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German Pages 227 [186] Year 2020
Abraham Léon Die jüdische Frage Eine marxistische Darstellung
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Inhalt I. Grundlagen für ein wissenschaftliches Studium der jüdischen Geschichte 1. Die vorkapitalistische Periode 2. Die Periode des mittelalterlichen Kapitalismus 3. Die Periode des Manufaktur- und des Industriekapitalismus 4. Der Niedergang des Kapitalismus II. Von der Antike bis zu den Karolingern:
Die Periode des kommerziellen
Wohlstands der Juden 1. Vor der römischen Eroberung 2. Der römische Imperialismus – Aufstieg und Zerfall 3. Judentum und Christentum 4. Die Juden nach dem Untergang des römischen Reichs III. Die Periode des jüdischen Wucherers Die Beziehungen der Juden zu den anderen Klassen der Gesellschaft 1. Das Königtum und die Juden 2. Der Adel und die Juden 3. Das Bürgertum und die Juden 4. Das Verhältnis der Juden zu Handwerkern und Bauern IV. Die Juden in West- und Osteuropa 1. Die Juden in Westeuropa nach der Renaissance. Die These Sombarts 2. Die Juden in Osteuropa
bis zum 19. Jahrhundert V. Die Entwicklung der jüdischen Frage
im 19. Jahrhundert VI. Die widersprüchlichen Tendenzen
der jüdischen Frage in der Epoche
der Entfaltung des Kapitalismus VII. Der Niedergang des Kapitalismus und die jüdische Tragödie im 20. Jahrhundert 1. In Osteuropa 2
2. In Westeuropa 3. Der Rassismus 4. Über die jüdische Rasse 5. Der Zionismus VIII. Die Wege zur Lösung der jüdischen Frage Der Autor Impressum
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I. Grundlagen für ein wissenschaftliches Studium der jüdischen Geschichte Die wissenschaftliche Untersuchung der jüdischen Geschichte hat das Stadium idealistischer Improvisation noch nicht hinter sich gelassen. Während das Gebiet der allgemeinen Geschichte weithin von der materialistischen Konzeption erobert wurde, während die ernstzunehmenden Historiker beherzt den von Marx eingeschlagenen Weg weitergingen, blieb die jüdische Geschichte das Lieblingsterrain von Gottessuchern aller Art als eines der sehr wenigen historischen Gebiete, in dem es den idealistischen Vorurteilen gelang, sich so weitgehend durchzusetzen und zu erhalten. Wie viel Druckerschwärze hat man nicht verschwendet, um das berühmte »jüdische Wunder« zu feiern! »Was für ein eigenartiges Schauspiel, diese Menschen, die, um das heilige Erbe ihres Glaubens zu erhalten, Verfolgungen und Folter trotzten!«, schreibt Bédarride. [1] Das Fortbestehen der Juden wird von allen Historikern als Ergebnis der Treue erklärt, die sie Jahrhunderte hindurch ihrer Religion und ihrer Nationalität bezeugt hätten. Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen treten erst dort auf, wo es sich darum handelt, das »Ziel«, für welches sich die Juden erhielten, und den Grund ihres Widerstands gegen jegliche Art von Eingliederung zu definieren. Einige Historiker, die sich die religiöse Sicht zu eigen gemacht haben, sprechen vom »heiligen Erbe ihres Glaubens«. Andere, wie z. B. Simon Dubnow, vertreten die Theorie der »Verbundenheit mit der nationalen Idee«. »Man muss die Gründe für das historische Phänomen des Fortbestehens des jüdischen Volks in der Kraft seiner nationalen Idee, in seiner Ethik und seinem Monotheismus suchen«, schreibt die Allgemeine Enzyklopädie, der es auf diese Weise gelingt, die verschiedenartigen Standpunkte der idealistischen Historiker zu versöhnen. [2]
Aber wenn es auch möglich ist, die idealistischen Theorien miteinander zu versöhnen, so wäre es doch vergeblich, dieselben Theorien und die elementaren Regeln der Geschichtswissenschaft miteinander versöhnen zu 4
wollen. Die letztere muss entschieden den grundlegenden Irrtum aller idealistischen Schulen zurückweisen, der darin besteht, das Hauptproblem der jüdischen Geschichte, nämlich die Erhaltung des Judentums, im Zeichen des freien Willens zu sehen. Nur das Studium der ökonomischen Rolle der Juden kann dazu beitragen, die Ursachen des »jüdischen Wunders« zu erhellen. Die Entwicklung des Problems zu untersuchen ist nicht nur von akademischem Interesse. Ohne gründlicheres Studium der jüdischen Geschichte ist es schwierig, die jüdische Frage heute zu verstehen. Die Lage der Juden im 20. Jahrhundert ist eng mit ihrer historischen Vergangenheit verbunden. Jeder gesellschaftliche Zustand entspricht einer Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung. Das Sein ist nur ein Moment des Werdens. Zur Analyse der jüdischen Frage in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstand ist die Kenntnis ihrer historischen Wurzeln unbedingt notwendig. Auf dem Gebiet der jüdischen Geschichte gibt das geniale Denken von Marx den einzuschlagenden Weg ebenso an wie im Rahmen der Universalgeschichte. »Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden.« [3] Marx stellt auf diese Weise die jüdische Frage wieder auf die Füße. Man kann nicht von der Religion ausgehen, um die jüdische Geschichte zu erklären; im Gegenteil, die Erhaltung der jüdischen Religion und Nationalität kann nur durch den »wirklichen Juden«, d. h. den Juden in seiner wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rolle erklärt werden. Der Fortbestand der Juden hat nichts von einem Wunder an sich. »Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten.« [4] Gerade durch das Studium der historischen Funktion des Judentums kann man das »Geheimnis« seines geschichtlichen Fortbestehens aufdecken. Die Konflikte zwischen Judentum und christlicher Gesellschaft sind unter ihrer religiösen Erscheinungsform in Wirklichkeit gesellschaftliche Konflikte. »Den Widerspruch des Staats mit einer bestimmten Religion, etwa dem Judentum, vermenschlichen wir in den Widerspruch des Staats mit bestimmten weltlichen Elementen …« [5]
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Der herrschenden idealistischen Strömung stellt sich das allgemeine Schema der jüdischen Geschichte (abgesehen von verschiedenen Nuancen) in etwa folgendermaßen dar: Bis zur Zerstörung Jerusalems, möglicherweise bis zum Aufstand Simon bar Kochbas, habe sich die jüdische Nation in nichts von anderen normal beschaffenen Nationen – wie etwa der römischen und der griechischen Nation – unterschieden. Durch die Kriege zwischen Römern und Juden sei die jüdische Nation in alle vier Himmelsrichtungen versprengt worden. Die Juden, wohin auch immer verschlagen, hätten sich ungestüm der nationalen und religiösen Eingliederung widersetzt. Das Christentum habe auf seinem Weg keinen hartnäckigeren Gegner gefunden, und trotz aller Anstrengungen sei es ihm nicht gelungen, ihn zu bekehren. Der Sturz des römischen Reichs habe die Isolierung des Judentums verstärkt, das nach dem vollständigen Sieg des Christentums im Abendland das einzige andersgläubige Element darstellte. Die Juden in der Diaspora hätten zum Zeitpunkt der Völkerwanderungen in keiner Weise eine gesellschaftlich homogene Gruppe gebildet. Ganz im Gegenteil, Landwirtschaft, Industrie und Handel seien in starkem Maße durch sie repräsentiert worden. Nur durch die ständigen religiösen Verfolgungen seien sie gezwungen worden, sich mehr und mehr auf Handel und Wucher zu beschränken. Die Kreuzzüge hätten durch den religiösen Fanatismus, den sie hervorgerufen hätten, jene Entwicklung, die die Juden in Wucherer verwandelt und zu ihrer Einquartierung in Ghettos geführt habe, gewaltsam verstärkt. Natürlich werde der Hass gegen die Juden auch durch ihre wirtschaftliche Rolle genährt. Aber die Historiker messen diesem Faktor nur sekundäre Bedeutung bei. In diesem Rahmen sei die Situation des Judentums bis zur Französischen Revolution geblieben. Diese habe alle Barrieren zerstört, die die religiöse Verfolgung gegen die Juden errichtet habe. Mehrere wichtige Tatsachen stellen sich diesem Schema entgegen: 1. Die Zerstreuung der Juden beginnt in keiner Weise mit dem Untergang Jerusalems. Die große Mehrzahl der Juden war schon mehrere Jahrhunderte vor diesem Ereignis in allen vier Himmelsrichtungen verstreut. »Sicher ist, dass lange Zeit vor dem Sturze Jerusalems mehr als drei Viertel der Juden nicht mehr in Palästina lebten.« [6] 6
Das jüdische Königreich Palästina hatte für die breiten Massen von Juden, die im griechischen und später im römischen Reich zerstreut waren, absolut zweitrangige Bedeutung. Ihre Verbindung mit dem »Mutterland« zeigte sich nur bei den Wallfahrten nach Jerusalem, das eine der Rolle Mekkas für die Moslems vergleichbare Rolle spielte. Kurz vor dem Untergang Jerusalems sagte der König Agrippa: »Denn es gibt kein Volk auf Erden, unter dem nicht Einige von euch leben.« [7] Die Diaspora war demnach keinesfalls ein durch ein gewaltsames Unternehmen hervorgerufenes zufälliges Ergebnis. [8] Der Hauptgrund für die jüdische Auswanderung muss in den geografischen Bedingungen Palästinas gesucht werden. »Wir finden die Juden in Palästina, als Besitzer eines Berglandes, das von einem gegebenen Moment an nicht mehr ausreichte, seinen Bewohnern eine ebenso behagliche Existenz zu gewähren, wie sie ihre Nachbarn hatten. Ein solches Volk greift entweder zum Raub oder zur Auswanderung. Die Schotten wählten anfänglich den ersteren, dann den zweiten Ausweg. Nach mannigfachen Kämpfen gegen ihre Nachbarn betraten auch die Juden den letzteren … Nicht als sesshafte Ackerbauern … gehen sie [Völker, die unter solchen Bedingungen leben] ins Ausland, sondern als abenteuernde Söldner, wie im Altertum die Arkadier, im Mittelalter die Schweizer, heute in der Türkei die Albanesen – oder als Händler, wie die Juden, später die Schotten, heute die Armenier. Wir sehen, das gleiche Milieu entwickelt unter Völkern der verschiedensten Rassen die gleiche Eigenart.« [9] 2. Unzweifelhaft beschäftigte sich die ungeheure Mehrzahl der Juden in der Diaspora mit dem Handel. Palästina selbst bildete seit sehr fernen Zeiten einen Verbindungsweg für Waren, eine Brücke zwischen Euphratund Niltal. »Syrien war die große, für Eroberer bestimmte Straße … Es war auch der Weg, den die Waren nahmen und auf dem die Ideen zirkulierten. Man versteht, dass sich in diesen Gebieten schon sehr früh eine umfangreiche Bevölkerung niederließ mit großen Städten, die durch ihre Lage selbst schon zum Handel bestimmt waren …« [10] Die geografischen Voraussetzungen Palästinas erklären also zugleich die jüdische Emigration wie deren kommerziellen Charakter. Andererseits sind bei allen Nationen zu Beginn ihrer Entwicklung die Händler Fremde 7
gewesen: »Das Charakteristische der Naturalwirtschaft ist, dass eine jede einzelne Wirtschaft alles, dessen sie bedarf, selbst erzeugt und nichts herstellt, als was sie selbst verbraucht. Es fehlt also jeder Anlass, sowohl Sachgüter als auch Dienste von anderen zu kaufen … Eben weil … jede Wirtschaft alles, was sie braucht, selbst herstellt, finden wir bei allen Völkern als die ersten Kaufleute Fremde.« [11] Philon zählt die zahlreichen Länder auf, in denen sich die Juden als Händler niedergelassen hatten. Er sagt, dass »von ihnen zahllose Städte bewohnt seien, in Europa, in Asien, in Libyen, auf den Festländern und auf Inseln, am Meere und im Binnenlande«. Die Juden, die auf Inseln des hellenischen Kontinents und weiter westwärts wohnten, hätten sich dort aus kommerziellen Interessen angesiedelt. [12] »Zugleich mit den Syrern treffen sich auch die Juden, die versprengt sind oder besser, die sich in allen Städten gruppiert haben. Es sind Seeleute, Makler und Bankiers. Ihr Einfluss auf die damalige Wirtschaft ist ebenso wesentlich gewesen wie der orientalische Einfluss, der sich zur selben Epoche in der Kunst und der religiösen Ideenwelt offenbart.« [13] Ihrer gesellschaftlichen Stellung verdanken die Juden die weitgehende Autonomie, die ihnen die römischen Eroberer zugestanden. Nur den Juden erlaubte man, einen Staat im Staate zu gründen, und während die anderen Fremden der Verwaltung der städtischen Autoritäten unterworfen waren, konnten sich die Juden bis zu einem bestimmten Grad selbst regieren. »… Cäsar [förderte] die Juden in Alexandria wie in Rom durch besondere Begünstigungen und Vorrechte und schützte namentlich ihren eigentümlichen Kult gegen die römischen wie gegen die griechischen Lokalpfaffen.« [14] 3. Der Hass gegen die Juden besteht nicht erst seit Durchsetzung des Christentums. Seneca behandelt die Juden als kriminelle Rasse. Juvenal glaubt, dass die Juden nur dazu da seien, um anderen Völkern Leiden zuzufügen. Nach Quintilius sind die Juden ein Fluch für die anderen Völker. [15] Die Ursache des antiken Antisemitismus ist dieselbe wie die des mittelalterlichen: Es handelt sich um den den Händlern entgegengebrachten Widerstand aller Gesellschaften, deren Wirtschaft 8
hauptsächlich auf der Produktion von Gebrauchswerten basiert. »Die Feindseligkeit des Mittelalters Händlern gegenüber ist nicht nur christlichen oder pseudochristlichen Ursprungs. Sie hat auch eine heidnische Quelle ganz realer Art. Diese Feindseligkeit ist stark verwurzelt in einer Klassenideologie: Die herrschenden Klassen der römischen Gesellschaft, Senatsleute ebenso wie Mitglieder der provinzialen Kurien, brachten aufgrund ihrer tiefsitzenden bäuerlichen Tradition allen Formen wirtschaftlicher Aktivität, außer solchen, die sich aus der Landwirtschaft ableiten, Verachtung entgegen.« [16] Wenn auch der Antisemitismus in der römischen Gesellschaft schon stark entwickelt war, war die Situation der Juden, wie wir gesehen haben, dort noch recht beneidenswert. Die Feindseligkeit der Klassen, die vom Boden leben, dem Handel gegenüber schließt nicht aus, dass sie sich in einem Zustand der Abhängigkeit befinden. Der Landbesitzer hasst und verachtet den Händler, ohne auf ihn verzichten zu können. [17] Der Siegeszug des Christentums brachte keine bemerkenswerten Veränderungen in dieser Beziehung. Das Christentum, zunächst Religion der Sklaven und Unterdrückten, verwandelte sich schnell in eine Ideologie der herrschenden Klasse der Grundbesitzer. Konstantin der Große legte in der Tat das Fundament für die mittelalterliche Leibeigenschaft. Der triumphale Siegeszug des Christentums durch Europa brachte die Ausdehnung des feudalen Wirtschaftssystems mit sich. Die religiösen Orden spielten eine ungeheuer wichtige Rolle für den Fortschritt der Zivilisation, die damals in der Entwicklung der auf Leibeigenschaft basierenden Landwirtschaft bestand. Ist es demnach verwunderlich, dass »das Christentum, obwohl aus dem Judentum entstanden und sich zu Anfang ausschließlich aus Juden zusammensetzend, dennoch während der ersten vier Jahrhunderte nirgends mehr Schwierigkeiten hatte, Anhänger für seine Lehre zu finden, als bei den Juden?« [18] In der Tat, der Grundzug der christlichen Mentalität der ersten zehn Jahrhunderte unseres Zeitalters in Bezug auf das Wirtschaftsleben ist es, »dass ein Kaufmann nur schwerlich gottgefälliges Werk tun kann« und »dass jedes Geschäft einen mehr oder minder großen Schwindel beinhaltet«. [19] Das Leben der Juden schien dem Heiligen Ambrosius, der im 4. Jahrhundert lebte, völlig 9
unverständlich. Er verachtete die Reichtümer der Juden zutiefst und glaubte fest, dass sie dafür mit der ewigen Verdammnis bestraft würden. Die ungestüme Feindseligkeit der Juden gegen den Katholizismus ist daher nichts mehr als natürlich, ebenso ihr Wille, ihre Religion zu erhalten, die in so bewundernswerter Weise ihre soziale Interessen ausdrückte. Es ist also nicht die Treue der Juden ihrem Glauben gegenüber, die ihre Erhaltung als eine besondere gesellschaftliche Gruppe erklärt, sondern im Gegenteil, ihre Erhaltung als solche, die ihre Verbundenheit mit ihrem Glauben erklärt. Dennoch, ebenso wie die antike Judenfeindlichkeit, geht auch der christliche Antisemitismus in den ersten zehn Jahrhunderten der christlichen Ära nicht bis zur Forderung der Ausrottung des Judentums. Während das offizielle Christentum ohne Mitleid Heiden und Ketzer verfolgte, duldete es die jüdische Religion. Die Lage der Juden verbesserte sich ständig von der Zeit des untergehenden römischen Reichs nach dem vollständigen Sieg des Christentums bis hinein ins 12. Jahrhundert. Bei zunehmendem wirtschaftlichem Verfall gewann die kommerzielle Rolle der Juden immer mehr an Bedeutung. Im 10. Jahrhundert stellen die Juden die einzige wirtschaftliche Verbindung zwischen Europa und Asien dar. 4. Erst ab dem 12. Jahrhundert, parallel zur wirtschaftlichen Entwicklung Westeuropas, zum Anwachsen der Städte und zur Bildung einer einheimischen Handels- und Industrieklasse, beginnt die Lage der Juden sich ernsthaft zu verschlechtern, um schließlich zu ihrer vollständigen Ausmerzung in den meisten westlichen Ländern zu führen. Die Judenverfolgungen nehmen immer gewaltsamere Formen an. Im Gegensatz hierzu ist ihre Lage in den rückständigen Ländern Osteuropas bis zu einem relativ späten Zeitpunkt weiterhin blühend. Aufgrund dieser wenigen einleitenden Erwägungen sieht man, wie falsch die gemeinhin über die jüdische Geschichte verbreitete Auffassung ist. Die Juden stellen in der Geschichte vor allem eine gesellschaftliche Gruppe mit einer bestimmten ökonomischen Funktion dar. Sie sind eine Klasse, oder besser noch, eine Volksklasse. [20]
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Der Begriff der Klasse widerspricht in keiner Weise dem Begriff des Volks. Gerade weil die Juden sich als gesellschaftliche Klasse erhalten haben, haben sie auch bestimmte ihrer religiösen, ethnischen und linguistischen Eigenheiten bewahrt. [21] Dieses Zusammenfallen von Klasse und Volk (oder Rasse) ist bei Weitem nicht außergewöhnlich in den vorkapitalistischen Gesellschaften. Die sozialen Klassen unterscheiden sich dort sehr häufig durch ihren mehr oder minder nationalen oder rassischen Charakter. »Die niederen und die höheren Klassen … sind in mehreren Ländern lediglich die erobernden und die unterworfenen Völker einer vorangegangenen Epoche … Die Rasse der Eindringlinge … hat eine müßige und ausgelassene Adelsschicht herausgebildet. Die Rasse der Überfallenen … lebte nicht von den Waffen, sondern von der Arbeit.« [22] Ebenso schreibt Kautsky: »Verschiedene Klassen können den Charakter verschiedener Rassen annehmen. Andererseits kann das Zusammentreffen verschiedener Rassen, von denen jede eine besondere Beschäftigung besonders entwickelt hat, dazu führen, dass diese Rassen verschiedene Berufe oder soziale Stellungen innerhalb der gleichen Gemeinschaft ausfüllen, die Rasse zur Klasse wird.« [23] Es besteht offensichtlich eine fortdauernde, gegenseitige Abhängigkeit zwischen rassischem oder nationalem Charakter und dem Klassencharakter. Die gesellschaftliche Stellung der Juden hat einen tiefgehenden und bestimmenden Einfluss auf ihren nationalen Charakter gehabt. Wenn der Begriff der »Volksklasse« kein Widerspruch in sich ist, so ist es noch leichter zuzugeben, dass eine Übereinstimmung zwischen Religion und Klasse besteht. Jedes Mal, wenn eine Klasse einen bestimmten Grad von Reife und Bewusstsein erlangt, nimmt ihr Widerstand gegen die herrschende Klasse religiöse Formen an. Die Ketzereien der Albigenser, Lollarden, Manichäer, Katharer und der unzähligen Sekten, die sich in den mittelalterlichen Städten mit großer Geschwindigkeit ausbreiteten, sind die ersten religiösen Manifestationen des wachsenden Widerstandes der Bourgeoisie und des Volks gegen die feudale Gesellschaftsordnung. Wegen der relativen Schwäche des mittelalterlichen Bürgertums haben es diese Häresien nirgends bis zur herrschenden Religion gebracht. Sie wurden auf 11
brutale Weise in Blut erstickt. Erst im 17. Jahrhundert, als die Bourgeoisie mehr und mehr an Macht gewann, konnten Luthertum und vor allem Calvinismus und seine englischen Ausläufer triumphieren. Während der Katholizismus die Interessen des Landadels und der feudalen Ordnung zum Ausdruck bringt, widerspiegelt der Calvinismus (oder Puritanismus) die Interessen des Bürgertums oder des Kapitalismus, das Judentum die einer vorkapitalistischen Handelsklasse. [24] Was den jüdischen »Kapitalismus« hauptsächlich vom Kapitalismus im Allgemeinen unterscheidet, ist die Tatsache, dass er im Gegensatz zu jenem nicht Träger einer neuen Produktionsweise ist. »Hier ist das Kaufmannskapital rein, abgetrennt von den … Produktionssphären, zwischen denen es vermittelt.« »Die Handelsvölker der Alten existierten wie die Götter des Epikur in den Intermundien der Welt oder vielmehr wie die Juden in den Poren der polnischen Gesellschaft.« »Der Wucher wie der Handel exploitieren eine gegebene Produktionsweise, schaffen sie nicht, verhalten sich äußerlich zu ihr.« [25] Die Akkumulation des Geldes in jüdischen Händen rührte nicht von einer speziellen, der kapitalistischen Produktionsweise her. Der Mehrwert (oder das Mehrprodukt) entsprang der feudalistischen Ausbeutung und die Lehnsherren mussten den Juden einen Teil dieses Mehrwerts überlassen. Daher der Antagonismus zwischen Juden und Feudalismus, daher aber auch das unzerstörbare Band zwischen beiden. Wie für den Lehnsherrn war auch für den Juden der Feudalismus der Nährboden. Wie der Feudalherr den Juden brauchte, so brauchte der Jude den Feudalherrn. Dieser gesellschaftlichen Position wegen gelang es den Juden nirgends, sich zur herrschenden Klasse aufzuschwingen. Im feudalen Wirtschaftssystem ist die Rolle der Handelsklasse notwendigerweise eine eindeutig untergeordnete. Das Judentum konnte höchstens ein mehr oder weniger geduldeter Kult sein. [26] Wir haben schon gesehen, dass die Juden im Altertum ihre eigene Gerichtsbarkeit besaßen. Ebenso war es im Mittelalter. »In der klar gegliederten Gesellschaft des Mittelalters hat jede soziale Gruppe, ebenso wie sie nach eigener Sitte lebt, auch ihre besondere Gerichtsbarkeit. Über die gerichtliche Organisation des Staats hinaus hat die Kirche ihre eigene 12
geistliche Gerichtsbarkeit, der Adel seine Lehensgerichte. Das Bürgertum seinerseits errichtete Schöffengerichte«. [27] Die besondere Organisation der Juden war der Kahal. Jede jüdische Siedlung bildete eine Gemeinschaft (Kahal), die ihr besonderes gesellschaftliches Leben führte und ihre eigene gerichtliche Organisation hatte. In Polen erreichte diese Organisation ihre höchste Stufe. Nach einer Verordnung des Königs Sigismund August von 1551 hatten die Juden das Recht, die Richter und Rabbiner auszusuchen, die alle ihre Angelegenheiten verwalten mussten. Nur in den Prozessen zwischen Juden und Nichtjuden griffen die Gerichte der Wojwodschaft ein. In jeder jüdischen Siedlung wählte die Bevölkerung in freier Wahl einen Gemeinderat. Die Tätigkeit dieses Rates, Kahal genannt, war sehr ausgedehnt. Er musste die Steuern einziehen, die allgemeinen und besonderen Steuern veranlagen, die Volksschulen und höheren Schulen (Jeschiboth) leiten. Er regelte alle Fragen, die Handel, Gewerbe und Fürsorge betrafen. Er beschäftigte sich mit der Beilegung von Streitigkeiten zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft. Die Kompetenz eines jeden Kahals erstreckte sich auf die jüdischen Einwohner der umliegenden Dörfer. Im Laufe der Zeit gewöhnten sich die verschiedenen Räte der jüdischen Gemeinschaften daran, sich regional in regelmäßigen Abständen zu versammeln, um über die administrativen, juristischen und religiösen Fragen zu diskutieren. Diese Versammlungen nahmen so den Charakter von kleinen Parlamenten an. Anlässlich des großen Jahrmarkts von Lublin versammelte sich eine Art von allgemeinem Parlament, an dem die Vertreter von Großpolen, Kleinpolen, Podolien und Wolhynien teilnahmen. Dieses Parlament gab sich den Namen: Wa’ad Arba’ Aratzot, hebräisch für »Ausschuss der vier Länder«. Die herkömmlichen jüdischen Historiker haben nicht versäumt, in dieser Organisation eine Form nationaler Unabhängigkeit zu sehen. »Im alten Polen«, sagt Dubnow, »bildeten die Juden eine Nation mit eigener Autonomie, eigener innerer Verwaltung, eigenen Gerichten und mit einer bestimmten juristischen Unabhängigkeit.« [28] Natürlich ist es ein plumper Anachronismus, im 16. Jahrhundert von nationaler Autonomie zu reden. Dieser Epoche war die nationale Frage 13
noch völlig fremd. In einer feudalen Gesellschaft besitzen nur die einzelnen Klassen ihre Sondergerichtsbarkeiten. Die jüdische Selbstständigkeit erklärt sich durch die spezifische gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung der Juden und nicht durch ihre »Nationalität«. [29] Auch die linguistische Entwicklung spiegelt die besondere gesellschaftliche Position des Judentums wider. Hebräisch verschwindet sehr bald als lebende Sprache. Überall nehmen die Juden die Sprache der sie umgebenden Völker an. Aber diese sprachliche Anpassung erfolgt allgemein in Form eines neuen Dialektes, in dem sich bestimmte hebräische Redensarten wiederfinden. Es existierten zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte die Dialekte jüdisch-arabisch, jüdisch-persisch, jüdisch-provenzalisch, jüdisch-portugiesisch, jüdischspanisch etc., ohne vom Jüdisch-Deutschen zu reden, das das heutige Jiddisch geworden ist. Der Dialekt drückt die beiden widersprüchlichen Tendenzen aus, die das jüdische Leben charakterisieren: die Tendenz zur Integration in die umgebende Gesellschaft und die Tendenz zur Isolation, die sich aus der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage des Judentums ableitet. [30] Nur dort hören die Juden auf, eine sozial eigenständige Gruppe zu sein, wo sie sich völlig in die sie umgebende Gesellschaft eingliedern. »Die Assimilation ist kein neues Phänomen in der jüdischen Geschichte«, sagt der zionistische Soziologe Ruppin. [31] In Wirklichkeit ist die jüdische Geschichte, wenn sie Geschichte der Erhaltung des Judentums ist, auch Geschichte der Assimilation breiter Schichten des Judentums. »Im Norden Afrikas, noch vor dem Auftreten des Islam, betrieben viele Juden Landwirtschaft, aber die meisten von ihnen wurden von der lokalen Bevölkerung absorbiert.« [32] Diese Anpassung erklärt sich durch die Tatsache, dass die Juden hier aufgehört haben, eine Klasse zu sein, dass sie Bauern geworden sind. »Wenn die Juden sich der Landwirtschaft gewidmet hätten, hätten sie sich gezwungenermaßen über das ganze Land verteilt, was nach einigen Generationen zu einer vollständigen Eingliederung in die übrige Bevölkerung geführt hätte – trotz der religiösen Unterschiede. Aber mit dem Handel beschäftigt und in den Städten konzentriert, bildeten sie besondere Gemeinschaften und führten 14
ein von den übrigen Bewohnern isoliertes gesellschaftliches Leben, verkehrten nur untereinander und heirateten nur untereinander.« [33] Man könnte auch an die zahlreichen Konversionen der jüdischen Grundbesitzer in Deutschland im 4. Jahrhundert denken, an das vollständige Verschwinden der jüdischen Kriegerstämme in Arabien, an die Anpassung der Juden in Südamerika, in Surinam usw. [34] Das Gesetz der Assimilation könnte folgendermaßen formuliert werden: Dort, wo die Juden aufhören, eine Klasse zu bilden, verlieren sie mehr oder minder schnell ihren ethnischen, religiösen und sprachlichen Charakter; sie gleichen sich an. [35] Es ist sehr schwierig, die jüdische Geschichte in Europa auf einige wesentliche Zeitabschnitte zurückzuführen, da die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Bedingungen eines jeden Landes verschieden sind. Während sich Polen und die Ukraine noch Ende des 18. Jahrhunderts mitten im Feudalismus befinden, kann man in Westeuropa zur selben Zeit bereits eine beschleunigte Entwicklung des Kapitalismus beobachten. Man versteht daher leicht, dass die Situation der polnischen Juden im 18. Jahrhundert eher der Situation der französischen Juden in der Karolinger-Epoche gleicht, als der ihrer zeitgenössischen Mitbrüder in Bordeaux und Paris. »Ein portugiesischer Jude aus Bordeaux und ein deutscher Jude aus Metz verkörpern zwei völlig verschiedene Welten«, schrieb ein französischer Jude an Voltaire. Die jüdischen Großbürger Frankreichs und Hollands hatten nahezu nichts gemeinsam mit den polnischen Juden, die eine Klasse der feudalen Gesellschaft darstellten. Trotz der sehr unterschiedlichen Bedingungen und Rhythmen der wirtschaftlichen Entwicklung in den von den Juden bewohnten europäischen Ländern kann man bei sorgfältiger Untersuchung die wesentlichen Stadien der jüdischen Geschichte erkennen. 1. Die vorkapitalistische Periode Dies ist eine Periode größten Reichtums für die Juden. Das Handelsund Wucher«kapital« hat große Ausdehnungsmöglichkeiten in der feudalen Gesellschaft. Die Juden werden von Königen und Prinzen beschützt und ihre Beziehungen mit den übrigen Klassen sind in der Regel gut.
