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German Pages 134 Year 1977
DIETER SÜHR
Die kongnitiv-praktische Situation
Schriften zur
Rechtstheorie
Heft 56
Die kognitiv-praktische Situation Fundamentierungsprobleme i n praktischer Philosophie, Sozialtechnik und Jurisprudenz
Von D r . Dieter Suhr Wissenschaftlicher Rat und Professor an der Universität Augsburg
D U N C K E R & H U M B L O T / B E R L I N
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Suhr, Dieter [Sammlung] Die kognitiv-praktische Situation: Fundamentierungsprobleme i n prakt. Philosophie, Sozialtechnik u. Jurisprudenz. — 1. Aufl. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1977. (Schriften zur Rechtstheorie; H. 56) I S B N 3-428-03804-5
Alle Rechte vorbehalten © 1977 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 03804 5
Vorwort Die Kapitel dieses Bändchens sind aus verschiedenen Anlässen entstanden: als Vorträge und als Auftragsarbeit. Sie sollten i n eine umfassendere Arbeit umgestaltet und zudem ergänzt werden. Da jedoch nicht abzusehen war, wann das hätte geschehen können, schrieb ich nur ein einleitendes Kapitel und arbeitete die Beiträge nur so weit um, daß sie sich aneinanderfügten. Die Spuren dieser Entstehungsgeschichte zeigen sich nach wie vor i m Text. Ich hoffe, daß trotz der dadurch bedingten Abwechslung der rote Faden noch erkennbar ist, der die Kapitel verbindet: nämlich das Fundamentierungsproblem i n der praktischen Philosophie, i n den Sozialwissenschaften und i n der Jurisprudenz. Berlin, i m Januar 1976
D. S.
Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel Zur Einleitung: Fundamentierungsprobleme praktischer Geistes- und Sozialwissenschaft am Beispiel des Redits I. Theorie u n d Technik des Erfassens u n d Verfassens I I . Die Produktion von Recht durch die Gesellschaft u n d von Gesellschaft durch das Recht
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I I I . Werte u n d Wertverwirklichung
16
I V . Gesellschaft, Bewußtsein, Sprache
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Zweites Kapitel Zur erkenntnistheoretischen Fundamentierung: Die Ontologik der kognitiv-praktischen Situation
18
I. L o g i k u n d Ontologik
18
I I . Situative Sichtweisen
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1. Situationaler Individualismus
20
2. Situationaler Holismus
21
3. Situationaler Operationalismus
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I I I . Die „kognitiv-praktische Situation"
23
1. Konfiguration der kognitiv-praktischen Situation
23
2. Graphische Darstellungstechnik
24
I V . Die Situation des Naturwissenschaftlers V. Die Situation der Selbsterkenntnis
25 31
1. Selbstbeobachtung
31
2. Zusammenstimmen m i t sich u n d seiner Welt
34
V I . Die Situation des Sozialwissenschaftlers
37
8
Inhalt 1. Kurzschluß zwischen „Theorie" u n d „Gegenstand"
37
2. Herkömmliche „Theorie" als Grenzfall
39
3. Von der Theorie zur Technik
42
V I I . Bewußtsein u n d Latentsein
45
V I I I . Situationsontologik u n d Hermeneutik
48
Drittes Kapitel Zur ontologischen Fundamentierung: Wege der Wechselwirkungen zwischen Normen, Werten, Motiven und der übrigen Wirklichkeit I. Z u den Metabereichen von Normen
51 53
1. Der „untere" Metabereich: Das Wohin der Normen
54
2. Der „obere" Metabereich: Das Woher der Normen
56
3. „Oberer" u n d „unterer" Metabereich: die übrige Wirklichkeit . .
57
I I . Normen der Normerzeugung u n d N o r m v e r w i r k l i c h u n g I I I . Kybernetische u n d modelltheoretische Betrachtung der Normerzeugung u n d der Normverwirklichung
60
63
1. Flußdiagramme
63
2. Zeittheoretische Typisierungen
69
IV. Normen u n d Motive
72
V. Werte u n d Wertschätzungen
74
V I . Reflexionsstruktur der M o t i v - , W e r t - u n d N o r m v e r w i r k l i c h u n g . .
76
V I I . Normierung des gesellschaftlichen u n d Organisation des psychischen Prozesses
78
Viertes
Kapitel
Zur ethischen Fundamentierung: Operationale Überlegungen zur Wert- und Normenfindung I. Systemanalyse, Indifferenzen, Täuschung u n d Schein I I . Extravertierte u n d introvertierte Wert- u n d Normensuche
82 83 87
Inhalt
9
I I I . Menschliches Glück, Befriedung, Friedlosigkeit
93
IV. Strukturelle Probleme bei Verfahren
95
Fünftes Kapitel Zur psycho-, sozial- und sprachtheoretischen Fundamentierung: Bewußtseinverfassung, Gesellschaftsverfassung und geschriebene Verfassung I. Hechtsverfassung u n d Bewußtseinsverfassung
100 101
I I . E i n verfassungstheoretisches Bewußtseinsmodell
105
1. Ansatz bei der kognitiv-praktischen Situation
105
2. Ansatz beim symbolischen Interaktionismus
107
3. Ansatz bei klassischen Fragen der Philosophie
109
4. Hepräsentationsmodell des Bewußtseins
111
I I I . Dreidimensionaler Verfassungsbegriff
117
1. Verfassungsstrukturen des Notstandes
118
2. Allgemeinwille
123
3. Repräsentierende und imperative Herrschaftsformen
124
4. Verfaßter gesellschaftlicher Prozeß
126
Namenregister
128
Sachregister
130
Erstes Kapitel
Zur Einleitung: Fundamentierungsprobleme praktischer Geistes- und Sozialwissenschaft am Beispiel des Rechts Wenn Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen ihrer Arbeit auf den Grund gehen, dann bewegen sie sich i n der Regel auf Fragen zu, die näher beieinander liegen als die Fachgebiete selbst. So führt auch der Weg eines Hechtswissenschaftlers, der sich über die Fundamentierung des Rechts und der Rechtswissenschaft Gedanken macht, i n allgemeinere Gebiete der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, der Logik und Ontologik, der Philosophie und Ethik, der Psycho- und Sozialwissenschaften. A u f seinem Weg zu den fundamentierenden Gebieten bringt der Jurist seine besonderen Probleme i n die allgemeineren Zusammenhänge m i t ein: Seine besonderen Probleme, die daher kommen, daß er es stärker und unübersehbarer als die meisten anderen m i t Normen und Werten zu t u n hat und m i t Texten, die nicht so sehr darauf angelegt sind, etwas zu beschreiben, sondern darauf, etwas zu bewirken. Wegen dieser seiner besonderen Probleme bringt der Jurist auch andere Erwartungen als andere mit, wenn er sich den Fächern zuwendet, von denen er für die Fundamentierung seiner Arbeit Hilfe erhofft. Andere Erwartungen lenken die Aufmerksamkeit auf andere Schwerpunkte, und das kann fruchtbar sein für die jeweils einschlägigen Grundlagengebiete selbst. Während es bei der Fundamentierung von anderen Wissenschaften „bloß" u m die methodologischen und wissenschaftstheoretischen Fundamente der Forschung und der Theoriebildung geht, kommt i m j u ristischen Bereich hinzu, daß die Fundamentierung der Rechtstheorie und der Rechtswissenschaft womöglich gar nicht zu trennen ist von der Fundamentierung des Rechts und der Rechtspraxis. Das bringt weitere Schwierigkeiten m i t sich, die selbstverständlich i n einem kleinen Buch nicht bewältigt werden können. Wohl aber können hier einige Probleme aufgegriffen und verfolgt werden, — und zwar weniger i n die Breite und ins Detail, als vielmehr i n die Tiefe und i n Richtung auf die erkenntnistheoretischen, ontologischen, ethischen und sozialtheoretischen Wurzeln. Das alles sind freilich Fragen, die nicht das Recht allein
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1. Kap.: Zur Einleitung
betreffen, sondern die nur von einem Juristen unter dem Druck rechtlicher und rechtswissenschaftlicher Fundamentierungsprobleme aufgegriffen und erörtert werden. I. Theorie und Technik des Erfassens und Verfassens Der Jurist hat es regelmäßig m i t Sätzen zu tun, die nicht n u r etwas beschreiben, sondern vor allem etwas bewirken sollen. Daher braucht er nicht nur eine Logik der Abbildung und Beschreibung, sondern auch eine Logik der Verwirklichung und der Wirksamkeiten: Nicht nur eine Aussagenlogik, sondern auch eine Wirklichkeitslogik, nicht n u r Wahrheitsmaßstäbe, sondern Realisierungskriterien 1 . I n einer Wirklichkeitslogik treten neben das statische Problem der hypothetischen Wahrheitsbezüge die dynamischen Probleme prozeduraler Wirksamkeitsgefüge. Es geht nicht n u r u m eine Einbahnstraße vom erforschten Gegenstand zu der Theorie, sondern auch u m den praktischen Gegenverkehr von der Theorie oder von sonstigen Konzepten zum Gegenstand hin: Nicht nur u m Theorie, sondern auch u m Technik; nicht nur ums kognitive Erfassen, sondern auch ums normative Verfassen; nicht n u r u m die Logik des Denkens und Schließens, sondern auch u m die Ontologik von sonstigen dumpfen Prozessen oder eingerichteten Verfahren. Diese umfassenderen Prozesse und Verfahren führen zwar durch Stationen hindurch, i n denen gedacht und geschlossen wird, aber sie führen auch durch Stationen, i n denen abgewogen und beschlossen, sowie durch Stationen, i n denen gehandelt w i r d oder i n denen sich sonst etwas „draußen" abspielt. Die Wahrheit von Sätzen ist vielleicht ein Bagatellproblem gegenüber der Wirksamkeit von Sätzen. Bei der Frage nach der Wahrheit schwebt die Theorie über ihrem Gegenstand w i e der Geist über den Wassern, und sie haben n u r hypothetisch miteinander zu tun. Bei der Frage nach der Wirksamkeit jedoch bekommen die Sätze und das, worauf sie sich beziehen, es praktisch miteinander zu tun: Es geht u m die Wirksamkeit der Sätze i n Abhängigkeit von ihrem Inhalt u n d von den Kontexten, die die Sätze erzeugen und empfangen. Dabei gerät die ganze Statik von „Theorie und Gegenstand" i n Bewegung: Sie, die vorher vermittels des Forschers, der sie i n seinem Kopf irgendwie m i t einander verglich, zwar auch i n Berührung kamen, sonst aber verschie1 I m Bereich der Normenlogik gibt es daher Bestrebungen, die Enge der Aussagen- u n d der deontischen Logik i n Richtung auf Logiken des Verhaltens u n d der Veränderung zu überwinden, z.B. Ν. Rescher, The Logic of Commands. London - New York, 1966 (command programs); G. H. von Wright, N o r m and Action, London 1963; ders. t A n Essay i n Deontic Logic and the General Theory of Action. Amsterdam 1968.
I. Theorie u n d Technik des Erfassens u n d Verfassens
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dene Welten waren, die nicht zueinanderkommen konnten und sollten, stehen nun i n Wechselwirkungen von genetischer A r t : Die wirkliche Kontextur bringt Sprache hervor, die Sprache w i r k t auf die Kontextur ein. Nach üblichem Theorieverständnis kommt es — bildlich ausgedrückt — darauf an, daß die theoretischen Entwürfe dem Gegenstand angepaßt werden, „bis die Theorie stimmt". Bei uns Juristen aber geht es auch umgekehrt: Der Gegenstand soll den Entwürfen angepaßt werden, bis die Sachverhalte zu den Entwürfen passen. Insgesamt müssen die Entwürfe der übrigen Wirklichkeit entgegenkommen (denn man kann nicht m i t dem Kopf durch die Wand), und die übrige Wirklichkeit hat sich nach den Entwürfen zu richten, bis beide zusammenstimmen. Sonst müssen sich die theoretischen Entwürfe nach ihren Gegenständen, bei uns müssen sich auch die Gegenstände nach den Entwürfen „fügen und bequemen". Wo dabei die „Wahrheit" bleibt oder i n veränderter Gestalt wieder auftaucht, ist nicht ohne weiteres zu erkennen. Man w i r d es untersuchen müssen. Dazu bedarf es eines Konzeptes, das die übliche „Wahrheit" als einen Sonderfall unter anderen, ähnlichen herauszuheben erlaubt (wobei es einstweilen nicht darauf ankommt, ob von „Wahrheit" die Rede ist oder von „Nodi-nicht-Falsifiziertheit"). Ansätze zu einem Konzept, das Wahrheit (nicht nur als generalisiertes Medium von soziologischer Funktionalität, sondern als kognitives Ereignis) erklären kann, sollen daher i m zweiten Kapitel dargestellt werden. — Der Jurist bringt der Erkenntnistheorie die Erwartung entgegen, nicht nur theoretische Belehrung, sondern auch technische Instruktion zu empfangen, wie er sich verhalten soll, wenn theoretische Konzepte und die Welt, auf die sie sich beziehen, aufeinander einwirken. Daher muß die Theorie der Erkenntnis zur Technik des Erfassens und Verfassens erweitert werden. Dann w i r d die Sprache zur Funktion der übrigen Wirklichkeit und die übrige Wirklichkeit zur Funktion der Sprache: gleichsam zwei Schlangen, die sich wechselseitig i n den Schwanz beißen. Das ist, von außen betrachtet, der ontologische Kreis, den der Interpret von Gesetzen, der darinnen steht, als den berühmten hermeneutischen Zirkel erlebt. W i r d dieser kognitiv-praktische Zirkel so operational begriffen, wie es erforderlich ist, scheint es, als sei darin nichts außer unserer Einbildung und nicht einmal diese fest und zuverlässig: weder die theoretischen Entwürfe, von denen man nicht weiß, ob sie wahr sind und was sie bewirken werden, noch die übrige Wirklichkeit, welche ja selbst wiederum i n Abhängigkeit der Entwürfe sich verändert.
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1. Kap.: Z u r Einleitung
Wenn alles derart nachgiebig w i r d und sich dem Griff immer wieder zu entziehen scheint, w i r d man an Hegel 2 erinnert, der i n einem nicht unähnlichen Zusammenhang wie folgt formulierte: „Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist." Wenn an diesem B i l d etwas Richtiges ist, müßte man das Wahre und Feste, das Zuverlässige und Substantielle nicht bei den Gliedern und Phasen des „Taumels" suchen und auch nicht i n ihrem momentartigen Verhältnis zueinander, sondern i n den Eigenschaften des Taumels selbst. Sucht man i n dem Taumel und i n den zirkulären Strudeln der kognitiv-praktischen Prozesse, die miteinander vielfach zusammenhängen, einander durchdringen, überschneiden und überbieten, etwas Substantielles, Gewisses, so stößt man auf die Kreisform des Prozesses selbst 3 . Das ist, wie es scheint, nicht viel, — aber das ist nichts Geringeres als das syntaktische Fundament jeder Theorie und Technik des Erfassens und Verf assens. I n den rekursiven Mechanismen der (dumpfen oder bewußt gewordenen, urwüchsigen oder verfaßten) kognitiv-praktischen Prozesse hat man die Formkonstante und strukturelle „Substanz" von Erkenntnis und Arbeit i m Griff. Wer seine kognitiven Erwartungen auf diese Substanz einstellt, w i r d nicht enttäuscht werden. Die Erkenntnis dieser Formkonstante ist enttäuschungsimmun. Wer umgekehrt als Methodologe und Techniker meint, er könne den kognitiv-praktischen Prozessen diese ihre Kreisförmigkeit irgendwie austreiben oder abgewöhnen, w i r d über kurz oder lang notwendig enttäuscht werden. Denn die kognitiv-praktischen Prozesse waren schon immer rekursiv, sie sind heute rekursiv und sie werden rekursiv bleiben. Dieses Datum muß man i n Theorie und Technik akzeptieren als harten, untilgbaren empirischen Befund. Ist aber der berüchtigte hermeneutische oder kognitiv-praktische Zirkel das Dauerhafteste und Zuverlässigste, was sich einstweilen i m kognitiv-praktischen Prozeß ausmachen läßt, bleibt uns nichts anderes übrig, als aus der erkenntnistheoretischen Not eine erkenntnis- und sozialtechnische Tugend zu machen: Diese verflixte Zirkularität, der w i r unsere erkenntnistheoretischen Nöte und die Erfahrung verdanken, daß auf Nichts Verlaß ist, — auf sie wenigstens können w i r uns verlassen, — auf sie müssen w i r daher unsere Praxis bauen. Wie aus dem hermeneutischen Zirkel ein praktischer Kreiselkompaß werden kann, läßt sich nicht mit ein paar Sätzen plausibel machen; 2 Phänomenologie des Geistes, hrsg. von J. Hoffmeister, H a m b u r g 1952, S. 39. 8 Vgl. H. Rottleuthner, Richterliches Handeln, F r a n k f u r t 1973, S. 43: Das „ontologische Moment der reinen Z i r k u l a r i t ä t von Sachverhalt u n d Tatbestand".
I I . Die Produktion von Recht durch die Gesellschaft
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man muß es bei der Arbeit erfahren, sobald der Gedanke, nachdem er erst einmal zur Sprache gebracht und bewußt gemacht ist, sich zur Stelle meldet, wenn Probleme anstehen, die i h m i n ihrer Struktur verwandt sind und die ihn daher auf assoziativen Geleisen herbeirufen. Vorerst kann nur vage angedeutet werden, was sich dabei ungefähr abspielt: W i r drehen m i t unserer i n sich selbst rekursiv organisierten Theorie am jeweiligen kognitiv-praktischen Prozeß „längsseits bei", oder besser: W i r drehen rekursiv-zirkulär bei, und zwar, u m i h n zunächst einmal zu begreifen und zu erfassen. Dann stellt sich die Frage, ob sich der Prozeß verändern läßt. Da i h m Gesetzmäßigkeiten innewohnen, die i h m nicht ausgetrieben werden können, kann es nur darum gehen, die vorgefundenen rekursiven Mechanismen i n andere rekursive Mechanismen zu übersetzen, die uns genehmer sind. M i t dem rekursiven Mechanismus haben w i r der W i r k lichkeit etwas von ihrer „Vernunft" und „Notwendigkeit" abgeschaut. N u n kommt es darauf an, i h r auch noch etwas von unserer Vernunft beizubringen, indem w i r , was sie schon immer inszeniert hat, nunmehr bewußt so inszenieren, daß es sich mit weniger Aufwand an Leid und Enttäuschung abspielt. So könnte aus dem logischen Dilemma der Zirkularität das ontologische Lemma des Erfassens und Verfassens werden, — aus der Not der Logik das Brot der Ontologik. Wenn w i r m i t unseren Konzepten an den kognitiv-praktischen Prozessen längsseits (zirkulär-rekursiv) „beidrehen" und ihnen mit unseren Konzepten etwas von unserem Wollen katalytisch beibringen wollen, ist es nützlich, wenn w i r uns vorher etwas genauere Vorstellungen von den Situationen verschaffen, i n denen sich diese Vorgänge abspielen. Auch dazu trägt das zweite Kapitel m i t seinen Überlegungen zur Ontologik der kognitiv-praktischen Situation bei. II. Die Produktion von Recht durch die Gesellschaft und von Gesellschaft durch das Recht Wenn die erkenntnistheoretischen Überlegungen zeigen, daß es bei (kognitiv-)praktischen Prozessen ohne Kreise nicht geht, liegt der Gedanke nahe, diese Kreise einmal an Beispielen zu studieren. Da die erkenntnistheoretischen Zirkel i m 2. Kapitel zur Genüge behandelt werden, liegt es nahe, den erkenntnistheoretischen Brennpunkt zu verlassen und nach einem Beispiel i m gesellschaftlichen Prozeß insgesamt zu suchen. Dabei stößt der Jurist auf die Produktion von Recht durch die Gesellschaft und die Erzeugung von Gesellschaftsstrukturen durch das Recht. Dieser Zirkel kann als Paradigma für andere, ähnliche Vorgänge aufgefaßt werden, wenn nur die Darstellung hinreichend allgemein abgefaßt ist. Das führt dazu, i m 3. Kapitel den Wechselwirkungen
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1. Kap.: Z u r Einleitung
zwischen Normen, Werten und Motiven und der übrigen Wirklichkeit nachzugehen: aber nicht mit psychologischem oder soziologischem A k zent, sondern wiederum i m Hinblick auf die Ontologik der Prozesse. Diese formale Sicht w i r d m i t Undeutlichkeit und Flüchtigkeit i m empirischen Detail bezahlt: ein Mangel, der bei der begrenzten Aufgabenstellung i n Kauf genommen werden muß und kann. Die Prozesse, von denen i m 3. Kapitel die Rede ist, haben m i t denen, die i m 2. Kapitel behandelt werden, gemeinsam, daß sie durch menschliche Köpfe —, daß sie durch „Subjekte" hindurchführen. N u r die Schwerpunkte werden nun verändert und verlagert: vom erkennenden Subjekt auf Prozesse zwischen den Subjekten und durch die Subjekte hindurch, die eine Gesellschaft ausmachen. ΙΠ. Werte und Wertverwirklichung Gegenüber der stark formalisierenden und ontologisierenden Tendenz, m i t welcher i m 3. Kapitel einigen gesellschaftlichen Abläufen ihre Struktur abstrahiert wird, möchte wohl der eine oder andere auf i n haltliche, ethische Momente hinweisen, die vernachlässigt würden. M i t Ontologik sei es nicht getan; an der Ethik sei i n praktischen Disziplinen wie dem Recht nicht vorbeizukommen. Diesem Einwand w i r d Rechnung getragen i m 4. Kapitel. Dabei gibt es Werte und Ziele, die relativ konkret und erreichbar sind, und andere, die i n der Struktur von Verfahren stecken, die w i r wertschätzen. A u f diesen zweiten Formen von Werten liegt der Akzent i m 4. K a pitel. Doch vorher stellen sich Vorfragen zur Wertproblematik, die relat i v unabhängig von den je konkreten Werten diskutiert werden können; und wiederum sind es — wie könnte es i n diesem Zusammenhang anders sein! — operationale Vorfragen zur Wirksamkeit von Werten, die vor dem Umgang m i t Werten das Bewußtsein für Bumerangprobleme und Scheinlösungen schärfen sollen. Diese Vorfragen betreffen weniger irgend eine höchste Meta-Ethik, sondern fassen noch einmal Probleme des Verhältnisses zwischen Werten und der übrigen W i r k lichkeit ins Auge, das auch schon i m 3. Kapitel berührt w i r d : Operationale Vorfragen der Wert- und Normenfindung. I m 4. Kapitel w i r d einmal (in vielleicht zugespitzter Form) ernst gemacht m i t der Lernbarkeit von Werten und mit der Tatsache, daß sie unser Erkenntnisvermögen und unser Sehnen und Hoffen, also auch unser praktisches Leben durchdringend beeinflussen. Dabei vollzieht sich eine gewisse Hinwendung zur subjektiven Seite und Erlebnisweise objektiver sozialer Zustände und Prozesse. Schereneffekte werden sichtbar, bei denen subjektive und objektive Gesellschaft divergieren
I V . Gesellschaft, Bewußtsein, Sprache
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oder geradezu auseinandergerissen werden. Es geht um Fragen rund um die „unruhige Gesellschaft" 4 und u m die Frage nach der „befriedeten Gesellschaft". Wenn Wertfragen schon i m Vorfeld der eigentlichen Wertungen und Werte diskutiert werden (was nicht heißen soll, man bewege sich dabei i m wertfreien Raum), verwundert es nicht, wenn Figuren, die i m Lichte der Ontologik sich als „untilgbar" erwiesen haben, i m Lichte der Ethik wieder auftauchen. Denn wenn es „Notwendigkeiten" gibt, hat es keinen Sinn, m i t ethischen Forderungen gegen sie anzugehen. Man muß sie vielmehr als Daten berücksichtigen, vielleicht sogar als Werte selbst verwenden, wenn man Dauerhaftes dorthin setzen w i l l , wohin unser Wollen durch Werte gerichtet werden soll. Dabei geht es u m Zirkularitäten und Rekursivitäten, die nun als operationale Logik von wertgeschätzten Verfahren wiederkehren: „Ziele", die täglich eingeholt werden können, ohne sich je zu erledigen. IV. Gesellschaft, Bewußtsein, Sprache Wenn der Soziologe die Schere beobachtet, die sich zwischen subjektiver und objektiver gesellschaftlicher Wirklichkeit auf tut, wenn Wunschvorstellungen und Realitäten nicht zusammenstimmen, t r i t t der Jurist hinzu und weist darauf hin, daß diese Schere sozusagen drei Schneiden hat: nicht nur subjektive gesellschaftliche Wirklichkeit (Bewußtsein einschließlich latenter Determinanten) und objektive gesellschaftliche Wirklichkeit (die äußerliche, soziologische gesellschaftliche Wirklichkeit), sondern auch die sprachliche, beschriebene und vorgeschriebene gesellschaftliche Wirklichkeit nicht zuletzt i n den Normen, Werten und Zielen des Rechts (ζ. B. der Verfassung, auf die sich fast noch jeder beruft, dessen subjektive Gesellschaft der objektiven vorausstürmt, um sie hinter sich her zu ziehen). Es geht m i t h i n nicht nur u m das Auseinander von Bewußtsein und Gesellschaft, sondern u m das Auseinander oder das Zusammenstimmen zwischen Bewußtsein, Gesellschaft und dem Komplex der wertenden und regelnden Sprache. U m diese dreidimensionale „Scherenproblematik" geht es i m 5. und letzten Kapitel: u m die Dissonanzen und Konsonanzen zwischen subjektiver, objektiver und normativer Wirklichkeit. Dabei können die Fragen wiederum nur angedeutet und die Antworten nur skizziert werden, und zwar m i t dem Schwerpunkt auf der makropolitischen Ebene, wo Gemeinwesen sich durch eine Verfassung i n Form bringen und erhalten wollen.
4
H. Klages, Die unruhige Gesellschaft, München u. a. 1975.
2 Suhr
Zweites Kapitel
Zur erkenntnistheoretischen Fundamentierung: Die Ontologik der kognitiv-praktischen Situation I. Logik und Ontologik Hier ist nicht die Rede von Logik, sondern von Ontologik 1 . Wann immer es nämlich um die Fundamentierung praktischer Fächer geht, wie i n der praktischen Philosophie, i n den praktischen Sozialwissenschaften und i n der Rechtswissenschaft, braucht man nicht nur eine Aussagenlogik, sondern auch eine Hervorbringungs- und V e r w i r k l i chungslogik. Die Realisierungslogik ist nicht nur eine Logik für die Verknüpfung von Symbolen oder Aussagen, die nach irgendwelchen Zuordnungsprinzipien für etwas anderes stehen können, sondern auch eine Logik des operationalen Zusammenhanges, i n dem die Symbole oder Aussagen mit der übrigen Wirklichkeit und i n dem die sonstigen Ereignisse der übrigen Wirklichkeit miteinander stehen. Es geht dabei u m logische (syntaktische, grammatische) Strukturen, wie sie erstens i n Prozessen selbst enthalten und wirksam sein können (wie ζ. B. Grammatik i n der Sprache; Weichen i m Streckennetz der Eisenbahn), wie sie zweitens i n Modellen von Prozessen vorkommen und wie sie schließlich und vor allem auftreten bei den Wechselwirkungen, die zwischen den Prozessen und den Modellen von den Prozessen sich abspielen, wenn beide nicht hermetisch voneinander abgeschlossen sind. Es versteht sich, daß die Ontologik von Prozessen und von Modellen sowie von den Prozessen dazwischen selbst wiederum nur zugänglich w i r d mit Hilfe von Darstellungen oder Modellvorstellungen (Metamodellen), so daß die Frage auftaucht, wann die Flucht i n Metamodelle und Meta-Metamodelle ein Ende nimmt. Nicht zuletzt um diese Frage kreisen die Erörterungen dieses Kapitels. 1 „Ontologik" w i r d hier ähnlich begriffen, w i e Hegel seine Logik begriffen hat (Logik nicht n u r des Denkens, sondern des das Denken miteinschließenden Seins: „objektive Logik"). I n der Einleitung zu seiner Logik schreibt Hegel: „Die objektive Logik t r i t t damit vielmehr an die Stelle der v o r m a l i gen Metaphysik", u n d es ist „die Ontologie , an deren Stelle die objektive Logik t r i t t " . — „Ontologik" nennt Hegels Logik denn auch I. Fetscher, Hegel — Größe u n d Grenzen, Stuttgart u. a. 1971, S. 54, 56.
I I . Situative Sichtweisen
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Die Bezeichnung „Ontologik" erinnert an die alte „Ontologie", und zwar nicht ganz ohne Absicht. Ich b i n m i r noch nicht ganz sicher, ob der ältere oder jüngere Relationismus, der Funktionalismus und die funktionale Systemtheorie m i t ihrer Behauptung recht haben, daß die Ontologie ausgespielt habe, seit die Gottheit nicht mehr das Sein ist und die Substanz, sondern die Relation und die Kontingenz. Vielleicht liegt dieser Überzeugung ein Verständnis älterer Ontologien zugrunde, das „substanzhafter" ist, als es i n jedem Falle war. Wie dem auch sei, — wenn i m relationierenden Licht des Funktionalismus alles, was ist, auch anders sein könnte, — wenn alles Sichere, Dauerhafte und Feste sich als Schein erweist, durch den hindurch nichts weiter sichtbar w i r d als Kontingenz von Ewigkeit zu Ewigkeit, — dann scheint i n der Tat alles Substantielle zu verfließen. Doch selbst dann ist es nicht unsinnig, nach Gesetzmäßigkeiten zu Fragen, die an diesem Fluß beobachtet werden können: nach der Logik des Kontingenten gewissermaßen, und dafür paßt der Name „Ontologik". I m übrigen: Ist die Substanz schon verschwunden, wenn sich zeigt, daß das Wesen dieser Welt die Kontingenz ist? Das so-oder-auch-anders-Sein steht selbst für eine ontologische Weiche; und wenn sich nichts weiter zeigen ließe, so bestünde das Wesen der Kontingenz i n solchen Weichen. Aber „Sein oder Nichtsein", — das ist hier nicht die Frage. Hier geht es nur u m die kognitiv-praktische Situation, und es war plausibel zu machen, w a r u m es nicht schon deshalb unsinnig ist, von einer „Ontologik" zu sprechen, weil es heute Stimmen gibt, die verkünden, die Onto logie sei tot. Erstens ist Ontologik keine Ontologie, und zweitens ist der Tod der Ontologie vielleicht nur ein Schein, der darauf zurückzuführen ist, daß das Ontische uns anders erscheint als bisher und der Logiker noch fehlt, der es logifiziert. I I . Situative Sichtweisen V o n einer „ L o g i k der S i t u a t i o n " h a t w o h l zuerst Karl R. Popper gesprochen, u n d er h a t dabei die theoretische Soziologie ausdrücklich aufgefordert, eine solche S i t u a t i o n s l o g i k z u e n t w i c k e l n 2 . Diese A n r e g u n g w i r d h i e r aufgegriffen u n d a b g e w a n d e l t : Was f ü r die Soziologie e m p f o h l e n w i r d , k a n n sich auch f ü r die E r k e n n t n i s t h e o r i e u n d f ü r die E r k e n n t n i s t e c h n i k als n ü t z l i c h erweisen. Inzwischen jedoch ist die „ S i t u a t i o n " i m m e r h ä u f i g e r als i n h a l t l i c h e oder methodologische K a t e gorie aufgetaucht 3 , so daß wenigstens einige Ansätze angedeutet w e r den sollen, b e v o r die eigentliche A r b e i t an der k o g n i t i v - p r a k t i s c h e n Situation beginnt. 2 K . R. Popper, Logik der Sozialwissenschaften, Kölner Zeitschr. für Soziologie und Sozialpsychologie 14 (1962), S. 233 - 248. 3 z. B. J. Friedrichs, Situation als soziologische Erhebungseinheit, ZfS 3 (1974), S. 44 - 53. — Vom situativen Verständnis des Rechtstheoretikers von sich selbst spricht A. Kaufmann, i n : ders. (Hrsg.), Rechtstheorie, 1971, S. 3 f. I m übrigen z. B. die Studien von K . A. Emge: Der »umgedrehte Piatonismus' — Anregungen zu Nietzsches Situationsphilosophie, Wiesbaden 1951; Über die Unentbehrlichkeit des Situationsbegriffs für die normativen Disziplinen Wiesbaden 1966; Über den Unterschied zwischen »tugendhaftem', »fortschrittlichem' und ,situationsgemäßem' Denken — ein Trilemma der »praktischen Vernunft', Wiesbaden 1950.
2*
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2. Kap. : Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
1. Situationaler
Individualismus
Poppers Vorschlag ist namentlich aufgegriffen worden von I. C. Jarvie 4. Dabei wurde jedoch eine zwar von Popper vorgezeichnete, der unten von m i r eingeschlagenen aber entgegengesetzte Richtung verfolgt: Jarvie geht es darum, ganz bestimmtes Verhalten i n ganz bestimmten Situationen durch situative Analyse zu erklären, — nicht darum, aus vielen situativen Abläufen (seien es aus dem Leben herausgegriffene, seien es experimentell inszenierte) generelle, logisch-syntaktische Zusammenhänge zu abstrahieren. Während Popper wohl auch noch Institutionen 5 m i t i m Blick hat, also festere Gestalten i m Rauschen der individuellen Handlungsereignisse, geht es Jarvie auf dem Boden eines konventionellen Rationalismus ums individuelle Zweckhandeln: „Situationale Logik ist Erklärung menschlichen Verhaltens als eines Versuchs, etwas zu erreichen, nämlich Ziele, und zwar m i t begrenzten Mitteln." Diese A r t von Situationslogik könne ganz „einfach als gute Erklärung i n den Sozialwissenschaften" verstanden werden. Jarvie zielt m i t der Situationslogik also gerade nicht, wie der Name Situations-„Logik" eigentlich erwarten ließe, auf generalisierbare, abstrahierbare logisch-syntaktische Zusammenhänge, sondern auf Nachvollzug situationsbestimmter Motive und Zwecksetzungen: „situationaler Individualismus" (J. O. Wisdom ). Damit w i r d freilich der Anspruch auf eine Logik, der m i t dem Namen erhoben wird, zur terminologischen Hochstapelei. Tatsächlich handelt es sich nicht nur i n sozialer Hinsicht u m situationalen Individualismus, sondern auch i n sachlicher und zeitlicher Hinsicht u m situationalen Atomismus, und die Gretchenfrage zur Situation w i r d nirgendwo hinreichend systematisch aufgerollt und zufriedenstellend beantwortet: Wie hast du's m i t den Grenzen 5a der Situation? W i r d m i t dem situationalen Individualismus und Atomismus ernst gemacht, bekommt man übrigens das Nicht-Individuelle, dem m i t dem Ansatz aus dem Wege gegangen werden sollte, m i t der „Situation" sogleich wieder vorgesetzt, sobald man sie nämlich nicht mehr naiv hin4 J. C. Jarvie, Die L o g i k der Gesellschaft. Über den Zusammenhang z w i schen Denken u n d sozialem Wandel, München 1974, S. 23 ff. 6 aaO.; daß Institutionen (anders als die Geschichte selbst) geplant w e r den können, betont Popper schon i n : Die offene Gesellschaft u n d ihre Feinde, Bd. I I , Falsche Propheten, 2. Aufl., Bern u n d München 1958, S. 177. Da I n s t i tutionen der Geschichte angehören, ist i h r A n t e i l an der Geschichte i m Sinne Poppers „planbar", u n d u m sie von den Fundamenten her zu begreifen, bedarf es einer L o g i k der (stets auch kognitiv-praktischen) institutionalisierten Situationen. — Auch Jarvie, S. 10, betreibt seine situationale Logik i m H i n blick auf die „Verfaßtheit der Welt", erreicht aber bei der Ausführung seines Programms diesen Anspruch nicht. 6a Was bei Jarvie, S. 44 ff., steht, genügt durchaus nicht.
I I . Situative Sichtweisen
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nimmt, sondern anfängt, über sie nachzudenken und Fragen zur Situation selbst zu stellen: Was ist die Situation? Wo liegen ihre Horizonte? Wie weit reicht die Situation i n die Vergangenheit zurück und i n die Zukunft hinein? (Zeitdimension der Situation) Welche anderen Menschen gehören i n die Situation, welche werden sozusagen „ausgesperrt" oder „ausgeblendet"? (Sozialdimension der Situation) Welche sonstigen Faktoren wie ζ. B. eine Föhnwetterlage, wie die Leibnizsche Fliege vor der Nase, welche den Entscheidenden irritiert, oder wie die Ameisen, die bei der Besinnung auf einem Waldspaziergang zertreten werden? (Sachdimensionen der Situation) Und wie steht es m i t den Ereignissen, die den Handelnden geformt haben: m i t seiner Sozialisationsgeschichte, die er, weil er sie hinter sich hat, nur schwer vor sein Bewußtsein bekommt? Wie weit gehört Unbewußtes aber Wirksames zur Situation? (Latenzdimension der Situation) Das entscheidet sich, solange es beim situationalen Individualismus und Atomismus bleibt, von M a l zu M a l neu. Und wenn die einzelnen Erklärungen fertig sind, was bringt das ganze an allgemeineren Einsichten für die Praxis? 2. Situationaler
Holismus
Angesichts der Schwierigkeiten, die auftauchen, wenn die Grenzen der Situation bestimmt werden sollen, verwundert es nicht weiter, daß es bereits ein anderes Konzept gibt, das auch unter dem Namen einer „Logik der Situation" läuft und bei dem die Situation das Ganze ist: situationaler Holismus. Auch Dietrich Böhler geht es darum, menschliches Handeln als „interessierte A n t w o r t auf eine bestimmte raumzeitliche Situation" 6 zu verstehen (was freilich etwas anderes ist oder oft sein soll, als es zu „erklären"). Dabei ist die Situation jedoch nur i n einer Hinsicht „raumzeitlich" bestimmt, nämlich was Zeit und Ort des Handelnden betrifft, i m übrigen aber schließt ihr Horizont oder schließen ihre Horizonte die gesellschaftliche Totalität i n die Grenzen der Situation m i t ein. Böhlers Ziel ist eine „unverkürzte Logik der gesamtgesellschaftlichen Situation" 7 . Was der situationale Individualismus vielleicht zu wenig an Gesellschaft und Geschichte erfaßt, das w i r d hier mit der vormals hermeneutisch-dialektischen Selbstgewißheit i m Überfluß hereingeholt. N u r von Logik ist i n beiden Fällen nicht viel zu sehen; die Grenzproblematik (die Systemproblematik!) geht unter. Der situationale Holismus läuft dem, was Popper und seine Nachfolger m i t der situationalen Logik intendierten, genau entgegen. Es ist β
D. Böhler, Z u einer historisch-dialektischen Rekonstruktion des bürgerlichen Rechts, i n : H. Rottleuthner (Hrsg.), Probleme der marxistischen Rechtstheorie, F r a n k f u r t 1975, S. 92 - 158, 109 ff. 7 S. 111.
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2. Kap. : Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
jedoch nicht ersichtlich, ob und inwiefern die neue sprachliche Hülle, i n die der Holismus mit der situationalen Terminologie schlüpft, von Popper entlehnt wurde, — ja nicht einmal, ob man sich der terminologischen Parallelen bewußt ist. Jedenfalls kann auf dem Wege über die Kategorie der Situation ein neuer Impuls ins dialektische Denken und i n die Versuche kommen, nicht mehr nur i n veralteten dialektischen Wendungen, sondern i n genauerer Sprache der Logik gesellschaftlicher Zusammenhänge und ihres Erfassens (und Verfassens) auf die Spur zu kommen. 3. Situationaler
Operationalismus
Während das Hauptanliegen des situationalen Individualismus und des situationalen Holismus darin besteht, menschliches Handeln zu erklären oder zu verstehen, wenn auch mit praktischen Hintergedanken, ist man i n den operationalen Fächern der Planung und Organisation schon zur gezielten und methodologisch disziplinierten Praxis übergegangen: Zielsetzungen, Zielsystematiken, Planungen, Planverwirklichungen, Realisierungskontrollen, Erfolgskontrollen usw. Auch diese Planungsprozesse verlaufen durch den menschlichen Kopf als den buchstäblich „entscheidenden" Flaschenhals. Und dabei spielt wiederum der Begriff der Situation eine zentrale Rolle: Als Definition der Situation, i n der eine Entscheidung fällig wird. Die Entscheidungssituation definieren, das heißt, alle erheblichen und erfaßbaren Daten der Entscheidung (den Inbegriff der Entscheidungsprämissen) erfassen 8. Dabei ist man sich darüber i m klaren, daß die Definition zu einer virtuellen Situation führt, die von der realen Situation (philosophisch: von der Situation an sich), wie man sie sich als Idee einer wirklichen Situation vorstellen mag, abweichen kann. Insofern kommt auch ein Schuß von situationalem Virtualismus ins Konzept m i t hinein. W i r d eine Entscheidungssituation definiert, so gehen, je umfassender dabei vorgegangen w i r d und je komplexer die Probleme sind, immer mehr soziale Faktoren mit i n die Definition ein. Daher glaubt man auch, i n der Entscheidungstheorie m i t dem Begriff der definierten Situation eine Brücke zwischen psychologischen und soziologischen Theorieelementen zu haben 9 . Das wiederum verwundert nicht, denn i n der Sozialpsychologie gibt es den Begriff der definierten Situation schon recht lange 10 , — und auch dort hat er Züge der Virtualität und des 8 W. Kirsch, Entscheidungsprozesse, Wiesbaden 1970 ff., Bd. 2, S. 136 - 162, 214; Bd. 3, S. 9 4 - 9 8 . 9 Bd. 3, S. 94 ff. 10 W. I. Thomas, The Definition of the Situation, i n : L. A. Coser / B. Rosenberg (Hrsg.), Sociological Theory, New Y o r k - London 1964, S. 233 ff. — F ü r die Verfassungs- u n d damit auch Rechtstheorie ist diese Kategorie aufge-
I I I . Die „kognitiv-praktische Situation"
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Scheins. Situationen, die w i r für wirklich halten, bestimmen als solche unser Verhalten und sind dadurch „wirklich", — freilich auf eine andere Weise als i m Sinne einer Situation „an sich": Sie sind wirksam. I I I . Die „kognitiv-praktische Situation" Dieser Abschnitt könnte auch heißen: „Der kognitiv-praktische Prozeß". Es geht nämlich nicht allein um die Statik einer oder mehrerer situativer Momentaufnahmen, sondern um die Strukturen situationaler Abläufe und prozeduraler Zusammenhänge. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß von der Ontologik gehandelt w i r d : Ontologik ohne den Gedanken an den Ablauf von Zeit hätte keinen Sinn. Trotzdem w i r d am Terminus „Situation" festgehalten, weil Strukturen untersucht werden, die invariante Aspekte von i h m übrigen Varianten Abläufen betreffen, und zwar invariante situative Aspekte. 1. Konfiguration
der kognitiv-praktischen
Situation
Zu der Situation, die hier betrachtet wird, gehören als ontologische activa und passiva die erkennenden und handelnden Subjekte, die kognitiv-praktisch miteinander zu tun bekommen, und die Gegenstände, mit denen sie es ebenfalls zu t u n haben. Schließlich umfaßt die Konfiguration 1 0 a noch die Flüsse von Ereignissen, die sich i n der Situation ereignen, samt den strukturellen Merkmalen dieser prozeduralen Ereigniszusammenhänge. Außerdem sollte von Beginn an die Möglichkeit bedacht werden, daß sich Veränderungen i n der Konfiguration ergeben können: Subjekte treten hinzu oder scheiden aus; die Flußstruktur der Ereigniszusammenhänge verändert sich usw. „Kognitiv-praktisch" ist jede Situation, i n der Menschen ihre jeweilige Welt nicht nur „erkennen", sondern i n der die empfangenen Eindrücke das eigene Verhalten einschließlich „geistiger" Prozesse mitbestimmen. Ich w i l l mich hier nicht damit aufhalten, den Kopf darüber zu zerbrechen, ob es eine mehr oder weniger „reine" Erkenntnis gibt; denn hier sollen ohnehin die Zusammenhänge zwischen dem „Herein" der Erkenntnis und dem „Hinaus" der Praxis untersucht werden. I n grober Annäherung kann man unser Vermögen zu „geistiger" Organisation wohl durchaus als eine relativ autonome Instanz i n uns auffassen, die eigene Aktivitäten entwickelt und die dabei unterschiednommen bei D. Suhr, Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung, B e r l i n 1975, S. 226 ff. 10a Vgl. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Nr. 2.0272: „Die Konfiguration der Gegenstände bildet den Sachverhalt." — I m übrigen w i r d bewußt an die Computer-Terminologie (Rechner-Konfiguration) angek n ü p f t ; denn hier w i e dort sind (auch) Datenflüsse i m Spiel.
