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German Pages 79 [84] Year 1955
K L E I N E T E X T E FÜR V O R L E S U N G E N U N D Ü B U N G E N B E G R Ü N D E T VON HANS LIETZMANN HERAUSGEGEBEN VON KURT ALAND I76
DIE KIRCHE BERICHT D E R T H E O L O G I S C H E N K O M M I S S I O N FÜR G L A U B E N U N D
KIRCHENVERFASSUNG
V E R Ö F F E N T L I C H T IM A U F T R A G E D E S
AUSSCHUSSES
FÜR G L A U B E N UND K I R C H E N V E R F A S S U N G ÖKUMENISCHEN
VERLAG
WALTER
RAT DER
IM
KIRCHEN
D E G R U Y T E R & CO.
BERLIN
1955
Archiv-Nr. 33 32 55/176 Satz: Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 D r u c k : Thormann & Goetsch, Berlin SW 61
Vorwort Dieser Bericht ist das Werk der im Jahre 1938 von dem Fortsetzungsausschuß für „Glauben und Kirchenverfassung", dem heutigen Ausschuß für Glauben und Kirchenverfassung im Ökumenischen Rat der Kirchen, eingesetzten theologischen Kommission. Als Aufgabe wurde uns die Frage nach der Kirche zugewiesen, und unser Bericht wird veröffentlicht, um die Diskussion dieses Gegenstandes auf der Weltkonferenz in Lund (1952) vorzubereiten. Das Material, auf das er sich stützt, wird sobald als möglich in einem umfangreichen Band von Einzeldarstellungen zugänglich gemacht werden, in denen gezeigt wird, wie man in den verschiedenen Kirchen der heutigen Christenheit über das Wesen der Kirche denkt. Die unermüdliche Arbeit des amerikanischen theologischen Komitees unter dem Vorsitz von Dr. G. W. Richards gipfelte in der Veröffentlichung des Bandes T h e Nature of the Church (Chicago 1945). Dieser enthielt elf Darstellungen von Einzelkirchen und einen umfassenden Aufsatz von Dr. Clarence T. Craig mit einem vom nordamerikanischen Gesichtspunkt geschriebenen Überblick über die hauptsächlichsten Bereiche der Übereinstimmung und die voneinander abweichenden Auffassungen von der Kirche, wie sie in von dem Komitee in vier Jahren niedergeschriebenen und diskutierten Arbeiten zutage getreten waren. Dr. Craigs Aufsatz und jene zwölf einzelkirchlichen Darstellungen werden in unserem großen Studienband neu erscheinen. Vierzehn auf dieser Seite des Atlantik für jenen Band geschriebene Einzeldarstellungen vervollständigen unsere Liste autoritativer Dokumente, und dies ganze Material lag uns bei der Abfassung unseres Berichtes vor. Die beiden Hauptsitzungen der Kommission fanden in Cambridge im Wesley House statt, die erste im Juli 1949 und die zweite, neuntägige Sitzung im August 1950. Man hat oft, und zwar gewöhnlich von Seiten solcher, die kaum Diskussionen im Rahmen von 1*
„Glauben und Kirchenverfassung" erlebt hatten, die Sorge zum Ausdruck gebracht, solche Versammlungen hätten die Tendenz, „Schwierigkeiten unter der Hülle einer Formel zu verstecken". Ich glaube, kein verständiger Mensch wird diesen Vorwurf gegen das erheben, was nun folgt. Es ist unser ständiges Bestreben gewesen, alle Schwierigkeiten mit der äußersten Ehrlichkeit und Liebe ins Auge zu fassen, ohne jedoch die weitgehende Übereinstimmung zu verkleinern, die sich in den langen Jahren der Gespräche über Glaube und Kirchenverfassung ergeben hat. Wir haben gewisse Fragen aufgezeigt, die das Studium lohnen und die in Zukunft zu weiteren Übereinstimmungen führen können, sei es auf der Konferenz in Lund oder später. Mein herzlicher Dank gilt zunächst den Mitgliedern des amerikanischen theologischen Komitees, denen ich bei einem überaus denkwürdigen Gespräch am 9. Oktober 1947 in New York begegnen durfte, und im besonderen Dr. G. W. Richards. Unter den Teilnehmern der zwei Hauptkonferenzen schulde ich besonderen Dank Herrn Dekan Clarence T. Craig, ohne dessen nie versagende Unterstützung und unaufhörlichen Einsatz dieser Bericht nicht zustande gekommen wäre, Professor Skydsgaard von der Universität Kopenhagen als dem stellvertretenden Vorsitzenden unserer Theologenkommission, sowie Canonicus Kenneth Riehes als unserem Sekretär, und dem Generalsekretär des ganzen Ausschusses für Glauben und Kirchenverfassung, Pastor Oliver S. Tomkins. Eine besondere Dankesschuld gehört auch Canonicus Leonard Hodgson und Canonicus A. Michael Ramsay, Regius-Professoren in Oxford und Cambridge. Wir haben das unermeßliche Lehrproblem nicht gelöst, vor das wir gestellt waren. Aber ich glaube, die Teilnehmer unserer Konferenzen bewiesen in Geist und Gemüt die Haltung, aus der heraus einzig unsere Einheit in Christus neuen, sichtbaren Ausdruck finden kann. Redliches Denken, Geduld miteinander und Achtung vor den Überzeugungen anderer, und der Geist der Buße, dies alles war sichtlich da, wenn wir im Hörsaal miteinander redeten und in der Kapelle beteten. Wesley House Cambridge
R. N e w t o n F l e w
Die Absicht des Berichts Als diese Kommission 1938 eingesetzt wurde, plante sie drei Bände theologischer Studien über „Das Wesen der Kirche". Der erste Band sollte sich mit der Lehre der Schrift, der zweite mit der Geschichte des Kirchenverständnisses und der dritte mit den heute vertretenen Anschauungen beschäftigen. Auf diese Weise wurde der Versuch gemacht, in diesen Büchern die mannigfaltigen Überzeugungen im Blick auf das Wesen der Kirche darzustellen, wie sie für die verschiedenen Teile der Christenheit einst und heute kennzeichnend waren und sind. Man sollte deshalb erwarten, daß in diesem Bericht an Stelle der Analyse die Synthese gesucht würde. Das ist in der Tat unser allgemeines Ziel; aber vielleicht ist „Synthese" nicht das richtige Wort, wenn wir Theologen von der Wiedergewinnung der Einheit in der Lehre sprechen. „Versöhnung" ist vielleicht der bessere Ausdruck für das, was wir anstreben. Denn es ist ja nicht so, als ob Christen die auseinandergebrochenen Teile der Wahrheit in ein Ganzes zusammenfügen könnten; aber Gott kann unsere Irrtümer ans Licht und uns dazu bringen, daß wir das als Einheit sehen, was wir gegenwärtig nur in Bruchstücken zu sehen vermögen, wie sie das Ergebnis von Jahrhunderten der Spaltung darstellen. Der Weg, auf dem wir die Wahrheit Gottes erfassen werden, ist nicht von unserer Unterwerfung unter das Gericht Gottes zu trennen. Daraus folgt, daß die theologische Aufgabe des Suchens nach Lehreinheit nicht völlig von der Art und Weise geschieden werden kann, wie die christlichen Kirchen selbst in der Art, wie sie einander begegnen, dem Willen Gottes nachkommen. Das Erfassen der Wahrheit wird uns nur im Tun dieses Willens zuteil. So muß die theologische Aufgabe in einem umfassenden Zusammenhang gesehen werden; und wenn auch das Ziel der Verfasser dieses Berichts ein streng
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theologisches bleibt, so haben sie doch eine Anzahl von Faktoren nicht außer acht gelassen, die in der Christenheit, ohne im strengen Sinne theologischer Natur zu sein, für die Gestalt der Lehrunterschiede und die Arbeit des lehrmäßigen Ausgleichs Gewicht haben. In unserem Überblick über die Anschauungen der wichtigsten Kirchen haben wir angemerkt, daß viele Überzeugungen im Blick auf die Lehre von der Kirche manchen verschiedenen Kirchen gemeinsam sind, und daß innerhalb dieser gemeinsamen Überzeugungen dennoch gewisse hartnäckige Gegensätze bestehen bleiben. Angesichts dieses Problems sind wir in diesem Bericht daran gegangen, es auf folgende Weise zu behandeln. Wir bringen zunächst (Kap. I) eine Art Zusammenfassung der hauptsächlichsten Übereinstimmungen und Gegensätze und versuchen dabei, zwischen solchen Gegensätzen zu unterscheiden, die — solange sie ungelöst bleiben — in ihrer Wirkung auf die Kirchen unvermeidlich zur Trennung führen, und jenen, die sich mit kirchlicher Einheit zu vertragen scheinen. Dann gehen wir (Kap. II) dazu über, das zu erwägen, was hinter dem Unterschied der christlichen Lehrtraditionen in ihren Glaubensanschauungen von der Kirche steht. Dahinter steht unter anderem der allgemein bruchstückhafte Charakter der christlichen Tradition, die das Erbe jeder christlichen Gemeinschaft ist. Dazu kommen theologische Wurzeln, die tiefer liegen als die Lehre von der Kirche selbst, denn unterhalb der bekannten Unterschiede dieser Lehre liegen zuweilen verschiedene Auffassungen von der Art des Handelns Gottes in der Welt der Geschichte, der Menschen und der Dinge. Hierhin gehören auch die vielen sozialen, politischen und kulturellen Faktoren, die auf die Spaltungen unter Christen und auf die Weise, wie die religiöse Wahrheit erfaßt und zum Ausdruck gebracht wurde, von Einfluß gewesen sind. Kurz, dieser Hintergrund ist eine Vielgestalt von Elementen, deren religiöse und theologische Bedeutung oder Bedeutungslosigkeit sehr verschieden groß ist; und je mehr dieser Hintergrund herausgearbeitet und zum Verständnis gebracht werden kann, um so eher mag es möglich werden, Vorurteile, die beseitigt, und Mißverständnisse, die erklärt werden können, ebensowohl herauszustellen wie ernsthafte theologische Gegensätze, die untersucht werden müssen.
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Von der Analyse der Unterschiede und ihrer Hintergründe gehen wir weiter (Kap. III) zur Betrachtung einiger neuer und erregender Charakteristika unserer Zeit, in denen uns die Stimme Gottes anspricht. Da ist der missionarische Siegeszug der Kirche in den letzten hundertfünfzig Jahren; daraus hat sich ein neues Interesse an der Lehre von der Kirche unter dem Gesichtspunkt der Mission und eine neue Ahnung von dem Gottesgericht über Spaltungen ergeben, die dem Evangelium im Wege stehen. Da ist weiter der scharfe Konflikt zwischen der Kirche und einem nachchristlichen Säkularismus, der in seinem Einfluß geradezu dämonisch ist. Im besonderen bietet hier der Marxismus ein Ideal ohne Gott an, eine heidnische Parodie der biblischen Ideen der Kirche und der messianischen Zeit, und zwingt die Kirche, wirklich das zu sein, was hier nur als Parodie auftritt. Diese beiden Tatsachen unserer Zeit rufen laut nach klarer Bezeugung der Lehre von der Kirche, und wie in der apostolischen Zeit wird der Theologe inmitten einer Krisis als am „Tage des Herrn" seine denkerische Arbeit tun und seine Erkenntnisse gewinnen. Wir gehen dann (Kap. IV) zu den Tendenzen auf dem streng theologischen Felde über, die auf einen Ausgleich hinzuweisen scheinen. Insbesondere öffnet das Wiedererwachen einer biblischen Theologie, das sich (natürlich in mannigfaltiger Gestalt) in vielen verschiedenen Teilen der heutigen Christenheit vollzieht, den Weg zur Verständigung. Die Theologen haben bei diesem erneuerten Studium der Bibel Perspektiven der Wahrheit entdeckt, die sie mehr und mehr zu vergessen gelernt hatten; und die Theologie der Schrift hat uns sichtlich in einer ganzen Anzahl von Fragen hinter die Dinge schauen und uns erkennen lassen, daß einige vielerörterte Antithesen der christlichen Kontroverse zum Teil vielleicht einfach irrig sind. So kann es sein, daß einige der toten Punkte des theologischen Dissensus auf eine Lösung warten, und zwar nicht dadurch, daß auf jeder Seite Uberzeugungen aufgegeben werden oder sich erweichen, sondern dadurch, daß das Problem in neuer Perspektive erscheint, wobei das Verhältnis des einen Dogmas zu einem anderen von Grund auf neu gesehen würde. Hier ergibt sich dann von selbst eine Erörterung (Kap. V) der theologischen Bedeutung der „ökumenischen Bewegung",
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unter deren Ägide unsere Kommission gearbeitet und diese Bände zusammengestellt hat. Der ökumenische Rat der Kirchen lehnt es ab, eine eigene „Ekklesiologie" zu vertreten. Er will das Gewissen keiner ihm angehörenden Kirche belasten, die eine eigene „Ekklesiologie" vertritt oder von der jeweils meist vertretenen „Ekklesiologie" abweicht. Daß jedoch die verschiedenen Kirchen einander bei der Arbeit des ökumenischen Rates mit gegenseitiger brüderlicher Verantwortung begegnen, das ist in sich eine Tatsache von theologischer Bedeutung, die nach theologischer Interpretation ruft. Jede Begegnung von Christ zu Christ muß etwas von der Bedeutung der Kirche an sich tragen, die Sein Leib ist. Mit den Worten des Heiligen Augustin: „Du hast einen Bruder gesehen — du sahst den Herrn". In dem abschließenden Kapitel dieses Berichts haben wir gewisse theologische Aufgaben angedeutet, die unsere Gegensätze klären und einige von ihnen beseitigen können. Die wichtigsten darunter sind nach unserem Urteil folgende: Wesen und Werk des Heiligen Geistes, die Beziehung zwischen dem ersten und zweiten Kommen Jesu Christi, die verschiedenartige Gestalt des Kerygma im Neuen Testament, das Problem Schrift und Tradition, das Wesen der Autorität in der Kirche, der Opfergedanke. Wir glauben, daß sich geduldige gemeinsame Arbeit von Theologen an diesen Fragen dem Ausschuß für Glauben und Kirchenverfassung, der uns beauftragte, bezahlt machen würde. Die Diskussion der letzten Jahre hat gezeigt, daß der Gegensatz „katholisch" und „protestantisch" mitten durch unsere Kirchen hindurchgeht. Gewisse als „katholisch" bezeichnete Elemente werden von einigen „protestantischen" Bekenntnissen als eigenes Gut in Anspruch genommen, während andere von gewissen „katholischen" Gruppen abgelehnt werden. Eine Konfession mag sich im Blick auf einen bestimmten umstrittenen Punkt als „katholisch" und im Blick auf einen anderen als „protestantisch" bezeichnen. Die Verwendung beider Begriffe müßte immer durch eine Anerkennung dieser Tatsachen bestimmt sein. Wenn ein Leser dieses Berichts in ihm die Formulierung einer synthetischen Lehre von der Kirche sucht, in der die Hauptdifferenzen verschwunden sind, dann wird er enttäuscht
Die Absicht des Berichts
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werden. Die Zeit dafür ist noch nicht gekommen, und der Wege dahin gibt es mehr, als eine Theologenkommission gehen kann. N o n u n o i t i n e r e p o t e s t p e r v e n i r e ad tarn grande secretum. Nichtsdestoweniger wagen es die Verfasser dieses Berichts, ihn den Kirchen als den Versuch einer Interpretation des Dienstes darzubieten, den die Theologie gegenwärtig für die Lösung der Aufgabe der Einheit in der Wahrheit zu leisten vermag. Im Namen der theologischen Kommission für die Frage der Kirche: R. N e w t o n F l e w , Vorsitzender
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Das Wesen der Kirche: Übereinstimmungen und Gegensätze In einem der von dem Ausschuß für die Frage der Kirche erarbeiteten Sammelbände wird über die Anschauungen vom Wesen der Kirche berichtet, wie sie von der römischen, der orthodoxen Kirche, der anglikanischen Kirchengemeinschaft, den lutherischen Kirchen, den Reformierten, den Baptisten, den Kongregationalisten, den Quäkern, den Methodisten, den Kirchen Christi oder den Jüngern, den Alt-Katholiken und der Kirche von Südindien vertreten werden. Es ist klar, daß manche dieser Überzeugungen die gleichen oder doch sehr ähnlich sind, und auch, daß es einige ernste Unterschiede gibt. Es ist nötig, sowohl die Übereinstimmungen wie die Unerschiede zu analysieren und einen Versuch zur Herausstellung derer zu machen, die die wichtigsten zu sein scheinen. Jede Kirche hält dafür, daß die Kirche kein menschliches Machwerk ist, sondern Gottes Gabe zur Rettung der Welt, daß die Heilstat Gottes in Christus sie ins Leben rief, daß sie durch die Gegenwart und Kraft des Heiligen Geistes fort und fort in der Geschichte weiterlebt. Jede Kirche glaubt ebenso, daß die Kirche dazu berufen ist, Gott in Seiner Heiligkeit anbetend zu dienen und das Evangelium aller Kreatur zu verkündigen, und daß sie von Gott mit den mannigfachen Gaben des Geistes zur Erbauung des Leibes Christi ausgestattet wurde. Und jede Kirche glaubt, daß die Kirche aus Sündern besteht, denen vergeben wurde, und doch im Glauben schon an dem ewigen Leben des Reiches Gottes Anteil hat. Diese Übereinstimmungen umfassen den Ursprung der Kirche, das Geheimnis des gegenwärtigen Daseins der Kirche und ihr Ziel. Sie schreiben der Kirche sowohl ein göttliches wie ein menschliches Element zu, sowohl einen gegenwärtigen Besitz wie eine Vorwegnahme des kommenden Äons. Sie schließen
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ein Bestehen auf der Heiligkeit der Kirche ein, ohne doch diese mit einem bloß menschlichen Moralismus gleichzusetzen; ein Bestehen auf der Sichtbarkeit der Kirche, ohne die Spannung zwischen der Kirche zu verschleiern, wie sie jetzt ist, und der Kirche, wie sie nach ihrer Bestimmung werden soll. Diese Übereinstimmungen sind weit mehr als der bloß zufällige gemeinsame Boden verschiedenartiger Gedankensysteme. Sie sprechen von etwas einzigartig Christlichem in der zerbrechlichen Einheit seiner Idee, — etwas Göttlichem und Menschlichem, Geschichtlichem und Übergeschichtlichem und dem Menschengeschlechte Dienendem, von etwas, das diesen paradoxen Komplex von Eigenschaften besitzt, weil sie zum Evangelium selbst gehören*). Ferner bestehen diese Übereinstimmungen im Zusammenhang mit einer ihnen zugrunde liegenden Einheit des Lebens in Christus. Daß Christen diese grundlegende Einheit so oft nicht begreifen, hat ihr Vorhandensein zu keiner Zeit gehindert. Christen verschiedener Kirchen benutzen die gleichen Gebete und die gleiche religiöse Sprache und zeigen mit Gottes Gnade die gleichen Früchte des Heiligen Geistes. Und es ist ihnen möglich, wenn sie wollen, ihre Unterschiede in dem Wissen darum zu erörtern, daß sie in Christus Brüder sind. Die bedeutungsvollsten Unterschiede betreffen die in und v o n den Kirchen vertretenen Anschauungen von den Grenzen der Kirche und von der Art und Weise, sie zu definieren, von der Einheit der Kirche, den Sakramenten und ihrer Beziehung zur kirchlichen Zugehörigkeit, von dem Wesen der Autorität in der Kirche, dem Verhältnis der Kirche zum Reiche Gottes und der Frage des Priestertums. i. Die Grenzen der Kirche und die Art und Weise ihrer Definition Während alle Kirchen darin übereinstimmen, daß die Kirche nicht von Menschen, sondern von Gott geschaffen wurde und durch die Gegenwart Christi und des Heiligen *) Für frühere Erklärungen über christliche Einheit, wie sie innerhalb der ökumenischen Bewegung erarbeitet wurden, verweisen wir insbesondere auf den Bericht von Lausanne (S. 531), den Bericht von Edinburgh (S. 364), die Botschaft von Amsterdam und den Bericht seiner I. Sektion.
