Die Koexistenz der Religionsgemeinschaften im Libanon [Reprint 2017 ed.] 9783111530543, 9783111162485


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German Pages 221 [224] Year 1965

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VORWORT
INHALT
LITERATURVERZEICHNIS
A. GRUNDLAGEN
B. DIE INNERSTAATLICHE KOEXISTENZ EINER VIELZAHL QUASI-AUTONOMER RELIGIONSGEMEINSCHAFTEN IM LIBANON
C. DIE FRAGE NACH DER BRAUCHBARKEIT DES SYSTEMS INNERSTAATLICHER KOEXISTENZ FÜR DEN LIBANON VON HEUTE UND MORGEN
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Die Koexistenz der Religionsgemeinschaften im Libanon [Reprint 2017 ed.]
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WILHELM

KEWENIG

Die Koexistenz der Religionsgemeinschaften im Libanon

N E U E KÖLNER RECHTSWISSENSCHAFTLICHE ABHANDLUNGEN HERAUSGEGEBEN

VON

DER RECHTSWISSENSCHAFTLICHEN

FAKULTÄT

D E R U N I V E R S I T Ä T ZU KÖLN

H E F T 30

Berlin 1965

WALTER D E G R U Y T E R & CO. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagebuchhandlung Georg R e i m e r • Karl J. T r ü b n e r • Veit & Comp.

Die Koexistenz der Religionsgemeinschaften im Libanon

Von

Dr. Wilhelm Kewenig Köln

Berlin 1965

WALTER DE GRUYTER & CO. vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung • J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer • Karl J. Trübner • Veit & Comp.

Archiv-Nr. 27 08 65 3 Satz und D r u c k : B e r l i n e r B u c h d r u c k e r e i Union GmbH , B e r l i n Alle Rechte, e i n s c h l i e ß l i c h des Rechtes der Herstellung von F o t o k o p i e n und M i k r o f i l m e n « v o r b e h a l t e n

61

Dem Andenken meines Vaters

VORWORT Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die seit Jahren außerordentlich bewegte Diskussion des Koexistenzbegriffes und die sich in diesem Zusammenhang immer wieder stellende Frage, ob die Koexistenz zweier oder mehrerer begrifflich unvereinbarer, ja sich gegenseitig negierender Größen möglich ist. Die Koexistenz setzt die freiwillige, dauernde Beschränkung des Machtanspruchs der einzelnen Subjekte der koexistentiellen Rechtsgemeinschaft und die gegenseitige Anerkennung der Existenzberechtigung voraus. Es erscheint deshalb unmöglich, in dieses, auf der Beschränkung des einzelnen aufbauende, koexistentielle System eine politische Größe mit Weltherrschaftsanspruch einzuordnen. Denkbar erscheint allein ein vorübergehender „Waffenstillstand" zwischen einer derartigen Welt-Macht und verhandlungsbereiten Subjekten einer koexistentiellen Ordnung, der sich für die Welt-Macht oft aus realpolitischen Erwägungen als eine Art Atempause vor dem nächsten Angriff auf die Existenz anderer als nützlich oder sogar als erforderlich erweist. Eine wirkliche, d. h. endgültige Bereitschaft zur Koexistenz wäre jedoch begrifflich gleichbedeutend mit der Aufgabe des den Weltherrschaftsanspruch tragenden „Sendungsbewußtseins", das auf der Überzeugung basiert, im Besitze der Weltanschauung zu sein, die allein die „richtige" Antwort auf alle Fragen der menschlichen Existenz zu geben in der Lage ist. Der Weltherrschaftsanspruch, dem sich die westliche Welt heute gegenüber sieht, ist der des Kommunismus. In der Auseinandersetzung mit ihm wird die Problematik der Koexistenz zu einem Komplex von geradezu bedrückender Aktualität. Ein abstrakter, rein begrifflicher „Lösungsversuch" dieser Problematik erweist sich von Anfang an als undurchführbar, als ausweglos. Um so wertvoller wird jede Erfahrung, die in der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Weltherrschaftsanspruches, bei dem Versuch seiner Eindämmung, ja seiner tatsächlichen Einordnung in ein System der Koexistenz gewonnen worden ist. Unter den „Vorgängern" des „kommunistischen Weltreiches" als politischer Großmacht mit universalem Machtanspruch, zu denen das Imperium Romanum und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ebenso gehören wie etwa die mongolisch-tatarischen Reiche Dschingis-Khans oder Timur-Lenks, nimmt das Weltreich des Islams arabischer bzw. osmanischer Prägung eine hervorragende Stellung ein. Die Erfahrungen, die in seinem Bereiche gewonnen sind, bieten sich

VIII als Objekt einer eingehenden Untersuchung geradezu an. In der vorliegenden Arbeit soll der Versuch gemacht werden, einen zwar außerordentlich kleinen, aber sehr interessanten Ausschnitt dieser Erfahrungen einer solchen näheren Betrachtung zu unterziehen. Gegenstand der Untersuchung ist die Entwicklung des Status der christlichen Religionsgemeinschaften im Bereich des Islams und ihres Verhältnisses zu der Gemeinschaft der „rechtgläubigen Bürger" des islamischen Weltreiches, die schließlich im Libanon zu dem außerordentlich überraschenden Ergebnis geführt hat, daß das libanesische Staatsgefüge auf der Koexistenz einer Vielzahl christlicher u n d muhammedanischer Gemeinschaften beruht. Das „libanesische System" stellt somit tatsächlich etwas begrifflich unmöglich Erscheinendes dar: die Koexistenz, das gleichberechtigte Nebeneinander zweier sich begrifflich negierender Größen, von denen im Grunde beide den Anspruch universeller, ausschließlicher Geltung stellen oder doch stellten. Die Themenstellung bot, so begrenzt sie zunächst erscheinen mag, der Bearbeitung große Schwierigkeiten. Außer einer, allerdings ausgezeichneten, Ubersicht der rechtlichen bzw. politischen Entwicklung des libanesischen Gefüges in der immer wieder herangezogenen Arbeit Pierre Rondots, des wohl 'besten ausländischen Kenners libanesischer Verhältnisse, gibt es weder eine monographische Darstellung der Rechtsgeschichte des libanesischen Staates und seiner Religionsgemeinschaften noch etwa einen Kommentar der libanesischen Verfassung oder ein „Lehrbuch" des libanesischen öffentlichen bzw. Verfassungs-Rechts. Die Arbeit bewegt sich also weitgehend, sowohl soweit es die rechtlichtheoretische wie soweit es die politisch-praktische Seite der Problemstellung betrifft, auf wissenschaftlich kaum erforschtem Gebiet. Auch ein fast einjähriger Studienaufenthalt im Libanon vermag dieses Fehlen jeder grundlegenden wissenschaftlichen Vorarbeit nicht zu ersetzen. Ein längerer Zeitraum intensiver Bemühung wären erforderlich, u m eine wirklich gründliche Darstellung der außerordentlich komplexen Materie möglich zu machen. Diese Umstände seien als Entschuldigung dafür angeführt, daß die vorliegende Arbeit in ihrer jetzigen Form sehr viele Probleme nur kurz andeutet und häufig eine eingehende Dokumentation — die einfach nicht existiert — vermissen läßt. Die Arbeit geht auf eine Anregung von H e r r n Gesandten a. D. Ministerialrat Professor Dr. Erich Kordt zurück. Der Verfasser, der in einem völkerrechtlichen Seminar der Frage nach der Bedeutung des Koexistenzbegriffes in Geschichte und System des europäischen Völkerrechts nachgegangen war, sah in der Bearbeitung der libanesischen Problematik eine willkommene Gelegenheit, die Bewährungsprobe eines auf Koexistenz basierenden Gefüges in der politischen Praxis zu verfolgen. Der hier unternommene Versuch konnte nur Erfolg haben, wenn der Verfasser im Libanon Hilfsbereitschaft und Unterstützung für sein

IX Vorhaben fand. Er hat während eines Aufenthaltes im Libanon 'diese Unterstützung in einem Maße erfahren, wie er es niemals zu hoffen gewagt hätte. Sie wurde ihm von jeder Seite, von den Universitäten und Ministerien, von den kirchlichen Behörden und politischen Organisationen, insbesondere aber von einer Vielzahl im kirchlichen, politischen oder wirtschaftlichen Bereich tätigen Persönlichkeiten zuteil. Der Verfasser kann nicht jedem einzelnen der von ihm um R a t und Hilfe gebetenen Libanesen danken. Er kann nur hoffen, daß die vorliegende Arbeit das ihm entgegengebrachte Vertrauen in bescheidenem Umfang rechtfertigt. Den weitaus größten Dank schuldet der Verfasser seinem hochverehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Erich Kordt. Er gab nicht nur die Anregung zu dieser Arbeit und hat ihre Problematik wiederholt mit dem Verfasser erörtert, er vermittelte dem Verfasser auch die Grundlagen, das Rüstzeug für diesen Versuch. Der Verfasser hat schließlich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst zu danken, der durch die Gewährung eines Stipendiums das Studium im Libanon erst ermöglichte. Die Arbeit ist in ihren wesentlichen Teilen im Herbst 1960 abgeschlossen worden. Widrige Umstände haben das frühere Erscheinen der Arbeit verhindert. Die weitere politische Entwicklung im Libanon konnte jedoch nicht mehr berücksichtigt werden. Schon die Räumliche Distanz machte eine Bearbeitung der späteren Jahre praktisch unmöglich. Gravierende Neuerungen hat die Zeit von 1960 bis 1964 jedoch nicht gebracht. Gerade darin und in der sichtlichen und stetigen Konsolidierung der libanesischen Verhältnisse seit der Krise von 1958 sieht der Verfasser eine gewisse Bestätigung seiner Analyse. Köln, im Juni 1964 Wilhelm

Kewenig

INHALT Vorwort

VII

Literaturverzeichnis

XV

A. Grundlagen I. Der Libanon. E i n kurzer A b r i ß seiner Geschichte

1

1. D e r Libanon, eine sich jeder effektiven Fremdherrschaft entziehenden Zufluchtstätte christlicher und muhammedanischer Sektierer (bis 1840) 2.

D e r Libanon, O b j e k t bis 1918)

internationaler

Interventionen

(1841 3

3. D e r Libanon, französisches Mandatsgebiet ( 1 9 2 0 — 1 9 4 3 ) . . . . 4. D e r Libanon, ein unabhängiger 1943)

und souveräner Staat

2.

3.

5

(ab 14

II. Der Begriff der Religionsgemeinschaft 1. Seine geschichtliche Entwicklung Islams

1

17

im Herrschaftsbereich

des 17

a) Die „dhima", die Schutzzusage auf Ewigkeit

18

b) Die „Millet-Verfassung"

24

c) Die Sonderstellung der „Mont L i b a n " und ihre Auswirkung auf die „physiognomie communitaire" der libanesischen Christen

26

Insbesondere: Die Rechts-Autonomie der christlichen gionsgemeinschaften im Herrschaftsbereich des Islams

Reli28

a) Die Unabhängigkeit der konfessionellen Gesetzgebung und Rechtsprechung in der arabisch-islamischen Zeit

29

b) Die Delegation gesetzgebender und rechtsprechender G e walt im osmanischen Reiche

31

c) Die Sonderentwicklung des rechtlichen Status der christlichen Religionsgemeinschaften im „Mont L i b a n "

33

D e r säkularisierte „communaute-Begriff" heute. Versuch einer Begriffsbestimmung

im Libanon

von 34

XII III. Die Religionsgemeinschaften im Libanon. Versuch einer kurzen Charakteristik der einzelnen Gemeinschaften 1. Die christlichen Religionsgemeinschaften a) Die Maroniten

36 37 37

b) Die Griechisch-Orthodoxen

40

c) Die griechischen Katholiken

42

d) Die Armenier

43

e) Die christlichen „Minderheiten": Jacobiten, Nestorianer, Chaldäer, syrische Katholiken, Lateiner und Protestanten

45

2. Die Juden

48

3. Die muhammedanischen Religionsgemeinschaften

48

a) Die Sunniten

48

b) Die Shiiten

51

c) Die Drusen

53

d) Die muhammedanischen „Minderheiten": Alawiten und Kurden

55

e) Die Palästina-Flüchtlinge

55

4. Statistische Übersichten; das Problem der libanesischen Emigranten

56

B. Die innerstaatliche Koexistenz einer Vielzahl quasi-autonomer Religionsgemeinschaften im Libanon IV. Der Begriff innerstaatlicher Koexistenz V. Die Gesdiichte innerstaatlicher Koexistenz im Libanon

61 63

1. Die libanesische Tradition „menschlicher Koexistenz"

63

2. Das „règlement organique" und der Beginn „institutioneller Koexistenz"

65

VI. Die Verwirklichung innerstaatlicher Koexistenz

70

1. Die politische Entscheidung f ü r das System der Koexistenz

70

2. Der Weg der Verwirklichung innerstaatlicher Koexistenz im politischen Bereich

71

3. Das Gesicht innerstaatlicher Koexistenz in Legislative, Exekutive und Verwaltung

76

XIII VII. Die politische Praxis der innerstaatlichen Koexistenz: die „représentation proportionelle" und ihre — nicht beabsichtigten — Auswirkungen im Bereich von Legislative, Exekutive und Verwaltung

86

VIII. Die Gleichberechtigung der libanesischen Religionsgemeinschaften im rechtlichen Bereich

98

1. Der Weg der Verwirklichung dieser Gleichberechtigung . . . .

99

2. Ein kurzer Abriß der Organisation der konfessionellen Gerichtsbarkeit im heutigen Libanon 109

C. Die Frage der Brauchbarkeit des Systems innerstaatlicher Koexistenz für den Libanon von heute und morgen IX. Fragestellung: Ist das System innerstaatlicher Koexistenz einer Vielzahl von Religionsgemeinschaften eine brauchbare rechtlichpolitische Grundlage für den Libanon von heute und morgen? Dazu noch einige bisher vernachlässigte „Grundtatsachen" . . . . 111 1. Das „persönliche Element"

112

2. Chi'isten und Muslims

114

3. Die „Krise" von 1958

116

X. Das Gesicht der politischen Realität im Libanon von heute . . . . 133 1. Die Auswirkungen der „Krise" von 1958 auf das „libanesische System" 134 2. Die „endgültige" Teilung der libanesischen Bevölkerung in zwei, gegensätzlichen politischen Ideen anhängende „Blöcke" 135 a) Der Arabische Nationalismus und seine Anhänger im Libanon 137 b) Der libanesische Nationalismus

148

XI. Versuche, diese dem Gefüge des „Grand Liban" seit seiner Konstituierung immanente, als solche erkannte Gefahr des Auseinanderfallens der libanesischen Bevölkerung auszuschalten. Weg und Erfolg dieser Versuche 154 1. Die Erkenntnis der Gefahr und das ihr entgegengesetzte Programm nationaler Einheit 154 2. Die von Legislative und Exekutive unternommenen Versuche, das „nationale Programm" zu verwirklichen, und die erzielten Erfolge 159

XIV 3. D i e „ n a t i o n a l e E r z i e h u n g s a r b e i t " der ü b e r k o n f e s s i o n e l l e n politischen O r g a n i s a t i o n e n , insbesondere d e r P a r t e i e n , u n d ihr Erfolg 163 a) D i e libanesischen K o m m u n i s t e n

166

b) Die Syrischen N a t i o n a l s o z i a l i s t e n

167

c) Die P.S.P. (die Progressive Sozialistische P a r t e i )

169

d) D i e K a t a e b (die libanesische Phalange)

170

e) D i e N a j j a d (die P a r t e i d e r n a t i o n a l e n A u f r i c h t u n g ) . . . .

173

f) D i e B a a t h - P a r t e i u n d die Arabischen N a t i o n a l i s t e n

173

g) D i e „ t r a d i t i o n e l l e n " libanesischen P a r t e i e n

175

h) D e r E r f o l g d e r B e m ü h u n g e n v o n P a r t e i e n u n d ähnlichen Organisationen 176 4. E r g e b n i s : Das völlige M i ß l i n g e n aller Versuche einer n a t i o nalen Erziehung 179 X I I . E i n System der i n n e r s t a a t l i c h e n K o e x i s t e n z ist das einzige der libanesischen R e a l i t ä t gerecht w e r d e n d e u n d f ü r seine w e i t e r e selbständige politische E x i s t e n z G e w ä h r b i e t e n d e O r d n u n g s gefüge 180 1. Die Schaffung eines libanesischen N a t i o n a l s t a a t e s , eines v o n d e r alle B e w o h n e r des h e u t i g e n L i b a n o n u m f a s s e n d e n , libanesischen N a t i o n g e t r a g e n e n Staatsgefüges, ist ein u n t e r d e n gegenwärtigen politischen Verhältnissen im L i b a n o n u n d in der i h n u m g e b e n d e n arabischen W e l t nicht realisierbares p o l i tisches P r o g r a m m 180 2. Ist das „libanesische E x p e r i m e n t " z u m Scheitern Nationalstaat und Nationalitätenstaat

verurteilt? 184

3. D a s System i n n e r s t a a t l i c h e r K o e x i s t e n z ist auch h e u t e , t r o t z einer Verschiebung d e r i n n e r e n Libanesischen Verhältnisse, das einzige d e r politischen R e a l i t ä t gerecht w e r d e n d e O r d nungsgefüge 187 4. Jede K o e x i s t e n z m u ß als K o m p r o m i ß l ö s u n g f ü r alle Beteiligten v o n Interesse sein. Sie setzt d a f ü r auf Seiten der Beteiligten L o y a l i t ä t v o r a u s . Interesse u n d L o y a l i t ä t , begriffsn o t w e n d i g e V o r a u s s e t z u n g e n des „libanesischen Systems" . . 188 5. Ausblick

197

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C. Zeitschriften American Journal of International Law Annales de la Faculté de droit de Beyrouth Cahiers de l'Orient Contemporain (C.O.C.) Les Conférences du Cénale Europa-Archiv Foreign Affairs Middle East Forum

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Rechtswissenschaft

D. Zeitungen Al-Jarida An-Nahar F r a n k f u r t e r Allgemeine Zeitung Le J o u r L'Orient

A. G R U N D L A G E N I. Der Libanon. Ein kurzer Abriß seiner Geschichte 1. Der Libanon, eine sich jeder effektiven Fremdherrschaft Zufluchtstätte christlicher und muhammedanischer Sektierer

entziehende (bis 1840).

