wird der Vollzug der Handlung selbst als moralisch notwendig gefordert, wären mit diesem Anspruch zugleich alle möglichen Einwände gegen diese Handlung ohne weitere Begründung, und insofern dogmatisch, übertrumpft. Aus pragmatistischer Sicht steht nicht nur die Dekontextualisierung von Handlungen und Werten und ihre Abstraktion von den realen praktischen Verhältnissen zum Unternehmen einer Ethik insgesamt in einer grundsätzlichen Spannung, sondern auch die Vorstellung, der zufolge ethische Entscheidungen Sache einer individualistisch verstandenen Selbstbestimmung sein können. Genauso wie nicht sinnvoll von „Wissen“ und „Wahrheit“ gesprochen werden kann, wenn das, was als solches gelten soll, nicht den Bedingungen allgemeiner Verfahren der Rechtfertigung genügt und gemäß allgemeinen Verstehensbedingungen einer Pluralität von Personen vermittelt werden kann, so gilt auch für ethisch valente Entscheidungen, dass sie nicht „richtig“ sein können, wenn sie per se mögliche Sichtweisen anderer ausschließen oder wenn die denkbaren „practical bearings“ einer Überzeugung ausschließlich in Bezug auf ein Individuum entwickelt werden. Der für jede Ethik zentrale Gedanke der Vermittlung von Individuum und Gemeinschaft über Perspektiven oder Verfahren der Dezentrierung würde in diesen Fällen missachtet. Wenn man anerkennt, dass ethische Entscheidungen sinnvollerweise nur im Rahmen vieldimensionaler Prozesse getroffen werden können, in denen die Interpersonalität als konstitutives Moment unserer Praxis Berücksichtigung findet, so wirkt dies hinauf bzw. hinunter bis auf die Ebene der Grundbegriffe ethischer Entscheidung. Die Begriffe „Person“, „personale Identität“, „Handlung“ und „Leib“ ebenso wie die Verhältnisse, die darauf aufbauen, erhalten ihre Bestimmung damit notwendigerweise auch aus den praktischen interpersonalen Relationen und erweisen sich darin als Funktionsbegriffe. In den Darstellungen der Kampagne werden aber auch diese Begriffe durchweg individualistisch und substantialistisch bestimmt. Das aber ist kein „bloß“ theoretisches Problem, sondern hat seinerseits praktische Folgen. So wird die fraglos witzige, materialistische Rückübersetzung von gut etablierten Metaphern – „Ich schenk’ Dir mein Herz!“44 – auch in der Darstellung von Organen als materialen Teilen der Person und als deren 44  https://ichschenkdirmeinherz.wordpress.com/ (letzter Zugriff: 01.08.2016). Ebenso: http://brauser24.de/2013/11/thema-organspende-ich-schenke-dir-mein-herz/ (letzter Zugriff: 01.08.2016). Zum Status und zur Funktion der Gabe innerhalb der Transplantationsmedizin vgl. Motakef.



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Eigentum, das man zumindest verschenken kann, fortgeführt. In manchen Kampagnen, wie der Kampagne „Hope“45, werden in dieser Weise sogar rechtliche Verhältnisse, wie zum Beispiel die Staatsbürgerschaft, die nun nichts „Völkisches“ mehr an sich haben sollte, naturalisiert, in dem sie in Körperteilen „inkarniert“ zu sein scheint: Die Bilder der Kampagne präsentieren einen davidgleichen „Israeli“, dessen Hüfte mit dem Wort „Arab“ gekennzeichnet ist; oder eine erhabene Hindu mit einem „muslimischen“ Herzen. Herzen oder Hüften sind aber weder Israeli noch Arab, Muslim oder Hindu, sondern Organe. Indem sie in diesem Fall sogar für die „Völkerverständigung“ oder der Verständigung zwischen den Religionen nutzbar gemacht werden sollen, stellen diese materialistischen Übertragungen einen hochkomplexen, mühevollen und im Kern politischen Prozess wie den der „Völkerverständigung“ als etwas dar, das sich in einem einzigen Akt verwirklichen lässt. Damit werden Individuen in den Rang globaler Problemlöser_innen gehoben und die Rezipient_innen der Kampagnen, so könnte man mit Roland Barthes sagen, bloß „an der Oberfläche“46 schwieriger und verwickelter Situationen gehalten. Denn es sollte schnell klarwerden, dass aus bloßen Tauschverhältnissen mitnichten schon eine Verständigung zwischen Individuen und noch weniger eine zwischen „Völkern“ folgt. Diese Übertragungen bergen darüber hinaus aber auch einen Kategorienfehler, weil sie die materielle Persistenz einzelner Körperteile mit dem Personsein verwechseln. Tatsächlich sind Personen in praktischen Verhältnissen aber gerade nicht mit ihren materiellen Teilen identisch. Lässt man dies außer Acht und folgt stattdessen dem Angebot naturalisierender Vorstellungen von „Personsein“ und „personaler Identität“, dann kann der bereits ins Bild gesetzte Schritt einer Übertragung des Personseins bzw. „personaler Teile“ auf andere Personen auch dazu genutzt werden, um entsprechende Transmortalitätsvorstellungen daran anzuschließen. 3. Transmortalität47

In vielen Organspendekampagnen wird als Grundmotiv die „Weitergabe des Lebens“ gewählt. Dieses Motiv kommt bereits im bekannten Slogan „Organspende schenkt Leben“48 zum Ausdruck, mit dem die BZgA über Organspende informiert und der auch auf den Organspendeausweisen auf45  http://www.coloribus.com/adsarchive/prints/hope-human-organ-procurementand-educationisraeli-5585105/ (letzter Zugriff: 01.08.2016). 46  Barthes, S. 17. 47  Eine ausführlichere Darstellung der in diesem Abschnitt entwickelten Argumentation findet sich in unserem Aufsatz: „Der Tod ist das Ende dieses Lebens. Kritische Überlegungen zum Begriff der Transmortalität“ (vgl. Esser/Kersting). 48  Vgl. https://www.organspende-info.de/start (letzter Zugriff: 01.08.2016).