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Geistes erhalten wird, bestehen Anschauungsunterschiede in der Frage der besonderen Mittel, an denen das Dasein der Kirche erkannt, und mit deren Hilfe sie definiert wird. Römisch-katholische Lehre ist, daß die eine heilige katholische Kirche mit der römisch-katholischen Kirche identisch ist, und daß die übrigen christlichen Gemeinschaften außerhalb der sichtbaren Kirche stehen. Östlich-orthodoxe Lehre ist, daß die eine, heilige und apostolische Kirche mit der Heiligen Orthodoxen Kirche identisch ist; sie hat gleichwohl ein Leben, das eher mystisch als institutionell ist, und wer ihren Glauben, ihre Lehre und ihre Traditionen in ihrer Gesamtheit annimmt, der gehört zu ihr, wo immer er stehen mag. Die Alt-Katholische Kirche hält dafür, daß die Kirche auf Erden alle umfaßt, die den apostolischen Glauben, die Sakramente und die Amtsweihe teilen. In der Anglikanischen Kirchengemeinschaft gibt es viele, die inhaltlich den gleichen Glauben wie die AltKatholiken vertreten; es gibt aber auch viele, die dafür halten, daß alle auf den Namen der Heiligen Dreieinigkeit Getauften Glieder der Kirche sind, während sie den Kirchen, die kein normatives Bekenntnis, keine Sakramente und keine apostolische Sukzession besitzen, den Charakter von „Kirchen" absprechen; und viele gibt es, die einen nicht weniger weiten Kirchenbegriff vertreten wie die lutherischen und reformierten Kirchen. Für die Lutheraner ist die sichtbare Kirche da, wo immer sich eine Gemeinde der Gläubigen findet, in der das Wort Gottes recht gepredigt und die Sakramente recht verwaltet werden. Bei den Reformierten wird die gleiche Auffassung vertreten, nur tritt das Vorhandensein einer kirchlichen Zucht als weiteres Kriterium hinzu. Die übrigen protestantischen Gemeinschaften schließen sich dieser Stellung an, aber die Deutung des „recht" bei der Verwaltung der Sakramente geschieht mit verschiedener Akzentuierung, und man würde vor dem Gedanken zurückschrecken, einer Gemeinschaft aus dogmatischen Gründen das Kirchesein abzusprechen, in der Jesus als Herr und Heiland anerkannt wird. Die Jünger Christi und andere sehen in dieser Anerkennung sogar das allein wesentliche Kriterium für Wesen und Grenzen der Kirche.
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2. Die Kontinuität der Kirche Ohne eine umfassende Definition der Art und Weise zu versuchen, wie die Kirchen verschiedener Tradition diese Kontinuität verstehen, meinen wir, jede betone irgendein Element bis zu dem Punkte, wo dieses konstitutiv wird. In der römisch-katholischen Kirche hält man den ununterbrochenen Primat der Nachfolger des Petrus auf dem römischen Stuhl für wesentlich im Blick auf die Kontinuität der katholischen Kirche auf Erden. Bei den Östlich-Orthodoxen, den Alt-Katholiken und in vielen Teilen der anglikanischen Gemeinschaft gilt die Fortdauer des Bischofsamtes in der apostolischen Sukzession als wesentlich für die Kontinuität der Kirche. Nach lutherischer und reformierter Tradition indes hält man dafür, daß die Kontinuität in dem Fortbestehen von Gemeinden der Gläubigen liegt, bei denen das Wort gepredigt wird und die Sakramente verwaltet werden. Der Lutheraner betont die Identität des Amtes mit dem Amt der Frühkirche kraft der Kontinuität des von ihm gelehrten Glaubens. Der Reformierte wertet auch die Kontinuität der presbyterialen Ordnung, ohne sie freilich als zum eigentlichen Wesen der Kirche gehörig zu behandeln. Die methodistische Erklärung stellt fest, daß die geschichtliche Kontinuität der Kirche für das Christentum lebensnotwendig ist, und gibt eine Einzelanalyse dieser Idee, wobei sich zu dem Predigen des Wortes Gottes und der Verwaltung der Sakramente die wirkliche Sukzession der Gläubigen hinzugesellt. Einigen der anderen protestantischen Gemeinschaften erscheint die Idee der Kontinuität selbst nicht als primär, da sie weniger wichtig ist als die Übereinstimmung mit der Lehre und Praxis des Neuen Testaments oder das Reagieren auf die Führung des Heiligen Geistes. Die Einheit der Kirche In diesem Zusammenhang steht eine wichtige Sache, über die unter den Theologen aller Kirchen Übereinstimmung herrscht. Im Sprachgebrauch des Neuen Testaments wird das Wort e c c l e s i a für die Kirche in ihrer Ganzheit, aber auch von der lokalen Gemeinde in einem bestimmten Bezirk, einer Stadt oder einem Hause verwandt. Der moderne Sprachgebrauch, wonach von den Denominationen als von den
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Kirchen gesprochen wird, läßt sich theologisch nicht rechtfertigen und stellt, wenn er notwendig ist, eine üble Notwendigkeit dar, die sich aus der Anomalie der Existenz einer gespaltenen Kirche ergibt. Während indes die Verwerfung dieses Irrtums das weitverbreitete Verlangen von Theologen bezeugt, auf die Grundlagen biblischen Sprachgebrauchs und biblischer Lehre zurückzugreifen, bleiben doch gewisse gewichtige Unterschiede bestehen. Für die römisch-katholische Kirche, die orthodoxe, die alt-katholische und viele Anglikaner schließt die Einheit der sichtbaren Kirche eine sichtbare Ordnung als unentbehrliches Stück der Kirche selbst ein; der Bruch der sichtbaren Ordnung wie z. B. im Aufgeben der apostolischen Nachfolge bedeutet in sich schon etwas Schismaartiges, und die Heilung eines solchen Bruches muß notwendig die Wiederherstellung voller Gemeinschaft vorangehen. Für die Anhänger der reformatorischen Haupttradition wird die Einheit der sichtbaren Kirche wesensgemäß konstituiert durch die gläubige Gemeinde und die Gegenwart von Wort und Sakramenten in ihr, und ein Bruch der Ordnung hat nicht notwendig den Charakter des Schismas. Für andere protestantische Gemeinschaften ist die Einheit der Kirche die Gemeinschaft derer in Glauben und Leben, die Jesus Christus als Herrn und Heiland anerkennen. Aus dem Gesagten folgt, daß in der Frage nach dem Ziel der Bewegung für -die Wiedervereinigung der Kirchen sehr verschiedene Ideen vertreten werden. Für den römischen Katholiken bedeutet sie die Hinzuführung aller Christen zur römisch-katholischen Kirche. Für die Orthodoxen bedeutet sie eine Einheit, die in der orthodoxen Kirche als der einen wahren Kirche ihren Mittelpunkt hat. Für den Alt-Katholiken bedeutet sie den gemeinsamen Besitz des apostolischen Glaubens, der kirchlichen Ordnung und der Sakramente. Für die Anglikaner bedeutet sie eine auf den gemeinsamen Besitz der Schrift, der Bekenntnisse, der zwei Sakramente des Evangeliums und den geschichtlichen Episkopat als ein Organ der Einheit und Kontinuität gegründete Einheit. Für die Lutheraner und Reformierten, zwischen denen im Blick auf Sakramente und Kirchenverfassung gewisse Unterschiede bestehen, bedeutet Einheit eine Bruderschaft der Kirchen, die sich dem gleichen apostolischen Kerygma verpflichtet wissen, das
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gleiche Evangelium von Gottes bedingungsloser Gnade predigen, mit ordinierten Amtsträgern, die die Sakramente gemäß der Einsetzung unseres Herrn Jesus Christus verwalten. Für andere Protestanten bedeutet sie die volle Interkommunion und Zusammenarbeit unter allen Kirchen, deren Glieder Jesus Christus als Herrn bekennen, ohne auf einer Übereinstimmung in der Frage des Amtes, des kirchlichen Aufbaus oder der Verwendung schriftlich festgelegter Bekenntnisse zu bestehen. 4. Zahl und Wesen der Sakramente und ihre Beziehung %ur kirchlichen Mitgliedschaft Für die römische Kirche ist das Vorhandensein von sieben, eo n o m i n e definierten Sakramenten wesentliches Kennzeichen der Kirche. Für die alt-katholische Kirche gehört die Annahme von sieben Sakramenten zum vollen Leben der Kirche. Die orthodoxe Kirche nimmt gleichfalls sieben Sakramente an und lehrt auch, daß das ganze Verhältnis der Kirche zu ihren Gliedern sakramentaler Art ist. Protestanten der lutherischen und reformierten Tradition halten an den zwei „Herrensakramenten" der Taufe und des Abendmahls fest, obwohl die lutherischen Reformatoren geneigt waren, auch die Absolution als sakramentalen Akt anzusehen. Die anglikanische Kirchengemeinschaft hält an der Definition der zwei Sakramente als vom Herrn eingesetzt, als der „Sakramente des Evangeliums" und als zum Heil allgemein notwendig fest, aber ihre Praxis schließt den Gebrauch anderer Riten sakramentalen Charakters ein, unter denen Konfirmation und Absolution eine hervorragende Stelle einnehmen. Lutherische, reformierte und methodistische Kirchen halten dafür, daß die Taufe, sei es von Kindern oder von Erwachsenen, das Sakrament der Aufnahme in die Gliedschaft der Kirche ist. Im Falle der Kinder folgt ihr eine Unterweisung, deren Ziel die Teilnahme am Herrenmahl ist. Die Kongregationalisten halten zwar an der Kindertaufe iest, lassen aber nur die zu voller kirchlicher Mitgliedschaft zu, die zu ausreichender Reife und Verantwortung gekommen sind, um den Glauben an Jesus Christus als Heiland und Herrn zu bekennen. Die baptistischen Kirchen und die Jünger stehen zu der Überzeugung, daß die christliche Taufe nur das Ein-
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tauchen von Gläubigen ist. Aber in beiden Gruppen gibt es einige, die zur Mitgliedschaft auch nicht auf das Bekenntnis persönlichen Glaubens hin Getaufte zulassen, gewöhnlich bei der Übernahme aus anderen Kirchen. /. Einige Fragen im Blick auf die Autorität in der Kirche a) Schrift und T r a d i t i o n Das orthodoxe Denken findet in Schrift und Tradition die Spuren des gleichen Wesens und schreibt sie der gleichen Quelle zu — dem Heiligen Geist Gottes. Tradition ist das, worin uns die Schrift gegeben ist, und nur in ihrem Licht kann diese recht verstanden werden. Darum steht für den Orthodoxen ein falscher Gegensatz hinter der Frage: Welches ist das Verhältnis zwischen diesen beiden Pfeilern des rechten Glaubens? Die richtige Frage ist die nach dem Ort der Schrift innerhalb der Tradition. Auf diese Frage würde er die eindeutige Antwort geben, daß der Schrift innerhalb der Tradition der erste und einzigartig vornehmste Platz zukommt. Die Kirche Roms sieht in den Bischöfen die, denen von Christus pflichtgemäß Leitung und Autorität derart zugesprochen ist, daß ihr gemeinsames Handeln im Konzil die Tradition festlegt. Handelt der Papst als der Nachfolger des Heiligen Petrus, so hat er das Recht, feierliche Dekrete in Fragen, die die ganze Kirche angehen, zu verkündigen. Diesen Trägern der Tradition gesellt sich jedes getaufte Glied der Kirche zu, sofern es die beeinflußt, mit denen es in Berührung kommt, und vor allem die eigenen Kinder. Der römische Katholik würde erklären, das Evangelium sei die von Christus mit eigenem Munde kundgegebene Wahrheit und sittliche Ordnung; diese seien dann auf Seinen Befehl von den Aposteln aller Kreatur gepredigt worden; und „diese Wahrheit und sittliche Ordnung ist in der Schrift wie in der ungeschriebenen Tradition neben der Schrift enthalten. Diese ungeschriebenen Traditionen wurden entweder von den Aposteln gesammelt, wie sie aus dem Munde Christi kamen, oder sie wurden ihnen von dem Heiligen Geist diktiert und so wie ein Erbe weitergetragen" (Sessio IV des Konzils von Trient). Die Kirche von England hält dafür, daß nichts als heilsnotwendig gelehrt werden darf, was nicht in der Heiligen Schrift gefunden oder aus ihr bewiesen werden kann; aber
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viele ihrer Theologen betonen auch eine Berufung auf die Tradition der alten Kirche als autoritativ für die Auslegung der Schrift. Für die Alt-Katholiken bedeutet „Tradition" den Glauben der Kirche, wie er durch die Jahrhunderte hindurch gepredigt und im gesprochenen und geschriebenen Wort wie im gottesdienstlichen Leben der Kirche weitergetragen wurde. In dieserTradition kommt der Heiligen Schrift die hervorragendste und die autoritative Stelle zu, mit der alle andere Tradition nach dem Kanon des Heiligen Vinzenz übereinstimmen muß. Die protestantischen Kirchen wiederum sehen in der Tradition nur insofern einen Wert, als sie der Schrift unterworfen ist, und sie halten dafür, daß man den Schlüssel zum Verständnis der Schrift im Evangelium findet, das ihn enthält, und im Werk des Heiligen Geistes an den Gläubigen, die die Schrift lesen und gebrauchen. Den lutherischen und reformierten Kirchen ist die Tradition nur als Interpretation der Heiligen Schrift wichtig, und sie bleibt selbst dann der Schrift unterworfen, wenn sie sich als autoritativer und offizieller Maßstab in Gestalt eines Glaubensbekenntnisses darstellt. b) U n f e h l b a r k e i t Auch in der Frage der Unfehlbarkeit bestehen wichtige Unterschiede. Die orthodoxe Kirche glaubt, daß die Kirche unfehlbar ist. Auch die römisch-katholische Kirche nimmt die Unfehlbarkeit der Kirche an, sieht sie aber zusammengefaßt in der Unfehlbarkeit des Papstes, wenn er ex c a t h e d r a spricht. Die nichtrömischen Kirchen verwerfen diese Lehre gänzlich, und die Protestanten finden in jedem Verständnis der Idee der Unfehlbarkeit der Kirche eine Schwierigkeit. Alle würden sich zu dem Glauben bekennen, daß die Kirche nicht sterben kann. „Die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen." Die meisten würden betonen, da die Kirche der Leib Christi sei, der die Wahrheit ist, so könne in der Kirche die Wahrheit immer gefunden werden, obwohl die Sündigkeit und Blindheit ihrer Glieder es verhindern, daß ihre Formeln unfehlbaren Charakter tragen. Der Gegenstand ist ein solcher, bei dem die Gegensätze hartnäckiger Natur sind, denn sie hängen mit verschiedenen Anschauungen nicht nur vom Wesen der Kirche, sondern auch vom Wesen der Offenbarung zusammen. Jede Kirche indes glaubt, daß der verheißene Geist der Wahrheit in der Kirche gegenwärtig ist. Die Kirche
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6. Priestertum und Opfer Die römisch-katholische Kirche hält dafür, daß das Amt priesterlichen Charakter trägt, und bestimmt sein Wesen im Rituale der Priesterweihe, wo die Vollmacht übertragen wird, „das Opfer für Lebende und Tote darzubringen". In der orthodoxen Kirche empfängt der Priester bei seiner Ordination die Gabe des Heiligen Geistes für die Verwaltung der heiligen Sakramente der Kirche (unter Einschluß der Darbringung des eucharistischen Opfers), für die Predigt des Wortes Gottes, für die Verwirklichung und Erhaltung der Einheit des Glaubens und Lebens in der Gemeinde, und für den Hirtendienst an den Gläubigen. Die Alt-Katholiken halten dafür, daß im Sakrament der Ordination der Priester Menschen nach Hebr. 5,4 ein für allemal „von Gott berufen werden", „Christi Diener und Haushalter über Gottes Geheimnisse" (1. Kor. 4,1) zu sein. Das Wesen des Priestertums darf deshalb nicht bloß als eine besondere „Vollmacht zur Darbringung des Opfers" verstanden werden; es liegt vielmehr in dieser Berufung Gottes, die im sakramentalen Akt der Handauflegung von Seiten des Bischofs verwirklicht wird und aus dem Ordinierten einen Amtsträger macht, der in ausschließlicher und sachentsprechender Weise den Auftrag wie die Vollmacht hat, die Sakramente der Kirche in der Gemeinde der Gläubigen zu verwalten. Die Kirche von England bezeichnet die Presbyter als Priester. Manche Anglikaner halten dafür, daß das Wort „Priester" hier einfach das Äquivalent für „Presbyter" ist. Andere aber meinen, es bedeute hiereus oder sacerdos (der Ausdruck wird in der Schrift für unseren Herrn selbst gebraucht), und das Amt habe eine spezifisch priesterliche Verpflichtung und Funktion — die freilich im Zusammenhang mit dem einzigartigen Priestertum Christi und dem Priestertum der ganzen Kirche verstanden werden wollen. Die protestantischen Kirchen verwenden zumeist den Begriff „Priester" nicht mit Bezug auf das kirchliche Amt, und zwar aus dem Wunsche heraus, auf der einen Seite die Einzigartigkeit des Priestertums Christi und auf der anderen das Priestertum aller Gläubigen zu betonen. Zur Beseitigung von Mißverständnissen ist es von größter Bedeutung, daß sowohl die, die den priesterlichen Charakter
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des eucharistischen Dienstes bejahen, wie die, die ihn verneinen, sorgfältig erklären, was sie unter dem Gebrauch dieser Worte verstehen. Vertreter des Quäkertums haben an unseren ökumenischen Diskussionen teilgenommen und haben sie bereichert. Die folgende Erklärung stellt ihre Anschauung über die hier erörterten Fragen dar: „Die Gesellschaft der Freunde betrachtet sich als ein Teil der christlichen Kirche; sie betont jedoch im Blick auf die Gemeinschaft wie auf den Einzelnen den unmittelbaren Zugang zu Gott in Gottesdienst und Gebet und im Bewußtsein der ständigen Gegenwart und Führung Jesu Christi im Heiligen Geiste; darum hat sie über Wesen und Autorität der Kirche eine abweichende Anschauung, so auch über den Glauben, das Amt und die Gemeinschaft (communion)".