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2. Kap. : Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
lieh straff und unterschiedlich häufig mit der übrigen Welt i n Berührung kommt, so daß Probleme der Abstimmung und Kompatibilität auftreten, die w i r dann als Probleme der Wahrheit und der Wirksamkeit erleben. Zu der „übrigen Welt" gehören auch Sprache und Schrift, also die symbolischen Medien überhaupt. Diese Medien spielen daher auch eine entscheidende Rolle i n der Konfiguration der Situation. Auch wenn man einmal davon absieht, daß die Erkenntnis nicht bloßes Empfangen, sondern selbst bereits „relativ autonomer" Prozeß ist, zielt die Erkenntnistheorie schon auf Praxis: Dem Erkenntnistheoretiker geht es regelmäßig nicht nur bloß ums Erkennen, sondern darum, den Erkenntnisprozeß zu erkennen, u m ihn zu verbessern. Er sucht Klarheit über das Erkennen, u m besser und treffsicherer erkennen zu können, und das heißt, u m das Erkennen methodologisch und technisch i n den Griff zu bekommen. So ist selbst der Erkenntnistheoretiker i n der Regel ein Erkenntnistechniker, der sich m i t der Untersuchung und Entwicklung von Erkenntnis verfahren befaßt. Der Weg seiner Arbeit führt aus naiven, psychisch-urwüchsigen Erkenntnisweisen über das allmähliche Erfassen dessen, was sich dabei abspielt, i n die methodologische Disziplinierung und Organisation des Erkenntnisprozesses. Vorher wie nachher und während der Arbeit spielen sich Erkenntnisvorgänge ab, aber es verändert sich etwas, und es läßt sich ein „Fortschritt" beobachten: ein Fortschritt von dumpfen Erkenntnisweisen über beobachtete und bewußte zu eingerichteten und verfaßten Formen der Erkenntnis. Die Kenntnisse von dem Erkenntnisprozeß w i r k e n sich auf diesen Prozeß selbst aus wie Katalysatoren 1 1 sich auf chemische Prozesse auswirken können, — m i t der Besonderheit, daß der Katalysator, um den es hier geht, von dem Prozeß selbst erzeugt wird, dessen A b lauf er dann beeinflußt (Autokatalysator 12 ). 2. Graphische
Darstellungstechnik
U m die Darstellung der Vorgänge innerhalb der kognitiv-praktischen Situation zu vereinfachen und zu veranschaulichen, wähle ich hier eine graphische Form der Darstellung. A u f graphischen Darstellungen kann meist m i t einigen wenigen Blicken sehr viel mehr erfaßt werden als bei der Verschlüsselung der Informationen i n einer langen Reihe von Buchstaben und Wörtern. Das ist wichtig, da es bei der kognitiv-praktischen Situation allerhand „ i m Kopf zu behalten" gilt, wenn man sie erfassen möchte. 11 Katalysatoren sind Stoffe, die durch ihre bloße Gegenwart chemische Reaktionen auslösen oder i n i h r e m Verlauf bestimmen. 12 i. S. von Ν. Luhmann, Einführende Bemerkungen zu einer Theorie symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, i n : ZfS 3 (1974), S. 236-255, 242.
I . Die Situation des
awissenschaftlers
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Die graphische Darstellungsweise hat jedoch nicht zur Folge, daß auf die Präzision verzichtet werden müsse, die eine bloß sprachliche Darstellung ermöglichte. Das Gegenteil w i r d vielmehr erstrebt: Von der graphischen Darstellungsweise kann später, bei einer (im Folgenden noch nicht erreichten) Präzisierung und Verfeinerung der Formen, zur graphentechnischen Darstellungsform, welche geradezu mathematische Exaktheit der Modellierung ermöglicht, übergegangen werden. Die graphentechnischen Instrumente haben i n der Netzplantechnik 13 längst ihre praktische Feuerprobe als Analyse- und Planungsinstrument bestanden. Es liegt daher nahe, sie auch als Analyse- und Planungsinstrument beim Erfassen und Verfassen des kognitiv-praktischen Prozesses i n Betracht zu ziehen. Wenn der Erkenntnistheoretiker erst einmal seine Probleme ungefähr i n einer „Sprache" formuliert hat, die graphentechnische Durchmodellierung denkbar macht, dürfte die Ausführung nicht mehr allzu schwer fallen. Davon abgesehen gibt es Darstellungsformen, die vermutlich ohne viel Umbau übernommen werden könnten, auch schon außerhalb der Netzplantechnik. Große Ähnlichkeit m i t den Fragen, u m die es hier geht, haben auch die operationalen Probleme kybernetischer Systeme überhaupt, die W. R. Ashby 14 m i t „kinemativ graphs" erfaßt, u m die Transformationen und Übergänge darzustellen, u m die es geht. IV. Die Situation des Naturwissenschaftlers Bevor die verwickeiteren Zusammenhänge allgemeinerer kognitivpraktischer Situationen näher untersucht werden, empfiehlt es sich, m i t einer einfacheren Situation zu beginnen: m i t der des Naturwissenschaftlers i m klassischen Sinne. Dieser Beginn ist an sich willkürlich, jedenfalls nicht genetisch; aber er knüpft an die einfachsten und geläufigsten Vorstellungen an, die man sich über den Zusammenhang von Wissenschaftler, Gegenstand und Theorie zu machen pflegt. Dabei kommt es auf letzte forschungslogische Feinheiten durchaus noch nicht an, sondern auf den Grundriß der Situation. Außerdem soll selbst die Darstellung dieser einfachen Situation schrittweise entwickelt werden, sei der Anfang dann auch noch so elementar und geradezu banal. M i t der Schrittfolge können dabei nämlich die situativen Horizonterweiterungen Schritt für Schritt dargestellt und nachvollzogen werden: Ein Vorteil, der sich später, wenn die Sache komplizierter wird, als nützlich erweisen wird. 13
z.B. N. Thumb , Grundlagen u n d Praxis der Netzplantechnik, 2. Aufl., München 1969. 14
W. R. Ashby, A n Introduction to Cybernetics, London 1964 (1956).
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2. Kap. : Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
Die graphische Darstellung der Situation eines typischen (klassischen) Naturwissenschaftlers enthält folgende Bereiche: 1. Den Beobachter, der 2. einen Gegenstandsbereich beobachtet, zu dem er sich 3. eine Theorie macht oder geben läßt. 4. Die Beziehungen zwischen Beobachter, Gegenstandsbereich u n d Theorie samt der Flußstruktur der Wechselwirkungen zwischen ihnen.
Beim ersten Darstellungsschritt tauchen allerdings noch nicht alle diese Bereiche auf, sondern nur die, die der beobachtende Wissenschaftler „vor sich" hat, — also die, die w i r sehen, wenn w i r durch seine Augen blicken: sein „Gegenstandsbereich" und seine Theorie. Der Beobachter selbst (und w i r , die w i r gedanklich i n i h n hineinschlüpfen) steht (stehen) zu dieser Theorie-Gegenstand-Situation i n einer A r t von situativer Transzendenz; denn er ist (wir sind) das beobachtende Subjekt, das selbst beobachtet und das daher gerade nicht innerhalb der beobachteten Situation auftaucht, die es „vor sich" hat. Dieses Subjekt muß man sich, wenn man es sich gleichwohl kurz vergegenwärtigen w i l l , über die Zeichenfläche genau dorthin denken, wo der Leser dieser Zeilen oder der Betrachter der Graphik seine Augen hat, und die Beziehungen zwischen dem „Naturwissenschaftler" hier und seiner beobachteten Theorie-Gegenstand-Situation entsprechen dann dem Blick des Leser (Betrachters) auf die Graphik und dem Eindruck der Graphik auf den Leser (Betrachter). Das alles führt zu Graphik 1. Theoriebereich Τ zum Gegenstandsbereich G (Sätze, Aussagen, Hypothesen, Formeln, Modelle)
T(G) Theorie —
?
Zwischen Theoriebereich u n d Gegenstandsbereich : Hypothetische Beziehungen (Frage nach der Wahrheit oder Falsifiziertheit der Hypothesen)
+ Gegenstandsbereich G (Objekte)
G Gegenstand
Graphik 1 Die Situation, die der Naturwissenschaftler „ v o r sich" hat
Graphik 1 zeigt nur die Teilsituation, mit welcher der Naturwissenschaftler sich beschäftigt, wenn er nicht auch über sich selbst nachdenkt. Dabei taucht für ihn das Wahrheitsproblem auf als Frage nach den Beziehungen zwischen Theorie und Gegenstand. Diese Beziehung w i r d i n
I . Die Situation des
awissenschaftlers
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der einen oder anderen Form als hypothetische Abbildbeziehung erlebt und verstanden, die bestätigt oder falsifiziert wird, indem der Gegenstandsbereich beobachtet wird. I m Theoriebereich kommt die Aufgabe hinzu, die Aussagen und Hypothesen korrekt zu formulieren und etwaige Folgerungen korrekt abzuleiten. Dabei besteht noch eine Beziehung zwischen den syntaktischen Strukturen der Theorie und den Ereignisverknüpfungen i m Gegenstandsbereich, die ebenfalls hypothetisch-abbildenden Charakter hat. Hier geht es aber nicht u m die Einzelheiten richtiger und zweckmäßiger naturwissenschaftlicher Forschungstechniken, sondern u m die Situation des Naturwissenschaftlers, der zusammen m i t seiner Theorie und seinem Gegenstand der Konfiguration dieser Situation mitangehört. Also muß der Naturwissenschaftler m i t i n die Graphik aufgenommen werden, damit diese die Situation voll erfaßt, m i t der w i r es zu tun haben. Anders ausgedrückt: Der Beobachter („Naturwissenschaftler") w i r d nun i n den Horizont der Situation miteinbezogen. Vorher war er noch außerhalb der Darstellung geblieben und mußte „über der Zeichenfläche" gedacht werden. Die Graphik zeigte nur, was er beobachtet, nicht ihn als Beobachter. Jetzt soll sie ihn als Beobachter zeigen, indem wir als Beobachter zweiten Grades auf ihn schauen. So ist er i n seiner Situation Beobachter und i n unserer Situation Beobachteter: Zwei Situationen mit zwei unterschiedlichen Perspektiven. Wo vorher der Naturwissenschaftler selbst noch (und w i r m i t ihm) i n situativer Transzendenz rangierten, ist der Naturwissenschaftler nunmehr i n die Situation miteinbezogen und nur wir, die w i r ihn i n seiner Situation beobachten, rangieren „noch" i n situativer Transzendenz. So ergibt sich Graphik 2. (Die „situative Transzendenz" ist dabei nichts Mysterisches, sondern die wirkliche, kognitiv-praktische Kopplung und Beziehung zwischen Beobachter und Beobachtetem, die aus perspektivischen Gründen gerade nicht auch beobachtet werden kann.) Da jetzt der naturwissenschaftliche Beobachter diesseits des situativen Horizontes erscheint, können auch die Wechselwirkungen durch Vorgangspfeile dargestellt werden, durch die er m i t seinem Theoriebereich und seinem Gegenstandsbereich verbunden ist: Wenn er eine Theorie formuliert, so führt dieser Vorgang von i h m aus i n den Theoriebereich. Wenn er eine Theorie zur Kenntnis nimmt, so daß sie seine kognitiven Erwartungen, die er i n Bezug auf seinen Gegenstandsbereich hat, organisiert, dann führt dieser Vorgang aus dem Theoriebereich zum Beobachter hin (und i n ihn hinein). Ganz ähnlich verhält es sich m i t dem Gegenstandsbereich: Auch von dort her erhält der Beobachter
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2. Kap.: Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
1 Hypothetische Beziehungen zwischen Theorie u n d Gegenstand 2 - 5 Wirkliche Beziehungen zwischen dem Beobachter u n d dem Gegenstand u n d der Theorie (kognitiv-praktische Kopplung) : 2 Beobachter Β n i m m t die Theorie zur Kenntnis. Die Theorie organisiert B's kognitive Erwartungen i n Bezug auf den Gegenstand 3 Β formuliert oder ändert die Theorie 4 Β beobachtet den Gegenstand. Er empfängt Eindrücke von ihm. 5 Β inszeniert Experimente i m Gegenstandsbereich Graphik 2 Die Situation des Naturwissenschaftlers aus der Sicht eines D r i t t e n
Eindrücke (buchstäblich Ein-Drücke i n seinen neuronalen Apparat, oder besser: Ein-Flüsse); und er selbst veranstaltet Experimente i m Gegenstandsbereich, so daß entsprechende Vorgangspfeile eingezeichnet werden müssen. W i r d von der Situation i n Graphik 1 zu der i n Graphik 2 übergegangen, so kommen zu den (hypothetischen) Beziehungen zwischen Theorie und Gegenstand noch die (realen) Beziehungen zwischen dem Beobachter auf der einen Seite und sowohl dem Theoriebereich als auch dem Gegenstandsbereich auf der anderen Seite hinzu. Dabei fällt auf: Die Beziehungen zwischen Beobachter und Theoriebereich unterscheiden sich bei dieser A r t von Darstellung gar nicht so sehr von den Beziehungen zwischen Beobachter und Gegenstandsbereich. Vielmehr ähneln beide so sehr, daß ohne weiteres gesagt werden kann: Es besteht eine kognitiv-praktische Kopplung zwischen dem Beobachter hier und der übrigen Situation, die sich aus dem Theoriebereich und dem Gegenstandsbereich zusammensetzt, dort. Diese kognitiv-praktische Kopplung ist genau das, was den Naturwissenschaftler m i t seiner übrigen Situation verbindet und was i n Graphik 1 nicht dargestellt werden konnte, weil der Beobachter noch nicht graphisch i n die Situation eingemeindet worden war.
I . Die Situation des
awissenschaftlers
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Die Situationsgraphik 2 vermag i n einem entscheidenden Punkt noch nicht zu befriedigen: Der Beobachter selbst erscheint als ein rundes leeres Feld, obwohl sich in ihm die wichtigsten Prozesse der kognitiv-praktischen Situation abspielen. I n den Kopf des Beobachters kann freilich nicht hineingeschaut werden. Er bleibt für uns bis auf weiteres eine black box, zu der w i r uns nur Modellvorstellungen machen können, u m innere Erfahrungen sinnvoll darstellen und mehr oder weniger technisch simulieren zu können. U m die Situation zu vervollständigen, muß daher auch noch die innere Situation des Beobachters i n groben Zügen konfigurativ dargestellt werden. Dabei geht es nicht schon u m empirische Abbildung, sondern zunächst u m hypothetische Mindestdifferenzierungen, die es erlauben, subjektive Erlebnisweisen des kognitiv-praktischen Prozesses situativ zur Sprache und zur graphischen Darstellung zu bringen. Daß es dabei noch immer sehr einfach und elementar zugeht, ist i n diesem Stadium der Analyse kein Mangel, sondern i h r großer Vorzug. Bei der „inneren Situation" des Beobachters, die i n die umfassendere kognitiv-praktische Situation hineingeschachtelt ist, geht es u m die kognitiven Erfahrungen des Forschers, der eine Theorie hat (erfährt, erarbeitet) und sie m i t (experimentellen oder sonstigen) Befunden seines Gegenstandsbereichs vergleicht. Der Beobachter „hat" dabei subjektive theoretische Erwartungen einerseits und den subjektiven Eindruck seiner empirischen Befunde andererseits. Diese beiden subjektiven Erscheinungen kann er „vergleichen"; und dabei kommt es zu Erlebnissen der Evidenz und Übereinstimmung oder zu Erlebnissen der Nichtübereinstimmung. Stimmen die theoretischen Erwartungen und die Eindrücke zusammen, ereignet sich ein subjektives „Konsonanz·", sonst ein subjektives „Dissonanz" 15 -Phänomen. U m die innere Situation, i n der zwei subjektive Eindrücke zusammenprallen und einen dritten ergeben, darzustellen, kann man von folgenden Hypothesen ausgehen: 1. Es gibt einen subjektiven Aggregatzustand der Theorie: die Theorie, w i e sie i m Inneren repräsentiert w i r d u n d die kognitiven Erwartungen des Beobachters (und auch sein Experimentieren) bestimmt. 2. Es gibt einen entsprechenden subjektiven Aggregatzustand des Gegenstandsbereiches, w i e er i m Inneren repräsentiert w i r d . 15 Terminologische A n k n ü p f u n g an L. Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford, Cal., 1968. Weitere Hinweise bei W. Kirsch (oben A n m . 8), Bd. 1, S. 118- 125; P. Kmieciak, A u f dem Wege zu einer generellen Theorie sozialen Verhaltens, Meisenheim 1974. Da es sich bei Festinger u m Theorie f ü r empirische Psychologie u n d Sozialwissenschaft handelt, hier aber u m abstrahierende u n d generalisierende Logik, w i r d nicht mehr als terminologische Parallelität beansprucht, obgleich weitergehende Verwandtschaften bestehen.
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2. Kap.: Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
3. Die Theorie als „ I n t e r n u m " u n d der Gegenstand als „ I n t e r n u m " sind i m Inneren derart durch irgendwelche Beziehungen miteinander korrelierbar, daß die Korrelation i n F o r m von subjektiven Dissonanz- oder K o n sonanzerlebnissen erfahren w i r d .
W i r d nun die innere Situation des Beobachters i n der angedeuteten Konfiguration i n die graphische Darstellung mitaufgenommen, ergibt sich Graphik 3.
6 Kognitiv-praktische K o p p l u n g zwischen Beobachter Β u n d dem Gegenstand einerseits u n d zwischen dem Beobachter Β u n d der Theorie andererseits 7 Innerer Konsonanz-Dissonanzbereich zwischen der Theorie i m internalisierten Aggregatzustand (Ti[G]) u n d dem Gegenstand i m internalisierten Aggregatzustand (Gì) Graphik 3 Ergänzung von Graphik 2 u m Elemente der „inneren Situation" des Beobachters
Stimmen die Erwartungen, welche die Theorie i n ihrer subjektiven Form i m Beobachter organisiert, mit den Eindrücken zusammen, welche der Gegenstand i m Inneren hinterläßt, sind der „innere Gegenstandsbereich" und der „innere Theoriebereich" miteinander konsonant. Der Beobachter erlebt diese Konsonanz als Bestätigung seiner Theorie. Sind aber der „innere Gegenstandsbereich" und der „innere Theoriebereich" miteinander dissonant, erlebt er es als Widerlegung seiner Theorie (oder er nimmt die Tatsache, daß seine Erwartungen enttäuscht wurden, zum Anlaß, an seinen Wahrnehmungen oder an seiner experimentellen Anordnung zu zweifeln). Nunmehr ist es aufschlußreich, die Teilsituation, die der Beobachter „vor sich hat", mit der Teilsituation zu vergleichen, die er „ i n sich"
V. Die Situation der Selbsterkenntnis
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hat: „Draußen", zwischen der Theorie und dem Gegenstand, bestehen für ihn nur hypothetische Beziehungen. „Drinnen", zwischen dem „inneren Theoriebereich" und dem „inneren Gegenstandsbereich" bestehen tatsächliche Beziehungen der Konsonanz und Dissonanz, die subjektiv erlebt und interpretiert werden. So entspricht der hypothetischen Beziehung, die draußen zwischen Theorie und Gegenstand „besteht", i m Inneren die psychisch-faktische Beziehung, die als Konsonanz oder Dissonanz erfahren wird. Oder: Die hypothetische Beziehung erscheint als nach draußen projizierte und als Wahrheitsbeziehung interpretierte Form der subjektiven Konsonanz-Dissonanz-Erfahrungen. Was für die übliche logisch-semantische Betrachtungsweise eine „bloß hypothetische" Relation ist, erweist sich demnach bei situationsontologischer Analyse als gedanklicher Reflex (als subjektive Erlebnisform und Interpretation) wirklicher psychischer Prozesse. Die Situationsontologik kann diese Erfahrungen (zunächst grob und i n Ansätzen) „erklären" und darstellen; sie ist „mächtiger" 1 6 als das Erklärte und Dargestellte. Sie vermag die Wahrheitsproblematik als Sonderfall situativ begriffener kognitivpraktischer Prozesse zu deuten. Das erweckt etwas Hoffnung, mit der Situationsontologik auch andere Probleme ansatzweise ganz gut i n den Griff zu bekommen. V. Die Situation der Selbsterkenntnis 1. Selbstbeobachtung Der „Naturwissenschaftler", von dem i m vorigen Abschnitt die Rede war, beobachtete Gegenstände außerhalb seiner selbst. Wie aber sieht die Situation graphisch aus, wenn er nicht einen Gegenstand draußen, sondern sich selbst betrachtet und sich über sich selbst Gedanken (eine „Theorie") macht? Derlei Geschäft paßt freilich nicht so sehr zum „Naturwissenschaftler", sondern eher zum „Philosophen". U m ζ. B. so zu denken und zu sprechen wie Descartes: Cogito ergo sum, — ich denke, also bin ich, — muß man schon zum Beobachter seiner selbst geworden sein. 16 Vgl. L. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Nr. 4.04: „ A m Satz muß gerade soviel zu unterscheiden sein, als an der Sachlage, die er darstellt. Die beiden müssen die gleiche logische (mathematische) M a n n i g faltigkeit besitzen." Entsprechende Überlegungen gelten für die graphische Darstellung von Situationen. Wenn Wittgenstein kurz vorher (Nr. 4.0312) schreibt: „ M e i n Grundgedanke ist, daß die »logischen Konstanten 4 nicht v e r treten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt", muß ich allerdings für die Graphiken i n diesem Beitrag betonen, daß auch u n d gerade die „ L o g i k der Tatsachen" durch sie dargestellt, also „vertreten" oder „repräsentiert" werden soll, freilich i n einer noch nicht streng graphentechnisch formalisierten Form.
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2. Kap.: Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
Zunächst empfiehlt es sich wieder, eine A r t Bestandsaufnahme zur Situation der Selbsterkenntnis zu erstellen. Zu dieser Situation gehören: 1. der „Philosoph", der es m i t sich selbst zu t u n bekommt, als Beobachter; 2. der „Philosoph", m i t dem er es zu t u n bekommt, als Beobachteter, der n u n den Platz des Gegenstandes einnimmt, den der „Naturwissenschaftl e r " „ v o r sich" hatte; 3. der „Philosoph", von dem i n der Theorie die Rede ist, die der „Philosoph" sich von sich macht, — also der „Philosoph" als Besprochener i m Theoriebereich; 4. die Innenbereiche, welche dem draußen vorgefundenen u n d theoretisch besprochenen „Philosophen" entsprechen.
U m nun die Situation der Selbstbetrachtung graphisch darzustellen, kann zunächst an Graphik 3 angeknüpft werden. Dann erscheint der „Philosoph" i m Gegenstandsbereich (als schaute er i n den Spiegel) und i m Theoriebereich, so daß sich Graphik 4 ergibt. Darin hat sich gegenüber Graphik 3 der situative Horizont wiederum verändert, nämlich insofern, als der „Philosoph" nunmehr selbst die Bühne seines Gegenstandsbereichs betreten und den Scheinwerferkegel seiner Aufmerksamkeit auch auf sich selbst gerichtet hat.
Graphik 4 Die Situation der Selbstreflexion — dargestellt durch Ergänzungen zu Abb. 3
I n Graphik 4 ist noch ein Schönheitsfehler: Es „stimmt nicht", daß der Beobachter und der Beobachtete zwei verschiedene Personen sind, von denen der eine auf der Gegenstandsbühne auftritt, während der andere i m Zuschauerraum sitzt und zuschaut. Beobachter und Beobachteter fallen jedenfalls räumlich zusammen, so sehr sie subjektivperspektivisch etwas Verschiedenes sind. Soll dies graphisch zum Aus-
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V. Die Situation der Selbsterkenntnis
druck kommen, muß der Kreis, der den Beobachteten darstellt, m i t dem anderen Kreis, der den Beobachter darstellt, zusammengebracht werden: der eine muß i m anderen stecken, so wie der Beobachter i m
Graphik 5 Die Situation der Selbstreflexion — dargestellt als situative Schachtelung
G
Graphik 6 Die Situation der Selbstreflexion unter Miteinbeziehung des Theoriebereichs i n den situativen Horizont des Gegenstandsbereiches
Beobachteten drinsteckt. Die Gegenstandsbühne muß so verschoben werden, bis auch der Beobachter dort „steht", wo er sich als Beobachteten vorfindet. Dann kommt graphisch zur Darstellung, daß das Subjekt, das beobachtet, i n das Subjekt hineingeschachtelt ist, das beobachtet wird. Dementsprechend muß die „innere Situation" der Konfiguration der Gesamtsituation angepaßt werden. So ergibt sich Graphik 5, 3 Suhr
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2. Kap. : Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
wenn auch i m Theoriebereich die Schachtelung, welche die Gesamtsituation zeigt, berücksichtigt wird. A n die Situation i n Graphik 5 läßt sich nun eine einfache Überlegung anschließen: I m Grunde ist die Theorie, die der Philosoph sich von sich macht und ζ. B. i n ein Buch hineinschreibt, ein Gegenstand. (Man kann das Buch einfach m i t auf die Gegenstandsbühne legen, auf welcher der Philosoph steht und sich selbst beobachtet.) Dann bildet die Gegenstandsbühne die situative Plattform, auf der sich alles abspielt: Graphik 6. I h r Rand ist zugleich der Horizont der Situation, und die Theorie liegt diesseits des Horizontes. Dieser Horizont fungiert als die äußerste Schachtel, i n die alles übrige hineingeschachtelt ist, und es ändert an der Grundkonfiguration jetzt nicht mehr viel, wenn man einmal kurz ins Auge faßt, daß man beliebig viele weitere Gegenstände und Subjekte auf die „Bühne" stellen, also i n den Horizont miteinbeziehen kann. Graphik 6 kann daher als Vorform der Situation „Philosophin-Welt" aufgefaßt werden. Graphik 6 erinnert i n ihrer S t r u k t u r i m übrigen an jene Trickbilder, auf denen ein Mensch dargestellt ist, der ein B i l d betrachtet, auf dem er selbst dargestellt ist, w i e er ein B i l d betrachtet, auf dem er selbst dargestellt ist . . . , — Trickbilder, die sich heute „ l i f e " inszenieren lassen m i t Hilfe von Fernsehkameras, die einen Bildschirm m i t erfassen, auf dem das gerade erfaßte B i l d erscheint. I n der Tat besteht eine strukturelle Verwandtschaft zwischen diesen Trickbildern u n d den erkenntnistechnischen situativen Schachtelungen, die hier behandelt werden 1 7 . Während es sich aber bei den Trickbildern n u r u m ineinandergeschachtelte Wiederholungen handelt, w i r k e n die ineinander geschachtelten Bereiche der kognitiv-praktischen Situation aufeinander ein u n d stehen i n Resonanz-Dissonanz-Konsonanz-Beziehungen m i t einander.
2. Zusammenstimmen
mit sich und seiner Welt
Über den situativen Horizontverschiebungen von Graphik 3 zu Graphik 4 bis Graphik 6 wurde eine Beziehung ganz vernachlässigt, die i n der Situation des Naturwissenschaftlers noch eine wichtige Rolle gespielt hat: die hypothetische Wahrheitsbeziehung zwischen Theorie und Gegenstand, die sich als die Form erwiesen hatte, i n der subjektive Konsonanz-Dissonanz-Erlebnisse zur Sprache gebracht und vergegenwärtigt werden. 17 H i e r begegnet auf dem Wege dieser Studien erstmals u n d i n einfachster F o r m die Schachtelungsstruktur, w i e sie i n der Sozialpsychologie u n d
i n den Sozialwissenschaften von G. H. Mead über ζ. Β. T. Parsons bis zu
den vielfach geschachtelten Erwartungserwartungen bei N. Luhmann, aber auch i n der Spieltheorie i n jeweils spezifischen Formen beobachtet werden können. Vgl. zu diesen „Spiegelsaalstrukturen" T. Parsons / R. F. Bales, Family, Socialization and Interaction Process, New York, 1955, S. 88, u n d dazu E. Schwanenberg, Soziales Handeln, Bern - Stuttgart - Wien, 1970, S. 236, 241.
V. Die Situation der Selbsterkenntnis
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Die herkömmliche Wahrheitsproblematik steckt bei Graphik 6 i n der (nicht graphisch dargestellten) hypothetischen Beziehung zwischen dem Theoriebereich Τ und dem Gegenstandsbereich G, der die Gesamtsituation umschließt. Die Theorie, die zeichnerisch i m Theoriebereich grob angedeutet ist, ist „ w a h r " (noch-nicht-falsifiziert), wenn sie m i t der Gesamtsituation, von der sie handelt, „übereinstimmt" (wenn beide i n ihrem subjektiven Aggregatzustand „Konsonanz" auslösen). Diese „Wahrheit" ist der Name und Begriff für die A r t und Weise, i n der die innere Konsonanz erfahren wird, wenn der Philosoph sich so i n der Welt vorfindet, wie er es sich vorstellt. Diese „Wahrheit" ist also der Reflex oder die projektive Darstellung eines Konsonanzerlebnisses: Sie ist der Reflex des Zusammenstimmens von Ich-Bewußtsein und Ich-Erscheinung, wie sie durch Ich-Erfahrung vermittelt wird, — ein Reflex des Zusammenstimmens m i t sich selbst. Entsprechende Überlegungen gelten für Dissonanzerlebnisse. Sie sind die internen Indikatoren für das, was dann „Unwahrheit" genannt wird. Wichtig aber ist nun, daß Konsonanz nunmehr nicht nur auf dem Wege erzielt werden kann, daß die Theorie und das Bewußtsein dem Gegenstand angepaßt werden, sondern auch, indem der Gegenstand der Theorie angepaßt wird. Stimmen sie nicht zusammen, der Philosoph und sein Selbstbild, kann er entweder sich selbst ändern oder sein Bild. Denn i m Hinblick auf die Wohltat innerer Konsonanz sind Anpassungen i n der Theorie und Anpassungen des Gegenstands weitgehend funktional äquivalent. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt, i n dem die Ontologik der kognitiv-praktischen Situation aussagekräftiger und „mächtiger" ist als die nicht prozeduralen Logiken und Erkenntnistheorien. Ein Philosoph pflegt aber nicht nur über sich nachzudenken und über sich zu sprechen, sondern er geht aufs Ganze: Er faßt die Welt und darin sich selbst i n seinen Blick. So erweitert sich seine Selbsterkenntnis zur Welterkenntnis, sein Selbstverständnis zum Weltverständnis. Damit soll i n keiner Weise ein tatsächlich-historischer Verlauf i n der Entwicklung seiner Erkenntnis angedeutet werden, sondern nur der Übergang von einer Situation (Selbstbetrachtung) zu einer anderen Situation m i t erweitertem Horizont (Betrachtung der Welt und i n der Welt seiner selbst). Es war oben schon erwähnt worden, daß es für die Situationsontologik keinen großen Unterschied macht, ob der Philosoph nur sich oder sich-in-der-Welt betrachtet. Solange es nur darum geht, die prinzipiellen Strukturen zu erfassen und noch nicht die unendlich reichhaltige Situation i m einzelnen, genügt es, die übrige Welt symbolhaft anzudeuten durch ein paar Gegenstände und Subjekte außerhalb des Beobachters, aber innerhalb des situativen Horizontes. Dabei zeigt sich, 3·
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2. Kap.: Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
was oben schon an Graphik 2 erstmals aufgefallen war: daß nämlich die Theorie zu den Gegenständen gehört, welche den Beobachter umgeben, welche auf i h n einwirken und die i n i h m i n irgend einer Form repräsentiert sind. Entscheidend w i r d dann weniger die hypothetische Beziehung zwischen „Theorie" und den übrigen „Gegenständen", für die sie steht, sondern eher die kognitiv-praktische Kopplung zwischen „Philosoph" und übriger Welt und die Resonanzen, Dissonanzen und Konsonanzen i n seinem Inneren. Extrem ausgedrückt: Der Unterschied zwischen „Theorie" und „Gegenstand" i m herkömmlichen Sinne w i r d relativiert; dafür t r i t t u m so deutlicher der Unterschied und die Grenze hervor, welche zwischen dem „Philosophen" und der „übrigen W i r k lichkeit" (welcher er angehört) bestehen. Nicht seine Theorie muß mit der Welt, sondern er selbst m i t seiner inneren Welt muß mit sich und seiner wirklichen Welt zusammenstimmen,— und zwar nicht nur i m Sinne einer Abbildung, sondern i m Sinne einer Kompatibilität i n der Kooperation und Interaktion. Versucht man, diese Situation darzustellen, ergibt sich Graphik 7. übrige Wirklichkeit mit codierter
G
Τ
kognitiv-praktische Kopplung
übrige Wirklichkeit mit Gegenständen und anderen Subjekten
Graphik 7 Die Situation des Philosophen m i t seiner Philosophie Τ i n seiner Welt
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V I . Die Situation des Sozialwissenschaftlers
Die „Theorie" ist ein Stück der „übrigen Welt"; beide gehören zur Umwelt des Philosophen, — ja sogar der Beobachter selbst, soweit er nicht nur i m augenblicklichen Erleben seiner Dissonanzen und Konsonanzen besteht, sondern Körper ist oder sich sonst selbst zum Gegenstand wird, ist Umwelt des subjektiven Bereiches, i n dem sich die Erlebnisse abspielen. Diese Umwelt dringt i n den Beobachter zweifach ein (als „Theorie" und als „übrige Welt"), und i n dieser Form resoniert sie i m Beobachter, der dabei nichts ist oder nichts zu sein scheint als die Erfahrung dieser Resonanzen, Dissonanzen und Konsonanzen. Philosophische Wahrheit ist sein Zusammenstimmen m i t sich und der Welt. Davon ist die logisch-semantische Wahrheit seiner Philosophie nur der hypothetische Abglanz. Auch die Zweifel, Ungereimtheiten und Einstellungen seiner Philosophie sind Abglanz seiner Erfahrungen, — ζ. B. der Erfahrung, daß auf seine innere Welt kein Verlaß ist, wenn er es m i t der übrigen Welt zu t u n bekommt, so daß er die Neigung entwickelt, gegen die übrige Welt anzugehen oder sie zu fliehen. VI. Die Situation des Sozialwissenschaftlers Sämtliche Situationen, die bisher dargestellt wurden, sind insofern höchst irreal, als es den einsamen Beobachter, von dem die Rede war, gar nicht gibt; er ist eine A r t Isolationsprodukt, das zu keinem Gedanken fähig wäre, wenn er nicht durch Sozialisationsprozesse i m Kontext einer relativ weit entwickelten Gesellschaft zum Denken und Sprechen befähigt worden wäre. I m Bewußtsein dieser Erkenntnisse kann gleichwohl m i t der Analyse fortgefahren werden, auch wenn sie i m Gedanken an eher genetisch orientierte Hypothesen konstruiert und künstlich anmuten muß. 1. Kurzschluß zwischen „Theorie"
und. „Gegenstand"
I n den klassischen Naturwissenschaften gab es ein Problem jedenfalls nicht: Daß der Gegenstand dadurch, daß eine Theorie über ihn formuliert und publiziert wird, verändert wird. I n der modernen Physik taucht immerhin schon das Problem auf, daß es Bereiche gibt, die nicht beobachtet werden können, ohne daß sie sich verändern. I n den sozialwissenschaftlichen Disziplinen aber w i r d das Problem, daß die Experimentierbedingungen den zu erforschenden Bereich verändern, i n einer Weise akut, die erhebliche praktische Schwierigkeiten aufwirft, und es kommt hinzu, daß eine Theorie über die Gesellschaft, wenn sie nicht vor dieser Gesellschaft geheim gehalten wird, eben diese Gesellschaft beeinflussen kann 1 8 . Denn die Elemente, die diese Gesell18
Es handelt sich dabei u m uralte Beobachtungen, die i m Verlaufe der Geschichte i m m e r wieder i n der einen oder anderen F o r m erfahren worden *
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2. Kap. : Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
schaft ausmachen, sind empfänglich Sprache und andere Medien.
für Eindrücke und Einflüsse durch
Solange der Beobachter es nur m i t Gegenständen zu t u n hatte, die weder Augen noch Ohren haben, bestand die einzige wirkliche Verbindung zwischen Theorie und Gegenstand nur i n seinem Kopf und war vermittelt durch seinen Kopf. „Draußen" gab es zwischen Theorie und Gegenstand nur hypothetische Beziehungen. Jetzt aber enthält der Gegenstand selbst Köpfe, die nicht unbedingt gleichbleiben, wenn sie sich die Theorie einverleiben: So kommt es i m Bereich der Sozialwissenschaften zum Kurzschluß zwischen Theorie und Gegenstand. Der Kurzschluß kommt dadurch zustande, daß der Gegenstand Sprache und Theorie „schlucken" kann. A u f diesen besonderen Fall i m Bereiche sozialwissenschaftlicher Forschung soll sich hier die Aufmerksamkeit konzentrieren, nicht auf die Fälle schlicht-empirischer Forschung, bei denen es entweder nicht zur Einwirkung der „Theorie" auf den Gegenstandsbereich kommt oder bei denen diese Nebenwirkung vernachlässigt wird. Dieser Kurzschluß-Fall hat hier, wo es vor allem u m die Fundamentierung des Rechts und der Rechtswissenschaft geht, vor allem deshalb Bedeutung, weil er dem Fall wenigstens analog ist, i n dem zwar keine „Theorie", wohl aber versprachlichte Sollzustände mitgeteilt werden und i n den betroffenen Individuen Veränderungen auslösen oder auch nur Erwartungen stabilisieren „sollen". I n beiden Fällen wirken symbolische Ereignisse, die von Köpfen produziert werden, auf Köpfe ein, die i m Gegenstandsbereich der Theorie bzw. i m Zielbereich der Normen liegen. Und i n beiden Fällen kann es vorkommen, daß der Kopf, der „gesprochen" hat, den Einflüssen dieser Sprache selbst wieder unterliegt, sei es, daß er eine Theorie formuliert, die so allgemein ist, daß sie auch für i h n 1 9 gilt, sei es, daß er Normen setzt, denen er selbst unterworfen ist. Sieht man von diesem Sonderfall des Selbstbetroffenseins ab und stellt zunächst der Einfachheit haisind. Vgl. ζ. Β . Ε. Τ optisch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie u n d Wissenschaft, Neuwied 1961, S. 153, 156, 152 (Der Denker spielt m i t ) ; Κ έ R. Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1969, S. 8, 12 - 1 4 (Der Sozialwissenschaftler mag nach Wahrheit streben, aber gleichzeitig übt er zwangsläufig stets einen deutlichen Einfluß auf die Gesellschaft aus. Eben die Tatsache, daß seine Aussagen einen Einfluß ausüben, zerstört ihre Objektivität); R. Prewo / J. Ritsert / E. Stracke, Systemtheoretische Ansätze i n der Soziologie, Reinbek bei Hamburg, 1973, S. 145 f. (Theorien sind ihrerseits soziale T a t sachen, m i t einem Feedback auf andere soziale Tatsachen). Insgesamt: P. Berger IT. Luckmann, Die gesellschaftliche K o n s t r u k t i o n der Wirklichkeit, F r a n k f u r t , 1969. 19 Das gilt z.B. f ü r Anthropologen; E. Denninger, Rechtsperson u n d Solidarität, F r a n k f u r t 1967, S. 2 3 - 2 6 ; f ü r die Geschichtswissenschaft, sofern sie hermeneutische Züge trägt; aber auch sehr oft f ü r Psychologie, Sozialpsychologie u n d für die Sozialwissenschaften.
V I . Die Situation des Sozialwissenschaftlers
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b e r n u r d e n „ K u r z s c h l u ß zwischen T h e o r i e u n d G e g e n s t a n d " d a r , e r g i b t sich Graphik
8.
Graphik 8 Die Situation des Sozialwissenschaftlers, ausgehend von der Situation i n Graphik 2 Z u r Erläuterung dessen, w o r u m es geht, k a n n m a n sich einen F a l l aus der Richtersoziologie ausmalen: E i n Forscher hat minutiös Herkunft, Sozialisation u n d — vor allem — das bisherige Entscheidungsverhalten u n d die Rolle eines Richters nach allen Seiten h i n erforscht u n d auf G r u n d dieses Materials eine Entscheidung prognostiziert, die der betroffene Richter am folgenden Tag fällen soll. Der Z u f a l l w i l l es, daß der Richter davon erfährt, die Prognose studiert u n d sich sagt, das sei j a alles richtig, aber den Spaß gönne er den Sozialwissenschaften nicht. Also entscheide er anders. So geschieht es. Das wäre ein typischer F a l l einer Prognose, die richtig w a r u n d die, w e i l sie richtig w a r u n d dem Betroffenen bekannt wurde, bewirkte, daß sie sich schließlich als falsch erwies (suicidal oder selfdestroying prophecy 20). 2. Herkömmliche
„Theorie"
als
Grenzfall
S e l b s t v e r s t ä n d l i c h t r a n s z e n d i e r t d e r K u r z s c h l u ß zwischen T h e o r i e u n d G e g e n s t a n d i m B e r e i c h d e r Sozialwissenschaften n i c h t d i e M ö g l i c h k e i t e n e m p i r i s c h e r Forschung. D e r „ K u r z s c h l u ß " i s t selbst n i c h t s anderes als eine empirische Erscheinung, w e l c h e i h r e r s e i t s systematisch nach a l l e n R e g e l n e m p i r i s c h e r F o r s c h u n g erforscht w e r d e n k a n n . N u r 20 R. K. Merton , Die Eigendynamik gesellschaftlicher Voraussagen, i n : E. Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozial·wissenschaften, K ö l n - Berlin, 1968, S. 144 161; siehe auch oben A n m . 10. Daß die Jurisprudenz auf „naive" u n d p r a k tische Weise oft schon lange dort ist, w o h i n die Sozialwissenschaften a l l mählich kommen, zeigt (von der Wirkung von Gesetzen ganz abgesehen!) ein T i t e l w i e M. Kloepfer, V o r w i r k u n g von Gesetzen, München 1974. Die Labelling-Phänomene der Kriminologie gehören ebenfalls i n diesen Kontext. Z u r religiösen Definition der Situation schließlich z.B. T. Parsons , The Social System, Glencoe, III., 1951, S. 367 ff.
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2. Kap.: Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
ein entscheidendes Problem kommt hinzu: Ob nämlich und wie sehr und i n welcher Richtung die Theorie den Gegenstand verändert, — welche Erwartungen sie i n den Köpfen auslöst und welche Verhaltensweisen sie auf diesem Wege i n Gang bringt oder bremst: das hängt auch davon ab, ob und wie und welche Sätze der Theorie verstanden werden. Verstehen, Νichtverstehen und Mißverstehen spielen nunmehr eine ganz entscheidende Rolle, wenn man den empirischen Vorgang, u m den es geht, verstehen oder vielmehr — pardon! — empirisch erklären w i l l . Die „erklärende Sozialwissenschaft" bekommt es m i t dem „Verstehen" i m Bereiche ihres Gegenstandes zu tun! — ganz abgesehen davon, daß jeder „erklärende" Wissenschaftler schon immer seine Theorie „verstehen" mußte 2 0 a . Insofern empfiehlt es sich, zwischen schlicht empirischer Forschung, bei der Theorie und Gegenstand isoliert voneinander bleiben, und einer meta-empirischen Forschung zu unterscheiden, bei der die Wechselwirkungen zwischen Theorie und Gegenstand untersucht werden (wobei das zusätzliche Problem auftaucht, ob und wie die Theorie „höherer Ebene", welche diese Wechselwirkungen behandelt, ihrerseits m i t ihrem Gegenstand als i n Wechselwirkung stehend gedacht werden muß). W i r d der Einfluß der „Theorie" auf ihren Gegenstand untersucht, ist es freilich etwas mißverständlich, wenn noch vorbehaltlos von „Theorie" gesprochen w i r d ; denn diesem Begriff haftet gerade der Sinn an, etwas „bloß theoretisches" zu sein, das nicht (wie Programme einen Computer) ihren Gegenstand umstrukturieren, sondern von i h m getrennt und isoliert bleiben. Hier aber w i r d die „Theorie" selbst zum Wirkungsfaktor und dadurch zur empirischen Wirkungsgröße i m Gegenstandsbereich. Als Sozialwissenschaftler hat man nach allem wenigstens zwei Möglichkeiten: 1. Entweder man hält an einem schlicht empirischen Verständnis von Wissenschaft fest. Dann muß der Kurzschlußfall zwischen Theorie und Gegenstand vermieden werden. Dieser Fall erscheint dann als problematischer Grenzfall, den man ausklammert, soweit es irgend geht. 2. Oder man w i r f t sein Herz über die Hürde und entschließt dazu, gerade darin das Spezifische der sozialwissenschaftlichen beit zu sehen, daß der Gegenstandsbereich durch symbolische dien (wie „Theorie") beeinflußbar ist. Dann w i r d das, was
sich ArMebei
2 °a „Es ist doch seltsam, daß die Wissenschaft u n d die Mathematik die Sätze gebraucht: aber v o m Verstehen dieser Sätze nicht spricht." L. Wittgenstein, Philosophische Grammatik, Frankfurt, 1973, S. 39.
V I . Die Situation des Sozialwissenschaftlers
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schlicht e m p i r i s c h e r F o r s c h u n g d e n m ü h e v o l l v o r sich hergeschoben e n Grenzfall b i l d e t , z u r stets e r w a r t e t e n u n d m i t e r f o r s c h t e n Selbstverständlichkeit. D a n n f r e i l i c h g e r ä t das P r o b l e m d e r W a h r h e i t ( N o c h - n i c h t - F a l s i f i z i e r t h e i t ) i m h e r k ö m m l i c h e n S i n n e aus d e n F u g e n . Das b r i n g t d e n Forscher j e d o c h n i c h t auch außer Fassung; d e n n d e r w e i ß inzwischen, daß diese „ W a h r h e i t " n u r d e r R e f l e x v o n K o n s o n a n z e n i m I n n e r e n ist, so daß, w e n n Probleme m i t d e r W a h r h e i t auftauchen, z u m l o g i s c h - o p e r a t i o n a l m ä c h t i g e r e n I n s t r u m e n t a r i u m übergegangen w e r d e n kann: Z u r Ontologik der k o g n i t i v p r a k t i s c h e n Prozesse, d i e d e n S o n d e r f a l l „ W a h r h e i t " (als h y p o t h e tische B e z i e h u n g z w i s c h e n T h e o r i e u n d Gegenstand) erklären kann, w e i l sie n i c h t a u f i h n b e s c h r ä n k t ist. Entscheidet m a n sich f ü r d e n z w e i t e n Weg, t r i t t d i e strenge „ T h e o r i e " z u r ü c k i n s G l i e d v o n „ S p r a c h e " i m a l l g e m e i n e n . Sie i s t e i n s y m b o l i s c h codiertes M e d i u m u n t e r v i e l e n , w e l c h e E i n f l u ß h a b e n a u f d e n sozialen Gegenstand. D e r F a l l , daß es g e l i n g t , T h e o r i e u n d G e g e n s t a n d v o l l s t ä n d i g g e g e n e i n a n d e r z u isolieren, w i r d z u m G r e n z - u n d A u s n a h m e f a l l . U m der Ehre willen, welche der Philosophie vor den modernen Sozialwissenschaften gebührt, muß hier daran erinnert werden, daß man sich i n der Philosophie „natürlich" schon längst m i t den Fragen auseinandergesetzt hat, die hier graphisch dargestellt u n d so einfach w i e möglich beschrieben werden. Daß der „Theoretiker" vermittels „Theorie" m i t seinem Gegenstand i n K o n t a k t kommen kann, so daß dieser nicht unbedingt bleibt, was er ist, ist n u r eine andere Ausdrucksform f ü r Zusammenhänge, w i e sie gründlichen Denkern eines praktischen Idealismus vertraut waren (wie etwa K a n t u n d Hegel jedem auf seine Weise). Es ist bekanntlich eine Lieblingsidee Kants gewesen, Geschichte m i t der Absicht zu schreiben, Geschichte zu machen. U n d was bei K a n t noch die praktische Bedeutung des A l s - O b war, wurde bei Hegel zum Moment des Systems. Hegel ging es u m eben den Einfluß des Denkens auf seinen Gegenstand. Er kritisierte die alte Erkenntnislehre, die da sagt: „ W a h r h e i t ist die Übereinstimmung des Denkens m i t dem Gegenstande, u n d es soll, u m diese Übereinstimmung hervorzubringen, — denn sie ist nicht an u n d f ü r sich vorhanden, — das Denken nach dem Gegenstande sich fügen u n d bequemen . . . Das Denken k o m m t daher i n seinem Empfangen u n d Formieren des Stoffes nicht über sich hinaus . . . ; es k o m m t also auch i n seiner Beziehung auf den Gegenstand nicht aus sich heraus zu dem Gegenstande: dieser bleibt, als ein D i n g an sich, schlechthin ein Jenseits des Denkens 2 1 ." Diese Lehre, wonach Denken u n d Gegenstand voneinander isoliert sind oder doch zwischen beiden n u r eine semipermeable V e r bindung v o m Gegenstand zum Denken ohne Gegenverkehr besteht: Dies w a r die Lehre nicht, auf der sich eine Philosophie gründen ließ, die der Wirklichkeit gerecht wurde, — die es m i t einem „Gegenstand" zu t u n hatte, der die Köpfe umfaßte, welche i h n zu erfassen versuchen, u n d i n dem diese Köpfe nicht die gleichen blieben, w e n n sie m i t dem geistigen Stoff der so produzierten Philosophie infiziert wurden. Auch w i r haben es m i t sozialen 21
Einleitung zur Wissenschaft der Logik, hrsg. von G. Lasson, Leipzig 1951, S. 24 f.