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gedruckt ist. Visualisiert wird dieses Motiv in Variationen traditioneller Ikonographien zum Beispiel in Form eines als Geschenk dargebotenen Herzens49, oder in Motiven wie der Geburt50, der Wiedergeburt oder der Reinkarnation51. Solche Darstellungen nehmen einen weit geteilten Wunsch auf: den Wunsch, nach dem Tod noch irgendwie „präsent“ zu sein, auf irgendeinem Weg „postmortale Wirkungen“ hervorzubringen und dadurch – jedenfalls in einem gewissen Sinne – den eigenen Tod zu „überschreiten“. Der Wunsch nach einer solchen Transmortalität ist kulturgeschichtlich keineswegs neu: Man trifft auf ihn in religiösen oder mythischen Zusammenhängen und selbst die rechtliche Möglichkeit der postmortalen Willensverfügung ist ein Instrument, dem Wunsch danach, den Gang der Dinge über die Grenze der eigenen Existenz hinaus noch bestimmen oder zumindest ein wenig beeinflussen zu können, Rechnung zu tragen. In den Kampagnen werden Transmortalitätsvorstellungen nun aber in einer sehr speziellen und unseres Erachtens hoch problematischen Weise evoziert: Ihre Darstellungen suggerieren nämlich, dass die Person durch die Organspende nach ihrem Tod noch als Person fortexistieren würde. In ihnen wird die Organspende also als ein Mittel inszeniert, mit dem sich der Wunsch nach solcher „Transmortalität“ in einem buchstäblichen Sinne erfüllen lässt; zumindest schließen sie die Möglichkeit einer solchen Erfüllung nicht explizit aus. Hierdurch laufen die Kampagnen abermals einem aufklärerischen Anspruch entgegen, in dem sie ganz gezielt eine Verwirrung unserer Begriffe von Leben und Tod erzeugen, die dazu führt, dass sich unsere Vorstellungen von Leben und Tod in ein magisch-mythisches Denken verstricken: In unserem alltäglichen Leben ebenso wie in den Wissenschaften vom Leben lassen sich zwei unterschiedliche Verwendungsweisen des Ausdrucks „Leben“ unterscheiden: Auf der einen Seite nehmen wir mit dem Ausdruck „Leben“ auf biologische Prozesse Bezug, die sich an lebendigen Körpern beobachten lassen. Auf der anderen Seite meinen wir mit Leben all die Tätigkeiten und Aktivitäten, die wir als Subjekte unseres Lebens selbst vollziehen und die in ihrer Gesamtheit unsere Lebensgeschichte bilden – eine Geschichte, die uns allererst zu individuellen und einzigartigen Personen macht. Diese Differenz zu beachten ist wichtig, um die Konzeption des Hirntodes angemessen zu verstehen. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung lässt sich nämlich sagen, dass Hirntote zwar noch in einem biologischen Sinne lebendig sind – ansonsten könnte man ihre Organe nicht 49  http://brauser24.de/2013/11/thema-organspende-ich-schenke-dir-mein-herz/ (letzter Zugriff: 01.08.2016). 50  www.adsoftheworld.com/media/print/indt_fisherman?size=original (letzter Zugriff: 01.08.2016). 51  www.coloribus.com/adsarchive/prints/red-cross-kidneys-12189855/ (letzter Zugriff: 01.08.2016); vgl. auch: www.gorecycleyourself.com (letzter Zugriff: 01.08.2016).

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mehr verwenden – dass sie aber, zumindest laut geltendem Gesetz, in einem personalen Sinne tot sind. Die Vorstellung, wonach es die Person selbst sei, die durch die Spende von Organen ihren Tod „überschreitet“, kann demgegenüber nur aufgebaut werden, wenn man diese zentrale Differenz im Begriff des Lebens nivelliert bzw. die personale Dimension auf die biologische Dimension reduziert und in der Folge die Kontinuität biologischer Lebendigkeit irrtümlicherweise für eine Kontinuität des personalen Lebens hält. Damit aber führen sie auf ein magisch-mythisches Verständnis des Lebens, das auf der Grundlage eines magisch-mythisch aufgeladenen Materialismus aufgebaut wird. Helmuth Plessner arbeitet in seiner Untersuchung Über die Beziehung der Zeit zum Tode einen aufklärenden Zusammenhang heraus, der zwischen materialistischen Welt- und Zeitvorstellungen und damit verbundenen mythischen Todesvorstellungen besteht und der zur Explikation und Kritik von Transmortalitätsvorstellungen hilfreich ist.52 Plessner macht deutlich, dass Vorstellungen vom Tod als eines bloßen Übergangs zur Wiederauferstehung, zur Wiedergeburt oder zur Wiederverkörperung gleichermaßen auf ein zyklisches Zeitverständnis rekurrieren müssen, das seinerseits mit einem Verständnis vom Leben als personalem Leben und damit vom Tod als einem absoluten Ende dieses Lebens unvereinbar ist. Denn „Leben“ im personalen Sinne der individuellen Lebensgeschichte setzt die Vorstellung eines linearen Zeitbegriffs voraus, „die ein gerichtetes Grenzbewusstsein möglich macht und alles in das Licht des Einmaligen, Unwiederholbaren taucht“53. Transmortalität im Sinne einer Wiederauferstehung, Wiedergeburt oder Wiederverkörperung kann hingegen nur gedacht werden, wenn von der Individualität des personalen Lebens abstrahiert und personale Identität auf materielle oder organische Persistenz reduziert wird.54 Denn wenn „Leben“ im Sinne der biologischen Lebendigkeit auf eine materialistische Basis gestellt wird, kann der Tod als Station oder Moment eines „Zyklos“55 umgedeutet werden, da mit ihm lediglich eine Veränderung innerhalb einer materialen Kontinuität eintritt. Um dennoch eine personale Fortexistenz zumindest nicht auszuschließen, muss noch die Vorstellung der Materie als irgendwie beseeltes, aufnehmendes und konservierendes Medium hinzutreten. Denn nur so kann die Suggestion einer Kontinuität nicht nur der materiellen, sondern auch der personalen Aspekte und ihres Weiterwirkens aufrechterhalten werden. Eine „Beseelung“ und „Personifizierung“ von Dingen und Plessner. S. 229. 54  „Das im Kyklos geordnete Weltgefüge kennt den Tod nur als organisches Phänomen“ (ebd., S. 227). 55  Ebd., S. 242. 52  Vgl.