II.
Was hinter unseren Spaltungen steht Die Kirche ist wesenhaft eine, tatsächlich aber gespalten. „Um der Einheit willen wurde sie von dem Herrn begründet. Einheit und die Einigung von Menschen in Christus sind ihr Hauptziel und Zweck . . . nur in der Kirche ist die wahre Einigung von Menschen möglich — im Mysterium der erlösenden Liebe des Vaters, durch das Opfer des fleischgewordenen Sohnes, durch die neuschöpferische Kraft des Heiligen Geistes, im Bild und Gleichnis der ungeteilten Dreieinigkeit. Jedoch — die Christen sind gespalten" (Florowsky, The Doctrine of the Church and the Ecumenical Problem. Ecumenical Review II, 15 2). Wir können hinzufügen, daß ihre Spaltungen Religionskriege verursacht und sich gegenseitig verachtende gesellschaftliche Gruppen geschaffen haben, so den göttlichen Vorsatz der Schaffung einer Einheit unter den Menschen durch die Kirche an seiner Erfüllung hindernd. Wie können wir diese Tragödie verstehen? Welches ist der Hintergrund, auf dem die Spaltungen der Kirche in richtiger Perspektive gesehen werden können? 2*
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Mit „Spaltungen" meinen wir etwas Schlimmeres als „Unterschiede". Der Leib Christi wird von dem Heiligen Paulus als Einheit in der Mannigfaltigkeit dargestellt (i. Kor. 12). Unterschiede des Dienstes, besonderer Gaben und Gnaden, charakteristischer Akzente in Glauben und Praxis, das alles kann ohne Not in dem einen Leibe da sein und als Bereicherung des gemeinsamen Lebens der wahren Kirche von dem einen Geiste gefördert werden. Die Unterschiede, die zu Spaltungen werden, sind jene, die die Christen veranlassen, getrennte Gemeinschaften zu organisieren, die nicht mehr frei kommunizieren oder leicht zusammenarbeiten können. Einheit fordert keine mechanische Uniformität, aber sie fordert brüderliche Gemeinschaft. Das Schisma, der Bruch der Gemeinschaft, ist der Typ der Spaltung, den wir hauptsächlich verstehen und überwinden möchten. Das Schisma bedeutet nicht notwendig, daß die geteilten Gruppen es ablehnen, sich gegenseitig als Mitchristen anzuerkennen. Jenseits des Schismas liegt ein weiterer Grad der Spaltung, wenn die brüderliche Anerkennung zurückgezogen, wenn zuweilen Anklage auf Häresie erhoben wird, und offener Gegensatz an die Stelle christlicher Verbundenheit tritt. Treue gegenüber der Wahrheit, so wie Gott uns die Wahrheit sehen läßt, verlangt tragischerweise zuweilen das Abbrechen der Gemeinschaft. Als die ersten Judenchristen Jesus „als den Christus, den Sohn Gottes" annahmen, wurde ein Bruch der Gemeinschaft zwischen ihnen und ihren Mitjuden, die fortfuhren, das Messiastum Jesu abzulehnen, unvermeidlich. Als die christlichen Gnostiker eine Deutung des Evangeliums darboten, die es von der Geschichte zu lösen und zu einem heidnischen Mysterium mit einem mythischen Herrn zu machen drohten, wurde es für die Kirche notwendig, die Unterschiede zwischen dem wirklichen und diesem verstümmelten Evangelium festzustellen, und als die Unterschiede sich als unversöhnlich erwiesen, die Gemeinschaft abzubrechen. Nur ein völliger religiöser IndifFerentismus würde leugnen, daß derart unversöhnliche Gegensätze zuweilen sachlich notwendige Ursachen der Trennung sein können. Dies einmal zugegeben, so wird klar, daß einige später auftretende Unterschiede zwischen Christen, etwa die zwischen Nestorianern und Östlich-Orthodoxen, Protestanten und Römischen Katholiken, Unitariern und Trinitariern, tief genug waren, um eine Spaltung unver-
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meidlich zu machen. Ist es nicht ein Verderben für Menschen, wenn sie sich vereinigen, wo sie doch um der Wahrheit willen auseinandergehen sollten? Die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung hat sich in der Hauptsache und gründlich mit "tiefen, das Gewissen berührenden Anschauungsunterschieden beschäftigt, die Jahrhunderte lang große Gruppen von Christen ungeachtet ihrer Hingabe an den gleichen Herrn getrennt gehalten haben. Einige dieser Unterschiede erscheinen, wenn eine gewisse Zeit dahingegangen ist, in einem neuen Licht und werden einer beide Seiten befriedigenden Neufassung zugänglich. Andere erweisen sich bei erneuter Prüfung als Unterschiede des Akzents, die sich mit dem Zusammenleben in Einklang bringen lassen, ja um der vollen Feststellung der Wahrheit willen die Gemeinschaft fördern. Die Zahl der bei der Konferenz von Edinburg 1937 mitgeteilten, auf solche Weise gelösten langdauernden Konflikte war ermutigend. Die noch verbleibenden Unterschiede — besonders in der Frage des Amtes, der Sakramente und des Wesens der Kirche — sind durch sorgfältige Definition und geduldige Diskussion beträchtlich vermindert worden. Dennoch bleiben, wenn verständige Diskussion Punkt für Punkt ihr Bestes getan hat, Widerstände bestehen, die mit rationalen Mitteln unlösbar erscheinen. Es ist eine Versuchung — eine allzu große —, diese Widerstände der hartnäckigen Eigenwilligkeit und der hochmütigen Arroganz der anderen Partei zuzuschreiben; wenn wir die Geschichte alter Kontroversen lesen, so erweist sich die Methode, dem anderen schlechte Motive zuzuschreiben, als so offenbar unsachgemäß, daß wir uns hüten, der gleichen Versuchung zu erliegen. Wie müssen nun diese verbleibenden Widerstände verstanden werden? Der Bericht der I. Sektion der Amsterdamer Weltkonferenz entwickelte den wertvollen Gedanken, daß einige gegensätzliche Punkte, an sich geringfügig, tatsächlich Gegenstände von großem Gewicht sein können, weil abweichende Stellungnahme ein voneinander abweichendes Gesamtsystem bedeuten kann. Anschauungen von der Kirche unterscheiden sich nicht nur an speziellen Punkten, sondern lassen rivalisierende Systeme des Glaubens und der Praxis entstehen. Viele geschichtliche Beispiele bestätigen dies Urteil. Die Parteien des h o m o u s i o n und des h o m o i u s i o n nach dem Konzil von
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Nicaea waren nicht nur „durch einen Diphthong getrennt", sondern stellten rivalisierende Typen des Christentums dar, die sich als Systeme unterschieden. Das f i l i o q u e war nur ein Symptom, nicht die volle Ursache der Spaltung zwischen östlicher Orthodoxie und westlichem Christentum. Ihr ganzer Geist unterschied sich systematisch, an jedem Punkt. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen 1937 in Edinburgh vertretenen Kirchen beschränkten sich nicht auf die umstrittene Frage der Amtsweihen; sie durchzogen die ganze Edinburgher Diskussion über Glauben und Kirchenverfassung, bei einigen Punkten unsichtbar, bei anderen auf Fußnoten beschränkt, um schließlich zu offenem Auseinandergehen zu führen. Wie der Bericht von Edinburgh selbst anerkannte und in Amsterdam bestätigt wurde, stand hinter allen Einzelpunkten der Unterschiede, den großen wie kleinen, eine allgemeine Spannung gegensätzlicher Betrachtungsweisen. Systematische Unterschiede zwischen Christen sind zuweilen theologischen, zuweilen aber auch philosophischen Charakters. Philosophische Gegensätze verdienen auf der Liste der nichttheologischen Ursachen der Trennung zwischen Christen einen hervorragenden Platz. Praktisch ist es für jede Schule christlichen Denkens unmöglich, die philosophische Diskussion gänzlich zu vermeiden; missionarisches und apologetisches Interesse zwingen die Christen, ihre Botschaft in Begriffen auszurichten, die einen Bezug auf die vorwaltenden philosophischen Ideen jeder neuen Umwelt haben; aber es besteht immer die Gefahr, daß das Evangelium zu eng mit einer bestimmten Philosophie in eins gesetzt wird. Wenn das geschieht, so können die Christen sicher sein, daß sie in gewissem Umfang auseinandergehen; denn jede Philosophie ist an irgendeinem Punkt angreifbar und läßt schließlich ihre eigene Antithese entstehen. Die klarsten geschichtlichen Beispiele einer Beziehung zwischen christlicher Theologie und bestimmten Philosophien finden wir im neuplatonischen Einfluß auf einige der Kirchenväter, und dem aristotelischen Einfluß auf einige der mittelalterlichen Scholastiker; aber dieser Vorgang hat sich in der modernen Zeit fortgesetzt. Leibniz entdeckte miteinander konkurrierende philosophische Voraussetzungen hinter den Katholiken von Protestanten, Lutheraner von Calvinisten zu seiner Zeit trennenden Disputen. Im neunzehnten Jahrhundert wurde die liberale Theologie stark durch
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die idealistische Philosophie beeinflußt; im zwanzigsten Jahrhundert möchte die neu-orthodoxe Reaktion gegen den Liberalismus rein biblisch und theologisch sein, entgeht aber nicht leicht der Verflechtung mit den existentialistischen Philosophien, die in der öffentlichen Geltung dem Idealismus nachgefolgt sind. Der philosophische Faktor bei kirchlichen Auseinandersetzungen ist nicht theologisch, aber eng mit theologischer Lehre verbunden und rationaler Erörterung zugänglich. Weniger der Vernunft zugänglich sind gewisse psychologische Faktoren, die ganz tief in alle anderen Faktoren kirchlicher Kontroversen hineinspielen. Dr. C. H. Dodd hat in der Ecumenical Review (Herbst 1949, S. 52—56) einen sehr interessanten „Brief über uneingestandene Motive in der ökumenischen Diskussion" veröffentlicht. (Er war ursprünglich für den Ausschuß „Glauben und Kirchenverfassung" geschrieben.) Er notiert zunächst das „immer wiederkehrende Phänomen" eines plötzlichen Stellungswechsels, wenn ein Übereinkommen in Aussicht zu stehen scheint; dann deutet er an, dies könne deshalb geschehen, „weil wir alle vor den logischen Folgerungen zurückscheuen — und uns nach guten Gründen umsehen, warum wir unsere Folgerungen nicht zu Ende denken dürfen", dies unter dem verborgenen Einfluß „uneingestandener oder unbewußter Motive", die wir am liebsten nicht zugeben. Zwei Motive dieser Art sind nach seiner Überzeugung besonders allgemein wirksam: 1. Die i n n e r e B i n d u n g an die D e n o m i n a t i o n , die sich (selbst da, wo kein ausdrücklicher Anspruch auf Unfehlbarkeit erhoben wird) zuzugeben weigert, daß unsere Kirche je einen ernstlichen Irrtum begangen haben könnte; und die bei dem Gedanken in Unruhe gerät, unsere Kirche besitze kein „spezifisches Zeugnis", keine „tiefe, universale Wahrheit", die sie zwingt, für immer von anderen Kirchen gesondert zu bleiben. 2. S o z i a l e und p o l i t i s c h e T r a d i t i o n e n , die sich psychologisch mit unserem kirchlichen Treuegefühl verbinden, so daß ein wahrhaft ökumenisches Christentum uns wie etwas „wurzelloses und fremd gewordenes" erscheint im Vergleich zu den warmen Empfindungen, wie sie eine Kirche weckt, die sich einmal mit einer Tradition der Kavaliere oder der Rundköpfe, dem deutschen Nationalismus, der amerikanischen Lebensform oder irgendeiner anderen begrenzten Tradition eng verbunden wußte.
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Dr. C. H. Dodd bemerkt, es gebe außer den zwei angeführten noch viele „weniger achtunggebietende uneingestandene Motive" für das Hängen an unserer eigenen Stellung; aber sie eigneten sich besser für das „Sündenbekenntnis" als für die öffentliche Erörterung. Es könnte für unsere Diskussionen eine Hilfe sein, wenn wir sie gelegentlich unterbrächen, um unsere verworrenen Empfindungen vor Gott und uns selbst oder voreinander zu bekennen! Aber wir glauben, es gibt wenigstens einen guten, Achtung fordernden Grund für einige unserer weniger respektablen Motive: Wann immer Gottes Gnade einem Menschen wirkliche Befreiung gebracht hat, dann wird alles, was mit diesem großen Ereignis (wie zufällig auch immer) verbunden war, für diesen Menschen heilig und erscheint ihm als wesentlich. Wenn die alte Kirche umgebaut wird, dann erzählt Jenny ihrem Pastor, sie könne nun nicht mehr so andächtig sein, obwohl ihre neue Kirchenbank noch auf dem gleichen alten Platze steht, weil sie den Astknoten im Fußboden vermisse, auf dem sie während der Predigt immer den Blick richtete. Ein junger Mann kommt zur Erkenntnis Christi und empfängt den Ruf zum Dienst in einem Jugendbund für entschiedenes Christentum, wo die Gesangbücher einen gelben Einband haben. Irgendwie erscheinen ihm grüne Gesangbücher als nicht ganz kanonisch, und zwar bis an sein Lebensende. Mit Hilfe dieses psychologischen Gesetzes können wir das hartnäckige Haften unserer Mitchristen an allen möglichen Ortsgebräuchen ohne biblische Begründung und ihr Bestehen auf den Lieblings-,,Gnadenmitteln" verstehen, die ihre Denomination als wesentlich betrachtet, — während andere Kirchen ohne die gleichen heiligen Assoziationen sie als nichtwesentlich ansehen. Alle Kirchen müssen bemüht sein, eine enge Verbindung mit ihrem Herrn und Haupt zu halten; aber die dafür gewählten Mittel sind mannigfaltig, nicht minder die psychologischen Assoziationen, und so sind auch die Theorien über Sakramente und Amt mannigfaltig — und widerstreben in besonderer Weise rationaler Begründung! Den psychologischen „uneingestandenen Motiven", die das ökumenische Gespräch beeinflussen und unseren Spaltungen Dauer verleihen, müssen wir auch die Wirkung sozialen Druckes zurechnen. In dem Bericht über „die nichttheologischen Faktoren bei der Herstellung und Wiederaufhebung kirchlicher Unionen", den ein amerikanisches Komitee für die
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Konferenz von Edinburgh 1937 hergestellt hatte, könnte man drei von den dort aufgeführten zwölf Faktoren psychologisch oder wenigstens sozialpsychologisch nennen: die Angst, einfach geschluckt zu werden, die kleine Kirchen zögern läßt, sich mit großen zu vereinigen; die typisch sektenhafte Haltung, die gegen die Autorität rebelliert; und Unterschiede in der Bildung und der Haltung gegenüber Kunst und Wissenschaft, die es für Christen verschiedenartiger Mentalität schwer macht, sich als verwandt zu empfinden. Die anderen neun dort aufgezählten Faktoren sind Geschichte, Zeitgeschichte, Nationalismus, Rasse, Sprache, Klasse, Verschiedenheiten des ethischen Urteils (Sitte und Brauch) und finanzielle Interessen. Die eine mögliche Ausnahme in dieser Liste ist der Punkt Verschiedenheiten des ethischen Urteils, der mehr philosophisch als soziologisch erscheinen kann; aber die unter dieser Überschrift gegebenen Beispiele sind samt und sonders Fragen sozialer Gewöhnung, wie besondere Kleidung, der Genuß alkoholischer Getränke und die Sonntagsheiligung, die oft zwischen theologisch einigen Gruppen zur Trennung führen. Man sieht, daß diese neun Faktoren mehr umschließen als psychologische Reaktionen und Antipathien; sie bedeuten im allgemeinen einen strukturellen Widerstand der Gesellschaft gegen die göttliche Gemeinschaft, die sie zu durchsäuern und umzuformen sucht. Die Kräfte, die die Menschen einander verwandt machen und sie zu sozialen Einheiten gruppieren, leisten dem Einbruch der göttlichen Agape mit ihrer Verheißung, aus allen Menschen eine einzige Familie in Christo zu machen, Widerstand. Der einzige Weg, trennende Konflikte dieser Art zu vermeiden, würde darin bestehen, daß man die Kirche von jeder Berührung mit der Gesellschaft freihält, — was indes bedeuten würde, daß man ihre gottgegebene Sendung an die Welt leugnete. Wie notwendig indes die Berührung der Kirche mit der Welt auch sein mag, man kann nicht leugnen, daß weltliche, soziale oder wirtschaftliche Gegensätze zuweilen einen stärker sichtbaren Einfluß auf die Kirche geübt haben als die Einheit der Kirche auf die Welt. Alle großen Spaltungen der Kirche können in gewissem Umfang auf soziale und politische Trennungslinien ihrer weltlichen Umgebung bezogen werden. Die assyrische „Kirche des Ostens" spaltete sich zum Teil aus theologischen Gründen von der östlich-orthodoxen Kirche ab; aber die Tatsache, daß ihre Hauptkraft überhaupt außerhalb des
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Römischen Reiches lag, in orientalischen Ländern, deren ganze Geschichte und Kultur einen andersartigen Lauf genommen haben, trug sicherlich zu dem Schisma bei. Die östlich-orthodoxe und die römisch-katholischen Kirchen hatten viele Jahrhunderte vor ihrem kirchlichen Auseinandergehen verschiedene Sprachen, verschiedenes Schicksal und abweichende Formen der Kultur gehabt. Nach der Reformation blieb der durch und durch romanisierte und romanische Sprachen sprechende Teil Europas im allgemeinen katholisch, während der germanische, skandinavische, angelsächsische Norden, der der römischen Zivilisation ferner stand, protestantisch wurde. Die soziologischen Bedingungen der neuen Welt haben zu einer Vielfalt von Sektenbildungen geführt. Kolonisation und Einwanderung brachten praktisch alle europäischen Denominationen nach Amerika und unterteilten sie entsprechend ihrem nationalen oder stammesmäßigen Ursprung: holländisch Reformierte, schwedische Lutheraner, griechisch Orthodoxe. Als schließlich im Rahmen der amerikanischen Verfassung völlige religiöse Freiheit festgelegt wurde, bedeutete das für religiöse Gemeinschaften die Möglichkeit, sich ohne politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Druck ungehindert und in voller Freiheit zu teilen. Der Bürgerkrieg spaltete viele amerikanische Denominationen, und nicht viele von ihnen waren nachher imstande, den Bruch zwischen ihrem nördlichen und südlichen Teil zu heilen. Die formelle Befreiung der Sklaven bedeutete nicht die Beendigung der Spannung zwischen Weißen und Schwarzen. Aus dem Rassenbewußtsein ergab sich die Bildung mancher Negerkirchen, die in Lehre, Gottesdienst und allgemeiner Haltung den entsprechenden „weißen" Kirchen völlig glichen, sozial aber ganz und gar von ihnen geschieden waren. Die besondere Lage an der sich immer weiter nach Westen verschiebenden „Grenze" ergab dort eine charakteristische Gleichgültigkeit gegenüber aller Tradition und eine Aufnahmefähigkeit für neue Sekten (Mormonen) oder neue Einheitsbewegungen (Jünger Christi), die der stärker traditionsgebundene Osten ablehnte. Im kanadischen Westen schlössen sich die Presbyterianer ganzen Herzens der Vereinigten Kirche von Kanada an, während im Osten eine ansehnliche Gruppe der Union fern blieb. Die Beweglichkeit sozialer Schichten in Amerika vervielfachte die Zahl der Sekten; wenn proletarische Gruppen bürgerlich, und wenn bürgerliche Gruppen wohl-