Es gibt sicher kein zweites ebenso überzeugendes Beispiel für die Bedeutung, die der geografisdien Struktur eines Landes in seiner geschichtlichen Entwicklung zukommt. Eine hohe, vom Hinterland nur schwer zugängliche Geibirgswand und eine zum Mittelmeer hin weit geöffnete langgestreckten Küste: in diesen geografisdien Daten liegt der Schlüssel zum Verständnis der großen Linien libanesischer Geschichte. Die Unzugänglichkeit des libanesischen Gebirges machte -den Libanon seit jeher zu dem eigentlichen Zufluchtsort der religiös-politisch so bewegten Geschichte des östlichen Mittelmeerraums. Der Libanon wurde das Sammelbecken aller Nicht-Orthodoxen des christlichen und rwuhammedanischen Bekenntnisses. Die Offenheit der libanesischen Küste dagegen forderte Interventionen des Westens geradezu heraus und ließ den Okzident oft näher und verwandter erscheinen als die Länder jenseits der Gebirgskette. Die Geschichte des Libanon soll hier nicht bis in ihre Anfänge zurückverfolgt werden. Es genügt, daran zu erinnern, daß der Libanon die eigentliche Heimat der Phönizier und Sidon schon zu Zeiten Salomons eine der mächtigsten Königsstädte des Mittelmeerraumes war. Im 6. Jahrhundert v. Chr. wurde Sidon Hauptstadt einer persischen Satrapie. Den Persern folgten die Griechen und Römer. Um 650 n. Chr. von den Anhängern Muhammeds erobert, blieb der Libanon, abgesehen von seiner Küstenzone, die fast zwei Jahrhunderte (von 1098 bis 1291) zum Königreich Jerusalem gehörte, unter arabisch-muhammedanischer Hoheit, bis diese zu Beginn des 16. Jahrhunderts von den Türken endgültig (1516 Schlacht bei Aleppo) gebrochen und in eine solche osmanischislamischer Prägung umgewandelt wurde. Seit diesem Zeitpunkt gehörte der Libanon zum osmanischen Herrschaftsbereich, bis das türkische Imperium nach dem Ersten Weltkrieg durch den Vertrag von Sèvres1 seine arabischen Provinzen verlor. 1922 wurde der Libanon schließlich — zusammen mit Syrien — Frankreich als Mandatsgebiet anvertraut. 1943 erlangte er dann endlich seine völlige Unabhängigkeit. Trotz dieses ständigen Wechsels der „Herren" des Libanon ist das eigentliche Charakteristikum der libanesischen Geschichte zumindest seit 1

1

V g l . hierzu L e n c z o w s k i , S. 1 0 0 ff. Kewenig

2 der Eroberung durch die Muhammedaner eine fast ununterbrochene tatsächliche Autonomie. Weder die Kalifen noch die Frankenfürsten oder die ottomanischen Sultane verlangten mehr vom Libanon als eine formelle Anerkennung ihrer Hoheitsrechte und einen jährlichen — tatsächlich kaum je entrichteten 2 — Tribut. Eine Periode unmittelbarer und effektiver Fremdherrschaft hat der Libanon wohl nur zweimal gekannt: von 1841—1861, einer Zeit offener, bürgerkriegsähnlicher Auseinandersetzungen und direkter Interventionen der Hohen Pforte und der europäischen Großmächte, u n d während des Ersten Weltkrieges, als die H o h e Pforte nach einseitiger Kündigung des „règlement organique" von 1860 die direkte Vrwaltung der „libanesischen Provinz" übernahm. Seine eigentlichen Herren waren bis in das 20. Jahrhundert hinein die geistliche und weltliche Aristokratie des Landes, d. h. die geistlichen Würdenträger der christlichen libanesischen Religionsgemeinschaften und die Repräsentanten des libanesischen Feudalismus. Es gelang sogar nacheinander zwei Familien, den — drusischen — M a a n und den — sunnitischen — Chehab, als „principes inter pares", als Emire des ganzen Libanon anerkannt zu werden, und vor allem Faikkredin II. (1585-1635, aus dem Hause Maan) und Bechir II. (1788—1840, aus dem Hause Chehab) waren unbestrittene Herren des Libanon, vermochten jeder internen Auseinandersetzung ein Ende zu bereiten und dank der Geschlossenheit, mit der die libanesische Aristokratie sie unterstützte, die Grenzen ihres Herrschaftsbereiches zeitweilig weit über die des eigentlichen „Mont Liban" hinaus auszudehnen 3 . Die Bevölkerung des Libanon bestand etwa seit dem 11. Jahrhundert zum weitaus größten Teil aus zwei religiösen Gemeinschaften: den Maroniten und den Drusen. Die Maroniten 4 , die sich im 7. Jahrhundert von den Ufern des Orontes in den nördlichen Libanon zurückgezogen hatten, wurden bald zu der zahlenmäßig stärksten libanesischen „communauté" — ihre Zahl wird schon im 12. Jahrhundert von den Kreuzrittern auf etwa 40 000 geschätzt 5 . Die Drusen, deren Gemeinschaft sich im 11. Jahrhundert konstituierte 6 , zogen sich als von der muhammedanisch-sunni tischen Orthodoxie verfolgte Sektierer in den südlichen Teil des Libanon zurück. So teilte sich der Libanon mit der Zeit deutlich in einen nördlichen, in der Hauptsache von Maroniten, und in einen südlichen, fast ausschließlich von Drusen bewohnten Teil. Diese an sich scharfe Trennung wurde gemildert durch die leicht fluktuierenden, sich nach und nach ebenfalls im Libanon niederlassenden Minderheiten der Griechisch-Orthodoxen, der Melkiten, der Shiiten u. 2 Vgl. El-Khazem, S. 3; vgl. auch Testa I I I , S. 110—113. 8 Z u r Geschichte des Libanon unter den Maan und Chehab, insbes. unter Fakkredin II und Bechir II vgl. u. a. Salibi, passim, und H i t t i , S. 371 ff. 4 Vgl. S. 37 ff. s Vgl. Ristelhueber, S. 64/66. « Vgl. hierzu S. 53 ff.

3 a. mehr. Auseinandersetzungen größeren Ausmaßes zwischen Norden und Süden, die ihren eigentlichen Grund in der Verschiedenheit der religiösen Auffassung gehabt hätten, hat es jedoch im Libanon bis in das 19. Jahrhundert kaum gegeben. Die Streitigkeiten, die tatsächlich im Libanon ausgetragen wurden, waren zum weitaus größten Teil bedingt durch die ständigen Rivalitäten einzelner Feudalherren oder ganzer Familienverbände. Das 19. Jahrhundert brachte einige entscheidende Veränderungen. Zu Beginn des Jahrhunderts erreichte der Libanon unter Bechir dem Großen den Höhepunkt seiner Selbständigkeit und territorialen Ausdehnung. Die Situation veränderte sich jedoch, als infolge der ersten unmittelbaren Intervention der europäischen Mächte zugunsten der Hohen Pforte im Jahre 1840 Mehemed Ali, der ägyptische Vasall des Sultans, der sich gegen dessen Suzeränität aufgelehnt, 1831 Syrien und den Libanon besetzt und praktisch unter seine Oberhoheit gebracht hatte, aus diesen Provinzen des osmanischen Reiches wieder vertrieben wurde. Mit ihm fiel Bechir II., sein Verbündeter, der nach Malta exiliert wurde. 2. Der Libanon,

Objekt

internationaler

Interventionen

(1841—1918)

Bechir III., von den Osmanen 1840 als Nachfolger seines Vaters anerkannt, zog sich schon 1841 wieder von den Regierungsgeschäften zurück. Er hatte sich als nicht fähig erwiesen, der durch die ständigen Unruhen der letzten Jahrzehnte geschaffenen Situation Herr zu werden. Die Türken, denen nichts günstiger für die Aufrechterhaltung ihres durch den Feldziug gegen Mehemed Ali erlangten, unmittelbaren Einflusses im Libanon erschien als die Fortdauer der inneren Differenzen und Auseinandersetzungen — ein geschlossen hinter dem Emir stehender Libanon hatte sich bisher mit Erfolg jeder direkten Einflußnahme der Hohen Pforte entzogen —, förderten die ständig wachsende Gegnerschaft zwischen Drusen und Maroniten. So bestätigte die Hohe Pforte z. B. die Furcht der drusischen Feudalherren, durch die ständig mächtiger werdenden maronitischen Nachbarn aus ihrer führenden Position im Libanon verdrängt zu werden, als durchaus berechtigt. Ihre Grundlage fand diese Furcht der Drusen in der Tatsache, daß es den Maroniten gelungen war, ihren Einfluß insbesondere unter Bechir II.,dessen Vormachtstellung zunächst in der Hauptsache auf der vorbehaltlosen Unterstützung der christlichen Aristokratie basierte, tatsächlich erheblich nach Süden in die früher fast ausschließlich den Drusen vorbehaltene Zone auszudehnen. Bei diesem Unterfangen, die Drusen gegen die Maroniten aufzubringen, wurde die Hohe Pforte zudem von Großbritannien, das der wachsenden Bedeutung der Maroniten wegen ihrer traditionellen, engen Verbundenheit mit Frankreich sehr argwöhnisch gegenüberstand, tatkräftig unterstützt. Die britische Regierung versuchte auf diese Weise, einer gefährlichen Zunahme französischen Einflusses im Nahen Osten durch eine l*

4 nachdrückliche Rückenstärkung der Drusen, und z w a r unter systematischer Ausnutzung der bisher wenig beachteten religiösen Verschiedenheiten, entgegenzuwirken 7 . Nach den ersten heftigen Zusammenstößen zwischen Maroniten und Drusen, die 1841 die A b d a n k u n g Bechirs I I I . zur Folge hatten, teilte die H o h e P f o r t e 1842 den Libanon — sich auf die römische Devise „divide et i m p e r a " besinnend — in zwei „ K a i m a k a m a t s " , einen nördlichen maronitisdien und einen südlichen drusischen Verwaltungsbezirk a u f 8 . Trennungslinie wurde die Straße Beirut-Damaskus. Tatsache war jedoch, daß nördlich dieser Linie eine große Anzahl Drusen, südlich derselben eine weit bedeutendere G r u p p e v o n Maroniten lebte 9 . Insbesondere dieser U m s t a n d wurde in den folgen den Jahren die Ursache ständiger Auseinandersetzungen. Blutige Zusammenstöße, deren O p f e r vor allem die maronitischen Gemeinden im südlichen Libanon waren, wiederholten sich. Das „règlement du Chekib EfFendi", benannt nach dem damaligen Außenminister der H o h e n Pforte, der dieses Statut selbst 1845 in Beirut ausarbeitete, sollte die gröbsten Mißstände der ursprünglichen Regelung beseitigen, d. h. es sollte vor allem den jeweiligen Minderheiten der beiden K a i m a k a m a t s größeren Schutz gewähren. D i e wesentliche Neuerung war die Einrichtung eines dem obersten Verwaltungsbeamten, |dem'Käimak a m , in jedem der beiden Verwaltungsbezirke zugeordneten „ M a d j l i s " (Rates), in dem jeder religiösen Gemeinschaft eine gleiche Zahl von Sitzen eingeräumt wurde 1 0 . Diese Neuerung erwies sich jedoch als praktisch unwirksam — weder waren die Minderheiten tatsächlich in der Lage, ihre Vertreter frei zu bestimmen, noch wagten diese, in den Verhandlungen des Rates eine der Mehrheit widersprechende Meinung zu äußern — , so daß sich die Situation weiterhin verschlechterte und schließlich zu den berüchtigten „Christenmassakern" des Jahres 1861 führte, die mit Überfällen der Drusen auf die innerhalb ihres Gebietes liegenden christlichen Siedlungen begannen und später das gesamte Gebiet des Libanon bis nach D a m a s k u s hin erschütterten 11 . Diese Vorkommnisse veranlaßten eine erneute Intervention der europäischen Großmächte. Auf einer ersten Konferenz in Paris im September 1860 beschlossen diese, eine französische Expeditionstruppe in den Libanon zu entsenden 1 2 . Nach der Landung der T r u p p e n Ende Septem7 Zur Politik der H o h e n P f o r t e und Großbritanniens vgl. Ismail, I V , S. 142—144 und 156—166 mit Quellennachweisen. Vgl. auch die Hinweise bei N o r d , a. a. O. S. 364 ff. 8 Vgl. die N o t e der H o h e n P f o r t e an den Botschafter Großbritanniens v o m 7. 12. 1842 bei T e s t a , I I I , S. 66. » Vgl. hierzu z. B. E n g e l h a r d t , I, S. 176. »o Vgl. J o u p l a i n , S. 359, und vor allem Ismail, I V , S. 277—298. 1 1 D i e Zahl der in dieser Zeit getöteten Christen w i r d vorsichtig auf 5000 geschätzt; vgl. Y o u n g , I, S. 138, und H i t t i , S. 438/439. 1 2 Vgl. das diesbezügliche Protokoll v o m 5. 9. 1860 bei Gabriel Effendi, I I I , S. 125.

5 ber 1860 wurde die Ordnung notdürftig wiederhergestellt. Eine weitere, Anfang 1861 zunächst in Beirut, dann in Istanbul tagende Konferenz der interessierten Großmächte — Frankreich, Großbritannien, Österreich, Preußen und Rußland — arbeitete sodann einen Vertrag aus, der in der endgültigen Fassung von 1864 die weitere Geschichte des Libanon bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges bestimmen sollte 13 . Das „règlement organique" machte den Libanon zu einem autonomen „Mutasarrifiyah", d. h. zu einer selbständigen Provinz, die verwaltungsmäßig der Hohen Pforte unmittelbar unterstellt, also nicht dem in Sidon bzw. Damaskus residierenden Pascha zugeordnet war. Oberste Verwaltungsbehörde war ein christlicher Gouverneur 1 4 als Repräsentant der H o hen Pforte, unterstützt von einem „Madjlis administratif central", in den die einzelnen Verwaltungsbezirke (Mudirate) ihre Vertreter — deren Zahl sich je nach Bevölkerungsdichte und dem internen Verhältnis der Religionsgemeinschaften zueinander richtete — entsandten. Der „autonome Libanon", aufgeteilt in sieben Mudirate, u m f a ß t e jedoch nur den eigentlichen „Mont Liban"; Tripolis, Beirut und Sidon auf der einen, die Bekaa auf der anderen Seite, gehörten nicht dazu. Das von den fünf Großmächten garantierte Statut erwies sich trotz der so offensichtlichen, viel kritisierten Schwächen 15 als über Erwarten günstig f ü r die weitere Entwicklung des Libanon. Die 50 Jahre, die der Libanon bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges unter dem „règlement organique" lebte, waren „un demi-siècle de paix et de prospérité, comme la montagne n'en avait plus connu depuis de nombreuses générations 16 ". 1914, nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde die Sonderstellung des Libanon durch einen einseitigen Akt der Hohen Pforte beseitigt. Der Mutasarrifik wurde dem als Militärgouverneur f ü r die gesamte syrische Provinz zuständigen Djemal Pascha unterstellt. 3. Der Libanon,

französisches

Mandatsgebiet

(1920—1943)

Entsprechend dem im Mai 1916 von Frankreich und Großbritannien abgeschlossenen, als „Sykes-Picot agreement" bekannten Geheimabkommen 1 7 , 13

Der Vertrag wurde am 9.6. 1861 unterzeichnet. Er wurde durch ein Protokoll vom 6. 9. 1864 abgeändert bzw. ersetzt. Den Vertragstext vgl. bei Martens, N.R.G., X V I I , S. 101 ff. Vgl. audi beide Texte bei Nord, a. a. O., S. 403 ff. 14 Einem ungeschriebenen Gesetz zufolge handelte es sich immer um einen nicht libanesischen, aus dem Bereich des osmanischen Reiches stammenden Christen. 15 So z. B. die räumliche Begrenzung und die schwerfällige, nie richtig funktionierende Verwaltung, die nicht „gerechte" Beteiligung der verschiedenen Religionsgemeinschaften an der politischen Verwaltung etc.; vgl. z. B. Lammens, II, S. 189. 16 Lammens, II, S. 189. Einen guten Überblick der „institutionellen" Entwicklung nach 1864 gibt Nord, a . a . O . , S. 377 ff. 17 Das Abkommen war eine Vereinbarung zwischen den kriegsführenden

6 das die Aufteilung der bis dahin zum osmanischen Reiche gehörenden Gebiete „Arabiens" in eine französische (Syrien und Libanon) und eine englische (Irak und Transjordanien) Einflußzone vorsah, wurde der Libanon, nachdem im Herbst 1918 britische und französische T r u p p e n die Türken unter Djemal Pasdia vertrieben hatten, zunächst einem französischen Militärgouverneur unterstellt. Ende 1919 forderte der maronitische Patriarch an der Spitze einer Delegation, die die Interessen des Libanon bei den Friedensverhandlungen in Paris vertreten sollte, die Konstituierung eines unabhängigen Libanons innerhalb der „historischen" und „den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Landes gerecht werdenden" Grenzen 1 8 unter französischer Mandatshoheit. Im August 1920 kam Frankreich diesem Verlangen zunächst insoweit nach, als es den „Grand Liban" schuf. Dem bisherigen Gdbiet des ehemals autonomen „Mont Liban" wurden Beirut, Sidon, T h y r , T r i polis, also die gesamte „libanesische" Küste einerseits, auf der anderen Seite die Bekaa — eine zwischen den Gebirgsketten des Libanon und des Antilibanon liegende, außergewöhnlich fruchtbare Hochebene — hinzugefügt. Der so geschaffene „Grand Liban" war insgesamt ungefähr dreimal so groß wie sein Vorgänger 1 9 . Berücksichtigt wurde bei dieser Vergrößerung vor allem die Notwendigkeit, ein wirtschaftlich lebensfähiges Gebilde zu schaffen. Weniger Bedeutung maß man dagegen zumindest im Anfang der Tatsache zu, daß der weitaus überwiegende Teil der hinzukommenden Bevölkerung, der aus Muhammedanern vorwiegend sunnitischen Bekenntnisses bestand, kein Interesse zeigte, von dem fast ausschließlich sunnitisch-muhammedanischen Syrien getrennt u n d in den bisher überwiegend christlichen Libanon einbezogen zu werden. Dabei wurde der Libanon durch diese „Neuschaffung" offensichtlich aus einem verhältnismäßig homogenen zu einem Staatsgebilde, dessen eigentliches Kennzeichen nunmehr das Nebeneinander zweier, sich deutlich unterscheidender Bevölkerungsteile, der „alten" und der „neuen" Libanesen — der Christen und Muhammedaner — war. Am 1. September 1920 erklärte General Gouraud, inzwischen Hoher Kommissar Frankreichs f ü r Syrien und den Libanon, die „UnabMächten Großbritannien und Frankreich (unter späterer H i n z u z i e h u n g R u ß lands), das durch Notenwechsel im April 1916 zustande k a m und den „Beuteanteil" jedes Beteiligten nach siegreicher Beendigung des Krieges und nach der geplanten A u f t e i l u n g des osmanischen Reiches festlegte. Vgl. den T e x t des englisch-französischen T e i l s — der die arabischen Länder betrifft — bei A n tonius, S. 4 2 8 — 4 3 0 . H i e r z u den Briefwechsel C a m b o n - G r e y in Martens, N . R . G . 3 ieme Serie, X , S. 350 ff. Vgl. auch Kirk, S. 162 f.; Lenczowski, S. 70—72. 18 Vgl. den T e x t der Resolution bei Samne, Anh. 3. i» 10 400 gegen 6 700 km?. Vgl. insbesondere A r r e t e / H C N r . 318 v. 3 1 . 8 . 1920 betr. die neuen Grenzen des „Grand Liban".

7 hängigkeit" des „Grand Liban" 2 0 . Dieser wurde fortan von einem französischen Gouverneur verwaltet, der dem ebenfalls in Beirut residierenden „ H a u t Commissaire de la République Française en Serie et au Liban" unterstellt war. Bei dem Hohen Kommissariat gab es zudem die sogenannten „Services d'intérêts communs", die Syrien und den Libanon gleichmäßig interessierenden Probleme bearbeiteten und praktisch die einzige direkte Verbindung dieser beiden Gebiete darstellten. 1922 wurde die erste Volksvertretung, der „Conseil Représentant', Nachfolger des nach der Besetzung durch die Alliierten Truppen wieder ins Leben gerufenen „Madjlis administratif central" gewählt. Die Sitze in diesem Rate verteilten sich wie schon zur Zeit des „règlement organique" unter die verschiedenen libanesischen Religionsgemeinschaften entsprechend ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung 21 . Am 24. Juli 1922 übertrug der Völkerbundsrat endgültig Frankreich das Mandat über Syrien und den Libanon. Art. 1 des Mandats 2 2 sah die Schaffung eines „statut organique" für Syrien und den Libanon innerhalb eines Zeitraumes von drei Jahren vor. In Ausführung dieser Verpflichtung konstituierte sich am 15. Juni 1925 am Q u a i d'Orsay eine Kommission, die die Verfassungen für Syrien und den Libanon ausarbeiten sollte. Im Oktober 1925 erklärte jedoch der libanesische „Conseil Représentatif", ihm allein stehe das Recht zu, eine Verfassung für den Libanon zu entwerfen, und er wandte sich mit einer entsprechenden Bitte an den Hohen Kommissar. Dieser entsprach dem Verlangen insoweit, als er den in Paris ausgearbeiteten Entwurf dem „Conseil" zur Beratung überweisen ließ. Der Rat beschloß daraufhin, eine Volksabstimmung über den Verfassungsentwurf herbeizuführen. Dieses Vorhaben wurde jedoch durch die Unruhen, die im November 1926 zunächst im Djebel-Druze, später in ganz Syrien ausbrachen und erhebliche Auswirkungen aiuch auf die politische Atmosphäre im Libanon hatten 23 , unmöglich gemacht. Weite Teile der muhammedanischen Bevölkerung des Libanon wiesen nämlich jede Mitarbeit bei der Abfassung einer libanesischen Verfassung zurück und verlangten stattdessen ihre sofortige Wiedereingliederung nach Syrien. Infolge dieser Umstände wurde der in Paris ausgearbeitete Verfassungsentwurf, nachdem er einem Kreis ausgesuchter Persönlichkeiten zur Begutachtung vorgelegt und vom „Conseil Représentatif" in wenigen Sitzungen vom 19. — 22. Mai 1926 beraten worden war, in fast unveränderter Form verabschiedet. Am 23. Mai wurde die libane20 A r r ê t é / H C N r . 336 v o m 1. 9. 1920. T e x t der E r k l ä r u n g bei K o h n , Entwicklung, a. a. O., S. 389. K o h n gibt eine gute Übersicht über die ersten J a h r e der politischen Entwicklung in „ G r a n d L i b a n " (bis 1928), vgl. a. a. O., S. 386 ff. 2 1 N ä h e r e s S. 65 ff. 2 2 Vgl. den M a n d a t s t e x t in Société des N a t i o n s , J o u r n a l Officiel, 1922, S. 1013—1017. D a s M a n d a t trat a m 29. September 1923 in K r a f t . - s V g l . hierzu z. B. L o n g r i g g , S. 154 ff., und M a y z o u b , S. 17.