53  Plessner,

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Materie ist allerdings das Charakteristikum eines magischen Denkens, das, wie Plessner mit Bezug auf kulturanthropologische Studien herausarbeitet, die Grundlage mythischer Weltverhältnisse ausmacht. Mithilfe von Plessners Analyse lässt sich eine gemeinsame Struktur in den Transmortalitätsdarstellungen der Organspendekampagnen aufzeigen: Auch in ihnen wird einerseits die Differenz von personalem Leben und biologischer Lebendigkeit nivelliert und andererseits organische Materie in magisch-mythischer Weise personifiziert, indem das materielle Substrat so dargestellt wird, dass es die Kontinuität der personalen Eigenschaften irgendwie gewährleistet. Im Ergebnis dieser Analyse lässt sich festhalten, dass die Verwechselung von personalem Leben und biologischer Lebendigkeit und die magisch-mythischen Vorstellungen, die hierdurch evoziert werden, dem eigentlichen Anliegen der Kampagnen geradewegs entgegenarbeiten. Durch diese Verwechselung wird in den Kampagnen nämlich gerade unterminiert, was die Proponenten der Transplantationsmedizin als deren Legitimationsgrundlage benötigen: die Überzeugung, dass Hirntote tot sind. Auf der einen Seite verfolgen Institutionen wie die Bundesärztekammer, die BZgA oder die DSO erklärtermaßen und mit einigem Aufwand das Ziel, die Bürger_innen davon zu überzeugen, dass Menschen zum Zeitpunkt der Organexplantation tot sind. Auf der anderen Seite werden Kampagnen geschaltet, die in Aussicht stellen, dass Menschen durch die Organexplantation in eine „Zwischenwelt“ gelangten oder irgendwie weiterleben, und also noch nicht tot sind. Das ist verwirrend – und so verstetigen die Kampagnen gerade die Verwirrung, der die Betroffenen in ihrem Umgang mit Hirntoten ausgesetzt sind; sie beruhigen nicht ihre Unsicherheiten und Ängste, sondern schüren sie noch. Möglicherweise sind die Handelnden aber doch nicht so verwirrt, wie die Strateg_innen der Werbekampagnen glauben machen wollen. Empirische Untersuchungen belegen zwar, dass auch die Betroffenen selbst mit der Organspende zuweilen die Vorstellung verbinden, die gestorbene Person wäre im transplantierten Organ noch „irgendwie“ präsent: Manche Organempfänger_innen berichten davon, nach einer Herztransplantation eine „Verbindung“ zum Organspender zu spüren.56 Und von Seiten der Angehörigen wird in die Organspende zuweilen die Hoffnung gesetzt, dass die verstorbene Person mit ihrem Tod noch nicht vollständig abwesend ist.57 Fragen wir aber unter der pragmatistischen Perspektive danach, welche Überzeugungen die Akteur_innen im Kontext der Organspende vom Tod Kalitzkus, S.  203 ff. habe gedacht, wenn wenigstens ein paar Organe von ihm weiterleben können, dann ist ja immer noch etwas von ihm da. Auch wenn er in anderen Körpern weiterlebt, aber es sind seine Organe. Und wer weiß, was von ihm da alles noch mitlebt. Das hat mir schon geholfen.“ (Kalitzkus, S. 147) 56  Vgl. 57  „Ich

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haben und wie darin der Status von Transmortalitätsvorstellungen zu bestimmen ist, dann fällt sofort auf, dass auch im Zusammenhang der Organspende der Tod eines Menschen von allen Beteiligten früher oder später als ein Ereignis wahrgenommen und behandelt wird, das den unwiederbringlichen Verlust einer Person herbeiführt. Warum auch sonst sollte der Tod einer Organspenderin betrauert werden? Warum wird das Angehörigengespräch von allen Beteiligten in der Regel als belastend und die Anfrage zur Organspendebereitschaft während des Trauerprozesses oftmals als eine Zumutung wahrgenommen? Warum sollten die Angehörigen überhaupt in feierlichen Ritualen, wie der Urnenbeisetzung oder der Bestattung, Abschied von der verstorbenen Person nehmen, wenn sie tatsächlich der Überzeugung wären, die Person sei gar nicht wirklich gestorben, sondern lebte im Körper anderer Menschen weiter? Gerade in diesen Handlungen des Abschiednehmens, im Vollzug von Trauerritualen und dergl. artikuliert sich unmissverständlich die Überzeugung, dass der Tod das endgültige Ende und nicht die Fortexistenz der Person ist. Wenn nun aber der Begriff von etwas – in diesem Fall: der Begriff vom Tod – in gar nichts anderem besteht, als „in den Ver­ haltensweisen, die er involviert“58, sich diese Verhaltensweisen im Kontext der Organspende aber hinsichtlich der fraglichen Überzeugung, dass der Tod das Ende des Lebens einer Person ist, gar nicht vom Umgang mit dem Tod außerhalb dieses Kontextes unterscheiden, dann handelt es sich bei den Transmortalitätsvorstellungen, die die Handelnden im Kontext der Organspende ausbilden, offenbar nicht um Vorstellungen, denen der Status einer Überzeugung im Peirceschen Sinne zugesprochen werden könnte. In der Regel präsentieren sich Transmortalitätsvorstellungen – sei es in Berichten Angehöriger, sei es in Werbekampagnen zur Organspende – auch nicht als Tatsachenwissen, also als empirische Beschreibungen von Sachverhalten in der Welt, sondern artikulieren sich in Andeutungen und vagen Vermutungen, in Hoffnungen, Wünschen oder diffusen Ängsten. Als solche sind sie offenbar nicht so manifest, dass sich die Einzelnen gezwungen sähen, ihr Handeln zu ändern. Die Ausbildung von Transmortalitätsvorstellungen stellt für sie eher eine Bewältigungsstrategie dar, mit dem Tod als Ende eines konkreten Lebens umzugehen, als dass sie in Frage stellt, dass der Tod das Ende dieses Leben ist. Dann aber stehen Transmortalitätsvorstellungen auch gar nicht in einem Widerspruch zur Überzeugung, dass der Tod das Ende dieses Lebens ist, sondern können neben ihr Bestand haben. Sie sind, mit Peirce gesprochen, „ein Zuwachs“ für den Gedanken, „aber kein Teil von ihm“59. Wenn uns Kampagnen aber davon überzeugen wollen, dass dieser „Zuwachs“ in Wirklichkeit doch ein „Teil“ unserer Überzeugung vom Tod 58  Peirce, 59  Ebd.