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Diese Situation hält im Osten Europas bis zum 11. Jahrhundert an. Die Karolinger-Epoche – Wendepunkt der feudalistischen Entwicklung – war zugleich der Höhepunkt des jüdischen Reichtums. In Osteuropa ist bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weiterhin die feudale Wirtschaftsform dominant. Dorthin verlagert sich mehr und mehr das Zentrum des jüdischen Lebens. 2. Die Periode des mittelalterlichen Kapitalismus Mit dem 11. Jahrhundert beginnt in Westeuropa eine Periode intensiver wirtschaftlicher Entwicklung. Das erste Stadium dieser Entwicklung ist gekennzeichnet durch die Entstehung einer ständischen Industrie und einer einheimischen Handelsbourgeoisie. Im zweiten Stadium findet eine Durchdringung des landwirtschaftlichen Bereichs durch den Handel statt. Durch die Entwicklung der Städte und einer einheimischen Handelsklasse werden die Juden völlig aus dem Handel verdrängt. Sie werden zu Wucherern, deren hauptsächliche Kundschaft Adelige und Könige sind. Aber die handelsbedingte Transformation der Agrarwirtschaft hat zur Folge, dass sie auch aus diesen Positionen verdrängt werden. Der relative Überfluss an Geld erlaubt es dem Adel, das Joch der Wucherer abzuschütteln. Die Juden werden nach und nach aus allen Ländern vertrieben. Einige assimilieren sich und gehen vorwiegend in der einheimischen Bourgeoisie auf. In einigen Städten, vor allem in Deutschland und Italien, beschäftigen sich die Juden hauptsächlich damit, dem Volk, vor allem Bauern und Handwerkern, Kredite zu geben. Zu kleinen Wucherern abgesunken, die das Volk ausbeuten, werden die Juden oft zu Opfern blutiger Aufstände. Im Allgemeinen ist der mittelalterliche Kapitalismus die Periode der grausamsten Judenverfolgungen. Das jüdische »Kapital« gerät in Konflikt mit allen Klassen der Gesellschaft. Aber die ungleiche wirtschaftliche Entwicklung der westeuropäischen Länder übt ihren Einfluss auf die Formen des Antisemitismus aus. In einem Land ist es der Adel, der den Kampf gegen die Juden anführt, in anderen Ländern ist es das Bürgertum. In Deutschland bringt das Volk den Stein ins Rollen. 16
In Osteuropa ist der mittelalterliche Kapitalismus nahezu unbekannt. Dort gibt es keine Trennung zwischen Kaufmanns- und Wucherkapital. Im Gegensatz zu Westeuropa, wo Jude gleichbedeutend mit Wucherer wird, sind die Juden dort vor allem Kaufleute und Zwischenhändler. Während die Juden allmählich aus der westlichen Welt verdrängt werden, festigen sie beständig ihre Position im Osten Europas. Erst im 19. Jahrhundert beginnt die Entwicklung des Kapitalismus – es handelt sich nicht mehr um die ständische, sondern um die moderne Form des Kapitalismus – den Wohlstand der russischen und polnischen Juden ins Wanken zu bringen. »Die russischen Juden wurden erst seit der Aufhebung der Leibeigenschaft und der feudalen Landwirtschaft in eine Notlage versetzt. Solange jene bestanden, fanden sie als Händler und Vermittler, sog. Faktoren, ihr gutes Auskommen.« [36] 3. Die Periode des Manufaktur- und des Industriekapitalismus Der Kapitalismus im engeren Sinne beginnt mit der Renaissance und manifestiert sich zunächst in einer großartigen Ausdehnung der Handelsbeziehungen und in der Entwicklung der Manufakturen. Soweit die Juden in Westeuropa weiter existieren (und das ist nur eine kleine Anzahl), nehmen sie an der Entwicklung des Kapitalismus teil. Aber die Theorie Sombarts, nach der die Juden einen überragenden Anteil an der Entwicklung des Kapitalismus gehabt hätten, stammt aus dem Reich der Fantasie. Eben weil die Juden den primitiven (Kaufmanns- und Wucher-)Kapitalismus repräsentierten, konnte die Entwicklung des modernen Kapitalismus ihrer gesellschaftlichen Stellung nur schaden. Diese Tatsache schließt nun keineswegs die individuelle Beteiligung von Juden an der Schaffung des modernen Kapitalismus aus. Aber wo immer sich die Juden in die Kapitalistenklasse integrieren, erfolgt auch ihre Assimilierung. Der Jude als Großunternehmer oder Aktionär der Niederländischen oder Britischen Ostindien-Kompanie steht an der Schwelle zur Taufe, einer Schwelle, die er mit großer Leichtigkeit überschreitet. Der Fortschritt des Kapitalismus geht Hand in Hand mit der Assimilierung der Juden in Westeuropa. Wenn das Judentum in Westeuropa nicht völlig verschwunden ist, so deshalb, weil ein massiver Zustrom von Juden aus Osteuropa erfolgte. Die 17
jüdische Frage, wie sie sich heute auf internationaler Ebene stellt, muss in erster Linie auf die Situation des Judentums in Osteuropa zurückgeführt werden. Diese Situation ist selbst wieder Resultat der ökonomischen Rückständigkeit dieses Teils der Welt. Die besonderen Gründe der jüdischen Emigration verbinden sich so mit den allgemeinen Gründen der Auswanderungsbewegung des 19. Jahrhunderts. Die Emigrationswelle des 19. Jahrhunderts wurde größtenteils hervorgerufen durch die im Verhältnis zu dem raschen Verfall der feudalen oder der Manufaktur-Wirtschaft unzureichende Entwicklung des Kapitalismus. Dem englischen Bauern, von der Kapitalisierung aus der Landwirtschaft vertrieben, schloss sich der von den Maschinen verdrängte Handwerks- und Manufakturarbeiter an. Diese Massen von Bauern und Handwerkern mussten sich, von dem neuen wirtschaftlichen System vertrieben, einen neuen Broterwerb jenseits des Ozeans suchen. Einer solchen Entwicklung sind jedoch Grenzen gesetzt. Aufgrund des raschen Anwachsens der Produktivkräfte in Westeuropa konnte der Teil der Bevölkerung, der seiner Mittel zum Lebensunterhalt beraubt war, bald in ausreichendem Maße Arbeit in der Industrie finden. Deshalb erlahmt in Deutschland beispielsweise die noch Mitte des 19. Jahrhunderts sehr starke Auswanderung gegen Ende desselben fast völlig. Gleiches gilt für England und die anderen Länder Westeuropas. [37] Aber während die Unausgeglichenheit der Gesellschaft zwischen dem Verfall des Feudalismus und der Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa verschwindet, verschärft sie sich in den rückständigen Ländern Osteuropas. Die Zerstörung der Feudalwirtschaft und der primitiven Formen des Kapitalismus erfolgt sehr viel schneller als die Entwicklung des modernen Kapitalismus. Immer größere Massen von Bauern und Handwerkern sind gezwungen, ihr Heil in der Emigration zu suchen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sind es hauptsächlich Engländer, Iren, Deutsche und Skandinavier, die nach Amerika auswandern. Ende des 19. Jahrhunderts überwiegt das slawische und jüdische Element bei den Massen, die nach Amerika ziehen.
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Vom Anfang des 19. Jahrhunderts an suchen die Juden neue Wege der Einwanderung. Zunächst jedoch orientieren sie sich nach dem Inneren Russlands und Deutschlands. Es gelingt ihnen, in den großen Industrieund Handelszentren Fuß zu fassen, in denen sie eine wichtige Rolle als Kaufleute und Industrielle übernehmen. Wichtig und neu ist hierbei, dass zum ersten Mal seit Jahrhunderten ein jüdisches Proletariat auftaucht. Die Volks-Klasse beginnt sich gesellschaftlich zu differenzieren. Das jüdische Proletariat konzentriert sich jedoch vorwiegend auf dem Sektor der Konsumgüterindustrie und ist hauptsächlich ein handwerkliches Proletariat. In dem Maße, in dem die Großindustrie den Rahmen ihrer Ausbeutung erweitert, gehen die handwerklichen Zweige der Wirtschaft zurück. Die Werkstatt weicht der Fabrik. Es zeigt sich, dass die Integration der Juden in die kapitalistische Wirtschaft noch sehr prekär war. Nicht nur der »vorkapitalistische« Händler, sondern auch der handwerkliche Arbeiter wird zur Emigration gezwungen. Eine immer beachtlichere Zahl von Juden verlässt Osteuropa, um nach Westeuropa und Amerika auszuwandern. Die Lösung der jüdischen Frage, d. h. das vollständige Eindringen der Juden in die Wirtschaft, wird zum Weltproblem. 4. Der Niedergang des Kapitalismus Der Kapitalismus hat mit der sozialen Differenzierung des Judentums, mit seiner wirtschaftlichen Integration und mit der Emigration die Grundlagen für die Lösung der jüdischen Frage geschaffen. Aber er hat sie nicht gelöst. Im Gegenteil, die furchtbare Krise der kapitalistischen Ordnung im 20. Jahrhundert hat die Lage der Juden unerhört verschlechtert. Den aus ihren wirtschaftlichen Positionen im Feudalismus verdrängten Juden gelang es nicht, sich in die im Auflösungsprozess befindliche kapitalistische Wirtschaft zu integrieren. In seinen Krisenanfällen verwirft der Kapitalismus selbst jene jüdischen Elemente, die er sich noch nicht völlig einverleibt hat. Überall entwickelt sich ein wütender Antisemitismus in den Mittelschichten, die an den kapitalistischen Widersprüchen zugrunde zu gehen drohen. Das Großkapital bedient sich dieses elementaren
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Antisemitismus des Kleinbürgertums, um die Massen um die Fahne des Rassismus zu mobilisieren. Die Juden werden zwischen zwei Systemen zerrieben: dem Feudalismus und dem Kapitalismus, von denen jeder den Fäulnisprozess des anderen vorantreibt. Anmerkungen: [1] Jassuda Bédarride, Les Juifs en France, en Italie et en Espagne, Paris 1859, S. I. [2] Ben-Adir (Pseudonym von Abraham Rosin), »Antisemitismus«, in: Algemeyne Entsiklopedye, Paris. [3] Karl Marx, »Zur Judenfrage«, in: Karl Marx, Friedrich Engels Werke (MEW), Bd. 1, Berlin 1970, S. 372. [4] Ebd., S. 374. [5] Ebd., S. 352. [6] Arthur Ruppin, Les Juifs dans le monde moderne, Paris 1934. [7] Flavius Josephus, Geschichte des jüdischen Krieges, Bd. II, Kapitel XVI, Stuttgart und Leipzig 1836, S. 223. [8] »Zuvörderst wissen wir von keiner feindlichen Gewalt, welche vor der letzten Zerstörung Jerusalems Massen unseres Volks gedrängt hätte, sich über Kleinasien, über Inseln des Mittelmeers, über Mazedonien und Griechenland zu verbreiten.« Levi Herzfeld, Handelsgeschichte der Juden des Altertums, Braunschweig 1894, S. 202–203. [9] Karl Kautsky, »Das Massaker von Kischeneff und die Judenfrage«, in: Die Neue Zeit, Jg. 21, Heft 2, Stuttgart 1903, S. 304. [10] Adolphe Lods, Israël. Des origines au milieu du VIIIe siécle, Paris 1930, S. 22. [11] Lujo Brentano, Die Anfänge des modernen Kapitalismus, München 1916, S. 10–11, 15. [12] Herzfeld, Handelsgeschichte der Juden des Altertums, S. 202 ff. [13] Henri Pirenne, Mahomet et Charlemagne, Paris-Brüssel 1937, S. 3. [14] Theodor Mommsen, Römische Geschichte, Bd. III, Berlin 1889, S. 550. [15] Werner Sombart schreibt in seinem Werk von so unterschiedlichem Niveau (Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911), wo sich neben Absurditäten schlimmster Art sehr interessante Untersuchungen antreffen lassen: »… ich finde in der jüdischen Religion dieselben leitenden Ideen, die den Kapitalismus charakterisieren.« (S. 242) Diese Behauptung ist richtig unter der Voraussetzung, dass man unter Kapitalismus den »vorkapitalistischen« Handel und Wucher versteht. Wir werden weiter unten sehen, dass es falsch ist, anzunehmen, dass die Juden einen überwiegenden Anteil am Aufbau des modernen Kapitalismus gehabt hätten (vgl. Kap. IV). Zur Unterstützung seiner These zitiert Sombart viel aus dem Talmud und anderen religiösen Büchern, die
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einen engen Zusammenhang zwischen jüdischer Religion und Handelsgeist widerspiegeln. Einige Beispiele: »Wer gern in Freuden lebt, dem wird’s mangeln; und wer Öl und Wein liebt, wird nicht reich.« (Sprüche Salomonis, 21, 17) »… [du] wirst … vielen Völkern leihen, und du wirst von niemand borgen …« (5. Mose 15, 6) »In des Gerechten Haus ist Guts genug; aber in dem Einkommen des Gottlosen ist Verderben.« (Sprüche Salomonis, 15, 6) »Rabbi Eleasar hat gesagt: Daraus geht hervor, dass die Gerechten ihr Geld mehr lieben als ihren Körper.« (Sota 12a) »Auch dieses hat Rabbi Zizchak noch bemerkt: Der Mensch soll immer sein Geld in Gebrauch haben.« (Baba mezia 42a) (Bei den beiden zuletzt zitierten Stellen handelt es sich um zwei Schriften aus dem Talmud.) Es ist natürlich schwer, einen Überblick über den Wirrwarr von geschriebenen und kommentierten Texten aus den verschiedensten Epochen und Gebieten zu erlangen. Der kaufmännische Geist ist jedoch klar in dem Großteil aller Schriften zu erkennen. Das Werk Sombarts ist in diesem Sinne nur die Illustration der marxistischen These, dass die Religion nur die Ideologie einer Klasse widerspiegelt. Aber Sombart bemüht – wie andere bürgerliche Weise – eine andere Kausalbeziehung: Für ihn ist die Religion der Primärfaktor. [16] Henri Laurent, »Religion et affaires«, in: Cahier du libre Examen, (Brüssel 1938). Aristoteles sagt in seinem Werk Politeia: »Zurecht hat man eine Abneigung gegen den Wucher, da er den Reichtum aus dem Geld selbst zieht, das nicht mehr seiner ursprünglichen Bestimmung nach verwendet wird. Es ist für den Austausch geschaffen worden, der Wucher aber vermehrt es unabhängig. Der Zins ist das Geld des Geldes. Dies ist von allen Erwerbsmöglichkeiten die widernatürlichste … Die Bürger dürfen weder handwerkliche noch kaufmännische Berufe ausüben; denn diese Lebensweise ist niedrig und widerspricht der ›Tugend‹.« (Politeia, I, 10, 1258 b; VII, 9, 1328 b). [17] Im Gegensatz zur Ansicht vieler Historiker basiert die antike Wirtschaft – trotz ihrer recht wichtigen kommerziellen Transaktionen – auf der Produktion von Gebrauchswerten. »Die Familienindustrie dominiert nicht nur in den primitiven Gesellschaften, sondern auch in denen der Antike und reicht bis ins frühe Mittelalter hinein. Die Menschen sind wirtschaftlich in kleine, selbstständige Gruppen aufgeteilt, sodass sie ihren Bedarf selbst decken, da sie nicht mehr verbrauchen, als sie herstellen und kaum mehr herstellen, als sie unbedingt brauchen. Der Tausch und die Arbeitsteilung existieren nur in einem embryonalen Stadium.« (Charles Gide, Principes d’économie politique, Paris 1898, S. 165). [18] Jean Juster, Les Juifs dans l’Empire romain, Paris 1914, S. 102. [19] Laurent, »Religion et affaires«, ebd.
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[20] »So besitzt auch weder der Grundherr noch der Bauer in der Regel größere Geldbeträge: Der größte Teil seines Reichtums besteht in Gebrauchswerten, in Getreide, Flachs, Vieh usw. … Warenzirkulation, Zirkulation von Geldkapital, also Geldwirtschaft überhaupt sind dieser Gesellschaftsverfassung im Grunde fremd; das Geldkapital lebt, nach Marx’ anschaulichem Ausdruck, nur in ihren Poren. In diese Lücken jener Gesellschaft springt nun der Jude ein.« Otto Bauer, »Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie«, in: Marx-Studien, Bd. II, Wien 1907, S. 367. [21] Pirenne sagt Folgendes über die Erhaltung des nationalen Charakters der Deutschen in den slawischen Ländern: »Der wesentliche Grund hierfür ist ohne Zweifel die Tatsache, dass sie bei den Slawen die Initiatoren und über Jahrhunderte hinweg die besten Vertreter der Städtekultur waren. Die Deutschen haben bei den landwirtschaftlichen Völkern das Bürgertum eingeführt. Von Anfang an stachen sie von ihnen ab.« Henri Pirenne, Histoire de l’Europe, Paris 1936, S. 248. [22] Augustin Thierry, Histoire de la conquête de l’Angleterre par les Normands, Paris 1846, S. 8. [23] Karl Kautsky, »Rasse und Judentum«, in: Ergänzungshefte zur Neuen Zeit, Nr. 20, Stuttgart 1914, S. 26. – Da die Mauern, die die verschiedenen Klassen trennen, in der vorkapitalistischen Epoche undurchdringbar sind, passiert es sehr oft, dass sich die nationalen Unterschiede sehr lange halten. Sie offenbaren sich vor allem in der sprachlichen Vielfalt. Die Sprache des eroberten Volks wurde zur verachteten Volkssprache degradiert, und die Sprache der Eroberer wurde die Sprache der besseren Schichten. In England sprach der normannische Adel jahrhundertelang französisch, während das Volk sich auf angelsächsisch unterhielt. Aus der Vermischung dieser beiden Sprachen entstand das heutige Englisch. Auf die Dauer vermischten sich die sprachlichen Unterschiede. Die Burgunder, die Franken und andere Barbaren zögerten nicht, die Sprache ihrer Unterworfenen anzunehmen. Im Gegensatz hierzu haben die arabischen Eroberer den von ihnen eroberten Völkern ihre Sprache aufgezwungen. Diese sprachlichen Unterschiede zwischen den einzelnen Klassen verschwinden völlig erst mit dem Augenblick, in dem die Bourgeoisie zur Macht gelangt. Ludwig Gumplowicz beschreibt unter anderem, »wie die einen Stände (Herrenstand, Bauernstand, Handelsstand) aus dem Zusammentreffen heterogener ethnischer Elemente entstehen; wie ihre Verschiedenheit … sich leichter erhält, weil sowohl die anthropologische, als die moralische Verschiedenheit die Sonderung und gegenseitige Abschließung der späteren Stände und Kasten im Staate unterstützt.« Ludwig Gumplowicz, Grundriss der Soziologie, Innsbruck 1926, S. 130. [24] »… Der jüdische Kapitalismus [war] spekulativer Paria-Kapitalismus, der puritanische: bürgerliche Arbeitsorganisation.« Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1922, S. 182. Sicherlich ist die Übereinstimmung von Klasse und Religion nicht vollständig. Nicht alle Edelleute sind Katholiken und nicht alle Bürger schließen sich dem
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Calvinismus an. Aber die Klassen drücken der Religion ihren Stempel auf. So »hatte der Widerruf des Edikts von Nantes zur Folge, dass Ende des 17. Jahrhunderts etwa 100 000 Protestanten flohen. Sie stammten nahezu alle aus Städten und gehörten den industriellen und kaufmännischen Schichten an. (Die hugenottischen Bauern waren nur scheinbekehrt und verließen kaum das Königreich)«. Henri Sée, La France économique et sociale au XVIIIe siècle, Paris 1939, S. 15. [25] Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW Bd. 25, Berlin 1970, S. 341, 342, 623. [26] Außer bei einem mongolischen Volksstamm (den Chasaren), der an den Küsten des Kaspischen Meeres lebte und im 8. Jahrhundert den jüdischen Glauben annahm. Besteht eine Beziehung zwischen dem kaufmännischen Charakter dieses Volks und seiner Bekehrung zum Judentum? [27] Henri Pirenne, Les anciennes démocraties des Pays-Bas, Paris 1910, S. 59. [28] Vortrag von Simon Dubnow bei der Versammlung der historischen und ethnographischen Gesellschaft von St. Petersburg (vgl. seinen Artikel in der Zeitschrift »Woßchod« Nr. 12, St. Petersburg 1894, auf russ.). [29] Schon im 5. Jahrhundert vor Christus sprechen die Juden der Diaspora aramäisch. Später benützen sie vor allem griechisch: »Die [Grab-]Inschriften [auf den jüdischen Friedhöfen in Rom] sind überwiegend griechisch, allerdings zum Teil bis zur Unverständlichkeit jargonartig … daneben finden sich lateinische, aber keine hebräischen.« Ludwig Friedländer, Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit von August bis zum Ausgang der Antonine, Bd. III, Leipzig 1871, S. 510–511. [30] Es wäre interessant zu untersuchen, warum die Juden in den slawischen Ländern so lange ihren germanischen Dialekt erhalten haben (jiddisch). [31] Ruppin, Les Juifs dans le monde moderne, ebd., S. 265. [32] Ebd., S. 136. [33] Ebd. [34] Zur Zeit der Entwicklung des Kapitalismus zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert war Assimilation in Westeuropa im Allgemeinen gleichbedeutend mit dem Eindringen in die christliche Kapitalistenklasse. Das Vordringen der Juden in die Kapitalistenklasse kann verglichen werden mit der Verwandlung der Feudalherren in Kapitalisten. Auch hier endet der Kampf der Bourgeoisie gegen den Feudalismus in bestimmten Fällen mit der totalen Enteignung der feudalen Klasse (Frankreich) oder mit der Integration der Feudalherren in die Kapitalistenklasse (England, Belgien). Die kapitalistische Entwicklung hat ähnliche Folgen für die Juden. Manchmal müssen sie sich assimilieren, manchmal werden sie ausgerottet. [35] Im Allgemeinen hatten die Judenverfolgungen sozialen Charakter. Aber das Zurückbleiben der Ideologie hinter dem gesellschaftlichen Unterbau kann auch einige rein religiöse Verfolgungen erklären. In manchen Gebieten konnten die Juden ihre Religion erhalten, selbst als sie schon lange Landwirte geworden waren. In einem
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solchen Fall ist es das Ziel der Verfolgungen, die Bekehrung der Juden voranzutreiben. Die religiösen Verfolgungen unterscheiden sich von den religiös verbrämten, in Wirklichkeit jedoch sozialen Verfolgungen dadurch, dass sie weniger grausam sind und auf geringeren Widerstand der Juden stoßen. So scheinen die Juden in Spanien unter den Westgoten teilweise Landwirte gewesen zu sein. Die Könige der Visigothen dachten nie daran, sie aus dem Lande zu verweisen, wie es später Ferdinand und Isabella taten. Die rein religiösen Verfolgungen müssen als Ausnahmen angesehen werden. [36] Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, Bd. III,1: Das Wirtschaftsleben im Zeitalter des Hochkapitalismus, München/Leipzig 1927, S. 381–382. [37] »… das wirtschaftliche Aufblühen der führenden Industrieländer Europas im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts drosselte diesen Auswandererstrom, bald aber begann die zweite Welle zu steigen, die hauptsächlich Auswanderer aus den Agrarländern Europas brachte …« Wladimir Woytinsky, Tatsachen und Zahlen Europas, Wien/Leipzig/Paris 1930, S. 60.
