Die jüdischen Wanderbewegungen in der neuesten Zeit (1880–1914) [Reprint 2020 ed.] 9783111496627, 9783111130453


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German Pages 88 [92] Year 1919

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Erster Abschnitt. Die Ursachen der jüdischen Wanderungen
Zweiter Abschnitt. Die jüdischen Wanderungen in der neuesten Zeit
Dritter Abschnitt. Die Wirkungen der jüdischen Wanderungen
Verzeichnis der Tabellen
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Die jüdischen Wanderbewegungen in der neuesten Zeit (1880–1914) [Reprint 2020 ed.]
 9783111496627, 9783111130453

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A. Marcus & E. Webers Verlag (Dr. jur. Albert Ahn) in Bonn Von demselben Verfasser ist erschienen:

Die Wanderbewegungen der Juden 164 Seiten.

Preis mit Teuerungszuschlag 4.80 M.

D a s vorliegende Buch füllt eine L ü c k e aus. E s stellt den ersten Versuch dar, die jüdischen W a n d e r b e w e g u n g e n zusammenzustellen, die Ilauptrichtungen festzuhalten und den Geist der B e w e g u n g e n herauszuarbeiten. W a s er über die Z u k u n f t der Wanderungen als warmherziger Nationaljude schreibt, wird vielleicht da und dort Widerspruch finden ! Doch wird es sicherlich auch denen, die nicht mit ihm übereinstimmen, lesenswert und — w a s noch mehr ist — vornehm gedacht erscheinen. R . W a s s e r m a n n in „ F r a n k f u r t e r Z e i t u n g " . . . . . D e r V e r f a s s e r hat sich eine sehr umfassende A u f g a b e gestellt, d i e W a n d e r b e w e g u n g e n der J u d e n seit den b i b l i s c h e n Z e i t e n bis a u f u n s e r e T a g e z u b e t r a c h t e n . . . . Den wertvollsten T e i l der A r b e i t bildet unstreitig der 3 . Abschnitt, der die W a n d e r b e w e g u n g seit Beginn der überseeischen A u s w a n d e r u n g behandelt und hier wieder die. beiden letzten K a p i t e l , die sich in erster L i n i e mit der A u s w a n d e r u n g der russischen J u d e n nach den Vereinigten Staaten beschäftigen. H i e r gelingt es dem Verfasser zunächst, einen beachtenswerten Gegensatz zwischen dieser neuesten W a n d e r b e w e g u n g und deijenigen früherer Zeiten, v o r allem des Mittelalters, festzustellen . . . . Sehr interessant sind die D a r l e g u n g e n über die Eigentümlichkeiten der jüdischen E i n w a n d e r u n g nach Amerika, v o r allem auch die Vergleiche mit derjenigen anderer R a s s e n und V ö l k e r . P r o f . M o m b e r t in C o n r a d ' s J a h r b ü c h e r n für N a t i o n a l ö k o n o m i e und Statistik. . . . . E s ist eine A r b e i t von packendem Interesse . . . . ; dieses Buch über Vergangenheit und G e g e n w a r t ist eine gute G r u n d l a g e für G e g e n w a r t und Zukunft, und es bietet meines Erachtens einen äußerst wertvollen Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte der J u d e n . Besonders interessierte mich die schöne und übersichtliche Darstellung der früheren und frühesten Wanderungen in ihren Beziehungen zu Fortschritten und Rückschritten der K u l t u r und den Konkurrenzverhältnissen der Aus- und Einwanderungsländer. D a s Buch bietet „jedem an den jüdischen W a n d e r u n g s f r a g e n interessierten J u d e n in allen K a p i t e l n ein reiches und wirklich wertvolles, v o r allem aber anregendes M a t e r i a l " . D a v i d T r i e t s c h in der „ W e l t " .

Vom gleichen Verfasser erschien ferner:

Der Krieg

Eine Schicksalsstunde des jüdischen Volkes Mit einer K a r t e des

jüdischen

A n s i e d l u n g s r a y o n s in Rußland Preis mit Teuertingszuschlag 95 Pfennige D a s Schriftchen wird jedem, der sich mit der Z u k u n f t des jüdischen Volkes in Rußland beschäftigen w i l l , wertvolle p i e n s t e leisten, , , D i c P o s t " Berlin.

Die jüdischen Wanderbewegungen in der neuesten Zeit (1880—1914) Von

Dr. Wlad. W. Kaplun-Kogan

Bonn a. Rh. 1919 A. M a r c u s & E. W e b e r s (Dr. Albert Ahn)

Verlag

Alle Rechte, besonders das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten Copyright by A. Marcus & E. Webers Verlag, Bonn 1919

Prack: Otto Wlgand'sche Buchdrnckerel d.m.b. H„ Lelpzlf

Vorwort Die nachfolgende Arbeit bildet einen Teil des dritten Bandes aus dem von mir in Angriff genommenen größeren Werk: Die W a n d e r b e w e g u n g e n der Juden. Als Grundlage und Programm zu diesem Werke ist die im Seminar von Professor Dr. A d o l f W e b e r a n der Handelshochschule in Köln entstandene Arbeit: Die Wanderbewegungen der Juden, Bonn 1913, zu betrachten. Der erste Band wird die jüdischen Wanderungen im Altertum, der zweite die des Mittelalters und der dritte die der neuen Zeit schildern. Das große wissenschaftliche Interesse, das sich gerade für die jüdischen Wanderungen der neuen Zeit kundgibt, veranlaßte mich — abgesehen voi* anderen persönlichen Gründen — den ersten Band, der Ende des Jahres erscheinen soll, zunächst herauszugeben. Diese Arbeit behandelt die jüdischen Wanderungen der n e u e s t e n Zeit: darunter ist der Zeitraum von 1880—1914 verstanden. Die wirtschaftliche Erforschung und Erfassung dieses Zeitraumes bietet so viele bedeutende Momente, weil mit ihm voraussichtlich eine große Epoche der jüdischen Wanderungen ihren Abschluß gefunden hat. Denn es ist nicht anzunehmen, daß die Wege der jüdischen Wanderungen nach dem Kriege die gleichen sein werden wie bis 1914. Der Grund hierfür liegt vor allem in den ungeheuren Verschiebungen der jüdischen Zentren im Osten Europas, die seit Kriegsausbruch vor sich gegangen sind. Diese Verschiebungen dokumentieren sich zunächst und augenfällig in den zwangsweisen Evakuierungen der jüdischen Bevölkerung des ehemaligen russischen Ansiedlungsrayons, aus dem nach zuverlässigen Nachrichten über eine Million Juden weggeschleppt wurden. Diese Juden wurden auf einmal in die Gouvernements von Zentralrußland verschlagen, wo es bis dahin ungefähr keine Juden gab. Die Neuangekommenen haben insbesondere am Anfang des Krieges die russische

— IV — Kriegswirtschaft zum größten Teil mitbegründet und bis zum Ausbruch der Revolutipn auch mitgeleitet. Zu diesen Verschiebungen kommen viele freiwillige Übersiedlungen nach Mittelrußland und Aushebungen durch die Militärbehörden. Diese Veränderungen und die durch die Kriegsumstände verursachten größeren Verluste — Todesfälle infolge von Krankheiten usw. — haben alle zusammen in kurzer Zeit eine S i e b u n g der jüdischen Bevölkerung Rußlands herbeigeführt, welche die jüdische Auswanderung nicht hätte erreichen können. Sie haben aber auch eine andersgeartete Verteilung und dementsprechend eine bedeutende V e r d ü n n u n g der jüdischen Bevölkerungsmassen Rußlands zur Folge gehabt. So werden wir nach dem Kriege auch einen neuen wirtschaftlichen Aufbau der Juden Rußlands feststellen müssen; die bisherigen Ursachen der jüdischen Auswanderung werden zwar nicht aufgehoben werden, sie werden aber nicht in dem Maße wirksam sein wie vorher. Das über Rußland Gesagte gilt in großen Zügen auch von anderen zwei großen Reservoiren der jüdischen Auswanderung der neuesten Zeit, von Rumänien und Galizien. So wird sich das eigenartige Bild der jüdischen Auswanderung nach Amerika, das wir auf Grund des amerikanischen Berichtes, abgeschlossen kurz vor Ausbruch des Krieges, am 30. Juni 1914, wahrzunehmen in der Lage sind, schwerlich noch einmal in der jüdischen Geschichte wiederholen. Jede wissenschaftliche Untersuchung eines wirtschaftlich-geschichtlichen Vorganges kann zwei Hauptteile enthalten: einen deskriptiven und einen theoretischen. Eine Beschreibung der jüdischen Wanderungsprozesse ist unumgänglich, wenn man sich über das Wesen, die Wege und Ziele der Bewegung klar werden will; nicht weniger nötig und überaus reizvoll ist die theoretische Seite des Problems. Hier handelt es sich darum, streng wissenschaftlich eine von der Deskription losgelöste, in sich abgeschlossene Erfassung der Wanderungen zu geben. Eine solche Erfassung gewinnt noch mehr an Klarheit und Eindringlichkeit, wenn sie unter dem Gesichtspunkte der Einstellung auf irgendein dazu gehöriges oder irgendein bestimmtes, im Zusammenhang mit

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V

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dem Gegenstand stehendes Problem der volkswirtschaftlichen Theorie gewonnen wird. Während ich in dem zweiten Abschnitt der Arbeit: Die jüdischen Wanderungen in der neuesten Zeit, fast ausschließlich deskriptiv vorgehe, behandle ich die Materie in dem ersten Abschnitt: Die Ursachen der jüdischen Wanderungen und in dem dritten Abschnitt: Die Wirkungen der jüdischen Wanderungen vorwiegend theoretisch. B e r l i n , im Dezember 1918

Dr. Wlad. W. Kaplun-Kogan

Inhaltsverzeichnis Seite

Vorwort

III Erster

Die U r s a c h e n

der

Abschnitt

jüdischen

Wanderungen

G r s t e s K a p i t e l : Die jüdischen Wanderungen in der jüdischen Wissenschaft 1. Allgemeines 2. Literaturnachweis Z w e i t e s K a p i t ' e l : Die Ursachen der jüdischen Auswanderung in Rumänien, Galizien und Rußland . Zweiter

1 1 3 S

Abschnitt

D i e j ü d i s c h e n W a n d e r u n g e n in d e r Zeit

neuesten

D r i t t e s K a p i t e l : Die jüdische Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika 1. Übersicht der Gesamt Wanderungen 2. Allgemeine und jüdische Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika . 3. Jüdische Einwanderung aus Rußland und Rumänien . . 4. Geschlechtsaufbau der jüdischen Einwanderung . . . 5. Altersaufbau der jüdischen Einwanderung 6. Familienstand der jüdischen Einwanderung 7. Finanzielle Lage der jüdischen Einwanderer . . . . 8. Bildungsverhältnisse der jüdischen Einwanderer . . . 9. Berufliche Gliederung der jüdischen Einwanderung . . a) Allgemeines b) Freie Berufe c) Handelsstand d) Handwerker . ' . . . .

18 18 19 22 26 29 31 38 42 44 44 47 50 55

— VIII

Seit«

V i e r t e s K a p i t e l : Die jüdische Auswanderung aus den Vereinigten Staaten von Amerika F ü n f t e s K a p i t e l : Die hauptsächlichsten Wege der jüdischen Wanderer in Europa und im Orient

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Dritter Abschnitt Die W i r k u n g e n der j ü d i s c h e n

Wanderungen

S e c h s t e s K a p i t e l : Die Wirkungen der jüdischen Wanderungen 1. Im Auswanderungslande 2. Im Einwanderungslande Verzeichnis der Tabellen

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Erster Abschnitt

Die Ursachen der jüdischen Wanderungen Erstes Kapitel Die jüdischen Wanderungen in der jüdischen Wissenschalt 1.