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habend werden, so ändert sich die soziale Atmosphäre ihrer Kirchen, so daß sich die weniger Privilegierten in ihnen weniger zu Hause fühlen und neue Sekten gründen. So haben, seit die Methodisten gesellschaftlich aufstiegen, Nazarener und Pfingstleute in gewissem Umfang ihren Platz als die Evangelisten der schlichten Leute eingenommen. H. Richard Niebuhr hat in seinem Buche „Social Sources of Denominationalism" (Soziale Quellen des Denominationalismus) eine gescheite und sorgfältig belegte Analyse dieser Erscheinungen geliefert. Andere neue Länder und manche Missionsgebiete, in denen sich die gleichen soziologischen Verhältnisse ergaben, haben eine ähnlich vielseitige Sektenbildung erlebt. Das Sektentum in Afrika hat Ausmaße angenommen, die eine besondere Untersuchung verdienen. Unter den schon im Edinburghbericht erwähnten soziologischen Faktoren, die wegen ihres in der Folge sich ergebenden weltweiten Einflusses eine besondere Aufmerksamkeit verdienen, seien zwei herausgegriffen: Rasse und Klasse. Feindschaft zwischen weißen und „farbigen" Völkern, und Gegensätze zwischen sozialen Klassen würden die christliche Einheit auch dann noch gefährlich bedrohen, wenn alle großen theologischen Probleme bereinigt werden könnten. Wirklichkeit und Bedeutung dieser soziologischen Ursachen der Kirchenspaltung stehen außer Zweifel, aber sie dürfen uns nicht dazu veranlassen, die Bedeutung echt theologischer Ursachen zu unterschätzen. Die eben aus der New World zitierte Lage, die die Bedeutung der soziologischen Faktoren beweist, beweist in gleicher Weise die Bedeutung theologischer Überzeugungen. Die amerikanische Tendenz zur Sektenbildung ist in weitem Umfang das Produkt rational begründeter Uberzeugungen. Die ersten Siedler der amerikanischen Kolonien entstammten in erheblichem Umfang dem radikal protestantischen Typ — Dissidenten des Dissidententums. Baptisten, Quäker, Kongregationalisten und andere Freikirchenleute haben ihr besonderes Leben vollkommener entwickeln und einen umfassenderen kulturellen Einfluß üben können als in Kontinentaleuropa oder sogar in Großbritannien. Ihre Auffassung von der Kirche ist untraditioneller Art, und zwar nicht nur aus zufällig geographischen Gründen oder aus Gründen der Grenzer-Soziologie, sondern in bewußter Empörung gegen alles traditionelle Denken. Sie sind Separatisten und Dissenters mit gutem Gewissen; sie leugnen hartnäckig, daß Schisma
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immer Sünde sei, und behaupten stattdessen, daß Kirchen ohne apostolische Sukzession ihrem Herrn näherkommen können als die mit Sukzession, wenn sie nur ihren Glauben und ihr Leben in ständigem Achten auf Sein heiliges Wort und Seinen lebendigen Geist erneuern. Als der wesentliche Hintergrund unserer Spaltungen erscheint ihnen von ihrer Perspektive her die mangelnde Bereitschaft der Kirchen, ihre Traditionen zu reformieren statt die Reformer zum Austritt zu zwingen. Es ist gut, den ganzen Hintergrund unserer Spaltungen leidenschaftslos und mit aller Freundlichkeit zur Kenntnis zu nehmen und ihnen soweit als möglich achtunggebietende und glaubwürdige Gründe zuzuerkennen. Gottes Vorsehung hat es zugelassen, daß all diese Uneinigkeit geschah; sie verdient es daher, in positivem Sinne verstanden zu werden, nämlich als eine Sache, die potentielle Werte enthält, die Gott zu Seiner Zeit in Seine wahre Kirche einzubauen vermag. Im Endergebnis jedoch ist die Uneinigkeit der Christen ein Beweis dafür, daß es das gibt, was Reinhold Niebuhr das „Verharren der Sünde im Leben der Erlösten" nennt. Sie beweist, daß die Kirche in einem anderen Sinn als ihr Herr göttlich-menschlicher Art ist; es gibt in ihr nicht nur das göttliche und das menschliche Element, sondern ein drittes, nicht damit zusammenklingendes, das man das „allzu menschliche" nennen kann. Dies ist die letzte und tiefste Ursache ihrer Spaltungen. Alle Christen glauben, daß die Kirche als die Heimstätte des Heiligen Geistes in enger Gemeinschaft mit dem sündlosen Christus steht; und doch tritt die Sünde bei den Gliedern der Kirche reichlich zutage. Sündiger Stolz, Haß, Gewalttat und Grausamkeit beflecken ihr Bild Seite um Seite. Geistliche und Laien, Organisation und Mitgliedschaft, alle sind in gleicher Weise beteiligt. Wenn ökumenische Diskussionen zum Ziel kommen sollen, so müssen sie mit tätiger Buße, ehrlichem Sündenbekenntnis und gegenseitiger Vergebung Hand in Hand gehen. Das Ziel wahrer christlicher Einheit kann um so bälder erreicht werden, wenn Kirchenleute mit aller schuldigen Dankbarkeit für die ihrer Gemeinschaft zuteil gewordene göttliche Wahrheit und Gnade bereit sind, an ihre Brust zu schlagen und für sich und ihre Brüder Gottes Erbarmen um all des willen zu erbitten, was in ihren Kirchen nicht in Ordnung ist, statt Gott dafür zu danken, daß sie nicht wie die anderen Leute in anderen Kirchen sind.
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III.
Neue Faktoren: Die heutige Lage Wir finden uns heute, wenn wir ein paar Generationen zurückdenken, praktisch in einer neuen Welt vor. Gleichviel, ob wir die radikale Analyse dieser uns in Gestalt des „Untergangs des Abendlandes" dargestellten Tatsache bejahen oder nicht, wir müssen anerkennen, daß seit dem Anbruch dieses Jahrhunderts in unserem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben große Wandlungen eingetreten sind, denen vergleichbar, die sich im fünften und sechsten Jahrhundert vollzogen, als die römische Zivilisation dem den Platz räumte, was man ein wenig obenhin „das dunkle Mittelalter" nannte, oder den Wandlungen, die stattfanden, als die mittelalterliche Zivilisation dem Platz machte, was man etwa als „Renaissancekultur" bezeichnen kann. Vieles hat zu diesen Wandlungen beigetragen, zum Beispiel: 1. Entstehung und Fortschreiten der modernen Missionsbewegung, die mit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts begann und seitdem ihren Weg stetig weitergegangen ist. 2. Das Gewicht der industriellen Revolution mit ihrem technischen Fortschritt und mit dem Ergebnis drastischer politischer und wirtschaftlicher Wandlungen, die sowohl im Osten wie im Westen zu dem Aufkommen des Säkularismus beigetragen haben. 3. Die imperialistischen Tendenzen einiger Nationen des Westens, die im neunzehnten Jahrhundert praktisch das Gesicht ganzer Kontinente wie Asien und Afrika veränderten. 4. Die Entstehung von Ideologien und totalitären Systemen, die im zwanzigsten Jahrhundert Revolutionen, Verfolgungen und Krieg hervorriefen. 5. Die Gegenbewegung zu idealistischen Weltanschauungen, die sich seit etwa siebzig Jahren vollzieht. 6. Die Verbreitung einer allgemeinen Bildung in der westlichen Welt und die Abnahme des Analphabetentums in Asien und Afrika, die beide die Übermittlung von Nachrichten und Ideen durch Zeitung und Rundfunk zu einer wichtigen Sache machen und oft darauf hinauslaufen, daß an die Stelle echter Bildung die bloße Propaganda tritt.
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Diese Dinge haben einen neuen Druck politischer, wirtschaftlicher und kultureller Art geschaffen, mit dem gerechnet werden muß, und der für die christlichen Gemeinschaften in aller Welt einen sehr bestimmten Aufruf zur Verantwortung bedeutet. Die voneinander getrennten Kirchen sehen sich oft einer totalen säkularen Ideologie gegenüber, der zu widerstehen und die zu überwinden für sie in ihrer Zerrissenheit eine Schwierigkeit bedeutet. Die größte Schwierigkeit findet sich in diesem Punkte da, wo wir es mit der tiefsten Kluft zu tun haben, der zwischen der römisch-katholischen Kirche und allen anderen Christen. Zum Teil an dieser Stelle entsteht das Drängen auf kirchliche Einheit und das Wachstum der ökumenischen Bewegung. Wir wollen keineswegs sagen, die ökumenische Bewegung habe in diesem sozialen und politischen Druck ihren Ursprung, denn wir wissen, daß ihr Ursprung wie ihre Kraft ihren Grund in tiefer religiöser und theologischer Notwendigkeit hat. Aber man muß zugeben, daß dieser soziale und politische Druck nicht nur einen Ruf zur Verantwortung für die gespaltene Kirche bedeutet, sondern viel dazu getan hat,, um das Wachsen des ökumenischen Bewußtseins und das Verlangen nach Ökumenizität zu fördern. Wiederum droht der gleiche Druck andernorts eine Spaltung zwischen Christen zu schaffen, die früher in voller Gemeinschaft miteinander gewesen waren oder sogar zu ein und derselben Kirche gehörten. Unser Kapitel will diese verwandelte Lage soweit untersuchen, wie sie eine Beziehung zu der Frage nach der Lehre von der Kirche und zu dem Problem christlicher Union hat. Wir richten unsere Aufmerksamkeit zuerst auf die neue missionarische Lage. Hier müssen wir uns die Tatsache gegenwärtig halten, daß es in Asien und Afrika ein europäisches Prestige im alten Sinne nicht mehr gibt, und daß die führende Stellung der Ausländer sowohl im politischen wie im kirchlichen Raum dahinschwindet. Die Spaltungen zwischen den Christen in Asien, in Afrika und der pazifischen Inselwelt stellen vom Gesichtspunkt der Menschen dieser Länder her in hohem Maße einen wertlosen Import dar. In der Vergangenheit wurde das volle Ärgernis christlicher Uneinigkeit in Ubersee dadurch verhüllt, daß das Prinzip freundschaftlicher Zusammenarbeit, das heißt der Vereinbarung zwischen verschiedenen Missionsgesellschaften über die Begrenzung ihrer Tätig-
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keit auf bestimmte Gebiete und über die möglichste Vermeidung von Doppelarbeit und Konkurrenz allgemein anerkannt war. Gerade der Erfolg dieser Politik hat aber dazu dienen müssen, ihre Unzulänglichkeit deutlich zu machen. Wachsende Freiheit der Bewegung hat in weitem Umfang dazu geführt, daß Christen aus dem Gebiet einer Kirche in das einer anderen zogen, und dies zwingt die christlichen Kirchen, wie Bischof Newbigin in seinem Buche „The Reunion of the Church" gezeigt hat, sich klarzumachen, daß sie entweder näher zusammenkommen oder weiter auseinandergehen müssen. Die Umwelt der christlichen Gemeinde in Indien oder China ist nahezu völlig anderer Art als die der christlichen Kirchen in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten. Wenn ein Christ in eine radikal unchristliche Umwelt hineingestellt und für die Dauer von christlicher Gemeinschaft in Leben, Gottesdienst und Wortverkündigung abgeschnitten wird, dann wird die Versuchung zum Rückfall in den Unglauben maßlos verstärkt. Es ist kein Wunder, wenn viele abfallen. Der Christ, der aus einem anglikanischen in einen methodistischen Bezirk verzieht, wo die nächste anglikanische Kirche vielleicht zweihundert Meilen entfernt ist, muß dort Gemeinschaft finden, und umgekehrt. Das bedeutet entweder, daß es ihm nicht nur erlaubt, sondern daß er dazu ermutigt werden muß, sich als der örtlichen christlichen Gemeinde zugehörig zu betrachten, oder daß das Prinzip der regionalen Abgrenzung aufgegeben werden, und daß jede Denomination bestrebt sein muß, mehr oder weniger zur weltumspannenden Kirche zu werden. Wir sind gezwungen, die Konsequenzen beider Wege zu überprüfen. Sagen wir zu dem ersteren ja, so kann kaum bestritten werden, daß wir damit praktisch zu dem Urteil gelangen, die andere Denomination stehe, wie unzulänglich sie auch sein möge, in einem gewissen Sinne in der Kirche Christi. Gehen wir den zweiten Weg, dann sind wir aufgerufen zu zeigen, daß gewissen anderen christlichen Gemeinschaften etwas Wesentliches fehlt, was wir in der unseren besitzen. Mancher mag meinen, hier sei doch eine Notlösung möglich, aber die grundsätzliche Frage würde bleiben. Auch ein eilig geschaffener Unionsplan würde dem Dilemma nicht entgehen oder es gar lösen. Wir sind auch gezwungen, uns Rechenschaft zu geben sowohl von der praktischen Unmöglichkeit, für alle Glieder unserer Denomination in diesem Maßstab eine ausreichende
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Betreuung sicherzustellen, wie von dem ernsten Ärgernis, das durch eine solche Rivalität großen Stiles zwischen christlichen Denominationen entstehen würde. Im Blick auf die missionarische Lage muß noch etwas weiteres betont werden. Das Wachstum der Kirchen in Übersee hat zu einem wachsenden Bedürfnis nach theologischer Arbeit und theologischer Literatur in den Sprachen der Völker selbst und von eingeborenen Christen geschrieben geführt. Daraus ist ein neues Interesse an dem Problem der missionarischen Sprache entstanden. Es wird immer klarer, daß Worte als solche die christliche Botschaft nicht übermitteln können, denn eine Sprache, die dazu entwickelt wurde, die Erfahrungen eines Lebens ohne Christus zur Darstellung zu bringen, ist notwendigerweise unzulänglich, wenn es sich darum handelt, das weiterzureichen, was Christus allein geben kann. Der Christ in Indien ist dazu gezwungen, Worte zu gebrauchen, die ganz und gar durch hinduistisches Denken und Erleben geprägt sind. Er kann diese Worte nur dann dazu benutzen, um dem Hindu die Botschaft des Evangeliums zu vermitteln, wenn er auf eine Gemeinde von Gläubigen hinweisen kann, in denen dieses Evangelium zur Wirklichkeit wurde. Wenn dem Hindu der christliche Sinn der Vergebung vermittelt werden soll, dann muß das durch die Gemeinde derer geschehen, denen vergeben wurde und die das Vergeben gelernt haben, weil sie in Christus Gottes Kinder wurden. Je mehr begriffen wird, daß alle tiefsten christlichen Erfahrungen solche der Gemeinschaft und in der Gemeinschaft sind, um so mehr wird es auch klar, daß die Kirche als die Gemeinschaft des Heiligen Geistes bei der Übermittlung des Evangeliums an die Welt kraft der besonderen Art ihres Lebens eine entscheidende Rolle spielt, und daß es für Menschen auf ihrem Wege zu Gott in Christus ein Ärgernis, einen Stein des Anstoßes bedeutet, wenn die Kirche es an Gemeinschaft fehlen läßt. Ein zweiter Faktor, der in Rechnung gesetzt werden muß, ist das Wachsen des Nationalismus. Das Verlangen nach Freiheit von ausländischer Herrschaft und die Erkenntnis, daß ausländische Regierungen die Gegensätze innerhalb der unterworfenen Völker in größerem oder geringerem Umfang dazu genutzt haben, um ihre Macht zu befestigen, haben die Völker Asiens dazu gebracht, nationale Einheit zu betonen und alles zu fördern, was sie zu stärken vermag. Das Christentum ist
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zu oft als Ausländerreligion verdächtigt worden, und der Hinduismus, der Buddhismus oder der Islam ebensowohl wie die primitivsten Religionen sind als nationaler Glaube gepriesen worden, der mindestens ebenso stark aus patriotischen als aus religiösen Gründen auf die Treue der Menschen Anspruch erhebt. Darüber hinaus haben sich religiöse Gegensätze, die oft von weitreichenden Unterschieden ererbter Kultur und der Gestaltung des täglichen Lebens begleitet sind, zum Beispiel auf dem indischen Subkontinent, als Gründe der Aufspaltung erwiesen und tun es noch. Man hat früher von der Seite christlicher Apologeten nicht selten gesagt, nur Christus könne die Kluft überbrücken, die den Hindu und den Moslem voneinander scheiden, und die Antwort war unweigerlich nicht nur der Hinweis darauf, daß die Christen selbst gespalten seien, sondern daß Glieder der einen hinduistischen oder der einen islamischen Gemeinschaft voneinander getrennt würden, wenn sie das Christentum annähmen, und zwar auf Grund der Tatsache, daß keine christliche Kirche außer der römisch-katholischen auch nur zu behaupten wagte, daß sie das ganze Land erfasse. Die Beendigung der britischen Herrschaft in weiten Gebieten Asiens hat diesen besonderen politischen Vorwurf gegenüber dem Christentum hinfällig gemacht, hat aber auf der anderen Seite wie kaum etwas anderes das Verlangen nach einem zwingenden nationalen Einheitsband und das Gefühl für die Bedrohung der nationalen Einheit vertieft, die sich aus religiöser Zersplitterung ergeben kann. Verantwortungsbewußte christliche Führerpersönlichkeiten sind nicht weniger glühende Patrioten als ihre anderen Religionen angehörenden Mitbürger und tragen nicht weniger als sie nach der Einheit ihres Landes Verlangen. Wir dürfen uns deshalb nicht wundern, daß die Kraft ihrer Überzeugung, Christus sei die einzige wirkliche Grundlage nationaler Einheit, sich in einer Ungeduld gegenüber importierten denominationellen Gegensätzen Ausdruck verschafft. Zugegebenermaßen besteht hier die Gefahr der Entstehung nationaler Kirchen mehr nationalistischen als christlichen Charakters. Einsichtige führende christliche Persönlichkeiten sind sich dessen in vollem Umfang bewußt. Einer der kennzeichnenden Züge sowohl aller zur Zeit noch erörterten Wiedervereinigungspläne wie derer, die bereits zur Bildung unierter Kirchen geführt haben, ist die Tatsache, daß bei ihnen der Die Kirche