Wie unsere Ideen zu klären sind, S. 337.

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ist, dann zwingen sie uns, zwei einander widersprechende Überzeugungen zugleich für wahr zu halten: nämlich die Überzeugungen, dass der Tod das Ende und die Fortexistenz ein und desselben Lebens bedeute – und klären mithin nicht auf, sondern unterschreiten noch den Stand der Aufgeklärtheit, den die an der Praxis Beteiligten in ihrem Handeln zu erkennen geben. Abschließend lässt sich festhalten, dass die aktuellen Aufklärungskampagnen der Peirceschen „Methode der Beharrlichkeit“ folgen und damit eine fatale Dialektik in Gang setzen: Die Darstellungen suggerieren den Individuen, dass sie als Individuen entscheiden und handeln und im Unterschreiben eines Spendeausweises untrüglich eine moralische Handlung vollziehen. In dem Maße aber, in dem dies als Überzeugung habitualisiert würde, ist es denkbar, dass sich in der konkreten Situation des eigenen Sterbens oder des Todes Anderer Erfahrungen einstellen, die dieser Überzeugung widersprechen, sodass die Betroffenen in einen Zweifel geraten. Der aber kann auf der Grundlage der „Methode der Beharrlichkeit“ nicht produktiv integriert werden, sondern bleibt allein das Problem des zweifelnden Individuums, das in der Folge seinen Zweifel dann nur noch als einen „irrationalen“ Affekt beurteilen kann. Um diese Dialektik zu durchbrechen oder erst gar nicht in Gang kommen zu lassen, müssten Aufklärungskampagnen dazu befähigen, die eigenen Überzeugung und Zweifel einer eigenständigen und kritischen Prüfung zu unterziehen, sodass die Handelnden überhaupt in die Lage kommen, sich auf der Basis eigener reflektierter Gründe für oder gegen die Spende zu entscheiden oder auch sich einer Entscheidung ganz zu verwehren. IV. Wie aufklären? – Bedingungen gelingender Aufklärung über Organspende60 Vor dem Hintergrund der vorangegangen kritischen Analysen lassen sich nun einige Bedingungen skizzieren, denen Kampagnen, die beanspruchen, über Organspende aufzuklären, genügen müssten. Drei Ansprüche, die an sie zu richten wären, erscheinen uns besonders wichtig: 1.  Aufklärungskampagnen sollten eine kritische Distanz zu herrschenden moralischen Intuitionen und faktischen Wertvorstellungen ermöglichen und diese nicht lediglich affirmieren. Folgt man dem skizzierten Aufklärungsverständnis, dann wäre von Aufklärungsprozessen nämlich zu erwarten, dass sie zur Überwindung moralischer Dogmen beitragen. Hierfür wäre zunächst einmal jeglicher moralische Druck aus der Debatte herauszunehmen. Moralisierende Appelle laufen – und zwar aus Gründen der Moral – Aufklärungsprozessen zuwider, weil sie letztlich nicht zum Selbstdenken, sondern nur 60  Dieser

Abschnitt ist eine leicht gekürzte Fassung aus Kersting, S. 244–251.

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zum Nachmachen animieren und eine kritische Überprüfung der eigenen Überzeugungen verhindern, anstatt sie zu fördern. Vor diesem Hintergrund wäre auch das Bild, das die Kampagnen von einer selbstbestimmten Entscheidung zeichnen, korrekturbedürftig, im dem bereits der bloße Akt des Sich-Entscheidens zu einem moralischen Wert stilisiert wird. Möglicherweise haben die Einzelnen aber gute Gründe, sich in der Frage nach der eigenen Spendebereitschaft (noch) nicht festzulegen, zum Beispiel deshalb, weil sie ihren Prozess der Urteilsbildung noch nicht abgeschlossen haben und einfach (noch) unentschieden sind. In dieser Situation den Entscheidungsdruck zu steigern ist einer ernsthaften Auseinandersetzung mit der eigenen Spendebereitschaft eher ab- als zuträglich. Deshalb sollten Aufklärungskampagnen den Einzelnen Zeit geben, anstatt Zeitdruck zu erzeugen und auch ganz klar kommunizieren, dass auch Nicht-Entscheiden eine Option ist, deren Gründe moralisch achtenswert sein könnten. Um eine kritische Distanz zu herrschenden Moralvorstellungen zu ermöglichen, müssen die Kampagnen schließlich auch einer individualistischen Verengung des Überlegungs- und Entscheidungsprozesses entgegenarbeiten. Denn die Orientierung an individuellen Präferenzen und Wertvorstellungen ist unzureichend, um eine „informierte und unabhängige Entscheidung“61 treffen zu können, weil eine solche Entscheidung prinzipiell durch die Perspektiven Anderer erweitert und ggf. auch korrigiert werden können muss. Aufklärung muss dazu befähigen, den rein internen Bezug auf das eigene Wollen durch die Übernahme der Perspektive Anderer innerhalb einer Pluralität an Perspektiven zu dezentrieren. 2. Um eine Pluralität an Perspektiven zu eröffnen, müssen Aufklärungsprozesse sowohl sachlich informativ sein als auch das Erfahrungswissen verfügbar machen, das die an der Organspendepraxis Beteiligten erwerben. Um eine aufgeklärte eigene Position und Bereitschaft zur Organspende erlangen zu können, kann es beispielsweise relevant sein, die konkreten institutionellen und klinischen Abläufe der Organspende zu kennen, belastbare Statistiken über Erfolgsaussichten und etwaige Risiken der Eingriffe in Erfahrung zu bringen und über Ergebnisse qualitativer Studien Kenntnis zu erhalten, in denen über mögliche psychische Belastungen für die Angehörigen oder Organempfänger_innen berichtet wird. In Bezug etwa auf die Thematisierung der besonderen Situation Hirntoter bedeutet dies, dass auch jene mit dieser Situation verbundenen Aspekte zur Darstellung gebracht werden müssen, die sich einer naturwissenschaftlich-medizinischen Darstellung entziehen: etwa der Umstand, dass Hirntote, wie andere intensivmedizinische Patient_innen auch, gepflegt werden müssen und der Umgang mit ihnen deshalb eine viel fürsorglichere Haltung einzunehmen erfordert als 61  § 1