1. Bd.,
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2. Kap. : Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
Situationen zu tun, die die Köpfe enthalten, die über die Situation nachdenken und die sich die Produkte dieses Nachdenkens einverleiben oder vielmehr „einvergeistigen", so daß, was vorher Theorie war, hinterher i n F o r m subjektiver Erwartungen das kognitive u n d praktische Verhalten m i t bestimmt.
Die Theorie, die nur Theorie ist, und die andere, die auch ihren Gegenstand beeinflußt, unterscheiden sich voneinander wie bloße Rechenpfennige von Münzen, die man i n Automaten stecken oder m i t denen man sonst etwas kaufen kann. Besonders Theorien, die ihrerseits von sich aus auch schon geistigen Stoff, wie er i n den Köpfen wirksam ist, zum Gegenstand haben, sind anfällig für den Kurzschlußeffekt: Für Assimilierungsvorgänge, bei denen sie vom Gegenstand gewissermaßen aufgesogen werden. Daß der soziale Gegenstand nicht jede Theorie und auch diese nicht unverändert aufnimmt, gibt neue Fragen auf. Ein Brot können w i r nur einmal essen, ein Buch aber kann viele Male gelesen werden: Das ist ein weiterer Punkt, der hier von Bedeutung ist. Theorien und sprachliche Gebilde können „kopiert" oder „abgelesen" werden, ohne dabei Existenz und Identität einzubüßen. Zwar kommen Kopierfehler und MißVerständnisse zustande, und je nach empfangendem Kontext sagt die Sprache womöglich etwas jeweils anderes, aber i n jedem Falle sind Vervielfältigungsprozesse denkbar, durch die aus einer Idee, die i n einem Kopf steckt, eine Ideenmasse wird, die i n vielen Köpfen steckt. So dringt Sprache i n die Köpfe, und wenn ein anderer Kopf sich darüber Gedanken macht, bekommt er es m i t Sprache zu tun, die i n Köpfe eindringt und dort Ruhe stiftet oder Unruhe, Befriedigung oder Neugierde, Klarheit oder Verwirrung usw.; denn Sprache kann beruhigend sein oder aufpeitschend; sie kann reaktionär wirken oder revolutionär; sie kann Zwietracht stiften oder Einigung; sie dogmatisiert, kritisiert, ketzert; sie erfaßt und sie kann verfassen. Was sie bewirkt, hängt freilich von dem Gegenstand ab, i n den sie eindringt, und davon, was dabei angenommen und verstanden oder abgewiesen, überlesen oder mißverstanden wird. Was geschieht, kann der Beobachter nur angemessen erklären, wenn er erklärt, was verstanden w i r d : Ohne „Verstehen" kein „Erklären". 3. Von der Theorie zur Technik Wenn erst einmal ernst gemacht w i r d m i t der Einsicht i n die operationalen Wechselwirkungen zwischen Theorie und Gegenstand, gibt es eigentlich nur noch zwei Auswege: Entweder man betreibt empirische Forschung i m herkömmlichen Sinne (unter mehr oder weniger künstlichen Bedingungen, die den „Kurzschluß" zwischen Theorie und Gegenstand ausschließen); oder man macht aus der Not des kognitiv-
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V I . Die Situation des Sozialwissenschaftlers
praktischen Zirkels eine psycho- und sozialtechnische Tugend. I m letzteren Fall ergibt sich die Situationsgraphik 9. Dabei w i r d jedoch nicht mehr wie noch i n Graphik 8 an Graphik 2 angeknüpft, sondern Graphik 7 zum Ausgangsfall genommen: nämlich die Situation, bei welcher die Gesamtsituation zugleich die „äußere Hülle" des Gegenstandes ausmacht, der alles andere in sich enthält (den Beobachter, die Sprache, die übrigen Subjekte). G
Graphik 9 Die Situation des Sozialwissenschaftlers u n d Sozialtechnikers, dargestellt i n A n k n ü p f u n g an die Graphiken 6 u n d 7
Die Situation, w e n n die Theorie von der kognitiv-praktischen Situation i n die Wirklichkeit eben derselben kognitiv-praktischen Situation wieder eingebracht w i r d
Graphiken können „geknautscht" und i n sich verschoben werden, ohne daß sich die situative Logik ändert (solange nur die Syntax der
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2. Kap. : Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
Verbindungen erhalten bleibt). Daher kann Graphik 9 ohne syntaktische Veränderungen i n der Konfiguration und i n der Flußstruktur der situativen Zusammenhänge so umgezeichnet werden, daß daraus Graphik 10 entsteht. Dabei w i r d nur der Bereich „Sprache" graphisch konkretisiert, und zwar derart, daß die „Sprache" oder „Theorie", die der Beobachter formuliert, die Situation beschreibt, i n der er sich selbst befindet. Der Leser kann sich i n den Beobachter hineindenken oder sich vorstellen, er befände sich über dem Blatt, wo sein Kopf ist, als ein weiteres Subjekt, das durch entsprechende Einflüsse i n die Situation wie die dort eingezeichneten Subjekte integriert ist. Wenn nun die „Sprache" oder „Theorie" (oder hier: die Graphik) die Situation (ungefähr und grob) zutreffend wiedergibt und wenn jedes der beteiligten Subjekte diese Sprache oder Theorie (oder Graphik) sich einvergeistet, haben alle ein „ B i l d " ihrer Situation i m Kopf, das ihre kognitiven und ihre praktischen Erwartungen organisiert, — und zwar so organisiert, daß Konsonanz zwischen der inneren (virtuellen) und der übrigen Situation besteht (jedenfalls, was die Konfiguration und die Flußstrukturen betrifft). Und dafür, ob die Graphik „stimmt", gibt es letztlich nur den inneren Konsonanz/Dissonanz-Seismographen, der signalisiert, ob die Innensituation m i t der übrigen Situation zusammenstimmt. Die Theorie, heißt es oben, verändere ihren Gegenstand; zumindest müsse diese Möglichkeit bedacht werden. Wie aber steht es m i t dieser Veränderung, wenn die Theorie (wie Graphik 10) von der kognitivpraktischen Situation selbst handelt, i n welcher sich auch der Leser befindet, wenn er Graphik 10 betrachtet? Kann auch diese Darstellung der Situation die Situation verändern? — oder ist und bleibt diese Situation i n ihrer formalen situativen Logik nicht stets so, wie sie dargestellt ist? — und zwar unabhängig davon, ob sie überhaupt oder wie sie dargestellt wird? Inwiefern kann also eine Darstellung der kognitiv-praktischen Situation die Situation noch beeinflussen und wozu ist der Einfluß von Nutzen? Nun: Die Konfiguration und Flußstruktur, wie sie i n der Situation dargestellt ist, ist (ihrem Konzept nach und i m Rahmen ihrer recht groben Toleranzen) i n der Tat unabhängig davon, ob die kognitivpraktische Situation überhaupt bewußt wird, ob sie richtig oder falsch dargestellt wird, ob die Darstellung zur Kenntnis genommen w i r d oder nicht betrachtet wird. Aber die Darstellung kann, wenn sie zur Kenntnis genommen wird, die Vorstellungen verändern, die in Köpfen von der kognitiv-praktischen Situation bestehen. Sie kann also die jeweiligen ideell-virtuellen Situationsvorstellungen beeinflussen, und zwar derart, daß ein Kopf, der vorher m i t seinen Vorstellungen von der kognitiv-praktischen Situation i n der übrigen Welt aneckte, weil sie
V I I . Bewußtsein u n d Latentsein
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dieser Situation nicht entsprachen, oder der m i t seinen Vorstellungen nicht genau genug zurechtkam und daher immer wieder zu sehr vagen Andeutungen Ausflucht nehmen mußte, zu nachhaltigerer Konsonanz zwischen seiner virtuellen Situation und der wirklich immer wieder erfahrenen Situation kommen kann. Das funktioniert freilich nur, wenn und soweit die Darstellung der Situationsontologik der Struktur der Situation auch wirklich hinreichend entspricht. Zweitens kann die Darstellung der kognitiv-praktischen Situation Vorgänge, die sich i n jedem Falle abspielen, bewußt machen. Das hat zur Folge, daß diese Vorgänge methodologisch diszipliniert werden können (vor allem i m Bereich wissenschaftlicher Forschung, wo das kognitive Element überwiegt) oder durch Normen praktisch verfaßt werden können (vor allem i m Bereich der sozialen und politischen Praxis, wo das praktische Moment überwiegt). Drittens können (wiederum, soweit die Darstellung zutrifft) unzutreffende oder einseitige Vorstellungen von der kognitiv-praktischen Situation berichtigt werden. Das hat zur Folge, daß die Erwartungen, die unzutreffende Vorstellungen auslösen, ebenfalls berichtigt werden, — und treffsichere Erwartungen verbessern die praktische Konsonanz mit der wirklichen Welt. So kann also auch die Darstellung von Situationen, deren formale Grammatik unabhängig davon besteht, ob sie erforscht, dargestellt und mitgeteilt wird, die Situation beeinflussen: nicht so, daß i h r ihre Grammatik ausgetrieben oder verändert werden könnte, wohl aber so, daß die kognitiv-praktische Konsonanz innerhalb der Gesamtsituation zunimmt. Diese Zunahme der kognitiv-praktischen Konsonanz ist zunehmendes Zusammenstimmen zwischen dem Bewußtsein und der übrigen Welt. Dieses Zusammenstimmen w i r d hier erreicht dadurch, daß die Situation bewußt gemacht und ihre Ontologik dem Kopf, der sich die Darstellung einverleibt, als Organisationsform für die Erwartungen mitgeteilt wird. Doch dieses Bewußtwerden der Strukturen kommt und geht! Sein Erscheinen w i r k t wie ein Katalysator, der durch seine Wirkung den kognitiv-praktischen Prozeß glätten, entkrampfen und fördern kann, der aber, wenn er nicht auch wieder entfernt wird, dem Bewußtsein die Aufmerksamkeit für andere, drängende Fragen stiehlt. V I I . Bewußtsein und Latentsein Die Ontologik der kognitiv-praktischen Situation verhält sich zu konkreten, wirklichen, gelebten kognitiv-praktischen Situationen etwa so, wie sich die Grammatik einer Sprache zu den Reden, Büchern und
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2. Kap. : Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
Gesetzen, zu dem Gerede, den Floskeln und Andeutungen verhält, welche durch das Medium der Sprache ausgedrückt werden. So wie i n der Sprache bei aller Kontingenz der Sätze und Absätze, der Mitteilungen und Befehle, die i n i h r formuliert werden, sich die Grammatik als nichtkontingente Struktur durchsetzt, so war, ist und bleibt die Ontologik der kognitiv-praktischen Situation die nichtkontingente Struktur i n den unabsehbar vielfältigen und kontingenten Prozessen kognitiv-praktischer Abläufe. Wer gut spricht, muß jedoch über das Stadium hinaussein, i n dem er (wie beim nicht-intuitiven Lernen einer Fremdsprache) seine Sätze noch m i t Hilfe der Grammatik bewußt konstruieren muß. Der Gedanke an die Grammatik lenkt von der Rede und ihrem Inhalt ab: er ist dysfunktional, w e i l er Aufmerksamkeit absorbiert und Denkkontexte miteinander verhakt, die schwer zugleich bewußt durchgearbeitet werden können. Ein Plus an grammatischem Bewußtsein kann daher durchaus ein Minus an sprachlicher Leistung und an sprachlicher Rationalität sein. Erst wenn die Grammatik den Sprecher beherrscht, so daß i h m die richtigen Formen beim inhaltlichen Sprechen „zufliegen", sind die angedeuteten Mängel überwunden. Das Minus an begleitendem grammatischen Bewußtsein kann daher durchaus ein Plus an sprachlicher Leistung und an sprachlicher Rationalität sein. Ein guter Sprecher aber braucht es nicht zu fürchten, wenn ein anderer sich die Mühe macht, sich die Grammatik der gesprochenen Sätze bewußt zu machen; denn seine Sprache ist durchwirkt von der richtigen Grammatik als der unbewußten Herrin über die Formen des Gesprochenen. Einem anderen Sprecher jedoch, der beim Sprechen grammatische Fehler macht, kann es hilfreich sein, wenn i h m jemand dadurch seine Fehler bewußt macht, daß er i h m die Grammatik seiner Sprache ins Bewußtsein holt, u m m i t i h m die richtigen Formen zu üben. So wie es eben am Beispiel der Grammatik i n der Sprache erläutert worden ist, so ähnlich ist es m i t dem Bewußtsein und dem Latentsein der Ontologik bei der kognitiv-praktischen Arbeit: Es kann sehr schädlich werden, mitten i n einem Erkenntnisprozeß oder einer praktischen Aufgabe über ihre Ontologik nachzudenken. Es kann aber nützlich sein, gelegentlich auf sie zurückzukommen, — und zwar vor allem dann, wenn bei der übrigen Arbeit Schwierigkeiten auftauchen, die damit zusammenhängen könnten, daß man m i t seinen kognitiven und praktischen Erwartungen gegen den Strom der ontologischen Strukturen der Situation zu schwimmen versucht und nicht recht vorwärts kommt. Auch hier also kann es rational sein, i n bestimmten Phasen der Arbeit nichts zu wissen von ihrer Grammatik, und es kann unrational sein, sich ständig u m ein erkenntnistheoretisches, praxeologisches Be-
V I I . Bewußtsein u n d Latentsein
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w u ß t s e i n als D a u e r b e g l e i t e r d e r P r a x i s z u b e m ü h e n . D i e R a t i o n a l i t ä t l i e g t v i e l m e h r d a r i n , daß Bewußtsein und Latentsein, — daß Wissen und Nichtwissen 22 m e t h o d o l o g i s c h s i n n v o l l v e r t e i l t w e r d e n 2 3 : Sei es, daß e i n u n d derselbe M a n n sich b e i m H a n d e l n u n d N a c h d e n k e n a b wechselt, — sei es, daß er sich i n d i e A r b e i t m i t j e m a n d e m a n d e r e n teilt. E i n kleiner K o p f k a n n nicht zugleich beide Perspektiven v o l l v e r a r beiten. W o h l aber k a n n e r b e i d e n e i n i g e r m a ß e n gerecht w e r d e n , w e n n e r sich seine A r b e i t i n d i e Z e i t o d e r m i t a n d e r e n t e i l t . N i c h t das absol u t e B e w u ß t m a c h e n b r i n g t höchste R a t i o n a l i t ä t , s o n d e r n d e r r a t i o n e l l s t e U m g a n g 2 4 m i t d e m k n a p p e n B e w u ß t s e i n , das w i e e i n e Taschenlampe i m D u n k e l n benutzt w i r d , m i t der die jeweils aktuellen Stellen angeleuchtet w e r d e n . Es k o m m t a u f d e n rationalen U m g a n g m i t unser e r beschränkten ratio a n ! B e i d e r O n t o l o g i k d e r k o g n i t i v - p r a k t i s c h e n S i t u a t i o n h a n d e l t es sich u m F u n d a m e n t a l s t r u k t u r e n unseres menschlichen Daseins, d i e 22
E i n gewisses u n d durchaus nicht geringes Maß an funktionaler Latenz ist unvermeidlich. Das haben Psychoanalyse, Sozialpsychologie u n d Soziologie bewußt gemacht, ist aber noch nicht bis i n alle W i n k e l der Rationalitätsdiskussion durchgedrungen. Siehe namentlich N. Luhmann, Funktionen u n d Folgen formaler Organisation, B e r l i n 1964, sämtl. Angaben zur „Latenz" i m Sachregister. — Es ist hier nicht der Ort, eine Phänomenologie der unterschiedlichen L a tenzen zu entwerfen. Jedenfalls gehören auch dazu schlichtes Nichtwissen, pathologische Verdrängungen (nebst Wiederkehr des Verdrängten) u n d die Weckerfunktion der kleinen u n d großen Krisen, die dazu treiben, die Zeichen an der Wand zu deuten, also Latentes endlich zur Bewältigung einmal ins Bewußtsein zu holen (Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß; aber wenn mich etwas heiß macht, treibt es mich dazu, wissen zu wollen). So w i e es pathologische Verdrängungen gibt, gibt es auch pathologische Bewußtmachungen, die geradezu lähmend wirken, nämlich durch die Furcht, sich latent wirksamen Strukturen „hinzugeben". 23 Dann k a n n i n dem einen Verfahren getrost zum Problem gemacht w e r den, was i m anderen S t r u k t u r ist, — vgl. Ν. Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. 2, Reinbek bei H a m b u r g 1972, S. 238. 24 „Es fehlt ein gedanklicher Apparat zur Begründung der W a h l von Systemreferenzen, zur Kontrolle des Wechsels von Systemreferenzen u n d zur A u s w a h l derjenigen Erkenntnisse, die auch bei einem Wechsel der Systemreferenzen festgehalten werden können." „Es ist offen, ob eine solche Metatheorie, die auch den Wechsel von Systemreferenzen noch steuern kann, eine allgemeine Systemtheorie oder, eingeschränkter, eine Theorie des sozialen Systems von analytisch-heuristischer Bedeutung sein kann." N. Luhmann, i n : J. Habermas / N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, F r a n k f u r t 1971, S. 369 f. — Wenn eine Gesellschaft verfaßt w i r d , w e r den solche Wechsel der Systemreferenzen (allerdings nicht n u r theoretischer, sondern auch praktischer) organisiert u n d eingerichtet; dabei ist schon eine Menge aus Erfahrung gelernt worden. Durch Kompetenzen, Zuständigkeiten, zeitliche Rhythmen, Abwechseln v o n A k t i v i t ä t e n u n d Passivitäten usw. werden kognitiv-praktische Perspektiven geschaffen (was freilich noch nicht die Theorie ergibt, die L u h m a n n i m Auge hat, sondern n u r i h r Material): Was der eine (ζ. B. als Gesetzgeber) vor sich hat, hat der andere (als Bürger) über sich, ein Dritter, den es nichts angeht, neben sich.
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2. Kap.: Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
bewußt gemacht werden sollen, damit sie dann wieder vergessen werden können, bis jemand aus Neugierde oder wegen praktischer Probleme meint, sie sich wieder vergegenwärtigen zu müssen. Die Ontologik, die hier dargestellt worden ist, verschafft i n groben Zügen Klarheit über Zusammenhänge zwischen unserem Bewußtsein und der übrigen Welt, — wobei diese übrige Welt aus „Dingen" besteht, aus „Subjekten", die ihrerseits Bewußtsein haben, und aus „symbolischen Strukturen" wie Sprache, Schrift und Graphiken. Der abgrundtiefe Unterschied zwischen „Theorie", „Gegenstand" und „Subj e k t " erweist sich als Projektion unserer kognitiven Prozesse; er erscheint innerhalb der Ontologik der kognitiv-praktischen Situation gründlich relativiert: Die Situation „spiegelt" zwar auch die Unterschiede wieder, die w i r als ontologische oder erkenntnistheoretische Unterschiede erleben oder erlebt haben. Aber aufschlußreich sind nunmehr eigentlich nicht mehr so sehr diese Unterschiede, sondern die Ereignis zusammenhänge, durch die sie überbrückt oder kurzgeschlossen werden, — und aufschlußreich sind die inneren Resonanzen, Konsonanzen und Dissonanzen. U m Konsonanz zu erzielen, kann nunmehr, soweit möglich, nicht nur die Theorie dem Gegenstand, sondern der Gegenstand auch der Theorie angenähert werden, und eine Gesellschaft kann sich am Schöpf ihrer eigenen Theorie i n gewollte Zustände hineinziehen, wenn und soweit die Zustände machbar und nicht selbstzerstörerisch sind. M i t Modellen, denen die Ontologik der kognitiv-praktischen Situation zugrundegelegt wird, lassen sich daher auch gewollte und gesollte Zustände als theoretische und innere Wirklichkeiten fassen, die v i r t u e l l vorhanden sind, ehe sie tatsächlich erscheinen, oder noch virtuell weiterleben, obgleich der reelle Kontext dazu längst verschwunden ist. Die Ontologik der kognitiv-praktischen Situation ist mächtig genug, die Kontrafaktizität von Normen durchzuspielen (formal, nicht auch schon konkret inhaltlich). V I I I . Situationsontologik und Hermeneutik Wie sich auf der Folie einer Ontologik der kognitiv-praktischen Situation erklären läßt, daß und inwiefern unsere „Wahrheit" der bloße Name für einen Reflex innerer Konsonanzerlebnisse ist, wurde oben schon erläutert. Ich habe auch schon angedeutet, daß zwischen den Resonanzen, Dissonanzen und Konsonanzen, von denen hier gehandelt wird, und den Verstehensprozessen der Hermeneutik enge Verwandtschaften bestehen. Diese Verwandtschaften sollen nun noch kurz etwas näher betrachtet werden; denn sie zeigen, daß die Ontologik der kognitiv-praktischen Situation nicht zuletzt auch einen Komplex betrifft,
V i l i . Situationsontologik u n d Hermeneutik
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über den die schlicht empirische Forschung zur Hermeneutik gelangen muß und über den die Hermeneutik i n einigen ihrer Züge auf Modelle von schlicht empirischen Prozessen „zurückgeführt" werden kann. Etwas verstehen heißt, es i n die eigene innere Welt als plausibel einbauen zu können: Die Perlenschnur des Textes, den ich verstehe, kann ich sozusagen Perle für Perle einschließlich der grammatischen Bezüge und Schleifen einsortieren; und die Sortiererei geht auf. So ergibt sich ein Konsonanzerlebnis. Bereitet es m i r Schwierigkeiten, i n m i r die entsprechenden Zusammenhänge zu finden oder zu organisieren, habe ich Dissonanzerlebnisse. Die Elemente oder Strukturen können nicht zusammengepaßt werden. U n d bei alledem besteht gar kein großer Unterschied dazwischen, ob ich nun einen Text lese und verstehen w i l l oder eine Wirklichkeit direkt wahrnehme und verstehen w i l l : I n jedem Fall müssen die Inhalte und Verzweigungen meiner kognitiven Erwartungen und meiner Reserven an innerer ad-hoc-Organisation m i t einer („wirklichen" oder „symbolischen") Komplexität von auf mich einstürmenden Reizen fertig werden. Durch meine Sprache und durch andere Aktionen kann ich dann auch wieder selbst Wirklichkeiten („symbolischer" A r t oder nicht) erzeugen, die auf (mich und) andere einstürmen und verstanden werden können. So vollzieht sich Kommunikation durch Resonanz-, Dissonanz und Konsonanzerlebnisse 25 . Subjektives Verstehen und subjektive Evidenzen sind empirische Konsonanzprozesse, die w i r subjektiv erfahren und auf entsprechende Nenner bringen. Ich w i l l hier nicht weiter darüber spekulieren, wie viel von dem, was w i r „Hermeneutik" nennen, auf diese Weise erklärt 2 6 oder verstanden werden kann; mit Sicherheit nicht alles, weil auf der Ebene der kognitiv-praktischen Situationen noch von allen Inhalten abstrahiert wird. Wer sich m i t der Ontologik dieser Situationen befaßt, bekommt 25 A u f die Schwäche, daß die Dissonanztheorie nicht zwischen inneren u n d intersubjektiven Dissonanzen unterscheidet, weist H.-J. Knebel, Ansätze einer soziologischen Metatheorie subjektiver u n d sozialer Systeme, Stuttgart 1970, hin. Diese Schwäche ist behebbar, w e n n zu Folgen oder Ketten von Resonanzen/Dissonanzen/Konsonanzen übergegangen w i r d , i n denen externe Glieder w i e Realitäten u n d Sprache vorkommen u n d als K o m m u n i k a t o r e n fungieren. 26 Es geht u m ein Modell f ü r die empirische Betrachtung hermeneutischer Vorgänge. Vgl. J. Habermas, i n : J. Habermas / N. Luhmann (oben A n m . 24), S. 171 f.: „ E i n entsprechendes System von Grundoperationen des Messens, das i n analoger Weise der k o m m u n i k a t i v e n Erfahrung (bzw. dem ,Sinnverstehen') sowie einer Person-Äußerung-Sprache zugeordnet werden könnte, i n der die verstandenen Äußerungen deskriptiv ausgedrückt werden, fehlt hingegen . . . Erst eine Theorie umgangssprachlicher Kommunikation, welche die naturwüchsige Fähigkeit k o m m u n i k a t i v e r Kompetenz nicht schult, sondern erklärt, w ü r d e erlauben, k o m m u n i k a t i v e Erfahrungen i n Daten umzuformen."
4 Suhr
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2. Kap.: Z u r erkenntnistheoretischen Fundamentierung
von der Hermeneutik ungefähr so viel mit, wie ein Sprachwissenschaftler von der Sprache mitbekommt, wenn er sich auf das Studium ihrer Grammatik beschränkt. Es macht einen Unterschied, ob man die formale Seite von Vorgängen studiert, oder ob man i n ihnen lebt, — so wie es nicht dasselbe ist, ob man sich die Kunst des Autofahrens erklären läßt, oder ob man Auto fährt. Schließlich bleibt noch eine Schlußüberlegung: Vielleicht ist es gar nicht so unzweckmäßig, unser Bewußtsein als einen Aggregatzustand der Wirklichkeit aufzufassen, bei dem diese Wirklichkeit i n den Köpfen, die sie i n sich enthält, i n sich selbst Resonanzen, Dissonanzen und Konsonanzen produziert. Das Bewußtsein wäre dann der Name für unsere subjektive Erlebnisform dieser Resonanzen der Wirklichkeit i n sich. Läßt man diese Auffassung einmal gelten, macht es keinen Unsinn, wenn man sagt: Bewußtsein von einem Gegenstand ist Resonanz des Gegenstandes i m Subjekt, und zwar eine Resonanz, die, je nach dem, ob dabei der erwartete Gegenstand und die eintreffenden Wahrnehmungen zusammenstimmen oder nicht, genauer als Dissonanz oder Konsonanz erfahren wird. Bewußtsein von der Welt ist Resonanz der Welt i m Subjekt, und zwar, da das Subjekt i n die Welt eingebettet und ein Teil von ihr ist, Resonanz der Welt in sich, welche wiederum als bloße Resonanz oder auch schon deutlicher als Dissonanz oder Konsonanz erlebt wird. Was ein Subjekt von der Welt weiß, weiß die Welt durch das Subjekt von sich. Das Weltwissen des Subjekts ist Selbstwissen der Welt von sich. Sein Weltbewußtsein ist ihr Selbstbewußtsein 27 .
27 Daß diese Formulierungen wiederum m i t uralten Fragen eng verwandt sind, braucht nicht betont zu werden, — vgl. etwa Hegel, Enzyklopädie 1830, § 564, Ausgabe F. Nicolin / O. Pöggeler, 6. Aufl., H a m b u r g 1959, S. 447: „Gott ist n u r Gott, insofern er sich selber weiß; sein Sich-wissen ist ferner ein Selbstbewußtsein i m Menschen u n d das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sich-wissen des Menschen in Gott." Das grammatische Spiel dieser Formen des Wissens u n d Selbstwissens hat m i t Hypostasierungen von Prozessen zu Anthromorphismen nichts zu tun. Vgl. D. Suhr (oben A n m . 10), S. 183/184, 247/248.
Drittes
Kapitel
Zur ontologischen Fundamentierung: Wege der Wechselwirkungen zwischen Normen, Werten, Motiven und der übrigen Wirklichkeit Dieses Kapitel stellt die überarbeitete Fassung einer Analyse dar, die auf Anregung von Herbert Stachowiak für das Forschungs- und Entwicklungszentrum für objektivierte Lehr- und Lernverfahren i n Paderborn erstellt worden ist 1 . Es ging dabei u m das Wechselverhältnis von Normen, Metanormen, Werten und Motiven. Dabei sollten kybernetische Betrachtungsweisen angewendet werden und die logischen Strukturen, insbesondere die Reflexionsstrukturen erforscht werden. Der Fragestellung lag die Überlegung zugrunde, es müsse fruchtbar sein, einen Rechtswissenschaftler zur abstrahierenden Verallgemeinerung seiner Erfahrungen m i t Normen, Werten und Motiven anzuregen, u m vielleicht auf diesem Wege zu Normierungs-, Wertungs- und Motivierungsmustern zu kommen, welche dann wiederum hilfreich werden könnten bei der Lösung von Normierungs-, Wertungs- und Motivierungsproblemen, die i m Zuge gesellschaftspolitischer und bildungspolitischer Planung auftauchen. Bei einer derart weitgespannten Aufgabenstellung war eine außerordentliche Konzentration auf die Momente erforderlich, die i n bezug auf die Frage für aufschlußreich gehalten werden dürften. Außerdem verlangte die ungewöhnliche Aufgabe ungewöhnliche Lösungswege. Eine Bestandsaufnahme zur Normlogik, zur psychologischen Motivationsforschung, zur systemtheoretischen Beurteilung von Normen und Werten, zur Zielwertproblematik i n den Entscheidungswissenschaften und die Sichtung dieses Materials überstiegen die Möglichkeiten bei weitem. U m Aufwand und Ertrag i n einem angemessenen Verhältnis zu halten, empfahl es sich — und genau darauf zielte die Fragestellung — Gedankenwege einzuschlagen, die eher quer zu den konventionellen Fragestellungen jedenfalls der Normlogik verlaufen. So wuchs die 1 Die ursprüngliche Fassung ist institutsintern i n den Paderborner A r beitspapieren gedruckt worden unter dem T i t e l „Untersuchungen zur Ontologik von Normen, Werten, M o t i v e n u n d der übrigen W i r k l i c h k e i t " . Die Schaubilder, die dieser Druck enthält, haben auch als Vorlage f ü r die Graphiken gedient, die i n diesem K a p i t e l dazu dienen, die Ontologik der Ereigniszusammenhänge zu veranschaulichen.
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. Kap. : Z u r
n t o i s c h e n Fundamentierung
Wahrscheinlichkeit, unterwegs auf aufschlußreiche Einsichten zu stoßen. So wuchs aber auch der Zwang, sich ziemlich rigoros durch die Problematik hindurchzuarbeiten. Wer je sich eingelassen hat auf Normen, Werte und Motive, — auf Sein und Sollen und dergleichen Stichworte mehr, der weiß, daß solche Unterfangen einer Urwaldexpedition nicht unähnlich sind: einer Expedition durch wissenschaftlich dicht und üppig bewachsenes Gelände, bei welcher man Wochen zubringen kann, u m ein paar Quadratmeter zu erforschen, und bei welcher, wenn man durch das Gebiet hindurchkommen w i l l , ein scharfes Buschmesser wichtiger ist als die Botanisiertrommel. — Die Aufgabe verlangt, kybernetische Betrachtungsweisen anzuwenden. Daher liegt es nahe, die Normen als Informationen bzw. Nachrichten aufzufassen 1* und es fragt sich, wie solche Informationen produziert werden, wie und warum sie Wirkungen zeitigen, und welche generelleren, logischen Strukturen dabei beobachtet und abstrahiert werden können. Durch die Kybernetik verschiebt sich die Aufmerksamkeit etwas: von der bloßen Logik auf die Strukturen der Realprozesse, also auch vom bloß-Kognitiven ins auch-Operationale, vom bloß-Theoretischen ins auch-Technische und schließlich vom bloß-Logischen ins Ontologische. Weiter soll die Reflexionsstruktur des Normativen i n die Betrachtung miteinbezogen werden. Dadurch werden die Erkenntniserwartungen für bestimmte Formen sensibilisiert und darauf fokussiert: auf reflexive oder auch selbstreferenzielle und selbstefferenzielle Strukturen i n den Ereigniszusammenhängen. Ungeachtet der Unterschiede, die sich innerhalb des „Reflexiven" als notwendig erweisen mögen, sind damit die kognitiven Erwartungen darauf gerichtet, Systeme und Mechanismen zu erkennen, die es irgendwie mit sich selbst zu t u n bekommen oder auf sich selbst angewendet werden 2 . Drittens zielt die Aufgabe darauf, Normstufungen (Metanormen) zu suchen und zu verfolgen. Da es jedoch von Beginn an nicht nur u m abstrakte Normen, sondern u m Normen i m sozialen Wirklichkeitszusammenhang geht, regt der Gedanke der Stufung sofort dazu an, die „Meta"-Vorstellung ebenfalls zu erweitern und nicht notwendig auf Metanormen zu beschränken, sondern gegebenenfalls auch auf „Stufen" zwischen den Normen und der übrigen Wirklichkeit auszudehnen: So la Vgl. L. Philipps, Recht u n d Information, i n : A. Kaufmann (Hrsg.), Rechtstheorie, Karlsruhe 1971, S. 125- 133; D. Suhr, Z u r Einführung: Recht u n d Kybernetik, i n : Juristische Schulung, 1968, S. 351 - 357. 2 N. Luhmann, Reflexive Mechanismen, i n : Soziale Welt 17 (1966), S. 1 -23, wieder abgedruckt i n : ders., Soziologische Aufklärung, K ö l n - Opladen, 1970; — ders., Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems — Über die K a t e gorie der Reflexion aus der Sicht der Systemtheorie, i n : ZfS 2 (1973), S. 2 1 46.
I. Z u den Metabereichen von Normen
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wie man bei einer Objektsprache die Objekte selbst als einen Metabereich der Sprache ansehen kann, so kann man auch nach Metabereichen von Normen fragen, die „jenseits" der bloßen Normen liegen: Nach Adressaten, nach Taten. Dabei werden die Normhierarchien radikal auf ihr „oberes" und „unteres" Ende hin untersucht bzw. über diese Enden hinaus weiterverfolgt. Dies ist der erste Ansatz, der i m folgenden A b schnitt verfolgt werden wird. Der zweite Ansatz zielt darauf, die logischen Strukturen eines groben Rahmenmodells für Normerzeugungsund Normverwirklichungsprozesse zu skizzieren. Dabei verdient betont zu werden, daß es bei diesen kybernetisch-modelltheoretischen Überlegungen noch nicht u m Modelle für konkrete Vorgänge, sondern zunächst nur um das logische Gerüst für solche Modelle geht. Ein dritter Ansatz führt zu systemtheoretischen Erwägungen. Alle drei Gedankengänge laufen auf Einsichten hinaus, die i m wesentlichen konvergieren. Dann werden die Überlegungen auf Werte und Motive ausgedehnt. I. Zu den Metabereichen von Normen Wenn hier von Normen die Rede ist, sind „verbindliche" Handlungsanweisungen i m rechtlichen Sinne gemeint. Ob und inwieweit das Gesagte von Normen schlechthin gilt, kann offen bleiben; eine Reihe von Vorbehalten müßte sicher gemacht werden. Auch auf die Unterschiede zwischen den verschiedenen Erscheinungsformen rechtlichen Sollens (ζ. B. „allgemeingültiges" Gesetz; für den einzelnen verbindlicher Befehl; für Vertragspartner verbindliche Abmachungen usw.) kommt es hier noch nicht an, sondern zunächst auf seine Verbindlichkeit, — auf seinen Anspruch auf Verwirklichung. Die Wirksamkeit von Normen, ihre Effektivität 3 , ihre Eigenschaft, für menschliches Verhalten zum Motivierungsfaktor 4 zu werden: alles dies k a n n psycho- u n d sozialwissenschaftlich gründlichst i n Frage gestellt u n d problematisiert u n d die Vorstellung des Juristen von „ N o r m u n d (übriger) W i r k lichkeit" als fachbedingte Illusion oder Einbildung bespöttelt werden. A l l e i n es lohnt nicht, dem an dieser Stelle nachzugehen. Selbst w e n n hier Illusion u n d Einbildung i m Spiel sind (wofür vieles spricht), so zeigt sich nämlich, daß diese Illusion glücklicherweise von vielen Gesellschaftsmitgliedern geteilt w i r d , u n d zwar von hinreichend vielen, u m m i t H i l f e v o n Verfassung u n d sonstigem Recht soziale W i r k l i c h k e i t in Form zu bringen und zu bearbeiten 5 : Mag der Sozialwissenschaftler in seinem Beruf die verkehrten Vorstellungen des juristischen Selbstverständnisses belächeln, so w i r d er zu hause doch darauf bestehen, daß der Vermieter seiner Wohnung sich an den Mietvertrag hält, u n d sich darauf verlassen, daß die Gerichte notfalls 3 Dazu Jahrbuch f ü r Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie, Bd. 3 (1972): „ Z u r Effektivität des Rechts". 4 Die Motivierung des Richters insbesondere durch Dogmatik untersucht H. Rottleuthner, Richterliches Handeln, F r a n k f u r t 1973.
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. Kap. : Z u r
n t o i s c h e n Fundamentierung
dafür sorgen, daß der Vertrag nicht bloß ein Buchstabenspiel bleibt. So ist es häufig m i t dem Unterschied zwischen den wissenschaftlich-theoretischen Vorstellungen u n d der lebendig-praktischen (eigenen) Wirklichkeit.
1. Der „untere"
Metabereich: Das Wohin der Normen
Die Vorstellung der Hierarchie i m Zusammenhang m i t Rechtsnormen hat Tradition. Sie läßt sich an der Reihe von der lex divina über die lex aeterna und lex naturalis bis zur lex positiva beobachten. Sie taucht i n säkularisierteren Formen i m Normenbau der Kelsenschen Reinen Rechtslehre und i n der rechtstechnisch-wirklichen Rangordnung auf, die heute i n unserem Verfassungsrecht vom Grundgesetz über Gesetzesrecht und Verordnungsrecht bis hinab zu einzelnen Vollzugsakten reicht. Man kann nun i n solchen Hierarchien die Stufenfolge nach oben oder nach unten verfolgen, u m nach der letzten Stufe und ihrem „Jenseits" zu fragen. Verfolgt man, was i m „unteren Jenseits" der Normen liegt, t r i f f t man auf die soziale Wirklichkeit. Darin zeigen sich die Spuren des Rechts als normbeeinflußtes Verhalten der Menschen. Wiederum kommt es auf die Einzelheiten nicht an, also nicht darauf, welche direkten und indirekten Mechanismen des Verhaltens und des Erwartens durch die Normen organisiert und reguliert werden, sondern nur darauf, daß die Normen „über sich hinaus" w i r k e n i n die übrige Wirklichkeit. Sie ist das Wohin der Normen. Normen ohne Bezug auf diese übrige Wirklichkeit mag es geben; sie sind dann aber keine Rechtsnormen und auch keine sonstigen praktischen Normen, wie sie hier allein interessieren. I m „unteren Jenseits" von Normen stößt man also auf ihre Wirkung bzw. Wirkungslosigkeit, wie sie sich am Verhalten der Normadressaten „offenbart". I m übrigen ergeben sich Parallelen zwischen syntaktischer Korrektheit von Sprachen und Geltungsfragen bei Normen sowie zwischen wahr/unwahr dort und wirksam/unwirksam hier. Eine Norm wird wahr, wenn sie erfüllt wird, — das heißt: wenn sie verwirklicht wird, — wenn sie (im normierten Sinne) wirksam ist. Insofern sind Normen dem Ansprüche nach idealtypische selbstvollstreckende Wahrsagungen (self-fulfilling prophecies). 5 Es ist klar, daß hier die Nahtstelle der vorliegenden Untersuchung zur Theorie sozialer (Handlungs-)Systeme liegt, soweit dort Funktionen u n d Strukturen von Werten u n d Normen, insbesondere bei der Generalisierung u n d Stabilisierung, aber auch bei der I n i t i i e r u n g von Verhaltenserwartungen, behandelt werden. Vgl. z. B. N. Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg 1972, S. 94 ff. Diese L i n i e f ü h r t zurück über T. Parsons (The Superego and the Theory of Social Systems, i n : Psychiatry, Vol. 15 Nr. 1 (1952), wieder abgedruckt i n : ders., Social Structure and Personality, London 1964, S. 17 - 33) zu S. Freud u n d zu E. Durkheim.
I. Z u den Metabereichen von Normen
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Tabelle 1 Vorläufiger Vergleich zwischen den „unteren Enden" von Sprachhierarchien einerseits und Normhierarchien andererseits Sprachen (in Theorien)
Normen (verbindliche Vorschriften)
Unteres Ende der Hierarchie
Objektsprache
Normen, die sich direkt auf faktisches Verhalten richten
Formalprobleme
Syntaktisch k o r r e k tes Formulieren der Sätze u n d Schließen m i t H i l f e der Sätze
Syntaktisch (normologisch) korrektes Formulieren der Normen u n d Ableiten v o n E n t scheidungen. Geltung, Legalität.
Bezug zwischen Sprache bzw. N o r m u n d Gegenstand
Wahrheitsproblem (Beurteilung der Beziehung zwischen Sprache bzw. N o r m u n d Wirklichkeit)
Gegenstandsbereich („unteres Jenseits" einer Hierarchie von Sprachen u n d Normen); Substufe
abbildend, repräsentierend, bezeichnend bloß semantisch theoretisch
auch pragmatisch praktisch
hypothetisch
wirklich
wahr/falsch
wirksam/unwirksam
unfalsifiziert/ falsifiziert ( I r r t u m zugegeben?)
noch-nicht-entkräftet/kraftlos (ausdrücklich?)
Wahrheit
Legitimität
Besprochene Gegenstände, auch: Subjekte, aber n u r als bezeichnete Gegenstände — alles i m idealtypischen Fall „unberührt" von der Sprache
Subjekte als Adressaten u n d Betroffene; Verhalten. Abstrakter: Zieloder Wirkungsbereich der Normen u n d ihre W i r k u n g bzw. Wirkungslosigkeit
Was die Wahrheit für einen theoretischen Satz, das ist die Wirksamkeit für einen Rechtssatz. Und wenn es u m die langfristige, allgemein anerkannte Wirksamkeit von Rechtssätzen m i t unbeschränkter Gültigkeit geht, konvergieren vermutlich die Fragen der Wirksamkeit m i t denen der Legitimität.
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. Kap.: Z u r
n t o i s c h e n Fundamentierung
2. Der „obere" Metabereich: Das Woher der Normen So wie eben nach dem „unteren Jenseits" der Normen gefragt und die übrige (soziale) Wirklichkeit gefunden wurde, i n welcher die Zielbereiche der Normen liegen und ihre Wirkungen eintreten bzw. ausbleiben, so kann nun nach dem „oberen Jenseits" von Normhierarchien gefragt werden. Diese Frage zielt auf das Woher der Normen. Sie soll einmal i m Rahmen der Reinen Rechtslehre Kelsens gestellt werden und zum anderen i m Hinblick auf die empirischen Vorgänge der Erzeugung von Rechtsnormen. Zwar hat sich Kelsens Reine Rechtslehre als Rechtstheorie nicht durchsetzen können; sie reißt nämlich methodologische und wissenschaftliche Abgründe 6 zwischen Sein und Sollen auf, die es so gut wie unmöglich machen, der tatsächlichen juristischen Kleinarbeit an der Nahtstelle zwischen Sein und Sollen gerecht zu werden. Gleichwohl eignet sich die Reine Rechtslehre gut dazu, den entscheidenden Punkt paradigmatisch bewußt zu machen, u m den es hier geht. Was nämlich nach Kelsens erkenntnistheoretischer Logik streng geteilt wird, dessen gründliche, ontologische 7 Wiederverbindung t u t unter kybernetisch-operationalem Blickwinkel Not. I m Normenbau der Reinen Rechtslehre erscheint die höchste und letzte Norm des Stufenbaues als „Grundnorm". Von dieser Norm her müssen sich alle anderen ableiten lassen, sollen sie gültig sein. Die Grundnorm hat hypothetischen Charakter: Sie ist das logisch erforderliche Schlußglied oder der logisch notwendige Anfang des Systems. Worauf aber läuft diese Grundnorm hinaus, — welches ist ihr Inhalt, der so reich ist, daß alle anderen Norminhalte auf i h n zurückgeführt oder aus i h m geschöpft werden können? β Η. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, Tübingen 1911, S. 7: Vollkommene Disparität von Sein u n d Sollen. — Soziologische K r i t i k : N. Luhmann, Normen i n soziologischer Perspektive, i n : Soziale Welt, 1969, S. 28 - 48. 7 F ü r die Allgemeine Rechtstheorie geht es weniger darum, den „Schluß v o m Sein aufs Sollen" zu logisieren ( Ν. Luhmann, Rechtssoziologie 2, S. 354), als zunächst einmal vielmehr die Prozesse, die aus dem Sein ins Sollen u n d von dort wieder ins Sein führen, zu onto-logisieren, u m i m K o n t e x t dieser „mächtigeren" Ontologik dann auch die Spezialprozesse etwa der richterlichen A r b e i t zu erfassen. Eine Tendenz zum Operationalen zeichnet sich dementsprechend ab ζ. B. bei N. Rescher, The Logic of Commands, London New Y o r k 1966, m i t seinen command programs u n d bei G. H. von Wright , N o r m and Action. A Logical I n q u i r y , London 1963, der auch eine Verbindung zur allgemeinen Handlungstheorie schlägt: A n Essay i n Deontic Logic and the General Theory of Action, Amsterdam 1968. — Dazu, daß die A l l g e meine Systemtheorie das Rahmenwerk zu einer philosophischen Ontologie abzugeben vermag, s. E. Laszlo, Introduction to Systems Philosophy, New Y o r k - London - Paris 1972, S. 143-163. Über das Thema „Systemtheorie (Funktionalismus, Relationismus, Perspektivismus) u n d Ontologie" ist allerdings das letzte W o r t noch nicht gesprochen, — vgl. oben 2. Kapitel, I .