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II. Von der Antike bis zu den Karolingern:
Die Periode des kommerziellen
Wohlstands der Juden 1. Vor der römischen Eroberung Seit Urzeiten erfolgte der Warenaustausch zwischen Ägypten und Assyrien, den beiden ältesten Kulturzentren der antiken Mittelmeerwelt, über Syrien und Palästina. Der im Wesentlichen kaufmännische Charakter der Phönizier und Kanaaniter [38] entsprang der geografischen und historischen Lage ihrer Länder. Die Phönizier wurden das erste große Handelsvolk der Antike, weil ihr Land zwischen den beiden ersten großen Zentren der Zivilisation lag. Die assyrischen und ägyptischen Waren bildeten zu Anfang den Hauptgegenstand des phönizischen Handels. Dasselbe galt wahrscheinlich auch für die palästinensischen Kaufleute. [39] Nach Herodot waren die assyrischen Waren die ältesten und wichtigsten Artikel des phönizischen Handels. Nicht weniger alt war die Verbindung der Phönizier mit Ägypten. Die Legenden des biblischen Kanaan wie auch die phönizischen Sagen legen Zeugnis ab von den regelmäßigen, über Seeund Landwege erfolgenden Beziehungen der Einwohner dieser Länder mit Ägypten. Herodot spricht auch von ägyptischen Waren, die von den Phöniziern vor langer Zeit nach Griechenland gebracht wurden. [40] Die geografische Lage Palästinas war ebenso günstig wie die Phöniziens für den Warenverkehr zwischen Ägypten und Assyrien. [41] Aber die Möglichkeiten der Schifffahrt, über die Syrien verfügte, fehlten ihm völlig. Phönizien hatte sich bis zum Überfluss mit allem versehen, was für Meerfahrten nötig war; libanesische Zedern und Zypressen lieferten ihm das Holz zum Bau, auch Kupfer und Eisen fanden sich im Überfluss in den libanesischen Bergen und in der näheren Umgebung. An der phönizischen Küste boten sich viele natürliche Häfen für die Schifffahrt an. [42] Nicht verwunderlich ist es auch, dass schon sehr früh phönizische Segelboote, schwer beladen mit ägyptischen und assyrischen Waren, alle antiken Seewege zu befahren begannen. »Diese politischen und merkantilen Verbindungen, in denen Phönizien schon seit 2000 v. Chr. mit den großen Staaten am Euphrat und 25
Nil stand, hatten dann weiter die Ausbreitung des phönizischen Handels über die Küstenländer des arabisch-indischen Ozeans zur Folge.« [43] Die Phönizier brachten die verschiedenen Völker und Zivilisationen der Antike einander näher. [44] Lange Jahrhunderte hindurch behielten die Phönizier das Handelsmonopol unter den relativ entwickelten Völker des Orients und den unentwickelten Ländern des Okzidents. Zur Zeit der Handelshegemonie der Phönizier war der wirtschaftliche Stand der westlichen Mittelmeerinseln und Mittelmeerländer noch sehr zurückgeblieben. »Dies bedeutet nicht, dass der Handel in der Welt Homers unbekannt war, aber er bestand für die Griechen hauptsächlich aus Import … Rohmaterial oder Edelstoffe und die von fremden Seefahrern angebotenen Fertigwaren scheinen die Griechen meistens mit Vieh bezahlt zu haben.« [45] Diese Situation, die sehr unvorteilhaft für die Einheimischen des Landes war, hält nur kurze Zeit an. Der phönizische Handel selbst wird ein hauptsächlicher Ansporn für die wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands. Der Aufstieg Griechenlands wurde auch begünstigt durch die hellenische Kolonisation, die in großem Ausmaß zwischen dem 9. und 7. Jahrhundert vor Christus erfolgte. Die griechischen Ansiedler verbreiteten sich nach allen Richtungen im Mittelmeer. Die griechischen Städte vermehrten sich. Thukydides und Platon erklären die griechische Auswanderung durch den Mangel an Land. Die Entwicklung der griechischen Kolonisation ist von einem (für die damalige Zeit) großartigen Aufschwung der hellenischen Industrie und des hellenischen Handels begleitet. Die ökonomische Entwicklung Griechenlands hat den kommerziellen Abstieg Phöniziens zur Folge. »Früher entluden die Phönizier in den griechischen Häfen ihre Waren, die sie gegen einheimische Produkte – wie es scheint, hauptsächlich gegen Vieh – eintauschten. Von nun an bringen griechische Seeleute [46] ihre Fertigwaren und Kunstwerke, ihre Stoffe, Waffen, Schmuckstücke und bemalte Vasen, deren Ruhm sehr weit reicht und die von allen Barbaren sehr begehrt sind, nach Ägypten, Syrien, Kleinasien, zu den Völkern
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Europas, wie den Etruskern, den noch ungebildeten Skythen, Galliern, Ligurern und Iberern.« [47] Der wirtschaftliche Höhepunkt Griechenlands scheint in der Zeit zwischen dem 6. und 4. Jahrhundert vor Christus zu liegen. »Was diese neue Epoche kennzeichnet, ist die Tatsache, dass die Berufsarten sich vermehren, organisieren und spezialisieren. Die Arbeitsteilung ging schon sehr weit.« [48] Zur Zeit des Peloponnesischen Kriegs beschäftigten Hipponikos 600 Sklaven und Nikias 1000 in ihren Minen. Diese bedeutende wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands hat die meisten bürgerlichen Wissenschaftler dazu verleitet, von einem »griechischen Kapitalismus« zu sprechen. Sie gehen sogar so weit, Industrie und Handel Griechenlands mit der gewaltigen wirtschaftlichen Entwicklung des Industriezeitalters zu vergleichen. In Wirklichkeit bleibt die Landwirtschaft die ökonomische Basis Griechenlands und seiner Niederlassungen. »… die griechische Kolonie ist fast immer: keine Handelskolonie, sondern Militär- … -kolonie oder Ackerbaukolonie.« [49] So berichtet Strabon über Cumae, eine griechische Siedlung in Italien, dass ihre Einwohner erst 300 Jahre nach ihrer Niederlassung entdeckt hätten, dass sich ihre Stadt in der Nähe des Meeres befand. Der primär landwirtschaftliche Charakter des Wirtschaftslebens der hellenischen Welt ist unbestreitbar. Es kann auch nicht die Rede von einer Industrie sein, die mit der modernen Industrie vergleichbar ist. »Organisation und Produktionsmethode sind handwerksmäßige geblieben.« [50] Nur die Bergwerke bieten vielleicht ein dem, was wir heute kennen, vergleichbares Bild – wenigstens was die Arbeitskraft betrifft. Die Tatsache, dass Industrie und Handel trotz ihres großen Ausmaßes hauptsächlich in den Händen von Fremden geblieben sind, zeigt am besten ihre relativ untergeordnete Stellung innerhalb der griechischen Wirtschaft. »In dem riesigen Handelsnetz, dessen Mittelpunkt Athen ist, auch in der Industrie, überwiegt der Anteil der Nichtathener«. [51] Auf Delos, dem großen Handelszentrum, ergeben die Inschriften, dass fast alle Kaufleute Fremde waren. [52] Der griechische Bürger verachtet Handel und Industrie. Er ist in erster Linie Grundbesitzer. Aristoteles und Platon sind dagegen, dass man 27
Kaufleute in der Polis zulässt. [53] Man muss sich also davor hüten, die Bedeutung der industriellen und kommerziellen Entwicklung Griechenlands zu überschätzen. Tatsächlich war die griechische Expansion hauptsächlich landwirtschaftlicher und militärischer Art. Sie ging jedoch einher mit einem für die damalige Zeit sehr bedeutsamen industriellen und kommerziellen Wachstum. [54] Die Griechen wurden nie ein Handelsvolk wie die Phönizier und die Juden; aber die griechischen Niederlassungen und später die hellenischen Reiche brachten es zu einem sehr beachtlichen Handels- und Industrieaufschwung. Es versteht sich von selbst, dass die griechischen Staaten, obwohl nicht wirklich merkantil, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Kräften Handel und Industrie, die ihre wichtigsten Geldquellen waren, förderten. Der Zerfall des phönizischen Handels ist aber nicht allein auf die wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands und seiner Kolonien zurückzuführen; ein anderer wichtiger Grund ist der wachsende Antagonismus zwischen Persien und Griechenland. Parallel zur Ausdehnung der hellenischen Zivilisation erfolgt der triumphale Siegeszug der Perser durch Asien. Das persische Reich erlangt seinen Höhepunkt im 5. Jahrhundert vor Christus. Es erstreckt sich über einen Teil Asiens und über Ägypten. Die parallele Entwicklung der griechischen und der persischen Zivilisation musste dem phönizischen Handel den Todesstoß versetzen. Der Handel zwischen Asien und Europa wurde sicherlich sehr erschwert durch die Aufteilung des Mittelmeerraumes zwischen zwei einander feindlichen Großmächten. Die persische und die griechische Welt schufen jede für sich einen eigenen Handelsverkehr. Man kann annehmen, dass Palästina, früher völlig von Phönizien abgelöst, mit dem phönizischen Abstieg und der Entwicklung des asiatischen Handels nach der Periode der persischen Eroberungen wieder eine zunehmend wichtige Rolle im Handelsverkehr spielt. Die Durchgangsstraße zwischen Ägypten und Babylon gewinnt ihre alte Bedeutung zurück. Während der phönizische Handel mehr und mehr von seiner antiken Bedeutung einbüßt, derart, dass »zur Zeit des Lukian
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Pökelfleisch den Hauptumsatz bildete«, [55] spielen die Juden im persischen Reich eine führende Rolle. Bestimmte Historiker schreiben dem babylonischen Exil für die Transformation der Juden in ein Handelsvolk eine wichtige Rolle zu. In Babylon hätten sich die Juden »zu jenem Handelsvolk zu entwickeln begonnen, als welches wir sie in der Wirtschaftsgeschichte vornehmlich kennen. Bei den Babyloniern hatten sie hochentwickelte Handelsverhältnisse vorgefunden. Zahlreiche in den neuerdings veröffentlichten Keilschrifttexten enthaltene Geschäftsurkunden zeigen, dass sich die exilierten Juden an diesem Handelsleben eifrig beteiligt haben, sowohl als Großhändler als auch in den in Babylonien insbesondere ausgebildeten Geldgeschäften.« [56] Aber die Zerstreuung der Juden ging dem babylonischen Exil mit Sicherheit voraus. »Es bestehen ernsthafte Gründe, anzunehmen, dass es eine Diaspora schon vor dem Exil gab.« [57] Man übertreibt bei Weitem den Umfang des jüdischen Exils unter Nebukadnezar. Nur ein Teil der herrschenden Schichten wurde von den Maßnahmen des babylonischen Königs betroffen. Die Mehrzahl der Juden in Palästina blieb dort. Wenn man dann in der persischen Epoche die Juden in allen Teilen des riesigen Reichs verstreut findet – und das Buch Esther legt davon beredtes Zeugnis ab – wäre es kindisch, darin Folgen des babylonischen Exils zu sehen, das alles in allem nur 50 Jahre dauerte. Ebenso kindisch wäre die Annahme, dass das jüdische Volk zur Zeit von Esra und Nehemia nach Palästina zurückgekehrt sei. Ihr Werk war in erster Linie religiöser Art. Es handelte sich darum, den Tempel wiederaufzubauen und ein religiöses Zentrum für das verstreute Judentum zu errichten. »Die meisten Historiker haben die Rolle des palästinensischen Judentums während der persischen Epoche sehr übertrieben. Man tut, als ob sich die ganze jüdische Geschichte nach dem Wiederaufbau Jerusalems am Fuße des heiligen Berges abspielte, als ob das ganze Volk tatsächlich aus dem Exil zurückgekehrt sei und auf einigen hundert Kilometern zwischen Tekoa, Mizpa und Jericho gelebt habe. In Wirklichkeit repräsentierten die judäischen Juden in dieser Zeit nur einen kleinen Teil, den kleinsten des Judentums. Und das war mit Sicherheit nicht der lebendigste.« [58] 29
Das Edikt des Kyros richtet sich mit folgenden Worten an die Juden der Diaspora: »… und wer noch übrig ist an allen Orten, da er Fremdling ist, dem sollen helfen die Leute seines Orts mit Silber und Gold, Gut und Vieh, außerdem, was sie aus freiem Willen geben zum Hause Gottes zu Jerusalem.« Alle, die in der Umgebung wohnten – so das Buch Esra – gaben den 42 000 Juden, die nach Palästina zurückkehrten, Vasen aus Silber und Gold, Herden und Möbel mit. [59] Offensichtlich handelt es sich hier nicht um eine massive Rückkehr der Juden nach Palästina, sondern vor allem um den Wiederaufbau des Tempels. Die wichtigsten Niederlassungen der Diaspora in der persischen Epoche im 5. Jahrhundert vor Christus lagen in Mesopotamien, in Chaldäa und Ägypten. Sie werfen ein interessantes Licht auf die Situation der jüdischen Kolonien in der Diaspora von damals. Laut den Archiven einer jüdischen Familie »trieben sie Handel, kauften und verkauften Häuser und Baugründe, verliehen Geld, verwalteten Depositen und zeigten sich in Rechtsfragen sehr gut bewandert«. [60] Es ist eine sehr interessante Feststellung, dass sogar die Lieder und Märchen auf aramäisch geschrieben sind. Dies zeigt, dass schon im 5. Jahrhundert vor Christus die jüdische Umgangssprache nicht mehr hebräisch war. Aramäisch ist die große asiatische Sprache jener Zeit, die Handelssprache. [61] Die Religion der Juden von Elephantine ist nicht ebenso ausgebildet wie die offizielle Religion, die unter Esra und Nehemia kodifiziert worden war. In einer Bittschrift an den persischen Gouverneur verlangen sie die Ermächtigung zum Wiederaufbau ihres Tempels. Nun bezweckt aber gerade die Reform von Esra und Nehemia, alle Juden der Diaspora um den einzigen Tempel von Jerusalem zu sammeln. Und tatsächlich fließen bis zum Jahre 70 alle Gaben der in alle Welt versprengten Juden in Jerusalem zusammen. Dieser Reichtum des Tempels von Jerusalem war wahrscheinlich der Hauptgrund des Feldzugs des Antiochos gegen die Juden. »[Simeon] erzählte ihm [Apollonius], der Tempelschatz in Jerusalem sei voll von unvorstellbaren Reichtümern; unzählbar sei die Menge des Geldes.« [62] Später konfisziert Mithridates auf der kleinen Insel Kos 800 Talente, die zum Bau des Tempels von Jerusalem bestimmt waren. Zur Zeit Roms 30
beklagt Cicero in seinen Reden die ungeheuren Summen, die nach Jerusalem flossen. Die Periode des Hellenismus stellt den wirtschaftlichen Höhepunkt der Antike dar. Die Eroberungen Alexanders zerstörten die Barrieren zwischen der hellenischen Welt, Asien und Ägypten. In allen Teilen des hellenischen Reichs schossen die Städte wie Pilze aus der Erde. »Die größten Städtegründer aber nicht nur dieser Epoche, sondern der Weltgeschichte überhaupt sind Seleukos und sein Sohn Antiochos I.« [63] Die Könige der hellenistischen Epoche schaffen neue Stadtzentren, die dazu bestimmt sind, die alten persischen und phönizischen Städte zu verdrängen. »An der syrischen Küste lässt der Hafen von Antiocha die antiken Städte Tyros und Sidon vergessen.« [64] Seleukos erbaut an den Ufern des Tigris Seleukia, um Babylon die zentrale Stellung im Welthandel zu entreißen. [65] Dieses Ziel wurde voll und ganz erreicht. Als Babylon zerfiel, wurde das hellenistische Seleukia wahrscheinlich die größte Stadt jener Zeit. Nach Plinius hatte sie 600 000 Einwohner. Neben Seleukia wurden Alexandria und Antiochia Mittelpunkte der hellenistischen Welt. Alle diese Städte kannten im Hellenismus großen Wohlstand. Die Lage der Juden scheint sich nach den Eroberungen Alexanders noch zu festigen. »Die Juden verstanden es, sich besondere Privilegien – wie es scheint – sowohl bei den Seleukiden wie bei den Ptolemäern zu verschaffen. In Alexandria, wo sie durch Ptolemaios I. in großen Scharen hingezogen wurden, formten sie eine abgesonderte Gemeinschaft, die sich selbst verwaltete und die der Rechtsprechung der griechischen Gerichte unterworfen war.« [66] »Ebenso ist in der Hauptstadt Syriens, in Antiochien, den Juden ein gewissermaßen selbstständiges Gemeinwesen und eine privilegierte Stellung eingeräumt worden. Ganz ebenso in Kyrene.« [67] Die privilegierte Situation und die spezifische wirtschaftliche Position der Juden sind bereits Ursache schwerer Auseinandersetzungen mit der Bevölkerung der Städte, in denen sie lebten. Ständig brachen Konflikte aus, ebenso in den palästinensischen Städten wie in Alexandria, Seleukia, Kyrene und auf Zypern. [68] Diese Konflikte hatten nichts gemein mit den 31
heutigen nationalen Spannungen. Im Gegenteil, die hellenistischen Reiche können sich einer einzigartigen Integration derjenigen Völker rühmen, aus denen sie sich zusammensetzen. Der Titel »Grieche« wird immer weniger auf Mitglieder einer bestimmten Nation angewandt. Man gibt ihn jetzt den herrschenden Schichten der Bevölkerung, die über ein bestimmtes Kulturniveau verfügen. Alexander wies, wie ein alter Schriftsteller sagt, jedermann an, die Welt als sein Vaterland, die rechtschaffenen Bürger als seine Eltern und die Bösen als Fremde anzusehen. Die wachsende Bedeutung des Judentums im Wirtschaftsleben der hellenistischen Welt ist auch Ergebnis der Verlagerung des Schwerpunkts des Wirtschaftslebens in den Orient. Der Wohlstand Alexandrias, Antiochias und Seleukias hebt sich auffallend von der Armut und der Dekadenz Griechenlands zu derselben Zeit ab. Polybios weist häufig auf den Zerfall der griechischen Städte hin. Im 2. Jahrhundert »fiel es den Besuchern schwer, in dieser Stadt, wo das Wasser rar, die Straßen schlecht und die Häuser unbequem sind, das berühmte Athen wiederzuerkennen.« [69] Athen wurde aus seiner Rolle als Mittelpunkt der zivilisierten Welt verdrängt. Neben dem wirtschaftlichen Abstieg trugen die unaufhörlichen Klassenkämpfe [70] zum Untergang Griechenlands bei. Klassenkämpfe, die aber wegen der rückständigen Produktionsweise zu keinerlei bedeutendem Ergebnis führen konnten. Der Triumph der Plebs war kurzlebig. Die Umverteilung der Reichtümer führte – es war nicht anders möglich – zu neuen sozialen Ungleichheiten und damit zu neuen gesellschaftlichen Konflikten. Ebenso war der Siegeszug Griechenlands nach den Eroberungen Alexanders trügerisch. Die daraus resultierende Verlagerung des wirtschaftlichen Zentrums der damaligen Welt in den Orient führte zu seinem rapiden Abstieg. [71] Die besitzenden Aristokratenklassen waren den plebejischen Revolten gegenüber ohnmächtig. Sie mussten die Unterstützung Roms suchen. [72] Aber Rom gab sowohl Griechenland wie auch dem Hellenismus den Todesstoß. Die Römer warfen sich auf die hellenistische Welt wie auf eine reiche, zu erobernde Beute. »Zwischen 211 und 208 vor Christus sind nach unseren sehr unvollständigen Informationen fünf alte Städte von Hellas … zerstört worden …« [73] 32
Korinth, die reiche Handelsstadt, ist zerstört. »Ich war dabei«, sagt Polybios, »ich sah, wie Bilder mit Füßen getreten wurden und Soldaten sich daraufsetzten, um mit Würfeln zu spielen.« Rom versetzte auch dem Hellenismus in Asien einen schweren Schlag. [74] Das prachtvolle Gebäude des Hellenismus wurde von Römern und Parthern mit vereinten Kräften zerstört. 2. Der römische Imperialismus – Aufstieg und Zerfall Im Gegensatz zum modernen Imperialismus, der hauptsächlich auf der Entwicklung der Produktivkräfte basiert, gründet sich der antike Imperialismus auf die Plünderung der eroberten Länder. Bei den antiken Formen des Imperialismus ging es nicht darum, Absatz- und Geldmärkte zu finden, sondern darum, die eroberten Länder auszusaugen. Bei den rückständigen Produktionsmethoden der Antike konnte der Luxus der besitzenden Klassen der Eroberer nur durch den mehr oder minder schnellen Ruin der eroberten Völker sichergestellt werden. Die Erschöpfung der eroberten Länder, die wachsenden Schwierigkeiten bei neuen Eroberungen, die allmähliche Verweichlichung der Eroberer mussten früher oder später zum Niedergang des antiken Imperialismus führen. Rom ist das klassische Beispiel des antiken Imperialismus. Man hat die kommerzielle und industrielle Entwicklung Roms stark übertrieben. Seine Handel »blieb … im ganzen doch passiv«. [75] »… Rom hat den Export der Provinzen nur an sich gezogen, ohne ihnen eine Gegenleistung zu bieten …« [76] Die herrschenden römischen Klassen empfanden tiefe Verachtung für jegliche Art von Handelsverkehr. Die Lex Claudia verbietet den Senatoren, deren Söhnen und der ganzen römischen Aristokratie, Schiffe zu halten, die mehr als 300 Amphoren aufnehmen können, was weniger als 80 Hektoliter Getreide oder Gemüse entspricht. Dies kommt einem Handelsverbot schlechthin gleich. Cäsar erneuert dieses Verbot. Die römische Politik ist nie von ihren vorgeschützten Handelsinteressen bestimmt worden. Der beste Beweis hierfür ist, dass Rom nach der Niederlage Hannibals den Karthagern noch erlaubte, den Zugang zu ihrem Meer zu verbieten. [77] »Im Allgemeinen ist zu sagen, dass die wirtschaftlichen Probleme der Römer sehr einfach sind. Die allmähliche Eroberung Italiens und der Provinzen zehrte den Überschuss an Kapital 33
und Bevölkerung auf, sodass es keinen dringenden Bedarf an Industrie und Handel gab«, sagt Tenney Frank. [78] Die Kaufleute in Rom waren in der Regel Fremde, und dies erklärt das ständige Anwachsen der jüdischen Kolonie in Rom seit Cäsar. Die römischen »Großhändler« (negotiatores) waren keine Kaufleute, sondern Wucherer, die die Provinzen aussaugten. [79] Die Entwicklung des Handels im römischen Reich muss vor allem den zunehmenden Bedürfnissen der herrschenden Klassen in Rom zugeschrieben werden. Strabon erklärt auf diese Art und Weise die Entstehung des großen Markts auf Delos. Woher kam diese Entwicklung des Handels? »Die Ursache war, dass die nach Karthagos und Korinths Zerstörung reich gewordenen Römer vieler Sklaven bedurften.« [80] Ebenso war es mit der Industrie: Die römische Industrie lebte vor allem von den Luxusbedürfnissen der Aristokratie. Nachdem Tenney Frank festgestellt hat, dass im 4. Jahrhundert vor Christus kein merklicher Fortschritt im Bereich der Industrie gemacht worden sei, fügt er hinzu: »In den beiden folgenden Jahrhunderten finden wir keine Anzeichen dafür, dass sich die Art der Produktion in Rom merklich verändert hätte. Zweifellos nahm die Menge der dort produzierten Waren mit dem Wachstum der Stadt zu … aber von exportwürdigen Waren hören wir nichts. Der einzige Unterschied besteht nun darin, dass die Arbeit, die früher durch freie Arbeit geleistet wurde, im 3. Jahrhundert begann, in die Hände von Sklaven zu fallen.« [81] Selbst die Autoren, die annehmen, dass Italien zur Zeit der Republik ein produktives Land gewesen sei, geben zu, dass dies zur Zeit des Imperiums nicht mehr der Fall war. »Italien produziert immer weniger … Mehrere erfolgreiche Industrien geraten am Ende der Phase der Republik in Zerfall … So war der Handelsverkehr zwischen Italien und dem Orient nur noch einseitig und befand sich mehr und mehr in den Händen von Asiaten, von Alexandrinern und Syrern.« [82] Italien lebte nur noch von der Ausbeutung der Provinzen. Der Kleingrundbesitz, Grundlage für die römische Stärke, wurde allmählich verdrängt durch die weiten Domänen, die den aufwendigen Bedürfnissen der römischen Aristokratie dienten und in denen die 34
Sklavenarbeit dominierte. [83] Jeder kennt den Satz von Plinius: »Latifundia perdidere Italiam.« [84] »Der Sklave wurde immer mehr aus einem Werkzeug der Produktion … zu einem Werkzeug des Luxus.« [85] Horaz sagte in einer seiner Satiren, dass für einen Mann von Ehre mindestens zehn Sklaven unabdingbar waren. In der Tat arbeiteten Tausende von Sklaven in den ausgedehnten Latifundien. »In der tusculanischen und tiburtinischen Feldmark, an den Gestaden von Terracina und Baiae erhoben sich da, wo die alten latinischen und italischen Bauernschaften gesäet und geerntet hatten, jetzt in unfruchtbarem Glanz die Landhäuser der römischen Großen, von denen manches mit den dazugehörigen Gartenanlagen und Wasserleitungen, den Süß- und Salzwasserreservoirs zur Aufbewahrung und Züchtung von Flussund Seefischen, den Schnecken- und Siebenschläferzüchtungen, den Wildschonungen zur Hegung von Hasen, Kaninchen, Hirschen, Rehen und Wildschweinen, und den Vogelhäusern, in denen selbst Kraniche und Pfauen gehalten wurden, den Raum einer mäßigen Stadt bedeckte.« [86] Als die freie Arbeit von Sklavenarbeit abgelöst wurde, wurde Italien zum Zentrum der Verschwendung aller im Reich ausgehobenen Schätze. Ein erdrückendes Steuerwesen ruinierte die Provinzen. »… die häufigen und kostspieligen Flottenrüstungen und Strandverteidigungen, um der Piraterie entgegenzusteuern, die Aufgaben, Kunstwerke, wilde Bestien oder andere Bedürfnisse des wahnwitzigen römischen Theater und TierhetzenLuxus herbeizuschaffen, die militärischen Requisitionen im Kriegsfall waren ebenso häufig wie erdrückend und unberechenbar. Ein einzelnes Beispiel mag zeigen, wie weit die Dinge gingen. Während der dreijährigen Verwaltung Siziliens durch Gaius Verres sank die Zahl der Ackerwirte in Leontinoi von 84 auf 32, in Motuka von 187 auf 86, in Herbita von 252 auf 120, in Agyron von 250 auf 80; sodass in vier der fruchtbarsten Distrikte Siziliens von hundert Grundbesitzern 59 ihre Äcker lieber brachliegen ließen, als sie unter diesem Regiment zu bestellen … In den Klientelstaaten waren die Formen der Besteuerung etwas verschieden, aber die Lasten selbst womöglich noch ärger, da außer den Römern hier auch noch die einheimischen Höfe erpressten.« [87]
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Der römische Kapitalismus, soweit man von Kapitalismus überhaupt schon reden kann, war im Wesentlichen spekulativ und baute nicht auf der Entwicklung der Produktivkräfte auf. [88] Der Handel und die Bank von Rom glichen einem organisierten Raubunternehmen. »Aber womöglich noch schlimmer und noch weniger kontrollierbar war der Druck, den die Geschäftsleute in Italien auf ihre unglücklichen Berufskollegen aus den Provinzen ausübten. Der ertragreichste Teil des Grundbesitzes, der ganze Handel und die Finanzgeschäfte lagen in ihren Händen … der Wucher blühte mehr denn je.« »›Alle Gemeinden‹, heißt es in einer schon … 70 v. Chr. veröffentlichten Schrift, ›sind zu Grunde gerichtet‹; eben dasselbe wird für Spanien und das narbonensische Gallien, also die verhältnismäßig ökonomisch noch am leidlichsten gestellten Provinzen, insbesondere bezeugt. In Kleinasien standen Städte wie Samos und Halikarnassos fast leer; der rechtliche Sklavenstand schien hier, verglichen mit den Peinigungen, denen der freie Provinziale unterlag, ein Hafen der Ruhe, und sogar der geduldige Asiate war, nach den Schilderungen römischer Staatsmänner selbst, des Lebens überdrüssig geworden.« [89] »Die römischen Staatsmänner gaben öffentlich zu, dass der römische Name grenzenlos verhasst sei in ganz Griechenland und Asien.« Natürlich konnte sich dieses Ausbeuter- und Erpressersystem nicht unbegrenzt halten. Die Quellen, aus denen Rom schöpfte, trockneten aus. Lange vor dem Untergang Roms ist ein allmähliches Nachlassen des Handels zu bemerken. Die Basis der Ausbeutung wurde schmäler in dem Maße, in dem Rom die eroberten Länder ihrer Substanz beraubte. Die Tatsache, dass die Produktion von Getreide, vor allem von Weizen, abnahm, während die Weinrebe und der Olivenbaum weite Gebiete im Westen und Osten eroberten, weist auf den alarmierenden Stand der Dinge hin. Luxuserzeugnisse verdrängen die für Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft nötigen Güter. »Die Ausdehnung der Wein- und Olivenkulturen … bedeutete nicht nur eine Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse für Italien, sondern konnte auch Kornknappheit und Hungersnot im ganzen Reich zur Folge haben.« [90]
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Vergebens sucht Trajan die Gefahr abzuwenden, indem er die Senatoren verpflichtet, Ländereien in Italien aufzukaufen. Seine Nachfolger haben nicht sehr viel mehr Erfolg. Die Verschwendung drosselt die Produktion. »Bald lassen die großartigen Bauwerke kein Stück Erde mehr für den Pflug des Bauern«, ruft Horaz aus. Im 3. Jahrhundert vollendet sich der Niedergang des Handels. Die Verbindung mit den fernen Ländern brach ab. »Es sind tatsächlich keine (römischen) Münzen aus dem 3. Jahrhundert in Indien gefunden worden.« [91] Dies beweist den Abbruch der Handelsbeziehungen zwischen Rom und Indien. Der Zustand der ägyptischen Landwirtschaft hatte sich im 3. Jahrhundert so sehr verschlechtert, dass man auf einen Teil der Weizenlieferungen aus der einst so reichen Provinz verzichten musste. Man musste die ägyptischen Lieferungen durch Weizen aus der afrikanischen Provinz (dem heutigen Algerien und Tunesien) ersetzen. [92] Commodus sah sich gezwungen, eine kleine Flotte zu errichten, um die Weizentransporte aus Afrika zu besorgen. Wie wir gesehen haben, beruhte der Handel im römischen Reich hauptsächlich auf der Versorgung der wohlhabenden Klassen Roms. Ist es verwunderlich, dass der Zerrüttung der Provinzen der Abstieg des Handels folgte? Die römischen Kaiser waren immer mehr gezwungen, auf Naturalabgaben zurückzugreifen, die übrigens das Elend der Provinzen noch vergrößerten. »Die Requisitionen nahmen überhand: Getreide, Häute, Holz … und Zugtiere mussten geliefert werden, die Bezahlung erfolgte unregelmäßig, wenn überhaupt damit gerechnet werden konnte.« [93] Eine reine Naturalwirtschaft, die ausschließlich Gebrauchswerte schafft, tritt allmählich an die Stelle des Warenaustausches. »Hatte der römische Frieden einst zum regelmäßigen Austausch und zur Nivellierung der Lebensbedingungen zwischen den verschiedenen Regionen des Reiches geführt, so war in der Anarchie des 3. Jahrhunderts jedes Land oft dazu verurteilt, unter Schmerzen und in Armut auf sich selbst gestellt zu leben.« [94] Man hat versucht, die allmähliche Ablösung der Sklaverei durch das Pächterwesen mit dem Fehlen von Energie bei den Grundbesitzern oder mit dem durch die Beendigung der auswärtigen Kriege hervorgerufenen 37