Abs. 1 TPG.

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der Umgang mit einem Leichnam im traditionellen Sinne62; oder der Umstand, dass die Feststellung des Hirntodes an eine Diagnostik gebunden ist, die – man denke an das Setzen von Schmerzreizen, z. B. durch das Durchstechen der Nasenscheidewand – von den Beteiligten durchaus als „aggressiv“ erlebt werden kann. Auch müsste man die realen Schwierigkeiten thematisieren, die aus der Explantation sowie der Organverpflanzung für die Angehörigen sowie für die Organempfänger_innen erwachsen können: Sicherlich ist der „mögliche Nutzen“63, den die Transplantationsmedizin für viele kranke Menschen hat, im Einzelfall gar nicht hoch genug zu schätzen.64 Doch wie andere Therapien geht auch die Transplantationstherapie mit Risiken und Nebenwirkungen einher: Viele Organemp­fänger_innen leiden durch die lebenslange Einnahme von Immunsuppressiva an einem erhöhten Infektionsrisiko, sind nach einigen Jahren bereits auf ein neues Organ angewiesen, oder erleben diese Therapie als psychisch belastend, weil das transplantierte Organ als Fremdkörper wahrgenommen wird.65 Diese Risikofaktoren sprechen selbstverständlich nicht per se gegen die Praxis der Organspende, nur sollte man von ihnen wissen – und zwar nicht nur als potenzieller Empfänger, sondern auch als potenzielle Spenderin, die mit ihrer Entscheidung zur Organspende schließlich diese Praxis auch im Ganzen unterstützt. Auch die Erfahrungen, die Angehörige im Zusammenhang der Organspende machen, und die – dies zeigen qualitative Studien – mitnichten homogen sind, müssten gerade auch in ihrer unterschiedlichen Qualität thematisiert werden. Hierdurch würde auch deutlich, dass sich die konkreten Umstände des Sterbens und Todes letztlich nie vollständig antizipieren und kalkulieren lassen – auch nicht durch das Unterschreiben eines Organspendeausweises. Diese im Grunde ganz einfache Einsicht in Aufklärungsprozessen verständlich zu machen, könnte für alle Beteiligten entlastend wirken und vor falschen Erwartungen schützen. Nun liegen die genannten Perspektiven und das in ihnen artikulierbare Wissen der morali­schen Beurteilung jedoch nicht einfach schon vor, sondern sie sind auf ihre Darstellung in einem jeweils bestimmten – sei es zu diesem Aspekt Conrad/Feuerhack, S. 67–123, sowie Striebel/Link. Abs. 1 TPG. 64  Dies betrifft allerdings nicht nur diese Therapieform, sondern jede medizinische Heilbehandlung, die die Lebensqualität verbessert oder im Falle einer tödlichen Krankheit das eigene Leben um einige Jahre verlängert, wie bspw. eine Chemotherapie zur Tumorbekämp­fung oder das Einsetzen eines Herzschrittmachers. Interessanterweise spricht zumindest im öffentlichen und politischen Zusammenhang niemand davon, dass diese Therapien den Patient_innen ein „zweites Leben“ (Sterzik) schenkten. 65  Zu den medizinisch sowie psychisch mitunter stark belastenden Auswirkungen dieser Therapie auf Organemp­fänger_innen vgl. die qualitati­ven Untersuchungen von Kalitzkus (Kap. 4.2). 62  Vgl. 63  § 2