8 sische Verfassung im J o u r n a l Officiel veröffentlicht. Die Libanaise" w a r geboren 2 4 .

„République

Bei der Ausarbeitung der libanesischen Verfassung diente die f r a n zösische Verfassung der 3. Republik als Vorbild. Die Verfassung ist ihrem G r u n d s a t z nach die einer parlamentarischen Demokratie, obwohl der Exekutive in der Gestalt des Präsidenten der Republik eine starke u n d unabhängige Stellung z u k o m m t . Die Verfassung traf in ihrer urspünglichen Form f o l g e n d e Grundsatzentscheidungen: Die Legislative bestand aus zwei K a m m e r n , dem Abgeordnetenhaus und dem Senat. D a s Abgeordnetenhaus zählte 30 Mitglieder, jeweils gewählt f ü r 4 Jahre, der Senat 16 Sitze, w o v o n 11 durch eine alle 6 J a h r e stattfindende W a h l besetzt, 5 vom Präsidenten d e r Republik e r n a n n t w u r d e n . D e r Präsident der Republik, das eigentliche Exekutivorgan, w u r d e von beiden K a m m e r n gemeinsam f ü r eine Amtsperiode von 3 J a h r e n gewählt. Seine W i e d e r w a h l w a r erst nach einem Zwischenraum von 3 Jahren möglich. Er teilte das Gesetzesinitiativrecht mit der K a m m e r , verkündete die Gesetze, v e r t r a t die Republik völkerrechtlich, berief u n d entließ die Minister u n d den Ministerpräsidenten. E r k o n n t e in Übereinstimmung mit dem Ministerrat und nach einem Mehrheitsbeschluß des Senats die K a m m e r unter bestimmten Voraussetzungen auflösen. Er selbst w a r v o m P a r l a m e n t unabhängig u n d k o n n t e nur wegen Hochverrats oder offensichtlicher Verfassungs Verletzung zur Vera n t w o r t u n g gezogen werden. In einem besonderen 5. Titel w a r e n die Redite der Mandatsmacht enumeriert. Auf die Generalklausel des Art. 90: „Les pouvoirs établis p a r la présente Constitution s'exerceront sous réserve des droits et des devoirs de la Puissance mandataire, tels qu'ils résultent de l'article 22 du Pacte de la Société des N a t i o n s et de l'Acte de m a n d a t " stützten sich die zahlreichen unmittelbaren u n d mittelbaren Eingriffe der Mandatsmacht in das politische Geschick des Libanon in den nächsten zwei Jahrzehnten. Die 1926 eingeführte Verfassung erwies sich schon b a l d als den A n forderungen der politischen Realität nicht gewachsen 25 . Deshalb w u r d e im Mai 1927 ein erstes verfassungsänderndes Gesetz verabschiedet, das den Senat abschaffte, statt dessen die Zahl der Abgeordneten in der K a m m e r um 15 vom Präsidenten der Republik ernannte Mitglieder auf insgesamt 45 erhöhte u n d darüber hinaus die Stellung des Präsidenten 24 Zur Geschichte der libanesischen Verfassung vgl. auch Cardahi, Mandat, S. 18—20. Den ursprünglichen Verfassungstext vgl. in République libanaise, Journal officiel, 1926, S. 1 ff. 25 „Elle était une construction abstraite, un système logique, dans lequel les moeurs et coutumes et le tempérament populaire ne jouait pas un rôle", A. Naccadie in „La réforme éléctorale", Cénacle Libanais, II, S. 49.

9 der Republik stärkte, indem ihm vor allem das Recht eingeräumt wurde, dringende Gesetzesentwürfe unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne Verabschiedung durch die K a m m e r auszufertigen. Auch wurden die Voraussetzungen für die Auflösung der K a m m e r durch den Präsidenten erleichtert. Selbst nach dieser ersten einschneidenden Verfassungsänderung erwies sich die Exekutive jedoch als noch nicht stark und unabhängig genug, um die vor allem notwendigen Verwaltungs- und Justizreformen durchzuführen. Durch eine weitere Verfassungsänderung v o m 8. Mai 1929 wurde deshalb ihre Stellung noch einmal verstärkt. Die Amtsperiode des Präsidenten wurde von 3 auf 6 J a h r e verlängert, und das Recht zur Auflösung der K a m m e r wurde ihm ohne die bisherigen Beschränkungen eingeräumt. T r o t z dieser Verfassungsänderungen innerhalb der ersten drei J a h r e nach ihrem Inkrafttreten wurde die libanesische Verfassung mehrfach von der Mandatsmacht suspendiert. Als nach dem Ablauf der Amtszeit des ersten Präsidenten Charles Debbas, eines Mitgliedes der griechisch-orthodoxen „communauté", der ehemalige Präsident der K a m m e r , der Cheikh M u h a m m e d al-Jisr, ein Sunnit, von den Vertretern fast aller Religionsgemeinschaften als der fähigste Nachfolger in diesem Amte betrachtet w u r d e und seine Wahl schon sicher schien, suspendierte der H o h e K o m missar am 9. M a i 1932 zum ersten Mal die Verfassung. D i e K a m m e r w u r d e aufgelöst. Charles Debbas wurde als provisorischer Staatschef beibehalten. E r vereinte, unterstützt von einem Expertenkabinett, Legislative und Exekutive in einer H a n d . Die Gesetze wurden von ihm in der F o r m von Verordnungen erlassen. Im J a n u a r 1934 demissionierte Charles Debbas jedoch, und z w a r vor allem deshalb, weil die öffentliche Meinung sein Regime mehr und mehr als eine Q u a s i - D i k t a t u r brandmarkte 2 6 . Sein Nachfolger als Präsident der Republik wurde, von dem Hohen Kommissar f ü r ein J a h r ernannt, der Maronit H a b i b Pascha al-Saad. In dem gleichzeitig geänderten, zweiten „régime provisoire" wurde der Staatschef als Exekutive von einem Staatssekretär und einem Kabinett, das sich wiederum aus hohen Fachbeamten zusammensetzte, unterstützt. D i e Legislative w u r d e einer K a m m e r von 18 Gewählten und 7 ernannten Abgeordneten übertragen. Dieser Zustand dauerte bis A n f a n g 1937. Im J a n u a r 1936 wurde der K a m m e r , nachdem 1935 das M a n d a t H a b i b Paschas für ein weiteres J a h r verlängert worden war, das Recht eingeräumt, einen neuen Staatschef zu wählen. D i e "Wahl fiel auf den M a roniten Emile Eddé 2 7 . V g l . M a y z o u b , S. 20. Emile E d d é w a r einer der herausragenden politischen Führer der M a r o niten. Sein schärfster K o n k u r r e n t w a r Bechara a l - K h o u r y , ein ebenso einflußreicher maronitischer Politiker. E d d é wurde am 20. 1. 1936 im zweiten W a h l g a n g mit 15 gegen 10 Stimmen gewählt. 27

10 Eines der wichtigen Ereignisse der Vorkriegsjahre war die am 13. November 1936 in Beirut erfolgte Unterzeichnung des „traité d'amitié et d'alliance entre la France et le Liban" 2 8 . Der Vertrag bestätigte noch einmal die Unabhängigkeit und Souveränität der libanesischen Republik und sah das Ende des Mandats und den Antrag auf Zulassung des Libanon zum Völkerbund innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren nach der Ratifikation des Vertrages vor. Am Tage nach der Unterzeichnung des Vertrages brachen im ganzen Libanon, vor allem in Beirut, erhebliche Unruhen aus. Schon seit Beginn des Jahres, seit dem Beginn der Verhandlungen zwischen der f r a n zösischen u n d der syrischen Regierung über den Abschluß eines ähnlichen, separaten Freundschaftsvertrages 29 , hatten die — sich seit 1920 in geringen Abständen wiederholenden — Petitionen und Demonstrationen 30 der libanesischen Muhammedaner zugunsten einer Reintegration der 1920 dem Libanon hinzugefügten Gebiete nach Syrien erheblich zugenommen. Der Abschluß des libanesisch-französischen Vertrages, ein weiterer Schritt zu der Perpetuierung des status quo, stieß deshalb auf den heftigen und vereinten Protest des pro-syrischen Bevölkerungsteils. Es kam zu Straßengefechten zwischen Muslims und Christen in Beirut und Tripolis 3 1 . Der Vertrag wurde trotz dieser Zwischenfälle am 17. November 1936 vom libanesischen Parlament einstimmig ratifiziert. E r trat jedoch nie in K r a f t , da das französische Parlament — inzwischen war die Volksfrontregierung unter Léon Blum gestürzt worden — den Verträgen mit dem Libanon und Syrien die erforderliche Genehmigung versagte. Nach 'der Unterzeichnung des Vertrages sah der H o h e Kommissar keine Möglichkeit mehr, der immer schärfer werdenden Kritik an der noch andauernden Suspendierung der Verfassung standzuhalten. Er hob sie deshalb am 24. Januar 1937 auf, u n d 'die Verfassung wurde in der revidierten Form des Jahres 1929 erneut zur Grundlage des politischen Spiels im Libanon gemacht. Die politische Atmosphäre beruhigte sich jedoch kaum. Im Juli 1937 wurde die Kammer, in der die Regierung nur über eine schwache Mehrheit von 13 der 25 Abgeordneten verfügte und deshalb ständig Schwierigkeiten hatte, aufgelöst. Die Zahl der Abgeordneten f ü r die neue Kammer, deren Wahl im O k tober 1937 stattfand, wurde von 23 auf 63 (davon V3 vom Präsidenten der Republik ernannt) heraufgesetzt. 28 Vgl. den T e x t des Vertrages und den wichtigen, dem Abschluß des Vertrages vorangehenden Briefwechsel in République française, Ministère des Affaires étrangères, R a p p o r t à la Société des N a t i o n s sur la situation de la Syrie et du Liban, 1936, S. 229—250. 29 D e r Vertrag wurde endgültig in Damaskus am 22. 9. 1936 unterzeichnet. 30 Vgl. hierzu die französischen Jahresberichte an den Völkerbund 1922 bis 1936. si Vgl. Oriente Moderno 1936, S. 675—678. Bericht an den VB 1936, S. 12.

11 Die hinter der bisher geschilderten, mehr oder minder institutionellen oder verfassungsrechtlichen Entwicklung stehende politische Wirklichkeit in den ersten zwanzig Jahren des Bestehens eines „Grand Liban" läßt sich mit wenigen Worten aufzeigen: Es gab zwei, fast gleichstarke Tendenzen, eine pro-syrische und eine pro-libanesische. Die Bevölkerung des alten Libanon, in ihrer Mehrzahl christlich-maronitisch bzw. drusisch, war mehr oder minder — ein Teil der Drusen und der Griechisch-Orthodoxen machte eine Ausnahme — f ü r den von Frankreich geschaffenen, selbständigen libanesischen Staat in seinen neuen Grenzen. Die diesem Bevölkerungsteil zugehörenden politischen K r ä f t e waren bereit, sich in Dienst des neuen Staatsgefüges zu stellen und mit der Mandatsmacht an der Festigung der Unabhängigkeit und der inneren demokratischen Grundordnung des Libanons zusammenzuarbeiten. Der — überwiegend muhammedanisch-sunnitische — Bevölkerungsteil, der 1920 neu hinzugekommen war, sperrte sich dagegen mit allen Mitteln gegen dieses seinen Wünschen nicht entsprechende Staatsgebilde. Er verweigerte praktisch jede Zusammenarbeit mit der Mandatsmacht und jede — effektive — Beteiligung an der Stabilisierung und Verbesserung der innenpolitischen Verhältnisse. Bei jeder Gelegenheit versuchte er, seinem Wunsch nach einer Rückkehr in das syrische „Vaterland" Ausdruck zu verleihen. Nach dem Eintritt Frankreichs in den Zweiten Weltkrieg suspendierte der H o h e Kommissar erneut die libanesische Verfassung und führte ein neues, dem in Kriegszeiten bestehenden Bedürfnis nach schnellen Entscheidungen entsprechendes „régime provisoire" ein: Die Kammer wurde aufgelöst. Der Präsident der Republik blieb im Amt u n d erhielt die Befugnis, alle Gesetze im Verordnungswege zu erlassen. Als Exekutive wurde er von einem Staatssekretär unterstützt. Eine letzte Änderung vollzog sich im Frühjahr 1941: Der Präsident der Republik, Emile Eddé, trat zurück und wurde durch Alfred Naccache ersetzt. Dieser vereinte ebenfalls legislative u n d exekutive Gewalt in seiner H a n d . Er wurde von einem aus 5 Ministem bestehenden Kabinett unterstützt. Anfang Juni 1941 begannen britische und französische T r u p p e n — die des freien Frankreichs —, Syrien und den Libanon zu besetzen. Am 8. Juni 1941 proklamierte General Catroux im Namen General de Gaulles, des „Chef de la France Libre", die Beendigung des Mandats und die völlige Unabhängigkeit der beiden Staaten Syrien und Libanon 3 2 . Für den Libanon wurde die Unabhängigkeit am 26. November 1941 von Catroux wiederholt und bekräftigt 3 3 . Gleichzeitig w u r d e Naccache 32 Vgl. den T e x t der Proklamation bei Abouchid, S. 83—84. Khadduri, a. a. O., S. 603/604.. 33 Über die Fragwürdigkeit dieser „Unabhängigkeitserklärung" — konnte das „Freie Frankreich" zu diesem Zeitpunkt das Mandat des Völkerbundes rechtswirksam aufgeben? — vgl. M a y z o u b , S. 22, insbesondere aber Khadduri, a . a . O . , S. 615 ff.

12 als Präsident der Republik bestätigt. In seinem A u f t r a g e bildete der Sunnit Ahmed D a o u k am 28. November 1941 ein Kabinett, in dem die Zahl von 10 Ministern — die höchste seit Bestehen der Republik — in etwa ein Parlament ersetzen sollte. Obwohl Frankreich anfänglich trotz wiederholter „Unabhängigkeitserklärungen" wenig N e i g u n g zeigte, freie Wahlen und die Wiederherstellung des verfassungsmäßigen politischen Lebens im Libanon zuzulassen 3 4 , erließ Catroux als „Délégué Général de la France Libre au L e v a n t " im M ä r z 1943 vier Verordnungen 3 5 , durch die 1. das verfassungsmäßige Regime wiederhergestellt wurde. Geändert wurde die Verfassung jedoch insoweit, als es nur noch gewählte, also keine v o m Präsidenten der Republik ernannte Abgeordnete mehr geben sollte. 2.

die Durchführung von Wahlen innerhalb eines Zeitraums von drei Monaten angeordnet wurde.

3.

Dr. A y o u b T a b e t — ein Protestant, — bis zur Wahl eines neuen Präsidenten der Republik zum Staats- und Regierungschef ernannt wurde, und z w a r mit der ausdrücklichen A u f g a b e , die Wahlen vorzubereiten und zu überwachen. Er sollte dabei von zwei von ihm zu ernennenden Ministern unterstützt werden.

A y o u b T a b e t konnte jedoch die ihm übertragene A u f g a b e nicht ausführen, da das von ihm erlassene Wahlgesetz, das von 54 vorgesehenen Parlamentssitzen 32 den Christen zusprach, auf die entschiedene Ablehnung der muhammedanischen Bevölkerung stieß 36 . T a b e t demissionierte und wurde am 21. J u l i 1943 durch Pedro T r a d — ein Mitglied der griechisch-orthodoxen „communauté" — ersetzt. Unter diesem wurden die Wahlvorbereitungen beendet — das zur Anwendung kommende Wahlgesetz sah die Wahl von insgesamt 55 Abgeordneten, davon 30 christlichen, vor, — und E n d e August 1943 konnten die Wahlen durchgeführt werden. A m 21. September 1943 wurde der Maronit Bechara al-Khoury von dem zusammengetretenen Parlament zum Präsidenten der Republik gewählt. Ministerpräsident wurde der Sunnit R i a d al-Sulh. In seiner Regierungserklärung v o m 7. Oktober 194 3 3 7 sprach sich al-Sulh vor allem f ü r eine möglichst baldige Revision der Verfassung aus, da einige ihrer Artikel „in keiner Weise mit d e m Status des Libanon als einem unabhängigen :und souveränen S t a a t zu vereinen sind". T r o t z eines Protestes gegen die vorgesehene „einseitige" Verfassungsänderung, den der H o h e Kommissar dem Ministerpräsidenten übermittelte und in dem es hieß, d a ß eine Verfassungsänderung nur nach Verhandlungen 3 4 Vgl. Ausschnitte einer R e d e de Gaulles v o m 28. 8. 1942 bei Abouchid, S. 101. 35 A r r ê t é N r . 1 2 9 / F C , 1 3 0 / F C , 1 4 1 / F C v o m 18. 3. 1943 und 1 4 7 / F C vom 25. 3. 1943. 3 6 V g l . Abouchid, S. 110; R o n d o t , Institutions, S. 17. 3 7 T e x t bei A b o u d i i d , Postscriptum, S. 79—86.