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Wunsch zur Aufrechterhaltung und Ausweitung der Verbundenheit mit Christen in aller Welt eine hervorragende Rolle spielt. Sie würden sicherlich mit Recht behaupten, so, wie echter Internationalismus die Erfüllung und nicht der Feind des echten Nationalismus ist, so könne die Verpflichtung der Kirche gegenüber der Welt auch nur da erfüllt werden, wo sie ihre Verpflichtung gegenüber der Nation anerkennt. Der Nationalismus ist in der heutigen Welt eine weit gefährlichere Erscheinung als er es sein würde, wenn nicht noch die rassenmäßigen Spannungen hinzuträten. Der Zionismus in Palästina, der indonesische Nationalismus und das langsam aufkommende Nationalbewußtsein in Afrika, sie alle sind von dem aus rassischer Diskriminierung und Verfolgung geborenen bitteren Ressentiment gefärbt. Es ist schwer, dem Begriff der Rasse einen klaren wissenschaftlichen Sinn zu geben, und es gibt keinen entscheidenden Beweis dafür, daß rassischer Gegensatz dem Menschen eingeboren ist; wo es aber zu wirtschaftlichen und kulturellen Konflikten zwischen Gruppen kommt, da wirken die Unterschiede der Hautfarbe und der Physiognomie als eine deutlich sichtbare Flagge, die aus den zwei Gruppen entgegengesetzte Lager macht und das Problem, woran der Feind zu erkennen sei, künstlich vereinfacht. Es ist eine bedrückende Tatsache, daß die Millionen gelb- und schwarzhäutiger Völker, die jetzt in Asien und Afrika zu politischer Macht gelangen, lange Zeit das Bewußtsein rassischer Verachtung auf der Seite der weißen Minorität gehabt haben, die die Welt in den letzten 450 Jahren beherrschte. Selbst in dem Augenblick, in dem die Vorrangstellung der Weißen ins Wanken gerät, fahren gewisse Weiße in Südafrika, in den Vereinigten Staaten und anderswo fort, Farbige als Untermenschen oder im besten Falle als Bürger zweiter Klasse zu behandeln. Die Juden in Europa sind einer Rassenverfolgung von einer Grausamkeit ohne Beispiel unterworfen worden, die zur Abschlachtung von nahezu sechs Millionen Menschen führte. Angesichts dieser von Grund auf unchristlichen Haltung und in der Sorge, daß diese einen Sturm leidenschaftlicher Rache zu entfesseln droht, weiß sich die chrisdiche Kirche dazu aufgerufen, ihren echten neutestamentlichen Charakter als einer ökumenischen Gemeinschaft, in der „weder Jude noch Grieche" ist, klarzustellen. Als einige deutsche Kirchen es wagten, sich dem Arierparagraphen des Dritten Reiches zu
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widersetzen, zeigten sie der ganzen Kirche, wie ernst sie in ihrem innersten Sein durch eine heidnische Haltung im Blick auf die Fragen der Rasse und der Nationalität bedroht war. Die christliche Weltmission kann Christus nur dann treu sein, wenn der wahre Charakter der Kirche als eines Leibes mit vielen, jeder Nation und Rasse angehörenden Gliedern von gleicher Ehre in Wort und Tat neu verkündigt werden kann. Nur dann, wenn das geschieht, kann die christliche Weltmission mit dem Kommunismus konkurrieren, der über Rasse und Nationalität hinausgreift und den unterdrückten Massen die Befreiung verheißt. Eine ökumenische Bewegung, die die freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Denominationen betonen würde, ohne gleichzeitig die Bruderschaft zwischen Rassen und Nationen zu betonen, würde in der heutigen Zeit eine nur oberflächliche Auffassung ihrer Aufgabe haben. Die obenerwähnten Faktoren sind kennzeichnend für die gegenwärtige Lage der Welt, wie sie durch den völligen Zusammenbruch der religiösen Grundlagen des Gemeinschaftslebens geschaffen wurde, einen Zusammenbruch, der nicht nur andere Weltreligionen, sondern gerade das Christentum getroffen hat. Die säkularisierte Gesellschaft hat gegenüber der Kirche eine gleichgültige und neutrale Haltung entwickelt. In sogenannten christlichen Ländern sind Pseudoreligionen mit falschen Messiassen und falschen Eschatologien in das religiöse Vakuum eingedrungen und verbreiten sich mit rasender Geschwindigkeit. Sie haben nicht nur die Kirche ihrer Führerstellung beraubt, sondern sind in einen aktiven Vernichtungskampf gegen christliche Kirchen eingetreten. Auf der einen Seite haben die modernen Pseudoreligionen, insbesondere in der Gestalt des politischen Totalitarismus, insofern zu einem Schisma innerhalb der Kirchen einen Beitrag geleistet, als sie zum Teil in die Kirchen einzudringen vermochten. Dies ist besonders da möglich gewesen, wo die Kirchen als Volks- oder Staatskirchen eine große Zahl bloßer Namenchristen umfaßten. Es war ihnen möglich, unter dem Schutz einer totalitären Partei ihre „Reformen" innerhalb der Kirche durchzuführen, wie es durch die „lebendige Kirche" in Sowjetrußland und die „Deutschen Christen" im Dritten Reiche geschah. 3*
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Auf der anderen Seite freilich ergab sich aus dem Aufstieg des politischen Totalitarismus und seiner antichristlichen Politik eine neue Lage für die ökumenische Begegnung der Kirchen. Die Verfolgung, die so manche christliche Kirchen gemeinsam erlitten, hat die Kirchen in einer bisher unbekannten Weise zusammengeführt und zwischen ihnen ein neues Verstehen und eine wirkliche Bruderschaft entwickelt. Auf diese Weise hat der Protestantismus des Westens sein altes Vorurteil gegenüber den östlich-orthodoxen Kirchen verloren, seit einige dieser Kirchen vom Bolschewismus verfolgt wurden. Orthodoxe Brüder unter den russischen Flüchtlingen verbreiteten die Kenntnis des machtvollen inneren Lebens jener Kirche. In gleicher Weise hat die Verfolgung der verschiedenen Kirchen unter dem Nationalsozialismus in Deutschland zu einer Bewegung der Konfessionen im Zeichen des Kreuzes geführt. Die Kirche wurde dazu aufgerufen, wirklich Kirche zu sein, Christus in einer heidnischen Welt zu bezeugen, ihn zu bezeugen selbst bis zum Tode. Dies hat die Kirchen überall dazu gebracht, es zu begreifen, daß die ganze Kirche in Ost und West sich wieder einmal in einer missionarischen Lage befindet. Die ganze Kirche kann zu jeder Zeit dazu aufgerufen werden, sich zwischen Gott und Kaiser zu entscheiden. Auch das hat es bedeutet, daß die Kirchen, in den Kampf um ihr Dasein hineingeworfen, zum ersten Mal bewußt begriffen, daß die Entstehung moderner antichristlicher Bewegungen zum Teil Schuld der Kirche war, und zwar deshalb, weil sie mit gewissen intellektuellen, sittlichen und sozialen Aufgaben nicht fertig geworden war. Die Christen hinter dem „Eisernen Vorhang" erleben heute etwas Ähnliches. Unter der Herrschaft einer antichristlichen Macht sind sie in die Lage von Matth. 10 und 24 hineingestellt worden, und das bedeutet, daß sie einen machtvollen, göttlichen Ruf zur Einheit empfangen, der nicht mißachtet werden darf. Die heutige Welt hat es nicht nur mit Rivalitäten zwischen verschiedenen Religionen zu tun, sondern mit dem Gegensatz zwischen denen, die den Glauben an Gott festhalten, und jenen, die jede geistige Wirklichkeit leugnen. Materialismus und Atheismus gibt es in Menge auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges. Das Dahinschwinden der geistigen Grundlagen des sozialen Lebens bedroht uns mit einer Ära von Weltkriegen,
Die heutige Lage
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die schlimmer sind als Kriege zwischen christlichen Nationen, schlimmer auch als Kriege zwischen Christen und Moslems, weil es hier keine sittliche Grundlage gibt, auf der eine Versöhnung angestrebt werden kann. Dies gibt der Frage von Krieg und Frieden in unserer Zeit ihre erschreckende Dringlichkeit. Der Krieg ist eine aufs tiefste beunruhigende Frage an die Kirche, nicht nur, weil er als totaler Krieg eine ganz neue und schreckliche Bedrohung aller Kultur und Zivilisation darstellt, sondern weil der Krieg zwischen Staaten seinem Wesen nach das falsche Mittel zur Regelung von Streitfragen ist. Wiederholt haben Kirchen des ökumenischen Rates für sich selbst, und wiederholt hat der Rat erklärt, daß der Krieg sich mit dem Willen Gottes und dem Geist Christi nicht vertrage. Das Ergebnis zweier Kriege, die sich über weite Gebiete der Welt erstreckten, sieht so aus: Der Freiheit ist weniger geworden, die Moral ist gesunken, in der Politik herrschen Verwirrung und Verbitterung, die Rechtsgrundlagen des öffentlichen Lebens sind erschüttert, und es entstand das mehr als tragische Flüchtlingsproblem unserer Tage mit seinen schrecklichen Leiden, weil Millionen von Menschen entwurzelt, Familien getrennt und zerrissen, und Kinder heimatlos und zu Waisen gemacht wurden. Der Krieg erzeugt immer neuen Krieg. Diese Lage ruft nach Zusammenarbeit zwischen den Kirchen, um Menschen und Regierungen dahin zu bringen, daß sie eine großmütige Politik internationaler Zusammenarbeit treiben. So haben wir es hier mit einem bedeutungsvollen Ruf an die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates zu tun: Sie dürfen das Gespräch über die christlichen Grundlehren nicht liegen lassen, sondern sie müssen ganz praktisch und in gemeinsamer Arbeit ermitteln, was diese Grundlehren im Blick auf die Fragen von Krieg und Frieden bedeuten. Schließlich müssen wir angesichts dieser tragischen Lage begreifen, daß die Kirche immer die frohe Botschaft besessen hat, die die Heilung verspricht. Es ist das die frohe Botschaft, daß Gott in Christus Menschen in die Gemeinschaft mit Ihm selbst hineinruft, daß die Gemeinschaft von Mensch zu Mensch an der Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch und Mensch und Gott hängt, und daß Gemeinschaft ( k o i n o n i a ) etwas ganz anderes, ja Entgegengesetztes ist als nackter Individualismus und jede Gestalt sozialer Ordnung, die die Heiligkeit der Per-
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son leugnet. Die Bibel betont nachdrücklich die Heiligkeit der menschlichen Person, nicht um ihrer selbst willen, sondern weil Gott sich in seiner unendlichen Gnade und Barmherzigkeit entschloß, Menschen nach Seinem eigenen Bilde zu schaffen, und weil der Sohn Gottes für jedes einzelne Menschenwesen starb. Aber die Bibel kennt keinen Menschen abgesehen von der Gemeinschaft, abgesehen von der Beziehung zum Mitmenschen. Das ist der Grund, warum Systeme eines einseitigen Individualismus und der Massengesellschaft, in der die individuelle Freiheit auf ein Minimum reduziert wird oder ganz verschwindet, in gleicher Weise dem christlichen Evangelium fremd sind. Das Wesen Gottes selbst ist Gemeinschaft, wie es in der Lehre von der Heiligen Dreieinigkeit zum Ausdruck kommt. Diese Gemeinschaft ist es, die Gott auch für den Menschen begehrt und die Er ihm in der göttlichen Botschaft bringt, indem Er ihn in die Gemeinschaft der Kirche hineinstellt, die als ein Sauerteig in der Welt wirken soll. Wir müssen heute die Überzeugung wiedergewinnen, die die Apologeten der alten Kirche hatten, nämlich daß „die Welt noch steht um der Christen willen". Und wie sollen wir das tun, wenn die Kirche in sich selbst gespalten ist, da doch „ein Haus, wenn es mit sich selbst uneins wird, nicht bestehen kann"? Ja noch mehr, wie sollen wir der Welt diese Wahrheit bringen, wenn wir daran denken, wie kümmerlich sie sich oft in dem Gemeinschaftsleben der Kirchen selbst darstellt! Müssen wir nicht wieder anfangen, den Heiligen Geist ernst zu nehmen, da doch die Kirche „die Gemeinschaft des Heiligen Geistes" ist? Es ist wahr, was John Oman gesagt hat, daß „wir nur als eine Gemeinschaft von Unsterblichen hoffen können, die Ordnung dieser Gemeinschaft auf eine Gerechtigkeit zu gründen, die den Letzten zum Ersten werden läßt, und in der Schwachheit und Not einen größeren Anspruch haben als Erfolg und Besitz". Die „Gemeinschaft der Unsterblichen" muß der Welt außerhalb der Kirche zuerst sichtbar werden in dem Leben einer Kirche, die in der Welt, in der sie lebt, ihr priesterliches und erlösendes Werk tut, und die „das Amt der Versöhnung" an einer Welt ausrichtet, die Gott mit sich selbst in Christus Jesus unserem Herrn versöhnt hat.
Entwicklungen in der Theologie
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IV.
Neue Faktoren: Entwicklungen in der Theologie Es gibt in der heutigen Theologie gewisse Entwicklungen, die sich möglicherweise als für unser Nachdenken über die Kirche oder für die schnellere Herbeiführung ihrer Einheit als sehr bedeutsam erweisen können. Aus dem Streitgespräch ehrlicher Geister erwachsen theologische Erkenntnisse, und manche der von uns erwähnten Entwicklungen scheinen zunächst mehr auf Spaltung als auf Einigung hinauszulaufen. Von ihnen allen aber dürfen wir nach unserer Überzeugung mit Recht sagen, daß sie zum wenigsten Positionen zerstören, die als ausgemacht erschienen; über traditionelle Spaltungen hinweg schaffen sie ein neues Sichverbundenwissen, und einige von ihnen mögen sich, falls sie nicht zu neuen Gegensätzen erstarren, so Gott will als geeignet erweisen, um auch auf solchen Gebieten eine Übereinstimmung herbeizuführen, wo wir bis jetzt noch getrennt sind. Alle diese Entwicklungen vollziehen sich über unsere konfessionellen oder denominationeilen Grenzen hinweg. Es ist noch zu früh, als daß wir zu sagen vermöchten, ob sie irgendwelche der Hindernisse beiseite schaffen können, die sich heute als kirchentrennend auswirken. Sie schaffen indes zum wenigsten die Mittel, mit deren Hilfe sich neue Verbundenheit schon jetzt über diese Hindernisse hinweggesetzt hat. Wir berichten hier von ihnen in der Hoffnung, daß diese Entwicklungen, die heute das überlieferte Bild unserer konfessionellen Aufgliederung merkwürdig stören, von Gott dazu benutzt werden mögen, um Seinem Vorsatz, uns in Christus zu einigen, zu dienen. j.
„Laienbewegungen" Zunächst dürfen wir feststellen, daß die weitverbreiteten Laienbewegungen für unser Nachdenken über die Kirche von großer Bedeutung sind. Sie sind ihrem Wesen nach eine Bestätigung der Einheit von „Laien" und „Amtsträgern", die zusammen den la o s oder das Volk Gottes darstellen, das königliche Priestertum aller Gläubigen, und gleichzeitig eine Bestätigung des weithin in der täglichen Arbeit der Menschen liegenden und durch ihn geschehenden Dienstes, den die Kirche in der Welt Gottes leistet.
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Diese Bewegung hat vielerlei Seiten. Wir stellen fest, daß ihr Umfang und ihre Stärke in der römisch-katholischen Kirche ein neues Zeichen der Verbundenheit zwischen uns und ihr bedeutet. Die „katholische Aktion" hat in vielen Ländern ein „Laienapostolat" zu neuer Geltung gebracht, wie es im Rahmen einer anderen Kultur in den mittelalterlichen Zünften und Gilden seinen Ausdruck fand. Wir bemerken aber in der heutigen römisch-katholischen Theologie Züge, die nach unserer Überzeugung nicht ohne, sei es auch unbewußt, verarbeitete Erkenntnisse der Reformation möglich gewesen wären. Wir sehen sie zum Beispiel in der „pluralistischen und personalistischen" sozialen Ordnung, von der Maritain schreibt, oder in dem Hirtenbrief des verstorbenen Kardinals Suhard unter dem Titel „Priester unter Menschen". Hier mögen Protestanten einen Respekt vor der eigentümlichen Autonomie verschiedener Berufe und ihrer Struktur erkennen und begrüßen, die Ablehnung einer falschen Unterscheidung zwischen „Heiligem" und „Weltlichem", und ein Verständnis des Berufes, wie es Luther zu entwickeln begann, und wie es Calvin im Dienste Gottes per v o c a t i o n e m andeutete, in der wirklichen Arbeit, die wir in unserem Berufe tun. Der Protestantismus hat zumal in und nach der Aufklärung diese Ideen nicht ausreichend entwickelt, obwohl es an vereinzelten Propheten im neunzehnten Jahrhundert nicht fehlte, Männern wie F. D. Maurice, dem Anglikaner, und R. W. Dale, dem Kongregationalisten in England, A. S. Talma in Holland oder Adolf Stöcker in Deutschland. Die letzten Jahre sind Zeugen einer bemerkenswerten und spontanen Bewegung gewesen. Die evangelischen Akademien in Deutschland, das Institut K e r k e n W e r e l d i n Holland, die A s s o c i a t i o n s P r o t e s t a n t e s P r o f e s s i o n e l l e s in Frankreich, die lebendigen orthodoxen Laienbewegungen in Griechenland und im Nahen Osten, das Sigtuna-Institut in Schweden und das C h r i s t i a n F r o n t i e r in Großbritannien sind nur die bestbekannten Beispiele dafür, wie sich die Kirchen bewußt darauf konzentrieren, den echten Dienst der Kirche in der Welt über den Dienst ihrer Laienmitglieder in deren täglicher Arbeit wiederzuentdecken*). Der ökumenische Rat ist auch unter * ) Literatur über Einzelheiten dieser Bewegungen ist bei den Büros des ökumenischen Rates erhältlich, der die Arbeit aller dieser Bewegungen in seinem Ökumenischen Institut in Bossey bei Genf zusammenfaßt.