Sklavenmangel zu erklären. Die wesentliche Ursache ist vermutlich jedoch der allmähliche Ruin der Kolonien und das dadurch bedingte Ausbleiben der Warenzufuhr. Die Großgrundbesitzer, mehr und mehr gezwungen, von den Produkten ihrer eigenen Ländereien zu leben, haben ein Interesse daran, die Sklavenarbeit, die relativ wenig produktiv ist, durch ein System von Pächtertum zu ersetzen, das dem im Mittelalter aufblühenden System der Leibeigenschaft ähnelt. »Der Pächter schuldet dem Eigentümer alles, was der Leibeigene seinem Lehnsherrn schuldet.« [95] Immer größer wird die Macht der Grundbesitzer, die oft über riesige Ländereien verfügen. In Ägypten sind ihnen die Bauern im 5. Jahrhundert völlig unterworfen. Die staatliche Verwaltung gerät gänzlich in ihre Hände. [96] Es ist daher sicherlich ungenau, in der Naturalwirtschaft, die sich später unter den Karolingern voll entfalten wird, das Ergebnis der Auflösung des römischen Reichs und der Zerstörung der mediterranen Wirtschaftseinheit zu sehen. [97] Zweifellos trugen die Einfälle der Barbaren entscheidend zum Zerfall des antiken Handels und zum Aufblühen der Feudalwirtschaft bei. Aber der wirtschaftliche Abstieg des römischen Reichs hat lange vor dem Untergang Roms und mehrere Jahrhunderte vor der islamischen Invasion eingesetzt. Ein anderes, sehr wichtiges Indiz für die Entwicklung einer Naturalwirtschaft ist die Verschlechterung der Währung, die bereits unter Nero beginnt. [98] Kupfer tritt mehr und mehr an die Stelle von Gold und Silber. Im 2. Jahrhundert ist der Goldmangel nahezu absolut. [99] Die Entwicklung der Naturalwirtschaft, einer Wirtschaft, die hauptsächlich Gebrauchswerte schafft, stellt in keiner Weise ein »anomales Phänomen« dar, wie Henri Pirenne fälschlich annimmt. Dem politischen Ruin Roms ging der wirtschaftliche voran. Die politische Erschütterung des römischen Reichs wurde erst durch seinen wirtschaftlichen Abstieg ermöglicht. Das politische Chaos des 3. Jahrhunderts, ebenso wie die Invasion der Barbaren, erklären sich einzig und allein durch den wirtschaftlichen Abstieg des römischen Reichs. In dem Maße, in dem die Provinzen ruiniert werden, in dem der intensive Warenaustausch aufhört, und eine Rückkehr zur Naturalwirtschaft erfolgt, verlieren die besitzenden Klassen alles Interesse an der Existenz des Reichs selbst. Jedes Land, jedes Gut zieht sich auf sich 38
selbst zurück. Das Reich mit seinem riesigen Verwaltungsaufbau und seiner ungeheuer kostspieligen Armee wird zu einem Geschwür, zu einem parasitären Organ, dessen unerträgliches Gewicht auf allen Klassen lastet. Die Steuern nagen an der Substanz des Volks. Als die Soldaten unter Marc Aurel nach ihren großen Erfolgen im Kampf gegen die Markomannen eine Solderhöhung verlangten, gab ihnen der Kaiser die bezeichnende Antwort: »Alles, was ihr über euren gewohnten Sold hinaus erhalten werdet, müssen eure Eltern mit ihrem Blute bezahlen.« Die Staatskasse war erschöpft. Um den Verwaltungsapparat und die Armee unterhalten zu können, musste man den Privatbesitz angreifen. Während die unteren Klassen immer wieder revoltierten, wandten sich die besitzenden Klassen von dem Reiche ab, das sie ruinierte. Reich und Aristokratie zerstörten sich wirtschaftlich gegenseitig. »Täglich konnte man Leute sehen, die gestern noch zu den Reichsten gehört hatten und heute zum Bettelstab greifen mussten«, sagt Herodian. Die Rohheit der Soldaten nahm ständig zu. Nicht nur Habsucht trieb sie dazu, die Bewohner auszuplündern; die Verarmung der Provinzen und der schlechte Zustand der Transportmittel erschwerten die Versorgung der Armee. Die Soldaten waren gezwungen, sich das Nötigste zum Leben mit Gewalt zu verschaffen. Caracalla zwang allen Einwohnern Roms die römische Staatsbürgerschaft auf und wollte hiermit die Zahl der Steuerpflichtigen erhöhen. Ironie der Geschichte: Jedermann wurde Römer zu dem Zeitpunkt, da Rom nichts mehr galt. Die erpresserischen Methoden der römischen Verwaltung und die soldatischen Exzesse flößten allen Bewohnern des Reichs den Wunsch nach seinem Untergang ein. Der Aufenthalt von Soldaten hatte katastrophale Folgen. Die syrische Bevölkerung zog die Besetzung ihres Landes durch die Parther vor. »Die römische Regierung wurde … für ihre Untertanen von Tag zu Tag repressiver und unerträglicher … Die strenge Inquisition, die ihre Güter konfiszierte und sie selbst oft Folterungen aussetzte, brachte die Untertanen von Valentinianus dazu, die weniger komplizierte Tyrannei der Barbaren vorzuziehen … Sie wiesen voller Abscheu den einst von ihren Vorfahren so begehrten Titel des römischen Bürgers zurück.« [100]
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Der christliche Schriftsteller Salvian schrieb in seinem »De gubernatione Dei«: »Ein großer Teil Galliens und Spaniens gehört bereits den Goten, und alle Römer haben nur einen Wunsch: nicht mehr unter die Herrschaft Roms zu geraten. Die Armen und Notleidenden würden wohl gerne zu den Barbaren überlaufen, wenn sie ihre Familien verlassen könnten. Und wir Römer wundern uns, dass wir die Goten nicht besiegen können, wo wir doch lieber bei ihnen als bei uns leben.« Die Invasion der Barbaren war keineswegs ein »anomales Phänomen«, sie war vielmehr die normale Folge des ökonomischen und politischen Verfalls des Reichs. Auch ohne die Invasion wäre das römische Reich wahrscheinlich zerfallen. »In der inneren Entwicklung Kleinasiens war ebenso wie in Syrien eine der wichtigsten Erscheinungen die allmähliche Rückkehr zum Feudalwesen … Der … Aufstand der Isaurier in Kleinasien ist ebenfalls ein Symptom der gleichen Tendenz, die auf die Bildung … unabhängiger Staaten … hindrängte.« [101] Ebenso zeigen die Bemühungen, ein unabhängiges gallo-romanisches Reich zu schaffen, und die übrigen Abspaltungsversuche, wie wenig gefestigt die Struktur des römischen Reichs war. Die Barbaren haben dem schwankenden Gebäude des römischen Reichs lediglich den Gnadenstoß versetzt. Der hauptsächliche Grund für den Niedergang des römischen Reichs ist in dem Widerspruch zwischen dem steigenden Luxus der besitzenden Klassen, dem unaufhörlichen Anwachsen des Mehrwerts und der Unbeweglichkeit der Produktionsweise zu suchen. Während der ganzen römischen Epoche ist der Fortschritt im Bereich der Produktion sehr gering. Die Werkzeuge des Landwirts haben ihre primitiven Formen behalten. »Pflug, Spaten, Hacke, Kreuzhacke, Heugabel, Sense, Sichel, Gartenmesser blieben – soweit sie in einigen Exemplaren überlebt haben – von Generation zu Generation unverändert.« [102] Der wachsende Luxus der römischen Aristokratie und die Kosten der kaiserlichen Verwaltung wurden durch die maßlose Ausbeutung der Provinzen finanziert, was wirtschaftliche Zerrüttung, Entvölkerung und Auslaugung des Bodens zur Folge hatte. [103] Im Gegensatz zur kapitalistischen Welt, die am (relativen)
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Überfluss der Produktionsmittel zugrunde gehen wird, geht die römische Welt am Mangel derselben zugrunde. Die Reformen Diokletians und Konstantins stellen den Versuch dar, das römische Reich auf der Basis der Naturalwirtschaft zu festigen. »Der Staat hatte jetzt in dem flachen Land und in den Bauern sein Fundament zu sehen.« [104] Der Bauer war an sein Stückchen Erde gebunden. Jeder Grundbesitzer wurde verantwortlich für sein Gebiet und die Zahl der dort angesiedelten Pächter. Auf dieser Basis wurde die neue Steuer erhoben. »Die Steuerreform Diokletians und die Edikte späterer Kaiser machten den Pächter … zum Leibeigenen, der an seinen Herrn und an seinen Wohnsitz gefesselt war.« [105] Gleiches geschah mit anderen Schichten der Bevölkerung: Kleineigentümern, Handwerkern, Händlern. Alle wurden an Wohnsitz und an Beruf gebunden. Die Epoche Konstantins ist die Zeit der unbegrenzten Herrschaft der Großgrundbesitzer, die die unbestrittenen Herren weiter fürstlicher Domänen waren. Die Aristokratie verlässt mehr und mehr die verfallenden Städte und zieht sich in ihre prunkvollen Landhäuser zurück, wo sie umgeben von ihrem Anhang und Leibeigenen lebt. Die Reformen Diokletians und Konstantins stellen den Versuch dar, das römische Reich auf die Naturalwirtschaft umzustellen. Aber wir haben gesehen, dass diese Basis dem römischen Reich nicht mehr als Existenzgrundlage dienen konnte. Seine verschiedenen Teile konnten nur noch mit Tyrannei zusammengehalten werden. Wenn auch Konstantin aus wirtschaftlicher und sozialer Sicht eine neue geschichtliche Ära einleitet, die durch die Anerkennung des Christentums symbolisiert wird, so ist dies doch politisch gesehen der letzte Akt der Geschichte des römischen Reichs. 3. Judentum und Christentum Die Lage der Juden zur Zeit des Hellenismus hatte sich nach der römischen Eroberung nicht grundlegend geändert. Die Privilegien, die den Juden von den hellenistischen Gesetzen zuerkannt worden waren, wurden auch von den römischen Kaisern bestätigt. »Die Juden hatten … im römischen Reich eine bevorzugte Stellung inne.« [106] Allein in Alexandria wohnten nahezu eine Million Juden. Dies genügt, um die primär kommerzielle Rolle der Juden in der Diaspora zu charakterisieren. Diese 41
umfasste mehrere Jahrhunderte vor der Eroberung Jerusalems dreieinhalb Millionen Juden. In Palästina war kaum eine Million mehr verblieben. »Alexandria in Ägypten spielte unter den römischen Kaisern dieselbe Rolle, die Tyros zur Blütezeit des phönizischen Handels innehatte … Unter der Herrschaft der Ptolemäer setzte ein direkter Handel zwischen Ägypten und Indien ein: Von Theben zogen die Karawanen nach Meroë in Obernubien, dessen Märkte ebenso von den Karawanen Innerafrikas aufgesucht wurden … Eine römische Flotte fuhr zur Mündung des Nils, um Wertgegenstände aufzuladen und im ganzen Reich zu verteilen.« [107] Zwei von insgesamt fünf Stadtvierteln in Alexandria waren von Juden bewohnt. [108] Die Rolle der Juden in Alexandria war so bedeutend, dass ein Jude, Tiberius Julius Alexander, dort zum römischen Statthalter ernannt wurde. Diese alexandrinischen Juden waren kulturell völlig integriert und verstanden auch nur mehr griechisch. Für sie wurden die religiösen Bücher vom Hebräischen ins Griechische übersetzt. Gemeinschaften, vergleichbar der Alexandrias, waren in allen Handelszentren des Reichs verstreut. Die Juden verbreiteten sich über Italien, Gallien und Spanien. Jerusalem war noch immer der religiöse Mittelpunkt des zersprengten Judentums. »Die Diadochen [Nachfolger] Davids und Salomos bedeuteten für die Juden jener Zeit kaum mehr als heutzutage Jerusalem für sie bedeutet; die Nation fand wohl für ihre religiöse und geistige Einheit einen sichtbaren Anhalt in dem Königreich Jerusalem, aber sie selbst bestand keineswegs in der Untertanenschaft der Hasmonäer, sondern in der unermesslichen durch das ganze parthische und das ganze römische Reich zerstreuten Judenwelt. In Alexandria namentlich und ähnlich in Kyrene bildeten die Juden innerhalb dieser Städte eigene administrativ und selbst lokal abgegrenzte Gemeinwesen, den Judenvierteln unsrer Städte nicht ungleich, aber freier gestellt und von einem ›Volksherren‹ als oberstem Richter und Verwalter geleitet … Auch zu jener Zeit war das vorwiegende Geschäft der Juden der Handel …« [109] In den Weissagungen der makkabäischen Epoche findet man, dass »alle Meere von Juden voll sind«. »Sie sind in beinahe alle Städte der Welt gezogen, und es wäre schwierig, einen Ort auf der Erde zu finden, der 42
diesen Stamm nicht gekannt hätte oder nicht von ihm beherrscht worden wäre«, schreibt Strabon. »Dass die Mehrzahl derselben von Handel und Industrie lebte, ist für den Nationalökonomen wohl unzweifelhaft.« [110] Jerusalem war eine große und reiche Stadt mit 200 000 Einwohnern. Seine Bedeutung beruhte vor allem auf dem Tempel. Die Bewohner der Stadt und der Umgebung lebten in erster Linie von der Masse der Pilger, die in die Heilige Stadt strömten. »Für die Juden Palästinas ward ihr Gott das Mittel, aus dem sie ihre Existenz zogen.« [111] Nicht nur die Priester lebten vom Gottesdienst, sondern auch unzählige Krämer, Geldwechsler und Handwerker. Auch die Bauern und Fischer Galiläas fanden sicherlich in Jerusalem Absatz für ihre Produkte. Es ist eine falsche Annahme, dass Palästina ausschließlich von Juden bewohnt gewesen wäre. Im Norden gab es mehrere griechische Städte. Nahezu das ganze übrige Judäa ist »von gemischten Stämmen bewohnt, von ägyptischen, arabischen und phönizischen«, sagt Strabon. [112] Der jüdische Bekehrungseifer griff zu Anfang der christlichen Ära immer mehr um sich. »Teilnehmer an einer so weit verzweigten und aufblühenden Handelsgesellschaft zu sein, mochte nicht wenigen sehr verlockend erscheinen.« [113] Schon im Jahre 139 vor Christus wurden die Juden aus Rom verbannt, weil sie dort Proselyten angeworben hatten. In Antiochia war der größte Teil der jüdischen Gemeinschaften aus Konvertierten zusammengesetzt. Nur die wirtschaftliche und soziale Stellung der Juden in der Diaspora noch vor der Eroberung Jerusalems ermöglichte ihren religiösen und nationalen Zusammenhalt. Wenn auch der größte Teil der Juden im römischen Reich eine kommerzielle Rolle spielte, so ist daraus noch nicht zu entnehmen, dass alle Juden reiche Händler und Unternehmer waren. Im Gegenteil, die Mehrzahl der Juden waren sicherlich bescheidener Herkunft, von denen ein Teil seinen Unterhalt direkt oder indirekt aus dem Handel bezog. Sie waren Hausierer, Schiffslöscher, Kleinhandwerker etc. Diese Masse kleiner Leute wurde als erste von dem Niedergang des römischen Reichs getroffen und litt am meisten unter den unmäßigen Abgaben an Rom. In den Städten zu großen Massen zusammengedrängt, waren sie zu größerem Widerstand fähig als die auf dem Land verstreute bäuerliche 43
Bevölkerung. Sie waren sich auch ihrer Interessen viel bewusster. Deshalb bildeten die Juden in den Städten einen ständigen Herd von Unruhen und Erhebungen, die zugleich gegen Rom und gegen die reichen Klassen gerichtet waren. Es ist zur Tradition geworden, in der jüdischen Erhebung vom Jahre 70 nach Christus den großen »nationalen Aufstand« zu sehen. Dieser Aufstand war jedoch nicht nur gegen die unerträgliche Unterdrückung durch die römischen Statthalter gerichtet, sondern auch unverkennbar gegen die einheimischen reichen Klassen. Die Aristokraten erklärten sich alle gegen den Aufstand. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchten der König Agrippa und die anderen Mitglieder der reichen Klassen den Brand einzudämmen. Die Zeloten mussten zuerst diese »besseren Leute« beseitigen, bevor sie sich gegen die Römer wenden konnten. Der König Agrippa und Berenike befanden sich nach ihren gescheiterten »Versöhnungsversuchen« nicht auf der Seite der Aufständischen, sondern aufseiten der Römer. Die Mitglieder der herrschenden Klassen, die wie z. B. Flavius Josephus vorgegeben hatten, den Revolutionären zu helfen, beeilten sich, sie schändlich zu verraten. Andererseits war der Aufstand in Judäa nicht der einzige seiner Art. Mehrere Revolten brachen in griechischen Städten unter Vespasian aus. Eine intensive gesellschaftliche Agitation wurde von den Mitgliedern der philosophischen Schule der Zyniker geführt, die Vespasian aus den Städten vertreiben musste. Auch die Alexandriner zeigten sich Vespasian gegenüber feindselig. »Das Beispiel Bithyniens, die Unruhen in Alexandria unter Trajan zeigten, dass der Klassenkampf in Kleinasien und Ägypten … niemals nachließ …« [114] Aber die soziale Gärung beschränkte sich nicht auf die städtischen Massen, die freilich am meisten von der wachsenden Dekadenz des wirtschaftlichen Lebens betroffen waren. Die bäuerlichen Schichten gerieten ebenfalls in Bewegung. Die Lage der Bauern war schon im 1. und 2. Jahrhundert sehr schlecht. »Die Lage der Pächter [in Ägypten] verschlimmerte sich immer mehr. Die Verhältnisse, in denen die Massen der ägyptischen Bevölkerung lebten, lagen weit unter dem normalen Durchschnitt. Die Steuern waren drückend, die Art der Eintreibung brutal und unbillig …« [115] 44
Unter Marc Aurel verbreitete sich die allgemeine Unzufriedenheit in allen Provinzen. Spanien weigerte sich, Soldaten zu stellen. Gallien war voll von Deserteuren. Die Revolten griffen auf Spanien, Gallien und Afrika über. In einer Bittschrift der kleinen afrikanischen Siedler an den Imperator Commodus heißt es: »Wir werden uns dorthin flüchten, wo wir als freie Menschen leben können.« Unter Septimius Severus nahm das Bandentum verheerende Ausmaße an. Die Banden der »Heimatlosen« verheerten verschiedene Teile des Reichs. In einer Bittschrift, von der man vor Kurzem ein Exemplar fand, wenden sich die kleinen Farmer Lydiens in Kleinasien folgendermaßen an Septimius Severus: »Wenn die Steuerbeamten des Imperators in den Dörfern erscheinen, so bedeutet dies nichts Gutes. Sie quälen die Einwohner mit unerträglichen Requisitionsmethoden und mit Strafen …« Andere Bittschriften sprechen von der Brutalität und der Willkür eben dieser Beamten. Das Elend der städtischen und der bäuerlichen Massen war ein fruchtbarer Boden für die Ausbreitung des Christentums. Rostovtzeff sieht zurecht einen Zusammenhang zwischen den jüdischen Revolten und den Massenaufständen in Ägypten und in Kyrenaika unter Trajan und Hadrian. [116] Das Christentum breitet sich in den unteren Schichten der Großstädte der Diaspora aus. »Die erste kommunistische Messiasgemeinde bildete sich in Jerusalem … Aber bald entstanden Gemeinden in anderen Städten mit jüdischem Proletariat.« [117] »Die nächsten und ältesten Stationen des phönizischen Land- und Seehandels … – sie waren auch die ältesten Sitze des Christentums außerhalb Palästina.« [118] Ebenso wie den jüdischen Revolten Aufstände nichtjüdischer Schichten folgten, breitete sich auch die jüdisch-kommunistische Religion mit großer Geschwindigkeit unter den heidnischen Massen aus. Die christliche Urgemeinde ist nicht auf dem Boden des orthodoxen Judentums entstanden. Sie stand in enger Verbindung mit den ketzerischen Sekten. [119] Sie befand sich unter dem Einfluss einer kommunistisch-jüdischen Sekte, den Essenern, die – so Philon – »kein Privateigentum, keine Häuser, keine Sklaven, keine Ländereien und keine Herden besaßen«. Sie betrieben vielmehr Landwirtschaft. Handel war ihnen untersagt. Das Christentum in seinen Anfängen muss als Reaktion der arbeitenden 45
Massen des jüdischen Volks gegen die reichen Handelsklassen verstanden werden. Jesus gab, als er die Händler aus dem Tempel vertrieb, dem Hass der jüdischen Volksmassen gegen ihre Unterdrücker, ihrer Feindseligkeit gegen die überragende Rolle der reichen Kaufleute Ausdruck. Zu Anfang bildeten die Christen kleine Gemeinschaften ohne große Bedeutung. Aber im 2. Jahrhundert, einer Periode großen Elends im römischen Reich, wurden sie zu einer außerordentlich bedeutenden Macht. »Im 3. Jahrhundert erstarkte die christliche Kirche außerordentlich.« [120] »Im 3. Jahrhundert mehren sich die Zeugnisse für das Christentum« in Alexandria. [121] Der volkstümliche, gegen die Reichen gerichtete Charakter des Christentums ist unbestreitbar. »Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer. Selig seid ihr, die ihr hier hungert; denn ihr sollt satt werden.« … Aber dagegen: »Wehe euch Reichen! … weh euch, die ihr hier satt seid! denn euch wird hungern«, [122] heißt es im Evangelium des Lukas. Der Brief des Jakob geht ebenfalls in diese Richtung: »Wohlan nun, ihr Reichen, weinet und heulet über das Elend, das über euch kommen wird! Euer Reichtum ist verfault, eure Kleider sind von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber ist verrostet, und ihr Rost wird wider euch Zeugnis geben und wird euer Fleisch fressen wie Feuer … Siehe, der Arbeiter Lohn, die euer Land abgeerntet haben, der von euch vorenthalten ist, der schreit, und das Rufen der Schnitter ist gekommen vor die Ohren des Herren Zebaoth.« [123] Aber im Zuge des raschen Aufstiegs des Christentums versuchen die christlichen Führer seine gegen den Reichtum gewandte Spitze zu entschärfen. Das Evangelium des Matthäus zeigt die erfolgte Veränderung an. Es heißt hier: »Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr … Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn das Himmelreich ist ihr.« [124] Die Armen sind die geistlich Armen geworden. Das Reich Gottes ist nur noch das Reich des Himmels. Die Hungrigen haben nur noch Durst nach der Gerechtigkeit. Die revolutionäre Religion der Volksmassen verwandelt sich in eine Religion, die die Massen trösten soll. Kautsky vergleicht dieses Phänomen mit dem sozialdemokratischen Revisionismus. 46
Es wäre aber richtiger, diese Entwicklung mit dem heute aktuellen Phänomen des Faschismus zu vergleichen. Der Faschismus versucht, sich des »Sozialismus« zu bedienen, um die Herrschaft des Finanzkapitals wieder zu befestigen. Er zögert nicht vor den schamlosesten Verfälschungen, um die Massen zu täuschen und die Macht der Schwerindustriemagnaten als die »Herrschaft der Arbeit« darzustellen. Allerdings hatte die »faschistische Revolution« ebenfalls einen bestimmten wirtschaftlichen und sozialen Inhalt. Sie schließt endgültig die Epoche des Liberalismus ab und leitet die Epoche der unbegrenzten Herrschaft des Monopolkapitals ein, einer Antinomie zum Kapitalismus der freien Konkurrenz. Ebenso genügt es nicht festzustellen, dass das Christentum ein Instrument zum Betrug an den armen Klassen geworden ist. Es entwickelt sich zur Klassenideologie der Grundbesitzer, die unter Konstantin die absolute Macht an sich gerissen hatten. Der Triumph des Christentums fällt zusammen mit dem vollständigen Sieg der Naturalwirtschaft. Mit dem Christentum verbreitet sich auch das feudale Wirtschaftssystem in ganz Europa. Sicherlich ist es falsch, das Christentum für den Sturz des römischen Reichs verantwortlich zu machen. Aber es hat das ideologische Waffenkleid für die Klassen geliefert, die sich auf seinen Ruinen erhoben. »Der Klerus des Orients und des Abendlandes verurteilte sogar kleinste verzinsliche Darlehen.« [125] Er nahm auf diese Art und Weise die Interessen der neuen Besitzerklasse in die Hände, die ihren Reichtum einzig und allein von Grund und Boden bezog. Die wesentliche Ursache des Versagens des »proletarischen« und des Sieges des »faschistischen« Christentums muss in der rückständigen Produktionsweise dieser Epoche gesucht werden. Die wirtschaftlichen Umstände waren noch nicht reif für den Sieg des Kommunismus. Die Klassenkämpfe des 2. und 3. Jahrhunderts führten zu keinerlei Resultaten für die Volksmassen. [126] Dies bedeutet nicht, dass die ärmeren Klassen den Triumph des Katholizismus ohne Widerstand hingenommen hätten. Der Überfluss an Häresien ist der beste Beweis für das Gegenteil. Und wenn die offizielle Kirche das Ketzertum mit solcher Wut verfolgte, so geschah dies wenigstens zum Teil deshalb, weil jenes die Interessen der armen Klassen vertrat. Ein Autor des 4. Jahrhunderts schreibt über Konstantinopel: »Diese Stadt ist 47
voll von Sklaven und Handwerkern, die alle gute Theologen sind und in den Geschäften und auf den Straßen predigen. Bittet einen Mann, euch ein Geldstück zu wechseln, und er wird euch erklären, wodurch sich der Sohn vom Vater unterscheidet. Fragt einen anderen nach dem Brotpreis, und er wird euch antworten, der Sohn sei dem Vater untertan. Fragt, ob das Bad fertig ist, und man wird euch antworten, dass der Sohn aus dem Nichts geschaffen wurde.« Wie wir gesehen haben, war das Christentum zunächst die Ideologie der ärmeren jüdischen Schichten. Die ersten christlichen Gemeinden entstanden in der Nähe von Synagogen. Die jüdischen Christen hatten ihr eigenes Evangelium, Evangelium der Hebräer genannt. Aber sie gingen wahrscheinlich sehr schnell in den großen christlichen Schmelztiegel ein. Sie integrierten sich in die große Masse der Bekehrten. Seit dem 2. Jahrhundert, der Epoche der breiten Ausdehnung des Christentums, hört man nichts mehr von der jüdischen Gemeinschaft in Alexandria. Wahrscheinlich ist der Großteil der alexandrinischen Juden in den Schoß der Kirche eingegangen. [127] Die alexandrinische Kirche hatte eine Zeit lang die Hegemonie innerhalb der neuen Religion inne. Auf dem Konzil von Nicäa gibt sie den Ton für alle anderen christlichen Gemeinden an. Aber wenn auch die bäuerlichen Schichten des Judentums die Lehre Jesu mit Enthusiasmus aufnahmen, galt dies nicht in gleicher Weise für die herrschenden kaufmännischen Schichten. Im Gegenteil, diese verfolgten die Urform der kommunistischen Religion aufs Grausamste. Später, als das Christentum die Religion der Großgrundbesitzer geworden war und sich seine ursprünglich anti-plutokratische Spitze nur noch gegen Handel und Wucher richtete, ist es klar, dass die Opposition der reichen Juden auch jetzt nichts von ihrer Schärfe verlor. Ganz im Gegenteil, das Judentum gelangte immer mehr zum Bewusstsein seiner besonderen Rolle. Trotz des Verfalls des römischen Reichs war die Bedeutung des Handels noch keineswegs zu Ende. Die herrschenden Klassen verlangten immer noch nach orientalischen Luxusprodukten. Die Juden, die schon früher eine wichtige Rolle im Handel gespielt hatten, wurden jetzt immer mehr die
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einzigen Vermittler zwischen Orient und Okzident. Jude wird mehr und mehr gleichbedeutend mit Kaufmann. Der Sieg der Naturalwirtschaft und des Christentums ermöglichte also die Vollendung des Selektionsprozesses, der die Juden in eine Kaufmannsklasse verwandelte. Sicherlich existieren gegen Ende des römischen Reichs noch jüdische Gruppen, deren Hauptbeschäftigung die Landwirtschaft oder die Viehzucht war: in Arabien, Babylonien und Nordafrika. Die Juden waren keineswegs ganz aus Palästina verschwunden. Sie wurden nicht, wie Historiker und idealistische Ideologen fälschlicherweise annehmen, durch die Römer in alle Welt verstreut. Wir haben gesehen, dass die Diaspora andere Ursachen hatte. Im Jahre 484 nach Christus hatten die Eroberer sehr große Schwierigkeiten, einen gewaltsamen Aufstand der samaritischen Bauern zu unterdrücken. Zu Beginn des 7. Jahrhunderts überfielen die Juden Tyros und massakrierten seine Bevölkerung. [128] 614 halfen jüdische Bataillone aus Tiberias, Nazareth und Galiläa dem persischen König, Jerusalem zu erobern und töteten dabei eine Vielzahl von Einwohnern. Noch zur Zeit des muselmanischen Einfalls bildeten die Juden, nach Caro, den Grundstock der palästinensischen Bevölkerung. [129] Die islamische Eroberung hatte hier die gleichen Folgen wie in allen anderen Ländern. Die unterworfene Bevölkerung passte sich allmählich den Eroberern an. Ganz wie Ägypten seinen besonderen Charakter unter der mohammedanischen Herrschaft verlor, ging auch Palästina endgültig seiner jüdischen Eigenart verlustig. Heute erinnern nur noch einige Riten der in Palästina lebenden arabischen Bauern an ihren jüdischen Ursprung. Auch in anderen Ländern waren Gruppen von jüdischen Landwirten und Priestern einem starken Anpassungsdruck ausgesetzt und gaben ihm früher oder später nach. Genau hier muss man ansetzen, um die jüdische Entwicklung zu verstehen. Nur jüdische Gemeinschaften mit rein kommerziellem Charakter, wie sie in Italien, Gallien und Germanien etc. zahlreich waren, erwiesen sich als fähig, allen Anpassungsversuchungen zu widerstehen. Was bleibt von den jüdischen Hirtenstämmen in Arabien, von den jüdischen Landwirten in Nordafrika? Nichts außer Legenden. Im Gegensatz 49