13 zwischen Frankreich und dem Libanon erfolgen könne, da es sich hier um einen Text „résultant d'obligations internationales souscrites par la France et toujours en vigueur" 3 8 handle, verabschiedete die libanesische Kammer am 8. November 1943 einstimmig ein verfassungsänderndes Gesetz, durch das alle Artikel, die die Mandatsmacht erwähnten oder ihr irgendwelche Vorrechte einräumten, aus der Verfassung entfernt bzw. entsprechend abgeändert wurden 3 9 . Der Konflikt zwischen dem Vertreter des freien Frankreich und der libanesischen Regierung spitzte sich infolge dieses am 9. November 1943 verkündeten verfassungsändernden Gesetzes derart zu, daß am frühen Morgen des 11. November auf Anordnung des Generaldelegierten der Präsident der Republik, der Ministerpräsident und mehrere Minister verhaftet, die Verfassung erneut suspendiert, das Parlament aufgelöst und alle Machtbefugnisse im Staate vorläufig auf den ehemaligen Präsidenten der Republik Emile Eddé — der als einziges Parlamentsmitglied vor der Abstimmung über das verfassungsändernde Gesetz das Parlament verlassen hatte — übertragen wurden 4 0 . Schwere Unruhen im ganzen Libanon waren die unmittelbare Folge dieses Vorgehens. Alle Libanesen erhoben sich gegen diesen französischen „Willkürakt". Die ganze arabische Welt bekundete Empörung über das Vorgehen des freien Frankreichs und stellte sich geschlossen hinter die f ü r i'hre Freiheit kämpfenden Libanesen 41 . Erst am 22. November 1943 wurde die Situation in etwa geklärt, nachdem Catroux, der in aller Eile erneut von de Gaulle nach Beirut geschickt wurde, die Festgenommen freigelassen und sämtliche anderen Maßnahmen des Generaldelegierten Helleu rückgängig gemacht hatte 4 2 . Das Streben aller politischen K r ä f t e im Libanon war in der folgenden Zeit darauf gerichtet, möglichst schnell die völlige Unabhängigkeit des Landes zu verwirklichen und eine eigene selbständige Außenpolitik be38

Rondot, Institutions, S. 18. Nach diesem Zeitpunkt wurde die Verfassung nodi zweimal einer Veränderung unterzogen. A m 7. D e z e m b e r 1943 wurde der die nationale Flagge betreffende Art. 5 abgeändert (aus dem quergestreiften B l a u - W e i ß - R o t mit einer Zeder im M i t t e l f e l d wurde ein quergestreiftes R o t - W e i ß - R o t mit der Zeder im Mittelfeld). Durch die Verfassungsänderung v o m 21. 1. 1947 wurde ein erheblicher Teil der Artikel neu gefaßt, ein weiterer Teil gestrichen. Inhaltlich ergaben sich keine wesentlichen Änderungen. Eine vollständige, deutsche Übersetzung der libanesischen Verfassung in der heute gültigen Form findet sich bei A. Ansari, S. 11 ff. Vgl. die Arrêtés, N r . 4 6 4 / F C , 4 6 5 / F C v o m 10. 11. und 4 7 0 / F C v o m 12. 11. 1943. Einen ausgezeichneten Uberblick der Entwicklung vor der „Krise" von 1943 und den Ereignissen selbst gibt Khadduri, a. a. O., S. 601—620. « Vgl. M a y z o u b , S. 23; Abouchid, S. 119—167. 42 Vgl. den Arrêté, N r . 4 8 3 / F C v o m 22. 11. 1943. A m selben T a g e wurde Jean H e l l e u als Generaldelegierter abgelöst. 39

treiben zu können. Im Herbst 1944 nahm der Premier Riad al-Sulh in

14 Alexandrien an der ersten, den Zusammenschluß der arabischen Länder vorbereitenden Konferenz teil und ließ sich in einem offiziellen Zusatzprotokoll durch die Vertreter der arabischen Staaten „die Unabhängigkeit und Souveränität des Libanon in seinen augenblicklichen Grenzen" ausdrücklich garantieren 4 3 . Der Libanon gehörte sodann im April 1945 zu den Gründerstaaten der arabischen Liga, deren Charta vom libanesischen Parlament einstimmig ratifiziert wurde. Schwierigkeiten ergaben sich erneut mit der ehemaligen Mandatsmacht Frankreich, als diese sich weigerte, ihre T r u p p e n abzuziehen bzw. das Kommando der sogenannten „troupes speciales", einer Formation libanesischer und syrischer Soldaten innerhalb der französischen Armee, auf Syrien bzw. den Libanon zu übertragen. Schon im Dezember 1943 hatte ein gemeinsamer Vertrag zwischen Frankreich auf der einen, Syrien und dem Libanon auf der anderen Seite die zwischen der ehemaligen Mandatsmacht und den beiden jetzt unabhängigen Staaten schwebenden Probleme weitgehend ausräumen können. Vor dem endgültigen Abzug seiner T r u p p e n verlangte Frankreich jedoch den Abschluß eines zusätzlichen Vertrages, der die Vorrangstellung Frankreichs im politischen u n d wirtschaftlichen Bereich f ü r die nachfolgenden Jahre noch weitgehend garantieren sollte. Die libanesische Regierung wies jedoch jedes Abkommen, das die Unabhängigkeit und Souveränität des Libanon auch nur anzutasten schien, als unannehmbar zurück 44 . Schließlich gelang es dem Libanon u n d Syrien gemeinsam auf Grund einer von ihren Vertretern bei den Vereinten Nationen unternommenen Demarche 45 , daß Großbritannien sich bereit erklärte, seine in Syrien stationierten T r u p p e n bis Ende April 1946 zurückzuziehen, während Frankreich nach weiterem Zögern eine ähnliche Zusage f ü r den 31. August 1946 gab. Nunmehr verließen tatsächlich die letzten französischen T r u p p e n Ende August 1946 das libanesische Staatsgebiet 46 . 4. Der Libanon,

ein unabhängiger

und. souveräner

Staat (ab

1943)

Nachdem die letzten T r u p p e n der Mandatsmacht evakuiert u n d die Unabhängigkeit des Libanon damit auch nach außen hin d o k u m e n t i e r t war, konzentrierten sich die Bemühungen der libanesischen Politik auf eine Konsolidierung der innen- u n d außenpolitischen Linie. Außenpolitisch galt es vor allem, die Unabhängigkeit gegen alle großsyrischen bzw. panarabischen Projekte der Nachbarstaaten zu verteidigen. Darüber hinaus u n t e r n a h m man den Versuch, eine zwischen den sich 44 Vgl. die wesentlichen P u n k t e der diesbezüglichen Rede des Premierministers Riad al-Sulh bei Abouchid I I I , S. 8 45 Zu den längeren Debatten im Sicherheitsrat vom 14. bis 16. 2. 1946 vgl. Yearbook of the United N a t i o n s 1946/47, S. 341 ff. 46 Zu diesen Vorgängen vgl. insbes. Longrigg, S. 353 ff. « Vgl. den T e x t des Protokolls in C.O.C. I, 1945, S. 11.

15 im arabischen R a u m bildenden Blöcken vermittelnde, neutrale Politik zu verfolgen. Innenpolitisch galt es, die Welle „nationaler" Begeisterung a l l e r Bevölkerungsteile im Libanon, die sich auf G r u n d des f r a n zösischen Vorgehens nach der offiziellen Unabhängigkeitserklärung z u m erstenmal in der Geschichte des „ G r a n d Liban" gebildet hatte, auszunutzen, u m die beiden „Erzübel" des politischen libanesischen Gefüges, die Auswüchse des Konfessionalismus u n d des Feudalismus, einzudämmen 4 7 . Dieses Dringlichkeitsprogramm wurde vor allem in den ersten Jahren der Unabhängigkeit von Riad al-Sulh, der bis zu seiner E r m o r d u n g im Juli 195 1 48 seit 1943 im ganzen 67 Monate, d. h. über 5Vä der insgesamt 8 Jahre Ministerpräsident war, mit Nachdruck in die Tat umzusetzen versucht. Günstig wirkte sich im außenpolitischen Bereich vor allem die Palästina-Krise aus, die zumindest zeitweise alle interarabischen Streitigkeiten vergessen ließ u n d die Mitglieder der arabischen Liga zu einer gemeinsamen „arabischen" Außenpolitik zwang. Innenpolitisch erwies sich die Verwirklichung des Regierungsprogramms als weitaus schwieriger. Die ersten Wahlen nach der tatsächlich vollzogenen Unabhängigkeit im Mai 1947 w u r d e n auch ohne direkte französische Einflußnahme zu einem Musterbeispiel einer unfreien u n d verfälschten Volksbefragung 4 0 , u n d die neue K a m m e r galt im Libanon allgemein als eine aus irregulären Wahlen hervorgegangene, das Volk nicht wirklich repräsentierende Institution 5 0 . Die innenpolitische Situation verschlechterte sich zudem, als im Mai 1948 die K a m m e r mit 46 von 55 Stimmen einer Verfassungsänderung zustimmte, die dem amtierenden Staatspräsidenten Bechara al-Khoury, dessen erste Amtsperiode im September 1949 auslief, eine erneute sechsjährige Amtszeit ermöglichen sollte 51 . Die Opposition, die sich im Anschluß an diese Verfassungsänderung u n d die nachfolgende Wiederwahl Bediara al-Khourys bildete u n d dem Staatspräsidenten vor allem K o r r u p t i o n u n d Nepotismus vorwarf, f ü h r t e zu einer ersten „friedlichen" Revolution im September 1952, deren Folge die A b d a n k u n g Bechara al-Khourys u n d die Wahl Camille Chamouns, eines der christlich-maronitischen Führer der Opposition, z u m neuen Präsidenten der Republik war. Die von ihm angekündigte, z u m Teil auch durchgeführte R e f o r m der Verwaltung u n d der Wahlgesetzgebung befriedigte jedoch einen großen Teil der Opposition, die mit ihm gegen Bechara al-Khoury gekämpft hatte, schon bald nicht 47 Vgl. die b e r ü h m t e 1. Regierungserklärung Riad al-Sulhs v o m 7. O k t o b e r 1943, bei Abouchid, Postscriptum S. 79—86. 48 Riad al-Suhl, der zu dieser Zeit nicht Premierminister war, w u r d e bei einem offiziellen , in der Bekaa mit etwa 7 °/o nur eine schwache Minderheit, existieren sie im nördlichen Libanon praktisch überhaupt nicht, so sind sie im eigentlichen „Mont Liban" mit etwa 72 000 Angehörigen nach den Maroniten die weitaus stärkste Gruppe und rekrutieren etwa 18°/o der Gesamtbevölkerung. Ihre eigentlichen Hochburgen sind der Chouf (31 °/o), das Gebiet um Aley (46 °/o) und der Meten (30 %>). Die soziale Struktur der drusischen Gemeinschaft ist in gewisser Beziehung vergleichbar mit der der beiden anderen großen muhammedanischen „communautés": 90°/o der Drusen sind kleine Bauern, einer auch heute noch außerordentlich ausgeprägten feudalistischen Ordnung verhaftet. Ist auch der Bildungsstand der Gemeinschaft dem der Sunniten und Shiiten grundsätzlich nicht sehr voraus — die Drusen zählen noch 51 °/o Analphabeten —, so ist dieser Umstand doch nicht „chez eux signe d'arriération humaine comme chez ces derniers" 1 5 2 . Die Drusen sind vielmehr allgemein jeder sich bietenden Gelegenheit des Kontaktes mit der modernen Welt — solange er nicht den religiösen Bereich berührt — durchaus aufgeschlossen. Auch sind die Lebensbedingungen, unter denen der größte Teil von ihnen lebt, nicht etwa denen der Mehrheit der Matawila vergleichbar. Unbestrittene Repräsentanten der drusischen Gemeinschaft sind seit jeher die jeweiligen Chefs der großen Familien, insbesondere die der beiden Häuser Jumblat und Arslan. Die Drusen zerfallen demnach auch weitgehend in zwei große Klans, in die Yezbeki, die Gefolgsleute des jeweiligen Emir Arslan — einflußreich insbesondere im Gebiet um Aley — und in die Jumblatti, deren Gebiet der Couf ist. Verfolgt der heutige Chef des Hauses Arslan eine konservativere politische Richtung, so hat sich Kamal Jumblat insbesondere als Anhänger Ghandis und seiner Ideen, als Gründer einer sozialistischen Partei und dadurch, daß er seinen Besitz fast vollständig unter die ihm ergebenden Drusen aufteilte, einen Namen gemacht. >»-' Vgl. de Vaumas, a. a. O., S. 549.

55 Der höchsten religiösen A u t o r i t ä t der Drusen, dem Sheik-Akl, k o m m t dagegen im politischen Bereich k a u m eine Bedeutung zu. In den letzten Jahren verlor dieser zudem jeden Einfluß, da die ständige Rivalität der Yezbeki u n d Jumblatti dazu führte, daß sich zwei, zeitweise sogar drei drusische Persönlichkeiten die Position des Sheik-Akl gegenseitig streitig machten. d) Die muhammedanischen „Minderheiten": Alawiten u n d Kurden Neben den drei großen muhammedanischen „communautés" existieren im Libanon heute noch zwei muslimische Minderheiten: die Alawiten u n d die Kurden. Die etwa 3000 Alawiten, die im nördlichen Libanon, insbesondere in Tripolis, arbeiten und wohnen, sind Mitglieder der im „Jebel Ansarieh" 1 5 3 , also in Syrien beheimateten Sekte gleichen Namens, die insgesamt etwa 325 000 Seelen zählt 1 5 4 . Die Sekte, die in den Bereich des Shiismus gehört, zeigt dem Drusischen verwandte, extremistische Züge. Die libanesischen „Alawiten" haben z u m größten Teil noch die ägyptisch-syrische Staatsangehörigkeit u n d spielen schon deshalb — abgesehen von ihrer zahlenmäßigen Bedeutungslosigkeit — im libanesischpolitischen Bereich keine Rolle. Die etwa 2000 Kurden 1 5 5 , die in Beirut leben u n d vorwiegend als Saisonarbeiter ihren Lebensunterhalt verdienen, k o m m e n ebenfalls aus dem nördlichen Syrien u n d besitzen auch heute noch zumeist die ägyptisch-syrische oder die türkische Staatsangehörigkeit. Im politischen Bereich k o m m t ihnen keinerlei Bedeutung zu. Sie bekennen sich z u m Islam sunnitischer Prägung, doch spielt bei ihnen, ähnlich wie bei den Armeniern, die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bekenntnis nicht die entscheidende Rolle: ausschlaggebend f ü r ihre soziale Einordnung ist vielmehr die im laizistischen Sinne „nationale" Zugehörigkeit z u m „Stamm" der Kurden. e) Die Palästina-Flüchtlinge Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang schließlich auf die Sonderstellung der etwa 100 000 Palästina-Flüchtlinge im heutigen Libanon. Zu 90 °/o leben sie heute noch in Notunterkünften und werden in jeder Beziehung von der U N R W A betreut. Von einer Eingliederung in das libanesische Sozial-Gefüge k a n n bisher keine Rede sein. In ihrer großen Mehrheit warten die Palästinenser — täglich — darauf, in ihre benachbarte H e i m a t zurückkehren zu können. Die Flüchtlinge sind fast ausschließlich Sunniten. Die libanesische Staatsangehörigkeit ist ihnen bisher noch nicht z u e r k a n n t worden. Nach 153 j ) e r Fortsetzung des Libanon nördlich der libanesisch-syrischen Grenze. 154

Vgl. Hourani, S. 386. 155 Vgl. zur Problematik der „kurdischen Nation" und ihres Verhältnisses zum „Arabismus" den Aufsatz von Rondot, „La nation kurde en face des mouvements arabes", a. a. O., S. 55 ff.

56 einer eventuellen Zuerkennung würden sie die sunnitische „communauté" in ihrer zahlenmäßigen Bedeutung außerordentlich stärken und ihr eine der maronitischen Gemeinschaft vergleichbare Position verschaffen. Daß somit das Problem der Palästina-Flüchtlinge eine der großen Streitfragen in der politischen Auseinandersetzung zwischen Christen und Muhammedanern im Libanon ist, liegt auf der Hand. 4. Statistische Übersichten, das Problem der libanesischen Emigranten Nachdem im Vorangegangenen die libanesischen Religionsgemeinschaften — jede für sich — einer kurzen Betrachtung unterzogen wurden, soll auch über ihr zahlenmäßiges Verhältnis zueinander und seine Entwicklung eine gewisse Übersicht an Hand einigen statistischen Materials gegeben werden. Folgende Tabellen sind deshalb angeführt: 1. Die Religionsgemeinschaften im alten „Mont Liban". 2. Die Religionsgemeinschaften in dem 1920 geschaffenen „Grand Liban". 3. Eine Aufteilung der libanesischen Religionsgemeinschaften entsprechend den fünf Verwaltungsbezirken des Libanon. Auf den Umstand, daß alle derartigen Versuche einer statistischen Ubersicht, ob sie sich auf offizielle oder private, auf libanesische oder ausländische Quellen stützen, auch wenn sie bis auf die letzte Stelle vor dem Komma aufgeschlüsselte Zahlen aufweisen, nur einen gewissen Wahrscheinlichkeitswert darstellen, sei in diesem Zusammenhang ausdrücklich hingewiesen. Selbst im Libanon liegen wirklich zutreffende Zahlenangaben nur in den allerwenigsten Fällen vor. Tabelle

1*)

Die Religionsgemeinschaften im alten „Mont Liban" Gemeinschaft Maroniten GriechischOrthodoxen Melkiten Christen (verschiedene) Christen (insgesamt

1846 (Guys)

/o

1861 (Ducros)

189039

62

225 000

76

24 895 36 660

8 12

14 0 0 0 11 0 0 0

4 3

54 208 34 472



14 0 0 0

4

936

264 000

87



,

250 594 82

IO

1895 (Cuinet)

/o

229 680 57

1913 (Samné)

/o

242 308

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14 9

52 356 31 9 3 6

12 7

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2 882

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319 296 80

329 482

78

Sunniten Matawila Drusen

9 071 9 761 31 4 9 3

3 3 10

4 000 3 000 25 000

1 1 8

13 5 7 6 16 8 4 6 49812

3 4 12

14 5 2 9 23 413 47 290

3 5 11

Muhammedaner (insgesamt)

50 325

16

32 000

10

80 234

19

85 232

19

Insgesamt

300 919



*) Nach de Vaumas, a. a. O., S. 579.

296 000



399 530



414 800



57

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C u u >J jji N ce . ff c « a bû Vgl. L ' O r i e n t v o m 6. 8. 1957.

124 weitere sechs Jahre einer Politik, die sie als dem „Nationalen Pakt" u n d den Interessen der H ä l f t e aller Libanesen widersprechend ansah, während sie bisher auf eine entscheidende Ä n d e r u n g dieser Politik nach Ablauf der Amtsperiode Chamouns im September 1958 gehofft hatte. Neben der schon bestehenden Opposition bildete sich alsbald eine „Troisième Force", die zum größten Teil aus Christen einer gemäßigten politischen Richtung bestand u n d sich prinzipiell gegen die Erneuerung des Mandats des Staatspräsidenten aussprach — „ohne sich hierbei gegen eine bestimmte Person zu wenden u n d nichts anderes bedenkend als das Wohl des Vaterlandes" 3 0 6 . Doch ließ sich schon sehr bald absehen, daß t r o t z der heftigen Opposition auch von Seiten der „Troisième Force" in der K a m m e r eine starke Mehrheit f ü r die Verfassungsänderung bestand. So erklärte der damalige Verteidigungsminister, der Emir Arslan, Anfang Dezember 1957, daß etwa 50 Abgeordnete (die f ü r die Verfassungsänderung notwendige 2/ä Mehrheit umfaßte 44 Stimmen) von der Notwendigkeit der Erneuerung des Mandats überzeugt seien und f ü r eine Verfassungsänderung einträten 307 . Die innenpolitische Situation spitzte sich n u n v o n Tag zu Tag zu. Demonstrationen, Attentate u n d Bombenanschläge lösten sich ab. In Manifesten u n d Reden schoben sich Loyalisten u n d Opposition gegenseitig die alleinge V e r a n t w o r t u n g f ü r das immer größer werdende innenpolitische Chaos zu. Der S t a n d p u n k t der Opposition war klar, ebenso der der Loyalisten. Für die letzteren war C h a m o u n der alleinige G a r a n t „richtiger" Politik: „. . . car nous sommes là, paraît-il: il n'est plus de Liban que de Camille C h a m o u n . N o t r e destin collectif serait de vivre à l'ombre d'un h o m m e — ou de périr avec lui" 308 . Für die Opposition war die Figur des Staatspräsidenten dagegen zum Inbegriff der alles Muhammedanische und Arabische mißachtenden politischen Willkür geworden. Der Ausbruch der offenen Auseinandersetzung stand unmittelbar bevor. Jeden Tag k o n n t e eine G r u p p e loyaler Abgeordneter dem Parlament den A n t r a g auf Verfassungsänderung u n d Wiederwahl C h a m o u n s unterbreiten u n d darüber abstimmen lassen. Die Opposition m u ß t e handeln, wollte sie eine Verfassungsänderung, f ü r die eine ausreichende Mehrheit in der Kammer sicher schien, tatsächlich verhindern. Man war sich darüber klar, daß die einzige Chance darin bestand, bei der 306 Yg] e ; n e r s t e s K o m m u n i q u e im L ' O r i e n t v o m 11.9.1957. Z u r „Troisième Force" gehörten Politiker wie der schon genannte Pierre Gemayel, H e n r i Pharaon, ehemaliger Außenminister, eine außerordentlich einflußreiche Persönlichkeit, oder Georges Naccache, Eigentümer und Herausgeber der Zeitungen L'Orient und Al-Jarida. soTVgl. C.O.C. X X X V (1957), S. 136. 308 y g [ sarkastische — aber z u t r e f f e n d e —• Skizzierung der Position der Loyalisten durch Georges Naccache im L ' O r i e n t v o m 22. 4. 1958.