I. Z u den Metabereichen von Normen
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Die Grundnorm ist eine Kompetenznorm: eine große Öffnung also, durch welche die anderen Normen ins Normsystem eintreten können (und müssen, um gültig zu sein). Sie ist „nichts anderes als die Einsetzung eines normenerzeugenden Tatbestandes, die Ermächtigung einer normsetzenden Autorität oder — was dasselbe bedeutet — eine Hegel, die bestimmt, wie die generellen und individuellen Normen der auf dieser Grundnorm beruhenden Ordnung erzeugt werden sollen" 8 . So kann man die Grundnorm (die letzte Metanorm i m Stufenbau der Reinen Rechtslehre) als eine A r t Schleuse auffassen: als eine Schleuse, durch die hindurch die bis dahin so streng ausgeklammerte übrige Wirklichkeit normerzeugend hereinstürzt. I m „oberen Jenseits" der Normen t r i f f t man also wieder wie schon i m „unteren Jenseits" auf die übrige (soziale) Wirklichkeit. Als „Jenseits" erscheint die übrige Wirklichkeit, die die Normen erzeugt und empfängt, freilich nur dann und nur solange, wie man annimmt, daß zwischen Sein und Sollen, — zwischen Normen und W i r k lichkeit „logische Inkommensurabilität" oder „vollkommene Disparität" bestehe. Bestimmt man den Gegenstand der Betrachtung aber nicht nach logischen oder erkenntnistheoretischen Diätregeln, sondern nimmt man i h n so, wie er erscheint: nämlich als eine zusammenhängende Wirklichkeit, dann gibt es kein „Jenseits" mehr und der ganze Prozeß der Normerzeugung und Normempfängnis erscheint als in-sich-Prozeß der einen zusammenhängenden Wirklichkeit. Es geht dann nicht mehr um Normlogik allein, sondern u m die Ontologik des sozialen in-sichProzesses der Normerzeugung und -Verwirklichung. Ganz entsprechende Einsichten ergeben sich, wenn man nicht vom Konstrukt der Reinen Rechtslehre Kelsens ausgeht, sondern von der empirischen Wirklichkeit selbst: Wer schafft das Recht, an wen ist es adressiert und wer schafft es auch wieder beiseite? Wer also hat die wirkliche Metaposition über und unter dem Recht inne? — Die leibhaftigen Menschen i n der sozialen Wirklichkeit. Also — möchte vielleicht eingewendet werden — sind Sein und Sollen, sind Norm und Wirklichkeit identisch? Mitnichten: sie liegen nur beide i n ein und demselben ontologischen Gelände, wobei sie geradeso voneinander unterschieden sind, daß sie i n Wechselwirkung miteinander und auch gegeneinander treten können. 3. „Oberer" und „unterer"
Metabereich: die übrige Wirklichkeit
W i r d eine (normlogische) Hierarchie von Normen nicht abstrakt betrachtet, sondern als eingebettet i n die übrige Wirklichkeit, entpup8
H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. A u f l . 1960, S. 199.
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. Kap. : Z u r
pen sich die Stufen Zusammenhängen.
n t o i s c h e n Fundamentierung
der Hierarchie
als Teilstrecken
in Kreisen
von
Gegen den Kreis als Kategorie sozialwissenschaftlicher und systemtheoretischer Theoriebildung sind nun zwar Bedenken geltend gemacht worden: Kreisförmigkeit könne es bei sozialen Prozessen nur geben, wenn vom Zeitfluß abstrahiert werde 9 . Berücksichtige man aber den Zeitfluß, werde derselbe Punkt nicht wieder erreicht. Umgekehrt kann man jedoch auch sagen: Gerade weil die Zeit verfließt, kann der Fall eintreten, daß Prozesse sich i m Kreise abspielen (so, wie ein Bumerang eine Schleife fliegt und — richtig geworfen — zum Werfer zurückkehrt). Wenn sich jemand i m W a l d verläuft u n d an eine Stelle kommt, die er schon einmal gekreuzt hat, denkt er schlicht: „Ich b i n im Kreis gelaufen." Gerade das mag i h n daran erinnern, wieviel kostbare Zeit inzwischen v e r flossen ist, aber es ändert nichts daran, daß es dieselben Bäume sind, die er n u n wiedererkennt, u n d daß es f ü r i h n dieselbe Stelle ist, die er passiert. Entscheidend ist für ihn, daß er dieselbe Raumstelle (oder präziser: denselben Systempunkt) wieder erreicht, mag auch der Z e i t p u n k t u n d das, was von der Zeit abhängt, sich geändert haben. Es mag möglich sein, das alles noch genauer auszudrücken; ob dabei freilich die anschauliche K r a f t der Kreisvorstellung erreicht w i r d , ist zweifelhaft.
Hier bei den Vorgängen der ÌXovmerzeugurìg und Normempfängnis hat man es also mit Kreisprozessen zu tun, die aus der übrigen W i r k lichkeit über Normerzeugung und Normverwirklichung in die übrige Wirklichkeit wieder hineinführen 1 0 . Diese Prozesse sind keine bloß abstrakten Mechanismen, die irgendwie „auf sich selbst" angewendet werden, sondern praktisch-technische Selbstefferenzialitäten. Es geht auch nicht nur u m Selbstbespiegelung und Selbstbesprechung i n der Theorie, sondern u m Selbstbearbeitung i n der Praxis. Wiederum ist es aufschlußreich, die soeben beschriebenen Einsichten zum normativen Stufenbau m i t den entsprechenden Erscheinungen bei Stufen von Metasprachen zu vergleichen. Befragt man solche Sprachhierarchien radikal auf i h r „oberes" und „unteres Jenseits", so stößt man auch bei ihnen auf die übrige Wirklichkeit: auf die be9
N. Luhmann, Reflexive Mechanismen (oben A n m . 2), S. 10. Vgl. dazu die spiralartige Zeichnung bei C. Varga, On the socially determined nature of legal reasoning, i n : Logique et Analyse, März/Juni 1973, S. 61 - 62, Études de logique juridique, Vol. V, S. 21 - 78, 31. Außerdem ζ. Β . Friedrich Müller, Recht — Sprache — Gewalt, B e r l i n 1975, S. 28 f. (ganzer Kreislauf rechtlichen Funktionierens); ders., Juristische Methodik, B e r l i n 1971, S. 89; W. Krawietz, Das positive Recht u n d seine Funktion, B e r l i n 1967, S. 28, zitiert L Jenkins , The M a t r i x of Positive L a w , i n : Α. T. Smithberger, N a t u r a l L a w Forum, Notre Dame 1961, S. 1 - 50, 1 f.: „ L a w inherits its facts, goals, and its problems from a larger context . . . placement of l a w w i t h i n the total environment from which i t emerges, as an element of which i t operates, and f r o m which it derives is nature and functions." 10
I. Z u den Metabereichen von Normen
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sprochenen O b j e k t e u n d a u f die sprechenden S u b j e k t e u n d a u f d i e Umgangssprache als d e m u n i v e r s a l e n K o n t e x t d e r a n d e r e n Sprachen. D i e Umgangssprache i s t das o p e r a t i o n a l e M e d i u m , d u r c h das d i e a n d e r e n Sprachen o r g a n i s i e r t w e r d e n u n d m i t d e m o f t z u g l e i c h e i n u n m i t t e l b a r e r Z u g r i f f a u f d i e O b j e k t e besteht, v o n d e n e n i n d e r speziellen O b j e k t s p r a c h e d i e Rede ist. So e r g i b t sich d i e V e r g l e i c h s t a b e l l e 2.
Tabelle 2 „Oberes" und „unteres Jenseits" bei Hierarchien von Sprachen und Normen Stufen Metabereiche
Sprachen
(Rechts-)Normen
„oberes Jenseits"
Sprechende Subjekte; Umgangssprache i m K o n t e x t der übrigen Wirklichkeit
Soziale bzw. p o l i t i Praxis i m K o n t e x t der übrigen W i r k lichkeit
Vermittlung oder Beziehung zwischen „oberem Jenseits" u n d der obersten Metastufe der Sprachen bzw. Normen
definierend abbildend organisierend reflektierend
definierend abbildend organisierend sozialtechnischinstrumental
Stufenfolge nebst Vermittlungen zwischen den Stufen
Sprachstufen von der n - t e n Ordnung bis „ h i n a b " zur Objektsprache; Objektsprache aber ist auch die U m gangssprache
Normstufen bis „ h i n a b " zu Normen und Befehlen, die sich direkt auf Taten u n d n u r auf Taten beziehen: Tatnormen
V e r m i t t l u n g oder Beziehung zwischen der untersten Stufe der Sprachen bzw. Normen u n d dem „unteren Jenseits"
abbildend, hypothetisch, repräsentierend Einfluß der Sprache auf Objektbereich unerwünscht; wahr/falsch Falsifizierungsstand
abbildend etc. und kausal, technisch. Einfluß der Normen auf O b j e k t bereich bezweckt; wirksam/unwirksam Effektivität
„unteres Jenseits" Substufe
Objekte Subjekte (als bezeichnete u n d beschriebene Gegenstände)
Taten der Subjekte Subjekte als Adressaten K u r z : Soziale u n d politische Praxis wie i m „oberen Metabereich"
60
. Kap.: Z u r
n t o i s c h e n Fundamentierung
Ein Vergleichspunkt ist i n Tabelle 2 noch nicht berücksichtigt: Bei der Frage nach der Wahrheit von Aussagen und nach der Wirksamkeit von Normen gibt es vergleichbare Probleme der Intersubjektivität. Bekanntlich w i r d bei wissenschaftlichen Erkenntnissen ein möglichst hohes Niveau von intersubjektiver Übereinstimmung erstrebt: eine Intersubjektivität (kognitiven) Fürwahrhaltens. I m Bereich der Normen gibt es eine entsprechende Intersubjektivität des (praktischen) Fürgültighaltens 11 und Befolgens. Zwischen übereinstimmendem Fürwahrhalten und übereinstimmendem Fürgültighalten bestehen mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede. Fragt man, welche der beiden Formen der Übereinstimmung die allgemeinere oder „mächtigere" sei, so kommt man vielleicht sogar dahin, den Fall des Fürwahrhaltens als einen Sonder- und Spezialfall, zumindest als einen nachrangigen Fall des Fürgültighaltens aufzufassen. Denn erst dann, wenn man sich einig ist, daß die Norm: „Erstrebe Wahrheit!" gilt, besteht der Grund, auf dem die übrigen Fragen der Wahrheit von Aussagen oder der Falsifizierbarkeit von Hypothesen aufgerollt und erörtert werden können, ohne daß man sich ständig wieder um das streitet, was man eigentlich w i l l . II. Normen der Normerzeugung und Normverwirklichung Tabelle 2 zeigt, daß das obere und das untere „Jenseits" von Metastufen sprachlicher oder normativer A r t jeweils i n die übrige W i r k lichkeit führt. Wie Quelle und Mündung eines Flusses i n ein und demselben Land liegen können, so liegt der Metabereich, welcher die Normen produziert und setzt, i m gleichen ontologischen Gelände wie der Metabereich, i n den die Normen hineinwirken. Die Normen sind als informative Teilwirklichkeit i n die umfassende übrige Wirklichkeit eingebettet, aus welcher sie hervorgehen und i n welche hinein sie sich auswirken. Weiter regt Tabelle 2 zu folgenden Überlegungen an: Man kann alles das, was hier und jetzt zu der Tabelle 2 formuliert wird, als eine Metasprache zur Tabelle 2 auffassen: als Sprache-über-die-Tabelle. Diese Sprache-über-die-Tabelle ist keine Sprache innerhalb von oder über den Bereichen, von denen die Tabelle handelt, sondern eher eine Spra11 Ob u n d w i e sehr eine Regel f ü r gültig erachtet u n d befolgt w i r d , hängt von vielen Faktoren ab, — unter anderem auch davon, ob die Regel f ü r gült i g definiert worden ist (wobei die Kompetenz der definierenden Stelle eine Rolle spielt u n d ihrerseits „definiert" zu werden pflegt). Eine Regel zur N o r m zu definieren, schließt m i t ein, daß auf sie reflektiert w i r d . Diese Reflexion auf die Regel k a n n ihre Gültigkeit erzeugen u n d fördern, — Reflexion k a n n ihre Gültigkeit aber auch aufheben u n d ihre Legitimität zersetzen (etwa, w e n n sie „hinterfragt" wird). Beides zeigt die praktische Bedeutung von Reflexion i m Bereich der Definition von Situationen: „ G ü l t i g k e i t " entspringt erst einem Reflexivwerdungsprozeß praktischer Sprache.
I I . Normen der Normerzeugung u n d N o r m Verwirklichung
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che neben den Stufungen der Sprachen und Normen und ihrer Behandlung i n der Tabelle. Mittelbar bezieht sich die Sprache-über-die-Tabelle auch auf die Wirklichkeiten, von denen die Sprachen-in-der-Tabelle handeln und auf die die Normen sich beziehen. Nun kann man die Sprache-über-die-Tabelle unter zweierlei Gesichtspunkten betrachten: Entweder als bloß theoretische, beschreibende Sprache. Oder als normativ-technische Sprache. Das hängt davon ab, ob man den Komplex, von dem die Tabelle direkt und mittelbar handelt, bloß beschreiben oder auch beeinflussen w i l l . I m Falle der bloßen Beschreibung und Theoriebildung gilt: „Einfluß auf den besprochenen Bereich unerwünscht." I m Falle des technisch-praktischen Sprachgebrauchs gilt: „Einfluß auf den besprochenen Bereich bezweckt." Hier, wo es ohnehin um Normen geht, steht die zweite Variante i m Mittelpunkt des Interesses: Die Möglichkeiten, den Komplex, von dem die Tabelle direkt und mittelbar handelt, und das heißt letztlich: die ganze Wirklichkeit der Normerzeugung und Normverwirklichung, sprachtechnisch zu beeinflussen und zu bearbeiten. Ist das aber überhaupt denkbar: die i n der Tabelle dargestellten Stufungen (zwischen Objekten, Objektsprache, Metasprachen und Umgangssprache einerseits und handelnden Menschen, Tatnormen, Metanormen und normgebender Wirklichkeit andererseits) vermittels einer Sprache i m Sinne einer Beeinflussung zu verändern? Und wenn ja — wie und i n welcher Richtung sind solche Veränderungen denkbar und sollten sie gar i n Angriff genommen werden? Wiederum ist es aufschlußreich, sich nicht nur auf Spekulationen über Sprachen und Metasprachen oder Normen und Metanormen zu verlassen, sondern Anregungen aus der Wirklichkeit selbst entgegenzunehmen: Anregungen aus der sozialen Wirklichkeit, i n der Normen erzeugt und Normen befolgt wurden, lange bevor kritische Theoretiker mit ihrem sprachlichen Instrumentarium alles dies zu begreifen und i n den Griff zu bekommen versuchten. Ein Blick auf die Rechtsgeschichte zeigt, daß Verfahren der Normerzeugung, Normfindung und Normverwirklichung sich entwickelt haben, die ihrerseits normiert worden sind 1 2 : Man kann zum Beispiel von einer Verfassung, insbesondere vom Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland sagen, sie normiere (verfasse) einen erheblichen Teil der Rechtserzeugungs- und Rechtsverwirklichungsvorgänge i n ihrem Geltungsbereich. Dann aber ist auch leicht einzusehen, inwiefern der Kreis „Normerzeugung aus der Wirklichkeit und Normverwirklichung i n die Wirklichkeit" normativ „beeinflußt" werden kann: Es sind 12 Reflexivwerden der Normierung, — N. Luhmann, Reflexive Mechanismen (oben A n m . 2), S. 5 ff., u n d i n : Rechtssoziologie, Bd. 2, S. 213 - 217.
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. Kap.: Z u r
n t o i s c h e n Fundamentierung
unverfaßte, urwüchsige Formen dieses Kreises denkbar, aber auch ver faßte Formen. Es gibt vorgefundene, gewachsene und es gibt bewußt inszenierte Formen der Rechtserzeugung und Rechtsverwirklichung. Wenn also ins Auge gefaßt wird, alles das, wovon i n Tabelle 2 die Rede ist, nicht nur theoretisch zu beschreiben, sondern auch praktischtechnisch zu beeinflussen, so bezieht sich das nicht auf die Stufungen selbst, sondern auf die Vermittlungsbereiche zwischen den Stufen: auf den „logischen Sprung" aus der sozialen Wirklichkeit i n den Bereich der Normen und auf den anderen „logischen Sprung" aus dem Bereich der Normen i n die soziale Wirklichkeit. Die Beschreibung „logischer Sprung" mutet etwas seltsam an, wurde aber gewählt, weil gelegentlich von einer logischen Nichtableitbarkeit des Sollens aus dem Sein die Rede ist. Akzeptiert man bei einer normlogischen Betrachtung die logische Inkommensurabilität von Normen und Wirklichkeit, so erstreckt sich Tabelle 2 auf Erscheinungen, welche füreinander in logischer Transzendenz liegen: Sie erstreckt sich auf die Wirklichkeit, welche i n logischer Transzendenz der Normen, und sie erstreckt sich auf die Normen, welche i n logischer Transzendenz der Wirklichkeit liegen. Doch soll diesem Problem hier nicht weiter nachgegangen werden, weil die Überlegungen, welche zu Tabelle 2 geführt haben, ohnehin quer zu konventionellen Fragestellungen und konventionellen logischen Erkenntnissperren verlaufen, auf sie also keine Rücksicht zu nehmen brauchen. Wenn es unterschiedliche Formen (Methoden, Verfahren) der Rechtserzeugung und der Rechtsverwirklichung (der Normerzeugung und Normverwirklichung) gibt, taucht die Frage nach dem Verfahren auf, das als Verfassung zur geltenden Norm für die Normerzeugung definiert werden soll, und nach den anderen Verfahren, die nicht zu Normen der Normerzeugung erhoben werden sollen. Diese Frage zielt auf Probleme, auf die an anderer Stelle noch zurückzukommen sein wird. Hier gilt es noch festzuhalten: Die Normen, die den Normerzeugungsund Normverwirklichungsprozeß normieren, sind keine Metanormen zu Normen allein, sondern Normen für normsetzendes und normverwirklichendes praktisches Verhalten von handelnden Menschen. Bloße Metanormen zu „reinen" Normen rangieren noch innerhalb der Stufen der Tabelle 2. Die Normen, u m die es hier geht, haben alles das, worauf sich Tabelle 2 bezieht, zum Gegenstand. Und zwar insbesondere die Zwischenstufen, die i n der Tabelle m i t „Vermittlung, Beziehimg" bezeichnet sind. Es geht u m die Normierung dieser Zwischenstufen, welche für die Vermittlungen von Normen und übriger Wirklichkeit i n die Tabelle eingeschoben worden sind. Diese nicht nur normative, sondern ontologische Situation kann zunächst wie folgt durch ein Diagramm, das mit Tabelle 2 eng verwandt ist, veranschaulicht werden:
I I I . Kybernetische u n d modelltheoretische Betrachtung
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konventionelle Normlogik; Abteilungsregeln usw.
Diagramm 1 Z i r k u l ä r e Prozesse der Normerzeugung u n d Normverwirklichung an Stelle der Norrmhierarchien i n den Tabellen 1 u n d 2
Diagramm 1 zeigt etwas, das sich i m Verlaufe der obigen Erörterungen ohnehin schon aufdrängte: Der Ansatz bei den Stufen „Normen", „Metanormen" usw. ist zu statisch-eng. Wenn man die Normen i n der Wirklichkeit kybernetisch als Informationen auffaßt, die von der W i r k lichkeit produziert werden und die i n die Wirklichkeit wieder hineinwirken, dann muß das Ganze als ein prozeßhafter Vorgang aufgefaßt werden, welchem man nicht beikommt, wenn man mit Kategorien herangeht, die von Hause aus statisch-klassifizierenden Charakters sind. Geht man aber von der Statik der Stufen über zur Dynamik der Rechtserzeugung und Rechtsverwirklichung, dann darf man nicht auf halbem Wege stehen und an den bisherigen Kategorien hängen bleiben. Von der Logik der Normen und Normstufen muß folgerichtig übergegangen werden zur Ontologik der Normerzeugung und Normverwirklichung. Eine „Logik des Seienden", soweit das Seiende auch Normerzeugung und Normverwirklichung ist, muß dann i n der Form der Syntax eines Modells des Seienden repräsentiert werden. So mündet der erste Ansatz dieser Untersuchung i n den nächsten. I I I . Kybernetische und modelltheoretische Betrachtung der Normerzeugung und Normverwirklichung 1. Flußdiagramme So wie man wissenschaftstheoretisch zwischen bloßer Theoriebildung und praktischer Anwendung unterscheiden kann, so kann man unterscheiden zwischen Normen, die nur in der Theorie existieren, und Nor-
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. Kap. : Z u r
n t o i s c h e n Fundamentierung
men, die auch praktisch werden. Hier geht es u m Fragen der praktischen Normgebung i m Hinblick auf Gesellschaftsplanung und -organisation, also u m Normen für die praktische Anwendung. Solche Normen für die Praxis sind keine esoterischen Gebilde, sondern wirksame Wirklichkeiten i n der Wirklichkeit. Soweit sie sich explizit formulieren und mitteilen lassen, u m auf diesem Wege das Verhalten von Menschen zu beeinflussen, handelt es sich, wie schon angedeutet, u m Nachrichten. Diese Nachrichten werden von einem Normsender kodiert, und sie müssen vom Normempfänger dekodiert und verstanden werden. So kann Normerzeugung und Normverwirklichung aufgefaßt werden als ein Prozeß, i n dem Nachrichten erzeugt werden, durch welche innere Erwartungen und nach außen dringendes Verhalten des Empfängers gesteuert werden. Der ganze Prozeß spielt sich ab eingebettet i n die gesamte Wirklichkeit. Diese Einbettung in die gesamte Wirklichkeit sollte ständig i m Bewußtsein behalten werden, damit die Vorstellung wachbleibt, daß man es hier mit einer Ontologik zu tun hat, bei der es keine logische Flucht mehr aus der ganzen Wirklichkeit gibt. Diese Vorstellung kann dadurch versinnbildlicht werden, daß bei der graphischen Darstellung der Zusammenhänge das ganze Blatt Papier selbst für die Wirklichkeit steht, innerhalb derer sich die Normerzeugungs- und Normverwirklichungsprozesse abspielen (Diagramm 2). gesamte Wirklichkeit
darin ausgrenzbar:
Normerzeugung
Normverwirklichung
Soziale Inkubation der Normerzeugung
Faktisch-praktische Exkubation der Normen (soziale, politische Realisierung)
Übrige Wirklichkeit erzeugt (normative) Zeichenstrukturen
(normative) Zeichen erzeugen Strukturiertheit der übrigen Wirklichkeit
Diagramm 2 Normerzeugung u n d N o r m v e r w i r k l i c h u n g als in-sich-Prozeß der W i r k l i c h k e i t
Die Normen, u m die es hier geht, sind Normen für menschliches Verhalten, die von Menschen erkannt und gesetzt werden. Dort also, wo Normen erzeugt und wo sie verwirklicht werden, — d. h. an den Grenzstellen zwischen den Normen und der übrigen Wirklichkeit —,
I I I . Kybernetische u n d modelltheoretische Betrachtung
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finden sich Menschen (Personen, Subjekte). Demnach muß Diagramm 2 ergänzt werden (Diagramm 3).
Diagramm 3 Subjekte als Durchgangsstationen i m Prozeß der Normerzeugung und Normverwirklichung
A n dieser Stelle bietet sich wiederum ein Gedankengang an, der den Überlegungen entspricht, welche oben i n Abschnitt 4 angestellt wurden, als der Übergang vollzogen wurde von Tabelle 2 zu der Sprache-überdie-Tabelle. Auch hier kann nun von dem Diagramm 3, i n welchem die einfache Normerzeugung und Normverwirklichung dargestellt ist, übergegangen werden zu einem Diagramm 4, i n dem die Normierung der Normerzeugung und Normverwirklichung versinnbildlicht wird. I n diesem Diagramm w i r d innerhalb der Normen unterschieden zwischen solchen Normen, die normsetzendes Verhalten, und anderen Normen, die sonstiges Verhalten zum Gegenstand haben. Die Bereiche, welche i n den Tabellen 1 und 2 als jeweils Metabereiche oder als höhere Stufen beschrieben worden sind, erscheinen i n Diagramm 4 jeweils als Herkunftsbereiche für die Pfeile, die aus den verschiedenen Zonen i n die anderen führen. Diese Pfeile stehen für Einflüsse, welche aus der übrigen Wirklichkeit i n den Bereich der Normen und aus dem Bereich der Normen i n den Bereich der übrigen Wirklichkeit stattfinden. Da es sich i m Diagramm 4 nicht mehr wie i n den Tabellen 1 und 2 um ihrer Herkunft nach statische Kategorien handelt, sondern um eine graphentechnische Abbildung dynamischer wirklicher Vorgänge, erledigt sich ein Problem, das i n Tabelle 2 offen geblieben war, fast von selbst: Dort war nur festgestellt worden, daß der oberste Metabereich zu den Normen m i t dem untersten Metabereich der Normen irgendwie übereinstimmte: I n beiden Fällen handelte es sich u m die soziale W i r k lichkeit praktisch tätiger Menschen. Bei konventionell-logischer Betrachtung scheint es paradox zu sein, wenn der oberste und der unterste Bereich einer Hierarchie identisch 5 Suhr
3. Kap. : Z u r ontologischen Fundamentierung
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übrige Wirklichkeit
ι
% •
E i n w i r k u n g e n auf die Subjekte Produktionen der Subjekte
(1: Einflüsse aus dem sozialen K o n t e x t ; 2: z.B. Normen des Gesetzgebungsverfahrens; 3: z.B. Zivilprozeßrecht; 4: z.B. normative „ T a t bestände" nebst „Rechtsfolgeanordnungen"; 5: „Sachverhalte" des Rechtslebens, die unter die „Tatbestände" „subsumiert" werden, wenn die N o r m „angewendet" wird.) Diagramm 4 Normierte Normerzeugung u n d N o r m v e r w i r k l i c h u n g (Reflexivwerden der Normierung)
sind. Bei einer Darstellung aber, welche den Normbildungs- und Normverwirklichungsprozeß als einen zeitlichen Vorgang wiedergibt, der in die gesamte Wirklichkeit eingebettet ist und nirgendwo aus ihr hinausführt, w i r d das, was bei der Hierarchie paradox scheint, zu einer Notwendigkeit: Alle Vorgänge führen aus der Wirklichkeit in die Wirklichkeit und können daher nur dargestellt werden, wenn Zonen innerhalb der Wirklichkeit unterschieden werden. Wenn dann die verschiedenen Vorgänge, die von der einen Zone der gesamten Wirklichkeit i n eine andere Zone hineinführen, graphentechnisch dargestellt werden, so steht notwendig jeder Vorgangspfeil sowohl für einen Vorgang, der aus der Wirklichkeit i n die Wirklichkeit führt, als auch für einen Vorgang, der aus einer bestimmten Wirklichkeit i n eine andere bestimmte Wirklichkeit führt. I m Hinblick auf die gesamte Wirklichkeit handelt es sich um In-sich-Vorgänge, während es sich i m Hinblick auf die voneinander unterschiedenen Wirklichkeiten u m Vorgänge handelt, die aus einem Bereich i n einen anderen hineinführen. So zeigen die
I I I . Kybernetische u n d modelltheoretische Betrachtung
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Diagramme 2 bis 4 kein offenes Netz von Pfeilen, sondern einen geschlossenen Graphen. Der erste Anschein, den die Diagramme erwecken, mag vielleicht täuschen; denn es scheint, als führten die Pfeile von links nach rechts aus einem Bereich i n einen anderen. Da aber der Bereich, aus dem die Pfeile herkommen, und der Bereich, i n dem die Pfeile letztlich wieder hineinführen (nämlich die Umgebung des Diagramms: das gesamte Blatt, auf dem es gezeichnet ist), ein und dieselbe übrige Wirklichkeit ausmachen, handelt es sich i n der Tat u m ein geschlossenes Netzwerk. Das zeigt sich am schnellsten, wenn man vom Diagramm 4 zu Diagramm 5 übergeht. Dabei wechselt nur die A r t und Weise der Darstellung, nicht aber die Verknüpfungslogik der ontologischen Situation, die dargestellt wird.
normierte Normerzeugung
normierte Normverwirklichung
(z.B. Gesetzgeber für Normen des Prozeßrechts)
Diagramm 5 Umgestaltung von Diagramm 4 i n einen geschlossenen Graphen (Bedeutung der Pfeile wie i n Diagramm 4)
Eines allerdings, das man i n den Diagrammen 2 und 3 noch als m i t versinnbildlicht betrachten konnte, ist aus Diagramm 5 nicht mehr so einfach abzulesen: die Tatsache, daß es sich u m einen Prozeß handelt, der sich i n der Zeit abspielt. Diagramm 2 und 3 vermitteln noch den Eindruck, daß man den Normerzeugungs- und Normverwirklichungsvorgang von links nach rechts verfolgen könne. I n Diagramm 4 und erst recht i n Diagramm 5 geben nur noch die einzelnen Verbindungspfeile durch ihre Richtung an, nach welcher zeitlichen Abfolge die miteinander verbundenen Stationen des Netzwerkes erreicht werden. Da die Vorgangspfeile i n Diagramm 5 für kausale Beeinflussungen stehen, werden die einzelnen voneinander unterschiedenen Zonen der
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3. Kap.: Z u r ontologischen Fundamentierung
Wirklichkeit m i t jedem Durchlauf durch die Schleifen des Netzwerkes verändert (es sei denn, die Vorgangspfeile stehen für einen Einfluß, der i m konkreten Fall gleich 0 gesetzt werden kann). Das heißt: Obwohl es sich um jeweils dieselben Zonen handelt, die erreicht werden, sind es doch nicht mehr die gleichen Zonen. Dieses Ergebnis w i r k t vielleicht insofern verblüffend, als üblicherweise die Identität („ein und dasselbe") als eine A r t Steigerimg der Gleichheit („Übereinstimmung von zwei oder mehr Gegenständen") vorgestellt wird. Hier aber führt ein Vorgang, der i n denselben Bereich zurückführt, i n einen Bereich, der nicht mehr als der gleiche bezeichnet werden kann. Man kann sich das am besten veranschaulichen, wenn man es m i t einer alltäglichen Erscheinung vergleicht: Ein und derselbe Mensch kann heute ein ganz anderer sein, als er gestern war und als er morgen vielleicht sein wird. Dieser Mensch behält seine Identität i m Wandel seiner Zustände. So ähnlich ist es m i t den Bereichen i n Diagramm 2 bis 5. I n dem Modell der Rechtserzeugung und Rechtsverwirklichung (der Normerzeugung und Normverwirklichung), wie es i n den Diagrammen 4 und 5 dargestellt ist, stehen die Pfeile für eine Dynamik i n der Zeit. Es liegt nun auf der Hand, daß Normen für menschliches Verhalten voraussetzen, daß dieses Verhalten vorweggedacht und vorwegbesckirieben wird, bevor es normiert und bevor der Norm Folge geleistet werden kann. Dieser Vorgriff auf die Zukunft 12, der i n Normen liegt, die das Verhalten normieren, ist i n den bisherigen Diagrammen noch nicht berücksichtigt. Normen greifen i n die Zukunft voraus und zielen darauf, unter den möglichen Verhaltensweisen einige zu verwirklichen und andere auszuschließen. So erscheint das Ganze der gesellschaftlichen Normerzeugung und Normverwirklichung als ein System i n der Zeit, innerhalb dessen auch Vorgriffe auf die Zukunft vorkommen. Damit mündet der zweite, kybernetische und modelltheoretische A n satz i n den dritten, systemtheoretischen (ohne daß damit Kybernetik und Modelltheorie aufhörten).
13 Der Zukunftsbezug des Rechts w i r d immer wieder beobachtet, z.B. N. Luhmann, Rechtssoziologie 2, S. 343 ff.; W. Maihof er, Rechtstheorie als Basisdisziplin der Jurisprudenz, i n : Jahrbuch f ü r Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie 2 (1972), S. 51 - 7 8 , 53, u n d ders., Realistische Jurisprudenz, i n : G. Jahr/W. Maihof er (Hrsg.), F r a n k f u r t 1971, S. 427-470, 434 ff.; W. Krawietz, oben A n m . 10, S. 64: vorgedachter A b l a u f des Rechtsgeschehens; D. Suhr, Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung, B e r l i n 1975, S. 274 ff. (Recht als wahr-Sagung) ; G. Husserl, Recht u n d Zeit, F r a n k f u r t 1955 (S. 52 ff.: Gesetzgeber als Zukunftsmensch); Friedrich Müller, Juristische Methodik, B e r l i n 1971, S. 101 f. (Einfangen der unabschließbaren Zukunft). Die Zeit w i r f t daher für den Juristen ihre besonderen Probleme auf, — dazu P. H ä berie, Zeit u n d Verfassung, ZfP (1974), S. 111 - 137.
I I I . Kybernetische u n d modelltheoretische Betrachtung
2. Zeittheoretische
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Typisierungen
Eine vorweggenommene Beschreibung zukünftigen Verhaltens (mit dem Ziel und Zweck, dieses Verhalten zu normieren) ist nichts anderes, als ein Verhalten, das im Modell 14 vorweggenommen wird. Insofern ist ein Normenkomplex, der menschliches Verhalten betrifft, immer ein Modell von menschlichem Verhalten. Da die Normen und die übrige Wirklichkeit zusammen ein „System i n der Zeit" sind, handelt es sich bei den Normen innerhalb dieses Systems u m ein Modell von zukünftigen Verhaltensweisen eben dieses Systems. U m zukünftige Ereignisse innerhalb eines Systems vorwegzunehmen, muß es i n dem Modell der zukünftigen Ereignisse möglich sein, die „Modellzeit" schneller laufen zu lassen als die übrige „Systemzeit". Das ist die Voraussetzung für die Erzeugung und Anwendung von Normen: ein (Teil-)Modell des Systems, i n welchem eine A r t Zeitraffung stattfindet, ist in das System hineingeschachtelt. Eine solche Zeitraffung im Modell von der W i r k l i c h k e i t gegenüber der Zeit der W i r k l i c h k e i t selbst ist freilich keine Besonderheit von normativen M o dellen, sondern der Vorzug einer A r b e i t m i t theoretischen oder physikalischen Modellen von der W i r k l i c h k e i t überhaupt. Es k o m m t hier n u r darauf an, den zeitlichen Vorgriff, der i n Normen darinnen steckt, so deutlich w i e möglich hervorzuheben.
Unter dem Gesichtspunkt der Zeitraffung i m normativen Modell ergeben sich nun mindestens drei verschiedene Typen von normativer Modellierung zukünftigen Verhaltens: a) Die planerische Vorwegnahme und Anordnung ganz konkreter Verhaltensweisen: Normen vom Typ „Plan", „Projekt" oder „ A k t i o n " . Die Modellogik für derartige Normen entspricht der Ereignis- und Vorgangslogik einfacher Netzplanverfahren wie CPM und PERT 1 5 . „Normen" dieses Typs sind einmalige Verhaltensvorgaben, die sich m i t ihrer Befolgung erledigen. Sie sind gewissermaßen nur „zum einmaligen Gebrauch" bestimmt. b) Die durch Auslösen der Ereignisse bedingte Vorwegnahme von zukünftigen Verhaltensweisen („Konditionalnormen" i m Sinne L e h manns 16 ). Diese Normen haben die logische Struktur von bedingten Reflexen: Immer dann, wenn ein bestimmter Sachverhalt vorliegt und identifiziert werden kann, w i r d ein Verhalten von der Norm vorge14 Umfassende Einführung i n die Modelltheorie: H. Stachowiak, Allgemeine Modelltheorie, Wien u . a . 1973. Z u m Folgenden v o r allem S. 154: systeminternes zeitliches Kontraktionsmodell. 15 N. Thumb, Grundlagen u n d Praxis der Netzplantechnik, 2. Aufl., M ü n chen 1969. 18 N. Luhmann, Lob der Routine, i n : Verwaltungsarchiv 55 (1964), S. 1 - 33, 6 ff.; ders., Rechtssoziologie, Bd. 2, S. 227 ff.
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3. Kap.: Z u r ontologischen Fundamentierung
schrieben (erlaubt, geboten, verboten). Während Normen vom Typ „Plan" oder „Projekt" i m typischen Fall nur eine bestimmte, begrenzte Zeitspanne i n die Zukunft vorgreifen, u m das Geschehen während dieser Zeitspanne planerisch vorwegzunehmen und durch Normen der Planverwirklichung zu beeinflussen, greifen Konditionalnormen i m t y pischen Fall für eine unbegrenzte Zeit i n die Zukunft voraus. Sie erfassen bis auf weiteres oder bis auf Widerruf alle Fälle, die als auslösende Sachverhalte identifiziert werden. U m solche unbefristet geltenden Konditionalnormen zu konzipieren, muß i m normativen Modell nicht nur Zeitraffung „gedacht" und durchgespielt werden, sondern eine A r t Grenzübergang i n einen Bereich, bei dem angenommen wird, daß nächste und fernste Ereignisse gleich behandelt werden, sofern sie nur „tatbestandsmäßig" sind (sofern sie also die Eigenschaften des auslösenden Sachverhaltes besitzen). Man kann fast sagen, daß bei solchen Konditionalnormen die Zeit „weggedacht" w i r d oder gleichgültig ist. c) Normen vom Typ „Organisation" oder „Verfassung". Durch solche Normen werden i m typischen Fall zyklische Prozesse i n das betroffene soziale System hineinprogrammiert, wie sie sonst i n diesem Bereich untypisch und eher aus der Physik und Biologie her bekannt sind: ζ. B. die wiederkehrenden Wahlen zu Parlamenten, Aufsichtsräten, Vorständen usw. Bei diesen Normen w i r d die Zeit i m normativen Modell gerafft und gewissermaßen gequantelt. Solche Normen bewirken ζ. B., daß i m politischen Bereich zeitliche Rhythmen das Leben bestimmen, auf die sich die Beteiligten mit ihren Verhaltenserwartungen einstellen können. Diese durch Normen induzierten Rhythmen gestatten ζ. B. auch Sozialwissenschaftlern Prognosen, die unmöglich wären, wenn nicht durch die Verfassung eine ganz bestimmte normative und zyklische Strukturierung der Erwartungen i n den politischen Prozeß hineingeschrieben wäre. Durch verfassende und organisierende Normen w i r d weniger inhaltliche als vielmehr prozedurale Komplexität reduziert, und zwar durch sprachliche Ereignisse, deren Einspeisung i n den übrigen sozialen Prozeß die Wahrscheinlichkeiten verändert, mit denen dort Verhaltensereigriisse eintreten 1 7 . 17 H i e r befindet sich eine Nahtstelle, über die eine Brücke zu statistischen Betrachtungsweisen der einschlägigen Prozesse geschlagen werden könnte, — freilich n u r f ü r das Grundsätzliche. (So w i e es i n der Makrophysik v i e l fach genügt, die Gesetze der klassischen Mechanik anzuwenden, wo atomare u n d subatomare Statistik keinen praktischen Gewinn mehr bringen würde, sondern Komplikationen, so gibt es Bereiche der gesellschaftlichen „Mechan i k " , i n denen m i t kantigeren Werkzeugen als Statistik besser gearbeitet werden kann.) Es geht hier u m symbolische Kommunikatoren, Interpenetratoren, Initiatoren, Kristallisatoren u n d Katalysatoren, die durch i h r E i n treffen, durch i h r Ausbleiben u n d durch ihre Gegenwart die Wahrscheinlichkeiten von Zuständen u n d Übergängen drastisch beeinflussen. Vgl. T. Harder , Contextuality and Dynamics, ZfS 3 (1974), S. 229 - 233.
I I I . Kybernetische u n d modelltheoretische Betrachtung
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Die Ereignisse und Vorgänge, die durch solche Normen vom Typ „Organisation" oder „Verfassung" erfaßt werden, sind untereinander nach einer Logik verknüpft, die nicht mehr der Logik der einfachen deterministischen Netzplanverfahren CPM und PERT entspricht, sondern derjenigen Logik, welche für die neueren, allgemeineren, stochastischen Netzplanverfahren zugrundegelegt w i r d : Es finden insbesondere Rekursionen auf ein und dieselben Vorgangsfolgen statt, die i m Netzplan als Schleife bzw. Locke dargestellt werden (Netzplanverfahren GERT und DELOS). Es ist nun aufschlußreich, die verschiedenen Normtypen, von denen hier die Rede ist (Projektnorm, Konditionalnorm, Organisationsnorm), m i t den Klassifizierungen und Strukturen zu vergleichen, die bei den vorhergegangenen Untersuchungen der Norm-Metanorm-Stufen und bei der kybernetisch-modell-theoretischen Erörterung behandelt worden sind. Dann ergibt sich eine zwar nicht stringente, wohl aber schwerpunktmäßige Zuordnung: Denjenigen Normen, die i m Metabereich sowohl zu den Normen als auch zur übrigen Wirklichkeit lagen, (oben Tabelle 2) entsprachen später die Normen für Rechtserzeugung und Rechtsverwirklichung (oben Diagramm 4 und 5). Ihnen entsprechen jetzt schwerpunktmäßig diejenigen Normen, welche organisierenden oder verfassenden Charakter haben. Bei diesen organisierenden oder verfassenden Normen der Rechtserzeugung und Rechtsverwirklichung w i r d von dem konkreten Inhalt der erzeugten und verwirklichten Normen abstrahiert. Da man nämlich bei den Normen der Normerzeugung und Normverwirklichung möglichst weit i n die Zukunft vorausgreifen w i l l , kann nicht mehr der I n halt der Normen, sondern nur noch die A r t und Weise der Erzeugung und Verwirklichung der zu erzeugenden und verwirklichenden Normen vorweggenommen werden. Hinsichtlich des konkreten Inhalts der zu erzeugenden und der zu verwirklichenden Normen t r i t t eine Haltung ein, die als eine A r t Vertrauen darauf beschrieben werden kann, daß diejenigen ihre Sache schon richtig machen werden, die eines Tages diese Normen zu erzeugen und zu verwirklichen haben werden. Von dem Inhalt der Normen für die Normerzeugung selbst hingegen erwartet man, daß durch ihn der Normerzeugungsprozeß so normiert wird, daß sich die Wahrscheinlichkeit erhöht, m i t der i n Zukunft der Normerzeugungsprozeß möglichst reibungslos abläuft und möglichst „gute" Normen durch ihn erzeugt werden. M i t diesem Gedanken aber beginnen Überlegungen, die den „ I n h a l t " oder konkrete Eigenschaften der Normen und unser Verhältnis zu diesem Inhalt betreffen, nämlich die Frage, welche Normen w i r für gut halten und welche für schlecht, und zwar sowohl Normen, die sich unmittelbar auf Taten beziehen, als
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3. Kap.: Z u r ontologischen Fundamentierung
auch Normen, die den Normerzeugungs- und Normverwirklichungsprozeß betreffen. Das führt i n den Bereich der Motive und Werte. IV. Normen und Motive Wie die praktischen Normen, um die es hier geht, sind auch die Motive empirische Erscheinungen der sozialen Wirklichkeit: Und zwar kausal wirksame Erscheinungen, die innerhalb der Zonen der gesamten Wirklichkeit wirksam werden, die i n den bisherigen Diagrammen durch Subjekte versinnbildlicht worden sind. Motive spielen i n diesen Subjekten sowohl bei der Rechtserzeugung als auch bei der Rechts Verwirklichung eine entscheidende Rolle: Durch ihre Motive werden die Subjekte zur Erzeugung von Normen bestimmt; und durch die Normen werden die Subjekte i n ihren Verhaltensmotiven mitbestimmt. So tauchen sowohl die Motive als normbestimmende Faktoren als auch die Normen als motivbestimmende Faktoren i n dem Gesamtprozeß der Normerzeugung und Normverwirklichung auf. I n dem psychischen Inkubationsstadium normsetzenden oder normverwirklichenden Verhaltens bestimmen die Motivkonstellationen die Richtlinien, i n denen sich das Verhalten entwickelt, und sie können als eine A r t Vermittler zwischen der äußeren und physischen Wirklichkeit einerseits und dem nach außen dringenden menschlichen Verhalten andererseits angesehen werden. So können die Motive, die i n einem Menschen i n seiner sozialen Situation aufkeimen, i h n dazu bewegen, sich aufzulehnen gegen einzelne Normen oder ganze Normsysteme: sei es, u m sie zu brechen und zu mißachten, sei es, um sie mehr oder weniger friedlich zu beseitigen und zu ersetzen. So findet man die (bewußten und unbewußten) Motive unter den Treibsätzen, die den Prozeß der Normerzeugung und Normverwirklichung i n Tempo und Richtung bestimmen. Wenn der Normerzeugungs- oder Normverwirklichungsprozeß die Station „Motive" passiert, können negierende Motive den Vorgang derart beeinflussen, daß er eine andere Richtung bekommt. Anders ausgedrückt: A u f dem Wege über Motive, durch die sich jemand gegen bestehende Normen oder gegen bestehende Zustände auflehnt, w i r d ein Moment der „Negation" i n den Prozeß der Normerzeugung und Normverwirklichung eingeschleust. So setzt sich subjektives Unbehagen auf dem Wege über verhaltensbestimmende Motive u m i n praktische Auflehnung und „Negation", welche beide sowohl zu Ungehorsam gegenüber den Normen als auch zur Beseitigung oder Ersetzung der Normen führen können. Bei genauerem Hinsehen dürfte sich sogar zeigen, daß es vor allem diese negativen Motive aus Unbehagen sind, welche den Stachel abgeben, der zur Veränderung und Weiterentwicklung der Normen anspornt oder immer wieder zurücktreibt i n uralte re-volutio-
I V . Normen und Motive
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näre Routinen. (Es ist dies eine relativ exakte und konkrete Beschreibung des „dialektischen Widerspruches, welcher der Sache selbst innewohnt", — eines Widerspruches, den „die Wirklichkeit aus sich selbst gegen sich selbst hervorbringt": Autonegationen, welche ein System durch seine Teilsysteme produziert.) Wenn das Entstehen und Bestehen von Normen derart stark von den Motiven der Menschen abhängt, drängen sich für den Rechtserzeugungs- und Rechtsverwirklichungsvorgang folgende Gedanken geradezu auf: Wenn Normen vom Typ „Organisation" oder vom Typ „Verfassung", — wenn also Normen der Rechtserzeugung und Rechtsverwirklichung dauerhaft Bestand haben sollen, müssen sie von solcher A r t sein, daß die Wahrscheinlichkeit gering ist, daß sich die Motive der Menschen eines Tages gegen sie richten 1 8 . Es drängt die Menschen m i t Sicherheit eines Tages, sich gegen Normsetzungsnormen aufzulehnen, wenn ihren eigenen Motiven kein Spielraum mehr verbleibt, innerhalb dessen sie sich i n Normerzeugung und Normverwirklichung durchsetzen können. So ergibt sich als Motiv für die Normen der Normerzeugung und Normverwirklichung eine A r t Metamotiv: nämlich das Motiv, mit den Normerzeugungsnormen gewissermaßen freie Bahnen für Normerzeugungsmotive zu schaffen. Es versteht sich von selbst, daß dies nicht vorbehaltlos gilt und damit die Motive für Normerzeugungsnormen keineswegs erschöpft sind. Es kam hier darauf an, deutlich zu machen, daß man es auf der Ebene der Normer zeugung snormen m i t Motiven zu t u n hat, die Motive wiederum zum Gegenstand haben. Auch bei diesen „Metamotiven" handelt es sich nicht nur u m eine abstrakt-theoretische Stufung zwischen Motiv und Metamotiv, sondern um einen praktisch-technischen Aspekt der ontologischen Situation, i n der man es mit Normen, m i t Motiven und m i t der übrigen Wirklichkeit zu t u n hat. I n diese selbe ontologische Situation gehört
18 Das ist die normenontologische Fassung des Legitimitätsproblems. Es geht u m Nichtnegierbarkeiten u n d deren motivationales Vorfeld: nicht n u r darum, daß etwas nicht negiert werden soll, sondern auch darum, daß empirische Motive „lernen", zu Nichtnegierbarkeiten motiviert zu sein. Das k l i n g t sehr absolut u n d reaktionär, ist aber relativ gemeint u n d praktisch unvermeidlich. Z u r Frage nach den Prinzipien, i n denen Systeme nicht negierbar sind, siehe N. Luhmann, Rechtssystem u n d Rechtsdogmatik, S t u t t gart u. a., 1974, S. 20; ders., Politische Verfassungen i m K o n t e x t des Gesellschaftssystems, i n : Der Staat 12 (1973), S. 1 - 2 2 , 165- 182, 165 ff., 182; ders., Rechtssoziologie, Bd. 2, S. 358 ff.; ders., Institutionalisierimg — F u n k t i o n u n d Mechanismus i m sozialen System der Gesellschaft, i n : H. Schelsky (Hrsg.), Z u r Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, S. 29 A n m . 2. — Das Prinzip, i n dem ein System nicht mehr negiert werden k a n n (soll, darf), muß i n der Regel dem System selbst konkrete, partielle Negationen freistellen; sonst staut sich der Negationsbedarf u n d richtet sich schließlich gegen die Nichtnegierbarkeiten des Systems. Hier konvergieren die Theorie sozialer Systeme u n d die Dialektik.