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visuellen, akustischen oder sprachlichen – Medium angewiesen. Da die Weise der Darstellung, wie die bisherige Analyse gezeigt hat, ihrem Gehalt jedoch nicht äußerlich ist, sondern diesen in mehr oder minder prägnanter Form strukturiert und dadurch auch unser Denken und Handeln prägt, wäre ferner zu berücksichtigen: 3. Aufklärungsprozesse müssen eine kritische Reflexion der Medien, in denen sich die am Aufklärungsprozess Beteiligten wechselseitig über ihr Handeln, ihre Erfahrungen und moralischen Überzeugungen verständigen, einschließen. Eine solche Reflexion ist besonders dort geboten, wo die Medien der Darstellung den Schein erzeugen, die Dinge verhielten sich auch in Wirklichkeit unmittelbar so, wie sie dargestellt erscheinen. Das ist beispielsweise bei Kampagnen der Fall, deren Bilder mit dem Heldenmotiv für die Organspende werben. Helden kämpfen – wir wissen dies aus der überlieferten griechischen Mythologie – als vereinzelte Individuen im Bewusstsein ihrer moralischen Unfehlbarkeit für ein hohes allgemein erstrebtes Gut. Vor dem Hintergrund dieses kulturell tradierten Wissens adressiert das Comic-Motiv einer Superheldin, die aus einem Wasserstrudel einen Jungen rettet, kombiniert mit der Aufschrift „Das kannst du auch! Organspende heißt Leben retten“66, unmissverständlich die Botschaft, dass Organspende einen unbedingten moralischen Wert darstelle, und die Ad­ ressatin dieser Botschaft aufgrund der Möglichkeit zur Organspende zur Lebensretterin werden könne. In dieser Präsentation ist an die Stelle eines informierenden Sach- und Erfahrungswissens ein absoluter Wert, nämlich der Wert des Lebens, gesetzt, verbunden mit einem Appell zum Handeln. Das Bild zeigt uns, dass es ganz einfach ist, das Gute in die Welt zu bringen, dass dies dank der Organspende auch jede_r könne und es dafür keines weiteren Wissens und keiner weiteren Reflexion bedürfe. Zugleich versichert uns das Comic-Genre indirekt, dass eine differenzierte und tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Thema gar nicht beabsichtigt ist, sondern diese Darstellung ihre Adressat_innen vielmehr auf eine humorvolle Weise ansprechen und auf das Thema aufmerksam machen möchte. Angesichts dieser „harmlosen“ Absicht scheint jede weitere Kritik an dieser Darstellung von vornherein verfehlt, weil sie das Bild mit Ansprüchen konfrontiert, die zu erfüllen es überhaupt nicht erhebt. Damit folgt das Comicmotiv vom heldenhaften Organspender einer Bedeutungsstruktur, die Roland Barthes als „Mythos“67 bezeichnet hat: Der Mythos entleert ein bestimmtes Zeichen durch die Weise der Darstellung seines konkreten Gehaltes und stattet es mit einem allgemeinen, „sekundären“ Sinn (hier: mit dem Appell, Leben zu 66  http://www.pressebox.de/attachment/243277/CLPneu.pdf (letzter Zugriff: 01.08. 2016). 67  Barthes.

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retten) aus. Dabei tritt der primäre Sinn (eine Comicgeschichte) in den Hintergrund und übernimmt die Funktion, den Mythos „unschuldig“68 erscheinen zu lassen. Durch diese Struktur sind Mythen dazu fähig, Botschaften, die sich der kritischen Reflexion unter Umständen als problematisch darböten, gegen Kritik zu immunisieren. Genau hierin besteht ihre ideologische Funktion. Als Mythen in diesem Sinne sind Heldenkampagnen antiaufklärerisch: Sie ebnen alle Differenzierungen ein und arbeiten damit aktiv an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema vorbei. Aber nicht nur visuelle, sondern auch sprachliche Darstellungen vermeintlicher „Tatsachen“ bestimmen unser Handeln und seine Beurteilung wesentlich mit. Ein Beispiel hierfür ist die mittlerweile vollkommen eingespielte Rede vom „Organmangel“ oder der „Knappheit“ von Organen, die in der Regel mit dem Anspruch auftritt, bloß zu beschreiben, was in der Welt der Fall sei. Tatsächlich stammen diese Begriffe aber aus einem ökonomischen Vokabular. Als solche beziehen sie sich auf die Kalkulation von Mitteln zur möglichst effizienten Realisierung gesetzter Zwecke. Problematisch wird die Darstellung solcher Zweck-Mittel-Zusammenhänge dann, wenn die Zwecke durch die Weise der Darstellung gar nicht mehr daraufhin geprüft werden (können), ob sie überhaupt wünschenswert sind. Genau dies ist der Fall, wenn man einen ökonomischen Begriff, wie den des Organmangels, so verwendet, als beschreibe er lediglich wertneutral einen bestimmten Zustand der Welt. Denn diese vermeintlich neutrale Beschreibung, darauf hat Schlich aufmerksam gemacht, enthält bereits eine normative Zwecksetzung und Wertentscheidung, nämlich die, „daß der Bedarf an Organen bestimmt, wie weit die Transplantationsmedizin ausgedehnt werden soll, und nicht etwa das Organangebot den Ausschlag gibt.“69 Man könnte es aber durchaus in Frage stellen, „daß die Zahl der Organspenden tatsächlich analog der gewachsenen medizinischen Indikation steigen muss“.70 Diese kritische Nachfrage wird aber in dem Maße, in dem der Ausdruck „Organmangel“ als ein rein deskriptiver Begriff verwendet wird, unterbunden. Die beiden Beispiele führen zwei unterschiedliche Weisen vor, in denen das jeweilige Medium der Darstellung – ein Comicbild im ersten und ein sprachlicher Ausdruck im zweiten Beispiel – Wirklichkeit erzeugt und diesen Erzeugungsprozess zugleich selbst verschleiert oder unsichtbar macht. Damit führen auch sie in der Praxis in genau jene problematische Dialektik, in die auch die Methode der Beharrlichkeit führt. Um diesen Prozess zu durchbrechen, wäre zunächst einmal auf die Verwendung hoch suggestiver Motive, wie das des Helden, in Aufklärungskontexten zu verzichten. An 68  Barthes, 69  Schlich, 70  Ebd.