125 ersten sich bietenden Gelegenheit zum offenen Widerstand gegen die Regierung aufzurufen. Sie bot sich schon bald: Am 8. Mai 1958 wurde der Eigentümer u n d Herausgeber einer der Opposition nahestehenden Zeitung, Nassib Metni, der wegen seiner scharfen Angriffe auf den Staatspräsidenten im Juli 1957 schon einmal festgenommen u n d zu 14 Tagen H a f t verurteilt worden war, von u n b e k a n n t e r H a n d ermordet. Die Opposition, die ganz offen die Anhänger C h o m o u n s als die H i n t e r männer dieses politischen Mordes bezeichnete, rief z u m Proteststreik f ü r den 10. Mai 1958 auf. Der Aufruf wurde weitgehend befolgt, u n d am 10. Mai brachen in allen Teilen des Libanon schwere U n r u h e n aus: Die Phase offener bewaffneter Auseinandersetzungen hatte begonnen. Versucht man, die zu Beginn der offenen Auseinandersetzung sich gegenüberstehenden Fronten voneinander abzugrenzen, so ergibt sich folgendes Bild: Die Anhänger Chamouns, die sogenannten Loyalisten, setzten sich zusammen aus: 1. der Phalange, deren Chef Pierre Gemayel zwar im September 1957 zunächst der „Troisième Force" nahegestanden, sidi also gegen eine Verfassungsänderung zugunsten Chamouns ausgesprochen hatte, der jedoch die sich anbahnende offene Auseinandersetzung nicht als einen Kampf u m die Frage der Wiederwahl C h a m o u n s z u m Präsidenten der Republik betrachtete, sondern als einen solchen um die Unabhängigkeit des Libanon, u n d der sich deshalb ohne Zögern bei Ausbruch der Krise hinter C h a m o u n stellte. 2. der P. P. S., der syrischen Nationalsozialisten 3 0 9 , f ü r die die Absicherung der Souveränität u n d Selbständigkeit des Libanon eine Lebensfrage war, da sie n u r noch hier wirklich arbeiten k o n n t e n — in allen anderen arabischen Ländern war die Partei verboten —. Zudem war Nasser, der eigentliche große Gegenspieler Chamouns, ihr erklärter Feind N r . 1. 3. dem „Nationalen Block" Pierre u n d R a y m o n d Eddés, einem parteiähnlichen, losen Zusammenschluß der persönlichen — christlich-maronitischen — Anhängerschaft der beiden Brüder Eddé 310 . 4. praktisch der gesamten christlichen Bevölkerung des Libanon, allen voran den Maroniten, f ü r die die sich anbahnende Auseinandersetzung ein Kampf u m die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit des Libanon u n d ihrer Vorherrschaft innerhalb dieses Staatsgefüges war. 5. einer kleinen Minderheit von Muhammedanern, meist persönlichen Anhängern des Premierministers Sami al-Sulh, oder Abgeordneten, die ihr Mandat mit Hilfe der Regierung erhalten h a t t e n u n d ihre Interessen am besten auf dieser Seite gewahrt glaubten. 6. den drusischen Anhängern des Emirs Arslan, des dem Präsidenten C h a m o u n persönlich nahestehenden Drusenfürsten. 309 Vgl. S. 169 f. 3i» Vgl. S. 175 f.

126 Die Opposition bildeten: 1. die Mitglieder der „Front der nationalen Vereinigung". Die bekanntesten unter ihnen waren Saeb Salam und Abdallah al-Yafi, die Chefs der Opposition in Beirut, Rashid Karame, der Anführer der Aufständischen in Tripolis, und die sunnitischen Feudalherren Ahmed alAssad und Marouf Saad im Süden und Sabri Hamade in der Bekaa. 2. zu diesen eigentlichen Führern der Opposition gesellten sich u. a. der Drusenfürst und Parteichef Kamal Jumblat, praktisch seit Beginn seiner politischen Karriere ständig in Opposition, zudem ein persönlicher Feind des Präsidenten Chamoun, dessen Einflußnahme er u. a. seine Wahlniederlage im Jahre 1957 zuschrieb, und der einflußreiche Maronit Hamid Frange 3 1 1 , ebenfalls ein erklärter persönlicher Feind des Präsidenten, seit dieser statt seiner das erste Amt in der libanesischen Republik übernommen hatte. 3. die schon erwähnten einflußreichen muhammedanisch-sunnitischen Führungsgremien des „Nationalen Kongresses" und des „Nationalen Komitees". 4. der maronitische Patriarch Meouchi. Uber die Rolle des Patriarchen in der Krise des Jahres 1958 sind die unglaublichsten Spekulationen angestellt worden. Es war in der libanesischen politischen Tradition ein geradezu unerhörtes Faktum, daß der einflußreichste Repräsentant des christlichen Bevölkerungsteils, das geistliche — und weitgehend auch das politische — Oberhaupt der Maroniten, d. h. d e r libanesischen Religionsgemeinschaft, sich mit den politischen Kräften verbündete, die zumindest in den Augen von 95 %> aller libanesischen Christen die außenpolitische Einordnung des Libanon in einen von Nasser dirigierten arabischen Block anstrebten und damit die Unabhängigkeit des Libanon anzutasten versuchten. Seine Freunde bezeichnen die Haltung des Patriarchen als außerordentlich überlegt — sie wird von ihnen als ein erfolgreicher Versuch gedeutet, der sich anbahnenden Auseinandersetzung zumindest den Anschein eines Kampfes zwischen Christen und Muslims zu nehmen und so jedes Aufkommen eines religiösen Fanatismus von vornherein unmöglich zu machen —, wenn selbst sie auch zugeben, daß er sich in seinen häufigen, geradezu enthusiastisch pro-ägyptisch-arabischen Erklärungen 3 1 2 zu sehr exponiert habe. Seine Feinde führen seine Haltung allein auf seine ausgeprägte persönliche Feindschaft gegen Chamoun zurück. Die Wahrheit wird auch hier etwa in der Mitte liegen. Seine zweifellos außerordentlich starke persönliche Abneigung gegen 3 1 1 D i e Mitgliedschaft des M a r o n i t e n H a m i d Frangie in der O p p o s i t i o n w u r d e i m Verlauf der K r i s e v o n besonderer B e d e u t u n g : U b e r den v o n seinen A n hängern, den B e w o h n e r n v o n Z g h o r t a , k o n t r o l l i e r t e n nördlichen Abschnitt der syrisch-libanesischen G r e n z e w u r d e der größte Teil der v o n Syrien k o m m e n d e n Unterstützung an W a f f e n u n d Geld in den L i b a n o n eingeschleust. 3 1 2 Vgl. z . B . seine Stellungnahmen v o r der libanesischen Presse v o m 18.4. u n d 29. 5. 1958, im L ' O r i e n t v o m 20. 4. bzw. 30. 5. 1958.

127 Chamoun erleichterte wohl die von ihm warscheinlich auf Grund politischer Überlegungen getroffene Entscheidung. Sicher ist jedoch, daß der Patriarch in der Opposition nidit als Repräsentant der maronitischen „communauté", sondern ausschließlich als Einzelpersönlichkeit stand. 99 «/o der Maroniten, einschließlich des niederen und höheren Klerus, verurteilten sein Engagement scharf 813 und stellten sich, auch wenn sie zunächst gegen eine Verfassungsänderung und erneute Präsidentschaft Chamouns opponiert hatten, zumindest nach Ausbruch der offenen Auseinandersetzung geschlossen hinter den Präsidenten. 5. die — allerdings politisch wenig bedeutenden — Kommunisten 314 , erklärte Gegner Chamouns, Anhänger Nassers und seines positiven Neutralismus. Wenn auch zahlenmäßig nicht stark, so waren sie doch dank ihrer schlagkräftigen Organisation eine nicht unbedeutende Größe in der bewaffneten Auseinandersetzung. 6. praktisch die gesamte muhammedanische Bevölkerung des Libanon, wobei nur die Drusen, die hinter dem Emir Arslan standen, und die wenigen Anhänger Sami al-Sulhs eine Ausnahme bildeten. Zwischen diesen klaren Fronten standen zwei einflußreiche „neutrale" Kräfte, beide vielleicht mit einer leicht pro-oppositionellen Neigung: die sogenannte „Troisième Force" und die Armee unter General Fouad Chehab. Die „Troisième Force", diese Gruppe einflußreicher, meist christlicher Intellektueller, die mit der Opposition gegen eine zweite Präsidentschaft Chamouns war, die darüber hinaus jedoch für die Erhaltung des status quo, insbesondere für die weitere Unabhängigkeit des Libanon eintrat, fand mit ihren Aufrufen zur Mäßigung und Eintracht wenig Widerhall bei dem schon zu sehr in zwei entschlossene Lager aufgeteilten Volk und konnte so keinen entscheidenden Einfluß auf den Verlauf der Krise nehmen. Von zweifellos größerer Bedeutung war der General Fouad Chehab und „seine" Armee. Die langwierige Krise wäre sehr wahrscheinlich vermeidbar gewesen, wenn die Armee in den ersten Tagen der Unruhen wirklich mit Härte gegen die Anhänger der Opposition vorgegangen wäre. Der General weigerte sich jedoch, in diese Richtung gehende Direktiven des Staatspräsidenten auszuführen. Seine offizielle Begründung für diese Haltung war die, daß auf beiden Seiten Libanesen stünden, und die Armee deshalb, wenn sie gegen eine Seite das Feuer eröffnen müsse, zwangsläufig in Loyalisten und Anhänger der Opposition auseinander3 1 3 S o distanzierten sich m e h r e r e Bischöfe, insbesondere der einflußreiche Erzbischof v o n B e i r u t , in einer der Presse übergebenen E r k l ä r u n g in aller Schärfe v o n der politischen H a l t u n g des Patriarchen (vgl. L ' O r i e n t v o m 3. 5. 1958). D e r Patriarch bezeichnete seinerseits die sich von ihm distanzierenden Bischöfe als „ v o n der R e g i e r u n g g e k a u f t e L a k a i e n " (vgl. seine E r k l ä r u n g im L ' O r i e n t v o m 30. 5. 1958). 3t4 N ä h e r e s hierzu, S. 165 f.

128 fallen würde, daß also im Interesse der Einheit und Integrität der Armee eine neutrale Position die einzig mögliche sei. Daß hinter dieser kaum anfechtbaren Begründung seiner Haltung eine, wenn auch gemäßigte Sympathie des Generals für die Opposition stand, ist nicht auszuschließen 315 . Zu erwähnen bleibt noch, daß beide Seiten Unterstützung von außen erhielten. Einerseits dürfen auch die Verlautbarungen der U N Beobachter, die „keine massive Infiltration von Menschen oder Waffenmaterial" festzustellen vermochten 3 1 0 , nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Opposition über die syrische Provinz der V. A. R . durch Waffenund Munitionslieferungen, durch „Freiwillige", vor allem aber durch große Geldbeträge und einen lauten Propagandafeldzug in der arabischen Welt unterstützt wurde. Auf der anderen Seite läßt sich allein schon die Anwesenheit von 10 000 amerikanischen Soldaten, die ab 15. 7. 1958 über den Fortbestand der „Souveränität und Integrität des Libanon" wachten, schlecht übersehen. Welche Intervention direkter, schwerwiegender, ob die eine legitim, die andere dagegen illegitim war, ist hier nicht von Bedeutung 3 1 7 . Wichtig ist in diesem Zusammenhang allein, daß beide Seiten in erheblichem Umfang von außen unterstützt wurden. Im folgenden soll nun nicht jedes „Massaker", jedes Attentat, oder etwa jede „Schlacht" mit Folgen und Auswirkungen auf den Fortgang der Krise analysiert werden. Man darf trotzdem nicht übersehen, daß die Geschichte dieser Krise tatsächlich weitgehend die Geschichte einer Kette von Intrigen, Mißverständnissen und persönlichen Auseinandersetzungen ist, in denen jeder einzelne Libanese, gleich ob unter dem Banner der Loyalisten oder dem der Opposition, versuchte, „die sich in den 15 Jahren seit der Unabhängigkeit angesammelten Komplexe 3 1 5 In diesem Sinne etwa Al-Jarida v o m 7. 6. 1958. Zu weit geht wohl die in diesem Zusammenhang wiederholt aufgestellte Behauptung, die Haltung des Generals erkläre sich allein aus seinem Bestreben, Nachfolger Chamouns zu werden: U m sich diese Chance nicht zu nehmen, habe er in keinem Fall gegen die Opposition Stellung beziehen wollen. 3 1 6 Die UN-Beobachter hatten von den etwa 280 km der libanesisch-syrischen Grenze nur zu etwa 20 km freien Zutritt. Alle anderen Grenzgebiete waren mehr oder minder in Händen der Opposition, die die UN-Beobachter entweder gar nicht zuließ, oder aber nur da, wo absolut nichts feststellbar war. Vgl. hierzu z. B. L'Orient vom 7., 8. und 9. 7. 1958. Zu den Berichten der U N Beobachter ( U N O G I L ) vgl. Yearbook of the United Nations 1958, S. 36 ff. mit genauen Fundstellen (S. 4 9 — 5 1 ) . 3 1 7 Es sei nur kurz erwähnt, daß die Entsendung der amerikanischen Truppen — die in keiner Weise in die Auseinandersetzung eingriffen — auf Grund eines offiziellen Hilfeersuchens der libanesischen Regierung zur Abwendung eines von außen gesteuerten Umsturzversuches als eine der im Rahmen der Eisenhower-Doktrin den Bündnispartnern zugesicherte Maßnahme erfolgte. Vgl. hierzu auch S. 130 und Europa-Archiv 1958, S. 11 235/37.

129 abzureagieren" 3 1 8 . Das „persönliche Element" spielte trotz allen Ernstes, mit dem sich zwei in ihrer politischen Grundhaltung völlig verschiedene Fronten gegenüberstanden, auch hier eine wichtige, ja oft entscheidende Rolle. Viele „unerklärliche" Irrwege der Auseinandersetzung finden allein hier ihre eigentliche Erklärung. Am 10. Mai 1958 brachen, wie schon erwähnt, die eigentlichen offenen Auseinandersetzungen der beiden sich gegenüberstehenden Fronten aus, veranlaßt durch den mysteriösen Mord an dem Herausgeber einer Zeitung, für den die Opposition die Regierung verantwortlich machte. Der Streit nahm sofort einen außerordentlich heftigen Verlauf, beide Parteien zeigten sich von Anfang an zu keinerlei Konzessionen bereit. Jeder Vermittlungsversuch scheiterte, obwohl in den ersten Wochen eine ganze Reihe solcher Versuche von neutralen Persönlichkeiten unternommen wurden 3 1 9 . Karame, der Führer der Aufständischen in der Hochburg Tripolis, erklärte schon am 18. Mai: „. . . wir stehen jetzt bis zum Ende durch. Tripolis wird streiken, bis die Forderungen des Volkes in die Tat umgesetzt werden. Mehr als einmal haben wir die Verantwortlichen gewarnt, bevor die Situation ihren heutigen Zustand erreicht hat. Aber niemand wollte uns hören" 3 2 0 . Die Loyalisten reagierten ebenso scharf, indem sie erklärten, daß die einzig mögliche Lösung der Krise in einem „Triumph der Legalität 3 2 1 bestehen könne. Die Auseinandersetzung nahm somit immer mehr die Form eines „grundsätzlichen", nicht mehr um eine oder mehrere Persönlichkeiten, sondern um die Grundlagen libanesischer Politik geführten, offenen Kampfes an. Angesichts der innenpolitischen Entwicklung erklärte zwar der Premierminister Sami al-Sulh in einer Botschaft an das libanesische Volk, daß eine Änderung des Art. 49 Abs. 2 der Verfassung durch die Regierung in keinem Falle geplant oder vorbereitet sei 322 . Die Opposition antwortete jedoch hierauf, daß nur noch die sofortige, d. h. vorzeitige Abdankung Chamouns die Situation in ausreichender Weise klären könne. Gerade diese Wendung der Opposition überzeugte die Loyalisten ihrerseits davon, daß es in dieser Auseinandersetzung tatsächlich nicht um die Person Chamouns, sondern um die Unabhängigkeit und Souveränität des Libanon gehe 323 . So Georges Naccache im L'Orient vom 16. 10. 1958. Vgl. z. B. L'Orient vom 13., 16., 20. und 21. 5. 1958. 3 2 0 Vgl. die Erklärung Karames im L'Orient v o m 19. 5. 1958. 3 2 1 Vgl. die Erklärung Pierre Gemayels im L'Orient v o m 5. und 25. 6. 1958. 3 2 2 Vgl. L'Orient vom 27. 5. 1958. Nach Art. 76 i. V. m. Art. 77 der libanesischen Verfassung kann die Initiative zu einer Verfassungsänderung zwar vom Präsidenten der Republik o d e r von einer Va-Mehrheit der Kammer ausgehen. In jedem Fall hat jedoch die Regierung den verfassungsändernden Gesetzentwurf vorzubereiten. 318

319

323

Vgl. die Erklärung Pierre Gemayels im L'Orient vom 1. 6. 1958.

9 Kewenig

130 Die Regierung führte Ende Mai gegen die V.A.R. 3 2 4 vor dem Rat der Arabischen Liga Klage wegen massiver Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Landes und brachte nach dem zu erwartenden, ergebnislosen Verlauf der Debatten des Rates 3 2 5 die Frage vor den Sicherheitsrat der U N , der am 11. 6. 1958 beschloß, eine Beobachterdelegation in den Libanon zu entsenden 328 . Die Krise trat damit in ihre „internationale" Phase. Staatspräsident Chamoun erklärte, daß „die Sache des Libanon auch die des gesamten Nahen Ostens" sei, d. h. der Ausgang der Krise im Libanon weitgehend darüber entscheiden werde, ob im Nahen Osten nur noch e i n Wort, das Nassers, Geltung haben oder ob eine unabhängige arabische Politik selbständiger arabischer Staaten weiterhin möglich bleibe. A m 14. Juli 1958 erfolgte der Staatsstreich im Irak. A m 15. Juli landeten die ersten amerikanischen Truppen im Libanon. Die Regierung hatte um ihre Entsendung gebeten, gestützt auf die Eisenhower-Doktrin und Art. 51 der UN-Charter. Die Opposition reagierte auf diesen Schritt ganz außerordentlich scharf, bezeichnete das Vorgehen des Präsidenten als eklatanten Verrat an der libanesischen Sache und verlangte in einem Manifest den sofortigen Abzug der Truppen 3 2 7 . Diese beiden Tage, der 14. und 15. Juli 1958, waren die Höhepunkte der Auseinandersetzung. Nach Bekanntwerden des Umsturzes im Irak waren die meisten Libanesen der Überzeugung, die letzte Stunde des unabhängigen Libanon habe geschlagen. Der Opposition erschien die „Machtübernahme" nur noch eine Frage von Tagen. Dann erfolgte die Landung der amerikanischen Truppen — was gestern selbstverständlich war, wurde damit heute zu einem völlig überholten und undurchführbaren Vorhaben. Die Position der Regierung war praktisch unanfechtbar geworden, die Situation hatte sich eindeutig zu ihren Gunsten verschoben. Das eigentliche Bild der Auseinandersetzung änderte sich jedoch auch nach der Landung der amerikanischen Truppen, die außerhalb der eigentlichen „Kampfzonen" stationiert wurden, kaum. Ein Ende der Auseinandersetzung schien sich allerdings erstmalig anzubahnen, als das Parlament auf den 31. Juli zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengerufen wurde. Einziger Punkt der Tagesordnung war die Wahl des neuen Präsidenten der Republik. Als einzig möglicher, für beide Seiten akzeptabler, Kandidat blieb nach heftigen Auseinandersetzungen der Unterhändler beider Seiten nur Fouad Chehab, der Chef der „neu324 D i e Vereinigte Arabische R e p u b l i k hatte sich a m 1 . 2 . 1958 konstituiert. V g l . die feierliche P r o k l a m a t i o n in Orient N r . 5 (1958), S. 182 f. 325 j ) e r ( j e r Arabischen Liga tagte v o m 31. 5. bis 6. 6. 1958 in Bengasi/ Libyen. 3 2 0 Vgl. R e s . S/4023, gefaßt w ä h r e n d der 825. S i t z u n g des Sicherheitsrates. 327 Y g j j j e n W o r t l a u t der E r k l ä r u n g im L ' O r i e n t v o m 18., aber auch v o m 21. u n d 27. 5. 1958.