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3. Kap. : Z u r ontologischen Fundamentierung
freilich noch eine weitere Erscheinung hinein, die bislang noch nicht behandelt wurde: Nämlich das, was w i r „Werte" zu nennen pflegen. V. Werte und Wertschätzungen Wenn hier von „Werten" die Rede ist, so ist damit „Wert" nicht i m Sinne von „Maßstab", sondern i m Sinne von „ G u t " gemeint 1 9 . Solche Güter oder Werte verbinden w i r m i t Wertschätzung. Mehr noch: Bei einer nicht bloß abstrakten, sondern operationalen, ontologischen Sichtweise erscheinen „Werte" geradezu als das Produkt oder als der begrifflich-symbolische Reflex realer Wertschätzungsprozesse. Zwar streitet man sich oft darüber, welche Güter Wertschätzung verdienen und welche nicht. Aber was ein Mensch wertschätzt, das hat für ihn Wert; das ist für ihn ein Wert. Was viele wertschätzen, hat Wert für sie; das ist ein Wert für sie. Und was alle wertschätzen, ist ein allgemeiner Wert. Aber der einzelne, die vielen oder auch alle können sich verschätzen, ohne daß sie es wissen oder bemerken. Sie können etwas wertschätzen, das sich, wenn sie es praktisch erstreben, als etwas entpuppt, das sie jetzt als das Gegenteil von wertvoll erfahren 2 0 : sei es, daß ihnen bewußt wird, daß es der ursprünglich erstrebte Wert ist, der nun seine „negativen Seiten" zeigt, — sei es, daß sie es nicht erkennen und auch nicht erkennen wollen, daß die Ursache der jüngsten Leiden i n der Wertschätzung zu suchen sind, die bestimmten Gütern oder Einbildungen entgegengebracht wurden und noch entgegengebracht werden. Der einzelne, die vielen oder auch alle können sich nicht nur verschätzen. Es gibt vielmehr auch Wertschätzungsdifferenzen innerhalb des einzelnen selbst und zwischen den Menschen. Je nach dem Ausmaß dieser Wertschätzungsdifferenzen ergeben sich innerhalb des einzelnen oder zwischen den Menschen Gegensätze, die von harmlosen Unstimmigkeiten bis zu abgrundtiefen Feindschaften reichen, welche sich i n praktischen Kämpfen (ζ. B. zur Durchsetzung bestimmter Normen) oder i n offener Gewalttätigkeit und i m Krieg entladen. I m Bereich der Werte sind unter operationalem Blickwinkel also zwei grundsätzlich unterschiedliche, aber i n ihrem praktischen Rang einander kaum nachstehende Probleme zu unterscheiden: nämlich die Probleme des Wertschätzungsirrtums von den Problemen der Wertschätzungsdifferenzen. Bevor aber zu diesen beiden Problemen über19
Näheres bei R. Lautmann, Wert u n d Norm, 2. Aufl., Opladen 1971. Dabei spielt sogar schon der Umschwung der Wertschätzung eine Rolle, der unmittelbar nach der Entscheidung e i n t r i t t : postdecision dissonance bei L. Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford, Cal., 1962, S. 32 ff. 20
V. Werte u n d Wertschätzungen
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haupt Stellung genommen wird, bietet sich wiederum der Gedankensprung an, der von der Wertschätzung selbst zu der Meta-Wertschätzung von Erscheinungen i m Bereich der Wertschätzung führt, also z. B. dazu, Wertschätzungsirrtümer und Wertschätzungsdif/erenzen wegen ihrer praktischen Auswirkungen positiv oder negativ zu bewerten. Dann taucht sofort die Frage auf, ob sich der Wertschätzungsprozeß i n irgendeiner Weise dahingehend beeinflussen läßt, daß die Trefferquote und das Ausmaß der intersubjektiven Übereinstimmung bei der Wertschätzung sich vergrößern läßt. So mündet auch hier die Frage nach den Werten sofort wieder i n die Frage nach den Wertsetzungsprozessen, und das heißt nach den Wertsetzungsverfahren: Sie bekommt einen operationalen Akzent. Während die Werte selbst am ehesten vorgestellt werden können als Zielzustände oder Güter, die — z. B. durch das Verhalten, das durch Normen festgelegt ist — erstrebt werden, läuft der Gedanke an Wertschätzungsverfahren wieder auf Verhaltens programme hinaus, die als solche normierbar sein können. Wenn es schwierig oder unmöglich ist, ein für allemal die richtigen Werte zu setzen, liegt für eine operationale Betrachtung der Gedanke nahe, wenigstens den Wertfindungs- und Wertsetzungsprozeß und den Prozeß der Wertverwirklichung so zu organisieren, daß er verspricht, sich eher stetig als krampfhaft und eher reibungslos als verlustreich abzuspielen. Den Wertfindungsprozeß zu organisieren, heißt, i h n zu normieren, so daß sich auf der Ebene des Wertschätzungsverfahrens die Betrachtung der Werte und die Betrachtung der Normen wieder überschneidet. I m praktischen Leben, besonders i m Rechtsleben, sind Wertfindungsund Normfindungsverfahren ohnehin kaum voneinander zu trennen. Es ist bekannt, daß Werte sich überhaupt schlecht exakt beschreiben lassen, und daß die Beschreibung um so schwieriger wird, je allgemeiner diese Werte sind. Es sei nur daran erinnert, wieviel schwerer es ist, die Gesundheit eines Menschen zu beschreiben als eine bestimmte Krankheit 2 1 . Wenn gehandelt wird, werden die Werte meist nicht ausdrücklich thematisiert und als dem Handeln zugrunde liegend erkannt. So liegen auch Normsetzungsakten, durch die zukünftiges Verhalten schon jetzt geregelt wird, stets Bewertungen zugrunde, die oft nur stille aber einflußreiche Teilhaber am Normfindungsprozeß sind. Man kann daher Normerzeugungsverfahren zugleich als implizierte Wert21 Damit stehen die Strategien i n Zusammenhang, die nicht Glück m a x i mieren, sondern Leiden mindern sollen: von der negativen F o r m der Goldenen Regel (Was d u nicht willst, das man d i r tu', das füg' auch keinem and'ren zu!) über K. R. Poppers Minderung der Leiden bis zur systemtheoretischen Negation des Negativen bei N. Luhmann, Rechtssystem u n d Rechtsdogmat i k , Stuttgart u. a., 1974, S. 34, 84 A n m . 70 m. w. N.
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3. Kap.: Z u r ontologischen Fundamentierung
findungs- und Wertsetzungsverfahren ansehen, — nämlich als Verfahren für die Auffindung von Richtungen und für die Normierung des Verhaltens i n Richtung auf das mehr oder weniger klar gewußte Ziel. Möchte man den Zusammenhang zwischen Normen, Werten, Motiven und der übrigen Wirklichkeit genauer kennenlernen, stößt man auf ein fast unentwirrbares Netzwerk von wechselseitigen Einflüssen. Welche Werte ein Mensch findet und für sich anerkennt, w i r d durch seine Motive mitbestimmt; besitzt er Werte, so werden aber auch seine Motive durch die Werte, denen er sich verpflichtet fühlt, mitbestimmt. Ebenso wechselbezüglich sind die Beziehungen zwischen Normen und Werten: Seine Werte bestimmen den Menschen dazu, welche Zustände er mit Hilfe von Normen zu erstreben versucht; werden durch Normen bestimmte Zustände erstrebt und Verhaltensweisen angeordnet, so dokumentiert sich darin eine Wertschätzung, welche dem Wert selbst wiederum zugutekommen kann. Schließlich können insbesondere die Normen der Rechtserzeugung und Rechtsverwirklichimg für gut befunden und wertgeschätzt oder für schlecht befunden und gering geschätzt werden. Das System dieser Normen ist dann selbst ein Wert oder ein Unwert 2 2 . VI. Reflexionsstruktur der Motiv-, Wert- und Normverwirklichung Motive, Werte und Normen wurden hier als Wirkungsfaktoren innerhalb der sozialen Wirklichkeit betrachtet, die allerdings selbst wieder von dieser sozialen Wirklichkeit her mitbestimmt werden. Diese Faktoren greifen i n den sozialen Prozeß ein während des psychischen I n k u bationsstadiums menschlichen Verhaltens. Andererseits werden Motive, Werte und Normen gewissermaßen geboren i n einem psychischen inneren Klima, welches durch die äußerliche soziale Umgebung der betreffenden Menschen bestimmt wird. Die soziale Umgebung der Menschen, d. h. die soziale Wirklichkeit der Gesellschaft wiederum ist abhängig vom Verhalten der Menschen selbst, das seinerseits soeben als abhängig erkannt worden war, von den innerlich wirksamen Motiven, von den i m Innern wirkenden Werten und von den i m Innern wirkenden Normen. So hat man bei der Motiv-, Wert- und Normverwirklichung Abläufe vor sich, die jeweils eine innere psychische Durchgangsstation i m Bewußtsein der Menschen haben. Motive, Werte und Normen sind ihrer 22 Auch die Entscheidungstheorie kennt nicht n u r zukünftige Zielzustände, sondern auch Prozesse als Ziele (und damit auch die Vorgangssyntax der Prozesse). Vgl. W. Kirsch, Entscheidungsprozesse, Bd. 2, Wiesbaden 1971, S. 126, u n d K . J. Arrow, Social Choice and I n d i v i d u a l Values, New Haven London 1963 (1951), S. 5 (method regarded as itself a value judgement), 105 f. (Übergang von Entscheidungsprozeß zu dessen „constitution").
V. Werte u n d Wertschätzungen
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Entstehung nach von dem abhängig, was i m Zuge ihrer Verwirklichung erzeugt wird. Sehr grob und unter dem Vorbehalt vieler Einschränkungen kann man sagen: K r a f t der Automatik, welche sich bei dem Erzeugungs- und Verwirklichungsprozeß von Normen, Werten und Motiven abspielt, bekommen die Menschen die Suppe alsbald wieder vorgesetzt, die sie sich wertend und normierend selbst eingebrockt haben. Dabei t r i f f t es freilich nicht immer dieselben Menschen, — sei es, daß sich die Fernwirkungen von Motiv-, Wert- und Normstrukturen erst bei Kindern oder Kindeskindern zeigen, — sei es, daß schon die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse von solcher A r t sind, daß, u m i m Bilde zu bleiben, es denjenigen, die die Suppe einbrocken, i n der Regel gelingt, sie von anderen auslöffeln zu lassen. Sieht man aber von diesen Einschränkungen ab, so zeigt sich ganz klar die Reflexionsstruktur des Prozesses, aus welcher es kein Entrinnen gibt. Dies ist die Wirklichkeit alles dessen, was oben i n den Diagrammen 4 und 5 dadurch verbildlicht worden ist, daß geschlossene Graphen 2 3 gewählt w u r den, u m die Vorgangszusammenhänge abzubilden. Die soziale Situation ist also in-sich-reflexiv oder praktisch-selbstreferenziell. Das ist eine empirische unabdingbare Tatsache. Aber wie diese Situation i m einzelnen in-sich-reflexiv ist, hängt auch davon ab, welche Werte und welche Normen i n der Situation gelten und den sozialen Prozeß entlang bestimmter Bahnen lenken. Die Bahnen für soziale Prozesse, welche durch Normen vorgesehen und normiert werden, können ihrerseits entweder reflexive oder irreflexive Teilstrecken des sozialen Prozesses darstellen. Solche Teilstrekken i m sozialen Prozeß, die nicht i n sich selbst wiederum reflexiv strukturiert sind, können zur Folge haben, daß die Auswirkungen von Wertentscheidungen und Normsetzungen von denjenigen, die die Werte setzen oder die Normen vorschreiben, an einen anderen Ort oder i n eine spätere Zeit abgeleitet werden, so daß diese Auswirkungen nicht sie selbst, sondern andere Menschen treffen. Auch Güter bzw. Werte selbst können i n sich irreflexiv sein. Dann erstreben die Menschen, die an diese Werte glauben und i h r Verhalten i n Richtung auf diese Werte einrichten, etwas, das — jedenfalls auf die Dauer — nicht realisiert werden kann; denn die soziale Wirklichkeit läßt sich die Reflexionsstruktur ihrer Ontologik nicht austreiben. Angesichts der eben beschriebenen Befunde ist es klar, daß solche Normen und Werte von besonderer Bedeutung sind, die selbst reflexive Prozesse vorsehen. M i t solchen Normen bzw. Werten w i r d i n den fak23 Vgl. ζ. B. das Flußdiagramm der Forderungen bei W. Kirsch, Entscheidungsprozesse, Bd. 3, S. 38, m i t der Wiedereinspeisung des outputs i n das Entscheidungssystem bei den „Wünschen".
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3. Kap. : Z u r ontologischen Fundamentierung
tisch reflexiven sozialen Prozeß nicht eine Struktur hineingetragen, die auf lange Sicht m i t den Strukturen des Prozesses selbst unverträglich ist. I m Gegenteil: M i t in-sich-reflexiven Normen und Werten kann den ontologischen Reflexionsstrukturen geradezu nachgeholfen werden, so daß nach Möglichkeit die Stauungen und Entladungen vermieden werden, die wahrscheinlich sind, sobald versucht wird, der sozialen Situation irreflexive Strukturen auf dem Wege über Normsetzung und Wertgebung aufzuzwingen. Die Funktion, welche die reflexiven Normen bzw. Werte dann i n der Gesamtheit der sozialen Situation haben, läßt sich noch am ehesten m i t der Funktion eines Katalysators vergleichen: Es w i r d ein Prozeß reflexiv geregelt, der ohnehin reflexiv abläuft; die reflexiven Werte bzw. Normen wirken dabei als Katalysatoren, die bewirken sollen, daß es i n dem sozialen Prozeß nach Möglichkeit nicht zu Stauungen und zu Entladungen kommt, die bei irreflexiver Organisation der Erwartungen durch irreflexive Normen unvermeidbar sind. Unter dem Vorbehalt, daß die folgende Feststellung noch viel zu allgemein ist und an konkreten Fällen von Normen noch konkretisiert und eingeschränkt werden müßte, kann man doch sagen: Die Reflexionsstruktur, die i n Normen oder i n Werten drinsteckt, ist ihrerseits eine „wertvolle Sollstruktur", also ein Wert. — Es sei hier noch angemerkt, daß die erörterten Reflexionsstrukturen i n Normen und Werten und i n der sozialen Situation selbst auch als Rückkopplungsstrukturen i m Sinne der Kybernetik bezeichnet und beschrieben werden können. Was die biologische Rückkopplung für die Lebenserhaltung biologischer Systeme und was die technische Rückkopplung für die Beherrschung und Stabilität technischer Systeme ist, das ist die Reflexionsstruktur i n Normen und Werten für soziale Systeme. Es handelt sich um die generelle ontologische Struktur von sich selbst erhaltenden Systemen: u m eine strukturelle Universalie. V I I . Normierung des gesellschaftlichen und Organisation des psychischen Prozesses I n jeder Gesellschaft fallen Handeln und Betroffensein häufig auseinander, erst recht i n einer weitgehend arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. I m Hinblick darauf, daß zur Vermeidung von verlustreichen Stauungen und Entladungen Reflexionsstrukturen i m Prozeß der Gesellschaft vorherrschen sollen, stellt sich also die Aufgabe, das Ende einer durch Handlung begonnenen Kausalkette wieder zum Anfang zurückzubiegen: Wenn die handelnden Menschen und die von den Folgen des Handelns betroffenen Menschen nicht dieselben sind, muß eine Möglichkeit vorgesehen sein, kraft derer die Betroffenen ihr
V I I . Normierung des gesellschaftlichen Prozesses
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Betroffensein an die Handelnden zurückgeben können. Welche Normbzw. Bechtstechnik dabei verwendet wird, hängt ganz von der sozialen Situation ab, i n welcher konkrete Verantwortungskreise 24 normiert werden müssen. Ein solcher Kreis, durch den Betroffensein zurückgegeben w i r d an diejenigen, die gehandelt haben, ist zum Beispiel das demokratische Verfahren, i n welchem die Regierenden durch die Betroffenen gewählt und abgewählt werden können. Ein anderes Beispiel liefert die zivilrechtliche Verantwortung für Schädigungen, die Teilnehmer am Rechtsverkehr einander zufügen, — Folgen, welche durch Versicherungen wiederum abgepuffert werden können bis zur Auflösung der persönlichen Verantwortung. Es ist jedoch unmöglich, alle Handlungsfolgen i m sozialen Netzwerk durch Normierung von Verantwortlichkeiten normtechnisch auf den Handelnden angemessen zurückzuleiten, — sei es, daß dafür viel zu komplizierte Verfahren notwendig wären, — sei es, daß die Folgen sich erst am Horizont einer so fernen Zukunft abzeichnen, daß die gegenwärtigen Menschen nicht damit zu rechnen brauchen, von den Folgen eines Tages überrollt zu werden. Die äußerlichen, rechtstechnisch normierbaren Verantwortungskreise ergeben nur grobe Reflexionsstrukturen, deren Wirksamkeit von den Menschen abhängt, die i n diesen Kreisen handeln und betroffen sind und ihr Betroffensein irgendwie wieder rechtstechnisch an die Handelnden zurückgeben. Wieviel Rücksicht auf die Betroffenen dabei provoziert w i r d und wie langfristig auch an die gedacht wird, die nach uns kommen, hängt also weniger von der äußerlichen Organisation der Gesellschaft durch i n sich reflexiv strukturierte Normen ab, als vielmehr davon, wie fähig die betroffenen Menschen sind, selbst schon in sich reflexiv zu denken und dadurch mit großer Sensibilität gegenwärtige und zukünftige Folgen des Handelns in der Gesellschaft vorwegzubedenken und zu berücksichtigen. Dieses Vorwegbedenken und Berücksichtigen ist nicht nur eine Frage der Fähigkeit zu Prognosen, sondern zumindest eben so sehr, wenn nicht i n noch viel größerem Maße, eine Frage der Fähigkeit, das zu erspüren, was für die Menschen „das Richtige" sein wird. 24 I n der Systemanalyse taucht der gleiche Gedanke auf als „Kongruenz" zwischen Aufgaben, Kompetenzen u n d Verantwortung, als Regelkreis H a n delnder-Umwelt-Handelnder. Siehe etwa D. Aderhold, Kybernetische Regierungstechnik i n der Demokratie, M ü n c h e n - W i e n 1973, S. 63, 243. Z u m „Verantwortungskreis" auch D. Suhr (oben A n m . 1); ders., Ansätze zu einer kybernetischen Betrachtung von Recht u n d Staat, i n : Der Staat 6 (1967), S. 197 - 219. Hierher gehören auch Haftungsgrundsätze des Privatrechts (cuius commodum, eius periculum) u n d die „ K o n n e x i t ä t von Freiheit u n d Verantw o r t u n g " beim Idealtyp des Eigentums bei D. Suhr, Eigentumsinstitut u n d Aktieneigentum, H a m b u r g 1966, S. 46-52, 60, 127 ff. — Vgl. auch D. Suhr, „Systemtheorie", i n : Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl.. 1975, Sp. 2604 f. (recycling der Probleme); D. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, B e r l i n 1976, S. 195 - 207.
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3. Kap. : Z u r ontologischen Fundamentierung
Die Fähigkeit, nicht nur aus dem engen eigenen Horizont und aus den engen eigenen Interessen heraus zu denken, zu planen, zu entscheiden und zu handeln, ist ganz offenbar bei verschiedenen Menschen unterschiedlich entwickelt. Diese Unterschiede nicht nur i m Denkvermögen, sondern auch i m Erkenntnis- und Wertschätzungsvermögen mögen zu einem Teil auf biologisch vererbten Strukturen beruhen, die sich dem Zugriff durch Bildungs- und Sozialisationsverfahren entziehen. Z u einem großen Teil dürften diese Unterschiede jedoch auf die Unterschiede i m Sozialisations- und Bildungsverfahren der Betroffenen zurückzuführen sein. Insoweit ist das Erkenntnis- und Wertschätzungsvermögen abhängig von der Organisation des Bewußtseins, die ihrerseits ein Produkt des Sozialisations- und Bildungsprozesses ist. Damit erreicht die Untersuchung genau den Punkt, der unter gesellschaftsund bildungsplanerischem Aspekt von besonderem Interesse ist: Wie ist ein Bewußtsein i n sich organisiert? — Welche der offenbar möglichen unterschiedlichen Organisationsformen des Bewußtseins ist i m Hinblick auf die reflexive Ontologik der sozialen Realität die Form, welche die größte „Wertschätzung" verdient? — Wie schließlich läßt es sich erreichen, daß die etwa ausgezeichnete Bewußtseinsform durch gezielte Sozialisations- und Bildungsverfahren tatsächlich i n die Köpfe der Menschen hineingelangt? Diese Fragen verlassen noch stärker als die bisher erörterten den konventionell-juristischen Bereich. Sie führen direkt i n die Psychologie, die Sozialpsychologie und die Pädagogik. Ein Bewußtsein, das die Fähigkeit haben soll, intersubjektiv akzeptierte und langfristig befriedigende Werte zu finden und die Auswirkungen dieser Werte auf die Betroffenen i n sich allein vorwegzuempfinden — ein solches einzelnes Bewußtsein muß i n sich selbst so organisiert sein, daß es gewissermaßen „ f ü r alle" erkennt und denkt, empfindet und wertet, entscheidet und plant. Das Bewußtsein muß so empfinden bzw. arbeiten, als stecke es gewissermaßen zugleich i n der Haut „aller" und nicht nur i n der eigenen, oder es muß so arbeiten, als steckten alle anderen i n ihm, — als seien alle anderen i n i h m repräsentiert, derart, daß die internen Repräsentanten der anderen den Erkenntnis- und Wertungsprozeß i m Bewußtsein intern mitbestimmen. Diese Leistungen des Bewußtseins setzen voraus, daß der betreffende Mensch fähig ist, sich von seiner Gegenwart hypothetisch zu lösen und sich i n die Zukunft hineinzuversetzen, i n der die Folgen seines Handelns eintreten. Er muß auch fähig sein, sich von seinen eigenen engen Interessen zu lösen und stattdessen das auf seinen Erkenntnis« und Wertschätzungsprozeß w i r k e n zu lassen, was man als „Gemeininteresse" bezeichnet. Kurz: das Bewußtsein des Menschen, der dabei ins Auge gefaßt wird, muß die Fähigkeit besitzen, die Welt
V I I . Normierung des gesellschaftlichen Prozesses
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nicht nur durch die eigenen, sondern auch durch die Augen der anderen zu sehen, und es muß nicht nur mit den anderen sehen und empfinden, sondern es muß auch noch besser als die anderen sehen und für alle empfinden. Was i m vorigen Absatz angedeutet worden ist, betrifft das praktischpsychotechnische Metaproblem zur Frage der Wertsetzung und Normerzeugung. Dieses Problem ist durch norm- und werttheoretische Spekulationen nicht zu lösen; es kann nur i n Zusammenarbeit m i t den betroffenen empirischen Spezialdisziplinen gelöst werden. Was ich i n diese Zusammenarbeit noch miteinbringen und zur Diskussion stellen könnte, ist ein Bewußtseinsmodell, mit dem die vom Bewußtsein geforderten Leistungen wenigstens modelltheoretisch durchgespielt werden können. Von diesem Modell w i r d i m 5. Kapitel die Rede sein.
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Viertes Kapitel
Zur ethischen Fundamentierung: Operationale Überlegungen zur Wert- und Normenfindung W i r müssen erkennen, bis zu welchem Grade w i r Schöpfer unsrer Wertgefühle sind — also „ S i n n " i n die Geschichte legen können. Friedrich Nietzsche 1
Dieses Kapitel könnte auch unter der Überschrift stehen: Operationale Propädeutik zur Ethik, — jedenfalls seiner Ausrichtung nach, wenn auch nicht schon darin, den Anspruch, der i n einer solchen Überschrift läge, einzulösen. Es geht weniger u m die „Substanz" und viel eher u m den Effekt von Werten und Normen. U m dabei den „springenden Punkt" zu verdeutlichen, w i r d versucht, das Problem nicht nur theoretisch-abstrakt i m Jargon einer modernen Fachsprache zu „thematisieren", sondern es ganz bewußt durch nicht alltägliche Perspektiven und i m Wissenschaftsbetrieb ungewohnte Bezugnahmen anschaulich zu vermitteln. I n dieser Darstellungsweise erhält sich zugleich der Vortragscharakter 2 , den die folgenden Ausführungen an sich haben, w e i l sie als Beitrag zu einem Symposion über Wert- und Normenfindung i n Bildung und Wissenschaft konzipiert wurden. Die ungewohnte Perspektive, m i t welcher das Problem aufgerissen werden soll, ist die von „ L u g und Betrug". Diesen Ansatz bei Täuschung und Schein gilt es zunächst zu erläutern: Täuschung und Schein liefern meines Erachtens den Angelpunkt, von welchem aus die Welt der Werte und Normen theoretisch und praktisch aus den Angeln gehoben werden kann, — von dem aus daher auch wichtige operationale 1 F. Nietzsche, Werke i n drei Bänden, hrsg. v. K . Schlechta, München 1966, Bd. 3, S. 918, dort auch: „Dieser Glaube an die Wahrheit geht i n uns zu seiner letzten Konsequenz — i h r wißt, w i e sie lautet — : daß, w e n n es überhaupt etwas anzubeten gibt, es der Schein ist, der angebetet werden muß, daß die Lüge — u n d nicht die Wahrheit — göttlich ist!" 2 Klausurtagung des Instituts f ü r Wissenschafts- u n d Planungstheorie des Forschungs- u n d Entwicklungszentrums f ü r objektivierte L e h r - u n d L e r n verfahren GmbH, Paderborn, über „Werte u n d Normen künftiger Bildungsp o l i t i k " i n B a d Lippspringe, 2. - 4. 10. 1974. Die Beiträge dieser Tagung erscheinen unter dem T i t e l „Methoden u n d Normen f ü r eine bedarfsorientierte Bildungsplanung", Paderborn, i m Druck, hrsg. von H. Stachowiak.
I. Systemanalyse, Indifferenzen, Täuschung u n d Schein
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Einsichten erschlossen werden können (unten I.). Der Ansatz bei Täuschung und Schein lenkt die Aufmerksamkeit auf die subjektive Welt und führt von der extravertierten zur auch introvertierten Wert- und Normensuche (unten II.). Daraus ergeben sich Einsichten zur Frage nach der Befriedung und nach der Friedlosigkeit der Menschen (unten III.) sowie zu prozeduralen (Verfahrens-)Werten und ihren strukturellen Problemen. I. Systemanalyse, Indifferenzen, Täuschung und Schein I n seiner bekannten Einführung i n die Systemanalyse macht C. West Churchman am Schluß einige verblüffende Bemerkungen 3 , mit denen er seine Leser davor warnen w i l l , die neue Technik der Systemanalyse zu gläubig und zu engherzig hinzunehmen. Dort heißt es: „Die Endbedeutung der Systemanalyse besteht daher i n der Schaffung einer ,Täuschungstheorie 4 u n d i n einem größeren Verständnis der Wege, auf denen der Mensch getäuscht werden k a n n i m Hinblick auf die Welt u n d die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Standpunkten." „ V o n w e m auch i m m e r ein Systemproblem gelöst w i r d , sei es ein Planer, ein Wissenschaftler, ein Politiker, ein Antiplaner oder sonst wer, die L ö sung ist falsch, u n d sogar gefährlich falsch. I n jeder Lösungsmethode für ein System steckt eine Täuschung."
Das ist eine drastische Weise auszudrücken, daß komplexe Systeme nie ganz, sondern immer nur unter einzelnen Problemperspektiven und Systemreferenzen i n den Blick kommen, während das Übrige hinter dem Horizont der Wahrnehmungen i n der Latenz abgeschatteter Bereiche verschwindet. Niklas Luhmann z. B. behandelt die entlastendwohltuende Wirkung selektiver „Scheuklappen", die i n diesen Zusammenhang gehört 4 . Daher ist es wichtig, daß der Systemanalytiker sich darin schult, die Perspektiven zu wechseln, so daß Churchman zu dem Schluß kommt: „ M a n k a n n das auch so ausdrücken, daß die Systemanalyse m i t der P h i losophie beginnt, w e i l sie die Möglichkeit gibt, die Welt m i t den Augen eines Plato, eines Leibniz oder eines K a n t zu sehen."
Kein Wunder, daß Churchman als Lektüre für angehende Systemanalytiker außer den schon genannten Klassikern noch Aristoteles und Thomas von Aquin, Hobbes und Descartes, Spinoza und Hegel, Marx und andere mehr empfiehlt. 3 C. W. Churchman , Einführung i n die Systemanalyse, München 1971, S. 131 - 135 (The Systems Approach, New Y o r k 1968). 4 N. Luhmann, Soziologische Aufklärung, 3. Aufl., Opladen 1972, S. 120: „ I n gewissem Sinne beruht demnach alle S t r u k t u r auf Täuschung — auf Täuschung über die wahre K o m p l e x i t ä t der Welt." Dem ist freilich entgegenzuhalten, daß es auch Strukturen gibt, die da waren, bevor Menschen lebten u n d bevor es „Täuschung" gab.
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Ist — wiederum nach Churchman — das kritischste Problem das, die Systeme zu verstehen, i n denen w i r leben, so sollten i n der Liste die großen Dichter und Dramatiker nicht fehlen, die sich durchweg mit den systemischen Situationen auseinandergesetzt haben, i n denen Menschen leben: Sie haben diese Situationen analysiert und paradigmatisch dargestellt, oft auch für und auf Bühnen simuliert. Ihre dramaturgische Technik ist so paradigmatisch, daß selbst die moderne, systemtheoretische Soziologie nicht ohne die Figur der Rolle auskommt, deren Vorläufer i m Problemsimulator „Theater" zu Hause ist. Das Spiel auf den Brettern, die die Welt bedeuten, ist selbst ein lebendiger Schein m i t praktischen Effekten: Unterhaltung, oft aber auch mehr oder weniger direkte Belehrung, Agitation, Anregung. — Daß den Dichtern das begleitende systemanalytische Theoriebewußtsein fehlte, muß kein Nachteil sein, denn — auch das lehrt die Systemtheorie — begleitende Reflexion kostet Aufmerksamkeit, und Aufmerksamkeit ist knapp. Man darf sogar erwarten, daß manche systemtheoretisch-naive Analyse aufschlußreicher ist als die eine oder andere moderne systemanalytische Schaumschlägerei, bei welcher zu neun Zehnteln nur das eigene begleitende systemanalytische Bewußtsein protokolliert, die Sache selbst aber allenfalls oberflächlich angeritzt wird. W i l l man sich also dadurch anregen lassen, daß man durch die Augen anderer schaut, und w i l l man Anregungen zu Fundamentalfragen unserer Zeit, so braucht man sich nicht zu scheuen, auf große Werke zurückzugreifen. Ich möchte Sie daher i n die letzten Szenen des Faust von Goethe versetzen: Faust ist, nachdem die Sorge i h n besucht hat, erblindet A l l e i n i n seinem Innern leuchtet helles Licht; sein Geist glüht von Plänen: Landgewinnung i m Meer, Sumpfentwässerung, Räume für Millionen. Arbeitermassen sollen herangeschafft werden: Strenges Ordnen, rascher Fleiß. Ziele, Planung, Planverwirklichung, Erfolgskontrolle: FAUST: M i t jedem Tage w i l l ich Nachricht haben, Wie sich verlängert der unternomm'ne Graben. MEPHISTOPHELES : M a n spricht, w i e man m i r Nachricht gab, V o n keinem Graben, doch v o m Grab.
Die Lemuren schaufeln an Fausts Grab. Das Geklirr ihrer Spaten ergötzt ihn. Ihre Regsamkeit regt ihn zu der Vision vom freien Volk auf freiem Grund an, der er sich hingibt. FAUST: I m Vorgefühl von solchem hohen Glück Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.
I. Systemanalyse, Indifferenzen, Täuschimg u n d Schein
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MEPHISTOPHELES : I h n sättigt keine Lust, i h m gnügt kein Glück, So b u h l t er fort nach wechselnden Gestalten; Den letzten, schlechten leeren Augenblick, Der A r m e wünscht i h n festzuhalten.
Der Faust ist eine Tragödie und vielleicht eine große Prophetie, — sozusagen Futurologie i n dichterischer Szenarien-Technik: Der Mensch als Faust ist am Ende seines rastlosen Strebens von der wirklichen Erfüllung seiner Wünsche weiter entfernt denn je. N u r weil er mit Blindheit geschlagen ist, kann er den Aktivismus genießen, der sein Grab bedeutet, und Befriedigung verschafft i h m die Einbildung: Täuschung und Utopie zugleich. Damit b i n ich wieder bei der „Täuschungstheorie" 5 . Aber bei dem Faust kommt es m i r weniger auf die Negativposten an, nicht auf die Diagnose der Blindheit, der Täuschung und der Utopie. Immerhin stirbt nur der Faust, und es bleibt offen, als was der Mensch nach Fausts Tod leben w i r d (obgleich man selbst dazu Andeutungen suchen könnte). Es kommt m i r vielmehr darauf an, daß Faust wirklich den höchsten A u genblick erlebt und genießt, — und das auf Grund eines sehr geringen Aufwandes, wenn man es m i t dem vergleicht, was i h n vorher unbefriedigt ließ und was er schließlich plante. Man könnte von einem extrem günstigen Kosten-Nutzen-Faktor sprechen: U m den Menschen vom Zuschnitt des Faust zufriedenzustellen, genügen schließlich seine Blindheit und der akkustische Abfall seiner Totengräberei. Bei der systemanalytischen „Täuschungstheorie" w i r d man also nicht nur an funktionale Wahrnehmungshorizonte und Indifferenzen erinnert, sondern an das ganze Reich der Einbildungen und des Glaubens. Daran fasziniert unter operationalem Aspekt die Möglichkeit, vermittels der Organisation und Verinnerlichung von Ein-Bildungen psychische Zustände und Verfassungen zu manipulieren und insbesondere das Anspruchsniveau der Ziele, Werte und Normen zu beeinflussen. Während ζ. B. i n den Kirchen gelehrt wird, sich bei den äußerlichen Reichtümern zu beschränken: „ I h r könnt nicht Gott dienen und dem Mammon", zielt die Werbung darauf, Gelüste zu wecken und zu steigern. (Während die einen bremsen, geben die anderen Gas: ein Verschleiß, der auf Wertschätzungsdivergenzen beruht, die i m psychischen Bereich wurzeln.) Genau hier liegt das Feld, wo die Weichen der Wert5 Eine groß angelegte Täuschungstheorie k a n n man schon i n dem Konzept von H. Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob, B e r l i n 1911, sehen, w o sich i n s t r u k t i v e weitere Hinweise insbesondere zu K a n t u n d Nietzsche finden. — Wie auch i m dialektischen Materialismus die „Realität des Scheins" v e r traut ist, zeigt beiläufig an der Manipulation W. R. Beyer, Der interessanteste J u b i l a r des Jahrganges 1902: Lenins Schrift „Was tun?" i n : Dt. Ztschr. f ü r Philosophie 20 (1972), S. 1337 - 1359, 1349.
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und Normenbildung gestellt werden, wo also auch der archimedische Punkt einer wertorientierten Bildung und Wissenschaft liegt. Es hat keinen Sinn, u m den heißen Brei herumzulaufen und sich m i t dem Warnruf: „Manipulation!" einschüchtern und davon abbringen zu lassen, hier weiterzumachen. Wie der A r z t den Anblick von Blut, so muß der Systemanalytiker hier den Gedanken der Manipulation ertragen, ohne daß i h m schwindelig wird. Die heftigsten Vorwürfe kommen ohnehin von denen, die selbst Routiniers der Manipulation sind und u m ihre Positionen auf eben diesem Felde fürchten. Wer weiß zudem, ob unsere eigenen Treibsätze an Wertvorstellungen sich i n den Augen späterer Generationen nicht zum Teil als Verrücktheiten erweisen werden, neben denen alte Götzenvorstellungen und Glaubensinhalte sich wie harmlos-kindliches Spielzeug ausnehmen? Denn wenn w i r uns als i m modernen Sinn Besessene erweisen, so dürfte es uns schwer fallen, uns selbst zu ent-täuschen. W i r würden nämlich die Besessenheit als Freiheit erfahren und auch so nennen. Der erste Schritt der Selbstanalyse führt i n die operationalen Techniken der Manipulation, m i t deren Hilfe Alternativen denkbar und daher auch die Befangenheiten i n einer Alternative schneller bewußt werden können. Was die Religion u n d die Religionskritik angeht, so ist übrigens der U m stand der Erwähnung wert, daß K a n t u n d Hegel, w e i l sie zu den weniger hitzigen Philosophen gehörten, i n ihren jeweiligen praktischen Philosophien ζ. T. mehr Sinn für operationale Strategie u n d T a k t i k an den Tag legten als die Linkshegelianer u n d insbesondere mehr als die meisten praktisch-überpraktischen Marxisten. Sie wußten nicht nur, daß aus praktischen Gründen ein Glauben unerläßlich ist, sondern machten sich auch gründliche Gedanken darüber, w i e der Glaube beschaffen sein mußte, u m Mängel der überlieferten Religionen zu vermeiden. Hier sei an Kants Gottesbeweis u n d an seine Idee von einer Geschichte des Menschengeschlechts i n weltbürgerlicher Absicht erinnert, sowie an Hegels Erkenntnis, daß der Schein dem Wesen wesentlich sei u n d daß die Erkenntnis sich nicht n u r nach dem Gegenstande füge, sondern i h n auch forme u n d präge. Mag das Letztere sich f ü r positivistisch-analytisch trainierte Ohren anhören w i e Spiritualismus u n d Psychokinese: F ü r den sozialen Bereich u n d erst recht f ü r operationale Disziplinen gehört es allmählich zu den Binsenwahrheiten, daß das Verhalten davon abhängt, w i e die Situation (ausdrücklich oder unbewußt) definiert wird®, so daß auch die Situation selbst auf dem Wege über das Verhalten davon abhängt, w i e sie erkannt, gesehen u n d definiert w i r d . I n A b w a n d l u n g des Spruches von L u t h e r : „ W i e ihr's glaubt, so habt ihr's" 7 , könnte es heißen: Wie i h r die Situation definiert, so habt i h r sie 6 W. Kirsch, Entscheidungsprozesse, 3 Bde., Wiesbaden 1971/72, Bd. 2, S. 136 -162; D. Suhr, Β e wußtseins Verfassung u n d Gesellschaftsverfassung, B e r l i n 1975, S. 226 - 234. 7 M. Luther, bei L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Sämtl. Werke (hrgs. von W. B o l i n / F. Jodl), Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, Bd. 6, S. 152.
I I . Extravertierte u n d introvertierte W e r t - u n d Normensuche
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(wenn m a n einmal von Bumerang-Effekten u n d „Verkehrungen", die i n der Tücke des Objekts liegen, absieht). Planung überhaupt vollzieht sich technisch auf dem Weg über Definitionen künftiger Situationen, die zunächst n u r Einbildung, i n gewissem Sinne also n u r Täuschung sind. Insofern ist Planung auch die Fähigkeit, m i t den eigenen Vorstellungen gegen den Strom der Ereignisse zu schwimmen u n d dann diese Täuschungen kontrafaktisch durchzusetzen. So w i r d das innerlich E i n Gebildete schließlich der Wirklichkeit ein-gebildet. Ob es so herauskommt, w i e es gewollt war, u n d ob es uns dann noch gefällt, sind ebenfalls Fragen von alter Tradition.
II. Extravertierte und introvertierte Wert- und Normensuche Die Frage nach Werten und Normen läuft also, wenn man weniger auf den Inhalt und mehr auf den Effekt abstellt, auf die Frage hinaus, wie man Menschen subjektiv-innerlich zufriedenstellen und befrieden —, oder auch, wie man sie friedlos, rastlos und daher leistungsfähig machen kann. Alle diese Fragen zielen auf das Innere: auf das, was den Menschen „ein-gebildet" wird, damit diese Ein-Bildungen sie beherrschen. Wenn w i r gar nicht anders können, als unter irgendwelchen eingebildeten Treibsätzen und Gestalten zu leben, zu empfinden und zu handeln, stellt sich die Frage nach der „Emanzipation" anders als meist gedacht wird. Emanzipation ist dann jedenfalls nicht das Anrennen gegen die Beherrschung durch Ein-Bildungen. Ein solches Gegenanrennen hätte als Treibsatz wiederum die Ein-Bildung, es ginge ohne Einbildungen. Emanzipiertheit heißt dann, sich des Programmiertseins durch Ein-Bildungen bewußt zu sein und bedachtsam an dem zu arbeiten, was uns als Ein-Bildung beherrscht und was w i r vielleicht durch andere Ein-Bildungen ersetzen sollten, die unserem eigenen Glück und unseren Überlebenschancen günstiger sind als die derzeitigen Ein-Bildungen. Während manche landläufige Vorstellung von Planung, Zukunft und Fortschritt sich recht gut auf die alte Formel bringen läßt: „Macht Euch die Erde Untertan!" würde sich eine Analyse und Planung, die sich auf die Ein-Bildungen konzentriert, auf die Formel bringen lassen: „Macht Euch die Strukturen, denen I h r als Euren Ein-Bildungen Untertan seid, bewußt, — und macht sie Euch Untertan, — und zwar so, daß sie Euch glücklicher machen als bisher und verhängnisvolle Treibsätze Eurer Ein-Bildungen entschärft werden!" Damit w i r d die Planung von der äußerlichen Welt, die w i r unseren Wünschen gemäß „machen" wollen, zwar nicht restlos abgezogen. Aber sie w i r d doch umorientiert — auch — auf die innere Welt, der unsere Wünsche ein-gebildet sind und werden. Damit verschieben sich die Ansätze und Prioritäten. Man könnte von einer Wendung nach Innen sprechen, wie bei Horst E. Richter, dessen Buch Lernziel Solidarität 8 8
H. E. Richter, Lernziel Solidarität, Reinbek bei Hamburg 1974.
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vielleicht auch deshalb so sehr auf Interesse stößt, w e i l es diese Wendung zum Gegenstand hat und daran arbeitet. M i t der Wendung nach Innen konzentriert sich das theoretisch-analytische und das praktisch-technische Interesse auf den subjektiv-innerlichen Vorlauf menschlichen Verhaltens und auf das subjektiv-innerliche Echo auf Eindrücke (sei es, daß sie von außen, sei es, daß sie ihrerseits von innen her ausgelöst werden). Darüber hinaus w i r d der ganze Kreis des Prozesses bewußt, der von den Binnenstrukturen des psychischen Apparates über die Motive, Bedürfnisse, Werte, Ziele nach draußen und von dort über die Erfahrungen und Eindrücke wieder nach drinnen zu den Strukturen des Inneren, zu den Motiven usw. führt. Es können also generelle Eigenschaften analysiert werden, die m i t diesem Kreis von Strukturen, Motiven, Handlungen usw. verbunden sind. Es ist bekannt, daß i n Rückkopplungsschleifen eine ganze Reihe von Vorgängen vorkommen, die für das betroffene System höchst unterschiedliche Auswirkungen haben können: Schwingungen schaukeln sich hoch oder werden gedämpft; Regulierungsversuche sind erfolgreich oder schlagen fehl usw. — Wiederum zwingt dann die Wendung nach Innen dazu, danach zu fragen, wie der Betroffene und wie w i r uns i m allgemeinen zu den subjektiven Erlebnissen solcher Prozesse verhalten: ob w i r sie wertschätzen oder aus bestimmten Gründen ablehnen usw. N i m m t beispielsweise jemand Nahrung zu sich, k o m m t es nicht n u r darauf an, daß sich rein physisch sein Magen f ü l l t u n d er lebensnotwendige Stoffe zu sich n i m m t , sondern vor allem darauf, ob er dadurch auch subjektiv-psychisch satt wird oder ob sein Hunger weiterläuft w i e ein Roboter, der sich nicht mehr auf dem normalen Wege abstellen läßt. Ist Letzteres der Fall, n i m m t der Betroffene mehr zu sich, als er braucht, u n d oft auch mehr, als f ü r seine Gesundheit gut ist. Vielleicht sogar stachelt die psychische E r traglosigkeit des Aufwandes dazu an, noch mehr zu sich zu nehmen, bis die organisch-physische Verträglichkeitsgrenze erreicht w i r d u n d das U n w o h l sein auch psychische Barrieren auslöst, die den A m o k l a u f stoppen. — Hier könnte ein Planer, der n u r den oberflächlichen Hunger sieht, versuchen, die Menge u n d Qualität des Essens zu maximieren u n d zu optimieren, — w o h l auch die persönlichen Geschmacksrichtungen u n d Präferenzen des Betroffenen zu erforschen u n d i h n danach zu versorgen. U n d doch w ü r d e durch diesen Optimierungsaufwand das eigentliche Problem nicht n u r verfehlt, sondern vergrößert. Der Planer würde gewissermaßen der Besessenheit des Beplanten aufsitzen u n d daran teilhaben.