Allgemeines

Das Bestreben, die jüdischen Wanderbewegungen wissenschaftlich zu erforschen und ihre Ursachen klarzulegen, ist verhältnismäßig neuen Datums. Obwohl das jüdische Volk seit der Zerstörung des zweiten Tempels sich in einer ununterbrochenen Bewegung befindet — und auch schon früher eine Reihe von bedeutenden Wanderungen durchgemacht hat — empfand es bis vor kurzer Zeit diesen Wanderungsprozeß nicht als etwas Anormales. Die ganze Zeit bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts wurde das Phänomen Wanderung rein religiös bewertet: als Sühne, als Mission, als indirekter Weg nach Palästina — je nach der Art der religiös-geistigen Anschauung, die im gegebenen Augenblick das Judentum beherrschte. Und nun vollends im 19. Jahrhundert, in dem die Befreiung der Judenheit vom Ghetto proklamiert wurde, konnte alles andere als eine Konzentration des jüdischen Interesses auf das Wanderungsproblem erwartet und entdeckt werden. Denn es war das Jahrhundert der groß angelegten und vielleicht der erfolgreichsten Assimilationen, die Zeit der Seßhaftmachung des jüdischen Volkes in Europa. Man war froh in dem ungewohnten Gefühl der neu erworbenen, anscheinend festen und echten Staatszugehörigkeit. Um so bitterer wirkte die Enttäuschung, als im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts das jüdische Volk wieder auf die Wanderung gehen mußte. Die alten größeren Zentren schienen in einer K i p l u n - K o g a n , Die jüdischen Wanderbeweguogen

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Auflösung begriffen zu sein, die kleineren wurden durch die Zuwanderer in ihrer Festigkeit bedroht — und neue entstanden: mächtiger, anders aufgebaut, mit einer eigen- und fremdartigen ökonomischen und rechtlichen Struktur. Die ersten Versuche, den Wanderungsprozeß zu erfassen, wurden alle von; dem Gedanken getragen, der Bewegung möglichst schnell und sicher Herr zu werden. Dieses anfängliche Bestreben ging dahin, unter Berücksichtigung der vorhandenen Wanderbewegungen und durch Entfachung der religiösen Leidenschaften des Volkes diesen Wanderungen eine Richtung zu geben, die ihnen ein Ende bereiten würde. Von diesem Gesichtspunkte aus sind alle falsche Messias des Mittelalters zu verstehen. In der neuen Zeit entkleidete man das Bestreben der religiösen Hülle, der utopische Gedanke blieb jedoch auch den neueren Plänen anhaften. Ich denke hier vor allem, um nur ein krasses Beispiel zu geben, an die Ausführungen von T h e o d o r H e r z l , der ja bis zum Jahre 1923 die Übersiedlung eines großen Teils des jüdischen Volkes nach Palästina plante. Die Frage, die sich die zahlreichen geistigen Vorgänger H e r z l s 1 ) — auf die ich hier näher nicht eingehen kann — und' seine ersten Mitarbeiter vorlegten, war nicht die nach dem W e s e n der jüdischen Wanderbewegungen, sondern ausschließlich die nach der V e r w e r t u n g und dem Z i e l und dem E n d e der jüdischen Emigration. Diese Epoche, die ich als die Zeit des *) Eine Geschichte der jüdischen messianischen Bewegung im Mittelalter gibt es nicht. Es kommen also zunächst die betreffenden Stellen aus allgemeinen Geschichtswerken in Betracht. So bei G r a e t z : Geschichte des jüdischen Volkes, Leipzig 1900, Bd. 8, und S. D u b n o w : Geschichte des jüdischen Volkes, St. Petersburg 1910, Bd. 3 (russisch). Die Schriften H e r z l s sind gesammelt in: Dr. Theodor Herzls zionistische Schriften, zwei Teile, Berlin-Charlottenburg. In diesem Zusammenhang sei noch die Biographie von H e r z l von Dr. A d o l f F r i e d e m a n n : Das Leben Theodor Herzls, Berlin 1914, erwähnt, in der gerade das Messianische der H e r z l sehen Sendung herausgearbeitet ist, und A c h a d H a a m : Am Scheidewege, Essays, Bd. 2, Berlin 1916, der das Utopische der Bewegung eindringlich vor Augen führt.



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Dilettantismus und dies Utopismus bezeichnen möchte, und die übrigens recht viele gemeinsame Züge mit der geistigen Struktur des utopischen Sozialismus aufweist, wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts abgelöst durch junge jüdische Wissenschaftler aus den Reihen der jüdischen Arbeiterparteien, die es unternahmen, zunächst in Zeitschriftenaufsätzen das Problem wissenschaftlich und vom ökonomischen Gesichtspunkte aus zu ergründen und zu erfassen.

2. Literaturnachweis Ein Literaturnachweis über die jüdischen Wanderungen hat mit diesen Aufsätzen anzufangen. Ich erwähne hier als den bedeutungsvollen eine größere russische Abhandlung Zwi Awraami's: Jüdische Wanderungsprobleme, Zeitschrift Jüdisches Leben, Heft 9, Jahrgang 1905. Er schrieb damals: „Der Inhalt, die Tendenz, die Beweggründe und sogar die unmittelbaren Ursachen der Wanderbewegungen der Juden bleiben nach wie vor in ihrem ganzen Umfange eine terra incognita für uns . . . insoweit die Emigration an und für sich ein inneres Problem des jüdischen Lebens ist, darüber hat man bei uns noch nicht einmal nachgedacht . . . das Emigrationsproblem ist nicht nur nicht gelöst, es ist noch gar nicht verstanden." Z w i A w r a a m i unternahm dann den Versuch, eine Philosophie der jüdischen Wanderbewegungen zu konstruieren. Überaus instruktiv ist die Arbeit von J a n o w s k i : Das wandernde Israel in derselben Zeitschrift Jüdisches Leben, Heft 1, Jahrgang 1906. Deutsch ist zuerst 1902 ein beachtenswerter Beitrag zur Wanderungsfrage in der Zeitschrift Ost und West, zweiter Jahrgang, p. 382: Die Emigration im Golus von A l e x a n d e r H a u s m a n n erschienen 2 ). 2 ) Über rechtliche und organisatorische Emigrationsfragen schrieb Dr. B. K a h n : Die jüdische Auswanderung, Ost und West, Berlin 1905, p. 458, und Dr. T h . V o g e l s t e i n : Auf Ellis Island, ibid. p. 479. Einzelne wertvolle statistische Angaben enthalten die Jahrgänge der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, Berlin (seit 1905).

1*



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Im Jahre 1907 erschien die erste wissenschaftliche Untersuchung über die jüdische Einwanderung nach Amerika von Dr. K a r l V o r n b e r g : Jüdische Emigration, Versuch einer statistischen Untersuchung, Kiew 1908, russisch, die die wichtigsten Probleme in mustergültiger Weise aufwarf. Das statistische Material wurde zwar nicht ausgiebig, aber, soweit überhaupt herangezogen, sehr gründlich verarbeitet. Die Arbeit des Russen S. P a t k a n o w . : Resultate der Immigrationsstatistik in den Vereinigten Staaten von Amerika aus Rußland im Jahrzehnt 1900 bis 1909, St. Petersburg 1911, russisch, behandelt zwar die gesamte Auswanderung aus Rußland, enthält jedoch recht viele treffende Bemerkungen auch über die jüdische Auswanderung. Und nun begann man in verschiedenen Ländern sich für das Problem zu interessieren. Im Jahre 1912 schrieb Dr. N. K a t z e n e l s o h n eine kleine Broschüre unter dem Titel: Die jüdische Wanderung, Berlin. Im Laufe eines Jahres — 1913 — erschienen drei größere Untersuchungen über denselben Gegenstand, ohne daß die Verfasser das geringste voneinander wußten: im März 1913 eine Arbeit von mir: Die Wanderbewegung der Juden, Bonn, deutsch; etwa im September 1913 von Professor Dr. L. H e r s c h : Le Juif Errant d'aujourdhui. Etüde sur l'emigration des israelite de l'Europe Orientale aux Etats-unis de l'amerique du Nord, Paris, französisch, und Anfang 1914 von Dr. J o s e p h : Jewish Emigration, New-York, englisch. Während ich die gesamten jüdischen Wanderungen seit den biblischen Zeiten bis in die Gegenwart hinein zu schildern versuchte, beschränkten sich Professor Dr. H e r s c h und Dr. J o s e p h auf die Wanderungen der neuesten Zeit. Die Arbeit von H e r s c h ist deshalb besonders wertvoll, weil in ihr u. a, auch die politische Seite des Problems streng wissenschaftlich bearbeitet und Österreich und Rußland recht ausgiebig berücksichtigt worden sind. Die Arbeit von Dr. J o s e p h ist mir nur nach einer Besprechung bekannt; infolge des Krieges konnte ich kein Exemplar von Amerika herüber bekommen. Mit diesen Untersuchungen war jedoch die in Gang



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gekommene Forschungsarbeit nicht abgeschlossen. 1917 gab D a v i s T r i e t s c h eine Sammlung von Aufsätzen: Jüdische Emigration und Kolonisation, Berlin, heraus, in der er eine Reihe von wichtigen Emigrationsfragen bespricht. 1918 erschien eine kleine französische Arbeit von Dr. K a t z e n e l l e n b o g e n : L'emigration juif, Brüssel, in der jedoch neue Gesichtspunkte nicht zu finden sind. Amtliches und erschöpfendes Material über die Einwanderung nach Amerika enthalten die bekannten Annual reports of the commissioner general of immigrationi to the secretary of commerce and labor, Washington. Zweites Kapitel Die Ursachen der jfidischen Auswanderung ans Rumänien, Galizien and RaBland Ich unterscheide v o r ü b e r g e h e n d e und d a u e r n d e Ursachen. Die erste Gruppe umfaßt Ursachen p o l i t i s c h r e c h t l i c h e r Natur, die zweite Ursachen ö k o n o m i s c h e n Charakters. Wie bekannt, sind clie hauptsächlichsten Auswanderungsländer Rußland, Galizien und Rumänien. Ohne damit den gesamten Ursachenkomplex für das einzelne Land zu bestimmen, möchte ich behaupten, daß in Rumänien nur Ursachen politisch-rechtlicher Natur wirken, in Galizien nur ökonomische und in Rußland vorübergehende und dauernde, also ökonomische und politischrechtliche Verhältnisse es sind, die die Juden dazu zwingen, den Wanderstab zu ergreifen. In Rumänien lebten vor dem Kriege etwa 300000 Juden; nach der rumänischen Volkszählung vom Jahre 1899: 266652 Juden. Der Hauptteil der Bevölkerung konzentrierte sich in den Städten; so war der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung in den Dörfern 1,1 Proz., in den Departementshauptstädten 20,2 Proz. und in den übrigen Städten 11,9 Proz. Über die berufliche Gliederung gibt es leider keine zuverlässigen Unterlagen, da in Rumänien bis jetzt noch keine allgemeine Gewerbe- oder Berufszählung stattgefunden hat, sondern nur Erhebungen über einzelne Berufszweige für



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spezielle Zwecke. Der Anteil der Juden in der Landwirtschaft ist ganz unbedeutend; sie sind hier nur als Landpächter, nicht als Landeigentümer vorhanden. Im Handel wurden im Jahre 1904 22590 handeltreibende Juden gezählt, d. h. 21,1 Proz. In der Enquete vom Jahre 1902 unterschied man 4 Gruppen der Industrie: 1. Großindustrie, 2. Klein- und Mittelindustrie (Handwerk), 3. Spezialindustrie (Mühlen- und Sägewerke usw.) und 4. Extraktivindustrie. Unter den großindustriellen Unternehmern zählte man 122 Juden, d. h. 19,5 Proz., und unter den großindustriellen Angestellten und Arbeitern 5,3 Proz. Juden. In der Spezial- und Extraktivindustrie war der Anteil der Juden verschwindend. Im Handwerk wurden 19 289 Juden beschäftigt, darunter 9817 Selbständige, d. h. 18,0 Proz. aller Selbständigen, 5694 Gesellen, d. h. 19,6 Proz. und 3989 Lehrlinge, d, h. 18,5 Proz. aller Lehrlinge3). Die jüdische Auswanderung aus Rumänien betrug in den letzten 34 Jahren (1899—1914) etwa 120000 Personen, also etwa 1/3 der Gesamtbevölkerung, jährlich im Durchschnitt 3—4000 Personen. Die wirtschaftliche Existenz der rumänischen Juden ist stark durch politische Ausnahmegesetze beengt. Alle diese Gesetze, deren Aufzählung hier unterlassen werden kann 4 ), konnten es jedoch nicht verhindern, daß unter ihrer Umgehung die Juden in der rumänischen Wirtschaft oft mit Erfolg tätig waren. Denn die rumänische Judenheit als volkswirtschaftliche Gruppe steht in keinem Gegensatz zu der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes. Dieses Land, 3

) Über die soziale Struktur der Juden in Rumänien gibt es nur eine einzige zuverlässige deutsche Darstellung: Dr. A. R u p p i n : Die Juden in Rumänien, Berlin 1908. Über die rechtliche Lage der rumänischen Juden berichten unter Heranziehung des einschlägigen Materials sehr gründlich und wirkungsvoll J. M. C a r g h e r : D i e Jundenfrage in Rumänien, Berlin 1918, und S. B e r n s t e i n : Die Judenpolitik der rumänischen Regierung, Kopenhagen 1918. In demselben Jahre erschien noch eine Denkschrift der Komitees Pro Causa Judaica; Die Judenfrage in Rumänien, Zürich 1918. 4 ) Besonders eingehend bei C a r g h e r , a. a. 0., samt den Ausführungsbestimmungen.