dazu blühen und gedeihen die jüdischen Handelsniederlassungen in Gallien, Spanien und Germanien. Man kann also nur sagen, dass die Juden sich als Juden nicht trotz ihrer Zerstreuung, sondern gerade wegen derselben erhalten haben. Wenn die Diaspora nicht schon vor dem Untergang Jerusalems existiert hätte, wenn die Juden in Palästina geblieben wären, gäbe es keinen Anlass zu glauben, dass ihr Schicksal anders verlaufen wäre, als das der übrigen antiken Nationen. Die Juden hätten sich, wie die Römer, Griechen und Ägypter, mit den Völkern ihrer Eroberer vermischt und deren Religion und Sitten angenommen. Selbst wenn die jetzigen Bewohner Palästinas weiterhin den Namen »Juden« getragen hätten, hätten sie doch ebenso wenig gemeinsam gehabt mit den alten Hebräern, wie die Einwohner Ägyptens, Syriens und Griechenlands mit ihren antiken Vorfahren. Alle Völker des römischen Reichs wurden in seinen Untergang hineingezogen. Nur die Juden erhielten sich, weil sie in die Welt der Barbaren, die Rom folgte, den Handel, wie er die Antike gekennzeichnet hatte, weitertrugen. Nachdem die mediterrane Welt zerstückelt war, fuhren die Juden fort, ihre einzelnen Teile zu verbinden. 4. Die Juden nach dem Untergang des römischen Reichs Die »Erhaltung des Judentums« ist also der Transformation der jüdischen Nation in eine Klasse zu verdanken. Zur Zeit des Abstiegs des römischen Reichs gewann die kaufmännische Rolle der Juden ständig an Bedeutung. »Hatten sie schon vor dem Sturz des Römerreichs Anteil am Welthandel, so gelangten sie zu noch größerer Blüte nach seinem Ende.« [130] Wahrscheinlich waren die syrischen Händler, von denen man zu jener Zeit sprach, ebenfalls Juden. Diese Verwechslung kam in der Antike häufig vor. Ovid spricht z. B. »von dem Tag, an dem keine Geschäfte gemacht wurden und der von den Syrern in Palästina jede Woche gefeiert wurde.« [131] Im 4. Jahrhundert gehörten die Juden den besseren und wohlhabenden Schichten der Bevölkerung an. Chrysostomos sagt von den Juden, dass sie viel Geld besäßen und dass die Patriarchen ungeheure Schätze
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ansammelten. Er spricht von den Reichtümern der Juden wie von einer seiner Zeit wohlbekannten Tatsache. [132] Während langer Jahrhunderte sind die Juden die einzigen Vermittler zwischen Orient und Okzident. Der Mittelpunkt des jüdischen Lebens verlagert sich mehr und mehr nach Spanien und Frankreich. Der arabische Postmeister Ibn Chordadhbeh (9. Jahrhundert) erwähnt in seinem Buch die Wege der radamitischen Juden, die »persisch, römisch, arabisch, die fränkischen Sprachen, spanisch und slawisch sprechen. Sie pendeln zwischen Orient und Okzident, zu Land und zur See. Sie bringen aus dem Westen Eunuchen, Sklavinnen, Knaben, Seide, Pelzwaren und Degen mit. Sie beladen ihre Schiffe in den Frankenländern und nehmen Kurs über das westliche Meer [Mittelmeer] nach Farama [Pelusion in Ägypten] … Sie begeben sich nach Sind [Westpakistan], nach Indien und China. Auf dem Rückweg beladen sie ihre Schiffe mit Moschus, Aloe, Kampfer, Zimt und anderen Produkten aus morgenländischen Gefilden. Einige segeln nach Konstantinopel, andere fahren ins Land der Franken.« Sicherlich sind die Verse Theodulphs über den Reichtum des Orients auf die Einfuhren der Juden zurückzuführen. Spanien wird noch einmal in einem Text von Ludwig dem Frommen wegen des Juden Abraham von Saragossa erwähnt. Die Juden übernahmen also die Versorgung mit Gewürzen und kostbaren Stoffen. Aber man ersieht aus den Texten Agobards, dass sie auch Wein verkauften. An den Ufern der Donau betrieben sie Salzhandel. Im 10. Jahrhundert besaßen Juden Salzbergwerke in der Nähe von Nürnberg. Sie betrieben auch Waffenhandel. Außerdem beuteten sie Kirchenschätze aus. Aber ihre große Spezialität war der Sklavenhandel. Einige Sklaven wurden im Lande selbst verkauft. Aber die meisten wurden nach Spanien exportiert. »›Jude‹ und ›Händler‹ werden zu Synonymen.« [133] So heißt es in einem Edikt des Königs Ludwig: »Die berechtigten Kaufleute, d. h. Juden und andere Kaufleute, woher sie auch kommen mögen, aus diesem Lande oder anderen Ländern, sollen eine angemessene Steuer entrichten, sowohl für Sklaven, so für andere Waren, wie es zu den Zeiten der früheren Könige war.« [134]
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Ohne Zweifel waren zur Zeit der Karolinger die Juden die Hauptvermittler zwischen Morgenland und Abendland. Ihre schon gegen Ende des römischen Reichs dominierende Stellung im Handel hatte sie gut auf diese Rolle vorbereitet. Man behandelte sie wie römische Bürger. »Der Dichter Rutilius beklagt sich, dass die besiegte Nation die Sieger unterdrücke …« [135] Mitte des 4. Jahrhunderts hatten sich jüdische Händler in Tongern und Tournay (Belgien) niedergelassen. Die Bischöfe unterhielten beste Beziehungen zu ihnen und ermutigten besonders ihren Handel. Sidonius Apollinaris bat den Bischof von Tournay (im Jahre 470), sie wohlwollend aufzunehmen, da »diese Leute anständige Geschäfte zu machen pflegten«. [136]
Im 6. Jahrhundert spricht Gregor von Tours von jüdischen Niederlassungen in Clermont-Ferrand und in Orléans. Lyon besaß ebenfalls zu dieser Zeit zahlreiche jüdische Kaufleute. [137] Agobard, Erzbischof von Lyon, beklagt sich in seinem Brief »De insolentia Judaeorum«, dass die Juden christliche Sklaven nach Spanien verkauften. Der Mönch Aronius erwähnt im 8. Jahrhundert einen Juden, der im Frankenland wohne und wertvolle Sachen aus Palästina einführe. [138] Es ist also offensichtlich, dass die Juden in Frankreich »während der ersten Jahrhunderte des Mittelalters … hauptsächlich Händler waren«. [139] In Flandern, wo die Juden seit den Normanneneinfällen bis zu dem ersten Kreuzzug wohnten, befand sich der Handel in ihren Händen. [140] Gegen Ende des 9. Jahrhunderts gab es in Huy eine große jüdische Gemeinschaft. Diese Juden nahmen eine wichtige Stellung ein und betrieben einen blühenden Handel. Im Jahre 1040 hielten sie in Lüttich den Handel in ihren Händen. [141] In Spanien »wurde der ganze Außenhandel von ihnen betrieben. Dieser Handel erstreckte sich auf alle Waren des Landes: Weine, Öle und Bodenschätze. Die Stoffe und Gewürze erhielten sie aus dem Osten. Ebenso war es in Gallien.« [142] Die Juden aus Polen und Kleinrussland kamen ebenfalls nach Westeuropa, um dort Sklaven, Pelze und Salz auf den Markt zu bringen und alle Arten von Stoffen einzukaufen. Man liest in einem hebräischen Text des 12. Jahrhunderts, dass die Juden auf den rheinischen Märkten 52
große Mengen flandrischer Stoffe kauften, um sie in Russland gegen Pelze einzutauschen. Der jüdische Handel zwischen Mainz und Kiew, »dem wichtigsten Handelsort der südlichen Tiefebene«, [143] war sehr intensiv. [144]
Sicherlich befand sich zu dieser Zeit eine sehr wichtige jüdische Handelsniederlassung in Kiew; denn man liest in einer Chronik von 1113, dass »die Kiewer Bürger, um die Ankunft des Fürsten Wladimir Monomachos zu beschleunigen, ihn darauf hinwiesen, dass beim weiteren Zögern zu befürchten sei, dass der Pöbel außer den Juden auch die Bojaren ausplündern würde«. [145] Der arabische Reisende Ibrahim at-Tartûschi legt ebenfalls Zeugnis ab von der beachtlichen Ausdehnung des jüdischen Handels zwischen Europa und dem Orient. Er schreibt 973 bei einem Besuch zu Mainz: »Es ist wunderbar, an einem so entfernten Punkt des Abendlandes solche Mengen von Gewürzen aus dem entferntesten Orient zu finden.« In der unter dem Namen von Gorionides erschienenen Geschichte, in dem Werk des arabisch-persischen Geografen Quasvini und in der Reiseerzählung des spanischen Juden Ibrāhīm ibn Ya’qūb aus dem 10. Jahrhundert werden der Getreidepreis in Krakau und Prag und einige den Juden gehörende Salzbergwerke erwähnt. [146] Nach Gumplowicz waren die Juden die einzigen Vermittler zwischen der baltischen Küste und Asien. Ein altes Dokument charakterisiert die Chasaren, einen mongolischen Volksstamm am Kaspischen Meer, der sich zum Judentum bekehrte, folgendermaßen: »Sie haben keine Sklaven als Landarbeiter, weil sie alles gegen Geld kaufen.« [147] Itil, die Hauptstadt der Chasaren, war ein großes Handelszentrum, von dem aus der Warenverkehr bis nach Mainz ging. Der Konvertit Hermann erzählt in seiner Autobiografie, dass er im Alter von 20 Jahren, etwa 1127, als er noch Jude war, regelmäßig zwischen Köln und Mainz verkehrte, um Handelsgeschäfte zu betreiben; denn »alle Juden treiben Handel (siquidem omnes judaei negotiationi inserviunt)«. Ebenso charakteristisch für diese Zeit ist der Satz von Elieser ben Nathan: »Der Handel ist unser hauptsächlicher Broterwerb.« [148]
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Die Juden bilden »die einzige Klasse, die ihren Lebensunterhalt dem Handel verdankt. Zugleich sind sie durch ihren Kontakt untereinander das einzige Bindeglied zwischen Orient und Okzident.« [149] Die Lage der Juden in der ersten Hälfte des Mittelalters ist also ausgesprochen günstig. Die Juden werden als Teil der besseren Gesellschaft angesehen, und ihre rechtliche Lage unterscheidet sich kaum von der des Adels. Das Edikt von Pistres von 864 unter Karl dem Kahlen bestraft den Verkauf von unreinem Gold und Silber mit Auspeitschung, wenn es sich um Leibeigene oder Fronpflichtige handelt, mit einer Geldstrafe, wenn es sich um Juden oder freie Menschen handelt. [150] »Es haben nämlich die Juden damals ein großes Bedürfnis der Volkswirtschaft befriedigt, welches lange Zeit kein anderer befriedigen konnte: das Bedürfnis eines gewerbsmäßigen Handelsbetriebes.« [151] Die bürgerlichen Historiker sehen in der Regel keinen großen Unterschied zwischen dem Handel und dem antiken oder mittelalterlichen Wucher und dem Kapitalismus unserer Zeit. Jedoch besteht zwischen dem Kapitalismus und dem mittelalterlichen Handel mitsamt dem mit ihm verbundenen Wucherwesen ein mindestens ebenso großer Unterschied wie zwischen dem kapitalistischen Großeigentümer, der für den Markt arbeitet, und dem feudalen Lehnsherrn, zwischen dem modernen Proletariat und dem Leibeigenen oder Sklaven. Die herrschende Produktionsweise war zur Zeit des wirtschaftlichen Wohlstandes der Juden eine feudalistische. Es wurden im Wesentlichen Gebrauchswerte, keine Tauschwerte produziert. Jedes Gebiet deckte seinen Eigenbedarf selbst. Nur einige Luxusprodukte wie Gewürze und wertvolle Stoffe usw. waren Gegenstände des Austauschs. Die Feudalherren gaben einen Teil der Rohprodukte ihrer Ländereien für diese seltenen Waren aus dem Orient. Die feudale Gesellschaftsordnung, deren Grundlage die Produktion von Gebrauchswerten ist, und der primitive »Kapitalismus«, der auf Handel und Wucher basiert, schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern ergänzen sich. »Selbstständige und vorwiegende Entwicklung des Kapitals als Kaufmannskapital ist gleichbedeutend mit Nichtunterwerfung der Produktion unter das Kapital … Die selbstständige Entwicklung des
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Kaufmannskapitals steht also im umgekehrten Verhältnis zur allgemeinen ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft.« [152] »Solange das Handelskapital den Produktenaustausch unentwickelter Gemeinwesen vermittelt, erscheint der kommerzielle Profit nicht nur als Übervorteilung und Prellerei, sondern entspringt großenteils aus ihr. Abgesehen davon, dass es den Unterschied in den Produktionspreisen verschiedener Länder ausbeutet (und in dieser Beziehung wirkt es hin auf die Ausgleichung und Festsetzung der Warenwerte), bringen es jene Produktionsweisen mit sich, dass das Kaufmannskapital sich einen überwiegenden Teil des Mehrprodukts aneignet, teils als Zwischenschieber zwischen Gemeinwesen, deren Produktion noch wesentlich auf den Gebrauchswert gerichtet ist und für … [die] der Verkauf der Produkte zu ihrem Wert von untergeordneter Wichtigkeit ist; teils weil in jenen früheren Produktionsweisen die Hauptbesitzer des Mehrprodukts, mit denen der Kaufmann handelt, der Sklavenhalter, der feudale Grundherr, der Staat (z. B. der orientalische Despot) den genießenden Reichtum vorstellen …« [153] Während das moderne Handels- oder Bankkapital ökonomisch gesehen nur ein Anhang des Industriekapitals ist und nichts anderes tut, als sich einen Teil des im kapitalistischen Produktionsprozess geschaffenen Mehrwerts anzueignen, realisiert das Kaufmanns- und Wucherkapital seine Gewinne, indem es die Differenz der Produktionskosten der verschiedenen Länder ausbeutet und indem es sich einen Teil des Mehrwerts aneignet, den die Feudalherren aus den Leibeigenen herausziehen. Der jüdische Kaufmann investierte sein Geld nicht in der Produktion, wie es einige Jahrhunderte später der Händler der großen mittelalterlichen Städte tun wird. Er kauft keine Rohstoffe und zahlt nichts an Tuchhersteller. Sein Handelskapital vermittelt nur zwischen Produktionen, auf die er keinen Einfluss hat und deren Voraussetzungen er nicht schafft. [154]
Mit dem Handel verbrüdert sich das Zinsgeschäft, der Wucher. Wenn der in den Händen der Feudalherren akkumulierte Reichtum Luxus und Handel voraussetzt, wobei letzterer jenen erst ermöglicht, so wird der Luxus seinerseits Kennzeichen für vorhandenen Reichtum. Zu Anfang erlaubt das 55
akkumulierte Mehrprodukt den Feudalherren den Erwerb von Gewürzen, orientalischen Geweben und Seidenstoffen. Später werden alle diese Produkte zu Statussymbolen der herrschenden Klasse. Der Rock macht nun den Mönch, und wenn das normale Einkommen nicht einen der besitzenden Klasse entsprechenden Lebensstandard erlaubt, geht man zum Geldverleiher. Zum Händler gesellt sich der Wucherer. Beide fallen zu dieser Zeit meist in einer Person zusammen. Nur der Kaufmann verfügt über genügend Taler für den verschwendungssüchtigen Adel. Aber nicht nur der Lehnsherr kommt zum Geldverleiher. Wenn der König unerwartet eine Armee aufstellen muss und die normalen Steuereinnahmen dafür nicht ausreichen, muss er sich an den Wucherer wenden. Wenn der Bauer infolge einer schlechten Ernte, einer Epidemie oder der übergroßen Last von Gebühren, Steuern und Grunddienstbarkeit nicht mehr in der Lage ist, seinen Verpflichtungen nachzukommen, wenn er sein Samengut verbraucht hat, wenn er seine abgenützten Arbeitsinstrumente nicht mehr erneuern kann, muss er sich das nötige Geld beim Wucherer holen. Der Tresor des Wucherers ist in einer Gesellschaft mit Naturalwirtschaft unentbehrlich; er bildet die Reserve der Gesellschaft für unvorhergesehene Ereignisse. »Das zinstragende Kapital, oder wie wir es in seiner altertümlichen Form bezeichnen können, das Wucherkapital, gehört mit seinem Zwillingsbruder, dem kaufmännischen Kapital, zu den antediluvianischen Formen des Kapitals, die der kapitalistischen Produktionsweise lange vorhergehen und sich in den verschiedensten ökonomischen Gesellschaftsformen vorfinden.« [155] Oft zogen die Könige und die Fürsten Juden zur Erhebung von Steuern und Gebühren heran. Und so erscheinen überall Juden in der Rolle von Gebühren- und Steuereintreibern. [156] Die königlichen Finanzminister im Hochmittelalter waren oft Juden. In Spanien waren bis zum Ende des 14. Jahrhunderts die großen jüdischen Bankiers zugleich Steuereinzieher. In Polen »vertrauten die Könige den Juden wichtige Funktionen innerhalb der Finanzverwaltung ihrer Domänen an … Unter Kasimir dem Großen und Władysław II. Jagiełło vertraute man den Juden nicht nur die öffentlichen Steuern an, sondern auch so wichtige Einkommensquellen wie das Münzgeld und die königlichen Salzbergwerke. So weiß man z. B., dass der 56
›Rothschild‹ von Krakau, Lewko, der Bankier von drei polnischen Königen in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, die berühmten Salzbergwerke von Wieliczka und von Bochia gepachtet hatte und außerdem das Münzhaus von Krakau verwaltete.« [157] Solange die Naturalwirtschaft dauerte, waren die Juden unentbehrlich. Erst ihr Verfall gibt das Signal für Judenverfolgungen und brachte die Juden für lange Zeit in eine gefährliche Lage. Anmerkungen: [38] Wahrscheinlich ist es der kommerzielle Wohlstand, der Palästina in den Augen der Israeliten als das Land, in dem »Milch und Honig fließen«, erscheinen lässt. Es ist auch anzunehmen, dass die israelitische Invasion dem palästinensischen Handel einen schweren Schlag versetzt hat. Aber mit der Zeit haben die Israeliten zu ihren Gunsten die einträglichen Beziehungen mit den Ländern des Nils und des Euphrats wiederaufgenommen. [39] Es ist also von Anfang an die besondere geografische und historische Lage, die den Handelscharakter der Phönizier und Juden bestimmt. Offensichtlich konnte nur die benachbarte Lage der Zivilisationszentren mit einer relativ entwickelten Industrie und Länder, die bereits teilweise für den Austausch produzierten, die Entwicklung von spezifischen Handelsvölkern wie den Phöniziern und Juden ermöglichen. Neben den ersten großen Zivilisationszentren entstanden die ersten großen Handelsvölker. [40] Franz Karl Movers, Die Phönizier, Bd. 2, Teil 3, Berlin 1856, S. 18. [41] »Schon ehe die Israeliten nach Kanaan kamen, stand der Handel dieses Landes auf einer hohen Stufe. In den Tell-el-Amarna-Briefen (aus dem 15. Jahrhundert vor Chr.) ist von Karawanen die Rede, die unter Bedeckung durch das Land zogen.« Franz Buhl, Die sozialen Verhältnisse der Israeliten, Berlin 1899, S. 76. [42] Movers, ebd., S. 20. [43] Movers, ebd., S. 18. [44] »…und die unverwüstliche Handelslust und der Unternehmungssinn erhielt seinen Bewohnern den Namen eines Handelsvolks, der keinem anderen Volke des Altertums beigelegt werden konnte, bis er im Mittelalter mit allen seinen schlimmen Nebenbegriffen an ihre ehemaligen Nachbarn und Handelserben, die Juden in der Diaspora, überging.« Movers, ebd., S. 26. [45] Jules Toutain, L’économie antique, Paris 1927, S. 24–25. [46] Diese »griechischen Seeleute« scheinen vor allem Fremde gewesen zu sein, Fremde, die sich in Griechenland niedergelassen hatten. Die kaufmännische Rolle der Phönizier war an die Entfaltung der ägyptischen und assyrischen Zivilisationen gebunden; der Aufschwung der hellenistischen Zivilisation hatte den kommerziellen Wohlstand der Fremdländer zufolge.
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[47] Toutain, ebd. S. 40. [48] Toutain, ebd. S. 68. [49] Johannes Hasebroek, Staat und Handel im alten Griechenland, Tübingen 1928, S. 112. [50] Hasebroek, ebd., S. 78. Die Produktion von Gebrauchswerten bleibt die Grundlage der Wirtschaft. Alles, was man sagen kann, ist, dass die Produktion von Tauschwerten in Griechenland die für die antike Produktionsweise größtmögliche Ausdehnung erlangt hat. [51] Pierre Roussel, La Grêce et l’Orient, Paris 1928, S. 301. So ebenfalls Michel Clerc, Les Métêques athéniens, Paris 1838, S. 396: »Der Seehandel lag in der Tat zum großen Teil in den Händen von Fremden.« Und Henri Francotte, L’industrie dans la Grêce ancienne, Bd. I, Brüssel 1900, S. 192: »Der Seehandel in Athen … scheint hauptsächlich in ausländischer Hand zu liegen.« [52] Hasebroek, ebd., S. 28. Zu seiner Blütezeit zählte Athen 400 000 Sklaven, 20 000 Bürger und 30 000 Fremde. [53] »Von einer Kommerzialisierung der griechischen Welt dieser Jahrhunderte kann so wenig die Rede sein wie von einer Industrialisierung. Vielmehr ist der agrarische Charakter der Wirtschaft … noch im … 4. Jahrhundert ausschlaggebend …« Hasebroek, ebd., S. 101. [54] »Jede Art von Gleichsetzung der Häfen des alten Griechenland mit den modernen Hafenstädten wie Genua und Marseille kann nur Skepsis oder ein Lächeln hervorrufen. Dennoch war dieser Austausch, diese Transporte, dieses Hin und Her von Waren neu im Mittelmeer. Er unterschied sich durch seine Intensität, durch seine Natur weitgehend vom phönizischen Handel, der eher ein simpler Transport über das Meer denn ein wirklicher Handel war.« Toutain, ebd., S. 84. [55] Charles Autran, Phéniciens, Paris 1920, S. 51. [56] Lujo Brentano, Das Wirtschaftsleben der antiken Welt, Jena 1929, S. 80. [57] Antonin Causse, Les dispersés d’Israël, Paris 1929, S. 7. [58] Ebd. S. 54. [59] Esra, Kap. I, 4, 6. [60] Georg Herlitz, Bruno Kirschner (Hrsg.), Jüdisches Lexikon, Bd. 2, Berlin 1928, Stichwort »Elephantine«, Spalte 345. [61] Causse, ebd., S. 79. [62] Zweites Buch der Makkabäer, Kap. III, 6. [63] Eduard Meyer, Blüte und Niedergang des Hellenismus in Asien, Berlin 1925, S. 20. [64] Roussel, La Grêce et l’Orient, ebd., S. 486. [65] Meyer, ebd., S. 22.
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[66] Roussel, ebd., S. 480–481. [67] Brentano, Das Wirtschaftsleben der antiken Welt, ebd., S. 78. [68] Meyer, ebd., S. 61. [69] André Piganiol, La Conquête romaine, Paris 1967, S. 283. [70] Diese Klassenkämpfe sind auf die freie Bevölkerung der griechischen Städte beschränkt. »Eine mehr oder minder große Gleichheit in der Verteilung der Güter erschien nötig, um diese politische Demokratie aufrechtzuerhalten. Hier liegt der Grund für die blutigen Kriege, zu denen die hellenische Volksherrschaft schließlich führt. Aber niemals beteiligen sich Sklaven, Halbfreie und Fremde an diesen Forderungen …«. Claudio Jannet, Les grandes époques de l’histoire économique jusqu‘à la fin du XVIe siècle, Paris/Lyon o. J., S. 8. [71] »Mit dem Hellenismus verlagerte sich das ökonomische Zentrum der Welt nach dem Osten.« Karl Julius Beloch, Geschichte Griechenlands (Hellas und Rom), o. O. u. J., S. 232. [72] Vgl.: Numa Denis Fustel de Coulanges, La cité antique, Paris 1864. [73] Maurice Holleaux, Rome, la Grêce et les monarchies hellénistiques au IIIe siêcle avant J.C., Paris 1921, S. 231. [74] Piganiol, ebd., S. 323. [75] Heinrich Cunow, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, Bd. II, Berlin 1927, S. 61. [76] Henri Pirenne, Histoire de l’Europe, Brüssel 1936, S. 14. »Die Produkte flossen ins Zentrum, ohne dass ein entsprechender Gegenstrom entstand.« Gustave Legaret, Histoire du développement du commerce, Paris 1927, S. 13. [77] Tenney Frank, An Economic History of Rome to the End of the Republic, Baltimore 1920, S. 108. [78] Ebd., S. 117–118. [79] Ebd. S. 261. [80] Strabon, Erdbeschreibung, Buch XIV, Kap. 5, Stuttgart 1859, S. 136. [81] Frank, ebd., S. 104; zitiert von: Toutain, L’économie antique, ebd., S. 300. Toutain teilt diese Meinung nicht. [82] Jean Hatzfeld, Les trafiquants italiens dans l’Orient hellénique, Paris 1919, S. 190–191. [83] »… zur Zeit des Augustus bildete das Verschwinden der Bauern das Tagesgespräch der führenden Kreise …« Michael Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich, Bd. I, Leipzig 1931, S. 56. [84] »Die Latifundien [Großgrundbesitz] haben Italien zugrunde gerichtet.« [85] Karl Kautsky, Der Ursprung des Christentums, Stuttgart 1910, S. 440. [86] Mommsen, Römische Geschichte, ebd., S. 518. [87] Ebd. S. 542.
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[88] Giuseppe Salvioli, Der Kapitalismus im Altertum, Stuttgart 1912. [89] Mommsen, ebd., S. 544. [90] Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich, ebd., Bd. I, S. 165. [91] Rostovtzeff, ebd., Bd. II, S. 180. [92] Wilhelm Schubart, Ägypten von Alexander dem Großen bis auf Mohammed, Berlin 1922, S. 67. [93] Rostovtzeff, ebd., Bd. II, S. 135. [94] Eugène Albertini, L’Empire romain, Paris 1939, S. 306. [95] Ernest Lavisse und Alfred Rambaud, Histoire générale du IVe siêcle à nos jours, Bd. I, Paris 1894, S. 16. [96] Schubart, ebd., S. 29. Sehr bezeichnend ist auch das Verschwinden der Klasse der Ritter, der »Kapitalisten-Klasse« Roms. [97] »Die Organisation der Güter, wie sie vom 9. Jahrhundert an erscheint, ist also das Ergebnis äußerer Umstände; von einer organischen Veränderung ist nichts zu bemerken. Man könnte ebenso gut sagen, dass sie ein anomales Phänomen ist.« »Das Frankenreich wird die Grundlagen für das Europa des Mittelalters legen. Aber die Mission, die es erfüllt hat, hatte die Umkehrung der traditionellen Weltordnung zur wesentlichen Voraussetzung. Nichts hätte es dort erreicht, wenn die historische Entwicklung nicht durch die muselmanische Invasion von ihrem Kurs abgebracht und sozusagen aus dem Gleichgewicht gebracht wäre. Ohne den Islam hätte das Frankenreich wahrscheinlich niemals existiert und Karl der Große ist ohne Mohammed nicht denkbar.« Henri Pirenne, Les villes du Moyen Age, Brüssel 1927, S. 46, 27–28. Für Pirenne resultiert die feudale Wirtschaft also aus der Zerstörung der mediterranen Einheit durch den muselmanischen Einfall. [98] Rostovtzeff, ebd., Bd. I, S. 125. [99] Salvioli, Der Kapitalismus im Altertum, ebd., S. 245–246. [100] Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, London 1914, Bd. III, S. 506–507. [101] Rostovtzeff, ebd., Bd. II, S. 184. [102] Toutain, L’économie antique, ebd., S. 363. [103] Einige Autoren sehen in der Entvölkerung und in der Auslaugung des Bodens die entscheidenden Gründe für den Verfall des Reiches. [104] Rostovtzeff, ebd., Bd. II, S. 213. [105] Ebd., S. 233. [106] Jacques Zeiller, L’Empire romain et l’Eglise, Paris 1928, S. 23. [107] Georg Bernhard Depping, Histoire du commerce entre le Levant et l’Europe, Bd. I, Paris 1830, S. 3–4, 6.
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[108] Schubart, Ägypten von Alexander dem Großen bis auf Mohammed, ebd., S. 8. [109] Mommsen, Römische Geschichte, ebd., S. 549–550. [110] Wilhelm Roscher, »Die Juden im Mittelalter«, in: Ansichten der Volkswirtschaft aus dem geschichtlichen Standpunkte, Bd. 2, Leipzig/Heidelberg 1878, S. 329. [111] Kautsky, Der Ursprung des Christentums, ebd., S. 282. [112] Strabon, Erdbeschreibung, Buch XVI, Kap. 2, Stuttgart 1860, S. 40. [113] Kautsky, ebd., S. 268. [114] Rostovtzeff, Gesellschaft und Wirtschaft im römischen Kaiserreich, ebd., Bd. I, S. 108. Weiterhin: »In Mesopotamien, Palästina, Ägypten und der Cyrenaika erhoben sich (nach dem Tode Trajans) die Juden in gefährlichen und blutigen Aufständen, deren letzter die Cyrenaika stark verwüstete.« Rostovtzeff, ebd., Bd. II, S. 76. [115] Rostovtzeff, ebd., Bd. II, S. 64. [116] Ebd., S. 65. [117] Kautsky, Der Ursprung des Christentums, ebd., S. 404. [118] Movers, Die Phönizier, ebd., S. 1. [119] Gustav Hölscher, »Urgemeinde und Spätjudentum«, in: Avhandlinger utgitt av Det Norske Videnskaps Akademie i Oslo, Nr. 4, 1928, S. 26. [120] Rostovtzeff, ebd., Bd. II, S. 216. [121] Schubart, Ägypten von Alexander dem Großen bis auf Mohammed, ebd., S. 97. [122] Lukas 6, 20–25. [123] Jakobus 5, 1–4. [124] Matthäus 5, 1 und 10. [125] Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, ebd., Bd. IV, S. 527. [126] In ihnen manifestiert sich der Verfall der römischen Wirtschaft. Aber die unteren Klassen waren nicht in der Lage, die Macht an sich zu reißen. Eine neue Klasse von Besitzenden benutzte ihre Ideologie, um sich durchzusetzen. Eine Veränderung war nötig, die sich aber ausschließlich zugunsten der neuen Klasse vollzog. Das gleiche gilt übrigens mutatis mutandis für die »faschistische Revolution«. [127] Schubart, Ägypten von Alexander dem Großen bis auf Mohammed, ebd., S. 46. [128] Samuel Krauss, »Studien zur byzantinischen-jüdischen Geschichte«, in: Jahresbericht der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt in Wien, Wien 1914, S. 29. [129] Georg Caro, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Juden im Mittelalter und der Neuzeit, 1908–1920, Frankfurt 1924, S. 117. [130] Lujo Brentano, Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, Jena 1927, Bd. I, S. 363.