Ich habe das Beispiel von dem Unersättlichen gewählt, weil es als Paradigma für unsere Problematik dienen soll und auch recht gut zum Faust (Sorge, i m 5. A k t des II. Teiles) paßt: U n d er weiß von allen Schätzen, Sich nicht i n Besitz zu setzen. Glück u n d Unglück w i r d zur Grille, Er verhungert i n der Fülle.
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Das ist ein Amoklauf der Bedürfnisse, bei dem sich die Schere zwischen faktischem Aufwand und psychischer Ertraglosigkeit immer weiter öffnet 9 . Die Menschheit kann sich solche Verrücktheiten u m so weniger leisten, je schneller w i r dadurch die Schätze an Rohstoffen erschöpfen, den Reichtum an biologischer Vielfalt dezimieren und unsere Lebenswelt vergiften, während w i r gleichzeitig unsere eigenen Daseinskräfte so weit reduzieren, daß w i r kaum noch anders als m i t dauernden medizinischen Krücken existieren können. I n dem Maße, wie die äußerlich-faktischen Grenzen unserer Gattungsexistenz spürbar werden, werden uns nach mehr oder weniger schmerzhaften Lernprozessen auch allmählich die Leitwerte nicht mehr „schmecken", die derzeit noch unsere Treibsätze ausmachen. Ob und wie früh w i r von diesen Leitwerten abkommen wie Heidnische von ihren Götzen, hängt auch von der systemanalytischen Energie ab, m i t der die einschlägigen Scheren-Mechanismen analysiert, dargestellt, bewußt gemacht und gedämpft werden. — Es scheint, als hätten die Menschen eine A r t Überhang an psychischer Kapazität und als wüßten sie nicht recht, wohin damit, so daß es sich gleichsam um vagabundierendes psychisches Kapital handelt, das zum Wohle aller und eines jeden oder auch nur einiger raffinierterer Strategen der Psychotechnik eingesetzt werden kann. N u r wenige können über diesen ihren Überhang an psychischer Kapazität einigermaßen bewußt verfügen, zumal schon lange vorher darüber weitgehend durch Lern- und Sozialisationsprozesse verfügt worden ist. Spätere Umstrukturierungen sind außerordentlich mühselig, und es ist zusätzlich schwer, sich anderen Werten zu unterstellen als denen der meisten anderen, ohne sich zu isolieren und auf der Strecke zu bleiben. Der Umgang m i t dem Überhang an psychischer Kapazität ist freilich ein Spiel mit dem Feuer. Doch Waldbrände kann man oft nur mittels Feuer unter Kontrolle bringen. Aber wenn je bei Planung Optimismus fehl am Platze und Bedachtsamkeit geboten ist, dann hier. Das Material, u m das es geht, ist so zäh und nachgiebig, so träge und brisant zugleich, so tückisch und noch so unberechenbar, daß außerordentliche Vorsicht geboten ist. Das große Lehrbuch ist die Geschichte. Aber diese Bedachtsamkeit darf andererseits nicht dahin führen, daß die Verplanung und Dressur der psychischen Kapazitäten aus Angst vor der eigenen Courage letztlich immer wieder denen überlassen bleibt, die derlei Skrupel nicht, wohl aber ihren Vorteil kennen. Es darf ζ. B. nicht dazu 9 Den Schereneffekt zwischen subjektiver Gesellschaft u n d objektiver Gesellschaft, — zwischen Erwartungen u n d Wirklichkeiten hat H. Klages, Die unruhige Gesellschaft, München 1975, vorzüglich beschrieben: E i n Buch, das zum gründlichen Nachdenken anregen u n d i n praktische Konzepte umgesetzt werden sollte.
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kommen, daß unter dem Vorwand, die innere Befriedigung zu fördern, den vielen die Bedürfnisse heruntergesetzt werden, damit wenige sie u m so freier sprießen lassen und befriedigen können. Das wäre das berüchtigte „Opium des Volkes". Ähnlich ist der Zustand, daß den Massen Bedürfnisse suggeriert werden, so daß aus ihrer Rastlosigkeit ein Aufwand getrieben wird, von dessen Ertrag wiederum Abschöpfungen möglich sind, u m wenigen das zu ermöglichen, was wiederum die vielen anspornt wie den dummen Esel die Distel vor der Nase. I n einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit allen Ernstes von einem Überhang an psychischer Kapazität zu sprechen, mutet allerdings verwegen an, wenn man berücksichtigt, wie gründlich sich die Überzeugung von der grenzenlosen und steigenden Komplexität der Welt allmählich i n den Köpfen durchsetzt: von der unerschöpflich-unheimlichen Komplexität, welche die letzten Reserven knapper Aufmerksamkeit absorbiert. Der Wirklichkeitsdruck eskaliert zum Komplexitätsdruck 1 0 . U m Komplexität zu reduzieren, ist so gut wie alles recht. Man kann die Systemtheorie als eine A r t sozialwissenschaftlicher Notstandstheorie und Notstandstechnik gegen die Komplexität betrachten, — jedenfalls ihre Luhmannsche Variante. U m von Komplexität zu entlasten, werden Scheuklappen und Wahrnehmungsbegrenzungen propagiert und legitimiert. Gepriesen sei, was entlastet: Indifferenzen; generalisierte Medien; Abbau von Gefühlen, die die Kommunikationskanäle diffus verkleben und verkletten; und Abbau von Konsistenzanforderungen, die die arme Persönlichkeit überbeanspruchen könnten, wenn sie sich u m des Systems willen i n Rollen zerreißt, die kaum miteinander kompatibel bleiben, sobald man sie bewußt zur Persönlichkeit integrieren wollte. Und alle Reduktion von Komplexität — steigert das Tempo, steigert die Leistungsfähigkeit des Systems, steigert die Komplexität. Kann man angesichts der eskalierenden Komplexität von einem Überhang und von Reserven psychischer Kapazitäten sprechen? Läuft allein der Gedanke daran nicht auf subtile Sabotage am gemeinsamen Werk der Reduktion der Komplexität hinaus? Man kann davon sprechen! Denn die Treibsätze, die uns zum Kreuzzug wider die Komplexität treiben und uns i n immer größere Komplexitäten hineinschieben, sind m i t Kapital aus diesen Reserven an psychischer Energie finanziert. Unerbittlicher und unausweichlicher denn je verweist die praktische Problematik aufs Innere. Warum nach draußen hasten? — Die Weichen liegen i m Inneren. 10 Oft scheint es, als sei schon das Stadium eines Komplexitätsfatalismus erreicht.
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Jeder für sich selbst kann an sich selbst beobachten, wohin es i h n treibt: Wohin ihn die eigenen Antriebe drängen und wohin ihn die Erwartungen der anderen zerren und pressen. Er kann spüren, ob er Zeit hat für seine Kinder oder für sein Auto, für die Menschen oder für seine Karriere, für Verschleiß und Konsum oder für weniger aufwendige Freundschaften und Freuden. Er kann sein Leben komplizieren, indem er viel Vergangenheit i n sich hineinfrißt, viel Gegenwart oder viel Zukunft usw. Unter dem Aspekt der Bildung und Wissenschaft freilich stellt sich dann die Frage, wie weit man den psycho-sozialen Prozeß, i n dem sich die Werte und psychischen Treibsätze bilden, entwickeln und i n dem sie wirken, sich selbst überlassen und inwieweit man diesen Prozeß beeinflussen kann und soll. Wie weit er beeinflußbar ist, muß empirisch untersucht werden. Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, daß es eine ganz entscheidende Rolle spielt, ob und woran w i r glauben: ob w i r glauben, da sei doch nichts zu machen, oder ob w i r überzeugt sind, daß etwas zu machen ist. Denn was w i r t u n und ob w i r etwas tun, hängt von diesen Überzeugungen ab. Schon auf dieser ersten Stufe sind daher treibende oder hemmende psychische Strukturen des Innern, also Werte oder Ähnliches i m Spiel, so daß Optionen fällig werden. Da ist es dann gut, wenn das Angebot wenigstens an Denkbarkeiten nicht zu spärlich ist. Unterstellt also, es werde dafür optiert, das psychische K a pital nicht dem laisser faire allein zu überlassen, sondern m i t Vorsicht und Bedacht sinnvoll-bewußt zu lenken: Wohin damit? Wenn ich jetzt zur Diskussion stelle, psychischen Überhang i n mehr direkte Mitmenschlichkeit zu investieren, so heißt das zu einem guten Teil Abbau von funktional „sinnvollen" Indifferenzen und Import von Problemen. Trotzdem kann man sich j a einmal m i t dysfunktionalen Dingen beschäftigen. Mitmenschlichkeit heißt nicht, daß mehr Interaktion stattfinden solle, sondern vor allem, daß mehr emotionaler Aufwand investiert w i r d : Mitfreude und Mitleid, Miterwartung, Miterinnerung, Mitgehen, Mitspielen, Mitlachen, Mitweinen usw. Wenn es gelänge, den psychischen Apparat so zu organisieren, daß er sensibel würde für das Leid und — vor allem! — für die Freude anderer, und zwar derart, daß fremdes Leid eigenes induziert und — vor allem! — fremde Freude eigene 11 , so brauchte man sich so bald keine Sorge mehr zu machen um den Verbleib des psychischen Überhanges. Denn der wäre schnell voll absorbiert. Dafür sorgt ein Mechanismus, der nach einer scheinbar parado11 Vgl. zu der Bewußtseinstheorie, die diesen Zeilen zugrunde liegt, unten K a p i t e l 5 u n d D. Suhr, Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung, S. 292 ff.
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xen Logik funktioniert: Mitfreude ζ. B. bedeutet, daß Freude, welche an sich nur punktuell und individuell vorkommt, sich auf rein psychischem Wege vervielfältigt. Und nicht nur dies: Die Mitfreude kann ihrerseits bei dem, der sich zuerst gefreut hat, Mitfreude zweiten Grades auslösen, also die erste, einfache Freude verstärken. Solche positive Rückkopplung kostet fast nichts. Dafür, daß dies nicht nur Theorie ist, sondern empirisch erfahrbare Wirklichkeit, spricht, daß der Volksmund sagt: „Geteilte Freude ist doppelte Freude." Vergleichbare Überlegungen lassen sich zum Mitleid anstellen, wo jedoch Mechanismen wirksam werden können, die zu der Feststellung führen: „Geteiltes Leid ist halbes Leid." Die Reproduktion von Leid durch Mitleiden ist vor allem deshalb operational wichtig, weil sie zur Solidarität i m Leid und auf diesem Wege eher zur Abhilfe führt, weil nicht nur der unmittelbar Betroffene betroffen ist, sondern auch die anderen, deren psychischer Apparat so organisiert ist, daß sie nicht anders können, als sich mitbetroffen zu empfinden. Bei der Mitfreude spielen sich also Vorgänge ab, die bewirken, daß dieser psychische Reichtum sich vermehren kann, indem er genossen wird. Das ist die operationale Logik von Festen 12 , die man bekanntlich schlecht alleine feiern kann. Diese Logik zeigt, daß es Prozesse gibt, bei welchen sich die Schere zwischen äußerlichem Aufwand und psychischem Ertrag nicht immer weiter öffnet, sondern bei denen der psychische Ertrag selbst bei konstantem oder sinkendem äußerem A u f wand steigen kann; denn der Ertrag ist nicht mehr nur eine Funktion lediglich des eigenen, unmittelbaren Genusses, sondern auch eine Funktion dessen, was andere genießen und empfinden. I m Grunde sind die Freude und das Leid, die dabei induziert werden, Empfindungen, die dem Mitleidenden und dem sich Mitfreuenden nur vorgetäuscht werden, die aber, als vorgetäuschte Empfindungen, wirkliche Empfindungen sind. Es ist der Schein der fremden Regungen 13 , der i n den Betrof12
Hierher gehört auch die Freude am Spiel als Spiel. — K . J. Arrow, Social Choice and I n d i v i d u a l Values, New Haven, London 1970, k l a m m e r t i n seiner bekannten Studie gerade alle Spielgesichtspunkte aus (S. 6). I m A n hang (S. 104) geht A r r o w jedoch von der Wohlfahrtsfunktion über zu dem Prozeß, welcher aus individuellen Entscheidungen soziale werden läßt. Er spricht von der Verfassung (constitution) dieser Prozesse, so daß am Ende m i t der Verfassung von Prozessen zumindest so etwas Ähnliches w i e Spielregeln doch noch i n den Blick kommen. — Daß die moderne Entscheidungsforschung je länger desto mehr Interesse an den Entscheidungsverfahren findet, entspricht dieser Richtung der theoretischen Überlegungen. 13 Entsprechende Überlegungen gelten für die Freude an gemeinsamen Werken u n d f ü r den Genuß an Kunstwerken, die sich nicht durch den Genuß i n Nichts auflösen. W i r hingegen sind heute weitgehend darauf dressiert, als Genuß n u r gelten zu lassen, was beim Verbrauchen u n d Vertilgen erlebt w i r d . V e r t i l g t w i r d auch etwas beim Heiligen Abendmahl, doch hier w i r d der Vorgang zum Symbol u n d Auslöser f ü r psychische Ereignisse und verdient vielleicht paradigmatisches Interesse unter operationalem Blick-
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fenen hineinscheint und dort, wenn der psychische Apparat entsprechend organisiert ist, die entsprechenden Regungen auslöst. Diese M i t menschlichkeit beruht insoweit auf Täuschung und Schein. I n diesem Sinne ist der Schein dem Wesen der Mitmenschlichkeit wesentlich. So gelangen wir, die w i r von Churchmans Postulat einer Täuschungstheorie ausgegangen sind, zur operationalen Psychologik der Mitmenschlichkeit. Die Frage an die Wissenschaft, insbesondere an Psychologie und Sozialpsychologie, lautet dazu, unter welchen Sozialisationsbedingungen die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, daß menschliches Bewußtsein nach der Psychologik der Mitmenschlichkeit funktioniert. Und die Aufgabe der Bildung wäre dann, solche Sozialisationsbedingungen zu organisieren, — immer vorausgesetzt freilich, daß w i r solche Mitmenschlichkeit wollen und m i t ihren (hier latent bleibenden) Problemen fertig werden. I I I . Menschliches Glück, Befriedung, Friedlosigkeit Was also wollen w i r und was sollten w i r wollen? Seit die Verhaltensforschung sichere Erkenntnisse darüber gewonnen hat, daß nicht nur das Verhalten i m gängigen Sinne konditioniert w i r d durch Lernprozesse, sondern schon die Motive, und seit diese Einsicht ζ. B. i n die Theorie der sozialen Systeme miteingegangen ist, wissen wir, daß menschliches Wollen ein Prozeß ist, dessen Genese weitgehend durch „künstliche", erlernte, internalisierte Muster mitdeterminiert wird. Man kann also nicht gründlich über Wertschätzungen reden, ohne über diesen zumindest teilweise künstlichen Boden mitzusprechen, auf dem w i r dabei stehen. Das ist der gleiche Kreis, der schon i n der Formel steckte: „Macht Euch die Strukturen Untertan, denen I h r Untertan seid!" Und diese Formel enthält ein Gebot, eine Norm, die diesen Kreis sogar vorschreibt: ein rekursiv-reflexives Gebot, dessen Struktur für Werte und Normen höheren Organisationsgrades charakteristisch ist. Doch zunächst soll von diesen strukturellen Problemen der Selbstreferenzialität i n Verhaltensanweisungen abgesehen und die Frage nach dem, was w i r wertschätzen und daher wollen, sozusagen naiv und unreflektiert gestellt werden. Bei dem, was der Mensch erstrebt, empfiehlt es sich zu unterscheiden zwischen dem, was notwendig ist, und dem, was er für notwendig winkel. Selbst unter volkswirtschaftlichem Aspekt ist namentlich J. M. Keynes, General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936, S. 131, 230, auf ähnliche Überlegungen gestoßen: Z w e i Pyramiden, zwei Totenmessen seien doppelt so gut w i e eine, i m Gegensatz zu zwei Eisenbahnstrecken von London nach Y o r k (und zwar i m H i n b l i c k auf die A b sorbtion von Arbeit, die zur Stabilität der Volkswirtschaft beitragen könne).
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glaubt, und dem, was jeweils darüber hinausführt. Soweit es nicht u m das Notwendige geht, t r i f f t man das Problem wohl zu einem erheblichen Teil, wenn man es m i t Hegel 1 4 so formuliert: „Nicht das, was ist, macht uns ungestüm und leidend, sondern daß es nicht ist, wie es sein soll." Hier w i r d das Unbehagen nicht als absolut bestimmt gedacht, sondern als determiniert durch eine Relation oder Differenz zwischen Soll und Ist. Dadurch erscheinen nun die Erfüllung der Erwartungen oder ihre Herabsetzung als funktional äquivalente Lösungen des Problems. Auch dies ist eine uralte Weisheit, die nicht zuletzt i n fast sämtlichen Anpassungsproblemen eine Rolle spielt, die von den Sozialwissenschaften erforscht werden. Insbesondere gehört hierher der Unterschied zwischen satisfying und optimizing oder gar maximizing behavior, den namentlich H. A. Simon untersucht und verarbeitet hat 1 5 . Welche Rolle die subjektive Disponiertheit dabei spielt, zeigt sich am anschaulichsten i n der Psychologie der Geräuschempfindlichkeit: K i n derlärm, der dem einen Zeugnis prallen Lebens ist, reizt einen anderen zur Weißglut; Kirchengeläute, das dem einen Musik seines Glaubens i n den Ohren ist und dem anderen ein verfluchtes „Bim-Baum-Bimmel" (Faust), geht dem wirklichen Christen, der seinen Nächsten liebt, vielleicht nur deshalb gegen sein Inneres, w e i l er mitempfindet, wie es andere s t ö r t . . . usw. Wenn die Reduktion von Unbehagen und Unzufriedenheit durch Reduktion oder Umorganisation der Ansprüche ins Auge gefaßt wird, ergibt sich freilich wieder der Gesichtspunkt des „Opiums für das V o l k " : Es w i r f t neue Probleme der Unzufriedenheit auf, wenn ζ. B. die vielen nach der Anspruchsherabsetzungsmethode tranquilliert werden, während wenige sich der Anspruchsbefriedigungsmethode hingeben dürfen, es sei denn, es gelingt, den Glauben zu schaffen und aufrechtzuerhalten, daß das so sein müsse. Gelingt es, diesen Glauben zu schaffen und pflegen, w i r d an die Ungerechtigkeit als Sollwert geglaubt, und die Leute sind es zufrieden, bis jemand sie glauben macht, es könne und 14 Aus der Verfassungsschrift von G. W. F. Hegel (Werke i n zwanzig B ä n den, F r a n k f u r t 1970, Bd. 1, S. 463). 15 H. A. Simon, z.B. i n seiner Studie The New Science of Management Decision, New Y o r k 1960. Vgl. aber auch schon den wichtigen Begriff des „differential appetite" bei L. Festinger, Development of Differential Appetite, i n : Journal of Experimental Psychology 32 (1953), S. 226-234. Fruchtbar i n diesem Zusammenhang sind auch Festingers spätere Studien: A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford 1957 u n d 1970; Conflict, Decision and Dissonance, Stanford 1964. „Dissonanz" ist ein A n t r i e b oder „Treibsatz", der ebenso w i e sein K o n t r a p u n k t , die Konsonanz, i m Rahmen einer Bedürfnisforschung den entscheidenden Angelpunkt abgeben muß: bis h i n zur Konsonanz zwischen dem Ich u n d seinem Selbstkonzept. Vgl. zum Letzteren P. Kmieciak, A u f dem Wege zu einer generellen Theorie sozialen Verhaltens, Meisenheim 1974, S. 173 ff.
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müsse anders sein. — Es führt kein Weg vorbei an der Täuschungstheorie und an der Täuschungstechnik. Denn selbst dann, wenn es eine absolute Gerechtigkeit gäbe, müßten die Menschen zunächst kontrafaktisch dazu gebracht werden, an sie zu glauben und sie für wahr zu halten, u m aus ihrem Verhalten die Gerechtigkeit hervorgehen zu lassen, an der es vorher noch fehlte. Aber — so dürfte hier von dem einen oder anderen eingewendet werden — der Mensch wolle doch gar nicht zufrieden und durch innere Befriedung glücklich sein. Er suche sein Glück vielmehr gerade als der ratslose, unruhige, originelle, schöpferische Geist, der nach möglichst deutlichen Echos und Spuren seiner Persönlichkeit und Leistung i n der Welt strebe: sei es i m Kleinen, sei es der Traum, daß die Spur von seinen Erdentagen nicht i n Äonen untergehen soll. Zieht man von diesem Einwand das ab, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, daß dahinter die täuschenden Treibsätze einer epochal-abendländischen Ein-Bildung stehen, dürfte doch so viel verbleiben: I n der Langeweile und Monotonie einer psychotechnisch organisierten Ziel- und Anspruchslosigkeit wäre auf die Dauer auch keine Zufriedenheit zu finden, ganz abgesehen davon, daß sich physische Unbequemlichkeiten und Mängel einstellen dürften, die A k t i v i t ä t provozieren würden. U m aus diesem D i lemma herauszukommen, brauchte man so etwas wie Ziele, die erreicht werden, ohne sich dadurch zu erledigen. Es müßte ethische oder normative Vorgaben geben, die von Dauer sind, so daß man sich fest an ihnen orientieren und dadurch innere Sicherheit gewinnen kann, die andererseits aber nicht so weit weg liegen, daß sie nie erreicht werden können und es daher zu Frustrationen kommt und zu „Enttarnungen" der Utopien. Gesucht also w i r d das Paradox „ewiger" Werte, die erreichbar und unerreichbar zugleich sind. So unerfüllbar sich diese paradoxe Aufgabe auch anhören mag, sie ist zumindest formal i n einigen Bereichen recht gut erfüllbar. Und zwar läßt sie sich mit Hilfe der Techniken lösen, welche i n der klassischen Logik zu den berühmten mengentheoretischen Paradoxien führen. Was i n der Logik theoretische Kopfschmerzen bereitet, befreit die Praxis von ihnen: Reflexivität i m Sinne von Metasprachlichkeit und Selbstreferenzialität, und das Ganze nicht als abstrakte Theorie, sondern als praktisch-operationaler Prozeß, — als rekursiv-reflexive Verfahren. IV. Strukturelle Probleme bei Verfahren Daß Methoden, Verfahren und die Strukturen, die ihnen zugrunde liegen, ihrerseits als Werte bzw. Ziele aufgefaßt werden können und aufgefaßt werden, ist nicht neu. Das entschiedene Eintreten z.B. für
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den Fallibilismus als Prinzip der Forschungslogik ist ein Beispiel dafür, daß eine Methode als Norm und Regel wertgeschätzt w i r d und dadurch zum Wert gemacht wird. Ähnliches gilt von gerichtlichen Verfahrensregeln, von den Spielregeln des demokratischen Prozesses usw. Einige dieser Verfahren fungieren ihrerseits als Wertfindungsprozesse und als Normfindungsprozesse. Hier w i r d also das Problem der Wertund Normenfindung reflexiv (im Sinne von Luhmanns reflexiven Mechanismen) 16. Es geht u m die Bewertung von Bewertungsverîahren , — genauer gesagt u m die Bewertung der (Onto-)Logik, nach welcher die Stationen der Verfahren miteinander verknüpft sind. Indem Verfahren eingerichtet werden, muß Verhalten normiert werden. Und indem das normierte Verfahren zum Ziel und Wert erklärt wird, das erstrebt, eingehalten und „nicht angetastet" werden soll, erhält man erreichbar-unerreichbare Ziele: Zunächst ist das Verfahren bloß Entwurf: eine prozedurale Definition der operationalen Situation. Zunächst also ist es nur „Täuschung und Schein". Dann kommt es i n Gang nach den Normen, die es definieren. Die Täuschimg w i r d berichtigt, die Definition der Situation w i r d kontrafaktisch durchgesetzt. Der Gesetzgeber spricht: „Es werde Verfahren!" — und siehe, es ward das Verfahren 1 7 . Aber damit hat sich das Ziel nicht erledigt. Denn das Verfahren ist kein punktuelles Ziel, sondern Prozeß. Wenn es sich nämlich nicht u m die begrenzte Zahl von Schritten handelt, die i m Zuge etwa eines Projektes durchschritten werden müssen, sondern u m rekursive Regeln wie diejenigen zu demokratischen Wahlen, bleibt das Ziel auf Dauer erhalten, auch wenn es täglich erreicht w i r d 1 8 . Denn die Verfahrensregeln verhalten sich zur Praxis wie die Grammatik zur Sprache: (relativ) nichtkontingente Struktur von i m übrigen kontingenten Prozessen. 16 N. Luhmann, Reflexive Mechanismen, i n : Soziale Welt 17 (1966), S. 1 - 2 3 ; ergänzt durch entsprechende Überlegungen zur Reflexion (-in-sich): Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems, i n : Zeitschrift f ü r Soziologie 2 (1973), S. 21 - 43. 17 Z u r Sozialtechnik der wahr-Sagung siehe D. Suhr, Bewußtseinsverfassung, S. 274ff., 226 ff.: Die Fragen nicht einer bloßen Logik, sondern einer Ontologik der Realisierungen u n d Verkehrungen, die sich damit auftun, w a ren Gegenstand der Überlegungen des zweiten u n d d r i t t e n Kapitels i n diesem Buch. 18 Das setzt auf lange Sicht voraus, daß der als Verfahren normierte (verfaßte) Prozeß nicht die faktischen Bedingungen untergräbt u n d zerstört, unter denen allein er sich abspielen kann. Normen, die i m Zuge ihrer Befolgung u n d V e r w i r k l i c h u n g die Bedingungen ihrer Befolgung u n d V e r w i r k lichung zerstören, fungieren auf die Dauer als suicidal constitution. Im Gegensatz dazu werden Normen gebraucht, welche die Bedingungen ihrer Befolgung u n d Realisierung i m m e r wieder erzeugen, w e n n sie realisiert werden, — Normen, die ihre „Transsubstantiation" i n physische A k t i o n u n d Faktizität i m m e r wieder unversehrt überstehen: Aussagen oder Regeln „ v o m T y p Phönix". Siehe dazu D. Suhr, Bewußtseinsverfassung, S. 238 - 243, 257, 314.
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Rekursiv werden Verfahren entweder dadurch, daß von vornherein zeitliche Rhythmen festgelegt werden, nach denen sich die einzelnen Operationen wiederholen. Oder es handelt sich u m Konditionalprogramme, deren Durchführung Realitäten schafft, die auslösen, daß dasselbe Programm erneut durchgespielt wird. I n beiden Fällen stecken i n dem Netzplan der Vorgangszusammenhänge Schleifen, so daß i n beiden Fällen die Probleme der negativen und positiven Rückkopplungen und ihrer Kontrolle auftauchen, von denen schon oben i n anderem Zusammenhang die Rede war. Die Hauptprobleme der praktischen Wertsetzung und Wertverwirklichung liegen bekanntlich bei Wertschätzungsdivergenzen einerseits und bei Wertschätzungsirrtümern andererseits. Die Wertschätzungsdivergenzen betreffen das Problem der Intersubjektivität. Sie sind also i n der SoziaZdimension der Problematik angesiedelt, jedenfalls dem Schwerpunkt nach. Die Wertschätzungsirrtümer betreffen vorwiegend den Prozeß der Wertverwirklichung, i n dessen Verlaufe sich zeigt, ob die Werte das halten, was man sich von ihnen versprochen hat. Die Wertschätzungsirrtümer sind daher i n der Zeitdimension des Problems angesiedelt. Man kann allerdings auch den Wertschätzungsirrtum weitgehend zurückführen auf Veränderungen i n der Wertschätzung, welche aus Erfahrung oder anderen Gründen hervorgehen, so daß es sich i n soweit ebenfalls u m Wertschätzungsdivergenzen handelt (um die D i vergenz zwischen meiner Wertung heute und meiner Wertung morgen). Wertschätzungsdivergenzen führen zu Verschleiß i m sozialen Bereich, schlimmstenfalls zu Kampf, Krieg und Vernichtung. Wertschätzungsirrtümer können ebenfalls kostspielig werden: Es w i r d womöglich ungeheuerer Aufwand getrieben, u m am Ende festzustellen, daß einem das Werk nicht mehr zusagt. Verfahren der Wertfindung sollten also, i m Hinblick auf Verschleiß und Aufwand und mit Rücksicht auf das Leid, das aus Streit und Kampf entstehen kann, so strukturiert sein, daß Wertschätzungsdivergenzen und -irrtümer sich i n kontrollierbarem Rahmen halten. Wo aber liegen die operationalen Ansätze dafür, Wertschätzungsdivergenzen gegenzusteuern und Wertschätzungsirrtümern vorzubeugen? Sie liegen wenigstens zu einem großen Teil genau dort, wohin der Gedankengang meines Vortrages schon einmal gelangt war: Bei der Organisation des psychischen Apparates i n einer Richtung, bei der fremdes Empfinden sich als eigenes niederschlägt und auf diesem Wege das eigene Verhalten mitsteuert. So kann fremde Wertempfindung, die von der eigenen abweicht, die eigene modifizieren und umgekehrt. U n d der gleiche psychische Mechanismus kann dann wirksam werden, u m Wertschätzungsirrtümer etwas besser unter Kontrolle zu bekom7 Suhr
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men. Wer fähig ist, seine gegenwärtigen Mitmenschen i n seinen eigenen Empfindungen zu simulieren, dem fällt es auch leichter oder der kann gar nicht vermeiden, daß sich auch das Wohl und Wehe zukünftiger Menschen schon heute i n seinen Empfindungen niederschlägt. Das aber heißt, daß die Wahrscheinlichkeit wächst, mit welcher Wertschätzungsirrtümer, die sich erst i m Zuge der Wertverwirklichung einstellen, schon vorweg diagnostiziert werden können. Die psychischen Mechanismen also, welche oben als Auffangtechniken für den psychischen K a pazitätsüberhang erwogen wurden, bewähren sich nunmehr als operationale Techniken zur Dämpfimg und Verminderung von Wertschätzungsdivergenzen und -irrtümern. Es handelte sich dabei um die Psychologik der Mitmenschlichkeit, also u m innere Strukturen. Wenn sich nunmehr die Planung auf solche Strukturen richtet, müssen diese inneren Strukturen analysiert und bearbeitet werden. Welche Normen dabei als Vorbild dienen können, sei hier noch wenigstens beispielsweise angetippt. Zunächst ist die Goldene Regel zu nennen: „Was D u nicht willst, das man D i r tu', das füg' auch keinem anderen zu!" Worum es jetzt aber geht, ist, den psychischen Apparat so zu organisieren, daß die Psychologik durch direkte Motivationen dafür sorgt, daß solchen Geboten gefolgt wird, auch wenn man sich dessen gar nicht bewußt ist. Die Psychologik als innere Flußstruktur der psychischen Prozesse organisiert die berühmte „zweite Natur" des Menschen, und diese Natur ist manipulierbar, also wählbar. U m sie geht es. Was die besagte Goldene Regel betrifft, gibt es den bekannten Einwand, sie sei ungenügend, w e i l sie gebiete, den eigenen Geschmack auf den anderen anzuwenden, was dazu führen kann, daß der eine unterläßt, was dem anderen gerade gefallen würde. Doch läßt sich dieser Mangel beheben, indem die Regel differenzierter angewendet w i r d 1 9 . Auch dann ist sie noch ungenügend, w e i l sie von den einzelnen ausgeht. Das f ü h r t dann zu Anweisungen, die dem Kategorischen I m p e r a t i v entsprechen, der sich unter operationalem B l i c k w i n k e l u n d m i t dem Hintergedanken der Organisation der inneren Psychologik als alles andere erweist als das, w o f ü r er gelegentlich gehalten w i r d : eine Leerformel. 19 N u r bei direkter A n w e n d u n g der Goldenen Regel k a n n es zu den besagten Einwänden kommen, nicht wenn sie zweimal (reflexiv) angewendet w i r d : zunächst, u m festzustellen, daß „ D u nicht willst, daß m a n Dich nach fremden Überzeugungen zu Deinem Glück z w i n g t " ; dann, u m nach dieser Einsicht unter erneuter A n w e n d u n g der Goldenen Regel zu handeln. So geht dann schon i n das erste Wort der Regel (in die Variable „Was") ein ganzes Bäumchen-verwechsele-Dich-Spiel ein, das freilich, schaut m a n näher hin, auch nicht alle Probleme löst. Das B i l d v o m „Spiel" läßt es übrigens als wahrscheinlich erscheinen, daß zwischen der Goldenen Regel u n d der Spieltheorie (faires Spiel) aufschlußreiche Brücken geschlagen werden können. Vgl. J. v. Neumann / O. Morgenstern, Spieltheorie u n d wirtschaftliches V e r halten, Würzburg 1973, S. 167 ff., 261 ff., sowie W. Opfermann bei A. Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, i n : Jahrbuch für Rechtssoziologie u n d Rechtstheorie 2 (1972), S. 491 - 502, 498, u n d J. Rawls , Theory of Justice, Oxford 1972, passim.
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Das Beispiel der Goldenen Regel zeigt nun noch eines, auf das am Schluß hingewiesen werden soll: Der sprachlich-äußerlichen Regel muß, wenn sie zuverlässig funktionieren soll, die innere Organisation entsprechen, und zwar nicht derart, daß die Regel auswendig gelernt w i r d und angewendet werden kann, sondern daß sie zur inneren Determinante geworden ist, die die Mitmenschlichkeit über Empfindungen und Motive psychisch erzwingt. W i r d diese Feststellung hier einmal etwas gewaltsam generalisiert, bedeutet sie: Sprachliche Normierung und psychische Programmierung korrespondieren einander, und beides zusammen: Sprachliche Normierung der gesellschaftlichen Vorgänge und psychische Organisation der inneren Vorgänge ergeben dann die Institutionalisierung der Regel, u m die es geht: Einer Regel, die vielleicht zunächst nur Idee, nur Schein, nur Täuschung, aber noch keine W i r k lichkeit ist, die aber dann die Wirklichkeit ihrer selbst allmählich fördert. — I n jeder Lösungsmethode für ein Systemproblem steckt eine Täuschung: Auch i n diesen Überlegungen zur Wert- und Normenfindung steckt eine Täuschung insofern, als eine ganz bestimmte Perspektive gewählt und überdeutlich hervorgehoben wurde. Indem dies ins Bewußtsein gerufen wird, w i r d das Problem neutralisiert, und es bleibt vielleicht genau so viel an Anregung zurück, wie i h m angemessen ist. Auch die These, es sei u m den Punkt gegangen, von dem aus die Welt der Werte und Normen aus den Angeln gehoben werden könne, muß noch eingeschränkt werden: Ich halte sie nach wie vor für richtig; aber praktisch-technisch handelt es sich um eine mühselige Aufgabe, bei der ebenso viel Energie investiert werden muß wie Geduld. Und wenn gelegentlich fast von „Dressur zur Mitmenschlichkeit" die Rede war, darf das nicht mißverstanden werden. Die Pointierung dient der Herausforderung und soll bewußt machen, daß offenbar nicht nur direkte Reflexe und ähnliche Vorgänge, sondern auch die inneren Wege, über die der Nächste sich i m Menschen bemerkbar macht, organisierbar sind. Diese inneren Wege kommen i n Sonderheit genau dann ins Blickfeld, wenn es u m operationale Aspekte der Wert- und Normenfindung i n Bildung und Wissenschaft geht.
Fünftes Kapitel
Zur psycho-, sozial- und sprachtheoretischen Fundamentierung: Be wußtseins Verfassung, Gesellschaftsverfassung und geschriebene Verfassung Warum gerade diese drei Begriffe i n einem Verbund und als ein Thema: „Bewußtseinsverfassung", „Gesellschaftsverfassung" und „geschriebene Verfassung"? Weil eine geschriebene Verfassung ohne ihren psycho-sozialen Kontext nichts anderes ist als eine Reihe von eigenartigen Zeichen, die w i r „Buchstaben" nennen. Herkunft und Wirksamkeit einer Verfassung und alle ihre Funktionen lassen sich nur erfassen, wenn das psychische „Innen" und das gesellschaftliche „Draußen" i n die Betrachtung miteinbezogen werden. Das „Drinnen" und „Draußen" einer Gemeinschaft hängt freilich wiederum miteinander zusammen. Die Gesellschaft dringt i n die Köpfe: Sie w i r d verinnerlicht, „internalisiert". Und was i n den Köpfen ist, zeigt sich i m Verhalten: Es w i r d entäußert, „externalisiert", „realisiert". So durchdringt das Draußen das Drinnen und so durchdringt das D r i n nen das Draußen. Oder: Der gesellschaftliche Prozeß selbst führt nach drinnen und wieder nach draußen. Die Gesellschaft atmet gleichsam i m Zuge eines allgegenwärtigen sozial-psychologischen und psycho-sozialen Prozesses ein und aus. Dabei ist die Sprache, — dabei sind die symbolischen Medien m i t von der Partie: Sie werden entäußert und verinnerlicht, gesendet und empfangen, kommuniziert und gespeichert. Eine geschriebene Verfassung lebt von Gnaden des soeben beschriebenen gesellschaftlichen Atmungsprozesses. Das ist die Situation, m i t der es die Verfassungstheorie zu t u n und m i t der sich die Verfassungstechnik abzufinden hat: Es geht um Funktionen und Eigenschaften der verfassenden Texte i m Wirkungskontext des gesellschaftlichen „Einund-Aus". Das ist zwar auch eine allgemein-sozialwissenschaftliche Fragestellung. Trotzdem löst sich die Verfassungstheorie nicht i n Sozialwissenschaft auf. Viel eher kristalliert sie sich darin als ein sachlichperspektivisch bestimmter Bereich heraus. Dabei geht es wörtlicher und unmittelbarer als i n irgend einer anderen Disziplin u m die gesellschaftliche „Konstituierung" von Wirklichkeit: Die Verfassimg ist die „Konstitution" des Gemeinwesens. Sie ist ein Paradigma für die gesellschaftliche Konstruktion von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Da-
I. Rechtsverfassung u n d Bewußtseinsverfassung
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her dürften die Themen und Probleme der Verfassungstheorie und -technik direkt oder indirekt zugleich von allgemein-sozialwissenschaftlichem und von allgemein-erkenntnistheoretischem Interesse sein 1 . I. Rechtsverfassung und Bewußtseinsverfassung I n seinem Alltag hat der Verfassungsjurist eine Verfassung, die i h m vorgegeben ist, auszulegen und daran mitzuwirken, daß sie „ v e r w i r k licht" wird. Diese Situation bestimmt seine subjektiven Perspektiven und Horizonte, und für seine Arbeit genügt es i m wesentlichen, wenn er die juristischen Kunstfertigkeiten hermeneutischer Texterschließung und dogmatischer Konstruktion beherrscht. Die „übrige Welt" geht ihn zwar durchaus auch etwas an: Aus i h r bezieht er seine Probleme und er muß das faktische Gelände kennen, i n dem die Norm jeweils w i r k t . Aber es gehört nicht zu den Aufgaben des Juristen als eines Juristen, sich zugleich über die Schulter und sich selbst zuzuschauen, u m dann i n Theorie zu fassen, was er m i t dem Recht oder was das Recht durch i h n „macht". U m sich über sich selbst Klarheit zu verschaffen und u m Selbstgewißheit für sich i n seiner Funktion zu gewinnen, ist es für den Juristen freilich nützlich, wenn er gelegentlich seinen Platz unter dem Gesetz verläßt und sozusagen außerhalb seiner selbst Platz nimmt. Dann kann er die Rahmenbedingungen und Grenzfälle seiner Arbeit studieren und es ändert sich die Situation: Jetzt hat er die Normen, die er als Jurist über sich hat, vor sich, und er kann den ganzen Kontext betrachten, der die Normen hervorbringt und wieder empfängt. Dann zeigt sich auch, daß das unverbrüchlichste, höchstrangige Recht oft das brüchigste Recht ist: Während hinter anderem Recht noch die Verfassung steht, steht hinter der Verfassung nur ihre praktische Legitimität. Staatsstreich, Notstand, Revolution sind die negative Wahrheit des 1 Die Verfassungstheorie dürfte sich daher als einer der entscheidenden Umschlagplätze des Problem- u n d Wissenstransfers zwischen den Rechtsu n d Sozialwissenschaf ten erweisen, u n d P. Häberle (Verfassungstheorie ohne Naturrecht, i n : Archiv des öffentlichen Rechts 99 (1974), S. 437 -463, 477/8 u n d ff.) t r i f f t den K e r n der Sache, wenn er fragt: „ W i e verarbeitet Verfassungstheorie die heutigen Wissenschafts- u n d Gesellschaftstheorien? U n d umgekehrt: Was leistet Verfassungstheorie f ü r diese? Schließlich: I n w i e w e i t haben Wissenschafts- u n d Gesellschaftstheorien die Verfassung zu thematisieren?" Damit soll freilich die Verfassungstheorie nicht zum Nabel der sozialwissenschaftlichen Welt gemacht werden. Aber der Akzent dürfte stimmen, insbesondere i m Hinblick auf alles das, was etwa i m T i t e l m i t schwingt u n d i n der Sache behandelt w i r d bei P. Berger / Th. Luckmann, Die gesellschaftliche K o n s t r u k t i o n der Wirklichkeit, F r a n k f u r t 1969 (The Social Construction of Reality, Garden City, New Y o r k 1966); spezieller auch K . L. Ziegert, Z u r Effektivität der Rechtssoziologie: die Rekonstruktion der Gesellschaft durch Recht, Stuttgart 1975.