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in dem die Agrarbevölkerung 90 Proz. der Gesamtbevölkerung ausmacht und in dem der Handelsstand und die Arbeiterschaft sehr wenig entwickelt sind, hat genug Platz, die freien, von Nationalrumänen nicht ausgefüllten Lücken im Gewerbe und Handel sind geräumig genug, um darin die 300000 Juden beschäftigen zu können. Und diese hätten sich dem wirtschaftlichen Organismus des Landes noch besser eingegliedert, wenn die Regierung diesem Hineinwachsen keine Hindernisse in den Weg stellte. Ein anschauliches Bild der rumänischen Zustände gibt Dr. P. N a t h a n , der vor und während des Krieges das Land einige Male besuchte: „ . . . Rumänien ist in unserer Zeit ein Gebilde einzig in seiner Art, ein Land, in dem viertausend Menschen — eher weit weniger — sieben Millionen Menschen und mehr beherrschen, knechten, ausbeuten, und diese Knechtung geht vor sich in der elegantesten Weise unter Benutzung der modernsten und volkstümlichsten Regienmgsform des durchgeführten Parlamentarismus mit Ministerverantwortlichkeit und allem Zubehör der Neuzeit..» Wenn viertausend Menschen über sieben Millionen herrschen, so ist das Ergebnis im wesentlichen immer dasselbe. Nach Klima und Nationalität gibt es gewisse Unterschiede, aber solche Herrschaft führt, wie die menschliche Natur einmal beschaffen ist, zur Ausbeutung; die Ausbeutung korrumpiert die Ausbeuter, und das Ende dieser ungesunden Entwicklung ist die Katastrophe . . . Die rumänische Oligarchie von Großgrundbesitzern, die statistisch auf etwa viertausend Köpfe berechnet wird, beherrscht die Bevölkerung des flachen Landes von rund sechs Millionen Menschen unmittelbar oder durch Pächter . . . Die Oligarchie war bestrebt, durch die Gesetzgebung nach Möglichkeit die Fremden fernzuhalten, um die Ausbeutung des Landes selbst besorgen zu können, und diese Oligarchie unterdrückte ebenso wie die Bauern die eingeborenen Juden des Landes. Man macht sie staatsrechtlich zu Fremdlingen, um auch sie am wirtschaftlichen Emporkommen zu hindern, um ihre wirtschaftliche Konkurrenz auszuschalten . . . So herrschte die Oligarchie, selten nur ernstlich angefochten, über entrechtete Juden. Dieses Stück Mittelalter ist mit ungewöhn-

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licher politischer Geschicklichkeit in die Neuzeit hinüber' gerettet worden . . s ) So war es nur elementarer Rassenhaß, der keineswegs seine volle Rechtfertigung in dem Bestreben finden kann, den einheimischen Handel und die einheimische Industrie zu schützen, sondern ausschließlich in einer grotesken Abneigung gegen alles Jüdische überhaupt und gegen jüdische Wirtschaftstätigkeit im besonderen besteht, der die rumänische Regierung veranlaßte, im Laufe der Zeit eine Menge von Gesetzen und Verboten anzuhäufen, die der rumänischen Judenheit jedes wirtschaftliche Emporkommen unmöglich machten. Wenn deshalb eine nicht unbedeutende Auswanderung stattfand, so war sie ausschließlich diesen politisch-rechtlichen Maßnahmen zuzuschreiben, welche die Juden zwangen, das Land zu verlassen. Anders liegen die Verhältnisse in G a l i z i e n . Hier wohnten (1910) 871 895 Juden, die 10,86 Proz. der Gesamtbevölkerung ausmachen. Der soziale Aufbau der Gesamtbevölkerung und der Juden (Tabelle I, s. nächste Seite) zeigt ein inniges Ineinandergreifen der verschiedenen sozialen Gruppen und scharfes Überwiegen bald einer, bald der anderen Nationalität. Dies ruft von sich aus. ausgeprägte wirtschaftliche Kämpfe hervor. Rechtliche Beschränkungen gibt es nicht, Freizügigkeit ist seit vielen Jahren eingeführt, so daß die A u s s t o ß u n g der Juden aus allen Zweigen der galizischen Wirtschaft einen reinen Fall einer ökonomischen Verdrängung darstellt. Diese Verdrängung hat ihre Ursachen in dem Streben der einheimischen — vor allem der polnischen — Bevölkerung, die durch die Industrialisierung des Landes in die Städte gedrängt wird, die von den Juden besetzten Stellen im Gewerbe und Handel selbst zu übernehmen 6 ). 3

) Berliner Tageblatt' vom 14. August 1918, Abendausgabe. *) Ober die wirtschaftliche, rechtliche und kulturelle Lage der Juden in Galizien berichten: 1. Dr. J a c o b T h o n : Die Juden in Österreich, Berlin 1908, der vor allem das umfangreiche statistische Material gut verarbeitet hat; 2. Dr. J o s e f T e n e n b a u m: Zydowskie problemy gospodarczew Galicyi, Wien 1918 (polnisch). In diesem Buch sind vorwiegend wirtschaftliche Probleme unter Heranziehung des

Tabelle I Berufliche Gliederung der verschiedenen Galiztens

Nationalitäten

Absolut: ZuRömisch- Griech.- Evansammen Katholisch Orthodox gelisch

Berufsgruppe

Juden

Andere

A. Land- und Forstwirtschaft und deren Nebennutzungen . 5 863044 2 700065 3049 720 19 034 93 471 754 B. Industrie und Gewerbe 761 763 431 515 107 303 8546 214184 215 C. Handel und Verkehr (einschl. der Qast- und Schank771551 229297 76 714 3 303 462004 234 wirtschaft) . . . D. Öffentlicher und Militärdienst, freie 628 166 371413 145 496 6 811 102 145 2301 Berufe, Berufelose. Die Berufsklassen A bis D zusammen . 8024 524 3 732 290 3 379233 37693 871804 3 504 In Prozent: Nationalität Polen . . Ruthenen. Deutsche. Juden . .

. . • .

. . • .

InduLandwirtschaft strie 73,34 90,25 50,50 10,72

Han- Beruflich Erdel werbstätige

11.56 6,15 3,17 2,27 22,67 8,76 24.57 52,99

4,13 1,48 5,08 5,52

Aktives Militär

Berufslose Erwerbstätige

1,13 6,62 0,23 0,43

4,69 2,21 6.76 5.77

neuesten Materials in geradezu glänzender Weise dargestellt; 3. Dr. M a x R o s e n f e l d : Die polnische Judenfrage, Wien-Berlin 1918. Dr. R o s e n f e l d untersucht die gesamten Verhältnisse vom historischen und politisch-rechtlichen Standpunkte aus. Die Arbeit ist sehr gut geschrieben und enthält, ebenso wie das Buch von Dr. T e n e n b a u m , ausführliche Literaturnachweise. Wertvolle Einzeldarstellungen enthält das Sonderheft der Neuen Jfidischen Monatshefte; Galizien, Februar 1918. Von der z. T. ausgezeichneten Zeitschriftenliteratur erwähne ich: B e n z i o n : Die wirtschaftlichen Probleme der osteuropäischen Judenheit, Freistatt, April- und Juli-Heft 1913. Eine seht gute zusammenfassende Darstellung gibt A b r a h a m K o r k i s : Die



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Ohne ein Rückgrat in einem, wie bei den Polen, starken landwirtschaftlichen Unterbau zu haben, und ohne im Handel selbst, wo sie überwiegen, eine einheitliche, wirtschaftlich starke und widerstandsfähige Grundlage zu besitzen, ziehen die Juden im Kampf mit den einheimischen Polen, die durch die Konsumvereine, Bezugs- und Kreditgenossenschaften usw. sich immer stärker und stärker machen, den Kürzeren. Das Sinken des wirtschaftlichen Standard of life und die Auswanderung sind die Ergebnisse dieser Entwicklung. Man könnte sich die besondere Art der Ursachen, die in Rumänien und Galizien die jüdische Auswanderung hervorrufen, noch dadurch klarer zum Bewußtsein bringen,, daß man die Auswanderung aus Rumänien als herbeigeführt durch einen Stoß a u ß e r h a l b der rumänischen Wirtschaft denkt, also durch eine vorübergehende ä u ß e r l i c h e Ursache, während die Beweggründe und die treibenden Kräfte der jüdischen Auswanderung aus Galizien i n n e r h a l b , im Zentrum der jüdischen und der polnischen Wirtschaft, wirken. Wir können hier Galizien verlassen, weil wir in R u ß l a n d , in dem Land, in dem die Judenfrage in all ihren Äußerungen die klassische Form gefunden hat, all die Erscheinungen und Symptome in vollkommener Gestalt beobachten können. Da die Auswanderung der Neuzeit, wie wir später sehen werden, einen ausgesprochenen Arbeitercharakter hat, und da ferner die Hauptmasse der jüdischen Auswanderer aus Rußland aus Arbeitern und Handwerkern besteht, will ich vor allem die Ursachen untersuchen, die diese Gruppen zur wirtschaftliche Lage der Juden in Galizien, Der Jude, Jahrgang II, p. 464, 532 u. 608. Interessant wegen der geschickten und präzisen Formulierung der Ergebnisse der Volkszählung vom Jahre 1910 ist die kleine Zusammenstellung von H e i n r i c h M a r g u l i e s : Die nationale Gliederung in Galizien und Bukowina, Der Jude, Jahrgang II, p. 725. Nach der kulturpsychologischen Richtung hin ist beachtenswert die Abhandlung von Dr. A. S. J u r i s : Die nationale Bedeutung der jüdischen Arbeiterschaft, im Jfidischen Nationalkalender, Wien 1917.



11 —

Auswanderung zwingen. Der Darstellung sei hier nur eine kurze Schilderung der sozialen Struktur der russischen Judenheit vorausgeschickt (Tabelle II). An erster Stelle steht der Handel, eine Erscheinung, die auch den .anderen Auswanderungsländern eigentümlich ist. So gehörten dem T a b e l l e II Berufliche Gliederung der Juden in Rußland Berufsgruppe Landwirtschaft. • . • Oewerbe Verkehrswesen . . . Handel Dienstboten, Tagelöhner, Privatbeamte. . Öffentlicher Dienst, freie Berufe Unproduktive und unbestimmte Berufe. . Militärdienst . . . .

Berufstätig Männer

Frauen

Einschließlich Angehörige

In Proz. der jüdischen Bevölkerung

32 993 467 890 45 493 408 330

4 380 87 339 465 66 650-

179 400 1 793 937 201027 1956 852

3,55 35,43 3,98 38,65

62012

113 738

334 827

6,61

66 874

5 040

264 683

5,22

68 583 53 195

47 755

278 095 54 277

5,49 1,07

1 205 370 325 367

5 063 098

100,00

1 530 737

Handel im allgemeinen von je 1000 (Selbständigen und Familienangehörigen) bei den Juden 78,9, dagegen bei den Großrussen nur 5,9, bei den Polen 3,4 und bei den Deutschen 8,4 (bei der Gesamtbevölkerung 9,3). Vom Gewerbe lebten beinahe ebensoviel Juden wie vom Handel, 35,43 Proz.; dagegen beschäftigten sich in der Landwirtschaft nur 3,55 Proz. der Juden RußlandsT). 7 ) Die Literatur über die Juden Rußlands ist, ebenso wie die allgemeine deutsche Literatur über russische Verhältnisse, überaus dürftig. Das statistische Material stellte zum erstenmal Dr. A. R u p p i n: Die sozialen Verhältnisse der Juden in Rußland, Berlin 1906, zusammen. Denselben Zweck verfolgt auch W l a d . W. K a p l u n - K o g a n : Die



12



Um das Einzigartige der Lage der jüdisch-russischen Arbeiterschaft begreifen zu können, ist es nötig, auf die Genesis der jüdischen Arbeiterklasse in Rußland einzugehen. Die Entstehung des jüdischen Proletariats in Rußland war ein für die jüdische Gemeinschaft schwerer und schmerzlicher Prozeß: er bedeutete für sie eine vollständige Zerrüttung aller ihrer wirtschaftlichen Grundlagen. Die Ursache dieser Erscheinung liegt vor allem darin begründet, daß dem jüdischen Volke zur Bildung eines Proletariats vollständig eine landwirtschaftliche Bevölkerung fehlte; als zweites Moment kommt hierzu eine stark gehemmte und unvollkommene Entwicklung der jüdischen Industrie, auf die das neue entstandene jüdische Proletariat vollkommen angewiesen war. Die russische Industrie hat sich, vor allem in Polen, ungemein schnell und stark entwickelt. Die Anfänge der polnischen Industrie liegen noch in der Zeit vor dem Wiener Kongreß. Eine selbständige Industrieentwicklung datiert jedoch erst seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Seitdem nahm die Produktion rapid zu. So produzierte die polnische Industrie im Jahre 1865 für jüdische Sprach- und Kulturgemeinschaft in Polen, Berlin-Wien 1917. Von grundlegenden Werken erwähne ich nur noch: Sammlung von Materialien über die ökonomische Lage der Juden in Rußland, 2 Bde., St. Petersburg 1904 (russisch und französisch), A. H i l l m a n n : Jüdisches Genossenschaftswesen in Rußland, Berlin 1912, und B r u z k u s : Die Statistik der jüdischen Bevölkerung, St. Petersburg 1902 (russisch). Die übrige Literatur ist in meinem: Wanderbewegungen der Juden, Bonn 1913, angegeben. Von der neueren Literatur sind besonders beachtenswert: Ostjuden, Sonderheft der Süddeutschen Monatshefte, München, Februar 1916, und Der jüdische Sozialist und die Revolution in Rußland, Sonderheft der Neuen Jüdischen Monatshefte, Berlin, Mai 1917. Von der sonstigen Zeitschriftenliteratur sind besonders hervorzuheben: Prof. Dr. J u l i u s H i r s c h : Die neuesten Veränderungen der jüdischen Wirtschaftslage in Westund Osteuropa, Neue Jüdische Monatshefte, Jahrgang I, p. 472, und Dr. J a k o b L e s z c z y n s k i : Fragen des osteuropäischen Wirtschaftslebens, Der Jude, Jahrg. I, p. 160, 233 u. 298 (wertvoll nach der theoretischen Seite hin).