S. 98. S. 73.



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ihre Stelle hätten informative Darstellungen zu treten, die zur kritischen Reflexion und Prüfung der eigenen Überzeugungen anregen. Aber auch die um Differenziertheit und Komplexität bemühten Darstellung wären stets zum Gegenstand weiterer kritischer Prüfung zu machen, um die möglicherweise gar nicht intendierten Abstraktionen, Festschreibungen und Naturalisierungen, die mit ihnen einhergehen könnten, aufzeigen und – zumindest partiell – korrigieren zu können. Hierzu wären die denkbarerweise möglichen praktischen Konsequenzen, die die Anwendung der Darstellung in der Praxis erzeugen würde, zu antizipieren und darauf hin zu befragen, welche Perspektiven und normativen Ansprüche in ihnen überhaupt in welcher Form zur Artikulation gebracht werden können und welche nicht. Ob eine Kampagne als ein Beitrag zur Aufklärung zu werten ist, hat sich im Rahmen dieses selbstbezüglichen, kritischen, prozeduralen und normativen Prüfungsprozesses zu erweisen, der dann im Ganzen als ein Aufklärungsprozess bezeichnet werden kann. Literatur Barthes, Roland: Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 1964. Birnbacher, Dieter: Organtransplantation – Stand der ethischen Debatte, in: Gerd Brudermüller/Kurt Seelmann (Hrsg.): Organtransplantation, Würzburg 2000, S. 13–26. Breyer, Friedrich/von den Daelen, Wolfgang/Engelhard, Margret u. a. (Hrsg.): Organmangel. Ist der Tod auf der Warteliste unvermeidbar?, Heidelberg 2006. Cassirer, Ernst: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 6., Darmstadt 2000. Conrad, Joachim/Feuerhack, Maria: Hirntod, Organtransplantation und Pflege, Frankfurt am Main 2002, S. 67–123. Decker, Oliver: Der Warenkörper. Zur Sozialpsychologie der Medizin, Bad Münder 2011. Deutsche Bischofskonferenz/Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland: Organtransplantationen. Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz und des Rates der EKD, Bonn/Hannover 1990. Esser, Andrea M./Kersting, Daniel: Der Tod ist das Ende dieses Lebens. Kritische Überlegungen zum Begriff der Transmortalität, in: Antje Kahl/Hubert Knoblauch/ Tina Weber (Hrsg.): Transmortalität. Organspende, Tod und tote Körper in der heutigen Gesellschaft, Weinheim 2017. Harris, John: Der Wert des Lebens. Eine Einführung in die medizinische Ethik, Berlin 1995. Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, in: ders.: Werke, Bd. 20, Frankfurt am Main 1986.

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‒ Wer denkt abstrakt?, in: ders.: Werke, Bd. 2, Frankfurt am Main 1979, S. 575– 581. Hoerster, Norbert: Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt am Main 1998. Kalitzkus, Vera: Leben durch den Tod. Die zwei Seiten der Organtransplantation. Eine medizinsoziologische Studie, Frankfurt am Main/New York 2003. Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: ders: Was ist Aufklärung? Ausgewählte kleine Schriften, Hamburg 1999, S. 20–27. Kersting, Daniel: Tod ohne Leitbild? Philosophische Untersuchungen zu einem integrativen Todeskonzept, Münster 2017. Motakef, Mona: Körper Gabe: Ambivalente Ökonomien der Organspende, Bielefeld 2011. Nationaler Ethikrat: Die Zahl der Organspenden erhöhen – Zu einem drängenden Problem der Transplantationsmedizin in Deutschland. Stellungnahme, Berlin 2007, verfügbar unter: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/die-zahl-der-organ spenden-erhoehen.pdf (letzter Zugriff: 01.08.2016). Peirce, Charles S.: Die Festlegung einer Überzeugung, in: Karl-Otto Apel (Hrsg.): Charles S. Peirce. Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt am Main 1967, S. 293–325. ‒ Wie unsere Ideen zu klären sind, in: Karl-Otto Apel (Hrsg.): Charles S. Peirce. Schriften I. Zur Entstehung des Pragmatismus, Frankfurt am Main 1967, S. 326– 358. ‒ How to Make Our Ideas Clear, in: Nathan Houser/Christian Kloesel (Hrsg.): The Essential Peirce. Selected Philosophical Writings, Volume I (1867–1893), Indianapolis 1992, S. 124–141. ‒ Erste Harvard-Vorlesung, in: ders.: Semiotische Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 2000, S. 87–104. Plessner, Helmuth: Über die Beziehung der Zeit zum Tode, in: ders.: Gesammelte Schriften IX, Frankfurt 2003, S. 224–262. Lübbe, Weyma: Eine Zumutung für die Angehörigen?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 60 (3), S. 430–431. Schlich, Thomas: Transplantation: Geschichte, Medizin, Ethik der Organverpflanzung, München 1998. Schöne-Seifert, Bettina: Kommerzialisierung des menschlichen Körpers: Nutzen, Folgeschäden und ethische Bewertungen, in: Jochen Taupitz (Hrsg.): Kommerzialisierung des menschlichen Körpers, Berlin 2007, S. 37–52. Sterzik, Sybille (Hrsg.): Zweites Leben. Organe spenden – ja oder nein? Erfahrungen, Daten & Fakten, Wichern 2013. Striebel, Hans W./Link, Jürgen: Ich pflege Tote. Die andere Seite der Transplantationsmedizin, Basel/Baunatal 1991. Vogel, Matthias: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, Frankfurt am Main 2001.