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anderen Gesichtspunkten an dieser Entwicklung bereits lebendig interessiert. Sein Komitee für Leben und Arbeit der Frauen in der Kirche hat enge Beziehungen zu ihr. Im Zusammenhang mit der Arbeit der Studienabteilung stellt eine neuerliche Studie von Dr. J. H. Oldham (Die Arbeit in der modernen Welt) ein Beispiel für die außerordentliche theologische Bedeutung dieser Entwicklung dar. Wir haben es in dem Ausschuß für Glauben und Verfassung mit der Theologie der Kirche zu tun; gerade deshalb aber begrüßen wir es, wenn die Frage nach dem Wesen und dem Zeugnis der Kirche in der Welt auf eine so revolutionäre Weise gleichzeitig im Leben und Denken neu erfaßt wird. Hier ergeben sich Möglichkeiten eines erneuerten Verständnisses für die Bedeutung des allgemeinen Priestertums, des Verhältnisses zwischen Laientum und kirchlichem Amt in dem einen laos und so für das Wesen des Amtes selbst. In diesem Zusammenhang müssen wir auf eine wichtige Seite der liturgischen Bewegung der Gegenwart hinweisen, der wir in weithin verschiedenen Kirchen, der römisch-katholischen, der reformierten, der lutherischen, der anglikanischen und der Freikirche, begegnen*). Das, was in vielen Teilen dieser Bewegung gemeinsam betont wird, ist das Verhältnis zwischen Gottesdienst und Leben. In dem Maße, in dem hier eine ursprünglichere Gestalt des christlichen Gottesdienstes wiedergefunden wird, tritt auch der Anteil der Laienschaft am liturgischen Handeln zutage. Die Gemeinde ist vor dem Altar oder der Kanzel nicht bloß passiv, und diese Beteiligung der Menschen am liturgischen Handeln wird zum Ausdruck der Wahrheit, daß der Gottesdienst zum Teil ein Darbringen des ganzen Lebens der Gemeinschaft durch Christus vor Gott bedeutet. Alles, was die Glieder der Gemeinde die ganze Woche hindurch getan haben, und das ganze gemeinsame Leben, innerhalb dessen sich ihre Arbeit abspielt, alles das wird in bußfertigem Lobpreis vor Gott gebracht, und die Gemeinde wird, aufs neue innig mit Christus verbunden, wiederum in die Welt entlassen, um Ihm dort im Alltag zu dienen. Auf solche Weise gewinnt das Sakrament einen engen Bezug zum Ganzen der leidenden Menschheit. *) Wir haben es hier nicht mit der eigentlich liturgischen Seite dieser Bewegung 7.u tun; diese wird in dem Bericht des Ausschusses über Formen des Gottesdienstes dargestellt.
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Diese Entwicklung in der Richtung auf ein tieferes und ernsteres Verständnis des Berufes der Laien ist überaus verheißungsvoll für eine bessere Theologie von der Kirche. Wir begrüßen sie, obwohl wir erkennen, daß hier zugleich vieles von dem in Frage gestellt wird, was uns als ausgemacht galt. Sie fordert eine neue und tiefere Zusammenarbeit zwischen Theologen und Laien, denn manche Lösungen werden niemals von denen gefunden werden, die vor den Konflikten und Entscheidungen des Alltagslebens in der modernen Welt behütet sind. Eine ausreichende Theologie von der Kirche muß zum Teil das Werk derer sein, die Gott täglich in den Kämpfen der Welt dienen. 2. Die Riickwendung biblischer Theologie In den letzten dreißig Jahren hat sich auf dem Gebiet der biblischen Forschung eine sehr bemerkenswerte Entwicklung vollzogen, die einen großen Einfluß sowohl auf die Theologie der einzelnen Kirchen wie auf das Verhältnis zwischen den Kirchen gehabt hat. In der orthodoxen Periode nach der Reformation war die Bibel in erster Linie nicht ein geschichtliches, sondern das wörtlich inspirierte Buch, das in all seinen Teilen die göttliche Wahrheit enthielt, — eine Quelle für dogmatische Belegstellen. Diese dogmatische, ungeschichtliche Anschauung von der Bibel war eine allzu leichte Beute für die neue, historisch-kritische Schule, die in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts entstand. Diese Schule forderte völlige Freiheit von allen christlichen dogmatischen Voraussetzungen und bemühte sich, die Bibel völlig unvoreingenommen zu lesen. Das neunzehnte Jahrhundert erlebte dann energische wissenschaftliche Arbeit in allen Zweigen der Bibelwissenschaft. Die Bibel wurde im Licht der allgemein anerkannten wissenschaftlichen Methoden gelesen, und ihre Berichte wurden im Licht der zeitgenössischen Naturwissenschaft und historischen Kritik untersucht. Dies hatte einen ungeheuren Einfluß auf das ganze Verständnis des Christentums. Die „liberale Theologie" war in ihren mannigfachen Abwandlungen und sehr verschiedenen Aspekten zum Teil ein Produkt dieses Einflusses. In der liberalen Theologie fanden sich zwei Dinge zusammen: wissenschaftliche Forschung und eine ganz bestimmte „Dogmatik", die oft allzu sehr an den optimistischen
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Humanismus der Zeit gebunden war. Ein gutes Beispiel ist Albrecht Ritsehl, der große Theologe des späten neunzehnten Jahrhunderts, dessen Verständnis des Christentums immanent und diesseitig war, sofern das Reich Gottes ihm das Reich gegenseitiger Liebe zwischen den Menschen bedeutete. In den letzten dreißig Jahren hat sich ein großer Wandel vollzogen. Es ist dies nicht eine Rückkehr zu der alten ungeschichtlichen Betrachtung der Bibel, sondern die Wendung zu einem neuen biblischen Realismus. Die Gelehrten der gegenwärtigen theologischen Ära sind in ihrer wissenschaftlichen Arbeit nicht weniger sorgfältig als ihre Vorgänger. Aber ihr Verständnis ihrer Aufgabe hat sich geweitet. Ihr Ziel ist, zunächst durch wissenschaftliches Studium die Hauptgedanken des Alten und des Neuen Testaments zu ermitteln und dann mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Fülle biblischer Religion zu entfalten, der biblischen Offenbarung in ihrer Größe und Transzendenz Ausdruck zu verschaffen. Zunächst müssen wir die Aufmerksamkeit auf die wichtige Tatsache lenken, daß die römisch-katholische Kirche nach einer langen Periode großer Zurückhaltung jetzt die geschichtliche Betrachtung der Bibel anerkennt. Im Jahre 1893 ermunterte die Enzyklika Pro videntissimus Deus Leos XIII. zum Studium der Bibel. Aber es wurde streng vor den modernen wissenschaftlichen Methoden der Bibelforschung gewarnt. Fünfzig Jahre später schickte Pius XII. im Jahre 1943 die Enzyklika D i v i n o a f f l a n t e Spiritu aus, in der der Papst das wissenschaftliche Studium der Bibel warm empfiehlt und konkrete und positive Weisungen für dieses Studium gibt: 1. Der Urtext, und keine noch so autoritative Übersetzung, muß die Grundlage sein. Darum ist Textkritik notwendig. 2. Die erste Aufgabe besteht in der Feststellung des geschichtlichen Sinnes, der Wortbedeutung des Textes. 3. Es ist von großer Bedeutung, die literarischen Formen des antiken Ostens zu studieren, weil sich die biblischen Verfasser nicht immer der gleichen Formen bedienen, wie wir sie heute verwenden. Dieser Grundsatz wird durch einen ausdrücklichen Hinweis auf geschichtliche Studien illustriert. „In vielen Fällen, in denen den heiligen Verfassern irgendeine geschichtliche Ungenauigkeit vorgeworfen wird . . ., zeigt sich, daß es sich dabei um nichts anderes handelt als um die übliche Ausdrucksweise, die in der Antike in Gebrauch war."
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Zweitens müssen wir feststellen, daß die Gelehrten der östlich-orthodoxen Kirchen jetzt das Alte und das Neue Testament in ihrem historischen Zusammenhang studieren. Das Studium der Bibel nimmt in der Erziehung der Gläubigen breiteren Raum ein. Bischof Cassian Besobrasoff, der Rektor des Orthodoxen Theologischen Instituts in Paris, hat ein zweibändiges Werk über Christus und die erste christliche Generation veröffentlicht (Paris 1950, russisch), in dem die moderne wissenschaftliche geschichtliche Forschung berücksichtigt ist. Professor Vellas in Athen hat Aufsätze auf dem Gebiet biblischer Studien geschrieben. (Bibelkritik und kirchliche Autorität, in Procès verbaux du 1er Congrès des théologiens Orthodoxes, Athen 1939.) Man darf aus diesen Tatsachen die Hoffnung entnehmen, daß römisch-katholische und nicht-römische Erklärer, Theologen der orthodoxen Kirchen und Theologen des Westens sich im Studium der Bibel zusammenfinden. Es ist bereits ganz deutlich zu sehen, daß römisch-katholische und nichtrömische Gelehrte in ihrer Exegese oft übereinstimmen. Wir bitten, drei kennzeichnende Tatsachen im Räume der neueren biblischen Forschung zu beachten: a) Das Studium der Heilsgeschichte, b) die Betonung der Eschatologie, und c) die Wiederentdeckung der Lehre von der Kirche. a) H e i l s g e s c h i c h t e Dieses Wort ist ein von einigen Theologen verwandter handlicher Begriff zur Kennzeichnung des Gegenstandes neuerer Erörterungen über eine für das Verständnis der Religion des Alten wie des Neuen Testaments wesentliche Tatsache. Diese charakteristische Tatsache ist der Glaube, daß Gott Seinen Willen in bestimmten geschichtlichen Ereignissen der Vergangenheit entfaltet und damit Seine Heilsabsicht für die Zukunft offenbart hat. Die folgende Darstellung mag dazu dienen, dieses Thema in Bezug zu historischen Studien zu setzen, wie sie in der modernen Welt betrieben werden. Das Studium der Geschichte umschließt nicht nur die Erforschung und Erschließung von Tatsachen, sondern ihre Zusammenordnung an Hand eines bestimmten Gesamtbildes, die Rekonstruktion menschlichen Geschehens entsprechend den von dem Historiker anerkannten Maßstäben. E r wird sich um das Verständnis der inneren Motive der Menschen be-
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mühen, mit denen er sich beschäftigt. Er muß mit verständnisvoller Phantasie arbeiten und in seiner Arbeit etwas von sich selbst geben. So wird seine Geschichtsschreibung seine eigenen Urteilsmaßstäbe, die Gemeinschaft, in der er lebt, und seine eigene Zeit widerspiegeln. In unserem chaotischen Zeitalter ist es bemerkenswert, daß die Geschichtsschreibung die Tendenz hat, die Überzeugung von der Relativität alles Geschichtsstudiums zum Ausdruck gelangen zu lassen. Th. Lessing scheint in einem solchen Zeitalter recht zu haben, wenn er erklärt, daß Geschichte „die Sinngebung des Sinnlosen" ist. Wer kann uns den allumfassenden Sinn des Geschehens sagen, das in seiner Gesamtheit die Geschichte der Menschheit darstellt? Nur der Eine, der über allem ist, nicht Partei, keinen Vorurteilen unterworfen. Wenn es diesen Einen, den Gott über der Geschichte, gibt, so erhebt sich die Frage: Ist eine Begegnung mit ihm möglich? Diese Begegnung nennt der Christ Offenbarung. Sie geschieht an dem Punkt, wo die „letzten Dinge", das Ziel, dem Gott sein Volk entgegenführt, den Menschen anrühren; sie ist der Punkt, wo Eschatologie und Geschichtsforschung aufeinandertreffen. In dieser Begegnung mit Gott ist der Mensch notwendigerweise rezeptiv, nicht mehr unabhängig, nicht mehr der Mittelpunkt aller Dinge, und doch in vollem Umfang aktiv, vollkommen wach. b) Die B e t o n u n g der E s c h a t o l o g i e In der Geschichte der christlichen Lehre ist immer Raum gewesen für die „vier letzten Dinge", Tod, Gericht, Himmel und Hölle. Aber das Studium der letzten Dinge (ta e s c h a t a ) ist nun unter eine neue Perspektive getreten und wird in dem neuen Lichte betrieben, das vom Worte Gottes herkommt. Die Lehre Jesu selbst ist entscheidend bezogen auf das göttliche Ziel der Geschichte. Theologen vieler verschiedener Kirchen erkennen jetzt, daß die künftige Herrschaft Gottes, das kommende Reich, von Jesus als in einem gewissen Sinne gegenwärtig betrachtet wurde. Die Verfasser des Neuen Testaments malen die Herrschaft Gottes, offenbart in Seinen rettenden Taten und Worten, Seinem Leiden und Sterben, Seiner Auferstehung und Auffahrt zur rechten Hand Gottes, als etwas hier und jetzt Gegenwärtiges. Das Reich hat in Ihm Gestalt gewonnen, aber wir sehen noch nicht, daß Ihm alle Dinge
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unterworfen sind; das Ziel ist Sein Kommen, wenn Gott in Ihm alles zurechtbringen wird. Eschatologie und Geschichte gehören zusammen. Wenn man die Geschichte im Licht der Worte der Propheten und im Licht der apostolischen Hoffnung auf einen neuen Äon sieht, dann erscheint sie als ein dualistischer Kampf, in dem Gott der Herr gegen satanische, Seiner Herrschaft widerstrebende Mächte kämpft. Das Reich Gottes, wie es Jesus predigte, und wie es in Seinem Leben, Tod und Auferstehung machtvoll offenbar wurde, ist Gottes Sieg über die Sünde, den Tod und alle anderen widergöttlichen Mächte, ein Sieg, auf Golgatha gewonnen, der Welt noch verborgen, am Ende der Zeiten aber in Christi glorreicher Wiederkehr vor aller Augen, wenn Gott Seine Welt und ihre Geschichte zu Ihm selbst zurückbringt. Dies ist die christliche Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Geschichte, über die von den Historikern und Philosophen unserer Tage so heftig gestritten wird. c) Ein weiteres bemerkenswertes Ergebnis der heutigen Rückwendung zu biblischer Theologie ist die W i e d e r e n t d e c k u n g der Idee der K i r c h e gewesen*). Es besteht ein tiefer Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch des Individualismus in unseren Tagen und der Wiederentdeckung der Kirche als einer von Christus im Heiligen Geiste regierten Gemeinschaft von Menschen. Dieses Verlangen nach Gemeinschaft trifft providentiell mit einem neuen Verständnis für den neutestamentlichen Gedanken der Kirche zusammen. Nach der neuen Exegese des Neuen Testaments ist die Kirche das Volk Gottes, das wahre Israel, beauftragt mit der Predigt des apostolischen Kerygmas, durch ihr Predigen und ihre Sakramente des Herrn Seligpreisungen, Verheißungen und Befehle weitergebend, im Besitz der Gaben des Geistes und in der Erwartung der Erfüllung des neuen Lebens durch das Kommen Christi bei der schließlichen Vollendung der Geschichte. Die Kirche trägt eschatologischen Charakter wie das Volk Gottes auf seiner Wanderung der künftigen Gottesherrschaft entgegen. Sie ist die kämpfende Kirche (in via) auf ihrem Marsch der triumphierenden Kirche in der künftigen Welt entgegen. Gleichzeitig trägt die Kirche in dem Sinne sakra* ) Dies wurde bereits in dem Buch des schwedischen Theologen O l o f Linton „ D a s Problem der Urkirche in der neueren T h e o l o g i e " , Uppsala 1952, S. 1 5 2 — 1 5 2 , klar aufgezeigt.
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mentalen Charakter, daß das kommende Reich Gottes in und durch menschliche Worte und leibliches Handeln — Waschen mit Wasser, ein Mahl von Brot und Wein, von deutenden Worten begleitet — auch hier und jetzt gegenwärtig ist. So sind der eschatologische und sakramentale Charakter der Kirche ganz untrennbar. Die Sakramente sowohl wie die Predigt fordern immer Glauben und persönliche Hingabe. Die Lehre des Neuen Testaments ist ebenso weit davon entfernt, die Mittel der Gnade zu materialisieren wie zu spiritualisieren. Auch viele andere Probleme sind in der neutestamentlichen Exegese aufgegriffen worden, so zum Beispiel die Frage nach der Kirche als koinonia, nach dem Amt der Apostel, dem Amt in der Kirche, dem Verhältnis zwischen „Ereignis" und „Institution", zwischen der Kirche und dem Reich Gottes, und viele andere. Natürlich gibt es heute in der neutestamentlichen Wissenschaft sehr mannigfaltige Methoden, aber die „biblische Theologie" hat in den letzten Jahren eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Erkenntnis geschaffen, die die Gelehrten von lange getrennten Kirchen in den Stand setzen, mit einem neuen Maße gegenseitigen Verstehens zueinander zu sprechen*). In der Rückwendung zu den biblischen Quellen kommen die Christen ihrem gemeinsamen Herrn näher und so auch näher zueinander. ß. Der Konfessionalismus In den letzten Jahren haben Angehörige mancher kirchlichen Traditionen ihre eigenen geschichtlichen Wurzeln wiederentdeckt. Das Ergebnis ist bei einer Reihe von Konfessionen das gewesen, daß man der eigenen Besonderheit stärker inne wurde. Zuweilen wurde die Entdeckung unter dem Zwang der ökumenischen Begegnung gemacht. Wir kamen (wie in Lausanne und Edinburgh) zusammen, um einander kennenzulernen, und fanden dann, daß wir uns oft selbst nicht kannten. Erst wenn wir dazu aufgefordert wurden, Gründe für unser Sonderdasein anzugeben, entdeckten wir die besonderen Lehren unserer Väter im Glauben, deren Kraft und Tiefe wir nicht beachtet hätten, hätte man uns nicht so herausgefordert. Zuweilen geschah die gleiche Entdeckung, wenn diese oder jene Kirche dem Angriff einer feindlichen *) Wir möchten besonders auf ein von der Studienabteilung des Ökumenischen Rates unter dem Titel „Richtlinien für die Auslegung der Heiligen Schrift" herausgegebenes Heft hinweisen.