— 13 — 65571000 Rubel Werte bei einem Arbeiterstand von 90642 Personen; dagegen gab es im Jahre' 1905 schon 267747 Arbeiter, die für 4131/» Millionen Rubel Werte produzierten 8 ). Die Juden aber konnten und w o l l t e n diese großartige industrielle Entwicklung nicht mitmachen. Sie waren infolge ihrer ökonomischen Stellung dafür nicht im geringsten prädestiniert; ihre wirtschaftliche Beschäftigung drängte sie vielmehr dazu, sich gegen die industrielle Entwicklung des Landes zu stemmen. Als Händler, und vor allem als Kleinhändler, und als Handwerker stand die breite Masse des jüdischen Volkes der sich mächtig anbahnenden Industrialisierung des Landes vollkommen fern, ja feindlich gegenüber. Der Kleinhändler deshalb, weil ihm in seiner überwiegenden Mehrzahl für die Vermittlung der von der Industrie produzierten Güter auf dem Wege eines groß angelegten Exports die nötigen großen Mittel fehlten; der Handwerker deshalb, weil für ihn die Stellung eines Fabrikarbeiters eine Erniedrigung und ein Verlust seiner Selbständigkeit bedeutete. Nur eine beispiellose wirtschaftliche Not trieb diese beiden Gruppen zur Fabrik. Die durch die unerhörte Konkurrenz vollständig mittellos gewordenen Kleinhändler wollten nunmehr als Fabrikarbeiter ihr Auskommen finden, s ) Über das russische Wirtschaftsleben im allgemeinen ist die Literatur s e h r dürftig. Älteres Material (vom Jahre 1896) enthält die von W. J. K o w a l e w s k i herausgegebene Sammlung: Die Produktivkräfte Rußlands, Leipzig 1898, die noch immer sehr gute Dienste leistet, ferner das Buch von Prof. Dr. G. S c h u l z e - G ä v e r n i t z : Volkswirtschaftliche Studien über Rußland, Leipzig 1899. Von der sonstigen Literatur erwähne ich hier nur: W. K ( o w a l e w s k i ) : Rußlands Industrie und Handel, Leipzig 1901; A r t h u r R a f f a l o v i c h : „Russia: its trade and commerce", London 1918; und J a m e s M a v o r : An economic history of Russia, New-York 1915. Sehr gut ist das Werk von C l e i n o w : Die Zukunft Polens, Bd. I, Leipzig 1908, Bd. II, Leipzig 1914, das allerdings über Rußland nur nebenbei handelt. Die Literatur über Polen ist reichhaltiger. Hervorragend ist das Handbuch von Polen, Berlin 1917. Sehr instruktiv der Geographisch-statistische Atlas von Polen, redigiert von Prof. Dr. E. v o n R o m e r , Warschau u. Krakau 1916. Im Handbuch ist auch die einschlägige Literatur angegeben.



14 —

erwiesen sich aber für die Fabrikarbeit als vollständig unvorbereitet Und ungeeignet. Dasselbe versuchten die völlig verarmten Handwerker. Es begann ein Kampf der jüdischen Massen um die Fabrik, der aber für sie sehr ungünstig verlief. D i e s t a r k e i n s e t z e n d e A u s w a n d e r u n g s t e l l t e sich mit u n e r b i t t l i c h e r N o t w e n d i g k e i t ein. „Man darf diese allgemeinen Gesichtspunkte nicht aus den Augen verlieren, wenn man die Entwicklung des jüdischen Proletariats in Rußland begreifen will. Und man kann nicht oft genug diese Gesichtspunkte betonen, weil ja bei anderen Völkern der Prozeß der Industrialisierung der Massen ganz anders vor sich gegangen ist. Für die breiten jüdischen Massen der östlichen Städte — und die jüdische Bevölkerung Rußlands ist eine Stadtbevölkerung par excellence: mehr als die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Rußlands wohnt in den Städten, nämlich: 2 631 809 Personen, d. h. 50 Proz. — bedeutete der Werdegang des Industriearbeiters — geschichtlich betrachtet — zunächst einen Niedergang aller Grundlagen einer alten, in sich geschlossenen nationalen Volkswirtschaft. Die jüdischen Vermittler, Kleinhändler, Pächter und Handwerker, die jahrhundertelang in Russisch - Polen und in Rußland in einer verhältnismäßig soliden Position ihre volkswirtschaftlichen Funktionen erfüllten und in selbständigen Stellungen, wenn auch kein glänzendes, so doch ein anständiges Auskommen hatten, wurden zunächst durch eine Reihe von rechtlichen Beschränkungen, vor allem auf dem Gebiete der Freizügigkeit, in der Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit recht empfindlich gehemmt; dazu kamen im Laufe der Zeiten politische Wirren (in Polen Aufstände), und sonstige Unterdrückungen (Pogrome). Am stärksten jedoch wurde die ökonomische Lage der jüdischen Massen durch die Verschlechterung der Lebensbedingungen der sie umgebenden Landbevölkerung und durch das Emporkommen der Fabrikindustrie erschüttert. Der selbständige jüdische Städter — sei er Kleinhändler, Handwerker oder Makler — versuchte zunächst den Kampf mit den herannahenden Unbilden, indem er sich krampfhaft bemühte, seine alte wirt-



15



schaftliche Stellung auszubauen und zu erhalten. Dies gelang aber nur zum Teil. Und so wurde er nach einem schweren Kampfe niedergerungen und völlig ruiniert, zum Fabrik- und Heimindustriearbeiter. Die große Masse verblieb freilich in den kümmerlichen Verhältnissen des jüdischen Handwerks der Neuzeit."') Welches sind aber die Ursachen der Nichtindustrialisierung der jüdischen Massen und gleichzeitig die Ursachen ihrer starken Auswanderung? . Sie sind ö k o n o m i s c h e r und p s y c h o l o g i s c h e r Art. Zu den ersten gehören vor allem die größeren Bedürfnisse der jüdischen Arbeiter als Städter, die sich in der Forderung eines höheren Lohnes ausdrücken. Dieser wird ferner nicht nur durch das, was der jüdische Arbeiter für sich allein nötig hat, bestimmt, sondern auch durch das, was er zum Unterhalt seiner, Familie benötigt. Der christliche Arbeiter, dessen Familie ohne seine Unterstützung sich auf dem Lande ernährt, hat deshalb vor dem jüdischen Arbeiter in dem Kampf um den Arbeitsplatz viele Chancen voraus. Diese Chancen werden noch dadurch .vergrößert, daß die Konkurrenzverhältnisse innerhalb der jüdischen Arbeiterschaft ganz ungeheuerlich sind. Die größere Bildung der jüdischen Arbeiter bedingt ferner eine vom Standpunkte des Unternehmers zum Teil begreifliche Bevorzugung des christlichen Bewerbers: der jüdische Arbeiter ist viel revolutionärer gesinnt als der christliche; auch der nötige Respekt vor dem Unternehmer geht ihm meistens vollständig ab. So ist der jüdische Arbeiter im Konkurrenzkampf mit dem christlichen der ökonomisch Schwächere und muß deshalb unterliegen. Dieser Prozeß der Ausstoßung der jüdischen Arbeiter aus der im industriellen Werden befindlichen Wirtschaft des Volkes ist in der Natur der Sache begründet und kann durch ®) W l a d . W. K a p l u n - K o g a n : Die Lage des jüdischen Proletariats in Rußland, Süddeutsche Monatshefte, Juli-Heft 1915. Eine sehr gute Darstellung des jüdischen Handwerks in Rußland gibt L e o R o s e n b e r g e r : Zur Reform des ostjüdischen Handwerks, Der Jude, Jahrgang I, p. 439, und Armenwesen und soziale Fürsorge im Ostjudentum, ibid. Jahrgang II, p. 321.



16



keine gesetzgeberische Maßnahmen nach irgendeiner Richtung beeinflußt werden. Ebenso war seine Entstehung letzten Endes ökonomischer Natur, nämlich durch die Aufhebung der Leibeigenschaft hervorgerufen, die den Anfang vom Untergang des jüdischen Handwerkertums bedeutete. Die Zahl der jüdischen Fabrikarbeiter in Rußland ist deshalb sehr gering, es gab ihrer 1897 etwa 47 000 bei einer Gesamtbevölkerung von über sechs Millionen! Sie wurden fast nur in den jüdischen Fabriken beschäftigt, deren Rückständigkeit durch' folgende Zahlen charakterisiert sei: in Polen gab es 1897 4200 Fabriken, davon gehörten den Juden 1400, d. h. etwa 33 Proz. Von den 247 000 Arbeitern entfielen auf die jüdischen Fabriken nur 43000. Auf einer jüdischen Fabrik wurden durchschnittlich nur 30 Arbeiter, auf einer nicht jüdischen 102 Arbeiter beschäftigt. Die jüdischen Fabriken sind deshalb fast ausnahmslos Z w e r g fabriken. Was die Stellung des jüdischen Handwerkertums anbelangt, so genügt vielleicht nur noch die Erwähnung, daß durch die starke Industrialisierung des Landes seine Existenz sich immerzu verschlechterte — in ganz anderem Maße, als das in Westeuropa der Fall war. Denn auch die Produkte der Handwerker sind im Osten keine Qualitätsware mehr, sondern Massenproduktion. Eine Konkurrenz mit der Fabrik erscheint deshalb völlig aussichtslos. Andererseits fehlt aber die Kundschaft, die auf gute Qualitätsware besonderen Wert legte 10 ). Während die Ursachen der Auswanderung dieser sozialen Gruppen d a u e r n d e r , also ökonomischer Natur sind, in der Struktur der Volkswirtschaft begründet, werden die Massen des Kleinhandels und der freien Berufe durch Maßnahmen politisch - rechtlicher Art zur Auswanderung getrieben. Diese Andeutung der judenfeindlichen Politik des früheren Rußlands genügt. Es liegt schon in der Terminologie ausgedrückt, daß 10

) Über das Handwerk der früheren Zeiten und seine Organisation handelt die Arbeit von Dr. S. R a b i n o w i t s c h : Die Organisation des jüdischen Proletariats (richtiger: des Handwerkers), 1903.



17



dort, wo Maßnahmen vorübergehender, also politisch-rechtlicher Natur, die Auswanderung veranlassen, ein Abbau dieser Maßnahmen möglich ist. Mit der Zeit wird er überall dort, wo die Entwicklung des Wirtschaftslebens eine Verwertung aller im Lande vorhandenen wirtschaftlichen Energien erfordert, unbedingt stattfinden; dies wird im gewissen Umfange in Rumänien der Fall sein und ist ja schon in Rußland geschehen. Es ist aber offensichtlich, daß die dauernden ökonomischen Ursachen nur bei einem vollständigen Umbau des Wirtschaftsorganismus oder gar nicht aus der Welt geschafft werden können — aus derjenigen jüdischen Welt, wo die Juden in größeren Massen auftreten. Hier wird die Ausstoßung der jüdischen Arbeitskräfte, oder präziser ausgedrückt: der jüdischen wirtschaftlichen Energien, immer vor sich gehen und bald mildere, bald härtere Formen annehmen. Es handelt sich hier nämlich letzten Endes nicht nur um Arbeiter und Werktätige im engeren Sinne, sondern um wirtschaftliche Energien schlechthin, die in den Juden verkörpert sind, und die in allen Zweigen einer Wirtschaft sich entfalten können.

Kaplua-Kogaa, Die jüdische* W ander beweguagea

2

Zweiter

Abschnitt

Die jüdischen Wanderungen in der neuesten Zeit Drittes Kapitel Die jfidische Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika 1. Übersicht der Gesamtwanderungen Die Wege der jüdischen Wanderer sind mannigfaltig. Nach absolut zuverlässigen und genauen Angaben der schon erwähnten Annual reports und der sonstigen ähnlichen amtlichen Berichte Englands und Rußlands, und nach den nur annähernden Schätzungen jüdischer Statistiker sind, wie aus der Tabelle III ersichtlich ist, alle Länder, wo die Juden wohnen, in den Wanderungsprozeß einbezogen. Der Osten Europas bildet das große Reservoir der Auswanderung (2581000 Auswanderer). Das größte Einwanderungsland ist Amerika. Wie sich das Verhältnis der verschiedenen Länder untereinander nach der Zahl der Ein- und Auswanderer stellt, werden wir im nächsten Kapitel kurz zu untersuchen haben. Das Gesamtergebnis ist imponierend genug: bei einer Gesamtjüdenheit von höchstens 12 Millionen haben im letzten Menschenalter weit über 3 Millionen Juden, genau 3 055000 Personen, ihr Heimatsland gewechselt. Zwei neue jüdische Zentren entstanden, beide von schwerwiegendem Einfluß auf das jüdische und allgemeine wirtschaftliche und politische Leben, in Amerika und Palästina.



19 —

T a b e l l e III Gesamtübersicht

der jüdischen Ein- und

Auswanderung

In der Zeit von 1880 bis 1914 wanderten Juden aus nach Rußland

Österr.Ungarn

Rumänien

Vereinigte Staaten . Kanada Argentinien . . .

1593 000 35 000 23000

240 000 7 000 1000

(32 000

G02 000 2 497 000 48000 6000 36000 12000

Summa: Amerika .

1651 000

248 000

62 000

620000

2 581 000

England . . . . Deutschland . . . Frankreich . . . Belgien

180000 21000 35 000 8000

15 000 30000 13 000 1 000

30 000

10 000 12000 6000

241000 51000 60000 15000

Sa: West-Europa

.