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[131] Selbst wenn diese Syrer keine Juden gewesen sind, so wird dieses Faktum in der Karolingerzeit nicht mehr erwähnt. Möglicherweise haben sich diese Syrer mit den jüdischen Handelsgemeinschaften vermischt, es sei denn, dass sie aus anderen Gründen völlig verschwunden wären. Zur Zeit der Karolinger ist »Jude« gleichbedeutend mit »Händler«. [132] Leopold Lucas, Zur Geschichte der Juden im vierten Jahrhundert, Berlin 1910. »In Antiochia sagt der heilige Johannes Chrysostomos über die Juden, die die wichtigsten Handelspositionen innehaben, dass sie alle ihre Geschäfte ruhen lassen, wenn sie ihre Feste feiern …« Jannet, Les grandes époques de l’histoire économique jusqu‘à la fin du XVIe siècle, ebd., S. 137. [133] Pirenne, Mahomet et Charlemagne, ebd., S. 237. [134] Julius Brutzkus, »Der Handel der westeuropäischen Juden mit dem alten Kiew«, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland, Jg. (1931), Heft 2–3, S. 99. [135] De reditu suo, I, 398; vgl. Georg Bernhard Depping, Die Juden im Mittelalter, Stuttgart 1834, S. 30. [136] Salomon Ullmann, Studien zur Geschichte der Juden in Belgien bis zum XVIII. Jahrhundert, Antwerpen 1909, S. 4. [137] Pirenne, Les villes du Moyen Age, ebd., S. 21. [138] Ignaz Schipper, Anfänge des Kapitalismus bei den abendländischen Juden im früheren Mittelalter, Wien/Leipzig 1907, S. 20, 18. [139] Henri Sée, Esquisse d’une histoire économique et sociale de la France, Paris 1929, S. 91. [140] Willem G. Verhoeven, Algemeyne Inleyding tot de al-oude en middentydsche Belgische Historie, Brüssel 1780; zitiert von: Ullmann, ebd., S. 25. [141] Ullmann, ebd., S. 7–10. [142] Bédarride, Les Juifs en France, en Italie et en Espagne, ebd., S. 55. [143] Pirenne, Histoire de l’Europe, ebd., S. 82. [144] Brutzkus, ebd., S. 100–102. [145] Ebd., S. 103. [146] Schipper, Anfänge des Kapitalismus, ebd., S. 23. [147] Julius Brutzkus, »Di Geshikhte fun di Bergyiden oyf kavkaz« (Geschichte der Bergjuden im Kaukasus), auf Jiddisch, in: Historiše šriftn fun Jivo (Historische Schriften), Bd. II, Wilno 1937, S. 26–42. [148] Ignaz Schipper, Jidiše Gešichte. Wirtšaftsgešichte, Warschau 1930, (auf Jiddisch), Bd. II, S. 45. [149] Pirenne, Mahomet et Charlemagne, ebd., S. 153. [150] Die Juden werden sogar besser beschützt als die Adeligen durch das Privileg, das Heinrich IV. den Juden von Speyer zugesteht (1090). Von einem polnischen
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Chronisten des 12. Jahrhunderts, Wincenty Kadłubek, erfahren wir, dass die gleiche Strafe, nämlich die »Septuaginta«, ausgesetzt war für Majestätsbeleidigung, Blasphemie und Judenmord. 966 beklagte sich der Bischof von Verona, dass bei den Kämpfen zwischen Geistlichen und Juden die ersteren eine dreimal so hohe Geldstrafe bezahlen mussten wie die Juden. [151] Roscher, »Die Juden im Mittelalter«, ebd., S. 327. [152] Marx, Das Kapital, Bd. III, ebd., S. 340. [153] Ebd., S. 343. [154] Vgl. ebd., S. 342 ff. [155] Ebd., S. 607. – »Dass bereits vor dem ersten Kreuzzug die deutschen Juden Geld gegen Unterpfand ausgeliehen haben, kann nicht wohl einem begründeten Zweifel unterliegen. Wenn 1107 Bischof Hermann von Prag fünf kostbare, seiner Kirche gehörige Prunkgewänder den Juden von Regensburg für 500 Mark Silber zu Pfand setzte, so lässt sich nicht wohl denken, dass dieses das erste derartige Darlehensgeschäft war … Übrigens bestätigt auch ein hebräisches Zeugnis, dass bereits in jener Zeit das Leihen auf Pfänder bei den deutschen Juden üblich war; jedoch kann es nicht ihre ausschließliche oder selbst nur vorwiegende Erwerbsquelle gebildet haben. Kreditgeschäfte mannigfacher Art standen zu allen Zeiten mit dem Betrieb des Handels in Verbindung.« Caro, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, ebd., S. 197. [156] »Die Bankiers kümmerten sich auch um die Einziehung der Einnahmen der großen herrschaftlichen Besitztümer. Sie waren in gewisser Weise Gutsverwalter und Pächter.« Georges d’Avenel, Histoire économique de la propriété, des salaires, des denrées et de tous les prix en général, Bd. I, Paris 1894, S. 109. [157] Schipper, Jidiše Gešichte, ebd., Bd. IV, S. 224.
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III. Die Periode des jüdischen Wucherers Bis zum 11. Jahrhundert zeichnete sich die in Westeuropa vorherrschende Wirtschaftsordnung durch das Fehlen einer für den Tausch bestimmten Produktion aus. Die wenigen Städte, die aus der Römerzeit stammten, erfüllten im Wesentlichen verwaltungsmäßige und militärische Funktionen. Die ganze Produktion war einzig und allein für die lokale Konsumtion bestimmt. Die herrschaftlichen Landgüter befriedigten ihren Eigenbedarf selbst und kamen in Kontakt mit der weiten Welt nur durch die jüdischen Kaufleute, die sich dorthin vorwagten. [158] Die Rolle, die die Europäer im Handel spielten, konnte nur passiv sein. Aber allmählich, mit steigendem Import orientalischer Waren, wuchs das Interesse, unmittelbar für den Austausch zu produzieren. Die kommerzielle Entwicklung stimuliert so die einheimische Produktion. Die Produktion von Gebrauchswerten weicht allmählich der Produktion von Tauschwerten. Nicht alle einheimischen Produkte sind im Orient gefragt. Die Produktion von Tauschwerten entwickelt sich zuerst dort, wo verschiedene Bedingungen für die Fabrikation oder Förderung von bestimmten, im Ausland besonders begehrten Waren vereinigt sind. Es handelt sich dabei um Monopolprodukte. So z. B. englische Wollstoffe, flandrische Tücher, venezianisches Salz, Kupfer aus Dinant. An solchen privilegierten Orten entwickeln sich schnell »diese spezialisierten Industriezweige, deren Produkte dank des Handels sofort die Grenzen ihres Herstellungsortes überschreiten …« [159] Der bis hierhin passive Handel wird aktiv. Die flandrischen Tücher, die florentinischen Webereien beginnen die weite Welt zu erobern. Da sie besonders gefragt sind, sind diese Waren Quelle riesiger Profite. Diese rapide Anhäufung von Reichtümern ermöglicht eine beschleunigte Entwicklung der einheimischen Handelsklasse. »So war das Salz in den Händen der Venezianer ein bedeutsames Mittel, sich zu bereichern und die Völker in Abhängigkeit zu halten. Von Anfang an hatten diese Inselbewohner in ihren Lagunen ein Salz hergestellt, das von allen Völkern
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der Adria sehr gefragt war und das Venedig Handelsprivilegien, Vergünstigungen und Verträge einbrachte.« [160] Solange Europa unter dem Regime der Naturalwirtschaft stand, ging die Initiative für den Handelsverkehr von den orientalischen Kaufleuten, vor allem von den Juden aus. Nur einigen Händlern, einigen kleineren Lieferanten der Adelsschlösser und der Geistlichkeit gelingt es, sich aus der verarmten Masse der an die Scholle gebundenen Leibeigenen herauszulösen. Aber die Entwicklung der einheimischen Produktion ermöglicht, dass sehr schnell eine mächtige Klasse einheimischer Kaufleute entsteht. Sie rekrutiert sich aus den Handwerkerschichten, gewinnt aber sehr schnell die Oberhand über diese, indem sie die Verteilung der Rohstoffe in die Hand nimmt. [161] Im Gegensatz zum jüdischen Handel, der eindeutig von der Produktion getrennt ist, basiert der einheimische Handel vor allem auf der Industrie. Überall geht die industrielle Entwicklung Hand in Hand mit der Ausdehnung des Handels. »Venedig hatte den Vorteil, zugleich eine der Städte mit einem außerordentlich weit entwickelten Handel und einer ebenso weit entwickelten Industrie in der damaligen Welt zu sein. Fabriken in Venedig dienten in großartiger Weise den venezianischen Händlern in ihren Beziehungen zum Orient … Venedig und die benachbarten Städte füllten sich mit Fabriken aller Art.« [162] »In Italien wie in Flandern haben der See- und der Binnenhandel, über den er sich ausdehnt, das rege Leben der Häfen zur Folge: Venedig, Pisa und Genua hier, Brügge dort. In ihrem Hinterland entwickeln sich die Industriestädte, die Lombardei und Florenz einerseits, Gent, Ypern, Lille und Douai andererseits und ebenso Valenciennes und Brüssel.« [163] Die Wollindustrie entwickelt sich zur Grundlage von Größe und Wohlstand der mittelalterlichen Städte. Stoffe und Webereien stellen die wichtigsten Waren auf den mittelalterlichen Märkten dar. [164] Hier liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem mittelalterlichen und dem modernen Kapitalismus. Letzterer beruht auf einer großartigen Revolution der Produktionsmittel, ersterer nur auf der Entwicklung der Produktion von Tauschwerten.
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Der sich entwickelnde Austausch in der mittelalterlichen Wirtschaft wirkt sich fatal auf die Stellung der Juden im Handel aus. Der jüdische Händler, der Gewürze nach Europa importiert und Sklaven exportiert, wird ersetzt durch den hochangesehenen christlichen Kaufmann, dem die städtische Industrie als wesentliche Handelsgrundlage dient. Diese einheimische Handelsklasse prallt heftig mit den Juden zusammen, die eine überalterte, aus einer früheren Periode historischer Entwicklung ererbte wirtschaftliche Position innehaben. Der wachsende Widerspruch zwischen dem »christlichen« und dem jüdischen Handel lässt sich also auf den Gegensatz zwischen zwei verschiedenen Systemen, dem der Tauschwirtschaft und dem der Naturalwirtschaft, zurückführen. Es ist also die wirtschaftliche Entwicklung des Abendlandes, die die kommerzielle Funktion der Juden, die auf dem zurückgebliebenen Zustand der Produktion basiert, zerstört. [165] Das Handelsmonopol der Juden zerfiel mit dem Aufstieg der Völker, von deren Ausbeutung es lebte. »Jahrhunderte lang sind die Juden gleichsam die kaufmännischen Vormünder der neueren Völker gewesen, zum Nutzen der letzteren selbst und nicht ohne Anerkennung dieses Nutzens. Aber jede Vormundschaft wird lästig, wenn sie länger dauern will, als die Unreife des Mündels; und ganze Völker emanzipieren sich, wie die Menschen nun einmal zu sein pflegen, nur unter Kämpfen von der Bevormundung durch andere Völker.« [166] Mit der Entwicklung der Tauschwirtschaft in Europa, mit dem Anwachsen der Städte und der ständischen Industrie wurden die Juden allmählich aus ihren wirtschaftlichen Stellungen vertrieben. [167] Diese Vertreibung ist begleitet von einem leidenschaftlichen Kampf der einheimischen Kaufmannsklasse gegen die Juden. Die Kreuzzüge – unter anderem Ausdruck für den Willen der Handelsstädte, sich einen Weg in den Orient zu bahnen – geben ihr die Gelegenheit zu grausamen Verfolgungen der Juden und blutigen Massakern unter ihnen. Von diesem Zeitpunkt an gerät die Position der Juden in den Städten Westeuropas endgültig ins Wanken. Zu Beginn erfasst die wirtschaftliche Transformation nur einige wichtige städtische Zentren. Die feudalen Güter werden von dieser 66
Veränderung kaum berührt, und das Feudalsystem blüht weiterhin. Infolgedessen ist das Wachstum des jüdischen Wohlstandes noch nicht beendet. Die feudalen Güter sind noch immer ein wichtiges Aktionsfeld für die Juden. Aber jetzt entwickelt sich das jüdische Kapital, das früher hauptsächlich Handelskapital war, zu beinahe reinem Wucherkapital. Der Jude liefert dem Feudalherrn keine orientalischen Waren mehr, aber er streckt ihm für eine gewisse Zeit immer noch Geld für seine Ausgaben vor. Wenn in der vorangehenden Periode »Jude« gleichbedeutend mit »Händler« war, so wird »Jude« jetzt immer mehr mit »Wucherer« gleichgesetzt. [168] Selbstverständlich ist es ein grober Irrtum, dass sich die Juden, wie die meisten Historiker annehmen, erst nach ihrer Verdrängung aus dem Handel dem Kreditgeschäft zugewandt hätten. Das Wucherkapital ist der Bruder des Handelskapitals. In den Ländern Osteuropas, wo die Juden nicht aus dem Handel vertrieben wurden, trifft man, wie wir später noch sehen werden, eine beachtliche Zahl von jüdischen Wucherern. [169] In Wirklichkeit hatte die Verdrängung der Juden aus dem Handel die Konsequenz, dass sie sich auf eine von ihnen bereits früher praktizierte Tätigkeit zurückzogen. Die Tatsache, dass die Juden zu verschiedenen Zeiten Ländereien besaßen, kann nicht ernsthaft als Argument für die traditionelle These der jüdischen Historiker dienen. Weit davon entfernt, Beweis für die Vielfalt der von den Juden ausgeübten Berufe zu sein, muss der jüdische Grundbesitz als Ergebnis ihrer wucherischen und kaufmännischen Aktivitäten angesehen werden. [170] In den kaufmännischen Büchern des französischen Juden Heliot aus der Freigrafschaft Burgund, der zu Anfang des 14. Jahrhunderts lebte, sind unter den Besitztümern auch Weinberge aufgezählt. Aber den Büchern ist eindeutig zu entnehmen, dass diese Weinberge Heliot nicht zur Grundlage für eine landwirtschaftliche Tätigkeit dienten: Sie waren vielmehr das Ergebnis seiner kaufmännischen Aktivitäten. Als im Jahre 1360 der König von Frankreich die Juden erneut in sein Land eingeladen hatte, warf der Vertreter der Juden, ein gewisser Manassé, das Problem des königlichen Schutzes für die Weinberge und das Vieh auf, die die Juden als nicht ausgelöste Sicherheiten erhalten würden. 67
Während der großen theologischen Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen in Spanien werfen die letzteren den Juden vor, ihre Reichtümer durch Wucherei erlangt zu haben. »Sie haben sich der Felder und der Tiere bemächtigt … sie besitzen dreiviertel der Felder und Ländereien Spaniens.« [171] Die Ländereien von Adligen gerieten in dieser Epoche sehr oft in die Hände von Juden. So das Dorf Střížov in Böhmen, das zwei Adligen gehörte und zur Zahlung von Schulden an die Juden Fater und Merklin überging (im Jahre 1382). Ebenso das Dorf Újezd in Mähren, das an den Juden Aron aus Hradic und das Dorf Neverovo in Litauen, das an den Juden Levon Salomic übertragen wurde usw. Solange der Grundbesitz den Juden nur zu Spekulationen diente, war er zwangsläufig höchst gefährdet; denn die Klasse der Feudalherren verbot schon sehr früh, den Juden Grundbesitz zu überlassen. Anders war es dann, wenn eine wirkliche wirtschaftliche und soziale Veränderung eintrat, dort nämlich, wo die Juden ihre Geschäfte aufgaben, um echte Grundeigentümer zu werden. Hier mussten sie früher oder später auch ihre Religion wechseln. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts bemühte sich der König von Polen sehr, einen Juden namens Woltschko, Eigentümer von mehreren Dörfern, dazu zu bringen, »seine Blindheit anzuerkennen und zur heiligen christlichen Religion überzutreten«. Dies ist bezeichnend; denn die Könige von Polen beschützten die jüdische Religion in weitem Maße. Niemals wäre ihnen die Idee gekommen, die jüdischen Händler und Bankiers zum Christentum zu bekehren. Aber ein jüdischer Grundbesitzer musste im Mittelalter eine Anomalie darstellen. Gleiches gilt im Allgemeinen für den christlichen Wucherer. Dieses Problem hat selbstverständlich nichts mit den Albernheiten der Rassenlehre zu tun. Natürlich ist die Annahme Sombarts, der Wucher stelle eine besondere Eigenart der »jüdischen Rasse« dar, völlig unsinnig. Der Wucher, der, wie wir gesehen haben, eine wichtige Rolle in allen vorkapitalistischen Gesellschaften spielte, ist fast ebenso alt wie die Menschheit und ist von allen Rassen und Nationen praktiziert worden. Es
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genügt, daran zu erinnern, welch überragende Bedeutung dem Wucher in den griechischen und römischen Gesellschaften zukam. [172] Zu behaupten, dass die Juden aufgrund ihrer rassischen Veranlagung den Wucher praktizierten, hieße das Problem auf den Kopf stellen. Nicht die »angeborenen« Fähigkeiten oder die Ideologie einer gesellschaftlichen Gruppe können ihre wirtschaftliche Stellung erklären. Im Gegenteil, ihre wirtschaftliche Position erklärt ihre Fähigkeiten und ihre Ideologie. Die mittelalterliche Gesellschaftsordnung war nicht in Herren und Leibeigene geteilt, weil jede dieser Gruppen spezifische Anlagen für eine solche wirtschaftliche Rolle mitgebracht hätte. Ideologie und Fähigkeiten einer jeden Klasse haben sich langsam in Abhängigkeit von ihrer wirtschaftlichen Stellung geformt. Dasselbe gilt für die Juden. Nicht ihre »angeborene« Fähigkeit zum Handel erklärt ihre wirtschaftliche Position, sondern umgekehrt, ihre wirtschaftliche Stellung ihre Befähigung zum Handel. Die Juden bilden außerdem ein höchst heterogenes rassisches Konglomerat. Sie haben im Laufe der Geschichte eine Vielzahl nichtsemitischer Volkselemente absorbiert. In England »brachte dieses Monopol ihnen solchen Reichtum, dass von Christen berichtet wird, die zum Judentum übergetreten sind, um an dem jüdischen Zinsmonopol teilzunehmen«. [173] Das Judentum ist daher wohl das Ergebnis eines sozialen Selektionsprozesses, aber niemals »eine Rasse mit angeborenen kommerziellen Fähigkeiten«. Aber der Vorrang des wirtschaftlichen und sozialen Faktors schließt bei Weitem nicht den Einfluss von psychologischen Faktoren aus. Ganz wie es albern ist, in der ökonomischen Stellung des Judentums das Ergebnis der »jüdischen Anlagen« zu sehen, so ist es auch kindisch, diese Stellung auf Verfolgungen und gesetzliche Verbote anderer Berufe außer Wucher und Handel zurückzuführen. »Auch die in vielen Schilderungen des mittelalterlichen Wirtschaftslebens zu findende Erzählung, die Juden wären von vornherein vom Handwerk, dem Warenhandel und dem Grundbesitz ausgeschlossen gewesen, ist nichts als ein Märchen. Tatsache ist, dass sie im 12., 13. Jahrhundert fast in allen großen westdeutschen Städten zwischen den
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christlichen Bürgern wohnten und das gleiche Bürgerrecht wie diese besaßen … In Köln besaßen sogar die Juden eine Zeitlang das Recht, dass ein Christ, der eine Forderung an einen Juden hatte, nur vor jüdischen Richtern nach jüdischem Recht klagen durfte und gegen deren Urteil nicht appellieren konnte … Nicht minder unrichtig ist die Behauptung, es sei kein Jude in eine Zunft aufgenommen worden. Sicherlich haben viele Zünfte keine sogenannten ›Judenkinder‹ als Lehrlinge zugelassen; aber nicht alle Zünfte, wie es denn auch später, als die Zunftordnungen weit strenger geworden waren, noch in manchen Städten jüdische Gold- und Silberschmiede gab. Jüdische Hufschmiede, Maurer, Zimmerleute dürfte es allerdings wohl nur sehr selten unter den Handwerkern des Mittelalters gegeben haben. Um solches Handwerk zu lernen, hat damals kaum ein Jude seinen Jungen in eine Lehre gegeben. Aber auch in jenen Zünften, die keinen Juden aufnahmen, geschah das nicht aus Hass gegen die jüdische Religion oder Rasse, sondern weil Wucher, Pfandleihe, Trödlergeschäft als sogenannte ›unehrliche‹, d. h. nicht achtbare Gewerbe galten. Wie die Zünfte vielfach keine Söhne von gewöhnlichen Arbeitern, Fuhr- und Schiffsknechten, Badern, Leinenwebern als Lehrlinge aufnahmen, so auch keine Söhne von jüdischen Geschäftsleuten, die ein Pfandleih- oder Trödelgeschäft betrieben.« [174] Die feudale Gesellschaft war im Wesentlichen eine Gesellschaft von Kasten. Sie wollte, dass jeder »an seinem Platz« bleibe. [175] Sie bekämpfte den von Christen betriebenen Wucher ebenso, wie sie es dem Bürger unmöglich machte, zu Adelstiteln zu kommen, oder wie sie den Adeligen mit Verachtung strafte, der sich herabließ, einen Beruf auszufüllen oder Handel zu betreiben. 1426 vertrieb man den Arzt Hans Winter aus der Stadt Nördlingen, weil er mit der Hilfe eines Juden Wucher betrieb. 30 Jahre später wird in derselben Stadt ein Bürger namens Kinkel an den Pranger gestellt und aus der Stadt vertrieben, weil er den »jüdischen« Beruf ausgeübt habe. Die Synode von Bamberg drohte 1491 allen Christen, die allein oder durch Vermittlung von Juden Wucher betrieben, den Ausschluss aus der 70
christlichen Gemeinschaft an. 1487 verfügte man in Schlesien, dass alle Christen, die Wucher betrieben, vor ein königliches Gericht gestellt und exemplarisch bestraft werden sollten. Solange das Gebäude des Feudalismus solide bleibt, ändert sich die Haltung der christlichen Gesellschaft gegenüber dem gewerblichen Geldverleihen nicht. Aber die tiefgehenden wirtschaftlichen Veränderungen, die wir oben untersucht haben, geben dem Problem eine andere Tragweite. Die Entwicklung von Handel und Industrie trägt dazu bei, dass die Bank im Wirtschaftsleben unentbehrlich wird. Der Bankier, der dem Kaufmann oder dem Handwerker Gelder vorschießt, wird zu einem wesentlichen Element der ökonomischen Entwicklung. Der Tresor des Wucherers erfüllte in der feudalen Gesellschaftsordnung die Rolle einer notwendigen, aber völlig unproduktiven Reserve. »Die charakteristischen Formen jedoch, worin das Wucherkapital in den Vorzeiten der kapitalistischen Produktionsweise existiert, sind zweierlei. Ich sage charakteristische Formen. Dieselben Formen wiederholen sich auf Basis der kapitalistischen Produktion, aber als bloß untergeordnete Formen. Sie sind hier nicht mehr die Formen, die den Charakter des zinstragenden Kapitals bestimmen. Diese beiden Formen sind: erstens, der Wucher durch Geldverleihen an verschwenderische Große, wesentlich Grundeigentümer; zweitens, Wucher durch Geldverleihen an den kleinen, im Besitz seiner eigenen Arbeitsbedingungen befindlichen Produzenten, worin der Handwerker eingeschlossen ist, aber ganz spezifisch der Bauer, da überhaupt in vorkapitalistischen Zuständen, soweit sie kleine selbstständige Einzelproduzenten zulassen, die Bauernklasse deren große Majorität bilden muss.« [176] Der Wucherer verleiht an Feudalherren und Könige, um ihren Luxus und ihre Kriegskosten zu decken. Er leiht an Bauern und Handwerker, um ihnen zu ermöglichen, Gebühren und Grundzinsen etc. zu bezahlen. Das vom Wucherer geliehene Geld schafft keinen Mehrwert. Es erlaubt dem Wucherer nur, sich einen Teil des schon bestehenden Mehrprodukts anzueignen. Die Funktion des Bankiers ist völlig anders. Er trägt direkt zur Produktion des Mehrwerts bei. Er ist produktiv. Der Bankier finanziert die 71
großen Handels- und Industrieunternehmen. Während es sich im Feudalismus hauptsächlich um einen Kredit zur Konsumtion handelt, so wird der Kredit in der Epoche der industriellen und kommerziellen Entwicklung zu einem Kredit für Produktion und Zirkulation. Es besteht also ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Wucherer und dem Bankier. Der erstere ist Kreditorgan in der feudalen Gesellschaftsordnung, der zweite im System der Tauschwirtschaft. Die Unkenntnis dieser fundamentalen Unterscheidung führt fast alle Historiker in die Irre. Sie sehen keinen Unterschied zwischen dem Bankier der Antike, dem jüdischen Bankier im England des 11. Jahrhunderts und Rothschild oder sogar Fugger. »Newman drückt die Sache fad aus, wenn er sagt, dass der Bankier angesehen ist, während der Wucherer verhasst und verachtet ist, weil jener den Reichen leiht, dieser den Armen … Er übersieht, dass hier der Unterschied zweier gesellschaftlicher Produktionsweisen und der ihnen entsprechenden gesellschaftlichen Ordnungen dazwischenliegt und die Sache nicht mit dem Gegensatz von arm und reich abgemacht ist.« [177] Sicherlich wird diese Unterscheidung vor allem sichtbar in der kapitalistischen Epoche im eigentlichen Sinn. Aber »der Kaufmann borgt Geld, um Profit mit dem Geld zu machen, um es als Kapital anzuwenden, d. h. zu verausgaben. Auch in den frühern Formen steht ihm also der Geldverleiher ganz so gegenüber wie dem modernen Kapitalisten. Dieses spezifische Verhältnis wurde auch von den katholischen Universitäten gefühlt. ›Die Universitäten von Alcalá, von Salamanca, von Ingolstadt, von Freiburg im Breisgau, Mainz, Köln und Trier erkannten nacheinander die Rechtmäßigkeit der Zinsen für Handelsanleihen an.‹« [178] Mit fortschreitender ökonomischer Entwicklung weicht der Geldverleiher der Bank, die mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. In den blühenden Handelsstädten Flanderns findet man ihn nicht mehr; denn »die Juden praktizierten im Unterschied zu den Lombarden nur die Zinsgeschäfte und übernahmen keine Vermittlerrolle zwischen den einzelnen Operationen des Geschäftsverkehrs«. [179] Nach ihrer Verdrängung aus dem Handel, einem Prozess, der in Westeuropa im 13. Jahrhundert vollendet ist, betreiben die Juden weiterhin 72
ihre Wuchergeschäfte in den Regionen, in denen die Tauschwirtschaft noch nicht Fuß gefasst hatte. In England haben sich die Juden zur Zeit Heinrichs II. (zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts) schon völlig dem Wuchergeschäft verschrieben. Sie sind in der Regel sehr reich, und ihre Kundschaft setzt sich aus Großgrundbesitzern zusammen. Der berühmteste dieser jüdischen Bankiers war ein gewisser Aaron aus Lincoln, besonders rührig gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Heinrich II. allein schuldete ihm 100 000 Pfund, was ungefähr dem Jahreshaushalt des englischen Königreichs der damaligen Zeit entsprach. Dank extrem hoher Zinssätze – sie schwankten zwischen 43 und 86 Prozent – ging eine große Zahl Ländereien des Adels in die Hände jüdischer Wucherer über. Aber diese hatten starke und anspruchsvolle Verbündete und … Eintreiber. Wenn die englischen Könige die Geschäfte der Juden unterstützten, so geschah dies, weil die Juden für sie eine sehr wichtige Einnahmequelle darstellten. Alle vertraglich bei den Juden gemachten Anleihen wurden in dem »scaccarium judaeorum« vermerkt und mit einer Gebühr von 10 Prozent für die königliche Schatzkammer belegt. Aber dieser legale Anteil genügte den Königen bei Weitem nicht. Alle Ausreden waren gut genug, um den Juden Geld abzuzapfen. Und so trug das von den Juden betriebene Wuchergeschäft unaufhörlich zur Bereicherung der königlichen Schatzkammer bei. Am schlimmsten war es für Juden, Könige zu wichtigen Schuldnern zu haben. Die Erben von Aaron aus Lincoln mussten sich davon überzeugen, als der König 1187 die Güter des reichen Bankiers konfiszierte. Der enteignete Adel rächte sich durch die Organisation von Judenmassakern. 1189 wurden die Juden in London, Lincoln und Stamford niedergemetzelt. Ein Jahr später zerstörte der Adel angeführt von einem gewissen Richard Malebysse das »scaccarium judaeorum« von York. Die Verträge wurden feierlich verbrannt. Die im Schloss belagerten Juden töteten sich selbst. Aber der König beschützte die Juden weiterhin, selbst nach ihrem Tod. Er verlangte die Begleichung der den Juden geschuldeten Beträge zu seinen Gunsten, da die Juden seine »Schatzknechte« gewesen