Autoren- und Autorinnenverzeichnis Andrea M. Esser, 1963 in München geboren; 1983–1989 Studium der Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft an der LMU München, 1994 Promotion, 2002 Habilitation im Fach Philosophie an der LMU München; seit 2006–2015 Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Philipps-Universität Marburg, seit 2015 Lehrstuhl für Praktische Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Politische Philosophie, Angewandte Ethik, Ästhetik, Pragmatismus, Kant. Ludger Fittkau, geboren 1959 in Essen, nach dem Abitur Zivildienst und Studium der Sozialpädagogik an der damaligen GHS Essen; ab Mitte der 80er Jahre Jugendarbeit und Medienpädagogik im Ruhrgebiet, seit 1995 freier Journalist. Parallel Studium der Sozialwissenschaften an Fernuniversität Hagen, 2006 Promotion mit der Untersuchung „Autonomie und Fremdtötung. Sterbehilfe als Sozialtechnologie“. Seit 2009 Landeskorrespondent des Deutschlandfunks in Rheinland-Pfalz und Hessen sowie 2013 / 2014 Lehrbeauftragter am Fachbereich Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften der Technischen Universität Darmstadt. Solveig Lena Hansen, 1984 in Henstedt-Ulzburg geboren; 2005–2010 Studium der Komparatistik, Skandinavischen Philologie und Geschlechterforschung in Göttingen. 2010–2014 Promotion im Fach „Bioethik“ an der Philosophischen Fakultät der Georg-August- Universität Göttingen. 2014–2016 sowie ab 2018 wissenschaft­ licher Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Ich möchte lieber nicht. Das Unbehagen mit der Organspende und die Praxis der Kritik. Eine soziologische und ethische Analyse.“ Forschungsschwerpunkte: Alterität / Fremdheit, Bioethik und Narration, Klonen /  Stammzellforschung, Public Health, ethische Aspekte von Gesundheitskommunika­ tion. Antje Kahl, 1979 in Frankfurt (Oder) geboren, 1999–2004 Studium der Kulturwissenschaften an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und der Universität Stockholm. 2006–2008 Stipendiatin des Bundesverbandes Deutscher Bestatter, 2008–2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin im VW-Forschungsprojekt „Tod und toter Körper. Zur Veränderung des Umgangs mit dem Tod in der gegenwärtigen Gesellschaft“ an der TU Berlin. Promotion 2013 im Fach Soziologie. Seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 1171 „Affective Societies“ an der FU Berlin. Forschungsschwerpunkte: Wissenssoziologie, Thanatosoziologie, Affekt- und Emo­ tionsforschung, Wissenschaftsforschung, Methoden qualitativer Sozialforschung. Stephanie Kaiser, geboren in Heilbronn am Neckar; 2002–2009 Studium der Literaturwissenschaft und Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 2015 Promotion im Fach Medizin; seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der RWTH Aachen University, u.  ­ a. Mitarbeiterin in der interdisziplinären Forschungsprojekte „Tod und toter Körper“ sowie „Transmortalität“ (Finanzierung: VolkswagenStiftung). For-

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Autoren- und Autorinnenverzeichnis

schungsschwerpunkte: Medizin im Nationalsozialismus, insbesondere Geschichte der Anatomie; Organspende und Organtransplantation. Daniel Kersting, 1982 in Warstein geboren; 2002–2008 Studium der Philosophie, Germanistik und Erziehungswissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. 2008–2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter in den von der Volkswagenstiftung geförderten interdisziplinären Forschungsprojekten „Tod und toter Körper“ sowie „Transmortalität“ an der Philipps-Universität Marburg, 2015 Promotion im Fach Philosophie. Seit April 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Ethik und Medizin­ ethik, Philosophischen Anthropologie, Politischen Philosophie und Rechtsphilosophie. Rainer Leschke, geboren in Oberhausen; Studium der Germanistik und Philo­ sophie an der Ruhr-Universität Bochum; Promotion mit einer Arbeit zum Verhältnis von Hermeneutik und Poststruktualismus; ab 1990 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen; Habilitation zu Reproduktionszyklen der Literatur; Forschungsschwerpunkte in der Medienphilosophie, Medientheorie und Erzähltheorie. Theda Rehbock, 1957 in Emden / Ostfr. geboren; 1977–1986 Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte und Romanistik in Zürich, München, Konstanz und Münster; 1992 Promotion an der Universität Konstanz; 2003 Habilitation an der TU Dresden; seit 2003 Privatdozentin, seit 2013 außerplanmäßige Professorin für Philosophie an der TU Dresden; Professurvertretungen Praktische Philosophie an den Universitäten Gießen (2 Jahre), Marburg (2 Jahre), FU Berlin (1 Semester); Gastprofessuren an der Universität Tartu (Estland) und an der Universität Wien; seit September 2017 Professur für Ethik an der Evangelischen Hochschule RWL in Bochum. Forschungsschwerpunkte: Grundbegriffe (vor allem Würde, Person, Autonomie), Methoden und anthropologische, phänomenologische, sprachphilosophische Grundlagen der Ethik, insbesondere in der Medizin, in den helfenden Berufen und im Recht (vor allem Strafrecht); philosophische Theorie und Kritik der Wissenschaften in ihrer Bedeutung für die Ethik. Silke Schicktanz, 1970 geboren in Darmstadt, 1991–1997 Studium der Biologie und Philosophie in Tübingen, 1998–2002 Promotion in ‚Ethik in den Biowissenschaften‘, 2001–2002 Projektleiterin der ersten bundesweiten Konsensuskonferenz zur Gendiagnostik am Deutschen Hygiene-Museum Dresden, 2002–2005 PostdocPositionen im Bereich Bioethik am Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin in Berlin-Buch und an der Uni Münster. 2006–2009 Juniorprofessur für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Göttingen; seit 2010 Professur für Kultur und Ethik der Biomedizin in Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Kulturvergleichende Bioethik, partizipative und empirische Ethik, Körperkonzepte, Autonomie. Matthias Vogel, 1960 in Bad Schwartau geboren; Studium der Philosophie, Historischen und Systematischen Musikwissenschaft, Geschichte und Allgemeine Sprachwissenschaften in Hamburg; 1989 Magister, 1995 Promotion, 2009 Habilitation im Fach Philosophie an der Universität Frankfurt; seit 2009 Professor für Theoretische Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Philosophie des Geistes, Theorie des Verstehens, Ästhetik, Philosophie der Musik.



Autoren- und Autorinnenverzeichnis

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Tina Weber, 1980 in Güstrow geboren; 1998–2005 Studium der Germanistik, Sportwissenschaft und Sozialwissenschaften an der Universität Rostock, University of Stellenbosch, Freie Universität und Humboldt Universität zu Berlin. 2006–2008 DFG Stipendiatin im HU Graduiertenkolleg „Codierung von Gewalt im medialen Wandel“. 2008–2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin in den von der Volkswagenstiftung geförderten interdisziplinären Forschungsprojekten „Tod und toter Körper“ sowie „Transmortalität“ an der Technischen Universität Berlin. Jährliche Forschungsaufenthalte von 2007–2014 als Doktorandin an der University of California, Los Angeles, Department of Sociology und 2014 als Postdoc an der University of Oxford im Institut for Population Ageing. Seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Gesundheitsforschung beim Projektträger im Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Berlin. Forschungsschwerpunkte: Medizinsoziologie (mit Fokus auf das Alter, Sterben und Tod) und Methoden der empirischen Sozialforschung.