244 000

59 000

30000

34 000

367 000

Süd-Afrika . . . Ägypten . . . .

18 000 11000

1 000

6000 11000

25000 22000

Summa: Afrika.

.

29000

1000

17000

47 000

Palästina und Kleinasien . . .

45000

10000

3000

12000

70000

1969 000

31800

95 000

Insgesamt

. . . .



anderen Ländern

Insgesamt

683 000 3055000

2. Allgemeine und jüdische Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika In folgendem wollen wir die jüdische Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika einer genauen Analyse unterziehen. Da diese Einwanderung numerisch die größte ist — von den 3055000 jüdischen Wanderern der letzten 34 Jahre sind in den Vereinigten Staaten allein 2*



20



T a b e l l e IV

669431 788992 603322 518592 395346 334203 490109 546889 444427 455302 560318 579663 439730 285631 258536 343267 230832 229299 311715 448572 487918 648743 857046 812870 1026499 1100735 1285349 782860 751785 1041570 878587 838172 1197892 1218480

8193 17497 6907 15122 16603 17309 28944 31256 31889 33147 42145 76417 35626 36725 33232 45137 22750 27221 24275 37011 37660 37846 47689 77544 92388 125234 114932 71978 39150 59824 65472 58389 74033 102638



















— —











































— —

. —



































— '



















11071 16920 13006 12848 18759 20211 17352 14884 18885 15293 8431 13142 12785 10757 15202 20454

24 13 82 55 420 817 14299 6113 7032 6260 3385 4098 4895 4308 4001 3614





1343 405 6183 337 6827 272 6589 182 8562 477 6446 665 3854 734 3872 979 3605 734 4455 869 1330 652 705 1701 799 2188 629 1512 806 1640 2646 1127

-8 | . s » r

14310 —

12288 19611 29658 27468 31363 23962 34303 69139 60325 32943 22108 32077 28118 20684 2740a 297 300 251 169 296 549 1283 2666 3994 4532 4543 4790 5084 5000 5648 7572

8193 31807 6907 27410 36214 46967 56412 62619 55851 67450 111284 136742 68569 58833 65309 73255 43434 54630 37415 60764 58098 57688 76203 106236 129910 153748 149182 103387 57551 84260 91223 80595 101330 138051

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anderen Ländern

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1

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i : Rumänien

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88



36



T a b e l l e XVII Altersaufbau der ledigen Frauen in. der jüdischen, gesamten und italienischen Einwanderung in den Jahren 1910—1914 /.

jüdische:

Es gab unter den ledigen Frauen im Alter von Jahr

14—21J ahren 2 2 - 2 9 J ahren 30—37 J ahren 38—44 Jahren absolut

1910-1914

70 3S1

In Proz. 14,2

in Proz.

absolut

17 430 II.

3,5

absolut

2083

In Proz.

0,4

absolut

j Proz.

452

j 0,08

gesamte:

1 9 1 0 - 1 9 1 4 j 470 105 | i),l | 206 561 | 3,9 [ 54 222 j 1,1 | 16927 | 0,3 III.

italienische:

1910—1914 j 52 075 | 4,5 | 25 0661 2,2 j

5 971 j 0,5 j 1637

| 0,2

dem sie meistens schon verheiratet sind: zwischen 30 und 37 Jahren. Dies ist auch das Alter, in dem sie als Wirtschaftssubjekte für den Daseinskampf vorwiegend in Frage kommen. Viel klarer stellt die Verhältnisse die Rubrik der Verheirateten dar. Hier ist es beachtenswert, daß die Differenz zwischen dem Prozentsatz der verheirateten männlichen Personen im Alter von 14—44 Jahren und dem Prozentsatz der verheirateten weiblichen Personen desselben Alters bei den (luden ganz unbedeutend ist, während bei der Gesamteinwanderung und den Italienern, die ja nur vorübergehend nach Amerika übersiedeln, der Prozentsatz der verheirateten Männer bedeutend den der verheirateten Frauen übersteigt. So gab es im Lustrum 1910—14 bei den Juden 13,9 Proz. der verheirateten männlichen Personen und 10,8 Proz. der verheirateten weiblichen Personen in demselben Alter (14 bis 44 Jahre). Die Differenz 3,1 Proz. Bei der Gesamteinwanderuiig dagegen gab es 23,3 Proz. der verheirateten Männer und 9,6 Proz. der verheirateten Frauen. Die Differenz 13,7 Proz. Noch größer ist der Unterschied bei den Italie-



37



nern: 30,7—9,8 = 20,7 Proz. Das heißt: bei den Juden kommen viel mehr verheiratete Männer m i t ihren Frauen an, als bei der Gesamteinwanderung und den Italienern. Die J u d e n w a n d e r u n g ist eine F a m i l i e n w a n derung, Die Zahl der Witwer im: Alter von 14—44 Jahren ist bei den Juden, der Gesamteinwanderung und den Italienern fast dieselbe, jedoch übersteigt die Zahl der jüdischen Witwer im Alter über 45 Jahre (in Prozent: 0,4) die Zahl der Witwer in der Gesamteinwanderung (in Prozent: 0,3) und bei den Italienern (in Prozent: 0,2). Die jüdischen Witwen sind jedoch in beiden Altersklassen stärker vertreten als unter den übrigen Einwanderern. Auch die Älteren, die verwitweten Väter und Mütter, ziehen mit den jüngeren in die neue Heimat herüber. Auf den starken Familienzusammenhang zwischen den schon früher Ausgewanderten und den Nachziehenden, oder überhaupt zwischen der alten und neuen Heimat können wir aus der Zahl derjenigen Auswanderer schließen, die ihre Fahrt nicht selbst bezahlt haben, sondern die Reisekosten von ihren Verwandten bekommen haben. Die Zahl solcher Auswanderer ist bei den Juden recht groß: in den letzten 3 Jahren (1912—14) betrug sie 211765, d. h. 66,1 Proz. (Tabelle XVIII.) Selbst haben die Fahrt unter den Juden nur 106942 Auswanderer, d. h. 33,4 Proz., bezahlt; weder selbst noch von Verwandten wurde die Reise von 1269 Personen, d. h. 0,3 Proz., bezahlt. Dementsprechend gingen zu Verwandten 94 Proz. aller Auswanderer dieser drei Jahre! Zu Freunden gingen 4,0 Proz., und weder zu Freunden noch zu Verwandten nur 1,9 Proz. Diese Zahlen sprechen recht deutlich von dem bewunderungswürdigen jüdischen Gemeinschaftsgefühl. Unter allen Nationalitäten, die in den Jahren 1912 bis 14 nach Amerika einwanderten, wurde bei den Juden die Reise von den Verwandten am häufigsten bezahlt: sie stehen in dieser Beziehung mit ihren 66,1 Proz. an der Spitze; es folgen dann Litauer mit 49,5 Proz., Deutsche mit 39,9 Proz., Franzosen mit 37,8 Proz., Engländer mit 36,9 Proz. usw. (Tabelle XIX.)

— 38 — T a b e l l e XVIII Auswanderer auf eigene und fremde Rechnung Die Reise in die Vereinigten Staaten wurde bezahlt Jahr

Es gingen

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selbst absolut

weder zu

zu zu Verwandten von selbst noch noch zu Verwandten von Ver- Verwandten Freunden Freunden wandten absolut

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Auch was die Zahl derjenigen Einwanderer, die zu den Verwandten gingen, anbetrifft, stehen die Juden an der Spitze aller anderen Nationalitäten; im übrigen ist es bezeichnend, daß auch bei den anderen Nationalitäten die Zahl der Einwanderer, die zu den Verwandten gingen, recht groß ist, am kleinsten bei den Engländern: 94505 Einwanderer, d. h. 60,1 Proz. 7. Finanzielle Lage der jüdischen Einwanderer Omnia sua secum portat — das antike Wort ist auf den jüdischen Wanderer ohne weiteres anzuwenden. Wie ist seine finanzielle Lage? Tabelle XX gibt darüber sehr reiche Aufschlüsse. Es kamen auf den Kopf der jüdischen Einwanderer zwischen 7,3 und 24,4 Dollars, während bei der Gesamteinwanderung jeder Einwanderer zwischen 15 und 36,2 Dollars mitbrachte. Die Verbesserung, die in den vorletzten zwei Jahren eintrat und bei der Gesamtbevölkerung auch weiter anhielt, ist bei den Juden im Jahre 1913—14 nicht mehr festzustellen. Die Zahl der jüdischen Geldträger ist überhaupt niedriger als bei der Gesamteinwanderung, da die Juden am meisten Kinder unter 14 Jahren und Frauen in ihren Reihen aufweisen. Jedoch stehen auch

1,9



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— 44 — nach stehen die Juden, was die Zahl der Analphabeten unter den Erwachsenen (vom 14. Jahre ab) anbetrifft, an dreizehnter Stelle; es konnten unter ihnen lesen aber nicht schreiben 897 Personen (in den letzten 3 Jahren 1912—14), und weder lesen noch schreiben 53 001 Personen, zusammen 53 898 Personen, d. h. 27,8 Proz. aller Erwachsenen, Am meisten Analphabeten befanden sich unter den Portugiesen (59,2 Proz.), dann unter den Litauern (50,6 Proz.). 9. Berufliche Gliederung der jüdischen

Einwanderung

a) A l l g e m e i n e s Die amerikanische Statistik unterscheidet vier berufliche Gruppen: 1. Angehörige der freien Berufe, 2. gewerblich Vorgebildete („skilled"), 3. Angehörige verschiedener Berufe und 4. Berufslose, Wie die Tabelle XXV zeigt, wanderten in der Zeit von 1899—1914 11 186 Angehörige der freien Berufe, d. h. 0,75 Proz. der gesamten jüdischen Einwanderung dieser 16 Jahre; 574061 gewerblich Vorgebildete, d. h. 38,6 Proz.; 256568 Angehörige verschiedener Berufe, d. h. 17,2 Proz. und 643842 Berufslose; d. h. 43,3 Proz. Die große Zahl der Berufslosen fällt sofort auf: sie machen in einem Jahre (1900—01) sogar 54,5 Proz. aus, und ihre Zahl sinkt nur im Jahre 1904—05 auf 36 Proz. der gesamten jüdischen Einwanderung. In W i r k l i c h k e i t ist j e d o c h die Zahl der B e r u f s l o s e n in d e r j ü d i s c h e n E i n w a n d e r u n g b e d e u t e n d k l e i n e r . Der ungewöhnlich hohe Prozentsatz der rohen Statistik des Commissioner General of Immigration erklärt sich leicht durch den bekannten Mangel der amerikanischen Einwanderungsstatistik, der darin besteht, daß bei der beruflichen Gliederung der Einwanderer nicht allein Erwachsene und Erwerbstätige gezählt werden, sondern die ganze Masse der Einwanderer, K i n d e r u n d F r a u e n m i t g e r e c h n e t . Es ist natürlich, daß bei den Juden, die eine so große Anzahl von Kindern und Frauen aufweisen, der Prozentsatz der Berufslosen eine ganz ungewöhnliche Höhe erreicht.

— 45 — T a b e l l e XXV Berufliche Gliederung der jüdischen Einwanderer Jahr

1898- -1899 1899- -1900 1900- -1901 1901- -1902 1902- -1903 1903- -1904 1904- -1905 1905- -1906 1906- -1907 1907- -1908 1908- -1909 1909- -1910 1910- -1911 1911- -1912 1912- -1913 1913- -1914 1899—1914

Angehörige der freien Berufe

Gewerblich Vorgebildete

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absolut

0,50 0,40 0,50 0,50 0,60 0,80 0,90 0,71 0,70

12 276 32.8 21 047 34,7 18 352 31,6 17 841 30.9 27 071 35,5 45 309 42.5 60 135 46,3 51 141 33,2 55 552 37,2 36 193 35,0 18 219 31.6 32 887 39.0 39 092 42,9 34 330 42.5 44 617 44.1 60199 43.6

197 253 294 295 499 843 1 163 1094 1045 713 450 610 736 781 972 1226 in86

0,68

0,79 0,73 0,80 0,96 0,95 0,89 !