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seien. Besondere Beauftragte mussten ihm eine genaue Schuldenliste aufstellen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts gestand der König dem englischen Adel eine »Magna Charta« zu, die gewisse Verbesserungen des Systems der Geldverleihung mit sich brachte. Dennoch brachen zwischen 1262 und 1264 erneut Unruhen gegen die Juden aus. Im Jahre 1290 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung Englands, d. h. etwa 3000 Personen, aus dem Land verwiesen, und ihre Güter wurden konfisziert. Die wirtschaftliche Lage der sehr viel zahlreicheren französischen Juden (100 000) war nicht merklich verschieden von der der englischen Juden. »Bei der Thronbesteigung Philipp Augusts [1180] und in den ersten Jahren seiner Regierung waren die Juden in Frankreich zahlreich und im Wohlstande. Gelehrte Rabbiner wurden bei der Synagoge in Paris angestellt, welche bei dem feierlichen Einzuge des Papstes Innocenz zu St. Denis im Jahr 1135 bereits unter den Korporationen der Hauptstadt erschien. Nach dem Geschichtsschreiber Rigord hatten sie beinahe halb Paris an sich gezogen … In Städten, Dörfern und Märkten, überall hatten sie Forderungen einzutreiben. Viele Christen wurden selbst durch sie wegen Schulden aus dem Besitz ihres Vermögens gesetzt.« [180] Vor allem im Norden Frankreichs betrieben die Juden ihre Wuchergeschäfte. In der Provence war der Anteil der Juden am Handel noch im 13. Jahrhundert sehr bedeutend. Die Juden in Marseille standen in Geschäftsverbindung mit Spanien, Nordafrika, Sizilien und Palästina. Sie besaßen sogar Schiffe und importierten – wie ihre Vorfahren unter den Karolingern – Gewürze und Sklaven. Aber dies sind nur die Überbleibsel einer vergangenen Epoche. Der Wucher scheint im 13. Jahrhundert die hauptsächliche wirtschaftliche Funktion der Juden in Frankreich gewesen zu sein. In jeder Stadt war ein Notar für die Zinsgeschäfte bestellt. Der Zinsfuß belief sich auf 43 Prozent. Bis zum Edikt von Melun (1230), das den Juden das Geldverleihen gegen die Verpfändung von Grund und Boden verbot, stellten die Prinzen und Fürsten die Hauptkundschaft der jüdischen Bankiers dar. Zu Beginn des 12. Jahrhunderts war der Jude Salomon aus Dijon Gläubiger der größten Klöster Frankreichs. Der Graf von Montpellier schuldete einem Juden mit 74
Namen Bendet 50 000 Sous. Der Papst Innocenz III. drückte in einem Brief an den König von Frankreich seine Empörung darüber aus, dass sich die Juden die Güter der Kirche aneigneten, dass sie sich der Ländereien und Weinberge bemächtigten. Wenn auch die wirtschaftliche Stellung der Juden in Frankreich jener der Juden in England glich, so war doch ihre politische Stellung verschieden. Die weit mehr zersplitterte Macht lieferte sie an eine Vielzahl von Prinzen und Feudalherren aus. Die Juden waren einer Menge Steuern und Gebühren unterworfen, die in die Kassen der Mächtigen flossen. Verschiedene Mittel wurden ausprobiert, um das Maximum an Geld aus den Juden herauszuholen. Massenverhaftungen, regelmäßige Prozesse, Vertreibungen – dies alles diente als Deckmantel für finanzielle Erpressungen großen Stils. Wiederholt vertrieben die französischen Könige die Juden, um sich ihre Güter einzuverleiben und sie dann wieder ins Land zurückzuholen. Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Position der Juden im islamischen Spanien ist nicht genau bekannt. Es besteht allerdings nicht der geringste Zweifel daran, dass die Juden den privilegierten Klassen der Bevölkerung angehörten. »Bei meiner Ankunft in Granada«, schreibt ein gewisser Abu Ishaq aus Elvira, »sah ich, dass die Juden hier führende Stellen innehatten. Sie haben Hauptstadt und Provinz unter sich verteilt. Überall sind diese Verdammten an der Spitze der Verwaltung. Sie kümmern sich um die Eintreibung der Steuern, leben in Luxus, während ihr, Muselmanen, in Lumpen herumlauft.« Im christlichen Teil Spaniens, in Kastilien, sind die Juden Bankiers, Steuereinzieher und Lieferanten des Königs. Der königliche Hof beschützte sie, weil sie ihm als wirtschaftliche und politische Stütze dienten. Der Zins betrug zu Beginn des 12. Jahrhunderts 33 ⅓ Prozent – weniger als in anderen Ländern. In zahlreichen Cortes kämpfte der Adel für die Herabsetzung der Zinssätze, aber er stieß immer auf den Widerstand der Könige. Nur unter der Herrschaft von Alfons IX. erzielte der Adel einige Erfolge auf diesem Gebiet. Eine ähnliche Situation entstand in Aragon. Jehuda de Cavallera ist das typische Beispiel eines großen jüdischen »Kapitalisten« des 75
13. Jahrhunderts. Er pachtete Salzbergwerke, prägte Münzen, stattete die Armee aus und besaß große Gebiete und eine Vielzahl von Herden. Sein Vermögen ermöglichte den Bau einer Kriegsflotte für den Krieg gegen die Araber. Der wirtschaftliche Rückstand Spaniens erlaubte den Juden, ihre Stellung im Handel länger zu halten als in England und Frankreich. Dokumente des 12. Jahrhunderts erwähnen Juden aus Barcelona, die bis zum Bosporus reisten. Im Jahre 1105 gesteht der Graf Bernard III. das Monopol zum Import sizilianischer Sklaven drei Juden zu, die Kaufleute und Schiffseigentümer in Barcelona sind. Man muss das 14. Jahrhundert abwarten, bis Barcelona »sich in ein riesiges Warenhaus und eine enorme Werkstatt verwandelt«. [181] Erst dann werden die Juden endgültig aus Barcelonas Handel verdrängt. Ihre Situation hat sich derart verschlechtert, dass sie Gebühren bezahlen müssen, um diese Stadt passieren zu können. »So kamen also die unglücklichen Israeliten, statt Kaufleute von Barcelona zu sein, als Waren dahin.« [182] Der jüdische Wucher nimmt in Aragon solche Ausmaße an, dass unter Adel und Bourgeoisie ernsthafte Widerstände gegen die Juden entstehen. In Deutschland erstreckt sich die im Wesentlichen kommerzielle Periode bis ins 13. Jahrhundert hinein. Die Juden bringen Deutschland in Kontakt mit Ungarn, Italien, Griechenland und Bulgarien. Der Sklavenhandel blüht bis zum 12. Jahrhundert. So wird in den Zolltarifen von Walenstadt und von Koblenz daran erinnert, dass jüdische Sklavenhändler für jeden Sklaven vier Dinar bezahlen müssen. In einer Schrift von 1213 heißt es, »dass die Juden von Laubach außergewöhnlich reich sind und einen umfangreichen Handel mit Venezianern, Ungarn und Kroaten treiben«. Seit dem 13. Jahrhundert wächst der Einfluss der deutschen Städte. Wie auch sonst überall und aus denselben Gründen werden die Juden aus dem Handel verdrängt und wenden sich den Bankgeschäften zu. Das jüdische Wuchergeschäft konzentriert sich nun auf den Adel. Die Akten von Nürnberg bezeugen, dass die bei den Juden gemachten Durchschnittsschulden sich für Stadtbewohner auf 282, für Adelige auf 1672 Gulden beliefen. Ebenso verhält es sich mit 87 Wechseln in Ulmen, 76
die jüdischen Bankiers gehörten. Von den 17 302 Gulden, auf die sie sich belaufen, entfallen 90 Prozent auf Adlige. Im Jahre 1344 leiht der jüdische Bankier Fivelin dem Grafen von Zweibrücken 1090 Pfund. Derselbe Fivelin leiht im Jahre 1339 zusammen mit einem gewissen Jakob Daniels 61 000 Gulden an den König von England Eduard III. [183] 1451 ersucht Kaiser Friedrich III. bei Papst Nikolaus V. um ein Vorrecht für die Juden, »damit sie in Österreich leben und Geld verleihen können zur größtmöglichen Bequemlichkeit des Adels«. Im 13. Jahrhundert übernehmen die Juden Lublin und Nzklo in Wien die wichtigen Posten von »Schatzkämmerern des österreichischen Herzogs« (Comites camarae ducis austriae). Aber diese Lage der Dinge konnte nicht unbegrenzt fortdauern. Der Wucher zerstörte langsam das feudale System, ruinierte alle Klassen der Bevölkerung, ohne eine neue Wirtschaftsform an die Stelle der alten zu setzen. Im Gegensatz zum Kapital ist der Wucher im Wesentlichen auf die Aufrechterhaltung des Bestehenden gerichtet. »Der Wucher wie der Handel exploitieren eine gegebne Produktionsweise, schaffen sie nicht, verhalten sich äußerlich zu ihr. Der Wucher sucht sie direkt zu erhalten, um sie stets von Neuem ausbeuten zu können … Der Wucher zentralisiert Geldvermögen, wo die Produktionsmittel zersplittert sind. Er ändert die Produktionsweise nicht, sondern saugt sich an sie als Parasit fest und macht sie miserabel. Er saugt sie aus, entnervt sie und zwingt die Reproduktion, unter immer erbärmlicheren Bedingungen vorzugehen … Das Wucherkapital besitzt die Exploitationsweise des Kapitals ohne seine Produktionsweise.« [184] Trotz dieser destruktiven Wirkung ist der Wucher in den rückständigen Wirtschaftssystemen unentbehrlich. Aber er wird ein wichtiger Grund für die wirtschaftliche Stagnation, wie man dies in mehreren asiatischen Ländern beobachten kann. Wenn die Wucherei in Westeuropa immer unerträglicher wurde, so deshalb, weil sie mit den sich neu bildenden Wirtschaftsformen nicht in Einklang zu bringen war. Die Tauschwirtschaft unterwandert das bäuerliche Erwerbsleben. Die industrielle und kommerzielle Entwicklung der Städte 77
bewirkt den Rückzug des alten Feudalsystems auf dem Land. Ein weiter Markt öffnet sich den landwirtschaftlichen Produkten. Dies hat einen merklichen Rückgang der alten Formen von Dienstbarkeit und Abgaben zufolge, die auf der Naturalwirtschaft basieren. »Nur in den schwer erreichbaren oder von den großen Handelsstraßen weit entfernten Gebieten kann sich die Leibeigenschaft in ihrer primitiven Form halten. Überall anderswo verringert sie sich, wenn sie nicht ganz verschwindet. Man kann sagen, dass in Westeuropa zu Beginn des 13. Jahrhunderts ein freier Bauernstand existiert oder zu entstehen im Begriff ist.« [185] Überall in West- und Mitteleuropa sind das 12., das 13. und das 14. Jahrhundert die Blütezeit des jüdischen Zinsgeschäfts. Die ökonomische Entwicklung jedoch hat seinen rapiden Abstieg zufolge. Ende des 13. Jahrhunderts werden die Juden endgültig aus England vertrieben; Ende des 14. Jahrhunderts aus Frankreich; Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien. Diese Daten spiegeln das unterschiedliche ökonomische Entwicklungstempo dieser Länder wider. Das 13. Jahrhundert ist die Periode des wirtschaftlichen Aufblühens in England. Im 15. Jahrhundert entfalten sich »in den spanischen Königreichen Reichtum und Handel. Das Land ist von Schafherden übersät und die spanische Wolle entwickelt sich im Handelsverkehr des Nordens zu einem ernsthaften Konkurrenten für die englische Wolle. Ihr Export reicht bis zu den Niederlanden, und die Schafzucht beginnt Kastilien seinen besonderen Charakter zu verleihen und den Adel zu bereichern. Eisen aus Bilbao, Olivenöl, Orangen und Granatäpfel nehmen ebenfalls an dem nach Norden hin zunehmenden Durchgangsverkehr teil.« [186] Der Feudalismus weicht allmählich einem Tauschsystem. Infolgedessen schrumpft das Betätigungsfeld des jüdischen Wucherers ständig. Es wird, weil immer weniger nötig, immer unerträglicher. Je mehr Überfluss an Geld entsteht infolge der intensiveren Warenzirkulation, desto erbarmungsloser wird der Kampf gegen eine ökonomische Tätigkeit, die nur zur Zeit wirtschaftlicher Immobilität gerechtfertigt war, d. h. zu einer Zeit, als der Tresor des jüdischen Wucherers eine unentbehrliche Reserve für die Gesellschaft darstellte. 78
Jetzt fängt der Bauer an, seine Produkte zu verkaufen und seinen Herrn mit Geld zu bezahlen. Der Adel hat, um seine wachsenden Luxusbedürfnisse zu befriedigen, ein Interesse daran, den Bauernstand zu befreien, überall die feste Grundrente durch die Geldrente zu ersetzen. »Die erst sporadisch, sodann auf mehr oder minder nationalem Maßstab vor sich gehende Verwandlung der Produktenrente in Geldrente setzt eine schon bedeutendere Entwicklung des Handels, der städtischen Industrie, der Warenproduktion überhaupt und damit der Geldzirkulation voraus.« [187] Die Verwandlung aller Klassen der Gesellschaft in Produzenten von Tauschwerten und in Geldbesitzer bringt sie einmütig gegen den jüdischen Wucher auf, dessen archaischer Charakter seinen ausbeuterischen Aspekt besonders hervorhebt. Der Kampf gegen die Juden wird immer heftiger. Das Königtum – traditioneller Beschützer der Juden – musste den wiederholten Forderungen der Ständeversammlungen von Adeligen und Bürgern weichen. Die Monarchen mussten außerdem selbst immer öfter auf die Kassen der Bourgeoisie zurückgreifen, die bald den bedeutendsten Teil des Grundbesitzes monopolisiert hatte. Die Juden verloren als Einnahmequelle für die Könige mehr und mehr an Anziehungskraft (abgesehen davon, dass es immer eine höchst profitable Angelegenheit war, die Juden aus dem Land zu vertreiben). So wurden die Juden nach und nach aus allen westeuropäischen Ländern verwiesen. Dies kommt einem Exodus aus den entwickelteren Ländern in die rückständigen Länder Osteuropas gleich. Polen, das sich noch tief im Feudalismus befindet, wird der Hauptzufluchtsort der von überall vertriebenen Juden. In anderen Ländern, wie in Deutschland und Italien, können sich die Juden in den am wenigsten entwickelten Gegenden halten. Zum Zeitpunkt der Reise des Benjamin von Tudela gab es beinahe keinen Juden mehr in den Handelszentren wie Pisa, Amalfi und Genua. Dagegen waren sie sehr zahlreich in den rückständigsten Teilen Italiens. Selbst in den Kirchenstaaten waren die Voraussetzungen für den jüdischen Handel und die jüdische Bank günstiger als in den reichen Handelsrepubliken Venedig, Genua und Florenz. Die Handelswirtschaft vertreibt also die Juden aus ihren letzten Refugien. Der Jude als »Bankier des Adels« ist schon Ende des Mittelalters 79
in Westeuropa völlig unbekannt. Hie und da gelingt es kleinen jüdischen Gemeinschaften, sich in einigen wirtschaftlich untergeordneten Stellungen zu halten. Die »jüdischen Banken« sind jetzt nur noch die Pfandleihen, wo die Armut Anleihen nimmt. Das ist der totale Niedergang. Der Jude wird zum kleinen Wucherer, der gegen Sicherheiten von geringem Wert an die Armen in Stadt und Land verleiht. Und was kann er tun mit den nicht wieder ausgelösten Pfändern? Er muss sie verkaufen. Der Jude entwickelt sich zum kleinen Händler und Trödler. Der alte Glanz ist endgültig dahin. Jetzt beginnt die Zeit der Ghettos [188] , der schlimmsten Verfolgungen und Erniedrigungen. Das Bild dieser Unglücklichen mit Ringellöckchen und in lächerlicher Kleidung, die für sich wie für Tiere Gebühren entrichten, um Städte und Brücken passieren zu können, verhöhnt und erniedrigt, dieses Bild hat sich für lange Zeit in das Gedächtnis der Völker West- und Mitteleuropas eingegraben. Die Beziehungen der Juden zu den anderen Klassen der Gesellschaft Die Entwicklung der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Situation der Juden beeinflusste entscheidend ihre Beziehungen zu den anderen gesellschaftlichen Klassen. Während der Blütezeit ihres Handels werden sie sorgfältig von Königen und Adeligen beschützt. Ihre Beziehungen zu den Bauern sind relativ bedeutungslos. Dagegen ist ihr Verhältnis zur Bourgeoisie von deren erstem Erscheinen auf der geschichtlichen Bühne an feindselig. Aus dem Handel verdrängt, konzentriert sich das jüdische »Kapital« auf den Wucher. Die neue Situation hat zur Folge, dass sich die Haltung des Adels und des Königtums den Juden gegenüber ändert. Die Feudalherren nehmen, um ihre bedrohten Besitztümer zu verteidigen, oft einen erbarmungslosen Kampf gegen die Wucherer auf, die sie ruinieren. Die Könige beschützen die Juden zwar weiterhin, bedienen sich ihrer jedoch in Wirklichkeit, um sich an ihrem Profit finanziell zu sanieren. Solange die Tauschwirtschaft das flache Land jedoch noch nicht erfasst hat, bleibt die Lage der Juden einigermaßen erträglich. Erst von dem Augenblick an, wo 80
sich das Land zu »kapitalisieren« beginnt, wo die Feudalherren und Bauern eine ausgedehntere Aktivität entwickeln, werden sich alle Klassen darin einig, die Juden zu verfolgen und auszustoßen. Der Sieg der auf Geld basierenden Wirtschaft ist auch der Untergang des alten »Geldmannes«. Verdrängt aus der Rolle des Bankiers des Adels, gelingt es einigen Juden doch noch, sich in den »Nischen« der Wirtschaft festzusetzen. Zu Pfandleihern, Altkleiderhändlern, Hausierern und Trödlern herabgesunken, führen sie ein elendes Dasein in dunklen Ghettos und dienen als Zielscheibe für den Hass und die Verachtung des Volks. Sie haben allmählich nur noch Kontakt mit den Armen, mit den Handwerkern und Bauern. Und oft genug wendet sich der Zorn des Volks, das von Königen und Feudalherren ausgebeutet wird und verpflichtet ist, seine letzten Kleidungsstücke an die Juden zu verpfänden, gegen die Mauern des Ghettos. Die Feudalherren und reichen Bürger, die sich der Juden bedienen, um das Volk noch mehr auszubeuten, benutzen oft diese Volksaufstände, um die »Knechte ihrer Schatzkammer« auszuplündern. 1. Das Königtum und die Juden Als der Judenfeind Gonzalo Matiguez dem König von Kastilien drei Millionen Goldstücke anbot, wenn er die Juden vertriebe, antwortete ihm der Bischof Don Gil: »Die Juden sind eine Schatzkammer für den König, eine wirkliche Schatzkammer! Und Du willst sie vertreiben. Du bist also ein nicht geringerer Feind des Königs als der Juden.« Noch im Jahre 1307, im Anschluss an eine Resolution der kastilischen Priester gegen den jüdischen Wucher, verbietet der König, den Juden Schwierigkeiten zu bereiten. »Die Juden«, heißt es in einem Dekret, »gehören dem König, dem sie Steuern zahlen; und aus diesem Grunde ist eine Begrenzung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit – gleich welcher Art – unmöglich, da dies dem königlichen Schatze schaden würde.« In Polen nahm der königliche Schutz für die damalige Zeit ungewöhnliche Formen an. So erklärt der polnische König Alexander im Jahre 1504, »dass er sich den Juden gegenüber verhalte, wie es sich für Könige und Mächtige gebühre, welche sich nicht nur durch Toleranz gegenüber Christen, sondern auch gegenüber Andersgläubigen auszeichnen müssten«. [189] 81
Ein anderer polnischer König, Kasimir Jagiełło (Kasimir IV. Andreas von Polen) sagt ebenfalls, »dass er so handle, wie ihm der vom göttlichen Gesetz vorgeschriebene Grundsatz der Toleranz befehle«. Der Grund für diese Haltung ist nicht schwer zu verstehen. Die Juden bildeten für die Könige eine der wertvollsten Einnahmequellen. In Spanien z. B. waren es jüdische Bankiers, die Gebrüder Ravia, die es den kastilischen Königen ermöglichten, den Krieg gegen die Mauren erfolgreich zu beenden. Andere jüdische Bankiers haben die spanischen Könige in ihrem Kampf gegen den Adel unterstützt. In mehreren Ländern gab es eine besondere fiskalische Einrichtung, die für die Einziehung der jüdischen Steuern gebildet worden war. In England ermöglichte das scaccarium judaeorum die Registrierung aller Geschäfte der Juden, und über diese Einrichtung erfolgte auch die Einziehung ihrer Forderungen. Sie wurde gelenkt durch ein Kollegium von sieben Mitgliedern, bestehend aus drei Juden, zwei Christen und zwei Angestellten des Königs. Jedes Kreditgeschäft brachte der königlichen Schatzkammer 10 Prozent ein. Selbstverständlich konnte sich das Königtum nicht mit einem so mageren Anteil zufriedengeben. Entsprechende Methoden, z. B. Sonderkonfiskationen, wurden angewandt, um die Dürftigkeit der normalen Steuern auszugleichen. Juristisch gesehen waren die Juden »Kammerknechte«, [190] Sklaven der königlichen Schatzkammer, und in den Ländern, in denen die politische Macht sehr zerstückelt war, Sklaven der Schatzkammern der Feudalherren. Die Kassen der Mächtigen zu füllen, wurde zu ihrer Daseinsberechtigung. [191] In den angelsächsischen Gesetzen heißt es: »Ipsi Judaei et omnia sua regis sunt«, d. h. die Juden und alle ihre Güter gehören dem König. Die Gesetzgebung Nordspaniens drückt sich in ähnlicher Weise aus: »Die Juden sind Sklaven des Königs und gehören für immer dem königlichen Fiskus an.« [192] Das System war von großer Einfachheit. Die Feudalherren wurden von den Juden geschröpft und die Juden wiederum von den Königen. Aber um die Juden ausnehmen zu können, mussten sie im Lande sein. Deshalb
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beschützten die Könige die Juden und stimulierten ihre Geschäfte mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Aber wenn der König als Repräsentant des Staats ein Interesse daran hatte, die Juden zu beschützen, so darf man nicht vergessen, dass er zugleich Feudalherr war und infolgedessen einer ihrer großen Schuldner. In dieser Rolle war er natürlich versucht, ihren Unternehmungen ein Ende zu machen, was jedes Mal sehr lukrativ war. Aber während der Wille der kleineren Feudalherren, sich von ihren Schulden zu befreien und ihre Begierden zu befriedigen, gerade durch den königlichen Schutz vereitelt wurde, so hatte der königliche Feudalherr keine solchen äußeren Hindernisse zu überwinden. »Zwei Seelen wohnten, ach, in seiner Brust.« Als König bekämpfte er die Forderungen des Adels und der Bourgeoisie und widersetzte sich den Massakern und der Ausstoßung der Juden, als größter Grundbesitzer hatte er selbst das größte Interesse an ihrer Verfolgung. Die Mittel der Könige, um Geld aus ihren jüdischen »Knechten« zu ziehen, waren sehr verschieden. Zunächst gab es die Masseneinkerkerungen. Man sperrte die Juden unter dem erstbesten Vorwand ein und ließ sie erst wieder frei, wenn sie beträchtliche Summen herausgerückt hatten. Auf diese Art und Weise holte der französische König Philipp II. August im Jahre 1180 aus den Juden 15 000 Mark heraus. Der Graf Alfons von Poitiers »kassierte« bei einer ähnlichen Gelegenheit 20 000 Pfund. Man wandte auch noch andere Mittel an. Man klagte die Juden an, Brunnen zu vergiften und das Blut von Christen zu ihren religiösen Zeremonien zu verwenden. Dies waren die häufigsten Vorwürfe. Im Jahre 1321 wurden die französischen Juden zu einer Strafe von 150 000 Pfund wegen Brunnenvergiftung verurteilt. Das erfolgreichste Vorgehen dieser Art bestand darin, die Juden zu vertreiben, ihre Güter zu konfiszieren und sie dann gegen Bezahlung astronomischer Summen wieder ins Land hereinzulassen. 1182 verjagt Philipp August alle Juden aus seinem Reich und konfisziert ihren ganzen Grund und Boden. Er erlaubte ihnen 15 Jahre später zurückzukommen und ließ sich für diesen Gnadenerweis 150 000 Mark offerieren. 1268 83
wiederum ordnete der König Ludwig IX. an, dass alle Juden Frankreich verlassen müssten und dass ihre Schatzkammern konfisziert würden. Bald danach werden Gespräche mit den »servi camerae« eingeleitet und die Maßnahmen nach beträchtlichen Schenkungen wieder rückgängig gemacht. Die Vertreibung der Juden im Jahre 1306 brachte dem französischen König Philipp dem Schönen 228 460 Pfund ein, eine riesige Summe für die damalige Zeit. 1315 zur Rückkehr aufgefordert, zahlten die Juden für diesen neuerlichen Gunsterweis 22 500 Pfund. Aber schon sechs Jahre später mussten sie erneut ins Exil. Die Geschichte der Juden in Frankreich und Languedoc endet mit ihrer endgültigen Ausstoßung, die vom gewohnten Nachspiel begleitet wird: der Einziehung aller ihrer Güter. Die Anwendung solcher Methoden ist nicht auf Frankreich beschränkt. 1379 sperrten die österreichischen Fürsten alle Juden ein, die sich in ihrer Abhängigkeit befanden. Diese konnten sich nur befreien, indem sie große Summen zahlten. Dieselben Fürsten benutzten 1387 eine antijüdische Bewegung unter den Bauern, um die Juden um 16 000 Mark zu erleichtern. Die Haltung der Könige und Prinzen den Juden gegenüber scheint also widersprüchlich genug. Aber sie wird letztlich von der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt. Wo die Juden im Wirtschaftsleben unentbehrlich sind, wo die Tauschwirtschaft schwach entwickelt ist, verpflichtet das staatliche Interesse die Könige dazu, die Juden zu beschützen und gegen ihre Feinde zu verteidigen. So tritt z. B. in Polen der königliche Hof immer als stärkster Beschützer der Juden auf. In den entwickelteren Ländern, in denen der Wucher nur noch ein Anachronismus ist, haben die Könige weniger Skrupel, die Juden auszuplündern. Bald stellt die Bourgeoisie, die sich die wirtschaftliche Entwicklung zunutze macht, die einzig wichtige Finanzmacht dar, und die Juden verlieren für die Könige gänzlich an Interesse. Was sind die »jüdischen Bankiers« im Vergleich zu den Fuggern und den Medicis? Ignaz Schipper sagte über die Wichtigkeit jüdischer Bankiers: »Wir haben, was die Bedeutung des jüdischen Kapitals in Italien betrifft, nur zwei wirklich 84
reiche Familien getroffen. Aber was waren sie im Vergleich mit den Magnaten wie den Medicis, die um 1440 eine halbe Million Florin besaßen, oder im Vergleich mit Agostino Schigi, der im Jahre 1440 ungefähr 800 000 Dukaten hinterlassen hat!« [193] Die jüdischen Bankiers verfügten nur über einige Tausend Florin. Selbstverständlich waren die Juden unter diesen Bedingungen für die Könige nicht mehr interessant. Die Ära der großen jüdischen Geldmagnaten, die die königliche Macht gegen innere und äußere Feinde verteidigten, war endgültig zu Ende gegangen. »Die wachsenden Kriegskosten – Kriege werden in dem Maße teurer, in dem Söldner und Flotte an Bedeutung gewinnen – zwingen den Staat und die Prinzen dazu, ihrer Schatzkammer eine neue Geldquelle zu verschaffen. Es gibt nur eine Möglichkeit: sich an den dritten Stand, d. h. die Städte, zu wenden und sie zu bitten, ihre Kassen zu öffnen.« [194] Der wirtschaftliche Abstieg der Juden, durch die »Kapitalisierung« der Wirtschaft herbeigeführt, zieht den Verlust des königlichen Schutzes für die Juden nach sich. Die Könige schließen sich aktiv den Verfolgungen und der Ausplünderung der Juden an. 2. Der Adel und die Juden Im Hochmittelalter waren die Juden unentbehrlich, da sie die Hauptlieferanten orientalischer Produkte waren. Später wurden sie von dem verschwenderischen, nur in den Tag hineinlebenden Adel als eine seinen Launen ständig zur Verfügung stehende Geldreserve gebraucht. Für viele mächtige Feudalherren, besonders für die Könige, war der Jude eine wichtige Einkommensquelle. Solange sich die königliche Autorität dem Adel gegenüber noch nicht entscheidend genug durchgesetzt hatte, brachen häufig Konflikte zwischen Prinzen, Feudalherren und Königen um den Besitz an Juden aus. [195] Im 12. Jahrhundert sprach man viel von einem Prozess zwischen König Philipp August und der Gräfin Blanche um den Juden Kresslin, der die Besitzungen der Gräfin verlassen hatte, um in denen des Königs Zuflucht zu nehmen. Dem Beispiel der Könige folgend hatten auch die Feudalherren die Juden zu ihrem Eigentum erklärt. Wenn ein Feudalherr seine Einkünfte 85
aufzählte, sagte er: »Meine Juden«, wie er von »seinen Ländereien« sprach. Dieses Eigentum brachte ihm in der Tat viel ein. »Graf Thibaud von Champagne war ebenso sehr wie König Philipp von seinem Eigentumsrecht an den Juden, die auf seinen Domänen wohnten, überzeugt. Sie schlossen 1198 eine Übereinkunft, in welcher sie sich gegenseitig versprachen, ihre Juden nicht zurückzuhalten …« [196] Die Praxis der Abmachungen über die Juden dehnt sich im 13. Jahrhundert schnell aus. Anstelle langwieriger Prozesse verpflichten sich Könige und Prinzen, die Juden, die sich auf ihr Gebiet geflüchtet hatten, einander gegenseitig auszuliefern. Ein ähnliches Abkommen aus dem Jahre 1250 bestimmt, dass der König ebenso wie die Prinzen seine Rechte gegenüber den Juden behalte, »die ihrer Stellung nach Sklaven sind (Judaeus tamquam proprius servus)«. »Später erleben wir, wie die Juden quasi wie Waren versteigert werden. Philipp II. kauft von seinem Bruder, dem Grafen von Valois, alle Juden seiner Grafschaft, nachdem er in einem Prozess mit ihm 43 Juden zu seinem Eigentum erklärt hat. Er kauft ihm außerdem einen Juden aus Rouen ab, der ihm alle vier Monate 300 Pfund einbrachte.« [197] »Dem König von Böhmen sowie den anderen Kurfürsten sollen die Rechte an sämtlichen Gold- und Silbergruben und sonstigen Bergwerken zustehen, sie dürfen Juden haben und alle Zölle einnehmen, wie in der Vergangenheit festgesetzt und angesagt.« So drückt sich die goldene Bulle des deutschen Kaisers (Karl IV.) vom Jahre 1356 aus. Bald darauf machen mit zunehmendem Wohlstand die deutschen Städte den Königen und Fürsten das Recht an den Juden streitig. Ganz wie zwischen Königen und Fürsten kommt auch hier ein Übereinkommen mit den Städten zustande, das ihnen einen gewichtigen Anteil an den aus den Juden gezogenen Profiten verschafft. Es versteht sich von selbst, dass alle diejenigen, die auf diese Weise von dem jüdischen Wucherwesen profitierten, die Bekehrung der Juden zum Christentum nicht gerne sahen. Die Religion spiegelt den ökonomischen Unterbau derart präzise wider, dass der Übertritt von Juden zum Christentum automatisch die Aufgabe ihres Berufs zufolge hatte. »Die 86