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5. Kap.: Z u r psycho-, sozial- u n d sprachtheoretischen Fundamentierung
Verfassungsrechts, das nachgibt, weil sich etwas anderes geltend macht: ein Souverän fegt es hinweg. „Souverän ist" — nach einer berühmten Formel — „wer über den Ausnahmezustand entscheidet" 2 . Der Ausnahmezustand selbst aber ist nur die Lage, i n der der staatliche Souverän vor dem geschichtlichen i n die Kniee geht, seine „normal" verfaßte Ordnung zum Opfer bringt und sich allenfalls damit trösten darf, die Lage zur Ausnahmesituation zu definieren. Auch ein Souverän, der die Ausnahme erst noch schaffen w i l l , die er definiert, und zwar schaffen, indem er sie definiert, braucht dafür noch den Rückenwind der geschichtlichen Witterungsverhältnisse. Daher verbündet sich, wer Souveräne nachhaltig stürzen w i l l , m i t der Geschichte, und m i t der Geschichte muß sich gut stehen, wer nicht gestürzt werden w i l l . Der Ausnahmefall zeigt: Wer dauerhafte Verfassungen schaffen w i l l , muß ihr Kommen und Gehen erforschen, damit die Geschichte (oder der „soziale Wandel") ihn nicht immer wieder einmal unter Zugzwang setzt und i h m einpaukt: Souverän ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet, oder, falls er ihn hat, stark genug ist, ihn wieder loszuwerden. Schaut man dabei einmal nur auf die innere Souveränität, so erweist sie sich als Selbstbeherrschung: als organisierte Souveränität, als verfaßte Selbstbemeisterung eines Gemeinwesens 3 . Fegt eine Revolution eine Verfassung hinweg, ist es freilich nur eine sehr grobe Sprechweise, das „der Geschichte" zuzuschreiben. Wer da wegfegt, das sind die Menschen, die ihrem Drange, ihren Interessen und ihren Überzeugungen folgen. Meinungen und Gesinnungen wachsen freilich nicht auf jedem historischen und geographischen Boden an und gedeihen nicht zu jeder Zeit und an allen Orten gleich gut. Aber wie sehr auch immer die soziale Lage die Bereitschaft bestimmt, die eine oder die andere Doktrin zu verbreiten und zu empfangen: Der Weg der Revolution führt durch die Köpfe, und wenn eine Verfassung geachtet wird, so liegt das auch an dem Innenleben i n den Köpfen. So w i r d der Blick immer wieder auf den psychischen Flaschenhals gelenkt, durch den die soziale und politische Welt ständig hindurch2
C. Schmitt, Politische Theologie, München, Leipzig 1934, S. 11. Z u r Souveränität als Selbstbeherrschung vgl. E. Denninger, Rechtsperson u n d Solidarität, F r a n k f u r t 1967, S. 282, m i t Hinweis auf M. Hauriou u n d Ruiz del Castillo . Ä h n l i c h J. Isensee, Die staatsrechtliche Stellung der Ausländer i n der Bundesrepublik Deutschland, i n : Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 32 (1974), S. 74/5 m i t A n m . 60; ders., Subsidiaritätsprinzip u n d Verfassungsrecht, B e r l i n 1968, S. 180 - 183, m. w. N. Vgl. dazu auch R. Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, Leipzig 1928, S. 104; E. Forsthoff, Rechtsstaat i m Wandel, Stuttgart 1964, S. 227; M. Kriele, Einführung i n die Staatslehre, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 4 7 - 6 6 ; H. Quaritsch, unten A n m . 17. 8
I. Rechtsverfassung u n d Bewußtseinsverfassung
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d r ä n g t . S t a t t „ K o p f " k a n n m a n auch sagen „ B e w u ß t s e i n " , m u ß d a n n aber bedenken, daß das, w a s l a t e n t b l e i b t , also das, w a s n i c h t i m m e r oder w a s ü b e r h a u p t n i c h t b e w u ß t w i r d , m i t i n b e g r i f f e n ist. D a n n k a n n m a n sagen: Das B e w u ß t s e i n ist e i n entscheidender D r e h - u n d A n g e l p u n k t d e r P r o b l e m e , die z u lösen hat, w e r d a u e r h a f t e s V e r f a s s u n g s recht schaffen w i l l . V e r f a s s u n g g e b u n g , Verfassungsverwirklichung, V e r f a s s u n g s b r u c h passieren g l e i c h e r m a ß e n das B e w u ß t s e i n d e r j e w e i l s b e t e i l i g t e n Menschen: das B e w u ß t s e i n , i n d e m d i e L a g e n i n R e a k t i o n e n t r a n s f o r m i e r t , d i e N o r m e n i n T a t e n u m g e s e t z t u n d zersetzende I d e e n i n zersetzende P r a x i s v e r w a n d e l t w e r d e n . E i n e gesellschaftliche W i r k l i c h k e i t „ k o n s t i t u i e r e n " : Das h e i ß t m i t h i n auch, Bewußtsein „ k o n s t i t u i e r e n " ; u n d d a b e i i s t die geschriebene „Kons t i t u t i o n " n u r d i e symbolische D r i t t e i m B u n d e . D a h e r also: B e w u ß t seinsverfassung, Gesellschaftsverfassung u n d geschriebene Verfassung. Das „Bewußtsein" ist noch nicht die „Bewußtseinsverfassung", u m die es hier u n d i m Folgenden geht. Der Unterschied zwischen beiden liegt darin, daß die Bewußtseinsverfassung auf die Organisiertheit des Bewußtseins zielt. Diese Organisiertheit ist zwar nicht ein f ü r alle Male festgelegt, aber sie ist dauerhafter als Gemütsausbrüche u n d Launen oder Stimmungen. Diese v o r übergehenden Zustände sind nach Entstehung, A r t u n d Ausmaß vielmehr eine F u n k t i o n der Bewußtseinsverfassung. Denn die Organisation des psychischen Apparates bestimmt, welchen äußeren Eindrücken u n d welchen i n neren Überlegungen andere innere Eindrücke u n d Zustände zugeordnet werden. Dabei w i r k t die Bewußtseinsverfassung w i e ein System von W e i chen auf einem Rangierbahnhof, u n d kein theoretischer oder praktischer „ Z u g " passiert diese innere Station, ohne durch das große Stellwerk h i n durchgeschleust zu werden. Also k o m m t es nicht n u r auf „das Bewußtsein" i m allgemeinen, sondern ganz besonders auf die „Bewußtseinsverfassung" an. Sie ist der Dreh- u n d Angelpunkt f ü r die psycho- u n d sozialwissenschaftlichen Komponenten der Verfassungstheorie u n d -technik. Einige Materialisten möchten hier vermutlich einwenden, daß die Rolle des Bewußtseins überschätzt werde: „Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein 4 ." Ja, u n d noch einmal j a : Die Türen, die m a n damit einrennen w i l l , stehen sperrangelweit offen, so daß es Zeit w i r d , hindurchzuschreiten u n d sich den Aufgaben zuzuwenden, die sich dann stellen. Das sind Aufgaben der „bewußten u n d planmäßigen" Arbeit an der „Gestalt der menschlichen Gesellschaft". Dabei k a n n es nicht mehr n u r heißen: Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Es muß jetzt vielmehr auch heißen: Das Bewußtsein bestimmt das Sein 5 . Wie sonst sollte 4
Karl Marx / Friedrich Engels, Werke, B e r l i n 1958 ff. (MEW), Bd. 13, S. 9. M a n k a n n den Marxschen Materialismus auch als praktischen Idealismus ansehen, der v o l l auf die Macht des Geistes u n d der Ideen baut: „Die Freiheit ist von den Philosophen bisher i n doppelter Weise bestimmt worden; einerseits als Macht, als Herrschaft über die Umstände u n d Verhältnisse, i n denen ein I n d i v i d u u m lebt, — von allen Materialisten; andererseits als Selbstbestimmung, Lossein von der w i r k l i c h e n Welt, als bloß imaginäre F r e i heit des Geistes — von allen Idealisten, besonders den deutschen." (MEW 3, S. 282, — allerdings Sätze, die i m Manuskript gestrichen worden waren.) Daß 5
104 5. Kap.: Z u r psycho-, sozial- u n d sprachtheoretischen Fundamentierung der Mensch das urwüchsig-„vorgeschichtliche" Treiben der Entwicklung m i t seinem Bewußtsein theoretisch u n d praktisch „überbieten"? Also w i r d das Bewußtsein u n d die Bewußtseinsverfassung auch u n d gerade für den dialektischen Materialismus zum wichtigsten Dreh- u n d Angelpunkt von Theorie u n d Praxis. Das Bewußtsein ist sozusagen der praktisch interessanteste Aggregat- oder Organisationszustand des Seins.
U m eine soziale Welt zu konstituieren, und zwar „bewußt und planmäßig" zu konstituieren, bedarf es der Sprache: Die Sprache ist das Medium der Planung und Verfassimg 6 . Das Bewußtsein ist Schöpfer des Wortes. Worte können vervielfältigt werden. Sie können dann i n viele andere Köpfe eindringen und dort Taten auslösen. Worte können wiederholt gelesen werden und immer wieder Taten auslösen. So w i r d es möglich, daß eine Verfassung nicht nur eine Tat, sondern Zyklen und Reflexe unbestimmt vieler zukünftiger Taten regelt. So w i r d das Bewußtsein über die Sprache nicht nur zum Schöpfer von Worten und Taten, sondern von verfaßter Gesellschaft. Das setzt freilich voraus, daß die Worte befolgt werden. Sie werden befolgt, wenn sich die Menschen nicht gegen sie auflehnen oder sie sonst mißachten. Das wiederum hängt von der Verfassung ihrer Bewußtseine ab. Irgendwie müssen die geschriebene Verfassung, die innere Bewußtseinsverfassung und die faktische Gesellschaftsverfassung aufeinander abgestimmt sein oder sonst zusammenstimmen. Sonst steht die Verfassung „ n u r auf dem Papier", und so wenig, wie sie i m Innern anerkannt ist, findet man ihre Spuren draußen. Hier: bei dem Problem, daß Bewußtseinsverfassung, Gesellschaftsverfassung und versprachlichte Verfassung zusammenstimmen müssen, fangen die Fragen der Verfassungstheorie und der Verfassungstechnik erst richtig an. Die drei Verfassungen i m Systemverbund der Wirklichkeit liefern den Stoff, m i t dessen Resonanzen-in-sich, Konsonanzen-in-sich und Dissonanzen-in-sich w i r theoretisch und technisch fertig werden müssen. Daher braucht der Verfassungstheoretiker ein Konzept, i n dem der Systemverbund des Drinnen, des Draußen und M a r x die deutschen Idealisten dabei gründlichst verfehlt, jedenfalls K a n t und Hegel m i t ihren durchdringend praktischen Anliegen, steht auf einem anderen Blatt. 8 Faßt man „Planung" sehr weit, f ä l l t unter „Planung" auch noch die Planung u n d Einrichtung einer Verfassung. W i r d der Begriff jedoch enger u n d konkreter gefaßt, ergibt sich eher ein Gegensatz: M a n plant Aktionen, m i t denen konkrete Ziele u n d Zwecke verfolgt werden, aber m a n verfaßt ein Gemeinwesen, w e n n es aus sich selbst heraus immer wieder seine Ziele u n d Zwecke finden u n d verfolgen soll. Verplanung von Bereichen hat zur Folge, daß die Z u k u n f t durch Ziele u n d Zwecke verdeckt w i r d oder verstopft ist. Verfassung aber ist ihrem Idealtyp nach offen für das, was die Menschen des Gemeinwesens brauchen u n d wollen. Pläne erledigen sich; Verfassungen sind von Dauer. Pläne sind Wegwerf-Verfassungen; Verfassungen sind (rekursiv verwendbare) Permanent-Pläne. Vgl. D. Suhr, Die Entfaltung der Menschen durch die Menschen, B e r l i n 1976, S. 40 ff.
I I . E i n verfassungstheoretisches Bewußtseinsmodell
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der Sprache i m Hinblick auf „Verfassung" begriffen und erörtert werden kann. Dieses Konzept muß ein Bewußtseinsmodell miteinschließen, das m i t Gesellschaftstheorie und Sprachtheorie i m Hinblick auf Verfassungsfragen kompatibel ist. II. Ein verfassungstheoretisches Bewußtseinsmodell Was nunmehr an Hypothesen zur Binnenstruktur des Bewußtseins i m Hinblick auf verfassungstheoretische Probleme entwickelt wird, läuft ausdrücklich unter der Bezeichnung „Modell". So w i r d klargestellt, daß hier nicht behauptet wird, die Beschreibung gebe wieder, wie das Bewußtsein wirklich strukturiert sei. Das Modell trägt hypothetischen Charakter und sollte am besten als der Versuch verstanden werden, vom Ufer der Verfassungstheorie her eine Brücke zu den Psycho- und Sozialwissenschaften und zu den Sprachwissenschaften zu schlagen. Diese Brücke w i r d erst richtig tragfähig, wenn auch von den anderen Ufern aus i n Richtung auf unsere dreidimensionalen verfassungstheoretischen Probleme hin gearbeitet wird. Daß diese Brücke nicht „ins Blaue" hinein konstruiert werden kann, versteht sich von selbst. Ein Jurist und Verfassungstheoretiker, der i n Richtung auf Sozialpsychologie hin zu arbeiten anfängt, muß schon einige Vorstellungen mitbringen, damit die Richtung stimmt. Es mag vielleicht auch Köpfe geben, die tief, voll und schnell genug sind, alles selbst zu erledigen. Ich jedoch vermag nur einige Anregungen für die Arbeit zu liefern. I m Folgenden kann an mehreren Stellen m i t der Arbeit begonnen werden: 1. bei der kognitiv-praktischen Situation, von der i m ersten Kapitel die Rede war; 2. bei den Anfängen des symbolischen Interaktionismus und bei Internalisierungsvorgängen, wie sie den Gegenstand der Sozialpsychologie abgeben; 3. bei eher klassischen Fragen der Philosophie. Werden die Ansätze zusammengefügt, ergibt sich 4. ein recht einfaches, aber vielleicht i n praktischer Hinsicht gerade deshalb nützliches Modell, an Hand dessen verfassungstheoretische Probleme diskutiert werden können. I . Ansatz bei der kognitiv-praktischen
Situation
I m ersten Kapitel dieser Arbeit hat sich gezeigt, daß man einen i n ternen Bereich annehmen muß, i n dem die Theorie (in ihrem subjektivinnerlichen „Aggregatzustand") und der Gegenstandsbereich (in seinem subjektiv-innerlichen „Aggregatzustand") miteinander verglichen werden können, wenn so etwas wie Bestätigung oder Widerlegung der Theorie modellhaft nachkonstruiert werden soll. Dabei wurde der Kurzschluß zwischen Theorie und Gegenstand außerhalb des Beobach-
106
5. Kap.: Z u r psycho-, sozial- u n d sprachtheoretischen Fundamentierung
ters besonders hervorgehoben. Der Akzent kann jedoch auf einen anderen Punkt gesetzt werden, auf den es hier mindestens ebensosehr ankommt: darauf nämlich, daß Subjekte, die i m (äußerlichen) Gegenstandsbereich auftreten, und die daher auch von der Theorie behandelt werden, im Innenbereich wieder auftauchen müssen, wenn der internalisierte Gegenstand und die internalisierte Theorie kraft Konsonanz/ Dissonanz-Erlebnis darauf geprüft werden sollen, ob sie zusammenstimmen. Der Philosoph, der wissen w i l l , ob sein B i l d von sich und der Welt m i t sich und der Welt zusammenstimmt, hat i n sich ein B i l d von sich und einen Eindruck von dem, was er wirklich ist, — und ebenso hat er Bilder i n sich von den Menschen seiner Welt und Eindrücke davon, wie diese Menschen wirklich sind. I n seinem Kopf, kann man sagen, w i m melt es also nur so nicht allein von Gegenständen und Namen, sondern auch — von Subjekten: von Subjekten freilich, die keine wirklichen Subjekte sind, sondern Subjekte „ i n ihrem inneren Aggregatzustand". Der psychische Apparat besitzt i n dem Modell, zu dem der Ansatz bei der kognitiv-praktischen Situation führt, also die Fähigkeit, Subjekte i n einem innerlich-subjektiven Aggregatzustand zu vergegenwärtigen. Dabei werden an den Begriff des Subjektes keine sehr hohen philosophischen Anforderungen gestellt, sondern zunächst von dem nicht unüblichen Sprachgebrauch ausgegangen, wonach Menschen „Subjekte" genannt werden i m Gegensatz zu den bewußtlosen physischen Dingen und zu toten Texten i n Büchern und auf Papier. Und die „innere Vergegenwärtigung" w i r d bewußt noch nicht präzisiert, sondern so allgemein und offen wie möglich angedeutet. Man könnte vielleicht schon i n diesem Stadium der Überlegungen davon sprechen, daß die Gegenstände und Subjekte i m Innern „repräsentiert" werden, — und zwar je nach Abbildungstreue und Tiefenschärfe, nach Fassungsvermögen und Auflösevermögen mehr oder weniger exakt und konkret, abstrakt und pauschal, richtig oder verkehrt. Wenn ζ. B. ein Beobachter zwei Menschen beobachtet, die sich unterhalten, und wenn er dann die Augen schließt und berichtet, was er gesehen und gehört hat, so liest er das, was er berichtet, von einer Erinnerung ab, i n der die beobachteten Gesprächspartner repräsentiert sind, — so wie sie hinterher, wenn er seine Beobachtungen aufschreibt, auch i n dem Protokoll der Ereignisse irgendwie repräsentiert sind. Es versteht sich, daß flüchtige Beobachtungen, die man bei einer Tasse Kaffee am Nachbartisch macht, weniger tiefe Spuren i m Innern hinterlassen als die existenzbedingende Umgebung i n einem Kleinkind, dessen Inneres sich erst noch organisiert. U m ein Gespräch gut beobachten und erfassen zu können, darf man außerdem annehmen, daß das nicht möglich ist ohne eine A r t von Subjektleerstellen i m Inneren, die
I I . E i n verfassungstheoretisches Bewußtseinsmodell
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sich dafür eignen, mit ihnen die Konfiguration der Situation ad hoc zu generieren und dann auf diese innere Situation das Wahrgenommene einzuspeichern. Der langen Rede kurzer Sinn: Wer über die kognitiv-praktische Situation ein wenig nachdenkt, w i r d dazu gebracht, die Möglichkeit ins Auge zu fassen, daß man bei einem Modell des „Innenbereiches", — also bei einem Modell des Bewußtseins (einschließlich des Nichtbewußten) nicht daran vorbeikommt, wiederum mit Subjekten zu arbeiten: m i t einer A r t virtueller Subjekte, die i n das reelle Subjekt hineingeschachtelt sind, — ohne daß damit schon irgend eine genauere Phänomenologie oder Typologie dieser virtuellen Subjekte gegeben ist. 2. Ansatz beim symbolischen
Interaktionismus
Seit den Studien von G. H. Mead 7 gibt es eine Theorie über die Konstituierung des Selbst, die davon ausgeht, daß sich das Ich erst und nur dadurch ausbildet, daß der Mensch i m Laufe seiner psychischen Entwicklung die Haltungen und Gesten, die andere ihm gegenüber an den Tag legen, übernimmt und internalisiert. Dabei kann man sagen: Der Mensch entsteht aus Interaktion und er ist Interaktion, — und selbst wenn er (etwa als lebenslänglich Gefangener i n Einzelhaft) sich m i t sich selbst beschäftigt, so ist auch das Interaktion, nämlich eine Interaktion, bei der der Betroffene für sich selbst der „andere" Interaktionspartner ist, m i t dem er sich beschäftigt. Er ist nie ganz, sondern immer nur und noch mit sich selbst allein. Wenn i m Zuge der Übernahme von Haltungen, Gesten, Handlungen und Erwartungen nun nicht nur einzelne, bei vielen wiederkehrende Verhaltensweisen internalisiert werden (in generalisierter A r t , für den, den es immer angeht und betrifft), sondern zunächst die ganzen Bündel von Gesten, die m i t den Bezugspersonen „umhergehen", dann werden praktisch Interaktionsbündel übernommen, die ihrerseits „draußen" einen Menschen ausmachten, und zwar ausmachten, soweit er m i t dem Betroffenen i n Interaktion trat. So w i r d zwar kein komplettes Subjekt hereingeholt, wohl aber eine ganze Rolle, also eine A r t Bauelement zu einer Person, — freilich m i t stark individuellen Zügen (etwa einer Hysterie der Mutter, die i n übersetzten Formen i n den Gesten des Kindes wieder auftaucht). Obwohl der Interaktionismus (und zwar u m so rigoroser, je soziologischer und je weniger individuell-psychologisch er akzentuiert wird) stark generalisiert und die Verhaltens- und Erwartungsbündel zu standardisierten Rollen zusammenfaßt aber auch zerschneidet, ergibt sich 7 G. H. Mead , Geist, Identität u n d Gesellschaft, F r a n k f u r t Self and Society, Chicago 1934).
1973 (Mind,
108 5. Kap.: Z u r psycho-, sozial- und sprachtheoretischen Fundamentierung
doch, daß i m Innenbereich zumindest Bauelemente zu Personen vorhanden sind. Dabei handelt es sich jetzt nicht mehr nur u m eher kognitive als praktische „Repräsentation", sondern um internalisierte Routinen des handfesten Erwartens und Reagierens, — u m Routinen, welche einen Teil (oder auch alles) des betroffenen psychischen Apparats konstituieren und als Eigenes erlebt werden. Je stärker der symbolische Interaktionismus i n Richtung auf soziologische Theorie ausgebaut wird, desto rücksichtsloser werden individualisierende und subjektive Momente vernachlässigt und alles Generalisierende w i r d hervorgehoben. Die i n Rollen zerstückelte Person w i r d noch wie ein Schaschlik durch irgend einen Spieß zusammengehalten, der auch noch Funktionen zu bewältigen hat; aber der Akzent liegt auf den Rollen und den sozialen Verbundsystemen, die sie bilden. I n diesen generalisierten Schemata vermag ein normaler Mensch immer weniger noch sich selbst wiederzuerkennen. Das sollte auch nicht weiter verwundern: Ist doch das Subjekt oft ganz bewußt aus der Theorie eleminiert. Wie sollte es sich also darin wiederfinden? „Das Subjekt ist kein Objekt, was soll es also i n der Theorie 8 !" Man muß jedoch die Gedanken des symbolischen Interaktionismus nicht nur i n Richtung auf die Soziologie verfolgen, sondern kann sie auch i n Richtung auf Bewußtseinstheorie auswerten: weniger soziologisch-generalisierend, sondern psychologisch-generalisierend. Dann w i r d der „Spieß" des Rollenschaschliks wichtiger, der die Rollen zusammenhält und der sich subjektiv als Ich und als Person erlebt. Diese Person muß allererst konstituiert sein, ehe sie Rollen übernimmt oder gar i n Rollen zerfällt. Der Nachteil, daß bislang bei Mead der Rollenbegriff vorherrscht, läßt sich leicht korrigieren, nämlich „ i n d e m man zunächst die Priorität der Begriffe Rolle u n d Identität u m k e h r t u n d die K o n s t i t u t i o n der Identität des anderen u n d des eigenen Ich f ü r f u n damentaler ansieht als die I d e n t i f i k a t i o n des Verhaltens anderer u n d den Aspekt bestimmter sozialer Rollen. Der andere ist eine Person, keine Rolle, u n d durch i h n als Person, nicht als Rolle, bekomme ich meine eigene Ident i t ä t als Person zugewiesen. Soziale Rollen, nämlich M u t t e r / K i n d - B e z i e h u n gen oder Äquivalente dafür, sind zwar notwendig, u m Personsein zu lernen. Aber f ü r diesen Lernvorgang ist gerade entscheidend, daß der Rollencharakter dieser Beziehung abgeblendet w i r d , der andere v o m Lernenden also nicht als Rolle, sondern als D u u n d dann als anderes Ich erlebt w i r d " 9 .
Bei dieser psychologisierenden Betrachtung sieht es nunmehr so aus, als werde das Bewußtsein während seiner Ausbildung von anderen Personen unterwandert, die das Bewußtsein dann konstituieren und 8
N. Luhmann, Selbstthematisierung des Gesellschaftssystems, i n : Zeitschrift f ü r Soziologie 2 (1973), S. 21 - 46, 21. 9 N. Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 2. Aufl., Darmstadt, Neuw i e d 1975, S. 84 f.
I I . E i n verfassungstheoretisches Bewußtseinsmodell
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das personale Innenfeld ergeben, auf dessen subjektiv konstituiertem Boden dann Rollen übernommen werden. Diese Rollen aber bleiben selbst wiederum relativ sinnlos für die Person, wenn sie sich nicht i n sinnvolle Zusammenhänge einfügen, m i t denen sich die Person identifizieren kann, und es liegt die Hypothese nahe, daß Subjekte sich nur mit Subjekthaftem friktionslos identifizieren und sich darin einhausen können: also i n Rollensystemen, die ihrerseits als soziale Subjekte erlebt und konstituiert werden, so wie die Person i n sich durch ein internalisiertes Komplement dazu konstituiert wird. I m Zuge der Sozialisation „unterwandern" die anderen Personen und die Systeme, die sie bilden, die Person, — diese wiederum resubjektiviert und re-individualisiert sie alle i n sich zum selbsterfahrenen Ich. So führt auch der Ansatz beim symbolischen Interaktionismus dazu, daß zu den Konstituenten des Bewußtseins, die auch i m Bewußtseinsmodell wiederkehren müssen, Subjekte gehören, die das Bewußtsein i m Zuge der Sozialisation „unterwandert" haben. Das deckt sich m i t den Einsichten, zu denen die Überlegungen zur kognitiv-praktischen Situation hinführten. 3. Ansatz bei klassischen Fragen der Philosophie Die konstituierende Bedeutung des D u für das Ich, der Zusammenhang zwischen dem Ich und dem Wir, zwischen dem Selbst und dem Anderen, sowie die Spiegelungsstruktur zwischen subjektivem Innen und gesellschaftlichem Draußen, zwischen dem Bewußtsein und den gesellschaftlichen Kräften und Verhältnissen, und schließlich die reziproken Strukturen, die dabei auftauchen, die Vorgänge der Verinnerlichung und Wiederentäußerung, der Vergeistigung und der V e r w i r k lichung, lassen sich zumindest bis zum deutschen Idealismus zurückverfolgen. Wie aber ist die „Einheit von Ich und Du", von „Ich und W i r " wenigstens konstruierbar? Diese Konstruierbarkeit kann uns Hinweise für die Konstituierbarkeit geben 10 . Dabei dürfen w i r freilich die „Einheit" nicht zu wörtlich nehmen, — so wie ja auch i n der Philosophie mit der Einheit zumeist auch die Unterschiede und Gegensätze mitgedacht und mitbegriffen werden, die die Einheit i n sich miteinbegreift. 10 U m das idealtypische Prinzip vorwegzunehmen: Wenn jeder sich und seine Mitmenschen verinnerlicht, so daß der internalisierte soziale Verbund, i n dem er m i t ihnen steht, sein Bewußtsein konstituiert, dann haben sie sich alle Dasselbe einverseelt, also etwas Gleiches i n ihren Köpfen. Das ist das Prinzip, wonach „Gesellschaft" hereingeholt w i r d u n d darinnen „ B e w u ß t sein" mitbestimmt, — eine Einschachtelung des Äußeren ins Innere unter Ubersetzung i n einen psychischen Aggregatzustand. Daß dabei keine I d e n t i tät der Bewußtseine herauskommt, — dafür sorgen dann schon Veranlagung,
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5. Kap.: Zur psycho-, sozial- und sprachtheoretischen Fundamentierung
I n der Phänomenologie des Geistes spricht Hegel einmal von der „Einheit verschiedener, für sich seiender Selbstbewußtseine", und er läßt eine jener Formeln folgen, die von gläubigen Dialektikern ebensosehr bewundert werden, wie sie von K r i t i k e r n der Dialektik als logischer Unsinn angeprangert und verspottet werden: Da ist die Rede von einem „Ich, das Wir, und (von einem) Wir, das Ich" sei 11 . Und auf ein strukturell ganz ähnliches Problem kommt M a r x zu sprechen, wenn er feststellt: „ A l s Gattungsbewußtsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesellschaftsleben und wiederholt nur sein wirkliches Dasein i m Denken, wie umgekehrt das Gattungssein i m Gattungsbewußtsein (...) als denkendes Wesen für sich ist 1 2 ."
Statisch-logisch begriffen, ist die Hegeische Formel, wonach Ich = W i r und W i r = Ich gedacht wird, absurd. Prozeßhaft und sozialpsychologisch aktualisiert aber läßt sie sich plausibel konstruieren. Das Ich entsteht i m Prozeß des W i r : Wir
Ich.
Das Ich erscheint als verinnerlichtes Wir. Es trägt die Spuren dieses W i r an sich, w e i l es ganz konkret durch es geprägt u n d konstituiert wurde.
Dann ist das Ich da und arbeitet i m Wir. Dabei formt es womöglich die konkreten Formen mit, i n denen das W i r existiert. Diese umgeformten Wir-Strukturen erscheinen dann als Spuren des Ich, als entäußertes Ich. Ich prägt also das W i r : Ich -> Wir.
Nachdem W i r das Ich gemacht hatte, macht nun auch Ich m i t beim Wir. Dann kann man den Prozeß beschreiben als „Ich, das Wir, und Wir, das Ich" wird.
Damit aber ist die Frage nach dem Ich-Modell n u r noch dringender gestellt. Sie ist noch nicht gelöst. Wie läßt sich das Ich modellieren, nachdem es geworden ist? Nun: Man kann versuchen, es i m Innern nach dem Vorbild des W i r zu konstruieren, aus dem es hervorgegangen ist. Dann wäre sogar recht konkret Ich = W i r i m verinnerlichten Aggregatzustand, oder Situationen, Lagen, Perspektiven und Zufälle. Aber die Identität ist konstruierbar, so daß die Unterschiede vor dem Hintergrund der jedenfalls logisch denkbaren „Identität" erklärbar werden, und zwar erklärbar einschließlich der Differenz zwischen Ich und Du. 11 G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. v. J. Hoffmeister, 6. Aufl., Hamburg 1952, S. 140. 12 K . Marx, MEW, Erg. Bd. I, S. 540.
I I . E i n verfassungstheoretisches Bewußtseinsmodell
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reales Ich = ideelles W i r und W i r = Ich i m Zustand der Entäußerung oder reales W i r = ideelles Ich. Dann folgt die Konstruktion des Ich relativ einfach als eine A r t internes Repräsentantenhaus des W i r : Die interne Versammlung des verinnerlichten W i r ist der Stimmkörper des Bewußtseins. Wie draußen wirkliche Subjekte leben und wirken, so sind auch drinnen Subjekte vorhanden, die das Bewußtsein konstituieren. Das Subjekt als Ich erscheint als eine Subjektschachtelung, und was das Ich erlebt und tut, hängt davon ab, wie sich der innere Stimmkörper verhält. Es versteht sich, daß die Konstruktion des Bewußtseins als eine A r t von Repräsentantenhaus und Stimmkörper extrem idealtypische Züge trägt. Es geht auch bei dieser Modellkonstruktion nicht u m Einzelheiten, sondern vor allem um das modelltheoretische Raster, das offen und mächtig genug sein muß, u m empirisch-konkrete Erscheinungen damit zu modellieren, indem Konkretisierungen und Einschränkungen vorgenommen werden. Die Vorzüge des Modells liegen darin, daß es nicht, wie die soziologisierende Theorie, erklärt, das Subjekt sei kein Objekt, habe also i n der Theorie oder i m Modell nichts zu suchen, — daß es vielmehr genau umgekehrt verfährt und T ü r und Tor der Theorie für die Subjekte öffnet, damit möglichst viel Subjektivität darin Platz hat und sich darin zur Geltung bringen kann. Die „Objektivierung" der Theorie- und Modellbildung w i r d nicht auf dem Wege erstrebt, daß das Subjekt eleminiert wird, sondern dadurch, daß es zur auch ideellen Gestalt verdoppelt und insgesamt vervielfältigt wird. Das Ich erscheint dabei als fensterreiche Monade. Durch die Fenster und Türen, die die Sinne vermitteln, bildet sich die soziale Umgebung i n die Monade hinein, erweckt darin Bewußtseinsprozesse und konstituiert das Ich. Der Zusammenhang zwischen Ich und Umwelt ist nicht prästabilisiert, sondern stets problematisch, und zwar gerade und erst recht dann, wenn das Ich sozusagen die Fenster schließt. 4. Repräsentationsmodell
des Bewußtseins
Geht man davon aus, daß das Bewußtsein verinnerlichte soziale Welt ist, dann kann man sagen: Die soziale Welt ist darin repräsentiert, — nicht i n allen Einzelheiten, nicht abbildungsgetreu, nicht frei von Verkehrungen, aber doch i n einer noch erforschbaren Form der Verkürzimg, Verzerrung, Verkehrung und Verfälschung. Die so verinnerlichte soziale Umwelt konstituiert das Ich. Sie „bestimmt" das Bewußtsein
112 5. Kap.: Z u r psycho-, sozial- u n d sprachtheoretischen Fundamentierung
und bestimmt auch das Vor- und Unbewußte, das mitinbegriffen ist, wenn hier einfach von „Bewußtsein" die Hede ist. Die A r t und Weise nun, wie der innere Stimmkörper funktioniert, läßt sich weiter m i t Hilfe von idealtypisierenden Hypothesen konkretisieren und variieren: Wer ζ. B. i n m i r repräsentiert ist, kann, muß aber nicht Sitz und Stimme i n dem Stimmkörper haben, der mein Empfinden, mein Denken und mein Tun und Lassen „bestimmt". Hat er keine Stimme i n mir, so ist er für mich nicht vorhanden oder er ist für mich nur ein Objekt. Er ist i n m i r verdinglicht. Hat er Sitz und Stimme, fragt sich weiter, wie viel Gewicht seine Stimme hat und wie sie bei meinen Stimmungen und Entscheidungen zu Buche (oder besser: zur Stimmung) schlägt. Wer schließlich i n m i r repräsentiert ist und mich „mitbestimmt", ohne daß es i h n draußen gibt, ist ein Gespenst. B i n ich selbst i m Stimmkörper meines Bewußtseins nicht vertreten, so bin ich i n m i r selbst nichtig oder verdinglicht: bei meinem Selbst habe ich nicht mitzureden und mitzubestimmen . . . usw.: Den Variationen und Adaptionen, die das Modell i n sich „verkraften" kann, sind praktisch keine Grenzen gesetzt. Ist mein Bewußtsein ein Stimmkörper, i n dem ich nur einer unter den vielen bin, die darin Sitz und Stimme haben, so bin ich i n m i r selbst nicht allein, — so wenig wie ich draußen i n der sozialen Welt allein bin. Ich bin nur einer unter vielen, die mein Bewußtsein bestimmen. Andererseits bin ich das Selbst, das durch das Bewußtsein konstituiert wird, i n dem ich nur als einer unter vielen vertreten bin. So läuft das Repräsentationsmodell auf Verdoppelungen des Ich hinaus, die an die Freudschen Modellhypothesen zum Ich, Es und Über-Ich erinnern: Die Macht, die der ganze Stimmkörper über mich hat, wenn er meine Stimmungen und mein Tun und Trachten regiert, erinnert ans Über-Ich. Ob ähnliche Vergleichbarkeiten zum Freudschen einfachen Ich und zum Es bestehen, mag offen bleiben. Aufschlußreich w i r d das Repräsentationsmodell des Bewußtseins aber erst richtig, wenn es dazu verwendet wird, die operationale Logik gewisser Erscheinungsformen von Erlebnissen, Empfindungen und Verhaltensweisen durchzuspielen. Auch bei diesen Formen handelt es sich u m idealtypische „Logiken" des Bewußtseinsmodells m i t allen Vorbehalten, die bei Idealtypen angebracht sind. Und bevor man m i t dem Modell allzu kritisch umspringt, weil es stark theoretisch-konstruktive Züge trägt und nicht induktiv aus empirischen Befunden vorsichtig abstrahiert wurde, muß bedacht werden, daß die Begriffe, u m die es i n diesem Buche geht, sozusagen j anusköpf ig sind: I m Blick zurück auf die Empirie dienen sie dazu, Gegebenheiten zu begreifen. I m Blick voraus auf die Technik der sozialen Praxis aber dienen sie dazu, Gegebenheiten auch zu gestalten. Zumindest bleibt dieser praktische Gesichts-
I I . E i n verfassungstheoretisches Bewußtseinsmodell
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punkt stets i m Blickfeld. Daher darf es niemanden verwundern, sondern gehört geradezu zu den Notwendigkeiten des Modells, daß es mit seiner Modellogik offen genug ist, u m praktische Optionen freizustellen. I m Hinblick auf die Praxis spielen die Einfachheit des Modells (trotz seiner Adaptivität und Mächtigkeit), die Klarheit seiner Strukturen und schließlich auch die Ästhetik seiner Kategorien und Umschreibungen eine entscheidende Rolle. Hinzu kommt, daß eine Gestalt, die praktisch-technischen Zwecken dienen soll, nach Möglichkeit so plausibel und verständlich sein sollte wie die Umgangssprache, während es doch auch so präzise zu sein hat, daß nachbohrende Naturen bis zu logisch-mathematischen Strukturen vorstoßen können, ohne die Grenzen des Modells zu überschreiten. Dies alles w i l l bedacht sein, wenn die folgenden Beschreibungen angemessen beurteilt werden sollen. a) Aufrechte Repräsentation des einen i m anderen Das Sprichwort sagt: Geteilte Freude ist doppelte Freude, und es meint damit auch, daß die eigene Freude wächst, wenn ein anderer sie teilt. Wie ist das am Repräsentationsmodell des Bewußtseins konstruierbar? Friedrich Schiller schreibt: „Also liegt m i r daran, Glückseligkeit u m mich her zu verbreiten. Welche Vortrefflichkeit, welchen Genuß ich außer m i r hervorbringe, bringe ich m i r hervor; welchen ich vernachlässige, zerstöre, zerstöre ich mir, vernachlässige ich mir. — Ich begehre fremde Glückseligkeit, weil ich meine eigene begehre (...) Wenn ich hasse, so nehme ich m i r etwas; wenn ich liebe, so werde ich u m das reicher, was ich liebe. Verzeihung ist das Wiederfinden eines entäußerten Eigentums — Menschenhaß verlängerter Selbstmord 13 ." Wie ist das am Repräsentationsmodell des Bewußtseins konstruierbar? Was i h r dem geringsten meiner Brüder angetan, das habt i h r m i r angetan. Und: „Insofern der Mensch menschlich, also auch seine Empfindung etc. menschlich ist, ist die Bejahung des Gegenstandes durch einen anderen ebenfalls sein eigener Genuß 14 ." Wie ist das konstruierbar? Ein Psychologe könnte wohl antworten: „Durch Identifizierungsprozesse" oder „durch libidinose Objektbesetzung". M i r genügt die erste Erklärung nicht und die zweite ist m i r zu besitzergreifend, zu egozentriert, zu imperial. Beide sind zu wenig konstruktiv. Nicht w e i l der andere ein „Objekt" ist, das ich „besetze", sondern w e i l er ein mensch18 Friedrich 119 ff.
14
Schiller,
Philosophische Briefe, Säkularausgabe, Bd. 11, S.
K. Marx, aaO., S. 563.
8 Suhr
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5. Kap.: Z u r psycho-, sozial- u n d sprachtheoretischen Fundamentierung
liches Subjekt ist, dessen Freude i n mich hineinstrahlt, w i r d meine Freude, wenn er sie mit m i r teilt, m i r selbst verdoppelt. Nicht ich „besetze" ein Objekt, sondern ich werde von der Freude eines anderen Subjekts unterwandert: Freut sich der andere, so scheint es, als freue sich auch sein Repräsentant i n m i r und als schlage dessen Freude auf meine Stimmung durch. Soll sich die Freude oder das Leid eines anderen über seinen Repräsentanten i n m i r auf meine Empfindungen übertragen, dann muß er zunächst überhaupt i n m i r repräsentiert sein oder ich muß zu mindest einen Platz i n m i r bereithaben, auf dem ich i h n repräsentieren kann, und dieser sein Repräsentant i n m i r muß so m i t meinem Empfindungsapparat i n Verbindung stehen, daß sich seine Freude als meine Freude und sein Leid als mein Leid niederschlägt. I m Gegensatz zu Schadenfreude, zum Neid und zur Mißgunst, wo fremde Freude mich ärgert, w i r d hier also nichts verkehrt und umgedreht. Daher darf davon gesprochen werden, daß der andere i n m i r aufrecht repräsentiert ist: Aufrechte Repräsentation der Menschen i m Menschen. Wenn ein anderes Sprichwort sagt: Geteiltes Leid ist halbes Leid, so spricht das dafür, daß das Bewußtsein eines Menschen so organisiert sein kann, daß zwar die Freude, die er anderen mitteilt und m i t ihnen teilt, „verstärkt" wird, wenn sie über den inneren Vertreter des anderen i n den ersten zurückstrahlt, daß aber Leid auf dem gleichen Wege gedämpft werden kann. Das Repräsentationsmodell des Bewußtseins ist offen und adaptiv genug, alle solchen Besonderheiten zu erfassen. Es müssen nur entsprechende Verknüpfungen und Verbindungen m i t Verstärkungs- und Dämpfungseffekten modelliert werden. b) Verkehrte Repräsentation des einen i m anderen Wenn KZ-Wächter es m i t Lust genießen, daß Häftlinge gequält werden, — wenn ich meinem Nächsten sein Glück nicht gönne und m i r durch Neid den Tag vermiesen lasse, — wenn einer jungen Generation durch Propaganda eingedrillt wird, diesen oder jenen Feind zu hassen und i h m den Tod zu wünschen: Wie sind diese Weisen des Empfindens am Bewußtseinsmodell konstruierbar? — Wie bei der aufrechten Repräsentation des einen i m anderen, — nur daß nun die inneren A n schlüsse, die durch Erbgut, durch Sozialisation und durch ideologischen D r i l l organisiert werden, sozusagen vertauscht und „verkehrt" angeschlossen sind: Fremde Freude w i r d m i r nun i n eigenen Verdruß übersetzt und fremdes Leid i n eigene Lust. Das ist die Psychologik der Enthemmung und der Brutalität. Je nach dem, wie sehr i n den einschlägigen inneren Kanälen dann noch Verstärker oder Dämpfungen „eingebaut" sind, kann es dazu kommen, daß Menschen, i n denen die ver-
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kehrte Repräsentation vorherrscht, durch nichts mehr daran zu hindern sind, sich durch Haß, Mißgunst und Menschenquälerei Lust und Vergnügen zu bereiten: wie jene Versuchsratten i m Experimentierkäfig, die bis zur Erschöpfung den Lustknopf betätigen, der ihnen über eine ins Gehirn eingepflanzte Elektrode Lustempfindungen ins Nervensystem sendet, — nur m i t dem Unterschied, daß der Auslöser, der richtig „bedient" werden muß, ein anderer Mensch ist, und zwar ein Mensch, der i m Inneren „verkehrt" repräsentiert ist oder auf einem inneren Platz für Verkehrte zu sitzen kommt. c) Theozentrische Repräsentation der Welt i m Menschen Wenn der Mensch glaubt, das Geschehen der Welt hänge von Gottes Willen ab und Gott sei über alles zu lieben, und wenn dieser Gott dann nicht in der Welt ist, sondern darüber oder sonst irgendwo draußen, und wenn der Nächste nur geliebt wird, soweit und weil Gott es w i l l , dann haben die anderen Menschen keine oder nur sehr schwache Stimmen i m Menschen. Sein Bewußtsein w i r d nicht von einem menschlichen inneren Stimmkörper, sondern von einem riesenhaften Nichtmenschen bestimmt, oder eben von denen, die behaupten, i m Namen dieses Nichtmenschen zu sprechen. Bei der theozentrischen Repräsentation der Welt i m Bewußtsein werden — je nach Weltferne des Gottes und Undifferenziertheit des Gottes i n sich — die Vielfalt der Welt, die Vielstimmigkeit der Menschen und ihre konkrete Leibhaftigkeit und Gegenwart verkürzt oder unterschlagen. Der abstrakte Gott w i r d überwichtig, der konkrete Mensch dafür w i r d nichtig. Das kann so weit führen, daß die Menschen, deren Bewußtsein von diesem Gott beherrscht wird, über andere Menschen, die diesen Gott lästern, herfallen und sie töten: So wichtig der „Gott", so nichtig der Mensch. Da w i r — i m Repräsentationsmodell des Bewußtseins betrachtet — i m Zuge der Sozialisation von anderen Subjekten unterwandert werden, ist unser Bewußtsein subjektiv vorstrukturiert: Es enthält Fertigbauteile für die Hereinnahme von Subjekten, — auch von solchen Subjekten, die nicht leibhaftig existieren, sondern von denen nur berichtet wird. Es ist daher geradezu zu erwarten, daß Kräfte, die das Bewußtsein beherrschen oder es beherrschen sollen, die Gestalt von Subjekten annehmen: der Gott, die Götter, die Götzen und ihre säkularisierten Nachfolger.
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d) Egozentrische Repräsentation Sieht jemand immer nur sich i n anderen und nie die anderen auch i n sich 15 , — n i m m t er sich sehr wichtig, während die anderen als Menschen für i h n L u f t sind, — schlägt jedes Unwohlsein gleich v o l l und ganz auf sein Bewußtsein durch und macht i h n wehleidig: Dann ist er i n sich selbst überrepräsentiert. Wie bei der theozentrischen Repräsentation der Welt i m Menschen w i r d auch i n diesem Falle die Vielstimmigkeit nicht hereingeholt, sondern bleibt aus dem Bewußtsein ausgesperrt. Der Betroffene ist i n seinem Bewußtsein nicht einer unter vielen i n dem „Stimmkörper", sondern macht sich dort alleine breit und liefert sich selbst die eintönige Schablone, nach der er alles sieht. Er w i r d i n seinem Inneren nicht durch viele „mitbestimmt", sondern gibt n u r selbst den Ton an. U n d wegen der Erfahrungen, die er m i t sich selber macht, kann er sich auch die anderen n u r nach seinem Bilde vorstellen: ebenso egozentrisch, so daß er stets fürchten muß, nicht beachtet zu werden. Also drängt es ihn, überall selbst mitzureden u n d mitzubestimmen. Da er keine Stimmen anderer i n sich kennt, kann er sich auch nicht vorstellen, daß er eine Stimme in anderen hat. So gibt es für ihn Mitbestimmung n u r i n der Form des direkt-körperlichen Dabeisitzens oder eifersüchtig überwachte imperative Mandate. Die egozentrische Repräsentation ist die Inzucht der Repräsentation der Menschen i m Menschen: Sie b e w i r k t nicht die innere Vergemeinschaftung meines Ichs, sondern meine innere Vereinsamung und Verprivatung. e) Verdinglichende Repräsentation des einen i m anderen Ist der andere Mensch für mich n u r ein Objekt, das ich libidiös oder sonst wie besetze, — ist er für mich n u r Werkzeug oder nur Material, so ist er i n m i r nicht als Mensch m i t Leib und Seele, nicht als Subjekt, sondern nur als Ding repräsentiert. Ähnlich ist es m i t Rollen, die als bloße Verhaltensmechanismen abgespult werden: Sind doch Rollen gerade definiert als das, was von der Person abstrahiert u n d soziologisch objektiviert werden kann. Es versteht sich, daß solche Routinen sich nicht aus der Welt schaffen lassen. Man kann i n ihnen die Form sehen, i n denen objektive Härten und Notwendigkeiten i n einer Gesellschaft erfahren werden, die die Härten und Notwendigkeiten der physischen Natur durch gemeinsame Arbeit mildert: Die Unabhängig15 Friedrich Schiller, Sämtl. Werke (1828), Bd. 18, S. 125: „ M i t seiner M e n schenwürde unbekannt, ist er w e i t davon entfernt, sie i n A n d e r n zu ehren, u n d der eigenen w i l d e n Gier sich bewußt, fürchtet er sie i n jedem Geschöpf, das i h m ähnlich sieht. Nie erblickt er Andere i n sich, n u r sich i n Andern, u n d die Gesellschaft, anstatt i h n zur Gattung auszudehnen, schließt i h n n u r enger u n d enger i n sein I n d i v i d u u m ein."