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säkularen Welt zu begegnen hatte. Die Kämpfe des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts wurden plötzlich gegenwartsnah. Besonders in den protestantischen Kirchen Europas fand man, daß die Werke der großen Reformatoren unsere Waffenkammer darstellen. Ihre Waffen erwiesen sich in einzigartiger Weise als zeitgemäß. Das Ergebnis war ein wachsender Konfessionalismus oder doch ein Wissen um unsere spezifische Tradition, die sich unter anderem in einer stärkeren Förderung des weltweiten Zusammenschlusses der Hauptkirchentümer Ausdruck verschafften. Es mag als widerspruchsvoll erscheinen, wenn wir dies als eine der heute auf Einheit ausgerichteten theologischen Entwicklungen aufzählen. In der Tat braucht es sich nicht so auszuwirken. Der Konfessionalismus kann ein kirchliches Widerspiel zu nationalem Isolationismus werden und sogar seine eigene Art von Imperialismus entwickeln. Paradoxerweise hat jedoch diese Entwicklung in der ökumenischen Erfahrung die kirchliche Einheit eher gefördert als verhindert. So wie die Angehörigen jeder Konfession gelernt haben, ihre eigene Tradition ernst zu nehmen, so haben sie sich auch bereit gezeigt, mit neuer Achtung und Aufmerksamkeit auf andere zu hören, die ihrerseits ihre andersartige Tradition ernst nehmen. Das hat auf beiden Seiten je und dann bedeutet, daß man der Realität der unterbrochenen Debatte früherer Jahrhunderte im Vergleich mit den durch die Aufklärung in die christliche Theologie eingetragenen und im neunzehnten Jahrhundert diskutierten Fragen zweiter Ordnung inne wurde. Die Reaktion auf den Liberalismus brachte die Disputanten auf dem Boden einer gemeinsamen Abneigung zusammen; sie waren in der Lage, miteinander in der Sprache einer anderen Zeit, oft für andere Angehörige ihrer verschiedenen Kirchen unverständlich oder abgeschmackt zu diskutieren. Aber damit, daß man so schnell mit dem Liberalismus fertig wurde, ist es noch nicht getan. Es gibt manche von der konfessionellen Theologie behandelten Aufgaben, für die es einer nüchterneren Erfassung der Gewinne der liberalen Epoche bedarf,— und trotzdem sprechen die „Konfessionellen" bereitwillig miteinander. Was wir oben über biblische Theologie sagten, ist dafür ein Beispiel, denn es ist überraschend, daß viele der führenden biblischen Theologen zugleich hervorragende Führer der „konfessionalistischen" Erweckung in ihren Konfessionen sind.
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Vielleicht liegt der Hauptgrund für diese Sympathie zwischen Rivalen darin, daß der Konfessionalismus in erster Linie eine Anerkennung der zentralen Bedeutung des Dogmas im Leben der Kirche darstellt. Ein Dogmenbewußter kann den anderen respektieren, während beide mißtrauisch auf den sehen, den sie in dem Verdacht haben, daß er seine Anschauung von der Kirche auf reine Zweckmäßigkeit, auf Sentiments oder säkulare Mode gründet. Weil er sein eigenes Dogma ernst nimmt, anerkennt er das Recht seines Gegners, auch sein Dogma ernst genommen zu sehen. Wenn eine Kirche der anderen die Annahme einer Anschauung deshalb aufdrängt, nicht weil sie einer Konvention entspricht, sondern weil sie wahr ist, dann mag es unmöglich erscheinen übereinzukommen und ein Zusammenstoß Kopf gegen Kopf unvermeidlich. Doch erkennen beide Seiten bei der anderen an, daß damit eine Kategorie beschworen wird, die, einmal anerkannt, zwingenden Charakter trägt. Aber es ist diese Möglichkeit, neue Zwänge solcher Art zu erkennen, die es zu einer entscheidenden Sache macht, daß der Konfessionalismus im Rahmen der Ökumene bleibt. Isoliert er sich, so verhärtet sich der Konfessionalismus unvermeidlich zur Ausschließlichkeit, denn Teileinsichten werden dann zu nicht mehr in Frage gestellten Absolutheiten. In der ökumenischen Bewegung ist das Wesen der Teilnahme an ihr das anerkannte Recht der Kirchen, einander in der Liebe zu dem gemeinsamen Herrn, der selbst allein die Wahrheit ist, zu befragen. In der ökumenischen Bewegung bezeugt jede Konfession kompromißlos das, was sie von Gott empfangen hat. Gleichzeitig aber werden ihre Vertreter anerkennen, daß Er auch zu anderen mit einer Wahrheit gesprochen hat, die Er auch uns zu hören heißt. Es ist dieser „Konfessionalismus" im Bewußtsein ökumenischer Verbundenheit, der uns als eine gegenwärtige Entwicklung im theologischen Raum mit einer Verheißung letzten, wenn auch nicht unmittelbaren, tieferen gegenseitigen Verstehens erscheint. 4. Die
Philosophie
Zunächst möchten wir die allgemeine Bemerkung machen, daß die Kategorien der Theologie jeder Zeit durch die Kategorien der Philosophie beeinflußt werden. Oft wissen das die Die Kirche
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Beteiligten nicht. In der Reformationszeit waren die Disputierenden auf beiden Seiten mehr als sie ahnten in den Ideen und Denkformen der Philosophie des späten Mittelalters befangen. Die theologischen Formeln der östlichen Orthodoxie waren unvermeidlich Anleihen beim Piatonismus. Die idealistische Philosophie beeinflußte wiederum auf dem Wege über die deutsche Theologie des neunzehnten Jahrhunderts einen großen Teil der Theologie jener Epoche. Es kommt ein Punkt, an dem eine bestimmte Periode ihrer unbewußten Voraussetzungen inne wird, so wie ein Mann plötzlich begreift, daß er eine Brille mit bestimmter Färbung trägt. Und die Kritik der philosophischen Kategorien, die sie verwandt hat, wird in bestimmten Augenblicken eine vordringliche Aufgabe der Theologie, insbesondere die Aufgabe einer Kritik im Lichte des biblischen Verständnisses von Gott, Mensch und Natur. Wenn die Theologie auf das Ganze menschlicher Erkenntnis bezogen sein soll, wird dann nicht irgendeine Verwendung philosophischer Kategorien unvermeidlich? Aus diesem Grund richten wir hier die Aufmerksamkeit auf zwei Seiten der Philosophie der Gegenwart, die unsere Formulierung der Lehre von der Kirche mitbestimmen können, bisher jedoch die heutige Theologie noch nicht beeinflußt zu haben scheinen. Die erste besteht für uns in dem von dem verstorbenen Professor R. G. Collingwood in seinem Buch „The Idea of Nature" (1945) aufgeworfenen Problem. Er erörtert die moderne Kosmologie, wie die Naturwissenschaft sie für uns entdeckt hat, und die Bedeutung der Tatsache, daß in der Entwicklung des Kosmos fortwährend neue Dinge auftauchen, für die traditionelle Darstellung der Lehre von der Schöpfung. Die zweite ist das Aufkommen der Philosophie des Existentialismus. Wir halten es nicht für die Aufgabe unseres Ausschusses, diese neuen Wege zur Lösung alter Probleme zu erörtern, aber der Leser wird in zwei eigens für unseren Ausschuß geschriebenen Anhängen*) eine Wegleitung finden**). *) Siehe S. 7 0 f r .
* * ) Über den Existentialismus vgl. man auch Philip Mairet's Einführung zu seiner Übersetzung von J . P. Sartre „Existentialism and Humanism" (1948), auch „Existentialism and Christian Thought" von Roger Troisfontaines, S. J . (1950).
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Die theologische Bedeutung des Ökumenischen Rates „Christus hat uns zu Seinem Eigentum gemacht, und in Ihm ist keine Zertrennung. Wo wir Ihn suchen, finden wir einander. Hier in Amsterdam haben wir uns von Ihm und damit voneinander aufs neue in Pflicht nehmen lassen, und deshalb haben wir diesen Ökumenischen Rat der Kirchen gebildet. Wir haben den festen Willen, beieinander zu bleiben." So heißt es in einem Abschnitt der von der Amsterdamer Weltkonferenz „an alle, die Jesus Christus angehören, und alle, die auf Sein Wort warten" gerichteten Botschaft. Es sind dies edle und herzbewegende Worte, aber das befreit uns nicht von der Verpflichtung, danach zu fragen, was sich aus ihnen ergibt. Eine unserer wesentlichen Aufgaben besteht gegenwärtig darin, den Kirchen — ohne die es ja keinen Ökumenischen Rat gibt — zu sagen, sie hätten immer ernster und konkreter die Konsequenzen der Tatsache ins Auge zu fassen, daß sie sich zusammengetan haben, um diesen Ökumenischen Rat zu bilden, daß sie die Erklärung abgegeben haben: „Wir haben den festen Willen, beieinander zu bleiben." Das hat vor allem dann Gewicht, wenn der ökumenische Rat mit Fragen des Glaubens und der Verfassung befaßt ist. 1. Der Ökumenische Rat und die Einheit der Kirche Eine der erklärten Funktionen des Ökumenischen Rates soll darin bestehen, „die Arbeit der beiden ökumenischen Bewegungen für Glauben und Kirchenverfassung und für praktisches Christentum fortzuführen" (Verfassung des Ökumenisches Rates III, 1). Zu den erklärten Aufgaben von „Glauben und Kirchenverfassung" aber gehört es: a) Die Unterschiede im Glauben und in der Verfassung der Kirchen, die ihrer vollen Einheit im Wege stehen, und die möglichen Wege zur Überwindung dieser Unterschiede gründlich zu untersuchen. Diese Aufgabe soll durch die Arbeit noch zu schaffender theologischer Ausschüsse durchgeführt werden, die den Weltkonferenzen für Glauben und Kirchenverfassung das entsprechende Material vorlegen werden. 4»
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b) Das wesentliche Einssein der Kirche Christi und die Verpflichtung der Kirchen zum Sichtbarwerdenlassen dieser Einheit zu verkündigen: Sie sollen als Glieder des einen Leibes Christi nicht nur miteinander arbeiten, sondern auch miteinander leben und die Kirchen über alles Geschehen unterrichtet halten, das sich auf die Einigung der Kirchen in allen Teilen der Welt bezieht (Protokoll der Ausschußtagung von Baarn 1948).
Dies sind Verfassungsbestimmungen, und hier erwartet niemand theologische Deutungen. Aber hinter jedem derartigen Satz der Verfassung verbergen sich theologische Voraussetzungen, die zur gegebenen Zeit und am gegebenen Orte ausgesprochen werden müssen. Ein Studium „der Unterschiede in Glauben und Kirchenverfassung, die ihrer vollen Einheit im Wege stehen", ist auch der richtige Ort für eine Prüfung des theologischen Sinnes, den das jenes Studium betreibende Werkzeug besitzt. Doch bevor wir irgendeinen Schritt weiter tun, tun wir gut, uns daran zu erinnern, daß zu genaue Definitionen genau so wirkliche Gefahren haben, wie sie bei zu großer Unbestimmtheit auftreten. Nicht umsonst haben sich die Kirchen immer von einer sehr genauen Definition des Wesens der Kirche zurückgehalten. Die Kirche ist jenes „wunderbare und heilige Mysterium", das mit menschlichen Kategorien nicht angemessen erfaßt werden kann. Genau so wie die Kirche in früheren Zeiten gezwungen war, den Versuch einer Definition anderer, gleichfalls jenseits menschlicher Kategorien liegender Mysterien zu unternehmen, so ist es auch heute, wo sie in dem gleichen Augenblick von falschen Gemeinschaftslehren nichtkirchlicher Arbeit bedroht wird, in dem sie auf neue Weise ihrer inneren Spaltungen bewußt wird, und wo sich darum genauere Definitionen der Kirche als notwendig erweisen mögen. In dem Maße, in dem dies aber geschieht, wird es nötig sein, die Bedeutung des Ortes zu bestimmen, an dem die einander entgegenstehenden Lehren von der Kirche aufeinandertreffen. Der Ausschuß für Glauben und Verfassung gehört unabdingbar zum Ökumenischen Rat. Wir vergessen nicht, daß der Rat eine andere Verantwortung hat als unser Ausschuß; ja, wir freuen uns, daß das Bemühen um die Einheit und Erneuerung der Kirche nicht gegenüber einem gemeinsamen
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christlichen Zeugnis zu den sozialen Fragen, der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der evangelistischen Verkündigung, dem Dienst an den Flüchtlingen, der Sorge um die Einordnung der Jugend, der Laien oder der Frauen in das Gesamtleben der Kirche isoliert werden kann. Ebenso bejahen wir die Tatsache, daß der Ökumenische Rat mit anderen Körperschaften (wie dem Internationalen Missionsrat) in einer umfassenderen ökumenischen Bewegung zusammensteht, die ihrerseits einen Ausschnitt aus der vom Heiligen Geist getriebenen, aller Organisation spottenden und sichtbare Grenzen überspannenden ökumenischen Bewegung des Heiligen Geistes darstellt. Mit dem Wissen um diese Dinge konzentrieren wir uns jetzt auf eine Seite der Sache, nämlich die Beziehung des Ökumenischen Rates zu dem Ringen um die Einheit der Kirche. 2. Der Ökumenische Rat ist nicht die geeinte Kirche Der Schluß, daß der Ökumenische Rat dies sein wolle, wird von Freunden und von Verächtern des Ökumenischen Rates so oft vollzogen, daß es nötig ist, einen eigenen Abschnitt einzufügen, um ihn gegenstandslos zu machen. Wir brauchen uns zu dem Zweck nur auf folgende Dinge zu berufen: a) Die Verfassung des Ökumenischen Rates (§§ i, 2, 3). b) Die bereits zitierte Amsterdamer Erklärung über die Autorität des Ökumenischen Rates. c) Die ausdrückliche Zurückweisung jedes derartigen Gedankens in dem Bericht, den der Generalsekretär der Vollversammlung erstattete: „Wir sind ein Rat von Kirchen, nicht der Rat der einen ungeteilten Kirche. Unser Name zeigt unsere Schwäche und unsere Beschämung vor Gott an, denn es kann nur eine Kirche Christi auf Erden geben, und letzten Endes g i b t es sie. Unsere Pluralität ist in tiefstem Sinne unnormal. Aber unser Name zeigt auch an, daß wir uns dieser Lage bewußt sind, daß wir sie nicht einfach hinnehmen, daß wir vorwärtsschreiten wollen auf die Manifestation der einen heiligen Kirche hin. Unser Rat stellt deshalb eine Nodösung dar •— eine Etappe auf dem Wege, eine Körperschaft, die zwischen der Zeit der vollständigen Isolierung der Kirchen voneinander und der Zeit — auf Erden oder im Himmel —
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lebt, in der es sichtbar wahr werden wird, daß es nur eine Herde und einen Hirten gibt" (Amsterdam-Bericht, S. 32).
Theologische Voraussetzungen Wir müssen uns leider auf eine Reihe von knapp erläuterten Sätzen beschränken, die der weiteren Diskussion als Material dienen können. Wie wir bereits angedeutet haben, schließt das Reden und Handeln des Rates bereits gewisse theologische Voraussetzungen ein. Aber es ist Sache der Kirchen, selbst zu sagen, ob sie sich klar darüber waren, daß Voraussetzungen dieser Art gemacht wurden, und ob sie bereit sind, sie anzunehmen, wenn sie klar ausgesprochen werden. a) Der Rat setzt den Gedanken voraus, daß Gott eine größere Einheit zwischen den Kirchen will als die gegenwärtig vorhandene. Es mag Mitgliedskirchen des Rates geben, die nicht der Meinung sind, daß Gott irgendeine engere Einheit als die wünsche, die schon jetzt auf dem Wege über die nun von dem Rat gewährleistete Zusammenarbeit möglich ist. Nichtsdestoweniger sind sie Glieder einer Körperschaft, die sich dazu verpflichtet hat, das „wesentliche Eins-Sein der Kirche Christi und die Verpflichtung der Kirchen zur Bekundung dieser Einheit zu verkündigen"*). In der gesamten Arbeit für Glauben und Kirchenverfassung hat sich mit völliger Klarheit gezeigt, daß die Kirchen unter der „wesenhaften Einheit der Kirche" sehr verschiedene Dinge verstehen. Von einigen wird die Einheit gänzlich oder weithin als voller Konsensus im Bereich der Lehre verstanden; andere verstehen sie in erster Linie als auf gemeinsamer Ordnung der Kirche beruhende sakramentale Gemeinschaft; wiederum andere halten beides für unentbehrlich; und andere würden nur eine Einheit in gewissen Grundfragen des Glaubens und der Verfassung wünschen; schließlich sind da die, welche die eine Kirche ausschließlich als universale geistige *) Die Verfassung des Rates -wurde von der Vollversammlung angenommen; diese spricht von „der Fortführung der Arbeit für Glauben und Kirchenverfassung", während die Verfassung der Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung nach der Autorisierung seitens des Zentral-Ausschusses des ökumenischen Rates bei seiner Sitzung vom 5. und 6. September 1948 von dem Ausschuß für Glauben und Kirchenverfassung am 8. September 1948 gebilligt wurde.