0,75 574 061

in %

Angehörige verschiedener Berufe

Berufslose

absolut

in %

absolut

in %

5 253 9 484 7 745 13 616 17 4SI 21799 21741 24 370 23 673 19 759 9 761 12 307 13 170 12 520 18 083 25806

14,3 15,6 13.3 23.6 22,8 20.5 10.7 15.8

19 689 29 980 31707 25 952 31152 38 485 46 871 77 143 68 912 46 722 29 115 38 447 38 225 32 964 37 658 50 820

52,5 49,3 54,5 45,0 40,9 36,2 36,0 50.0 46,2 45,2 50.8 45.7 41.9 40,9 37.1 36.8

I 17,2 j 643 842

43,3

38.6 256 568

16,0

19,1 16.9 14.6 14.4 15.5 17,8 18.6

Um den wirklichen prozentualen Anteil der Berufslosen in der jüdischen Einwanderung festzustellen, wollen wir nach der Methode verfahren, die zuerst Dr. V o r n b e r g in seiner ausgezeichneten Arbeit über die Jüdische Emigration angewendet hat. Er nimmt an, daß die Kinder unter 14 Jahren in die Rubrik der Berufslosen nicht hineingehören und zieht deshalb den prozentualen Anteil der Kinder an der Einwanderung von dem Prozentsatz der Berufslosen ab. Diese Umrechnung ist einfach, komplizierter wird sie in bezug auf die Frauen. Es wäre nicht richtig, alle Frauen von dem Prozentsatz der Berufslosen glatt abzuziehen. Das Maß muß hier das .Verhältnis zwischen den erwerbstätigen Männern und Frauen abgeben. Nach der Materialiensammlung der Jewish Colonisation Association (JCA) gab es in Rußland auf 500986 jüdische Handwerker 76548 jüdische Frauen, die im Handwerk tätig waren, was



46

T a b e l l e XXVI Die Zaht der Beruhlosen

Jahr

Nach dem Bericht

1898-1899 1899—1900 1900-1901 1901—1902 1902—1903 1903—1904 1904—1905 1905-1906 1906—1907 1907—1908 1908-1909 1909-1910 1910-1911 1911—1912 1912—1913 1913—1914

52 Va 49 54»/, 45 41 36 36 50 46 45 51 46 42 41 37 37

in der jüdischen Einwanderung

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15,26 Proz. aller im Handwerk tätigen Personen ausmacht. „Das heißt, daß es bei der gleichen Zahl von Männern und Frauen unter den letzteren etwa 62/»mal so wenig Personen ohne bestimmten Beruf gibt als bei den Männern." ") Doch ist dies Verhältnis in verschiedenen Ländern schwankend. V o r n b e r g nimmt nun das Verhältnis 1 zu 4 an und setzt voraus, daß sich unter den gewerblich Vorgebildeten 25 Proz. erwerbstätige Frauen befinden. Als Grundlage für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern in der Einwanderung werden 37 Proz. Frauen und 63 Proz. Männer angenommen. Die Umrechnung zeigt nun folgendes Bild der wahrscheinlichen Zahl' der Berufslosen in der jüdischen. Einwanderung (Tabelle XXVI). Statt der Prozentsätze von 36—54,5 erhalten wir die Zahlen 8V. bis 25*/«, wobei es nur " ) Dr. K. (russisch), p. 37.

Vornberg:

Jüdische

Emigration,

Kiew

1908



47



in den Jahren 1899—1900 und 1900—01 mehr als 20 Proz. Berufslose gab. Sonst schwankt der Prozentsatz der jüdischen Berufslosen zwischen 81/« und 181/« Proz. Trotz der Ungenauigkeit der vorgenommenen Umrechnung ist die Differenz nicht groß und man kann jedenfalls mit Recht behaupten, daß die jüdische Einwanderung auch in dieser Beziehung nichts Anormales darstellt. Ihr ausgesprochener Arbeitercharakter tritt hingegen klar und deutlich hervor, wenn wir andere soziale Gruppen betrachten und den überaus lehrreichen Vergleich zwischen der beruflichen Gliederung der jüdischen Einwanderungsbevölkerung und der anderen Nationalitäten ziehen. Es ist im höchsten Maße beachtenswert, daß die Juden, was die Zahl der gewerblich Vorgebildeten anbetrifft, an der Spitze aller Nationen stehen: im Jahre 1910—11 42,9 Proz., im Jahre 1913—14 43,6 Proz. (Tabelle XXVII.) An zweiter Stelle kommen die Schotten mit 35 Proz und 28,3 Proz. Im Gegensatz hierzu ist die Klasse der Angehörigen verschiedener Berufe bei den Juden am schwächsten vertraten; hier stehen sie an letzter Stelle, was leicht dadurch erklärt werden kann, daß die Rubrik der Angehörigen verschiedener Berufe auch die der landwirtschaftlichen Arbeiter enthält, welche in der jüdischen Einwanderung eine ganz unbedeutende Rolle spielen. b) F r e i e B e r u f e Die Zahl der Angehörigen der freien Berufe in der jüdischen Einwanderung ist nicht groß; ihr prozentualer Anteil beträgt 0,75 Proz., obwohl es ihrer in der jüdischen Bevölkerung Rußlands viel mehr gibt (5,22 Proz.). Ihre Lebensbedingungen sind noch verhältnismäßig gut und ihr Bedürfnis auszuwandern ist nicht groß. Außerdem sind es schließlich nur einzelne, die sich in freien Berufen auch in Amerika durchsetzen können. Es lohnt sich jedoch zu untersuchen, welche von den freien Berufen an der Auswanderung am meisten beteiligt sind. Man gewinnt dadurch nicht nur einen näheren Einblick in die soziale Struktur der jüdischen Wanderungen, sondern auch manche

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1910—1911

49

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50



recht interessante Aufschlüsse über das Leben der jüdischen Intelligenz Rußlands. Die Lehrer und die Musiker sind es .nun, die innerhalb der freien Berufe in der jüdischen Einwanderung dominieren: die ersteren mit 30,4 Proz. und die letzteren mit 21,3 Proz. (Tabelle XXVIII). Vergleichen wir ferner die Stärke verschiedener Berufe in der Einwanderung im Laufe der letzten 16 Jahre mit derjenigen in Rußland (Tabelle XXIX, s, S. 52), so fällt uns vor allem die unverhältnismäßig starke Auswanderung der Vertreter von Wissenschaft, Literatur und Kunst auf: sie wandern 12 mal so stark aus, als sie eigentlich ihrer Stärke im Heimatslande gemäß auswandern sollten; sie machen in der Auswanderung 48,2 Proz. aus, während ihr prozentualer Anteil an der jüdischen Bevölkerung Rußlands" nur 4,2 Proz. beträgt. In der Tat wandern die Vertreter von Wissenschaft, Literatur und Kunst noch stärker aus, als hier angegeben ist; denn die Zahlen beziehen sich nur auf die Vereinigten Staaten, während, wie bekannt, eine beträchtliche Anzahl von Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern in allen Großstädten des Kontinents sich dauernd aufhalten. Nicht so erheblich ist die Auswanderung der Geistlichen; ihre wirtschaftliche Lage scheint mehr gefestigt zu sein, noch besser die der Rechtsanwälte und Ärzte. Es ist übrigens bezeichnend, mit welch merkwürdiger Schnelligkeit und fast mathematischer Genauigkeit die Auswanderung all die Vorgänge im Leben der Juden in Rußland widerspiegelt; so schwankte lange Jahre hindurch die Zahl der einwandernden Rechtsanwälte jährlich zwischen 3 und 6, um plötzlich auf 14 emporzuschnellen — genau in dem Jahre 1910—11, in dem man dem jüdischen Rechtsanwaltsstande neue und drückende Beschränkungen auferlegte. c) H a n d e l s s t a n d Von den Angehörigen verschiedener Berufe interessieren uns am meisten die Handeltreibenden. Leider gibt die amerikanische Statistik gar keine Aufschlüsse über die Art und Größe des Handels, dem die nach Amerika einwan-

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67



dadurch zu erklären ist, daß in Palästina auch Angehörige der freien Berufe in der Landwirtschaft tätig sind — 15 Proz. von Handel und der Industrie und 19 Proz. HandWerker und Landarbeiter. Ohne genauere Spezifikation läßt sich hier natürlich nicht viel aussagen. Aber aus den Untersuchungen, die im Lande selbst vorgenommen sind 20 ), wissen wir, daß auch diese Einwanderung nach Palästina, wie die gesamten jüdischen Wanderungen der neuesten Zeit, einen a u s g e s p r o c h e n e n A r b e i t e r c h a r a k t e r tragen. "') Aus der großen Literatur über den gesamten Komplex von Fragen, der auf die Einwanderung und Kolonisation Palästinas sich bezieht, erwähne ich (olgende Werke: Dr. C. N a w r a t z k i : Die jüdische Kolonisation Palästinas, München 1914, das beste grundlegende Werk, in dem die Materie in systematischer und vorbildlicher Weise verarbeitet ist. Einzeldarstellungen enthält das PalästinaHandbuch von D a v i s T r i e t s c h , Berlin 1912, 2. Aull. Engere Kolonisationsfragen behandelt die Arbeit von Dr. J a c o b ö t t i n g e r : Methoden und Kapitalbedarf jüdischer Kolonisation in Palästina, Haag 1917. Die politischen Grundlagen des Problems schildert F. C. E n d r e s : Zionismus und Weltpolitik, München 1918. Fortlaufend über alle Fragen der Einwanderung und Kolonisation Palästinas unterrichten die ausgezeichneten Mitteilungen des Hauptbureaus des Jüdischen Nationalfonds Erez Israel (im Haag); bis jetzt erschienen Heft 1 vom September 1916 und Heft 2 vom Mai 1917. Sehr instruktiv ist die Abhandlung von Direktor H u b e r t A u h a g e n : Jüdische Kolonisation in Syrien, Neue Jüdische Monatshefte, Jahrgang I, p. 269.

Dritter

Abschnitt

Die Wirkungen der jüdischen Wanderungen Sechstes Kapitel Die Wirkungen der jüdischen Wanderangen. 1. Im

Auswanderungslande

Die merkwürdigen Prozesse, die im jüdischen Leben vor sich gehen, erscheinen uns, die wir mitten in der Gegenwart stehen, nicht in der Bedeutung, die ihnen an sich innewohnt. Es fehlt uns die nötige Distanz; denn weder den Zusammenhang der Geschehnisse, noch die Folgen und Wirkungen können wir in ihrem ganzen Umfange absolut richtig erfassen. Und doch gibt es in der jüdischen Gegenwart Erscheinungen, die ein besonders feines und präzises Verstehen erfordern, ein tätiges Eingreifen, ein mutiges Gestalten, auf daß das jüdische Leben ein neues Antlitz erhalte. Die jüdischen Wanderbewegungen der Neuzeit gehören zu d e n Tatsachen der jüdischen Gegenwart, die geeignet sind, den gesamten Aufbau des jüdischen Lebens in den verschiedensten Ländern, in die nur die Wanderer gelangen, wenn nicht von Grund aus umzuändern, so doch auf den Entwicklungsgang der vielen jüdischen Zentren einen mehr oder weniger starken Einfluß auszuüben. Der Schwerpunkt des jüdischen Lebens in England hat sich wesentlich verschoben, seitdem ein größerer Teil der jüdischen Wanderer sich dort niedergelassen hat, und in Amerika wurden von den Wanderern ganz neue mächtige Zentren begründet. Aber auch in den Ländern, die nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Wanderern beherbergen (Palästina), haben sie die innere und äußere Struktur des Judentums schwerwiegend beeinflußt.

— 69 — Es waren die groBen Wanderungen, die a u c h in der jüdischen Geschichte um- und aufbauend, aber auch zerstörend wirkten. Es gibt keinen anderen Faktor der jüdischen Geschichte, der in solchem Grade das umbauende, das gestaltende Moment besitzt wie die jüdischen Wanderungen. Sie brachten immer eine starke Umgestaltung der alten Lebensformen mit sich, und sie hatten sehr oft ein fast völliges Verschwinden der Juden in einem Erdteil und ein Aufleben und Emporkommen in neuen Ländern zur Folge. So ist es eine besonders lohnende, aber auch ungemein schwierige Aufgabe, die W i r k u n g e n der jüdischen Wanderungen theoretisch herauszuarbeiten, während eine Beschreibung der tatsächlichen Wirkungen sich mit mehr oder weniger-Trefflichkeit leicht ermöglichen läßt91). Die Be" ) Die Frage nach den Wirkungen der Wanderungen ist in der Literatur bis jetzt nur wenig und einseitig behandelt worden. Sehr fein, aber leider zu fragmentarisch ist die Abhandlung von Prof. Dr. E u g e n v. P h i l i p p o v i c h : Auswanderung im Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. 2. Grundlegend für die wirtschaftliche Behandlung der Frage ist der folgende fundamentale Satz von P h i l i p p o v i c h : „Eine isolierte Betrachtung des wirtschaftlichen Wertes der Auswanderung ist ohne Nutzen, denn die Berechnungen entbehren jeder realen Grundlage. Erst eingefügt in das Leben der Volkswirtschaft in der Gfitererzeugung, im wirtschaftlichen Verkehr und Güterverbrauch, kommt den Menschen dasjenige zu, was man ihren wirtschaftlichen Wert nennen könnte," p. 277. Einseitig und nur vom proletarischen Standpunkte aus ist das Problem anläßlich des Stuttgarter Sozialistenkongresses behandelt worden. Das Beste über die Theorie der Wanderungen schrieb O t t o B a u e r : Proletarische Wanderungen, Neue Zeit, Berlin 1906/7, 25. Jahrgang, Bd. 2, p. 476. Tatsächliches Material — allerdings auch nur unter Einstellung auf rein proletarische Interessen — sind die Abhandlungen von J o s e f D i n e r - D i n e s : Auswanderung und Einwanderung in Ungarn, in demselben Band der Neuen Zeit, p. 621, und von M a x G r u n w a l d : Die fremden Arbeitskräfte in Deutschland und die preuBisch-deutsche Gesetzes- und Verwaltungspraxis, ibid. p. 581. Di« Frage des Schutzes der einheimischen Arbeitskräfte schnitt M o r r i s H i l l q u i t an in der Abhandlung: Das Einwanderungsproblem in den Vereinigten Staaten, ibid. p. 444. Ihm antwortete