131 tralen" Armee. Dieser erhielt in der mit großer Spannung erwarteten Parlamentssitzung im zweiten Wahlgang — die im ersten Wahlgang nach A r t . 49 Abs. 1 der libanesischen Verfassung erforderliche 2 /3 Mehrheit kam zunächst nicht zustande — 48 von 56 Stimmen (bei 7 Gegenstimmen u n d einer Enthaltung 3 2 8 , d. h. er wurde mit großer Mehrheit zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Die optimistische Stimmung nach der Wahl Chehabs wich jedoch bald, da die Opposition nach einigen Tagen verhältnismäßiger Ruhe erklärte, sie werde „den friedlichen Steik" fortsetzen, solange Chamoun im Amte sei und nicht eine neue Regierung aus ihren Reihen gebildet werde 329 . Dagegen erklärten die Loyalisten, daß sie mit allen Mitteln gegen eine Regierung kämpfen würden, die ausschließlich oder auch nur zum Teil aus Mitgliedern der Opposition, „die ihre Waffen gegen den Staat erhoben hat" 3 3 0 , bestehe. „Ii s'agit désormais, de metre en place un gouvernement. U n gouvernement p o u r quoi? Pour qui? Questions absurdes, pensera-t-on. U n gouvernement est là pour gouverner. Or, il n'est pas tellement sûr que ceux qui gravitent maintenant autour du Président élu, d o n n a n t leur avis sur le choix de la première combinaison ministerielle du nouveau régime, aient en tête cette préoccupation. Il n'est nullement sûr que, pour eux, il s'agisse de faire un gouvernement p o u r gouverner. Leur préoccupations sont p u r e m e n t subjectives. Pour les opposants, il s'agit de f o r m e r u n gouvernement qui soit la démonstration du succès de l'insurrection. Pour les autres, il s'agit, d'amener u n ministère dont la composition consacre, au contraire, l'échec de l'insurrection. Et p o u r les ésprits inquiets, qui se placent entre les deux clans, il s'agit de sceller une réconciliation. Gouverner, c'est une autre histoire . . , 331 . In dem H i n u n d H e r der Regierungsbildung bahnte sich eine neue Phase der Krise an. Schon in der zweiten Augusthälfte hatte sich die G r u p p e der Loyalisten, die bisher in der Regierung ihren „porte-parole" gefunden u n d sich „militärisch" weitgehend defensiv verhalten, d. h. sich auf die Abriegelung u n d den Schutz der von ihr bewohnten Gebiete u n d Stadtteile beschränkt hatte, zu einem aktiveren Vorgehen entschlossen, da sie ja bald nicht m e h r die „Regierungspartei" — C h a m o u n s Amtsperiode endete am 30. 9. 1958 —, sondern eine der Opposition gleichstehende, mit dem Staat in keiner Weise mehr „identische", nur f ü r ihre Rechte kämpfende Gruppe war. A m 19. September 1958 w u r d e ein Mitarbeiter des Al-Amal, des offiziellen Parteiorgans der Phalange, von Mitgliedern der Oppositon 328

1 0 Abgeordnete waren der Abstimmung fern geblieben. Vgl. den Text des Manifestes im L'Orient v o m 9. 8. 1958. 330 Ygi Ji e Erklärung der Loyalisten im L'Orient vom 28. 8. 1958. 331 So der Leitartikel des L'Orient v o m 6. 9. 1958. 329

9*

132 entführt. Dieses Ereignis nahm Pierre Gemayel, der Chef der Phalange, zum Anlaß, um am nächsten Tag zu einem „Gegenstreik" 332 aufzurufen. Der Erfolg war, daß Beirut am nächsten Tag einer praktisch toten Stadt glich. Die blutigen Auseinandersetzungen in allen Teilen des Landes erreichten einen neuen Höhepunkt. Dann folgte ein „Ereignis" dem anderen: Am 20. 9. verließ der Premier Sami al-Sulh nach seiner offiziellen Demissionierung das Land und ging in die Türkei ins Exil. Am 23. 9. wurde der neue Staatspräsident auf die Verfassung vereidigt und trat noch am selben Tage die Nachfolge Chamouns an. Am 24. 9. bildete Rashid Karame, der Führer der Opposition in Tripolis, schon einmal Premierminister unter Chamoun 333 , das neue Kabinett, das außer ihm noch ein Mitglied der eigentlichen Opposition und fünf neutrale Politiker umfaßte. In einer ersten Erklärung der Regierung hieß es u. a., daß jetzt „die Epoche angebrochen ist, die Euch die Früchte Eurer Revolution schenken wird" 334 . Auf diese, einer Provokation der Loyalisten gleichkommende, Verlautbarung erklärten diese ihren festen Entschluß, so lange im „Gegenstreik" zu bleiben, bis ein Kabinett nach der Formel „ni vainqueurs, ni vaincus" gebildet würde 335 . Dies wurde als das Äußerste an Kompromißbereitschaft und als die einzige Möglichkeit bezeichnet, der unlösbaren Streitfrage, wer der eigentliche Sieger der ganzen Auseinandersetzung sei, aus dem Weg zu gehen. Neben dieser offenen Opposition des loyalistischen Teiles der Bevölkerung sah sich die neugebildete Regierung noch einer zweiten, kaum überwindbaren Schwierigkeit gegenüber: Es bestand wenig Aussicht, in einer Kammer, die in ihrer Mehrheit loyalistisch, also gegen die „Oppositionsregierung" eingestellt war, die notwendige Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dieser Regierung zu finden. Neue Verhandlungen wurden aufgenommen. Am 20. Oktober bahnte sich eine Lösung an: Karame traf Gemayel, die Exponenten der sich bekämpfenden Fronten setzten sich an den Verhandlungstisch. Die Realisten auf beiden Seiten waren sich darüber klar, daß ein baldiger Kompromiß im Interesse beider Seiten unbedingt erforderlich war. Am 14. 10., nach drei weiteren Tagen vergeblicher Kombinations- und Kompromißversuche, war die Lösung gefunden. Karame bildete ein neues Kabinett, das „cabinet du salut publique". Es bestand aus nur vier Ministern, aus Karame, Ueini, Gemayel und R. Edde. Durch diese Lösung waren je zwei führende Vertreter der sich gegenüberstehenden Fronten — Karame und Ueini von den „Rebellen", Gemayel und R. Edde von den „Loyalisten" — und gleichzeitig je zwei Repräsentanten der beiden großen libanesischen Religionsgemeinschaften — Kara332 Ebenso wie die Opposition erklärte er: „Wir unternehmen keine GegenR e v o l u t i o n , sondern nur einen Streik." Vgl. L'Orient vom 28. 9. 1958. 333 Vom 15. 9. 1955 bis 15. 3. 1956. 334 Vgl. die Verlautbarung im L'Orient vom 28. 9. 1958. 335 Vgl. die Erklärung Gemayels im L'Orient vom 28. 10. 1958.

133 me und Ueini sind Sunniten, Gemayel und R . Eddd Maroniten — zu einem Regierungsteam zusammengefaßt. Damit war die „Krise", diese härteste und blutigste Auseinandersetzung im Libanon seit 1860, auf eine überraschende, eigentlich nur im Libanon mögliche Weise beendet. Die beiden Führer der sich über fünf Monate lang ohne jede Kompromißbereitschaft bekämpfenden Fronten bildeten zusammen mit je einem ihrer Gefolgsmänner ein Kabinett, das es als seine wichtigste Aufgabe betrachtete, die Folgen dieses überall als „unproduktiv" empfundenen halben Jahres zu liquidieren und möglichst schnell eine stabilere innenpolitische Situation zu schaffen. Seither hat sich das überkommene System wieder eingespielt. Schon bald schien sich — zumindest an der politischen Oberfläche — kaum Wesentliches verändert zu haben. Die Außenpolitik des „Revolutionshelden" Karame und seines ebenfalls vorher dem extremen Flügel der Opposition angehörenden Außenministers Ueini ging schon sehr bald nicht mehr über ein gewisses Maß reservierter Freundlichkeit gegenüber dem — inzwischen von Kassem aus seiner Rolle als einzigem Führer der arabisch-nationalen bzw. unitaristischen Bewegung verdrängten — ägyptisch-syrischen Staatschef Nasser. Die Wahlen vom Juli 1960 und die Bildung eines neuen Kabinetts unter Saeb Salam trugen weiterhin zur innenpolitischen Stabilisierung bei, und heute erinnert kaum noch etwas an der politischen Fassade des Libanon daran, daß nur kurze Zeit vergangen ist, seit das „jeder gegen jeden" bedrückende Realität war. X . Das Gesidit der politischen Realität im Libanon von heute Das „libanesische System" hat, wie Verlauf und Ausgang der großen „Krise" zeigen, seine — zweite — heftige Bewährungsprobe bestanden, ja eine Widerstandsfähigkeit bewiesen, die selbst seine erklärtesten Anhänger von ihm nicht erwartet hätten. Zwar hat die libanesische Republik sicher nicht auf Grund dieses ihres Systems, sondern dank der bedingungslosen Verteidigung ihrer Unabhängigkeit durch die „Loyalisten" und ihre Anhängerschaft auf den Barrikaden, vor allem aber auch dank der unübersehbaren Präsenz amerikanischer Truppen ihre Selbständigkeit bewahrt. Ihr noch intaktes, außerordentliches flexibles System innerstaatlicher Koexistenz ermöglichte es jedoch, nach Beendigung der offenen Auseinandersetzung in erstaunlich kurzer Zeit wieder zu einer normalen politischen Praxis zurückzukehren. Wurde das „libanesische System" nach der „Krise" von 1958 tatsächlich beibehalten, bildet es heute erneut — vielleicht deutlicher als je zuvor — die selbstverständliche Grundlage des politischen Lebens im Libanon — einige wenige, jedoch entscheidende Akzentverschiebungen, ja wirkliche Veränderungen, sowohl soweit es seine Ausgestaltung, seine

134 politische Aktualisierung wie soweit es seinen eigentlichen Wesensgehalt betrifft, hat diese System doch erfahren. 1. Die Auswirkungen der „Krise" von 1958 auf das „libanesischen System" Die greifbarste V e r ä n d e r u n g betrifft die Spitze der politischen Hierarchie im Libanon. Gerade hier h a t eine deutliche Gewichtsverschieb u n g s t a t t g e f u n d e n . R e p r ä s e n t i e r t e bisher der Staatspräsident, v o n der Verfassung m i t erheblichen, ja entscheidenden Vollmachten ausgestattet, die politischen Ambitionen des christlichen Bevölkerungsteils — mit der W a h l des maronitischen Generals F o u a d Chehab verlor dieses A m t viel von seiner ausgesprochen christlich-maronitischen Prägung, und sein I n haber w i r d von der Mehrheit der christlichen wie der m u h a m m e d a n i schen Libanesen weniger als E x p o n e n t der Interessen des christlichen Bevölkerungsteils d e n n als „neutrale", auch den Belangen des m u h a m m e danischen Bevölkerungsteils z u m i n d e s t w o h l w o l l e n d gegenüberstehende u n d sie weitgehend berücksichtigende Persönlichkeit betrachtet. Sicher w a r die Ä r a C h a m o u n , insbesondere in i h r e n letzten J a h r e n , nicht der „ N o r m a l z u s t a n d " , w a r die Außerachtlassung der Belange und erklärten Wünsche des muhammedanischen Bevölkerungsteils eine dem libanesischen Gleichgewicht auch in den Augen der meisten C h r i s t e n nicht m e h r entsprechende politische Linie. Doch w a r e n Bechara a l - K h o u r y u n d Camille C h a m o u n in ihren ersten — k o n z i l i a n t e n — J a h r e n als Staatspräsidenten sicher entschlossenere V e r t r e t e r ihrer „ c o m m u n a u t é " bzw. des „Blocks" ihrer christlichen G l a u b e n s b r ü d e r , als es C h e h a b h e u t e ist — wobei die Frage, o b das Weniger nicht hier ein M e h r , ob dies also nicht grundsätzlich ein Vorteil im Hinblick auf die weitere Entwicklung des libanesischen politischen Gefüges ist, noch zu b e a n t w o r t e n bliebe. Besonders s p ü r b a r w i r d dieser Verlust christlicher R e p r ä s e n t a n z jedoch erst, w e n n m a n gleichzeitig das politische Profil der beiden 8 3 6 , nach der Krise bisher a m t i e r e n d e n Ministerpräsid e n t e n beachtet: sowohl der Chef des „cabinet du salut p u b l i q u e " , Rachid K a r a m é , wie der des nach den W a h l e n im Juli 1960 gebildeten „ r e g u l ä r e n " Kabinetts, Saeb Salam, w a r e n die e r k l ä r t e n u n d u n b e i r r b a r e n F ü h r e r der O p p o s i t i o n , die unnachgiebigen V e r t r e t e r der I n t e r essen des m u h a m m e d a n i s c h e n Bevölkerungsteils. V o n einer den W ü n schen dieses Bevölkerungsteils nicht entsprechenden R e p r ä s e n t a n z auf höchster E b e n e k a n n also h e u t e — im Gegensatz etwa z u r Ä r a C h a m o u n / Sami al-Sulh — nicht mehr die Rede sein. Diesem erheblichen Gewicht des sunnitisch-muhammedanischen Premierministers w i r d jedoch, anders als etwa in der Zeit der Z u s a m m e n a r b e i t Bechara 336 Außer Betracht bleibt hier der Chef des „neutralen", zur Beobachtung der Wahlen von 1960 für mehrere Monate amtierenden Kabinetts, der Sunnit Achmed Daouk, sowie die politische Entwicklung nach 1961.

135 al-Khourys mit Riad al-Sulh bzw. Chamouns mit Abdallah al-Yafi, von Seiten des Staatspräsidenten kaum ein wirkliches Gegengewicht entgegengesetzt. Christlicher Antipode dieses sunnitisch-muhammedanischen Ministerpräsidenten ist vielmehr seit Ende der „Krise" ein Minister, der Führer des christlichen „Gegenstreiks" vom August 1958, der Maronit Pierre Gemayel. Die Person Gemayels — der im Kabinett Karamé das Erziehungsministeriums innehatte und im Kabinett Saeb Salam Finanzminister war — wurde zum Repräsentanten der maronitischen bzw. christlichen Bevölkerung in der obersten Hierarchie des Staatsgefüges und zu dem eigentlichen Garanten eines ausgeprägt christlichen Einflusses in der Regierungsspitze. Daß diese „Entkonfessionalisierung" der Spitze der libanesischen staatlichen Hierarchie — nicht formell, der Staatspräsident ist auch heute ein Maronit und muß ein solcher sein, aber ihrer Substanz nach, da der amtierende Staatspräsident nicht mehr der eigentliche Repräsentant des christlichen Bevölkerungsteils ist — gewisse Auswirkungen auf das politische Gleichgewicht der Kräfte hat, liegt auf der Hand 3 3 7 .

2. Die „endgültige" Teilung der libanesischen Bevölkerung in zwei gegensätzlichen politischen Ideen anhängende „Blöcke" Die einschneidendste und das libanesische Gefüge in seinen Grundfesten antastende Konsequenz der großen Krise ist jedoch die „offizielle" Perpetuierung der Fronten, die sich vor der Krise als „Loyalisten" und „nationale F r o n t " gebildet und die sich in derselben als „mouvement de mai" und „mouvement de septembre" 3 3 8 gefestigt und offen gegeneinandergestellt hatten. Die Person Chamouns und seine Bemühungen um eine Erneuerung seines präsidentiellen Mandats, der Bagdad-Pakt, die Eisenhower-Doktrin und die Suez-Krise waren nur Symptome einer außerordentlich schnellebigen, ständig Entscheidungen von weittragender Bedeutung fordernden politischen Entwicklung. Derartige Entscheidungen verloren jedoch, waren sie einmal getroffen, meist sehr schnell ihre Bedeutung für die weitere innenpolitische Auseinandersetzung. Was blieb, ja was sich immer deutlicher abzeichnete — und abzeichnet —, ist der hinter diesen sich auf Grund eines aktuellen Problems bildenden Fronten sichtbare Gegensatz zwischen arabischen und libanesischem Nationalismus, zwischen Arabern und Libanesen, zwischen Christen und Muslims. Hierin, nicht im Phänomen Chamoun oder dem der EisenhowerDoktrin, liegt gleichzeitig Grund und Ergebnis der libanesischen Krise, ja, die eigentliche Ursache der ungeheuren Spannung, die das innenpolitische Gefüge des Libanon seit etwa einem Jahrzehnt mehr und mehr beherrscht: In dem unverkennbaren — erneuten — Auseinander337 338

Vgl. hierzu insbesondere Rondot, brèves réflexions, a. a. O., S. 29/30. So Rondot, im L'Orient vom 20. 5. 1959.

136 gehen des politischen Programms der beiden heute etwa gleichstarken libanesischen Bevölkerungsteile, des christlichen und des muhammedanischen „Blocks". Schon oben, noch vor der näheren Betrachtung der libanesischen Krise, wurde darauf hingewiesen, daß sich die beiden feindlichen „Lager" nicht etwa auf Grund irgendwelcher Auseinandersetzungen religiösen Charakters oder eines auf bestehenden religiösen Unterschieden basierenden Gefühls gegenseitiger Abneigung zusammengefunden haben 3 3 9 . Was die Fronten trennt, ist eine rein politische Entscheidung, nämlich die für den arabischen bzw. den libanesischen Nationalismus. Daß diese Entscheidung sich allerdings weitgehend an der religiösen Trennungslinie orientiert, ist fast selbstverständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, daß, wie im folgenden noch näher nachzuweisen ist, die E n t scheidung für den arabischen Nationalismus auch die Bejahung einer zumindest heute noch weitgehend auf der muhammedanischen Vorstellungs- und Begriffswelt aufbauenden Bewegung bedeutet. Es ist in diesem Zusammenhang unerläßlich, eine kurze Analyse der sich gegenüberstehenden Phänomene des arabischen und des libanesischen Nationalismus vorzunehmen. Dabei kann in keinem Fall eine erschöpfende Darstellung eines so komplexen und schillernden Begriffs, wie es etwa der arabische Nationalismus ist, gegeben werden. Gerade insoweit es den arabischen Nationalismus betrifft, sei auf die vielen, wenn auch dem objektiven Betrachter zumeist allzu engagiert, d. h. in irgendeiner Beziehung verfälscht oder unvollständig erscheinenden Versuche einer „Definition" dieses Begriffes verwiesen 3 4 0 . Nationalismus ist „Gruppenbewußtsein", ist die eine Vielzahl von Individuen umfassende Geisteshaltung, die „den Nationalstaat als die ideale Gestalt der politischen Ordnung und die Nation als die Quelle aller schöpferischen Kulturkräfte und des wirtschaftlichen Wohlstandes" erkennt 3 4 1 . Die Bedeutung der „objektiven" Merkmale einer Nation wie gemeinsame Religion bzw. Weltanschauung, Kultur, Sprache, Geschichte, Tradition oder Lebensgestaltung bei dem Entwicklungsprozeß von einer „Gesellschaft" von Individuen zu einer „Gemeinschaft", zu einer Nation, ist unbestreitbar. Neben dem auf einer gemeinsamen Vergangenheit aufbauenden Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, neben diesem faßbaren, objektivierten Bestandteil des Begriffes der Nation und damit auch des auf ihre „Befreiung" bzw. „Verwirklichung" hinzielenden 339 Ygl hierzu auch Rondot, breves reflexions, a. a. O., S. 29. 3 4 0 Vgl. u. a. Gamal Abd al-Nasser, Die Philosophie der Revolution, Kairo 1956; Anuar al-Sadat, Geschichte der arabischen Einheit, Kairo 1957 (in arabisch); Jean Wolf, La resurrection du monde arabe, Brüssel 1959; Nejla Izzedin, The arab World, Chicago 1953; Michel Laissy, Du Panarabisme ä la Ligue Arabe, Paris 1948, und mehrere interssante Aufsätze in Walter Z. Laqueur, The Middle East in Transition, London 1958. 3 4 1 Vgl. Kohn, S. 39.