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Gemeinschaft verstehen oder dafür halten, daß sichtbare Einheit unwesentlich oder sogar unerwünscht ist. Der Ökumenische Rat bekennt sich zu keiner dieser Anschauungen, aber er ist der Raum, in dem diese in hoffentlich fruchtbare Beziehungen zueinander treten. Obwohl einzelne Sprecher, unter ihnen auch verantwortliche Persönlichkeiten, nur schwer eine Sprache vermeiden können, die in Wirklichkeit ihre eigene konfessionelle Tradition oder ihre persönliche Überzeugung im Blick auf das Wesen der kirchlichen Einheit verrät, haben die offiziellen Dokumente des Rates in keiner Weise die Absicht, sich zugunsten einer bestimmten Auffassung von kirchlicher Einheit unter Ausschließung anderer einzusetzen. Es ist wichtig, scharf zwischen dem zu unterscheiden, was der Rat über sich selbst, und was er über die Kirche sagt. So zum Beispiel bezieht sich der Satz (Amsterdam-Bericht S. 168), daß der Rat „jeden Gedanken daran ablehne, eine einzige vereinheitlichte Kirchenorganisation zu werden", auf den Rat selbst und läßt die Frage gänzlich offen, ob die Kirche jemals „von einer zentralisierten verwaltungsmäßigen Autorität regiert werden solle". b) Es gehört zu den Voraussetzungen des Rates, daß jede Anschauung über das Wesen der kirchlichen Einheit, die wir kennen, in ihm einen legitimen Platz hat, und daß er der Ort ist, wo schlechterdings jede dieser Anschauungen von der Einheit der Kirche jeder anderen lebendig gegenübertreten kann. Der Rat nimmt gleichfalls an, daß Gespräch, Zusammenarbeit und gemeinsames Zeugnis der Kirchen auf der gemeinsamen Anerkennung des Satzes ruhen, daß Christus das göttliche Haupt des Leibes ist. Die Grundlage des Ökumenischen Rates ist die Anerkennung der zentralen Tatsache, daß „niemand einen anderen Grund legen kann, als der gelegt ist, nämlich Jesus Christus". Es ist dies der Ausdruck der Uberzeugung, daß der Herr der Kirche der unter uns gegenwärtige Gott ist, der nicht aufhört, Seine Kinder zu sammeln und selbst Seine Kirche zu bauen. Die orthodoxen Delegierten erklärten 1957 in Edinburg: „Ungeachtet all unserer Unterschiede ist unser gemeinsamer Meister und Herr einer.. . Jesus Christus, der uns zu immer engerer Zusammenarbeit am Bau des Leibes Christi führen wird." Die Tatsache, daß Christus das Haupt Seines Volkes ist, zwingt alle, die Ihn
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anerkennen, in wirkliche und enge Beziehungen zueinander hinein, selbst wenn sie in wichtigen Punkten auseinandergehen. c) Zu den stillen Voraussetzungen des Rates gehört sodann die Überzeugung, daß die Verheißung Christi noch immer gilt, Er werde bei denen sein, die in Seinem Namen zusammenkommen, und werde denen den Heiligen Geist schenken, die ihn vom Vater begehren. Das ist eine entscheidende Voraussetzung. Es gibt keinen Grund, warum die, die der Überzeugung sind, Gott habe gerade ihrer Kirche ein für allemal die Fülle der katholischen Kirche anvertraut, nicht dem Rate als dem Berührungspunkte angehören dürften, an dem der Heilige Geist andere von der Wahrheit überzeugen wird, die er ihnen bereits offenbart hat. Dasselbe gilt für jene, die der Überzeugung sind, die Einheit der Kirche sei ganz und gar eine „Einheit im Geiste", vor der alle Unterschiede im Verständnis des Sakraments oder des Amtes ganz bedeutungslos werden. Das, was von allen einzig gefordert wird, ist das Vertrauen darauf, daß alle, die anderen ebenso wie wir selbst, es aufrichtig meinen, wenn sie Jesus den Herrn nennen. Unsere einzige Verantwortung ist der gläubige Gehorsam gegen Ihn. Deshalb ist die einzige unbedingte Voraussetzung des Ökumenischen Rates die, daß er „eine Gemeinschaft von Kirchen ist, die unseren Herrn Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen". d) Die Mitgliedskirchen erkennen an, daß die Frage nach den Grenzen der Zugehörigkeit zur allgemeinen Kirche weiterer Klärung bedarf. Sowohl die römisch-katholischen wie die orthodoxen Theologen erkennen jeder in seiner Weise an, daß auch nicht mit der sichtbaren Kirche Verbundene das Heil erlangen können. Diese Erkenntnis findet zum Beispiel in der Tatsache ihren Ausdruck, daß die christlichen Kirchen mit sehr geringen Ausnahmen die in anderen Kirchen gespendete Taufe als gültig anerkennen. Es stellt sich die Frage: Welche Folgerungen müssen aus dieser Lehre gezogen werden? Die stille Voraussetzung ist die, daß jede Kirche die positive Aufgabe hat, die Gemeinschaft mit allen denen zu suchen, die, wiewohl nicht Glieder des gleichen sichtbaren Leibes, doch als Kirchen zusammengehören, die unseren Herrn Jesus Christus als Gott und Heiland anerkennen.
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e) Der Rat setzt voraus, die Zugehörigkeit zu ihm bedeute nicht, daß jede Kirche die anderen Gliedkirchen als Kirchen im vollen Sinne des Wortes ansehen muß. Es gibt Unterschiede in Glauben und Verfassung, aber die Kirchen erkennen sich gegenseitig als im Dienste des einen Herrn stehend an, und sie wünschen ihre Unterschiede in gegenseitiger Achtung zu klären, darauf vertrauend, daß sie dann durch den Heiligen Geist zur Erkenntnis der vollen Wahrheit und der Offenbarung ihrer Einheit in Christus geführt werden. f ) Der Rat setzt voraus, daß seine Gliedkirchen in innere Beziehungen zueinander treten, mit deren Hilfe sie voneinander zu lernen und einander dazu zu helfen suchen, daß der Leib Christi erbaut und das Leben der Kirchen erneuert werden möge. Es ist gemeinsame Lehre der Kirchen, daß die Kirche als Tempel Gottes gleichzeitig ein Haus ist, das gebaut wurde, und ein solches, das gebaut wird. Die Kirche hat deshalb Seiten, die jedem Bau wesenseigentümlich sind und nicht geändert werden können. Sie hat aber andere Seiten, die dem Wandel unterworfen sind. Darum bedarf das Leben der Kirche, wie es in ihrem Zeugnis gegenüber den eigenen Gliedern und der Welt zum Ausdruck kommt, ständiger Erneuerung. In diesem Bereich können und sollen die Kirchen einander durch wechselseitigen Austausch von Gedankenarbeit und Erfahrung helfen. Hier liegt die Bedeutung der Studienarbeit des Ökumenischen Rates und mancher anderen Stücke seiner Tätigkeit. Niemand hat die Absicht, den Kirchen eine bestimmte Art des Denkens oder der Lebensgestaltung aufzuzwingen, aber was einer oder vielen Kirchen an Erkenntnis geschenkt worden ist, das soll allen Kirchen um der Sache der „Erbauung des Leibes Christi" willen zugänglich gemacht werden. VI.
Unsere zukünftigen Aufgaben j. Voraussetzungen der ökumenischen Aufgabe Wir bekennen uns erneut zu der Tatsache unserer Einheit in Christus und erkennen sie in Demut als uns von Gott gegeben an. Die Erkenntnis dieser Einheit ist uns auf dem Wege
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über die Begegnung von Konfession mit Konfession und von Christen mit Christen in Arbeit, Gottesdienst, Missionstätigkeit und theologischem Gespräch gekommen. Die Aufgabe von „Glaube und Verfassung" hat nicht darin bestanden, diese Einheit zu schaffen, sondern ihr zuchtvollen theologischen Ausdruck zu verleihen und den Widerspruch zwischen jener gottgegebenen Einheit und der mit unserem kirchlichen Sonderleben und unseren Sonderordnungen gesetzten Uneinigkeit aufzulösen. Die Arbeit von „Glaube und Verfassung" hat auf neue Weise den weitreichenden Charakter unserer Übereinstimmungen enthüllt, über die wir dankbar in Kapitel I berichtet haben. Die Arbeit von „Glaube und Verfassung" wird darin bestehen, fort und fort nach der einen Wahrheit in Christus zu suchen und eifrig die Verwirklichung vollkommenerer Einheit um der Aufgaben willen zu verfolgen, vor die sich die heilige Kirche Christi heute gestellt sieht. Es muß jedoch erkannt werden, daß, solange die Kirche in via und nicht inpatria, kämpfende und noch nicht triumphierende Kirche ist, unser Verständnis und unsere Verwirklichung der Wahrheit oder der Liebe Stückwerk und unvollkommen sein wird. Diese Unvollkommenheit muß in dem Licht gesehen werden, das uns im Leiden und Kreuz Christi scheint. Angesichts des Ärgernisses unserer Uneinigkeit muß der Christ willig seinen Anteil an dem Leiden Christi in seinem zerbrochenen Leibe auf sich nehmen. Nur so wird die Kraft der Auferstehung durch neue Einheit in Christus in der Kirche offenbar werden. Bei dem Suchen nach der Wahrheit jenseits unserer Gegensätze erkennen wir die Autorität der Bibel für unser Verständnis des Wesens der Kirche an. Dies ist so wichtig, daß ein erster Abschnitt dieses Kapitels den neuen, durch die geschichtliche Arbeit der Gegenwart eröffneten Möglichkeiten gewicmet sein wird. Was sich dabei ergibt, bedeutet ein scharfes Urteil über die Unzulänglichkeit gewisser Positionen, die wir einst als endgültig ansahen. Bei der ökumenischen Aufgabe bekennen wir uns erneut zu der Tatsache der fortdauernden Führung des Heiligen Geistes und unserer Abhängigkeit von ihm nicht nur im Blick auf das Verstehen des geschriebenen Wortes, sondern auch füi die Bewältigung der neuen, in Kapitel III dargestellten Lage. Der lebendige Gott hat uns nicht Waisen gelassen, son-
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dern hat uns die Gegenwart des Geistes der Wahrheit verheißen. Genau so, wie Er die Entwicklung der Kirche in früheren Tagen geleitet hat, dürfen wir vertrauen, daß Er Gottes Volk zu umfassenderer Darstellung unserer Einheit leiten wird. Zu gleicher Zeit erkennen wir an, daß es Faktoren gibt, die immer der sichtbaren Darstellung der Einheit der Kirche Grenzen setzen werden. Wir sind eins darin, daß sich keinerlei Zwang mit der Weiterführung des Werkes Gottes verträgt. Die Einheit kann nur durch ein freiwilliges Handeln von Kirchen entstehen, wenn sie sich darüber einig werden, welches der Wille Gottes ist, dem sie gehorchen müssen. Christliche Einheit kann nicht dadurch verwirklicht werden, daß man die Gewissen irgendeiner Gruppe verletzt. Es ist schwer, sich eine Zeit vorzustellen, in der es kein Abweichen von der allgemeinen Ordnung geben wird, es sei denn, daß es innerhalb der vereinten Kirche einen so weiten Spielraum gibt, daß auch für stark voneinander abweichende Positionen Raum bleibt. In Kapitel II wurde den nicht lehrhaften Faktoren, die zu unseren gegenwärtigen Spaltungen beigetragen haben, voll Rechnung getragen. Bei einigen von ihnen sahen wir, daß sie auf vielleicht überwindbare sündige Tendenzen von Einzelnen und Gruppen zurückgehen. Es gibt indes andere, die nicht in demselben Maße in erster Linie aus menschlicher Sünde stammen, sondern zur Struktur unseres Seins gehören. Es wird sie immer bei uns geben, und sie werden im Rahmen jeder geschichtlich erreichbaren Einheit eine breite Mannigfaltigkeit fordern. 2. Beiträge von der Seite der Wissenschaft
Wir können nicht einfach mit einer vollständigen Registrierung unserer unterschiedlichen Auffassungen zufrieden sein, sondern wir müssen diese mit allen zur Verfügung stehendenMitteln deutlich herausarbeiten. In voller Übereinstimmung mit der Absicht der von unserem Ausschuß zusammengestellten Studienbände möchten wir an dieser Stelle die Bedeutung sorgfältiger gelehrter Arbeit bei der Behandlung dieser Fragen betonen.
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A. Die neuere Forschung auf dem Gebiet der biblischen Exegese müßte ein neues Licht auf unsere Meinungsverschiedenheiten werfen. Wir greifen drei Sondergebiete heraus, auf denen sich neue Erkenntnisse ergeben haben. a) W e s e n u n d W e r k des H e i l i g e n G e i s t e s . Die neutestamentlichen Aussagen über den Heiligen Geist sind in der Geschichte der Kirche oft unbeachtet geblieben und nicht in ihrer ganzen Fülle angenommen worden. Sie sind nicht immer in ihrem Zusammenhang mit der Christologie und der Lehre von der Dreieinigkeit gesehen worden. Manche unserer Anschauungsunterschiede werden durch erneute Untersuchung des neutestamentlichen Verhältnisses zwischen dem Heiligen Geist und Christus, dem Heiligen Geist und dem Wort und zwischen dem Heiligen Geist und der Kirche weitere Klärung erfahren. Was meint das Neue Testament, wenn es sagt: „Der Heilige Geist wird euch in alle Wahrheit leiten"? Was meint die Verheißung: „Der Geist der Wahrheit, der vom Vater ausgeht, der wird zeugen von mir"? Wie verstehen wir die Gegenwart des auferstandenen Christus in der Kirche im Blick auf die neu testamentliche Lehre vom Heiligen Geiste? Die Identität der Kirche im Wandel der Zeiten muß von der Gegenwart des gleichen lebendigen Christus und des gleichen lebendigen Geistes her gesehen werden. Besonders bedacht werden sollten die neutestamentlichen Aussagen über die Gaben des Geistes (cbarismata) in ihrem Zusammenhang mit der Frage der Ämter. Die Fülle der Gnade unseres Herrn Jesu Christi kommt in der Kirche durch die mannigfaltigen Gaben des Geistes zum Ausdruck, an denen jeder Gläubige teilhat. Jede Geistesgabe bedeutet gleichzeitig verantwortlichen Dienst. Welche Anschauung man auch über den Ort spezieller, ordinierter Ämter vertreten möge, nötig ist, das Werk des Heiligen Geistes in ihnen im Zusammenhang mit seinem mannigfaltigen Wirken in allen Gläubigen zu studieren. Im Laufe der Geschichte der Kirche sind viele Dienste zu Sonderdiensten geworden, die in den neutestamentlichen Schriften zusammengehören. b) D a s V e r h ä l t n i s z w i s c h e n d e m e r s t e n u n d d e m z w e i t e n K o m m e n des H e r r n J e s u s C h r i s t u s . Mit dem ersten Kommen Christi in Niedrigkeit „brach" das Reich Gottes in die Welt „herein". Es wird bei seinem zweiten Kom-
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men in Herrlichkeit „hindurchbrechen". Die neue Schöpfung ist schon gegenwärtig in denen, die in Christus sind; und doch muß sie für alle Gläubigen noch kommen. Sie ist verborgen in dieser Welt, wird aber am Ende der Zeiten offenbar werden. Die Kirche steht in der Welt als die eschatologische messianische Gemeinschaft, die ihren wesentlichen Charakter von dem ersten und zweiten Kommen Christi her empfängt. Sie wird von Christus eingesetzt und erhalten und steht doch gleichzeitig jetzt und am jüngsten Tage unter dem Gericht Christi. Die neueren Forschungen auf dem Gebiet der neutestamentlichen Eschatologie haben eine erneute Beschäftigung mit unseren Meinungsverschiedenheiten, insbesondere in der Frage der Kontinuität der Kirche, notwendig gemacht. c) Die v e r s c h i e d e n e n G e s t a l t e n des K e r y g m a s im Neuen Testament. Die neuere historische Forschung hat eine größere Differenzierung innerhalb des frühchristlichen Kerygmas enthüllt, als unsere Väter sahen. Diese Mannigfaltigkeit findet sich bei den christologischen Aussagen und bei dem, was über die Apostel, die Ämter und die Gaben des Geistes gesagt wird. Wir haben gelernt, wie die im Neuen Testament bezeugte Botschaft von dem Kommen Christi in wechselnden geschichtlichen Situationen angesichts der jüdischen, hellenistischen und gnostischen Umwelt verschieden gedeutet wurde. Wir müssen zu einem neuen Verständnis der Einheit der Kirche im Rahmen der verschiedenen Gestalt des Kerygmas kommen. Die moderne geschichtliche Forschung hat auch ein neues Licht auf die Frage Schrift und Tradition geworfen. Die Tradition folgt nicht nur auf die Schrift, sondern geht, wie die Analyse der synoptischen Evangelien gezeigt hat, den Schriften innerhalb des neutestamentlichen Kanons voraus. Das mit der Tradition gegebene Problem steckt auch in der Schrift selbst. Das Studium der verschiedenartigen Darstellungen des Lebens Christi und Seiner Worte bringt das Wesen der Tradition in ein neues Licht. Die Ereignisse des Lebens und die Sprüche Jesu wurden in der synoptischen Tradition bewahrt, wurden aber gleichzeitig in neuen Situationen verkündigt und in deren Licht geformt. Die Identität der Aussagen Jesu inmitten der Umbildungen der Tradition stellt uns auf eine neue Weise vor das Problem der Identität und Kontinuität der Kirche und zeigt uns die lebendige Wirklichkeit des einen Heiligen Geistes.
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B. Unsere Anschauungsunterschiede müssen auch auf dem Wege über eine neue Durchforschung der Kirchengeschichte und der Dogmengeschichte durchdacht werden. Mit diesen Themen beschäftigt sich der geschichtliche Studienband. Folgende Punkte müssen als weiterer Klärung bedürftig herausgehoben werden. a) Jede Kirche ist, wenn sie ihre Geschichte überschaut, dazu geneigt, ihre Lostrennung zu idealisieren. Deshalb muß der objektiven und kritischen Erforschung der besonderen geschichtlichen Lage, die Anlaß zu der Trennung gab, das größte Gewicht gegeben werden. Welches waren die Häresien, welches war die starre Unbeweglichkeit, welches war die Verderbnis in der Kirche, gegen die die dissentierenden Kirchen protestierten? b) Welche biblischen Erkenntnisse wurden zur Zeit der Trennung als verpflichtend angesehen, und welche wurden in der Polemik verwertet? Welche biblischen Aussagen und Erkenntnisse in Sachen der gleichen Streitfrage wurden außer acht gelassen? Wir müssen daran denken, daß eine polemische Zielsetzung eine gewisse Einseitigkeit in der Verwendung der Schrift mit sich bringt. c) Welche philosophischen Begriffe und Denkgewohnheiten waren zur Zeit der Trennung auf beiden Seiten in Übung und dienten der Formulierung der Lehre, wenn sie sie nicht gar beherrschten? Mangelndes Verstehen zwischen den Kirchen hat seine Ursache nicht nur in Unterschieden des Glaubens gehabt, sondern auch in verschiedenen Denksystemen, mit deren Hilfe der Glaube zum Ausdruck gebracht wurde. d) Welche politischen, sozialen, wirtschaftlichen, rassemäßigen oder gar persönlichen Faktoren sind bei der Entstehung von Schismen am Werke gewesen? C. Unsere Anschauungsunterschiede müssen an Hand einer Analyse der gegenwärtigen Wirklichkeit der getrennten Kirchen nachgeprüft werden, da die ökumenische Begegnung h e u t e stattfindet. Dies ist der Gegenstand des von unserem Ausschuß vorgelegten Studienbandes über die gegenwärtig von jeder der Haupttraditionen vertretenen Anschauungen.
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Neutestamentliche, geschichtliche und heutige Argumente sind in der ökumenischen Diskussion oft so eng ineinander verwoben, daß die Lage dadurch nur schwieriger wird. Wir argumentieren mit Lehraussagen, die für unsere Väter entscheidend waren, als sie sich trennten, obwohl sie für die betreffende Kirche nicht mehr entscheidend sind. Wir argumentieren oft mit der Verwendung biblischer Aussagen, die für das Leben der betreffenden Kirchen nicht mehr bestimmend sind, ungeachtet der Tatsache, daß sie die Autorität der Bibel anerkennen. Aus diesem Grunde möchten wir im Blick auf die Aufsätze des Begleitbandes folgende Bemerkungen machen: a) Im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der verschiedenen Kirchengemeinschaften haben sich Wandlungen gegenüber ihrer ursprünglichen Lehre und Gestalt vollzogen. Oft sind diese Wandlungen beträchtlich gewesen und sollten mit kritischer Sorgfalt herausgearbeitet werden. b) Wandlungen haben sich auch im Verhältnis zu anderen Kirchengemeinschaften und im besonderen zu der Kirche vollzogen, von der die Trennung ausging, und umgekehrt. Auch hier haben sich im Lauf der Geschichte beträchtliche Änderungen entwickelt. c) Es hat auch Wandlungen im Verständnis der Schrift gegeben. Heute mag eine Kirche in der Schrift etwas anderes als entscheidend ansehen als in der Zeit der Trennung.