70 —

leuchtung der Struktur der Wanderungen, die wir im vorigen Abschnitt kennen gelernt haben, wird hier von neuen bestimmten Gesichtspunkten unumgänglich sein. Man muß die Wirkungen der Wanderung zunächst unterscheiden nach den b e i d e n Ländern, die jede Wanderung entscheidend berührt, also die Wirkungen im A u s wanderungslande und die Wirkungen im Einwanderungslande. Die ersteren teile ich in zwei Gruppen: A. Wirkungen au! das W i r t s v o l k . Diese Wirkungen sind überaus mannigfaltig und beschäftigten seit jeher die Nationalökonomen aller Völker. S o m b a r t hat es zuletzt unternommen, in seinem Buche: Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, die Bedeutung der Juden für das Wirtschaftsleben herauszuarbeiten. Eine Untersuchung und eine Darstellung dieser Wirkungen kann uns jedoch hier nicht beschäftigen, weil hier nur eine Analyse der j ü d i s c h e n Wanderungsprozesse gegeben werden soll, während eine Schilderung der Wirkungen auf das Wirtsvolk in einer Beschreibung der Wirtschaftsgeschichte der modernen Kulturvölker auslaufen würde 22 ). B. Wirkungen auf d e n j e n i g e n T e i l d e s a u s g e w a n d e r t e n V o l k e s , der im A u s w a n d e r u n g s l a n d e g e b l i e b e n i s t . Eine Darstellung der LebensDr. K a r l V o r n b e r g : Die Feinde der Einwanderung, ibid. p. 495. Grundlegend ist diese Frage in dem ausgezeichneten Werk von J . A. H o u r w i c h : Immigration and labor, New-York and London 1912, behandelt. Das gesamte Gesetzgebungsmaterial der damaligen Zeit stellte M a x S c h i p p e 1.zusammen: Die fremden Arbeitskräfte und die Gesetzgebung der verschiedenen Länder, Beilage zur Neuen Zeit, 25. Jahrgang, 1906/7, Bd. II, Nr. 41. S 2 ) Einiges darüber ist in meinem Buche: Die Wanderbewegung der Juden, Bonn 1913, angedeutet. Ober die Rolle, die die jfidischen Einwanderer der neuesten Zeit in dem wirtschaftlichen Leben Deutschlands iffld in anderen Ländern Mitteleuropas gespielt haben, gibt es in der wissenschaftlichen Literatur fast gar nichts. Über den jfidischen Arbeiter in England schrieb G e o r g H a l p e r n : Der jüdische Arbeiter in London, Stuttgart 1904. Eine sehr lebendige Schilderung gibt N. E i n s t e i n : Tagebuchblätter aus Whitechapel, Der Jude. Jahrgang 3, p. 169. Die übrige Literatur ist vorwiegend englisch. Ich erwähne nur W e b b : The jewish Community, London; R o u s s e l l :



71 —

bedingungen des jüdischen Volkes unter der ausschließlichen Einstellung auf dies besondere Problem ist bis jetzt noch nicht gegeben worden. Auch ich behandle hier den Gegenstand vorwiegend theoretisch und unterscheide unter diesen Wirkungen: 1. ökonomische, 2. psychologische und 3. politische Wirkungen. ökonomische Wirkungen teile ich wiederum in: a) positive und b) negative. Erwähnen muß man dabei, daß es auch Wanderungen gibt, die w i r k u n g s l o s sind, wirkungslos unter den großen Gesichtspunkten, die hier verfolgt werden. Daß im Laufe der letzten 34 Jahre aus Deutschland 10000 Juden nach Amerika ausgewandert sind, hat auf die Lage der deutschen Judenheit und der deutschen Volkswirtschaft gar keinen wesentlichen Einfluß ausgeübt. Negative ökonomische Wirkungen sind dann vorhanden, wenn durch Auswanderung so viel und solch entscheidende produktive und sonstige wirtschaftliche Energien der Wirtschaft des zurückgebliebenen Volksteiles entzogen werden, daß sein Verfall in kleinerem oder größerem Ausmaße wahrnehmbar wird. Von dieser Wirkung kann im jüdischen Osten nicht die Rede sein. An Arbeitskräften bleiben noch recht viele, vielleicht allzuviele zurück, deren vollkommene Verwertung und Ausnutzung durch die rückständige Entwicklung der jüdischen Fabrik und durch die Nichtindustriealisierung der jüdischen Massen stark gehemmt wird. Ein Abfluß von sonstigen, etwa Geldwerten, findet nur in The J e w i n L o n d o n , London; und The Russian Jew in the United States, Studies ol social conditions in New-York, Philadelphia and Chicago with a description of rural settlements, Planned and ed. by C h a r l e s J. B e r n h e i m e r , Philadelphia 1905. Ferner: L. C h a s a n o w i t s c h Das jüdische Proletariat in Nordamerika, Freistatt, Maiheft 1913.



72 —

einem unerheblichen Grade statt, da die finanzielle Lage der jüdischen Auswanderer überaus schlecht ist. Die p o s i t i v e n Wirkungen glaube ich in zwei Untergruppen einteilen zu müssen, und zwar sind sie entweder. i a) verbessernder, aufbauender, oder b) vorbeugender Art. A u f b a u e n d e r Art sind sie dann, wenn durch Auswanderung die wirtschaftliche Lage des zurückgebliebenen Volksteiles entschieden besser geworden ist, wenn etwa die Möglichkeiten seiner wirtschaftlichen Entfaltung dadurch größer geworden sind, daß eine Auswanderung von soundso viel Volks- und Klassengenossen mehr Raum gechaffen hat. Diese v e r b e s s e r n d e Wirkung könnte konstatiert werden, wenn etwa durch Verminderung der Zahl der jüdischen Handwerker oder Kleinhändler oder Arbeitnehmer die Beschäftigung der zurückgebliebenen Handwerker, der Verdienst der Kleinhändler, und die Arbeitsmöglichkeit und die Löhne der jüdischen Arbeiter größer geworden wäre. Es genügt hier die Feststellung, daß auch diese Wirkung der Auswanderung im jüdischen Osten nicht wahrnehmbar war. P o s i t i v e Wirkungen v o r b e u g e n d e r Art bestehen darin, daß, wenn die Auswanderung nicht stattgefunden hätte, die wirtschaftliche Lage des zurückgebliebenen Volksteiles sich noch schlimmer gestaltet hätte, ja vielleicht der Ruin eingetreten wäre. Die Auswanderung ist hier eine Art Ventil. Aus der Zusammenpressung der Arbeitskräfte in einem beschränkten Raum, die fast mit einer Naturgewalt dazu verdammt sind in Untätigkeit zu verharren, aus der Unüberwindlichkeit der Hemmnisse, die der Einstellung dieser Arbeitskräfte in die Produktion des Landes entgegenstehen, gibt es dann nur einen Weg — und dieser Weg ist die Auswanderung. Von diesem Gesichtspunkte der Wirkung wird es uns bsser verständlich, warum die Auswanderung der jüdischen Handwerker im direkten Verhältnis zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung des Auswanderungslandes steht, und



73



warum die Auswanderung des jüdischen Handelsstandes viel kleiner ist als sein Bevölkerungsanteil im Heimatlande. Die jüdischen Handwerker wie die jüdischen Arbeiter sind auf ihren Lohn angewiesen, sie haben nur ihre Arbeitskraft, deren direkte Verwertung ihnen die einzige Existenzmöglichkeit verschafft. Der jüdische Händler — er sei noch so klein — arbeitet in einem bestimmten Vermögenskreise. Eine vorübergehende Krisis des Marktes, ein Ausfall vom Verdienst in einer bestimmten Zeit, lassen sich zwar nicht leicht, aber doch sicherer ertragen, als eine Arbeitslosigkeit seitens des Arbeiters — und noch in einem Lande, wo Sozialpolitik bis zur Revolution ungefähr ein unbekannter Begriff war. Aus diesen Darlegungen geht hervor, daß die Wirkungen der jüdischen Auswanderung, die im Osten Europas festgestellt werden können, nach unserem Schema ö k o n o m i s c h e r , p o s i t i v e r und v o r b e u g e n d e r Natur sind. Es kommen aber dazu noch p s y c h o l o g i s c h e Wirkungen. Diese bestehen darin, daß die Psyche und auch das kulturelle Leben des zurückgebliebenen Volksteils durch den weiteren Verlauf der Schicksale der Ausgewanderten beeinflußt wird. Diese Wirkung kann wiederum positiver und negativer Art sein. Die jüdischen Massen im Osten halten sich strammer, verlieren nicht die Hoffnung, weil eben soundso viel der Ihren in Amerika emporgekommen oder in mehr normale Lebensverhältnisse hereingekommen sind, weil in Palästina ein jüdischer Ackerbauerstand entstand und so weiter. Die Wirkungen, die in diesem Falle durch die Auswanderung hervorgerufen werden, sind positiver Natur. Aber sie könnten auch negativer Art sein, wenn z. B. die wirtschaftliche und kulturelle Lage der jüdischen Einwanderer in Amerika und Palästina sich noch schlechter und hoffnungsloser gestalten würde, als das in den alten Auswanderungsländern der Fall ist. Das negative Ergebnis würde dann darin bestehen, daß in dem Geistesleben des zurückgebliebenen Volksteiles in den Ländern der Auswanderung eine ungeheure psychische Depression Platz greifen würde. P o l i t i s c h e Wirkungen schließlich treten dann ein.



74



wenn die Zusammenballung vieler jüdischer Einwanderer in den bis dahin noch ziemlich „judenreinen Ländern" eine neue, anders geartete Judenfrage mit sich bringt. Diese Wirkung ist besonders augenfällig im Kriege eingetreten. Die Rücksichtnahme auf die zwei Millionen Juden in Neuyork hat die amerikanische und die amerikanisch-jüdische Politik in vielen Fällen entscheidend beeinflußt. Das Vorhandensein einer beträchtlichen Einzahl von jüdischen Einwanderern in Palästina hat auf die Stellungnahme der englischen Regierung in der Judenpolitik einen starken Einfluß ausgeübt ä s ). 2. Im

Einwanderungslande

Die Wirkungen der jüdischen Wanderungen im Einwanderungslande sind ebenso mannigfaltig, wie die Wege der jüdischen Wanderer, und so ist es ein ziemlich kompliziertes Unternehmen, sie alle in einem Schema vereinigen zu wollen. Sie lassen sich aber unter zwei großen Gesichtspunkten zusammenfassen. E s ist zu unterscheiden, ob die Wirkungen i n n e r h a l b eines in sich geschlossenen volkswirtschaftlichen Organismus o d e r auf einem Gebiete, dessen Wirtschaft noch nicht eine festere Form angenommen hat, sich sozusagen noch in der E n t f a l t u n g befindet, ausspielen. Im e r s t e r e n F a l l e erfolgt eine A n p a s s u n g der Einwanderungsmasse an einen fremden Wirtschaftsorganismus, die Einwanderer fügen sich in irgendeinem Zweige der Wirtschaft des Einwanderungslandes ein, die Art ihrer wirtschaftlichen Betätigung wird fast ausschließlich oder stark überwiegend von den Erfordernissen und dem Aufbau dieser neuen fremden Wirtschaft bedingt, die Wirkung der Wanderung ist für Einwanderer passiv, d. h. sie passen sich der vorgefundenen Wirtschaftsstruktur an und ein. 23) Diese Seite des Problems ist hier deshalb so kurz behandelt worden, weil die geschilderten Vorgänge noch zu sehr ins Getriebe der Gegenwartspolitik gehören. Worauf es aber ankam, ist die Feststellung der inneren Zusammenhänge der Geschehnisse unter dem Gesichtspunkte der Wanderungen.