137 Nationalismus ist jedoch das in Gegenwart u n d Z u k u n f t wurzelnde Gefühls- bzw. Willensmoment, das Gefühl einer tatsächlichen engen Zusammengehörigkeit u n d der Wille, diese Zusammengehörigkeit nach außen durch die Schaffung eines National-Staates zu verwirklichen bzw. an ihm festzuhalten, von ausschlaggebender Bedeutung. „Une nation est une grande solidarité constituée par le sentiment des sacrifices qu'on a fait et de ceux qu'on est disposé à faire encore. Elle suppose u n passé, elle se résume p o u r t a n t dans le présent par un fait tangible: le consentement, le désir clairement exprimé de continuer la vie commune. L'existence d'une nation est u n plébiscite de tous les jours" 342 . Dieses tägliche Plebiszit, Ausdruck eines gegenwärtigen Bewußtseins unbedingter Zusammengehörigkeit, ist das stärkste, jedem Nationalismus, gleich welcher Prägung, immanente Element. Ein derartiges Bewußtsein unbedingter Zugehörigkeit zu einer Schicksalsgemeinschaft, wie sie die N a t i o n darstellt, mag seinen U r s p r u n g aus f ü r jeden einzelnen Fall erheblich divergierenden Motiven u n d Fakten ableiten: Sicher ist, daß dieses „sentiment" nicht durch äußeren Zwang oder etwa durch Gewohnheit erzeugt werden kann. Toynbee 3 4 3 sagt über das Nationalbewußtsein: „ . . . like all great forces in h u m a n life, it is nothing material or mechanical, but a subjective psychological feeling in living people. This feeling can be kindled by the pressure of one or several factors as a common country, language, or tradition." Dieses irrationale, das eigentliche Wesen des Nationalismus ausmachende Gefühlsmoment kennzeichnet auch die beiden sich im Libanon gegenüberstehenden Bewegungen, den arabischen und den libanesischen Nationalismus. Verschieden sind dagegen die Basis beider Bestrebungen, ihr Ziel und ihre Wünsche.

a) Der arabische Nationalismus u n d seine Anhänger im Libanon Ziel des arabischen Nationalismus ist die Konstituierung eines freien u n d unabhängigen Staates, der alle heute von „Arabern" bewohnten Gebiete — vielleicht mit Ausnahme Nordafrikas, das sich immer mehr zu einem selbständigen, in sich geschlossenen Bereich entwickelt — zusammenfassen u n d so der „arabischen N a t i o n " in ihrer Gesamtheit einen angemessenen Lebensraum garantieren soll 344 . Als nachahmenswertes Vorbild gilt insbesondere das Umayyaden-Reich, das tatsächlich alle arabischen Länder u m f a ß t e u n d den „Arabismus" erstmals zu einem weltpolitischen Faktor werden ließ. 342

343 344

Renan, S. 27.

a. a. O., S. 13. Vgl. 2. B. H o u r a n i , S. 100.

138

Die Anfänge des arabischen Nationalismus heutiger Prägung liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. 1847 wurde die erste „literarische Gesellschaft" von Syrern zur Pflege der arabischen Sprache — die den meisten der in Syrien beschäftigten türkischen Funktionäre der Hohen Pforte völlig unbekannt war — gegründet, 1875 die erste „arabische Ziele" verfolgende Geheimorganisation 3 4 5 . Schauplatz dieser Anfänge der „arabischen" Aktivität war Beirut. Besondere Intensität entwickelte die arabische Bewegung jedoch erst Anfang des 20. Jahrhunderts. 1904 wurde in Paris die „Ligue de la Patrie Arabe" gegründet, um 1910 folgten weitere Geheimbünde in Istanbul, Kairo und wiederum in Paris, wo zudem am 18. 6. 1913 der erste „Arabische Kongreß" eröffnet wurde 3 4 6 . Das Programm dieser Anfänge des arabischen Nationalismus war weit weniger revolutionär, als man annehmen sollte: Es forderte eine Dezentralisierung der Verwaltung des osmanischen Reiches, die Anerkennung der Araber als gleichberechtigter „Partner" innerhalb dieses in seiner territorialen Integrität unangetasteten Reiches und das Zugeständnis einer gewissen kulturellen Autonomie der arabischen Nation 3 4 7 . Von einem Ausscheiden „Arabiens" aus dem osmanischen Reiche, von nationaler politischer Selbständigkeit war — noch — keine Rede. Im Hinblick auf die spätere Entwicklung verdient der Umstand, daß unter den Initiatoren der arabischen Bewegung fast ebensoviele Christen — meist libanesischer Abstammung — wie Muhammedaner waren, besondere Beachtung. Die Gründer des ersten Beiruter Geheimbundes waren ausschließlich Christen 3 4 8 , und in allen später gegründeten Gesellschaften spielten sie eine führende Rolle. So stellten sie auch auf den ersten „Arabischen Kongreß" die Hälfte der 24 anwesenden Abgeordneten 349 . Die führende Rolle, die gerade die — syrischen bzw. libanesischen — Christen in den Anfängen der arabischen Bewegung spielten, erklärt sich insbesondere aus folgenden Umständen: Einmal waren gerade die — syrischen bzw. libanesischen — Christen dank ihres damals im nahöstlichen R a u m ungewöhnlich hohen Bildungsniveaus prädestiniert, den Arabismus, der bis in das frühe 20. Jahrhundert eine rein „intellektuelle", d. h. vornehmlich von der geistigen Führungsschicht innerhalb der — damals — jüngeren Generation getragene Bewegung war, zu propagieren. Zudem waren sie auf Grund 3 4 5 Vgl. A n t o n i u s , S,. 1. D i e A r b e i t v o n A n t o n i u s stellt wohl die u m f a s s e n d s t e , in einer nichtarabischen Sprache erschienene U n t e r s u c h u n g des beginnenden arabischen N a t i o n a l i s m u s bis in die Zeit nach d e m 1. Weltkrieg dar. Sie gibt einen ausgezeichneten Einblick in die H i n t e r g r ü n d e der arabischen B e w e g u n g . A u f sie w i r d in diesem Z u s a m m e n h a n g verwiesen. 3 4 6 Vgl. A n t o n i u s , S. 98, 102, 108 ff., 114 f. 3 4 7 Vgl. A n t o n i u s , S. 84 ff., 115. 3 4 8 Vgl. A n t o n i u s , S. 79. 3 4 0 Vgl. A n t o n i u s , S. 108 ff. u n d 114/15.

139 ihres Studiums vornehmlich an französischen Universitäten mit d e m G e d a n k e n g u t der französischen R e v o l u t i o n u n d der Verwirklichung nationalen Denkes im E u r o p a des 19. Jahrhunderts in enge B e r ü h r u n g g e k o m m e n . D a r ü b e r hinaus aber stellte gerade der Belebungsversuch einer arabisch-nationalen Bewegung — wobei der Begriff „ n a t i o n a l " durchaus im europäischen, d. h. säkularisierten Sinne verstanden wurde — eine R e a k t i o n christlicher bzw. muhammedanisch-liberaler Kreise gegen die Versuche des Sultans Abdul H a m i d dar, eine Renaissance des Islams bzw. des pan-islamischen Gedankens zu propagieren, um so als Inhaber des K a l i f a t s , also als Führer aller Muslims, seine auch im Innern des Reiches immer schwächer werdende politische Position auf religiöser Basis neu zu befestigen 3 5 0 . V o n herausragender Bedeutung in der frühen arabischen N a t i o n a l bewegung war die arabische Sprache, das eigentliche — u n d auch einzig als solches empfundene — Bindeglied zwischen allen Arabern. S o erklärt sich der U m s t a n d , daß der arabische N a t i o n a l i s m u s aus einer „literarischen" Bewegung, aus einer Belebung der arabischen Sprache innerhalb einer Vielzahl v o n literarischen Gesellschaften entstanden ist. Es f ü h r t e zu weit, die Entwicklung der national-arabischen Bewegung v o n diesen „literarischen" A n f ä n g e n des späten 19. u n d f r ü h e n 20. J a h r hunderts bis zu der weltpolitischen Bedeutung, den der arabische N a t i o nalismus Nassers heute darstellt, im einzelnen z u verfolgen. Der Ausbruch der arabischen Revolte gegen die türkischen Unterdrücker während des Ersten Weltkrieges unter d e m Sheriff Hussain v o n M e k k a und seinen Söhnen Ali, Abdullah, Faisal und Zeid, ihr vollständiger militärischer E r f o l g , die bittere Enttäuschung der A r a b e r über die Nachkriegspolitik der Siegermächte, die offensichtlich ihren vorher gegebenen Versprechungen widersprach, die — willkürliche — A u f t e i l u n g Arabiens in ein englisches u n d ein französisches Einflußgebiet und ihre Konsequenz, die Errichtung einer Mehrzahl arabischer Staaten, schließlich die starke Wiederbelebung des arabischen N a t i o n a l i s m u s im Z u s a m m e n h a n g m i t dem Palästina-Konflikt, insbesondere aber nach der Machtergreifung Nassers, des im arabischen Bereich lange Zeit vermißten, tatkräftigen, überzeugenden Führers und k o m p r o m i ß l o s e n Verfechters arabischer Belange — das sind die Meilensteine der Entwicklung, die den arabischen Nationalismus zu dem heute beherrschenden politischen Machtf a k t o r im nahöstlichen R a u m hat werden lassen. Versucht m a n , den arabischen Nationalismus, so wie er sich heute als ein P h ä n o m e n v o n höchster politischer A k t u a l i t ä t darstellt, näher zu umschreiben, so stößt man sehr bald auf k a u m voraussehbare, erhebliche Schwierigkeiten. Unverändertes Ziel des arabischen Nationalismus ist auch heute die Schaffung eines alle A r a b e r umfassenden Nationalstaates. Insoweit herrscht Klarheit. D e r arabische Nationalismus läßt sich ebenso 3:>0

Vgl. A n t o n i u s , S. 68 ff.

140 deutlich von zwei in etwa parallel m i t ihm verlaufenden Erscheinungen abgrenzen: v o n den „ n a t i o n a l e n " Bewegungen der arabischen Gliedstaaten u n d dem Pan-Islamismus. Die partikulären Nationalismen in den einzelnen arabischen Staaten, etwa in der F o r m des — augeprägten — ägyptischen, jordanischen oder saudi-arabischen Nationalismus, oder aber in Gestalt einer Propagierung des „fruchtbaren H a l b m o n d e s " , eines den Libanon, Syrien und den Irak umfassenden Gebildes, erscheinen mehr oder minder als V o r stufen des arabischen Nationalismus 3 5 1 . D a die Verwirklichung der allen A r a b e r n praktisch gleich erstrebenswert erscheinenden Nationalstaatspläne insbesondere zwischen den beiden Weltkriegen k a u m in greifbarer N ä h e war, beschränkte m a n sich — ohne die Idee eines „ A r a b i e n s " aus dem A u g e zu lassen — auf den K a m p f u m die B e g r ü n d u n g bzw. Erhaltung eines freien Ägyptens, Syriens oder Saudi-Arabiens, dieses ersten, unbedingt notwendigen Schrittes auf dem Wege einer Vereinigung aller arabischen Partikularstaaten, die, war die völlige Freiheit der einzelnen Glieder einmal gesichert, nur noch als reiner Formalakt erschien. Wie sehr gerade nach dem 2. Weltkrieg die „patriotismes particularistes" 3 5 2 d e m grundsätzlichen Einheitsstreben aller A r a b e r widerstanden, wie groß die Rivalität etwa zwischen d e m Irak und Ä g y p t e n oder Syrien u n d J o r d a n i e n war, wie verschieden die Politik, die die arabischen „ B r u d e r s t a a t e n " verfolgten, erschien noch zwischen den beiden Weltkriegen völlig undenkbar. Tatsächlich vermochten nur massive Bedrohungen aller oder eines dieser Bruderstaaten, wie die Konstituierung Israels oder das englisch-französische Suez-Abenteuer, eine A r t negativer Einheit herzustellen. T r o t z dieser Gegensätze besteht jedoch in der arabischen Welt Einigkeit darüber, daß ein derartiger, auf einen kleinen Teil der arabischen Welt bezogener Patriotismus — soweit er über ein bestimmtes G e f ü h l der Anhänglichkeit an das „ V a t e r l a n d " im engeren Sinne hinausgeht und politische Dimensionen a n n i m m t — verfehlt ist, daß es grundsätzlich nur e i n arabisches Nationalbewußtsein geben kann und darf. D e r Pan-Islamismus, eine ebenfalls im ausgehenden 19. J a h r h u n d e r t einsetzende Bewegung, Ausfluß religiösen R e f o r m i s m u s und einer versuchten Wiederbelebung der islamischen O r t h o d o x i e , unterscheidet sich schon durch das deutlich über das des arabischen Nationalismus hinausgehende Ziel: die Besinnung auf die Grundlagen des Islams unter Zurückdrängung des liberalen, christlich-europäischen Einflusses und die B e g r ü n d u n g eines nach Möglichkeit alle Muslims, gleich welcher „ N a t i o n a l i t ä t " — wobei gerade dieser Begriff als der islamischen D o g 3 5 1 A r t . 1 der V e r f a s s u n g der V . A . R . ( v o m 5. 3. 1958) l a u t e t : „ D e r Vereinigte Arabische Staat ist eine souveräne, u n a b h ä n g i g e u n d demokratische R e p u b l i k , dessen V o l k ein Teil der arabischen N a t i o n ist." Vgl. A. Ansari, S. 43. •'«2 Vgl. R o n d o t , L ' I s l a m , S. 229.

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matik fremd abgelehnt wird — umfassenden Gottesstaates 3 5 3 . Über den puritanischem, teilweise modernistischem Einschlag. Immer aber strebt der Gesichtskreis der Panislamisten über den arabischen Bereich hinaus, es sei denn, daß ihr arabisches Nationalbewußtsein sich stärker als ihr Eingespanntsein in streng orthodoxe Gedankengänge erweist. Gerade hier rührt man nun an den allergischen, jede Diskussion des arabischen Nationalismus — vorausgesetzt, daß man mit europäischen Maßstäben bzw. mit den Augen der arabischen Christen die Problemstellung angeht — so unerhört erschwerenden Punkt: Eine Abgrenzung des arabischen Nationalismus in der Weise, daß man etwa die Feststellung trifft, er sei weder mit dem Pan-Islamismus noch mit dem Partikularismus innerhalb der arabischen Einzelstaaten identisch, bietet keine allzu großen Schwierigkeiten. U m jedoch die Identität des arabischen Nationalismus selbst, sein Wesen erfassen bzw. positiv umschreiben zu können, bietet sich heute kaum eine andere Möglichkeit, als ihn weitgehend mit dem Islam in Verbindung zu setzen, ja die heute bestehende weitgehende Identität arabisch-muhammedanischer Vorstellungen festzustellen. Der Arabismus war, wie aufgezeigt wurde, in seinen Anfängen eine mehr oder minder intellektuelle Bewegung. Er ist es in seinem Kern bis heute geblieben, und zwar insoweit, als seine eigentlichen Träger und Vorkämpfer sich auch heute noch überwiegend aus der Intelligenzia, der meist an europäischen Universitäten erzogenen oder doch zumindest mit dem Gedankengut des europäischen Nationalismus vertrauten Schicht rekrutieren. Das erklärte Ziel dieser Schicht ist die Errichtung eines arabischen Nationalstaates nach europäischem Muster. Eine strenge Trennung von Politik und Religion, von Staat und Kirche ist für sie selbstverständlich, der säkularisierte, laizistische Staat, der nur den — im europäischen Sinne verstandenen — nationalen, nicht den religiösen Unterscheidungen irgendwelche Bedeutung einräumt, ist die letztlich erstrebenswerte Konkretisierung ihrer politischen Pläne. Dabei erheben sie die Forderung nach einem säkularisierten Staatsgefüge nicht etwa aus rein zweckpolitischen Erwägungen — nur im Libanon, in Syrien und in Ägypten wirft die Existenz eines christlichen Bevölkerungsanteils bzw. einer beachtlichen christlichen Minderheit in dieser Hinsicht ein wirkliches Problem auf, insgesamt sind etwa 88 °/o aller Araber Muslims —, sondern weil sie eine Verbindung zwischen Islam und arabischem Nationalismus für begrifflich unmöglich halten und als einen zu vermeidenden Rückfall in „mittelalterliche" Vorstellungen verwerfen. Die Einstellung dieser „Elite" unter den arabischen Nationalisten ist weitgehend die gleiche, ob sie nun die Umgebung Burghibas, Nassers oder König 353 ü b e r die B e s t r e b u n g e n der pan-islamischen R e f o r m b e w e g u n g u n d ihr Verhältnis z u m arabischen N a t i o n a l i s m u s b z w . zu d e m ägyptischen P a r t i k u larismus vgl. den interessanten A u f s a t z v o m Z. Ansari, C o n t e m p o r a r y Islam and N a t i o n a l i s m , a. a. O., passim; vgl. auch R o n d o t , L ' I s l a m , S. 253—273.

142 Husseins bildet, ob sie weltanschaulich sozialistischen Ideen (etwa innerhalb der Baath-Partei) oder nationalliberalen Vorstellungen (etwa im Neo-Destur Burghibas) nähersteht. U m ihr Ziel, die Schaffung eines arabischen Nationalstaates, erreichen zu können, mußten die Verfechter des arabischen Nationalismus jedoch von Anfang an versuchen, einen möglichst engen K o n t a k t zu dem Araber schlechthin, zu der f ü r die Verwirklichung ihrer Ideen unbedingt erforderlichen „Masse" herzustellen. Diese Kontaktherstellung ist ohne Zweifel gelungen. Die Begeisterung f ü r den arabischen Nationalismus erreicht heute auch den letzten Fellaha in Ägypten oder Syrien. Nicht gelungen ist dagegen den V o r k ä m p f e r n des arabischen Nationalismus, ihre am europäischen Vorbild geschulten Vorstellungen dieses Begriffes auf die breite Masse zu übertragen. Auf den Umstand, daß im Bereich des Islams eine Scheidung von Staat u n d Kirche u n d eine T r e n n u n g von Nationalität u n d Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bis in das späte 19. J a h r h u n d e r t gar nicht vorstellbar war, ja daß der Begriff „ u m m a " oder „millah" gerade die Identität der beiden Begriffe beweist, wurde schon hingewiesen 354 . D a ß diese der Vorstellungswelt des Islams inhärente Identifizierung beider Begriffe im Bereich der islamischen Welt t r o t z der laizistischen Uberzeugungen einer schwachen Schicht von Intellektuellen u n d t r o t z der Bildung arabischer Partikularstaaten mit mehr oder minder laizistischer S t r u k t u r von dem weitaus größten Teil aller Araber auch heute noch vollzogen wird, erscheint durchaus begreiflich. Dies gilt insbesondere, wenn man neben der religiösen Tradition den Umstand berücksichtigt, daß gerade die arabische Sprache von allen Verfechtern des arabischen Nationalismus als das hervorragendste Bindeglied aller Araber untereinander bezeichnet wird, diese Sprache aber die Muhammeds, die des Korans ist und gerade als solche besondere Verehrung genießt. Hier liegen die Gründe dafür, daß die in ihren Anfängen als „reiner", säkularisierter Nationalismus konzipierte arabische Bewegung, deren Führer auch heute noch diesen Vorstellungen anhängen 3 5 5 , als Massenbewegung zu einem Konglomerat arabischer u n d islamischer Wiederbelebungs- u n d Reformversuche geworden ist. A. H o u r a n i gibt in Wahabismus, die Salafiya, den Einflußbereich der Al-Azhar-Universität bis zu den algerischen u n d syrischen Ulemas, der ägyptischen MuslimBruderschaft u n d der pakistanischen pan-islamischen Schule geht die 354

Vgl., S. 20 und 24 f.; vgl. hierzu auch Foda, S. 94 ff. Immer wieder weisen „arabisch-nationalistische" Gesprächspartner den Deutschen auf die „völlige Gleichartigkeit" etwa der Lage Deutschlands v o r Begründung des Deutschen Reiches von 1871 u n d Arabiens im augenblicklichen Z e i t p u n k t sowie auf die Ähnlichkeit der Rolle Bismarcks f ü r das deutsche u n d der Nassers f ü r das arabische Einheitsstreben hin. Auch A. Ansari v e r t r i t t die Ansidit, daß Nasser „mit Recht oder U n r e c h t n u r mit Bismarck oder C a v o u r verglichen werden k a n n " (vgl. a. a. O., S. 45). 355

143 große Linie reformatorischer Bestrebungen mit teilweise restaurativem, seinem Essay „Syria and Lebanon" folgende, zugleich anschauliche und umfassende Darstellung dieses Ineinanderverwobenseins von Arabismus und Islam: "Although the movements of Arab and of Islamic revival lay emphasis upon different points it is impossible wholly to separate Arab nationalist feeling from Islamic feeling. In most Arabs the two tend to flow together; the movements of national and of religious revival are energized by the same complex of desires and emotions within the individuals who have created and who sustain them; and the ordinary Moslem Arab is not conscious of belonging in one aspect of his being to the Arab community, and in another to the Islamic, but rather of belonging to a single integrated 'Arabo-Islamic' community in which he does not clearly distinguish the Arab from the Islamic elements. Even in analysis it is impossible wholly to separate the two. On the one hand there is in Islam no sharp distinction between spiritual and temporal, Church and State; and in consequence a movement of religious reform will have its repercussions in every sphere of social and political life. On the other, many Arab nationalists, especially of the older generation, would define the Arab nation partly in terms of the Islamic religion, which most members of the nation profess, and of which the Holy Book is written in Arabic; and they would therefore regard the preservation and revival of Islam as being among the aims of the nationalist movement. . . . the secular view of life is becoming ever more widespread, especially among the younger generation and among those educated in Europe and America; and it is giving rise to the belief that it is better both for religion and for political activity if the two are kept distinct from one another. Thus it is possible to see the beginning of the idea of a secular nationalism, which rests upon elements of unity other than participation in a common religion; which aims at building a Westernized laic State; and in which therefore Moslems, Christians and atheists alike can join on a footing of equality. This laic nationalism is not consciously hostile to religion, although it is opposed to theocracy; but it is possible that at some time in the future it will come into conflict with Islamic orthodoxy." 3 5 6 . Dieser „Unreife" des normalen Arabers, seines noch starken Verhaftetseins in der Vorstellungswelt des Islams, sind sich die politischen Führer des arabischen Nationalismus durchaus bewußt. Sie haben erfahren müssen, daß eine Propagierung ihres rein nationalen Programms auf Unverständnis stieß oder, wenn es überhaupt als solches verstanden wurde, wenig nachhaltigen Beifall erhielt. Selbst Nasser sah sich zum Beispiel, nachdem der Begeisterungstaumel über die Gründung der V.A.R. verraucht und in Syrien die erste harte Kritik innerhalb der eigenen Reihen lautgeworden war, gezwungen, in seiner scharfen Ab3 5 6 a. a. O., S. 102/103. Vgl. hierzu auch die interessanten A u f s ä t z e v o n G. E. v. G r u n e b a u m , „Problems of Muslim N a t i o n a l i s m " , und v o n William T h o m s o n , „ T h e P r o b l e m of M u s l i m N a t i o n a l i s m " , i n : F r y e , S. 7 ff. bzw. 30 ff.