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keit von der Natur w i r d m i t Abhängigkeiten der Menschen voneinander bezahlt, und das zeigt sich unter anderem darin, daß die Menschen füreinander auch M i t t e l und Mechanismen werden. Viele Formen der Verdinglichung i m Zuge der Verinnerlichung sind menschenunwürdig und vermeidlich. Viele aber sind unvermeidlich, und bei diesen kann es nicht darum gehen, sie abzuschaffen, sondern nur darum, sie i n menschenwürdigen, annehmbaren und gerechten Formen einzurichten und hinzunehmen. Es ist aber hier nicht der Ort, das anthropologische Problem des objektiven Teiles des gesellschaftlichen Menschen i n allen Tiefen auszuloten und praktisch zu bewältigen. Wichtig ist an dieser Stelle aber einzusehen oder wenigstens zu warnen, daß sich die gesellschaftliche Welt niemals i n traumhaft-weicher Subjektivität auflösen wird, i n der alle Objektivierungen und Verdinglichungen beseitigt sind. Schöne Versprechungen dieser A r t gleichen vielmehr jenen verführerischen Melodien, die der Rattenfänger von Hameln spielte, nachdem man ihn u m seinen Lohn geprellt hatte und als er sich aufmachte, die Kinder der Stadt zu entführen. I I I . Dreidimensionaler Verfassungsbegriff Obwohl auf Modellbildung fürs Bewußtsein ausgerichtet, impliziert das Repräsentationsmodell des Bewußtseins den gesellschaftlichen Kontext und ergibt dadurch einen Rahmen, innerhalb dessen Fragen und Probleme der Verfassungstheorie und -technik i m Zusammenhang des Systemverbundes von Drinnen, Draußen und Sprache erörtert werden können 1 6 . Das Konzept hat, was hier nicht ausdrücklich entwickelt und hervorgehoben worden ist, dialektische Struktur: Es vermag „Verkehrungen", „Negationen" und „Widersprüche" zu erfassen und zu modellieren. Gleichwohl ist es bisherigen dialektischen Konzepten an sprachlicher Genauigkeit trotz verbleibender Unschärfen überlegen. Die verschiedenen Formen der internen Repräsentanz der Umwelt i m Menschen liefern Anhaltspunkte für sozialtechnische Alternativen oder Tendenzen: Wenn sich nämlich i n dem Modell auch nur ungefähr Erfahrung niedergeschlagen hat und auf plausible Nenner gebracht worden ist, taugt es zur praktischen Orientierung bei der Ausgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, die w i r uns geben wollen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Repräsentationsmodell des Bewußtseins dann klärend und anregend zurückwirkt auf den Bereich, über den es formuliert wurde: eine Wirkung, die vom Modellbauer, der sich seiner 16 Die folgenden Überlegungen finden sich größtenteils u n d ausführlicher bereits i n D. Suhr, Bewußtseinsverfassung u n d Gesellschaftsverfassung, B e r l i n 1975.
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kognitiv-praktischen Situation i n der Gesellschaft bewußt ist, bedacht und beabsichtigt ist. Die psycho- und sozialtechnische Arbeit an dem Verfassungssystem m i t seinen drei Aggregatzuständen der Bewußtseins-, der Gesellschaftsund der geschriebenen Verfassung setzt allerdings voraus, daß man sich entscheidet und für bestimmte Formen der inneren Repräsentation optiert: Sei es für Entlastung der Empfindungen durch Verdinglichung; sei es für die Lust-Mechanismen der Freund-Feind-Inversionen; sei es für Egozentrik oder Theozentrik oder schließlich für die aufrechte interne Repräsentation der Menschen i n den Menschen. Nach dieser Entscheidung fangen die konkreten Probleme erst an. Aber vielleicht läßt sich etwas leichter Übereinstimmung über Ziele und über Wege erzielen, wenn ein modelltheoretischer Rahmen zur Verfügung steht, der offen, weit und adaptiv genug ist, u m vieles zusammenhängend zu erörtern, das sonst nur sehr schwer i n einem Modell oder einer Fachsprache zusammen erörtert werden kann. 1. Verfassungsstrukturen
des Notstandes
Unter welchen Bedingungen einer Gesellschaft kann es nun zu welchen Bewußtseinsformen kommen? Welche „materiellen Verhältnisse" verformen das Bewußtsein, das sie „widerspiegelt", i n welcher Richtung? Welche Gesellschaftsstrukturen provozieren welche Bewußtseinsverfassungen? Wie etwa kommt es zu groß angelegten, langfristig wirksamen verkehrten und theozentrischen Repräsentationen der sozialen Welt i m Bewußtsein? ζ. B. i n Zeiten der Not und Unterdrückung. Es scheint, als sei auch der alttestamentarische Gott der Not eine Gestalt, i n der eine teils verkehrte, teils theozentrische Repräsentation der Welt i m Bewußtsein erlebt und zur Sprache gebracht worden ist: Der Gott, der aus der Not ins verheißene Land geführt hat. W i r d eine Notlage unerträglich, entsteht eine allgemeine Stimmung der Unzufriedenheit m i t der zeitlichen, örtlichen und gesellschaftlichen Gegenwart: eine Stimmung, die reif ist für Veränderung. Daher fehlt nicht viel, u m die allgemeine Stimmung i n eine Stimme zu übersetzen. Es muß jemand auftreten, der die einheitliche Stimmung beim Namen nennt, der sie ausspricht und Wege anbietet, die aus der Situation hinausführen. Dann hat die allgemeine Stimmung einen Sprecher gefunden, der für sie spricht, für sie denkt und für sie plant. Wie aber der Sprecher das formuliert, was er zu sagen hat, — i n welcher Sprache und i n welchen Zeichen oder Symbolen er diese Einheit ausdrückt, hängt davon ab, welche Sprache verstanden wird. Der Sprecher muß also anknüpfen an Vorstellungen, die schon i n den Köp-
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fen sind: ζ. B. beim Gott der Väter. Und er muß sie so weiterentwikkeln, daß man i h m Gehör schenkt und i h m glaubt. Der Gott der Väter w i r d ein Gott der Not und des Aufbruches, und er erhält den kennzeichnenden Namen: „Ich-werde-sein". Das ist die sprachliche Hülle, durch die die allgemeine Stimmung zusammengefaßt, auf einen Nenner gebracht und i n eine Stimme übersetzt wird. Die allgemeine Notlage verlangt nach einer Notstandsverfassung, u m m i t i h r fertig zu werden. Bevor die Notstandsverfassung sich i n praktisch-gesellschaftlichen Taten zeigt, muß sie i m Bewußtsein als innere Struktur vorweggenommen worden sein. Die äußerliche Notlage provoziert eine A n t w o r t von innen: Wenn sie auf Unterdrückung beruht, Auflehnung und Empörung. So bestimmt das übrige Sein das Bewußtsein zu zweierlei: Erstens zu einer Auflehnung und zweitens dazu, sich unter einer gemeinsamen Stimme zu sammeln, die aus der Not hinauszuführen verspricht. So — kann man sagen — ruft die Notlage nach einem Gott. Und nicht nur dies. Die Not des Volkes war auch eine Not der Unterdrückung und Knechtung. Also richtet sich die allgemeine Stimmung gegen andere Menschen: gegen die Herren und Unterdrükker. Ihnen gegenüber ist der Gott des Aufbruchs der Nenner der Solidarität. Die Unterdrücker selbst aber sind das Hindernis aller Veränderung, das überwunden werden muß und zu dessen Überwältigung alle Kräfte entbunden werden müssen. Dann ergibt es sich ganz von selbst, daß sie verkehrt — das heißt: als Feinde — i m Bewußtsein repräsentiert werden oder dort schon als solche repräsentiert sind. Sie sind der Nenner der Feindschaft. Je feindlicher die Haltung, desto hemmungsloser kommt die Logik der inversen Repräsentation zum Zuge, die die Logik der Brutalität ist. Unter dieser inneren Verfassung, die zugleich eine theozentrische und (hinsichtlich der Feinde) eine inverse Repräsentation ist, w i r d zum Aufbruch geblasen und gekämpft. Und die gleiche theozentrisch-inverse Bewußtseinsverfassung w i r d mit jedem kämpferischen A k t geübt, eingeprägt und bewährt. So w i r d sie zur tiefsten, intensiven zweiten Natur der Menschen. Theozentrik und Inversion stecken ihnen dann „ i n Fleisch und Blut", d. h. i m Gehirn, wo sie das Denken, das Erkennen und das Handeln beherrschen. So kann Feindschaft schließlich als Inbegriff von Politik überhaupt erlebt werden. Ist der Kampf vorbei und das gelobte Land erreicht, kehren sich die Zusammenhänge um: Hatte einst die Not nach einem Gott gerufen, und hatte es einst eine Weile gedauert, bis man einen gemeinsamen Nenner und einen Interpreten der Gottheit gefunden hatte, so fehlt jetzt dem Gott die Notlage. Jetzt hinkt die Form der internen Repräsentation, die beim Aufbruch ihre solidarisierende und enthemmende Funktion vortrefflich erfüllt hatte, hinter der veränderten Wirklichkeit her. Der
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Feind ist überwunden, soweit er draußen als wirklicher Feind bekämpft wurde, aber seine Plätze i m Bewußtsein, auf denen er invers repräsentiert war, sind noch vorhanden. Sie stehen leer und rufen danach, wieder besetzt zu werden. Einen äußeren Kampf kann man über Nacht beenden. Aber tiefsitzende Bewußtseinsstrukturen, die m i t den Menschen einer Gesellschaft zu ihrer zweiten Natur intensiv verwachsen sind, tilgt man nicht so leicht i n Kindern und Kindeskindern. Für ein theozentrisch-invers verfaßtes Bewußtsein ist die Welt nur dann i n Konsonanz m i t dem Bewußtsein, wenn sie i n Freund und Feind zerrissen ist. Sonst fehlt diesem Bewußtsein etwas, nach dem es sich undeutlich aber kräftig zurücksehnt. Solange es unter der mitgebrachten oder überlieferten Verfassung steht, ist für es die Welt nur in Ordnung, wenn sie i n sich verfeindet ist. Nichts liegt daher näher und nichts ist wahrscheinlicher, als daß listige Mitglieder der Gesellschaft die Chance erkennen, die darin liegt, das ganze innere Verfassungsgerüst dadurch i n K r a f t zu erhalten und für sich auszunutzen, daß stets rechtzeitig neue Feinde benannt werden. Dann stimmt die Welt wieder und es kann verlangt werden, daß dem alten Gott, i n dessen Namen sich alles abspielt, wieder Gehorsam geleistet wird. Solange kein neuer Feind benannt ist, die alte Bewußtseinsverfassung aber weitergepflegt wird, werden die leerstehenden Plätze der Feinde i m Bewußtsein subjektiv freilich nicht als Leerstellen i m eigenen Inneren erfahren, sondern als Feindgespenst, das draußen jederzeit leibhaftig erscheinen kann, wenn es i n einen Menschen einfährt. So taugt das Modell der internen Repräsentanten nicht zuletzt dazu, die innere Logik von leibhaftigen Teufeln und Hexenverfolgungen durchzuspielen. Aufschlußreich ist es auch, einen anderen, etwas konstruierten aber doch nicht unwirklichen oder lebensfremden Fall m i t Hilfe des Modells durchzuspielen: Nicht alle Menschen i n einer Gesellschaft stehen unter der gleichen Bewußtseinsverfassung. So kann man sich den Fall denken, daß i n einer Gesellschaft, die i n sich zerrissen und verfeindet ist, einer auftritt, der nicht unter der Freund-Feind-Verfassung steht, die die übrigen beherrscht, sondern alle Menschen i n sich aufrecht repräsentiert, — etwa, weil er während wichtiger Phasen seiner Sozialisation i n der Fremde gewesen ist, wo er der sonst herrschenden Bewußtseinsverfassung entgehen konnte. Nun muß er erleben, wie die anderen sich wechselseitig hassen und auf den Tod bekämpfen. Denn die anderen stehen unter der teils verkehrt repräsentierenden Bewußtseinsverfassung. Was diese anderen einander antun, daraus beziehen sie wenigstens noch wechselseitig Lust und Konsonanzerlebnisse: Erstens finden sie die Welt i n Ordnung, solange sie i n Freund und Feind geteilt ist. Zweitens gereicht es ihnen zur Lust, wenn der Feind leidet, und es gehört zu den Spielregeln, daß
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die eigenen Leiden als Ehre ins Spiel miteingebracht werden. Ganz anders w i r d das Geschehen von dem Beobachter miterlebt, der beide Parteien i n sich aufrecht repräsentiert: Was draußen für die anderen ein zwar invertierter, aber logischer Prozeß von Lust-Leid-Abtausch ist, w i r d i n i h m zu einem Wahnsinn, der sein Bewußtsein zu zerreißen droht. Denn was immer draußen auch geschieht, — wer immer siegt oder geschlagen wird, jauchzt oder leidet: für den, der es aufrecht i n sich repräsentiert, ist die wechselseitige inverse Repräsentation der anderen nichts als menschliche Perversion. Seine menschliche Stärke führt dazu, daß er nun ein Innenleben i n sich hineingezwungen bekommt, das seinen Lebenswillen brechen kann, w e i l es der Inbegriff der Dissonanz zwischen der wirklichen Welt und der anderen Welt ist, die er auf Grund seiner Bewußtseinsverfassung erwartet und i n sich bruchlos repräsentieren kann. Die einander feindlichen Parteien ihrerseits können i n i h m nur einen Wahnsinnigen sehen, dem seine innere Größe und Menschlichkeit als Feigheit, seine Stärke als Schwäche und seine Zurückhaltung als Verrat ausgelegt w i r d : Folgerichtig nach der Logik der Verkehrungen, durch die jeder Wert ins Gegenteil verkehrt w i r d und die einzigen menschlichen Menschen als Unmenschen verspottet und gesteinigt, gerichtlich verurteilt oder medizinisch für nicht normal erklärt werden. Ähnliche Beobachtungen wie zur Theokratie ließen sich zur absoluten Monarchie anstellen: „Die souveräne Monarchie Bodin's w a r — was er nicht wußte u n d schwerlich wissen konnte — der E n t w u r f einer Verfassung f ü r den Notstand, der durch die Untauglichkeit der alten Herrschaftsmittel u n d die Unfähigkeit der alten Herrschaftsinstanzen verursacht worden w a r . . . Wie jeder N o t standsverfassung oblag es der souveränen Monarchie, sich selbst überflüssig zu machen . . . " „Erst nachdem die souveräne oder weitgehend souveräne Monarchie die staatliche Handlungs- u n d Wirkungseinheit hergestellt . . . hatte, . . . waren die Voraussetzungen geschaffen, unter denen Herrschaftsteilhabe u n d M i t bestimmung zur Stärkung, nicht zur Aufhebung des Staates führten. A u f der so erreichten Stufe w u r d e der fürstliche Souverän zum Systemdefekt 1 7 ."
Hat man einmal den Zusammenhang zwischen den Lagen und den verfassungstechnischen Antworten auf die Lagen, den Zusammenhang zwischen dem Sein und dem Bewußtsein samt seiner Theorie und Technik an Modellen studiert, erkennt man i h n auch auf anderen Gebieten wieder. Der Unternehmer etwa kann sich solange als souveräner Eigentümer gerieren, wie die ökonomische Lage einer Notlage gleicht, i n der es hart zugeht. Kommen schönere Zeiten, meldet sich der Geist der Mitbestimmung. Auch die Diktatur des Proletariats gleicht dem al17
H. Quaritsch, Staat u n d Souveränität, Bd. 1, F r a n k f u r t 1970, S. 471 f.
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ten Gott darin, daß sie die ideologische und praktische Gestalt eines Aufbruchs ist, der sich gegen einen Feind richtet und i n eine verheißene Gesellschaft führen soll: „ D a m i t die Revolution eines Volkes u n d die Emanzipation einer besonderen Klasse der bürgerlichen Gesellschaft zusammenfallen, damit ein Stand für den Stand der ganzen Gesellschaft gelte, dazu müssen umgekehrt alle Mängel der Gesellschaft i n einer anderen Klasse konzentriert, dazu muß . . . eine soziale Sphäre f ü r das notorische Verbrechen der ganzen Sozietät gelten, so daß die Befreiung v o n dieser Sphäre als die allgemeine Selbstbefreiung erscheint 1 8 ."
A n diesem Konzept von Marx ist besonders gut die Technik zu erkennen, die darauf zielt, die Gegner zu Verbrechern zu definieren und sie auf Feindplätzen i m Bewußtsein zu repräsentieren. Bei dieser Strategie w i r d m i t keinem Wort des Problems gedacht, das vorhin am historischen Beispiel des Volkes Israel durchexerziert worden ist: Zunächst ruft die Notlage nach einem Gott; dann fehlt dem Gott die Notlage. Oder weltlicher ausgedrückt: Zunächst w i r d eine Form der internen Repräsentation geschaffen, die als Notstandsverfassung des Bewußtseins und der Praxis bezeichnet werden kann. Sie ist auf Kampf, auf Feindschaft und auf Enthemmung angelegt. Später taugt die ehemalige Notstandsverfassung vorzüglich zur ideologischen Konservierung der Herrschaftsstrukturen, die zur Zeit des echten oder eingebildeten Notstandes geboren wurden. Was zur Legitimation weltlich-revolutionärer Herrschaft taugte, taugt noch besser zur Erhaltung weltlich-reaktionärer Herrschaft; denn es trägt äußerlich stets noch den Schein der Revolution zur Schau. Das ist die von Hegel längst gesehene und bedachte, von Marx und Engels aber übersehene oder ausgeblendete „negative Seite" der revolutionären Arbeit an der Gesellschaft. Marx, der ausgerechnet Hegel vorwirft, die negative Seite der physischen Arbeit nicht erkannt zu haben 19 , schenkt der negativen Seite der Arbeit, bei der er selbst m i t Hand anlegt, so gut wie keine Aufmerksamkeit. Nichts beweist das besser als Marx' Einschätzung der Religion, die er vorfand, als „Opium des Volkes". Daß der Gott dieser Religion einmal ein Gott des israelischen Notstandes i n Ägypten und damit selbst ein Gott des praktischen Aufbruches aus der Unterdrückung i n die Freiheit war, w i r d dabei nicht erwähnt. Entweder also war Marx dafür blind: So wie fernsichtige Menschen die Brille, durch die sie selbst hindurchsehen, gerade deshalb nicht sehen, w e i l sie sie auf der Nase haben. Oder Marx wollte die logische Verwandtschaft zwischen seiner revolutionären Botschaft und der alten Religion nicht kundtun, weil 18 19
K . Marx, M E W 1, S. 388 - 390. K . Marx, M E W , Erg. Bd. I, S. 574.
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sonst seine Religionskritik von ihrer Brisanz eingebüßt und sich zum großen Teil gegen seine eigene Lehre gekehrt hätte. Der Gott Israels war seinerzeit nicht etwa ideologisches Opium fürs Volk, u m es einzulullen, sondern eher ein ideologisches Doping, um es gegen die Unterdrücker auf die Beine zu bringen. Und i n diesem Punkt ähnelt die alte Religion der neuen Revolution i n aufschlußreicher Weise. I n beiden Fällen ist eine klare inverse Repräsentation i m Spiel: Eine verkehrte Repräsentation von Menschen i n Menschen, m i t allen Folgewirkungen und Fernwirkungen, die eine solche Bewußtseinsverfassung m i t sich bringt. — 2. Allgemeinwille Das Modell der internen Repräsentanten ermöglicht es auch, ein sehr altes politisches und verfassungspolitisches Problem wenigstens modelltheoretisch einmal plausibel durchzuspielen: das Problem des Allgemeinwillens oder der volonté general . Dazu bedarf es i m Grund nur eines Hinweises: Wenn das Bewußtsein als ein Stimmkörper modelliert wird, der aus internen Repräsentanten der äußerlichen Menschen konstituiert wird, dann ist der Wille, der auf diesem inneren Boden wächst, dem konstruktiven Idealtyp nach Allgemeinwille. Aber: Je nach Bewußtseinsverfassung trägt er die Züge an sich, die i h m durch die Bewußtseinsverfassung auferlegt werden. Der Allgemeinwille eines teils invers verfaßten Bewußtseins w i l l Feindschaft gegenüber einem Teil der Menschen. Wie draußen ganz allgemein herrscht drinnen und herrscht dann i m Willen die Freund-Feind-Gespaltenheit. So ist jedenfalls die Parallelität von Einzel willen und Allgemeinwillen kein theoretisches Paradoxon mehr, sondern konstruierbar. Die praktischen Probleme, wie etwa i n einer Gesellschaft m i t vorherrschender Freund-Feind-Verfassung ein Weg beschritten werden kann, der zur Vorherrschaft anderer Bewußtseinsstrukturen führt, also z. B. in eine Gesellschaft m i t überwiegend aufrechter Repräsentation der Menschen i n den Menschen und m i t einem entsprechenden Allgemeinwillen, — diese Probleme sind damit freilich nicht gelöst, sondern nur schärfer gefaßt. Die Wirklichkeit dringt ins Bewußtsein ein; sie durchdringt es auf den Wegen, welche durch die Bewußtseinsverfassung vorgezeichnet sind; und sie geht wieder aus i h m hervor. So w i r d die übrige W i r k lichkeit zu „Geist" und so fährt der „Geist" wieder „ins Fleisch", i n dem er das Verhalten der Menschen bestimmt. Der Transsubstantiation der übrigen Wirklichkeit i n innere Zustände folgt die zweite Transsubstantiation der inneren Zustände i n übrige, äußerliche Wirklichkeit. Dabei kann das Innere als Station der Auflehnung, der Verneinung und
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des Widerspruches fungieren (gewissermaßen als Sackbahnhof, aus dem man nur re-volutionär wieder herauskommt) oder als Station der K l ä rung, des Erfassens und des Verfassens (als Katalysator). 3. Repräsentierende und imperative Herrschaftsformen Auch zu dem ganzen Komplex, der unter dem Stichwort „Demokratie" zusammengefaßt werden kann, ergeben sich an Hand des Modells einige aufschlußreiche Einsichten. Dazu ist es zweckmäßig, an den Ausgangspunkt der Überlegungen zurückzugehen: A m Anfang des Modells der internen Repräsentanten stand die Überlegung, daß es Ä h n lichkeiten zwischen Innen und Außen gibt. Das führte zu der Annahme von internen Repräsentanten. Dieser Gedankengang führte von draußen nach drinnen m i t dem Ergebnis, daß die eigenen Bewußtseinsleistungen als eine Funktion dargestellt werden können, i n die das Verhalten anderer als mitbestimmender Einfluß, d. h. als Parameter eingeht. Dies war gewissermaßen der Weg der Verinnerlichung. Nun läßt sich der Weg i n umgekehrter Richtung beschreiten: Auch das Reden und das Handeln sind Leistungen, die aus dem Bewußtsein kommen, — also Leistungen, die kraft der Bewußtseinsverfassung m i t telbar durch die anderen mitbestimmt sind, — und zwar je nach Verfassungstyp i n sehr unterschiedlicher Weise mitbestimmt sind. So dringt, was auf dem Weg der internen Repräsentation ins Bewußtsein hereingeholt wird, i n Gestalt der Reden und Handlungen wieder aus i h m hinaus i n die äußere Welt hinein. Dies ist dann der Weg der Entäußerung. Repräsentiert jemand andere i n sich verkehrt, so behandelt er sie entsprechend: als seine Feinde. Repräsentiert jemand andere i n sich aufrecht, so behandelt er sie entsprechend: als seinesgleichen. Da sie i n i h m seine Entscheidungen mitbestimmen, handelt er i n ihrem Sinne. Er ist ihr Repräsentant. Indem die anderen in ihm repräsentiert sind, werden sie durch ihn repräsentiert. Was die Repräsentation der Menschen in den Menschen für die Bewußtseinsverfassung ist, das ist die Repräsentation der Menschen durch den Menschen für die Gesellschaftsverfassung. Krieg ζ. B. ist die äußere, realisierte Repräsentation des einen durch den anderen als seinem Feind. Also w i r d man zu bestimmten idealtypischen Formen der inneren Repräsentation die jeweils typische äußere Erscheinungsform dieser inneren Verfassungsform finden und angeben können. Als Beispiel dafür sei hier die egozentrische Repräsentation gewählt. Unter der egozentrischen Bewußtseinsverfassung ist der Mensch innerlich vereinsamt und m i t sich allein. I n i h m gibt es keine Mitbestimmung durch
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andere, keine innere Vergesellschaftung seines Bewußtseins. Er kann sich Vergesellschaftung also nur vorstellen als einen äußerlichen Prozeß, i n den er seine Stimme unmittelbar ein- und zur W i r k i m g bringen kann. Da er aber nicht bei jeder Entscheidung, die i h n berührt, höchst persönlich dabeisein kann, muß er sich durch Vertreter vervielfältigen, — aber durch Vertreter, die genau so stimmen, wie er es wünscht. Denn sonst brächte er sich u m die Mitbestimmung, die für i h n nur als physische Miteinbringung seiner Stimme zur konkreten Frage vorstellbar ist. Das heißt: Aus einem egozentrisch verfaßten Bewußtsein geht der Drang zur unmittelbaren oder durch imperatives Mandat vermittelten Mitbestimmung hervor, und zwar um so kompromißloser, je weniger dieses Bewußtsein schon i n sich vergesellschaftet ist. (Beim imperativen Mandat ist der Abgeordnete bekanntlich nicht wie etwa Abgeordnete des Bundestages von Wählerdirektiven frei und „ n u r seinem Gewissen" unterworfen, sondern er w i r d vom Wähler an der imperativen Kandare geführt und kann jederzeit abberufen und ersetzt werden.) So wie die egozentrische Repräsentation als kurzgeschlossene Repräsentation oder als die Inzucht der Repräsentation bezeichnet werden konnte, so kann nun die Vertretung durch imperative Mandate als kurzgeschlossene Repräsentation oder als die Inzucht der Repräsentation bezeichnet werden, die zwar hier oder dort aus sehr konkreten und sehr begrenzten Gesichtspunkten heraus i n anderem Licht erscheinen mag, als allgemeine Ideologie jedoch genau eine der äußeren Erscheinungsweisen des egozentrisch verfaßten Bewußtseins ist. Das w i r d vielleicht noch deutlicher, wenn man einen Vergleich anstellt. Wo gibt es so etwas Ähnliches wie das imperative Mandat? Wo findet sich ein vergleichbarer imperativer Zusammenhang zwischen Bestellung und Abberufung, zwischen Einstellung und Entlassung? I m Prinzip des hire and fire des freien Unternehmertums! Der Mensch, der sich auf Grund gesellschaftlicher Konventionen kraft Eigentums befugt wähnt, m i t andern so nach W i l l k ü r zu verfahren, als handele es sich u m Eigentum, also u m Sachen, — der beansprucht das Recht, nach seinem Belieben zu handeln. Vor diesem Hintergrund erscheint das imperative Mandat als eine ebenso ungewollt-listige wie einfallslose Übertragung des Prinzips „hire and fire" aus dem Gebiete des unternehmerischen Privateigentums, wo es langsam seine K r a f t verliert, auf das Gebiet einer angeblich sozialistischen Politik. Dahinter steckt freilich meist kein böser Wille, sondern guter Glaube. Die List des eigenen Bewußtseins w i r d noch nicht durchschaut, welches seine egozentrische Verhaltensweisen noch über den Zeitpunkt hinaus beibehalten und ideologisch bemänteln w i l l , i n dem die Bemäntelung m i t „Eigentum" ihre überzeugend-irreführende K r a f t einbüßt. Welcher inbrünstige Verfechter des imperativen Mandats hat sich schon einmal Rechen-
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5. Kap.: Z u r psycho-, sozial- und sprachtheoretischen Fundamentierung
schaft darüber abgelegt, inwiefern seine Bestrebungen auf eine Wiedergeburt des Privateigentums i n verjüngter, politischer Gestalt hinauslaufen? Ein wichtiger Unterschied besteht freilich zwischen der Ideologie des Privateigentums und der des imperativen Mandats: Bei jener w i r d die W i l l k ü r dem Schein nach als W i l l k ü r über Eigentum, über Sachen beansprucht, — bei dieser ganz offen als Verlängerung des eigenen Willens durch andere Menschen hindurch, die nach der eigenen (individuellen oder mehrheitlich beschlossenen) imperativen Pfeife tanzen sollen. Die Verwandtschaft zwischen dem kapitalistischen „hire-and-fire" hier und dem rätedemokratischen imperativen Mandat dort läßt sich sogar noch etwas weiter verfolgen: Wenn es i n der kapitalistischen Gründerzeit so rauh, rücksichtslos und hierarchisch zuging i n den Unternehmen, so darf man dahinter wiederum einen Notstand vermuten,— eine Lage, aus der m i t großen Anstrengungen hinausgestrebt wurde. Und i n der Tat: Man kann die Ideologie des unternehmerischen Privateigentums und ihre „Verwirklichung" als A n t w o r t auf die wirtschaftliche Lage deuten, die bestimmt w i r d durch diese Lage, — als ideologische und rechtlich konkretisierte Aufbruchsverfassung der wirtschaftlichen Aktionszentren für den langen, brutalen Marsch aus dem Land der vorindustriellen A r m u t durch die Wüste der Rücksichtslosigkeiten und Entbehrungen i n das verheißene Land der Überflußgesellschaft, i n dem Milch und Honig fließen 20 . — Eigentum und Geld sind Medien, m i t denen eigener Wille i n fremde Entschlüsse injiziert werden kann 2 1 : Medien des Einflusses des einen Menschen auf den anderen. Aber nicht dieser Einfluß selbst ist verwerflich. Er ist vielmehr unvermeidlich und kehrt i n anderen Gestalten wieder, wenn man versucht, ihn i n der einen Gestalt abzuschaffen. Problematisch ist nur die Einseitigkeit und Asymmetrie i n der sozialen Wirklichkeit und die Frage nach der Legitimation des käuflichen Einflusses auf den Mitmenschen 22 . 4. Verfaßter
gesellschaftlicher
Prozeß
Das Drinnen war hier i m Hinblick auf die Bewußtseinsverfassung erörtert worden. Das Draußen besteht aus der übrigen Gesellschaft und ihrem Schatz an Sprache. Draußen kann man demnach zwischen Gesellschaft und Sprache unterscheiden und kommt dann zum Thema zurück: Verfassung des Bewußtseins, der Gesellschaft und der konstitu20 Dazu das K a p i t e l „Eigentum" i n D. Suhr, Entfaltung der Menschen durch die Menschen, B e r l i n 1976, insbes. S. 213. 21 aaO., S. 87, 190. 22 aaO., S. 195 ff., 208 ff. u n d 175 ff.
I I I . Dreidimensionaler Verfassungsbegriff
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ierenden Urkunde. Die Sprache dringt von drinnen nach draußen und von dort wieder nach drinnen: So vermittelt sie zwischen drinnen und draußen, und so kann sie zwischen vielen Innenbereichen verschiedener Menschen vermitteln. Gesellschaft, Bewußtsein und Sprache konstituieren einen Systemverbund, der — was nun die Verfassung betrifft — „stabil" oder „ i n stabil" sein kann. Das hängt davon ab, wie weit zwischen Drinnen und Draußen, zwischen Sprache und Bewußtsein und zwischen Sprache, Bewußtsein und Gesellschaft Konsonanzen oder Dissonanzen überwiegen. Damit ist das Kardinalproblem der Verfassungstheorie und -technik i n Konsonanz- und Dissonanzprobleme übersetzt. Der gesellschaftliche (sozial-psychologische und psycho-soziale) Atmungsprozeß nimmt eine Verfassung nur an und behält sie nur bei, wenn Drinnen, Draußen und Wort hinreichend zusammenstimmen. Dabei muß die i n Sprache gefaßte Verfassung vor allem so beschaffen sein, daß sie i m Zuge ihrer „Verwirklichung" nicht die Konsonanzbedingungen des verfaßten gesellschaftlichen Prozesses zerstört: Sie muß darin wirken wie ein Katalysator, der den Prozeß glättet, entkrampft, formt und offenhält, ohne ihn so zu beengen, daß die Verfassung abgestoßen wird.
Namenregister Aderhold, D. 79 Aquin, T. v. 83 Aristoteles 83 A r r o w , K . J. 76, 92 Ashby, W. R. 25 Bales, R. F. 34 Berger, P. 38, 101 Beyer, W. R. 85 Bodin 121 Böhler, D. 21 Castillo, Ruiz del 102 Churchman, C. W. 83 Denninger, E. 38, 102 Descartes 31, 83 Durkheim, E. 54 Emge, K . A . 19 Engels, F. 103 Festinger, L. 29, 74, 94 Fetscher, I. 18 Feuerbach, L. 86 Forsthoff, E. 102 Freud, S. 54, 112 Friedrichs, J. 19 Goethe 84 Habermas, J. 47, 49 Häberle, P. 68, 101 Harder, I. 70 Hauriou, M. 102 Hegel, G . W . F. 18, 41, 50, 83, 86, 94, 110 Hobbes 83 Husserl, G. 68 Isensee, J. 102 Jarvie, J. C. 20 Jenkins, I. 58 K a n t 41, 83, 86 Kaufmann, Α. 19 Kelsen, Η . 54, 56, 57 Keynes, J. M . 93
Kirsch, W. 22, 76, 77, 86 Klages, H. 17 Kloepfer, M. 39 Kmieciak, P. 29, 94 Knebel, H.-J. 49 Krawietz, W. 58, 68 Kriele, M. 102 Laszlo, E. 56 Lautmann, R. 74 Leibniz 83 Luckmann, T. 38, 101 Luhmann, N. 24, 34, 47, 52, 54, 56, 58, 61, 68, 69, 73, 75, 83, 96, 108 Luther, M. 86 Maihofer, W. 68 M a r x , K . 83, 103, 104, 110, 113, 122 Mead, G. H. 34, 107 Merton, R. K . 39 Morgenstern, Ο. 98 Müller, Friedrich 58, 68 Neumann, J. v. 98 Nietzsche, F. 82 Opfermann, W. 98 Parsons, T. 34, 39, 54 Philipps, L. 52 Plato 83 Popper, K . R. 19, 20, 21, 38, 75 Prewo, R. 38 Quaritsch, H. 102, 121 Rawls, J. 98 Rescher, N. 12, 56 Richter, Η . E. 87 Ritsert, J. 38 Rottleuthner, H. 14, 53 Schiller, F. 113, 116 Schmitt, C. 102 Schwanenberg, E. 34 Simon, H. A . 94 Smend, R. 102
Namenregister Spinoza 83 Stachowiak, H. 51, 69, 82 Stracke, E. 38 Thomas, W. I. 22 Thumb, Ν . 25, 69 Topitsch, E. 38, 39
Vaihinger, H. 85 Varga, C. 58 Wittgenstein, L. 23, 31, 40 Wright, G. Η . v. 12, 56 Ziegert, K . L. 101
Sachregister Tiefgestellte Zahlen verweisen auf die Fußnoten
Aggregatzustände von Theorie, Gegenstand u n d Subjekt 29 ff., 35, 50, 105, 110 — der Verfassung 118 Allgemeinwille 123 ff. A m o k l a u f der Bedürfnisse 88 f. Anpassen nicht n u r der Theorie an den Gegenstand, sondern auch des Gegenstandes an die Theorie 12 f., 35, 48 Autokatalysator 24 12 Bedürfnisse 88 ff. befriedete Gesellschaft 17 Befriedigung der Menschen 87, 93 ff., 95 Beobachter zweiten Grades 27 Besessenheit 86, 88 Bewußtsein als Resonanz des Seins i n sich 50 — u n d Latentsein 45 ff. Bewußtseinsmodell 105 ff. Bewußtseinsverfassung 100 Bumerangprobleme 16, 87 Dauerhaftes 17 Definition der Situation 22, 22 10 , 86, 96 Denken u n d Gegenstand 41 siehe auch: Theorie u n d Gegenstand D i k t a t u r des Proletariats 121 Dissonanzen 17, 29 ff., 35, 48 ff., 104 ff. Dissonanztheorie 49 25 D u 109 Eigentum 125 f. E i n - B i l d u n g 87 ff. „empirische Wissenschaft" als Grenzfall, i n dem der Einfluß der Theorie auf den Gegenstand vernachlässigt oder ausgeschaltet w i r d 40 f. Entscheidungssituation 22 Erfassen u n d Verfassen 12, 14, 25
Erkenntnistechnik 24 Erkenntnisverfahren 24 Erwartungen, kognitive 29 ff. E t h i k 16, 82 ff. Evidenz 29 f., 49 Experimentieren 29 f. faires Spiel 98 1θ Faust 84 f., 88 Feind 118 ff. Formkonstante 14 Friedlosigkeit der Menschen 87, 93 ff. Funktionalismus 19 Geschichte schreiben, u m Geschichte zu machen 41 Gesellschaft, unruhige u n d befriedete 17 gesellschaftliche Konstituierung von Wirklichkeit 100, 10^ Glauben 91, 94 Goldene Regel 75 21 , 98 f., 98 19 Gott 50 27 , 85, 115, 118 ff. Grammatik 18, 45 f., 50 graphentechnische Darstellungsform 25, 31 1β Grenzen der Situation 20 f. siehe auch: Horizont Grundnorm 56 f. Gültigkeit 55, 60, 6 0 n Hermeneutik 48 ff., 101 Herrschaftsformen 124 ff. Hierarchie 54, 57 Horizont der Situation 21, 27, 43, 35 83 Hypothesen 29 f. hypothetische Beziehungen 26 f., 29, 36, 38 Ich 107 ff., 110 f. Idealismus 103δ Identität 108, 109 lo — i m Wandel 68
Sachregister imperatives Mandat 125 f. Indifferenzen 90 f. innere Situation 29 ff., 33 Institutionen 205 Interaktion, Interaktionismus 107 Intersubjektivität 97 — kognitiven Fürwahrhaltens 60 — praktischen Fürgültighaltens 60 katalytische F u n k t i o n der k o g n i t i v praktischen A r b e i t 15, 24, 124 Katalysatorwirkung reflexiver Werte u n d Normen 78 Kategorischer Imperativ 98 kognitiv-praktische Kopplung 28, 30, 36 — Situation 23 ff., 105 ff. K o m m u n i k a t i o n durch Ketten von Resonanzen, Dissonanzen, Konsonanzen 49 kommunikative Kompetenz 49 K o m p a t i b i l i t ä t i n Interaktion u n d Kooperation 36 K o m p l e x i t ä t 834, 90 Konditionalnormen 69 f., 97 Konfiguration der k o g n i t i v - p r a k t i schen Situation 23 f., 30, 34 Konsonanzen 17, 29 ff., 34 ff., 45, 48 ff., 104 ff., 127 K o n t e x t 42 Kontingenz 19, 46, 96 Kosten-Nutzen-Faktor 85, 92 Kreis der Normerzeugung u n d N o r m v e r w i r k l i c h u n g 58, 58 10 , 60 ff. Kreisform des kognitiv-praktischen Prozesses 14 f. — als syntaktisches Fundament j e der Theorie u n d Technik des E r fassens u n d Verfassens 14 Kurzschluß zwischen Theorie u n d Gegenstand 37 ff., 42 K y b e r n e t i k 52 Latenz, Latentsein 45 ff., 47 22 , 83 Latenzdimension der Situation 21 L e g i t i m i t ä t 55, 6 0 n , 73 18 L o g i k von Festen 92 — der Hervorbringung 18 — der Situation 19 ff. — der Tatsachen (Wittgenstein) 31 l e — des Kontingenten 19 — des Verhaltens u n d der Veränder u n g 12t
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— nicht n u r der A b b i l d u n g u n d Beschreibung, sondern auch der V e r w i r k l i c h u n g 12 Manipulation 855, 86 Mannigfaltigkeit, logisch-mathematische 31 16 Materialismus als praktischer Idealismus 1035 Metabereich der Normen — oberer 56 f., 57 ff. — unterer 54 f., 57 ff. Metamotiv 73 Meta-Normen 52 ff. Metaphysik 18 t Mitbestimmung 121, 124 Mitfreude 91 f. Mitmenschlichkeit 91, 113 — durch Täuschung u n d Schein 92 f. Modelle 18, 63 ff. Modellzeit 69 Modelltheorie 69 14 Motive 51 ff. — als normbestimmende Faktoren 72 ff. Negation 72 — der Negationen 75 2 1 Netzplantechnik 25, 69 15 , 71 Nichtnegierbarkeit 73 18 Normen 51 ff. — als motivbestimmende Faktoren 72 ff. — als self-fulfilling prophecies 54 Normerzeugung u n d N o r m v e r w i r k l i chung 53 ff., 57 f., 60 ff., 63 ff., 73 Normlogik 51 Notstand 101 f., 118 ff. Objektbesetzung, libidinose 113 Objektsprache 53, 55 Ontologie 19 Ontologik 18,18^ 19, 23, 46 ff. —: mächtiger als nicht-prozedurale Logiken 35, 41 O p i u m des Volkes 90, 94, 122 Organisationsnormen 70 f., 73 Persönlichkeit 90, 95 Perspektiven 27 Philosoph 31 ff., 86 Plan, Planung 69, 84, 87, 89, 104e Produktion von Recht durch die Gesellschaft u n d von Gesellschaftsstrukturen durch Recht 15
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Sachregister
Prognosen 79 psychische Kapazität 89 Psychologik der Enthemmung u n d der B r u t a l i t ä t 114 Psychologik der Mitmenschlichkeit 93, 98, 113 f. Psychotechnik 89 rationaler Umgang m i t beschränkter ratio 47 Rationalität 46 f. Realisierungslogik 18 Reduktion von K o m p l e x i t ä t steigert die K o m p l e x i t ä t 90 Reflexion 6 0 u Reflexionsstrukturen i n der Gesellschaft 52, 76 ff. Reflexionsstruktur als strukturelle Universalie 78 Reflexive Mechanismen 522, 61 12 , 96 reflexive Normen u n d Werte 77 f. Reflexivität 95 Reichtum, psychischer, der sich vermehrt, indem er genossen w i r d 92 Reine Rechtslehre 54, 56 f. rekursive Mechanismen 14 f. — Regeln wie periodische Wahlen 96 f. Relationismus 19 Repräsentationsmodell des Bewußtseins 111 ff. Sachdimension der Situation 21 Schachtelung 34, 34 17 Schein 82, 82 1} 86, 92, 96 Schere, dreischneidig zwischen subj e k t i v e r u n d objektiver Gesellschaft u n d beschriebener oder vorgeschriebener Gesellschaft 17 — zwischen subjektiver, erwarteter u n d objektiver Gesellschaft 16 f., 89, 89g, 92 Sein u n d Bewußtsein 1035 Sein u n d Sollen 56 f., 56 7 , 62 Selbstbeobachtung 31 ff. Selbstbewußtsein der Welt als W e l t bewußtsein des Subjekts 50 Selbstbild 35 Selbsterkenntnis 31 ff. selbstreferenzielle Strukturen 52, 95 Selbstreflexion 31 ff. selfdestroying prophecy 39 Situation, situativ 19 ff., 23 Situation der Selbsterkenntnis 32
Situation des Sozialwissenschaftlers 37 ff. situationaler Atomismus 20 situationaler Holismus 21 f. situationaler Individualismus 20 situationaler Operationalismus 22 f. Situationslogik 19 f. Situationsontologik: mächtig genug, u m „ W a h r h e i t " zu erklären 31 situative Transzendenz 26 f. souverän ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet 102 Souveränität 102, 121 Sozialdimension der Situation 21 Spiegelsaalstruktur 34 17 siehe auch: Schachtelung Sprache 17, 100 ff., 104 Sprache, praktische Wirkungen 42, 104, 118 Statistik 70 17 S t r u k t u r von Verfahren 16 Subjekt 108 Subjektleerstellen i m Inneren 106 subjektive Seite objektiver sozialer Zustände u n d Prozesse 16 subjektiver Aggregatzustand der Theorie 29 ff. — des Gegenstandes 29 ff. Substantielles 14 symbolische Ereignisse, Medien 38, 41, 70 1 : symbolischer Interaktionismus 107 f. Systemanalyse 83 ff. Systemreferenzen 47 24 , 83 Systemtheorie 90 Täuschungstheorie 82 ff., 856, 95 Texte, die nicht n u r beschreiben, sondern auch w i r k e n 11 Theorie als Gegenstand 36 — u n d Gegenstand 12 f., 26 ff., 36 — Kurzschluß zwischen Theorie u n d Gegenstand 37 ff. — Wechselwirkungen zwischen Theorie u n d Gegenstand 40 Über-Ich 112 U m w e l t des erkennenden Subjektes 37 unruhige Gesellschaft 17 Verantwortungskreise 79 24 Verdinglichung 116 f. Verfahren als Ziel oder Wert 96
Sachregister Verfahren 16, 95 ff. — der Normerzeugung und der N o r m Verwirklichung 61 Verfassen von kognitiven u n d p r a k tischen Systemreferenzen 47 24 Verfassung 17, 73, 100 ff. — i m Gegensatz zu Verplanung 104e Verfassungstheorie 100 ff., 101t Vergessen als F u n k t i o n 48 Verstehen als empirisches D a t u m 40, 48 ff., 49 2β — als Voraussetzung alles Erklärens 40, 40 2 o a , 42 — als Voraussetzung der geplanten W i r k u n g 118 f. Virtualismus 22 virtuelle Situation 22 „ W a h r h e i t " als die Projektion u n d Interpretation subjektiver Erlebnisweisen v o n Konsonanzen 31 „ W a h r h e i t " als Reflex w i r k l i c h e r psychischer Prozesse 31, 34 f., 37, 40 Wahrheit von Sätzen i m Gegensatz zur Wirksamkeit von Sätzen 12 f., 55 Wahrheit u n d Wirksamkeit 24 wahr-Sagung 96 17 Welterkenntnis 35 f. Weltwissen des Subjekts als Selbstwissen der Welt 50 Werte 16, 51 ff., 74 ff. — als Reflex von realen Wertschätzungsprozessen 74
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Werte: ewig erreichbare u n d unerreichbare zugleich 95 f. Wertschätzungen 74 ff., 97 f. Wertschätzungsdivergenzen 74 f., 97 f. Wertschätzungsirrtümer 74 f., 97 f. Wertschätzungsverfahren als Werte 75 f., 76 22 Widerspruch, den die W i r k l i c h k e i t aus sich selbst gegen sich selbst hervorbringt 73 W i r 110 f. Wirksamkeit von Sätzen 11 f., 37 ff. — von Werten 16 Zeit u n d Z i r k u l a r i t ä t 58, 67 f. Zeitdimension der Situation 21 zeittheoretische Typisierungen bei Normen 69 ff. Zirkel, kognitiv-praktischer 13 f. Z i r k u l a r i t ä t : v o m Problem der E r kenntnistheorie zum Fundament der Praxeologie 14 f. Z i r k u l a r i t ä t i m Bereich der Werte 17 zukünftige Menschen 98 Zukunftsbezug des Rechts 68 13 , 69 ff. Zusammenstimmen 34 ff., 104 siehe auch: Konsonanz — m i t sich selbst u n d m i t der ü b r i gen Welt 34 ff., 37 — v o n Ich-Bewußtsein u n d I c h - E r scheinung 35 — von innerer u n d äußerer Welt 36 zyklische Prozesse 70 siehe auch: rekursive Mechanismen