Anders ist es im zweiten Falle, wo statt einer Anpassung an einen fremden Wirtschaftsorganismus, eine wirtschaftliche O k k u p a t i o n eines wirtschaftlich noch nicht formierten, noch nicht fertigen Gebietes erfolgt. Hier ist kein Platz für Passivität mehr. Hier findet eine K o n z e n t r a t i o n der wirtschaftlichen Kräfte der Einwanderer nach der Richtung eines Aufbaues des eigenen Wirtschaftsorganismus statt, dessen Aufbau hier nach den Wesensgesetzen der eingewanderten Massen und dann erst in zweiter Linie nach den natürlichen Bedingungen des Landes erfolgt (etwa Bodengesetze), in das sie einwanderten. M i g r a t i o n wird hier zur K o l o n i s a t i o n . Ist im ersteren Falle die Möglichkeit einer weiteren Wanderung noch immer gegeben, so wird im Falle der wirtschaftlichen Konzentration und Okkupation diese Möglichkeit ausgeschaltet. Es ist offensichtlich, daß im jüdischen Wanderungsprozeß die zunächst geschilderte Art der Wirkung, d. h. die Anpassung, bisher vorherrschte. Ein klassisches Beispiel hierzu liefert die Einwanderung nach A m e r i k a . Die Mehrzahl der dort eingewanderten jüdischen Arbeitskräfte war auf eine bestimmte Art der wirtschaftlichen Betätigung angewiesen: Es war und ist das B e k l e i d u n g s g e w e r b e , in dem sie den Erfordernissen der amerikanischen Konfektionsindustrie entsprechend eng begrenzte Funktionen ausüben. Das ist das bekannte Schwitzsystem, das Endstadium der Konfektionsindutrie, ihr — vom Standpunkte der Sozialpolitik also ethisch, nicht etwa technisch gesehen — rückständigster Zweig. Die Wenigen aus der Einwanderungsmasse aber, die durch dies Schwitzsystem hindurch oder unter seiner Umgehung aus anderen, größere Möglichkeiten bietenden Beschäftigungen ihr Einkommen bezogen, emporkamen und es weiterbrachten, stehen in keinem Zusammenhang zu den übrigen, im Bekleidungsgewerbe beschäftigten Einwanderern. Ein inniges Ineinandergreifen ist hier nicht wahrnehmbar. Die Gesetze, nach denen die Ausbreitung und die Einstellung dieser jüdischen Arbeitskräfte in die Produktion des Einwanderungslandes vor sich geht, werden bei



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aller Berücksichtigung der besonderen Eigentümlichkeiten der Einwanderer letzten Endes doch nur von der Entwicklung der amerikanischen Wirtschaft bestimmt. Ein anderes Beispiel könnte Deutschland bieten: Hier sind die aus Rußland, Polen und Galizien eingewanderten Juden, die in ihren Heimatsländern in einem geschlossenen jüdischen Wirtschaftsgebilde fest eingefügt waren, einer dezentralisierenden Tendenz unterworfen, die in einer vollständigen Einfügung in das deutsche Wirtschaftsleben endigte. Der innere wirtschaftliche Zusammenhang zwischen den eingewanderten jüdischen wirtschaftlichen Subjekten existiert hier, in Deutschland, nicht mehr. Jüdische Wirtschaftsgebilde, wie wir sie bei diesen selben Juden in Rußland, Polen und Galizien angetroffen haben, gibt es in Deutschland nicht. Die Träger dieser Gebilde verwandelten sich in einzelne Juden in der deutschen Wirtschaft 24 ). Während also in Amerika nur eine Anpassung der Juden, die dort noch als Masse auftreten, an einen fremden Wirtschaftsorganismus erfolgt, wird diese A n passung in Deutschland von einer D e z e n t r a l i s a t i o n begleitet 25 ).

'•") Wertvolles Material, das allerdings unter anderen punkten

zusammengestellt

ist,

enthält

darüber

die

Gesichts-

Arbeit

von

Dr. J. S e g a I I : Die beruflichen und sozialen Verhältnisse der Juden in Deutschland, Berlin 1912.

Sehr feine Bemerkungen über die wirt-

schaftliche Lage der deutschen Juden finden sich bei Prof. Dr. J u l i u s Hirsch:

Die neuesten Veränderungen der jüdischen Wirtschaftslage

in W e s t -

und

p. 306 u. 342. grundlegende

Osteuropa,

Neue

Jüdische

Monatshefte,

Jahrgang

Das über die wirtschaftliche Polenfrage in Werk

breitung der Polen

von Prof. Dr. W .

Mitscherlich:

1,

Preußen Die

Aus-

in Preußen, Leipzig 1913, enthält auch über die

Bedeutung der Juden in der deutsch-polnischen Wirtschaft treffende Stellen. 25)

W i e schon oft in der Geschichte der Wissenschaften, sind die

kulturpsychologischen Vorgänge im Leben der V ö l k e r früher und mit mehr Trefflichkeit geschildert worden als die wirtschaftlichen.

Der

geistige Niederschlag des oben dargelegten wirtschaftlichen Prozesses ist in der jüdischen Literatur recht ausgiebig behandelt worden.

Sc



77



Aber schon in dieser Epoche der Anpassung und der Dezentralisation, die um das Jahr 1883 einsetzte, ist es nicht schwer, Andeutungen und Merkmale der nächsten Epoche wahrzunehmen. Diese n e u e Epoche wird, wenn nicht alle Zeichen trügen, mit den jüdischen Wanderungen nach dem Kriege beginnen, die zwar nach wie vor noch die erste Wirkung der Anpassung in starkem Grade hervorbringen, die aber auch anders geartete Wirkungen in stärkerem Umfange als bisher zeitigen werden. Eine Vorstellung von dieser anders gearteten Wirkung können wir aus der Kennzeichnung der wichtigsten Merkmale der jüdischen Einwanderung nach P a l ä s t i n a gewinnen. Ich hebe hier von diesen wichtigsten Merkmalen folgende hervor: Die Einwanderung erfolgt e r s t e n s nach einem vorher überlegten P l a n e , der bis in die Einzelheiten von der Organisation der Einwanderung festgelegt ist. Durch die Einwanderung erfolgt z w e i t e n s eine planmäßige, allerdings im Augenblick erst in Anfängen stehende O k k u p a t i o n des gesamten in Aussicht genommenen Wirtschaftsgebietes. Und es findet d r i t t e n s eine Besetzung aller Zweige der Wirtschaft, einschließlich der L e i t u n g der Produktion und sonstiger Verwaltung, durch die Einwanderer selbst statt. In dieser Epoche gibt es also nicht mehr eine Anpassung der ausgestoßenen Arbeitskräfte an einem fremden Wirtschaftsorganismus, sondern eine Okkupation eines dazu geeigneten Wirtschaftsgebietes durch die freigewordenen wirtschaftlichen Energien. wurde das Schlagwort von der A t o m i s i e r u n g der deutschen J u d e n heit geprägt, die eigentlich nichts anderes ist, als die unmittelbare Auswirkung der oben dargelegten wirtschaftlichen Dezentralisation. Die Aufgabe ist, den sich hier dokumentierenden inneren Zusammenhang nach allen Richtungen hin darzulegen. Von der Literatur, die sich mit den kulturpsychologischen Fragen befaßt, erwähne ich nur: Vom Judentum. Ein Sammelbuch. Leipzig 1913.



78



Der jüdische Emigrationsprozeß verw a n d e l t s i c h s o m i t i n e i n e n K o 1 o ni s a t i o n s prozeß. Das würde aber bedeuten, daß in die Bewegung ein Ruhepunkt kommt, daß das jüdische-Hin- und Herwandern auf der Erde durch eine Kolonisation aufgehoben wird, die durch die Entwicklung der allgemeinen und der jüdischen Wirtschaftskräfte bedingt und vom Menschenwillen geleitet wird.

Verzeichnis der Tabellen Tabelle

I: Berufliche Gliederung der verschiedenen Nationalitäten Galiziens II: Berufliche Gliederung der Juden in Rußland . . . . III: Gesamtübersicht der jüdischen Ein-und Auswanderung IV: Jüdische und allgemeine Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika V: Die Zahl von Nonimmigrant aliens in der gesamten jüdischen Einwanderung in die Vereinigten Staaten VI: Die Einwanderung in die Vereinigten Staaten in den Jahren 1899—1914 (nach Nationalitäten) VII: Jüdische Einwanderung aus Rußland in die Vereinigten Staaten VIII: Jüdische Einwanderung aus Rußland in die Vereinigten Staaten IX: Jüdische Einwanderung aus Rumänien in die Vereinigten Staaten X: Verteilung der jüdischen Einwanderer nach dem Geschlecht XI: Geschlechtsaufbau der gesamten und der jüdischen Einwanderermasse in den Jahren 1912—1914 . . . . X I I : Geschlechtsaufbau der verschiedenen Nationalitäten in der Einwanderung im Jahre 1913/14 X I I I : Altersaufbau der jüdischen Einwanderer XIV: Altersaufbau der gesamten, jüdischen und italienischen Einwanderung im Jahre 1913/14 XV: Prozentsatz der Einwanderer, die in den Vereinigten Staaten schon wenigstens einmal gewesen sind . . . XVI: Familienstand der jüdischen, der gesamten und der italienischen Einwanderung XVII: Altersaufbau der ledigen Frauen in der jüdischen, gesamten und der italienischen Einwanderung im Jahre 1910—1914 XVIII: Auswanderer auf eigene und fremde Rechnung . . . X I X : Auswanderer auf eigene und fremde Rechnung bei verschiedenen Nationalitäten im Jahre 1912—1914 . . . X X : Finanzielle Lage der jüdischen Einwanderer . . . . XXI: Zahl der zurückgewiesenen Juden in den Jahren 1912 bis 1914

Seite

9 11 19 20 21 23 24 25 26 27 27 28 30 31 32 34

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Tabelle ,, „ „ ,, ,, „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ „ ,, „ ,, ,,

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XXII: Zahl der zurückgewiesenen Einwanderer in der italienischen, jüdischen und der Gesamteinwaaderung in den Jahren 1912—1914 XXIII: Bildungsverhältnisse der jüdischen Einwanderer XXIV: Bildungsverhältnisse der verschiedenen Nationalitäten in der Einwanderung in den Jahrea 1912—1914 XXV: Berufliche Gliederung der jüdischen Einwanderer XXVI: Die Zahl der Berufslosen in der jüdischen Einwanderung XXVII: Berufliche Gliederung verschiedener Nationalitäten in der Einwanderung in den Jahren 1910/11 und 1913/14 XXVIII: Freie Berufe in der jüdischen Einwanderung in den Jatfren 1899—1914 XXIX: Freie Berufe bei den Juden XXX: Zahl der Handeltreibenden in der jüdischen Einwanderung XXXI: Zahl der jüdischen Handwerker im Bekleidungsgewerbe (in Rußland) XXXII: Bekleidungsgewerbe in der jüdischen Einwanderung in den Jahren 1899—1914 XXXIII: Lederbearbeitung in Rußland XXXIV: Lederbearbeitung in der jüdischen Einwanderung in den Jahren 1899—1914 XXXV: Jüdische und italienische Auswanderung aus Amerika XXXVI: Polnische, russische, ruthenische und litauische , Ein- und Auswanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika in den Jahren 1912—1914 XXXVII: Jüdische Auswanderung aus Amerika . . . . XXXVIII: Verteilung der jüdischen Auswanderer nach dem Geschlecht XXXIX: Altersaufbau der jüdischen Auswanderung . . . XL: Berufliche Gliederung der jüdischen Auswanderung XLI: Zahl der Handeltreibenden in der jüdischen Auswanderung XLII: Bekleidungsgewerbe und Lederbearbeitung in der jüdischen Auswanderung XLIII: Auswanderung aus Rußland nach Palästina in den Jahren 1905—1909

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A . Marcus & E . Webers V e r l a g (Dr. jur. Albert A h n ) in Bonn

Grund- und Zukunftsfragen deutscher Politik Von Dr. Fritz Stier-Somlo Professor des öffentlichen Rechts

Preis: mit Tetierungszuschlag 7.25 M., geb. mit Teuerimgszuschlag 8.70 M. In einer Zeit, w o sich die Gedanken aller Gebildeten in einer bisher kann» beobachteten Weise sowohl mit den Zielen und Methoden der auswärtigen Politik, sowie mit ilcn nach dem K r i e g e der Krledigung harrenden Kragen der inneren und der Finanz-Politik beschäftigen, mußte es als eine L ü c k e in dem Schrifttum empfunden werden, daß es an einem handlichen einheitlich geschriebenen liuehe fehlte, das einen annähernd vollständigen Überblick über die bedeutsamsten Y e r f a s s u n g s - und Verwaltungsangelegenheiten, sowie über die wicliligsten Fragen der hohen Politik gegeben hätte. Diese L ü c k e ist das vorliegende buch auszuiüllen geeignet J > i e P o s t , Berlin.

Rheingrenze und Pufferstaat Von Prof. Dr. Bruno Kuske, Köln Preis mit Tetierungszuschlag 1.35 M. Der V e r f a s s e r der im A u f t r a g des F r e i h e i t s b u n d e s d e r d e u t s c h e n K l i e i n l a n d c herausgegebenen Schrift schildert mit beredten Worten das Gemocht von Wirtschaftsbeziehungen, welches die beiden Rheinufer verbindet und weist nach, daß auch aus wirtschaftlichen Gründen „ d e r Rhein 1'eutschlands Strom, aber nicht Deutschlands G r e n z e " bleibt 11 muß.

Von der Revolution zur Nationalversammlung Die f r a g e der rheinisch-westfälischen Republik Von Prof. Dr. Paul Moldenhauer, Köln Preis mit Teuerungszuschlag 1.

M.

Moldcnhauer hebt den unermeßlichen Schaden, der dem deutschen V o l k e durch die R e v o l u t i o n zugetugt worden ist, hervor, behandelt die A u f g a b e n der Nationalversammlung und halt t in«, betnedigcndc L o s u n g der F r a g e der rheinischwestfälischen R e p u b l i k tur die Rheinlande, für Preußen und Deutschland nur dann für möglich, wenn alle Beteiligten einträchtig zusammenarbeiten und alle Nebenabsichten zurückstellen.

Republik oder Monarchie im neuen Deutschland Von Prof. Dr. Fritz Stier-Somlo, Köln Preis mit Teuerungszuschlag 2.65 M. Der Verfasser prüft sachlich die Gründe f u r und g e g e n die Monarchie J e d e r Deutsche, der wünscht, daß die 1' ntscheidung über R e p u b l i k oder Monarchie nicht nach unbestimmten Gefühlen, sondern nach objektiven E r w ä g u n g e n getroffen wird, muß nach der vorliegenden glänzend geschriebenen D a r l e g u n g greifen. Otto Wigand'sche Buchdruckerei O 111 b H., Leipzig,