144 rechnung mit dem R e g i m e Kassems im Irak — einer ernsten B e d r o h u n g der Einheit der V . A . R . u n d seiner Vorrangstellung als einziger Führer des arabischen Nationalismus —, die er in D a m a s k u s im Frühjahr 1958 in einer Reihe v o n R e d e n v o r n a h m , das religiöse M o m e n t auszuspielen und Kassem der Mißachtung des K o r a n s und der heiligsten Regeln des Islam zu bezichtigen, u m das V o l k zu einer nachdrücklichen U n t e r stützung seiner Version des arabischen Nationalismus und zu einem unbedingten — überschäumenden — V e r t r a u e n s v o t u m zu bewegen 3 5 7 . In den Kreisen der intellektuellen, fortschrittlichen Führungsschicht des arabischen Nationalismus betrachtet m a n diese E r f a h r u n g des Verwobenseins politischer und religiöser Vorstellung weitgehend mit achselzuckender Gelassenheit u n d vertritt entweder die Ansicht, daß das noch in mittelalterlichen Vorstellungen verhaftete V o l k sich, ähnlich wie die Europäer, nur schneller als diese, von seinen noch bestehenden „religiösen Vorurteilen" befreien, die Religion zur Privatangelegenheit eines jeden erklären u n d „wirklich" nationalistisch werden würde 3 5 8 , daß bis zu diesem Z e i t p u n k t aber — so bedauerlich u n d begrifiswidrig es vielleicht auch sei — islamische u n d arabisch-nationalistische Bestrebungen bzw. Vorstellungen ruhig verbunden werden könnten, und jeder Appel eines arabischen Nationalisten an die religiöse Begeisterungsfähigkeit seiner Umwelt, etwa ein A u f r u f zum heiligen Krieg gegen Israel oder die westlichen Imperialisten, ein zumindest nach dem Grundsatz „der Zweck heiligt die Mittel" durchaus vertretbares Mittel zur Durchsetzung der doch allen gemeinsamen politischen Ideale sei 3 5 9 . Andere weisen darauf hin, daß schließlich, streng genommen, nur im Libanon das Problem der völligen Trennung von S t a a t und Kirche brennende poli3 5 7 Vgl. z . B . die R e d e n N a s s e r s v o m 11., 12., 13., 14. u n d 15. M ä r z 1959, die weitgehend, insbesondere soweit sie den K o n f e s s i o n a l i s m u s , die A p p e l l e N a s s e r s an die religiösen G e f ü h l e u n d V o r s t e l l u n g e n seiner Z u h ö r e r z u m Inhalt haben, in der Beiruter — christlichen — Presse, so u. a. i m L ' O r i e n t , wiedergegeben sind. Vgl. insbesondere den A n - N a h a r v o m 18. u n d 19. 3. 1959. 358 a ] s warnendes, d. h. jede übermäßige Forcierung der Säkularisierung des politischen Bereichs v o n oben als falsch bloßstellendes Beispiel w i r d i m m e r wieder auf die — kemalistische — T ü r k e i hingewiesen, die lange Zeit den Verfechtern eines völlig säkularisierten N a t i o n a l i s m u s als Beweis der D u r c h f ü h r barkeit derartiger Ideen auch in einem völlig dem Bereich des Islams zuzurechnenden L a n d diente, in der jetzt aber die religiösen K r ä f t e erneut auch in den politischen Bereich überzugreifen versuchen. V g l . hierzu insbesondere den instruktiven A u f s a t z v o n J a c q u e s D a u p h i n , „ T u r q u i e : Renaissance de l'Islam et politique interieure", im L'Orient v o m 17. 3. 1959, oder die Hinweise F. R . Allemanns, S. 214 ff. Vgl. auch die A u f s ä t z e zu diesem P r o b l e m in: F r y e , S. 41—147. 359 D e r a r t i g e G e d a n k e n g ä n g e vertraten dem V e r f a s s e r gegenüber insbesondere viele der arabischen N a t i o n a l i s t e n unter den Studenten der amerikanischen U n i versität in B e i r u t , aber auch etwa die f ü h r e n d e n V e r t r e t e r der libanesischen B a a t h - P a r t e i (so der C h e f r e d a k t e u r der P a r t e i - Z e i t u n g „ A l - S a h a f a r " , M a u r i c e Sakr).

145 tische A k t u a l i t ä t besitze; in allen anderen arabischen L ä n d e r n sei das muhammedanische Element derart vorherrschend, daß m a n der diesbezüglichen Entwicklung des politischen Bewußtseins der breiten M a s s e seinen L a u f lassen könne, ohne dieselbe mit U n g e d u l d zu betrachten 3 6 0 . Z u s a m m e n f a s s e n d ergibt sich etwa f o l g e n d e s B i l d : D e r arabische N a t i o n a l i s m u s w u r d e E n d e des 19. J a h r h u n d e r t s u n t e r d e m entscheidenden Einfluß der Ideen des europäischen, insbesondere des französischen, laizistischen, nationalstaatlichen D e n k e n s als rein arabisch-nationale B e w e g u n g g e b o r e n , die sich gegen die alle Wünsche des arabischen Teils des osmanischen Reiches ü b e r s e h e n d e Politik der H o h e n P f o r t e u n d die pan-islamischen T e n d e n z e n A b d u l H a m i d s richtete. Sehr bald erwies sich jedoch die „ o b j e k t i v e " G r u n d l a g e der B e w e g u n g — die eigentlich n u r in der allen A r a b e r n g e m e i n s a m e n S p r a c h e b e s t a n d — als zu schwach, um über eine bestimmte Elite hinaus der Idee des A r a b i s m u s eine — die n o t w e n d i g e B e g e i s t e r u n g e r z e u g e n d e — Fülle u n d L e b e n d i g k e i t zu verleihen. Z u d e m sind A r a b i s m u s u n d Islam in Geschichte, T r a d i t i o n u n d Lebensstil d e r a r t m i t e i n a n d e r v e r w o b e n , daß die begriffliche T r e n n u n g , die zu vollziehen die jeweilige Führungsschicht durchaus imstande ist, der breiten M a s s e aller A r a b e r heute noch einfach unmöglich erscheint. D e s h a l b ging auch die politische Führungsschicht des arabischen N a t i o nalismus schon sehr b a l d d a z u über, eine allerdings verschwommene Identität von I s l a m und A r a b i s m u s zu propagieren d. h., v o r allem im innerarabischen Bereich, „ d e n I s l a m als ideologisches Gerüst zu benutzen, um sich eindeutig identifizieren zu k ö n n e n " 3 6 1 . Daß 3 0 0 So äußerte sich Cecil Hourani, libanesischer Publizist mit britischem Paß, der, in Oxford erzogen und längere Zeit dort als Hochschullehrer tätig, seit der Unabhängigkeit Tunesiens einer der engsten Berater Burghibas ist, in einem Gespräch mit Charles Malik, bei dem der Verfasser zugegen war. Cecil Hourani wird als Initiator vieler der Maßnahmen genannt, die Tunesien zu d e m laizistischen Staat der arabischen Welt gemacht haben. Gerade in libanesischen politischen Kreisen wird diesem Standpunkt jedoch entgegengehalten, daß, auch abgesehen vom Libanon, nur ein völlig säkularisierter Nationalismus Chancen habe, die Einheit der gesamten arabischen Welt zu verwirklichen, da religiöse Differenzen nicht nur zwischen Christen und Muhammedanern, sondern auch innerhalb der muhammedanischen Welt zwischen Sunniten und Shiiten bestünden, der Irak mit seiner shiitischen Mehrheit z. B. niemals einem Staatsgefügc mit ausgesprodien sunnitischer Prägung beitreten werde. Dabei sei der Irak neben Syrien das „Herz" Arabiens und jede Konzeption eines arabischen N a tionalstaates ohne ihn im Grunde nicht denkbar. 3 6 1 So F. W. Fernau in einem Referat „Afrika im Welt-Islam" auf der Tagung der Deutschen Afrika-Gesellschaft im Januar 1960. Wieweit diese Identifizierung getrieben wird, sei nur an dem Beispiel einer Propaganda-Brosdiüre aufgezeigt, die, 1957 in Kairo erschienen und mit einem Vorwort Nassers ausgestattet, allen Adepten des arabischen Nationalismus zur Einführung in die Hand gegeben wird. Hier heißt es u . a . : „ . . . die arabische Nation ist mit dem Aufkommen des Islam geboren worden" (S. 11). Weiterhin heißt es in einer Rede Hassunas, des Generalsekretärs der Arabischen Liga u. a.: „Der Islam herrscht ganz in der

10 K e w e n i g

146 sich im gesamten arabischen Bereich ein Säkularisierungsprozeß vollzieht, daß die politische Elite v o n der grundsätzlichen N o t w e n d i g k e i t der T r e n n u n g v o n Staat u n d Kirche ü b e r z e u g t ist u n d sie, soweit es die politische Realität erlaubt, tatsächlich vollzieht, sind w o h l nicht zu bestreitende F a k t e n . W a n n dieser P r o z e ß jedoch beendet sein wird, vermag n i e m a n d vorauszusehen. Nach diesem k u r z e n Überblick e r ü b r i g t es sich fast, der Frage nach der A n h ä n g e r s c h a f t der Idee des arabischen N a t i o n a l i s m u s i m L i b a n o n nachzugehen. D a ß die libanesischen Muslims in ihrer überwiegenden M e h r heit arabische N a t i o n a l i s t e n sind, erscheint fast selbstverständlich. Gewiß bestehen Schattierungen, soweit es die Intensität des Engagements bet r i f f t . Die Sunniten, in i h r e r M e h r z a h l „neue" Libanesen, sind weitgehend e r k l ä r t e A n h ä n g e r des Arabismus u n d seines „ F ü h r e r s " Nassers. Die Shiiten, insbesondere die jüngere G e n e r a t i o n , sind fast ebenso vollzählig Verfechter der „arabischen Sache, w e n n sie auch zum Teil eher in der Person Kassems als in der Nassers den wirklichen R e p r ä s e n t a n t e n ihrer politischen Ambitionen e r k a n n t e n — bedingt insbesondere durch „konfessionelle" E r w ä g u n g e n , da, wie schon m e h r f a c h b e t o n t , i m Irak das shiitische E l e m e n t die f ü h r e n d e Rolle spielt u n d nicht als religiöse M i n d e r h e i t m e h r am R a n d e des Geschehens steht —. Die D r u s e n , die eigentlichen Libanesen u n t e r den M u h a m m e d a n e r n im Libanon, zögern in i h r e r Z u s t i m m u n g zu den politischen Plänen des arabischen N a t i o nalismus. Doch sympathisiert der g r ö ß t e Teil u n t e r ihnen, insbesondere die Gefolgschaft J u m b l a t s — wie die F r o n t e n b i l d u n g w ä h r e n d der letzt e n Krise gezeigt h a t —, eher m i t den Ideen des arabischen als m i t denen eines „partikularistischen", libanesischen Nationalismus 3 6 2 . Auch sie k ö n nen sich der Faszination, die v o n der Vorstellung eines arabischen N a t i o nalstaates u n d insbesondere v o n der Person Nassers ausgeht, k a u m e n t ziehen. Inwieweit die libanesischen M u h a m m e d a n e r , gleich welcher K o n f e s sion, ihr gefühlsmäßiges „attachement", ihr Bewußtsein, einfach dazu zu gehören, ihren vor allem wirtschaftlichen Interessen mit Erfolg unterz u o r d n e n , wie weit sie es „im Z a u m zu h a l t e n " wissen, sei hier nicht e r ö r t e r t . In diesem Z u s a m m e n h a n g genügt es festzustellen, daß der überwiegende Teil der m u h a m m e d a n i s c h e n B e v ö l k e r u n g des L i b a n o n — u n t e r Außerachtlassung einer rein verstandesmäßigen Interessenabwägung — der Idee des arabischen N a t i o n a l i s m u s v e r b u n d e n ist, d a ß die arabischen Welt vor und hat eine Gleichartigkeit in der Denkfom und der Lebensweise der Araber geschaffen. Hier möchte ich noch einmal unterstreichen, daß der arabische Nationalismus n i c h t g ä n z l i c h aus dem Islam herstammt . . ." (Veröffentlichungen der Liga der Arabischen Staaten, Kairo, Nr. 2, 3. Jg., Febr. 1960, S. 12/13). Vgl. hierzu audi den interessanten Aufsatz von Sylbia G. Haim „Islam and the Theory of Arab Nationalism", a. a. O., S. 280 ff., der von der These der Unvereinbarkeit beider Größen ausgeht. 3«2 Vgl. S. 148 ff.

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Muslims im Libanon zuerst und spontan als Araber und dann erst — vielleicht audi — als Libanesen denken und fühlen. Die dagegen bei allen christlichen Gemeinschaften — mit wenigen, individuellen Ausnahmen — bestehende Aversion gegen alle panarabischen Pläne und Tendenzen ist ebenfalls durchaus verständlich. Zwar sind sich die meisten libanesischen Christen, auch die Maroniten, darüber im klaren, daß sie wie ihre muhammedanischen Mitbürger „Araber" sind, und sehr viele von ihnen sind stolz auf ihr Arabertum. Doch geben sie sich keinen Illusionen darüber hin, daß ihre Stellung in einem arabischen Nationalstaat, zum jetzigen Zeitpunkt verwirklicht, nicht sehr viel besser wäre als die im osmanischen Reich; denn sie wissen sehr wohl, daß die Grundeinstellung der meisten muhammedanischen Araber sich nur wenig geändert hat. Daß dies von den Christen völlig realistisch gesehen wird, sei nur durch folgenden Passus des schon zitierten Aufsatzes von Z. Ansari 363 belegt, in dem dieser, gestützt auf umfangreiches Material zu dieser Frage, folgendes ausführt: ". . . the orthodox Muslims have not yet fully and genuinely conciliated themselves to the idea of developing a common nationality with non-Muslims. There could be little doubt that the orthodox Muslims are disposed to grant their non-Muslim compatriots more or less equal statutory rights. Yet the idea that those non-Muslims who share with them their fatherland are also genuinely a part of their ummah, that they are an integral part of their cultural society and share their aspirations has not yet become a part of the Islamic attitude. Orthodox Muslims do not seem yet to have any deep, genuine sense of belonging to any other ummah except the Muslim ummah. And if they do have any sense of belonging to the Egyptian nation and to the Arab nationality, it is mainly because these nationalities are integral parts of the Muslim ummah itself. True, the non-Muslims of Egypt are assured of being treated justly and generously in the Islamic state. This is, however, a different matter altogether. One could treat even whom one does not consider one's "own" with justice and generosity. As for considering non-Muslims an integral part of the community, regarding them as part of themselves, in the manner the secular nationalist intellectuals claim to do, these are altogether different matters and are still foreign to the way of thinking and emotional predilections of orthodox Muslims. That the non-Muslims are not genuinely considered a part of the ummah is clear from the tones in which noted Islamic thinkers of Egypt write about their non-Muslim compatriots. This attitude is well illustrated by the following statement of al-Banna': The Ikhwan classify people into two categories. One of them consists of those who believe in the religion of Allah, in the Book of Allah, in the Prophet and what the Prophet has preached. With 363 a. a. O., S. 26 f. In diesen Zusammenhang gehört auch die Meldung der F A Z vom 1 1 . 4 . 1 9 6 0 , die V.A.R. wolle „Islamische Büros" in verschiedenen westlichen Ländern einrichten.

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these people we are attached by means of the most sacred tie, the tie of belief, which is much more sacred for us than the geographical tie or the tie of blood. These people (i. e. Muslims) are our kith and kin and we are their kith and kin. We shall defend them, to whichsoever country or race they might belong. As for those with whom we are not attached by this tie (of belief.) we shall remain in peace with them as long as they are peaceful towards us; we shall remain their wellwishers as long as they desist from committing any aggression against us. We believe that the tie between us and them is that of da' wah (call towards Islam). It is our duty to invite them towards our creed, as it is a blessing for all mankind. The line of demarcation between believers and nonbelievers that was drawn many centuries ago by Islam is still intact and consequently the development of a homogeneous secular nationality, which is the aim of the nationalists does not fit into the framework of the contemporary Islamic socio-political thought" 3 6 4 . Die Christen des Libanon haben deshalb angesichts dieser praktisch seit Jahrhunderten unveränderten Haltung der muhammedanischen Araber, deren Aufgabe entgegen anfänglichen Erwartungen kaum abzusehen ist, den sich von allen anderen Partikularismen der arabischen Welt deutlich unterscheidenden libanesischen Nationalismus — der nicht, wie etwa der ägyptische oder jordanische Nationalismus, als eine Art Anhänglichkeit für das Land der Geburt, als eine Art Lokal-Patriotismus eine Vorstufe zu dem alle Araber umfassenden arabischen Nationalbewußtsein, sondern ein von diesem völlig unabhängiges, „gleichberechtigtes", endgültig auf den libanesischen R a u m beschränktes Gefühl verkörpert — gegenübergestellt, dem sie mit ähnlicher Intensität anhängen wie ihre muhammedanischen Mitbürger dem arabischen Nationalismus. b) Der libanesische Nationalismus Ziel des libanesischen Nationalismus ist die Begründung einer sich in ihrer Gesamtheit von der umliegenden arabischen Welt deutlich unterscheidenden „libanesischen Nation", die über die bisher bestehenden kommunitären Unterscheidungen hinweg alle Libanesen zu einer festgefügten Gemeinschaft werden läßt, deren Vaterland der Libanon und deren erstes, selbstverständliches Interesse die Erhaltung und Verteidi•164 \j(r;e jgjjj.