Versammlungen, die von den Neubekehrten veranstaltet wurden, führten immer, wenn nicht zur Überzeugung der an der Diskussion teilnehmenden Rabbiner, so doch immer zu gewaltsamer Bekehrung einer bestimmten Anzahl von Juden. Es kam sogar so weit, dass die Feudalherren und Bischöfe, die man ihrer Juden und der damit verbundenen Einkünfte beraubt hatte, sich häufig persönlich beim König beschwerten. Im Anschluss an eine von einem konvertierten Juden namens Jehuda Moska veranstaltete Versammlung – eine Versammlung, die zur Bekehrung vieler Juden führte – bat der Bischof von Palencia den König um Hilfe, weil seine Einkünfte beträchtlich schrumpften.« [198] Der englische König Wilhelm II., der so weit ging, den Juden die Pfründe vakanter Bischofsstellen zu verpachten, zwang, um die damit verbundenen Einkünfte nicht zu verlieren, die konvertierten Juden, zum Judentum zurückzukehren. Um die Bekehrung der Juden zu verhindern, verordnete der englische König Heinrich II., dass die Güter der Juden, die sich für das Christentum entschieden hatten, der Krone zufielen, um den entstehenden Gewinnausfall auszugleichen. [199] Hier wird die Naivität unserer idealistischen Historiker deutlich, die sich vorstellen, dass alle Bemühungen der Christenheit auf die Bekehrung der Juden gerichtet waren, und glauben, dass alle Leiden der Juden sich aus dem Widerstand erklärten, den sie diesen Bemühungen entgegenbrachten. Solange ihr wirtschaftlicher Stellenwert die Juden unentbehrlich machte, widersetzte man sich ihrer religiösen Assimilation. Erst als das Judentum wirtschaftlich überflüssig wurde, zwang man sie, sich zu integrieren oder zu verschwinden. Freilich zog nur ein minimaler Teil des Adels Gewinn aus dem jüdischen Wucherwesen. Für die meisten Feudalherren war der Jude die unmittelbare Ursache ihres Ruins. Damit König und Kurfürsten von den Juden profitieren konnten, musste die Mehrzahl der Adeligen unter ihrer Schuldenlast stöhnen. Unter dem Zwang, einen Teil des aus den Bauern gezogenen Mehrwerts an die Juden abzugeben, war es vorauszusehen, dass die Adeligen bei der erstbesten Gelegenheit versuchen würden, das Verlorene zurückzuerlangen. 87
Die Verschuldung des Adels bei den jüdischen Wucherern enthielt im Keime bereits die späteren blutigen Auseinandersetzungen. 1189 kam es in einer Reihe englischer Städte, in London, Lincoln usw., zu Ausschreitungen gegen die Juden. Ein Jahr später fand die Tragödie von York statt. Die bei den Juden von York verschuldeten Ritter griffen unter Führung eines gewissen Richard Malebysse die Juden und das scaccarium judaeorum an. Die im scaccarium aufgefundenen Verträge wurden feierlich verbrannt, und die Juden, die sich auf ein Schloss geflüchtet hatten, wurden belagert. Die Sache endete mit dem kollektiven Selbstmord der belagerten Juden. Das gewohnte Nachspiel blieb nicht aus: Der König zog die Schulden der Toten unter dem Vorwand ein, dass sie seine Kammerknechte seien. Die antijüdischen Massaker in London vom Jahre 1264, bei denen 550 Juden ums Leben kamen, waren ebenfalls von Grundbesitzern, die bei Juden verschuldet waren, organisiert worden. Ebenso ist es mit den antijüdischen Aufständen in anderen Städten. So begann man in Canterbury mit dem Überfall auf das scaccarium judaeorum. In allen Teilen Europas protestierte der Adel auf seinen Versammlungen unentwegt gegen den jüdischen Wucher. Die verschiedenen Forderungen charakterisieren am besten die Stellung der Feudalherren den Juden gegenüber. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts legen die kastilischen Cortes dem König drei Forderungen vor: 1. Die gesetzliche Regulierung der jüdischen Kreditgeschäfte und die Begrenzung des von den Wucherern verlangten Zinsfußes. 2. Verbot des Bodenerbrechts für die Juden. 3. Eine Reform der Finanzverwaltung und Ausschaltung jüdischer Beamter und Haushofmeister. Dies sind die klassischen Forderungen des Adels in allen Ländern Europas. Sie versuchen, den Teil des Mehrwerts zu verringern, den der Adel zwangsweise an die Juden verliert, und zu verhindern, dass Juden in Besitz von Grund und Boden kommen und sich des Staatsapparates bemächtigen. Erst im 14. Jahrhundert erzielte der spanische Adel die ersten Erfolge auf diesem Gebiet. Im Jahre 1328 reduzierte der König Alfons IX. den 88
Zinsfuß auf 25 Prozent und annullierte ein Viertel aller jüdischen Forderungen. 1371 wurden ihre Forderungen erneut herabgesetzt. Die Cortes in Aragon erhoben wiederholt Protest gegen die hohen Zinssätze der Juden, besonders in den Jahren 1235, 1241, 1283, 1292 und 1300. Die portugiesischen Cortes beklagten sich 1361 über den jüdischen Wucher, der sich zu einem immer schwereren Joch auf den Schultern der Bevölkerung entwickele. »Innerhalb der spanischen Adeligen und Patrizier hasste man die Juden wegen ihrer Staatsfunktionen, die sie devot in Abhängigkeit vom königlichen Hof erfüllten. Man hasste sie gleichfalls wegen der Einziehung von Steuern und Gebühren, mit Hilfe derer die jüdischen Geldmagnaten ihr Vermögen unaufhörlich vergrößerten.« [200] Auch in Polen wurden die Forderungen des Adels und der Geistlichkeit nach Maßnahmen gegen den jüdischen Wucher immer dringlicher. Ein geistlicher Kongress vom Jahre 1420 ersucht den König, Schritte gegen den »großen jüdischen Wucher« zu unternehmen. Im Jahre 1423 erlässt Władysław II. Jagiełło das »Statut von Warta«, das den Juden das Hypothekengeschäft verbietet. 1454 begrenzt das »Statut von Nieszawa« die Gültigkeit von jüdischem Guthaben auf drei Jahre. Den Sejms der Adeligen gelingt es auch, den Juden den Zugang zur staatlichen Laufbahn zu verwehren. Der polnische Adel verfolgt die gleichen Ziele wie der spanische: Begrenzung der Zinssätze, Schutz seiner Besitztümer, Ausschaltung der Juden aus staatlichen Berufen. Zu den wirtschaftlichen Gründen der Feindseligkeit des Adels gegen die Juden kommen politische Gründe. »1469 protestierten die Cortes gegen die Zulassung der Juden zur Steuereinziehung und gegen den Schutz, den die Könige ihnen gewähren. Die häufigen Prozesse und die Massaker unterstützten obendrein den Druck, der von dem Adel auf das Königtum ausgeübt wird.« [201] Die Juden waren in der Tat eine zuverlässige Stütze des königlichen Absolutismus, der sich vor allem gegen den Adel richtete. Der Mehrwert, den der Adel ständig an die Juden verlor, trug dazu bei, seine eigenen Ketten zu schmieden. 89
Die kleinen Feudalherren hassten die Juden als Gläubiger, die großen sahen in ihnen eine der wichtigsten finanziellen Quellen der Unabhängigkeit des Königs ihnen selbst gegenüber. Die finanzielle Unterstützung, die die Juden den Königen gewährten, war diesen unentbehrlich im Kampf gegen den Adel und gegen die zunehmenden Ansprüche der Städte. Es sind die Juden, die es den Königen zum ersten Mal ermöglichen, kostspielige Söldnerarmeen zu unterhalten, die von nun an an die Stelle der undisziplinierten Horden der Adeligen treten. Diese Armeen kommen zunächst der Außenpolitik zugute. So ist es in Spanien zum großen Teil die jüdische Hochfinanz, die den Königen hilft, die Araber zu besiegen. »1233 leiht der jüdische Bankier Jehuda Cavallera dem König von Aragon eine bedeutende Summe, die es ihm ermöglicht, eine Flotte gegen die Araber aufzubauen. 1276 macht Cavallera Gelder für eine Armee flüssig, die die Araber bei Valencia bekämpft.« [202] Das Schwerwiegendste jedoch in den Augen des Adels, das die Liste seiner Beschwerden noch vergrößert, ist die Tatsache, dass die Juden den königlichen Hof in seinem Kampf gegen die Feudalherren unterstützen. Wir sprachen von den Brüdern Ravia, die die königliche Armee für die Kämpfe des Königs gegen die aufständischen Adeligen in Katalonien mit Geldern und Waffen ausstatteten. Das konnte der Adel den Juden nicht verzeihen. Die Gebrüder Ravia fielen, wie viele ihrer Nachfolger, einem Attentat zum Opfer. Im Allgemeinen ist der Kampf des Adels gegen die Juden viel weniger radikal, als der der Bourgeoisie. Der verschiedene gesellschaftliche Inhalt beeinflusst Intensität und Formen des Kampfs einer jeden Klasse. Während der Grundbesitzer den Wucherer noch braucht und daher höchstens die Begrenzung seiner Aktivität im Auge hat, empfinden der Bürger und der verbürgerte Adelige ihn mehr und mehr als unerträgliche Fessel. 3. Das Bürgertum und die Juden Das Handelsmonopol der Juden war eines der größten Hindernisse, das die aufsteigende Bourgeoisie zu überwinden hatte. Der Abbau der überragenden kommerziellen Bedeutung der Juden war die Voraussetzung für ihre eigene Entwicklung.
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Es handelte sich nicht um den Kampf zweier nationaler oder religiöser Gruppierungen um die Vormacht im Handelsverkehr, sondern um einen Konflikt zwischen zwei Klassen, die zwei verschiedene Wirtschaftssysteme verkörpern. Die sogenannte nationale Konkurrenz reflektiert hier nur den Übergang der Feudalwirtschaft zur Tauschwirtschaft. Die Juden beherrschten den Handel in einer Epoche, in der »die Großgrundbesitzer Gegenstände von Wert und teuere Luxusgüter gegen große Mengen von Rohprodukten aus ihren Besitzungen einkauften«. [203] Die industrielle Entwicklung Westeuropas setzt ihrem Monopol ein Ende. [204] In ihrem Kampf gegen die Juden wehren sich die einheimischen Kaufleute gegen eine veraltete wirtschaftliche Funktion, die ihnen mehr und mehr als unerträgliche Ausbeutung des Landes durch Fremde erscheint. Die Beziehungen der Kaufmannsklasse zu den Juden verändern sich nach deren Verdrängung aus dem Handel weitgehend. Der jüdische Kredit ist im Wesentlichen ein Konsumkredit. Die Kaufleute wenden sich wegen ihrer Geschäfte nicht mehr an jüdische Banken. Die großen Bankhäuser, wie die der Medicis, der Chigis und der Fugger, entwickeln sich in den Großstädten. Später, als die Tauschwirtschaft auch noch das Land erobert, werden die jüdischen Wucherer vom überwältigenden Einfluss der christlichen Banken zurückgedrängt. Der Wucherer weicht dem Kapitalisten, wie der vorkapitalistische Handel der Tauschwirtschaft weicht. Dadurch verändert sich die Stellung der Großhändler den Juden gegenüber; denn diese sind nach ihrem wirtschaftlichen Abstieg nur noch kleine Wucherer, die mit Handwerkern und Krämern Geschäfte machen. Der Jude erscheint zu dieser Zeit nicht mehr als Konkurrent des reichen Händlers oder Bankiers, dient ihm jedoch als Profitquelle und als Mittel, die ärmeren Klassen zu schwächen, mit denen er im ständigen Kampf liegt. Die Großhändler machen nun die Juden den Königen und Feudalherren streitig. Vor allem in Deutschland gingen die Städte zum Großangriff auf die Profite über, die die Fürsten aus dem »Judenregal« [Judensteuer] zogen. Das »Judenregal« löst sich von der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an mehr und mehr auf. Die zu dieser Zeit bereits blühenden deutschen 91
Städte verlangen ebenfalls ihren Anteil. Ihr hartnäckiger Kampf gegen die Feudalherren hatte ihnen eine ganze Reihe von Vorteilen, wie z. B. unabhängige Gerichte und das Selbstverwaltungsrecht verschafft. Sie wenden nun ihre Aufmerksamkeit dem »Judenregal« zu und bemühen sich, es den Fürsten und dem Kaiser zu entreißen. Der Erzbischof von Köln gesteht der Stadt 1252 ein Drittel der jüdischen Steuern zu. Der Bischof von Worms erlaubt 1293 dem Stadtrat, Juden aufzunehmen und mit Steuern zu belegen. [205] »So verpfändete am 7. März 1456 Bischof Burchard die Juden Halberstadts auf drei Jahre dem Rat der Stadt.« [206] Das »Judenregal« wird erobert: von Mainz im Jahre 1259, von Regensburg Ende des 13. Jahrhunderts, von Nürnberg 1315, von Speyer 1315, von Zürich 1335, von Frankfurt 1337, von Straßburg 1338 usw. Der Kampf dieser drei Mächte, des Adels, des Kaisers und der Städte endet mit einem Kompromiss, den die Juden teuer bezahlen müssen. Sie zahlen: a) an den Kaiser: 1. Die normale Steuer (im Jahr 1240 entfiel ein Fünftel hiervon auf die Juden) 2. Jeder Jude und jede Jüdin, die mehr als 20 Gulden besitzen, müssen einen Goldpfennig bezahlen. b) an den Adel: 1. die Jahressteuer 2. die Sondersteuer c) an die Städte: Die Sondersteuer, deren Höhe für jeden Juden beim Empfang des »Bürgerbriefes« bestimmt wurde. Zahlreiche Steuern und Sonderbelastungen kamen noch hinzu. Ähnliche Mittel, wie wir sie bereits in anderen europäischen Ländern vorgefunden haben, werden angewendet, um aus den Juden ein Maximum an Geld herauszuziehen. Volks- und Bauernaufstände waren ebenfalls eine einmalige Gelegenheit, sich die den Juden gewährte Protektion teuer bezahlen zu lassen. Die zunehmende Bedeutung der Städte vergrößerte auch ihre Macht über die Juden. »Nach einer kaiserlichen Ermächtigung für die Stadt Speyer 92
vom Jahre 1352 gehören die Juden, die bei uns wohnen, ausschließlich uns und zwar mit Leib und Gut.« Eine Vereinbarung vom Jahre 1352 bestimmte, dass die Stadt Frankfurt an den Kaiser die Hälfte der Profite abgeben müsse, die ihr die Juden einbrachten. In Nürnberg betrug der Anteil des Kaisers zwei Drittel. Der Klassenkampf, der sich an der Teilung der aus den Juden gezogenen Profite entfacht, richtet sich oft gegen diese selbst. »Der Bischof von Köln«, heißt es in einer Chronik dieser Stadt, »wollte das ›Judenregal‹ für immer.« Deshalb wurden die Juden für immer aus dieser Stadt verjagt. Die Juden des Kaisers wurden von den Fürsten schlecht behandelt, die der Fürsten von den Bürgern. 4. Das Verhältnis der Juden zu Handwerkern und Bauern In dem Maße, wie der Wucher zur Hauptbeschäftigung der Juden wurde, knüpften sie mehr und mehr Beziehungen mit den Volksmassen an, und diese Beziehungen verschlechterten sich unaufhörlich. [207] Nicht Luxusbedürfnisse veranlassten den Bauern oder den Handwerker, beim jüdischen Wucherer Anleihen zu nehmen, sondern größtes Elend. Er verpfändete seine Arbeitsinstrumente, die ihm oft unentbehrlich waren, um seinen Lebensunterhalt zu sichern. Man kann sich den Hass des einfachen Mannes gegen den Juden vorstellen, in dem er den unmittelbaren Grund für seinen Untergang sah, ohne dahinter den Kaiser, den Fürsten oder den reichen Bürger zu erkennen, die sich an dem jüdischen Wucherer bereicherten. Am krassesten manifestiert sich dieser Hass in Deutschland im 14. und 15. Jahrhundert, wo der jüdische Wucher seine »populärste« Form annahm, ein Hass, der zu Judenmassakern und »Judenbränden« führte. »Viele Judenverfolgungen im späteren Mittelalter, wobei es vornehmlich auf Vernichtung ihrer Schuldbriefe ankam, sind als Kreditkrisen barbarischster Art aufzufassen, als eine mittelalterliche Form dessen, was heutzutage soziale Revolution genannt wird.« [208] Die ersten Aufstände größeren Ausmaßes gegen die Juden fanden 1336 und 1338 statt. Sie wurden gelenkt von dem Gastwirt Zimberlin, dem »König der Armen«. Sie gingen vom Elsass aus und erstreckten sich bis Bayern, Österreich und Böhmen. Vor allem in den Jahren des »schwarzen 93
Todes« zwischen 1348 und 1350 gesellt sich zum Hass der Fanatismus und richtet schreckliche Zerstörung an. »In Straßburg predigten die Zünfte die Vernichtung der Juden. Aber der Stadtrat, in dem eine Mehrheit von Patriziern sitzt, die großen Gewinn aus dem Wuchergeschäft ziehen, verwehrt seine Zustimmung. Bürger wie Conrad von Winterburg, der reiche Sturm und der reiche Handwerker Schwarber sprechen zugunsten der Juden. Jedoch geben die Zünfte ihre antijüdischen Forderungen nicht auf. Schließlich beauftragt man einen Kongress mit der Frage, der 1343 mit Repräsentanten der Kirche, des Adels und der Stadt stattfinden sollte. Die Forderungen der Zünfte werden unterstützt von der Kirche und von den Rittern, die sich von ihren Schulden befreien wollen.« [209] Daraufhin werden die Juden für vogelfrei erklärt, »und die Judenbrände verbreiten sich im ganzen Elsass«. In Mainz und Köln versuchten die Patrizier, die Juden zu beschützen, aber diese Versuche wurden von dem aufgebrachten Volk vereitelt. Eine Stadtchronik von Augsburg beschreibt folgendes: »Im Jahre 1348 brachten die Bürger von Nördlingen die Juden um und eigneten sich ihre Güter an. Die Schuldner der Juden, darunter der Graf von Öttingen, wurden von ihren Schulden befreit. Man gab dem Grafen seine Pfänder und Verträge zurück. Dies alles unternahm die Masse gegen den Willen des Stadtrates.« Bauernrevolten begleiteten die Judenmassaker. »1431 marschierten die Bauern von der Pfalz gegen Worms und verlangten vom Stadtrat, ihnen die Juden auszuliefern, ›da sie die Bauern ruiniert und ihres letzten Hemdes beraubt hätten‹. Der Stadtrat widersetzte sich diesen Forderungen in Anbetracht der Tatsache, dass gerade ihm der jüdische Wucher den meisten Gewinn einbrachte. Die Feudalherren traten in Unterhandlungen mit ihm ein, um den Verzicht auf die zu Lasten der Bauern erhobenen Zinsen zu erwirken.« Die antijüdischen Aufstände in Katalonien und auf den Balearen haben denselben Charakter. Die Bauern, die dort in großer Armut leben, sind bei den Juden infolge ungeheurer Steuerlasten stark verschuldet. Sie revoltieren, um sich von ihren Schulden zu befreien. Sie verbrennen die Gerichtsarchive. Anmerkungen: 94
[158] »Auf der Besitzung muss es alles geben, was zum Leben nötig ist. Sie darf so weit wie möglich nichts kaufen und nichts austauschen. Sie ist eine kleine Welt für sich und muss sich selbst versorgen.« Fustel de Coulanges, Histoire des institutions politiques de l’ancienne France, Bd. IV, Paris 1914, S. 45. [159] Pirenne, Les anciennes démocraties des Pays-Bas, ebd., S. 114–115. »… Kupfer aus Dinant und flandrische … Tücher scheinen dank ihres wohlverdienten Rufes den engen Umkreis des städtischen Markts überschritten zu haben …« Maurice Ansiaux, Traité d’Économie politique, Bd. I, Paris 1920, S. 267. [160] Depping, Histoire du commerce entre le Levant et l’Europe, Bd. I, ebd., S. 182. [161] »Unter den Tuchmachern, die manchmal für weitentfernte Märkte arbeiten, sieht man, wie sich Händler von der Masse der Handwerker unterscheiden: Sie sind Tuchhändler.« Henri Sée, Esquisse d’une histoire économique et sociale de la France, ebd., S. 102. [162] Depping, ebd., S. 184–185. [163] Pirenne, Histoire de l’Europe, ebd., S. 167. [164] Max Weber, Wirtschaftsgeschichte, München/Leipzig 1923, S. 142 f. [165] Wilhelm Roscher schreibt: »Man könnte sagen, die Judenpolitik verhält sich im Mittelalter fast umgekehrt, wie die sonstige wirtschaftliche Kultur.« Roscher, »Die Juden im Mittelalter«, ebd., S. 324. [166] Roscher, ebd., S. 333. – »Das Gesetz, dass die selbstständige Entwicklung des Kaufmannskapitals im umgekehrten Verhältnis steht zum Entwicklungsgrad der kapitalistischen Produktion, erscheint am meisten in der Geschichte des Zwischenhandels (carrying trade), wie bei Venezianern, Genuesern, Holländern etc., wo also der Hauptgewinn gemacht wird nicht durch Ausfuhr der eignen Landesprodukte, sondern durch Vermittlung des Austausches der Produkte kommerziell und sonst ökonomisch unentwickelter Gemeinwesen und durch Exploitation beider Produktionsländer.« Karl Marx, Das Kapital, Bd. III, ebd., S. 341. [167] Aloys Schulte stellt in seiner Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Italien mit Ausschluss von Venedig, Leipzig 1900, S. 152– 153, die Behauptung auf, »dass der Jude zum Handwerk nicht in das Verhältnis getreten war, das der christliche Kaufmann hatte«. Deshalb hätten die Juden ihre Handelsposition verloren und seien auf den Kredit beschränkt worden. Diese Bemerkung ist sehr interessant. Sie zeigt den Kern des Problems: Die Verbindung des christlichen Handels mit der Industrie und das Fehlen dieser Verbindung beim jüdischen Handel. [168] In einer Studie über die Juden in einer deutschen Stadt (Halberstadt) sagt Max Köhler, dass vom 13. Jahrhundert an »der Haupterwerbszweig der Juden in Halberstadt der Geldhandel gewesen zu sein« scheint. Max Köhler, Beiträge zur neueren jüdischen Wirtschaftsgeschichte. Die Juden in Halberstadt und Umgebung bis zur
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Emanzipation, Berlin 1927, S. 2. – Heinrich Cunow sagt: »Trotz der Tatsache, dass die Erwerbsverhältnisse des Ritteradels sich immer ungünstiger gestalteten, nahmen im 14. Jahrhundert seine Waffenspiele, Zechgelage, höfischen Feste und prächtigen Turniere … überhand. Selbst die ärmeren Ritter hielten sich für verpflichtet mitzumachen, und da ihnen die dazu erforderlichen Geldmittel fehlten, (…) borgten (sie) bei städtischen Juden, die damals vornehmlich das Geldverleihen (…) betrieben.« Cunow, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, Bd. III, Berlin 1929, S. 45. [169] Das Beispiel Polens beweist noch einmal die Naivität des gewohnten Schemas der jüdischen Historiker, die behaupten, dass die Spezialisierung der Juden auf Handel und Wucher auf die Verfolgung zurückzuführen sei. Wer hatte denn den polnischen Juden verboten, Landwirte und Handwerker zu werden? Schon lange bevor die polnischen Städte anfingen, gegen die Juden zu kämpfen, lagen Handel und Bank in deren Händen. [170] Diese falsche Auffassung der jüdischen Historiker findet ihre Ergänzung in der Behauptung, dass die Juden ihren »landwirtschaftlichen Beruf« aufgrund gesetzlicher Verbote aufgeben mussten. – »Nicht anders steht es mit der Behauptung, den Juden sei verwehrt worden, Grundbesitz zu erwerben. Wo wir in den mittelalterlichen Städten ansässige geschäftstreibende Juden finden, finden wir sie auch im Besitz eigener Häuser. Und auch in der Stadtmark besaßen sie nicht selten größere Grundstücke. Freilich eigentlichen Kornbau auf weitausgedehnten Feldflächen scheinen sie nirgends getrieben zu haben. Wo ein derartiges Grundstück als Pfand für ausgeliehene Geldsummen in ihren Besitz gelangte, suchten sie es bald wieder zu veräußern. Doch nicht deshalb, weil sie es nicht behalten durften, sondern weil sie zum eigentlichen landwirtschaftlichen Betrieb wenig Lust hatten. Dagegen finden wir in den Stadtregistern durchaus nicht selten Juden als Besitzer von Wein- und Gemüsegärten, Flachsfeldern usw. genannt, vornehmlich also solcher Landflächen, deren Produkte sich leicht im Handel verwerten ließen.« Cunow, ebd., S. 112. [171] Schipper, Jidiše Gešichte. – »Die Juden formten eine gesellschaftliche Klasse, die infolge ihrer in Industrie, Handel und Bankgeschäften erworbenen Reichtümer sehr große Macht erlangt hatte.« Rafael Ballester, Histoire d’Espagne, Paris 1938, S. 154. [172] »Der tugendhafte Brutus verlieh, wie wir aus Ciceros Briefen erfahren, in Cypern Geld zu 48 Prozent.« Adam Smith, Eine Untersuchung über Wesen und Ursachen des Volkswohlstandes, Bd. I, 1. Buch, Gießen 1973, S. 123. [173] Brentano, Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, ebd., S. 366. [174] Cunow, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, Bd. III, ebd., S. 110, 112–113. [175] Wenn auch der Glaube, die feudale Gesellschaft habe in ihrem Bestreben, dass »jeder an seinem Platz bleibe«, die »jüdischen Landwirte« in Händler verwandelt, kindisch ist, so spielten doch offensichtlich die gesetzlichen Verbote – selbst Ausfluss der wirtschaftlichen Bedingungen – eine wichtige Rolle bei der Beschränkung der Juden auf den Handel, besonders in den Perioden, wo die Lage der Juden durch ökonomische
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Veränderungen verunsichert wurde. So war beispielsweise Friedrich der Große dagegen, dass die Juden manuelle Tätigkeiten ausübten. Er wollte, dass »jeder bei seinem Beruf bleibe; dass man den Juden bei der Ausübung des Handels helfe, dass man jedoch die anderen Berufe den Christen überlasse«. [176] Marx, Das Kapital, Bd. III, ebd., S. 608. [177] Ebd., S. 608–609. [178] Ebd., S. 607. Marx zitiert am Schluss der angeführten Passage Marie Augier, Du crédit public et de son histoire depuis les temps anciens jusqu’à nos jours, Paris 1842, S. 206. – »Zu gleicher Zeit entwickelte der berühmte Theologe Medina eine Theorie, die man übrigens auch bei Thomas von Aquin findet, wonach das Spiel von Angebot und Nachfrage die natürliche Art zur Bestimmung des richtigen Preises sei. Der ›Trinus Contractus‹, dieses Wunderwerk einer juristischen Analyse, rechtfertigte die Einziehung von Zinsen beim Kreditgeschäft, was zur Folge hatte, dass Geld wirklich wie Kapital verwendet wurde. Dieser ›Contractus‹ wurde von den italienischen und spanischen Kanonisten anerkannt, die aufgeklärter waren bzw., besser gesagt, sich in einem gesellschaftlich fortgeschritteneren Milieu befanden als ihre französischen Kollegen.« Jannet, Les grandes époques de l’histoire économique jusqu‘à la fin du XVIe siècle, ebd., S. 284. [179] Henri Pirenne, Histoire de Belgique, Brüssel 1900–1932. [180] Depping, Die Juden im Mittelalter, ebd., S. 116. [181] Pirenne, Les villes du Moyen Age, ebd. [182] Depping, ebd., S. 302. [183] »›Unter den Schuldnern der Frankfurter Juden sehen wir einen großen Teil des Adels der Wetterau …, der Pfalz, des Odenwaldes und der Bergstraße vertreten, außerdem den Erzbischof von Mainz … Besonders stark verschuldet ist der Adel, und es gab damals auf zehn Stunden im Umkreis wohl wenige Ritter …, von welchen nicht Schuldbriefe oder Pfänder im Frankfurter Judenquartier zu finden gewesen wären …‹ Auch einige ›christliche Bürger Frankfurts und der benachbarten Städte‹ hatten, wie es im Bericht des Rats heißt, ›Judenschulden‹ gemacht; aber doch nur in wenigen Fällen; die meisten der 279 Schuldensachen, die der Rat untersuchte, betrafen den Ritteradel.« Cunow, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, ebd., Bd. III, S. 46–47. Cunow zitiert hier Karl Bücher, Die Bevölkerung von Frankfurt a. M. im 14. und 15. Jahrhundert, Tübingen 1886, S. 577 ff. [184] Marx, Das Kapital, Bd. III, ebd., S. 623, 610, 611. [185] Pirenne, Histoire de l’Europe, ebd., S. 175. [186] Pirenne, ebd., S. 386. [187] Marx, Das Kapital, Bd. III, ebd., S. 805. – »Diese Verwandlung von Gewohnheitsrechten in finanzielle Vergütungen entspricht dem Anwachsen des
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beweglichen Vermögens … Das Geld wird das einfachste Erkennungszeichen für den Reichtum, und für die Bemessung der aus dem Grundbesitz gezogenen Einkommen wird es den Naturalgütern vorgezogen. Eine ähnliche Entwicklung findet man in anderen Ländern, besonders in England, wo sie noch ausgeprägter ist …« Henri Sée, Esquisse d’une histoire économique et sociale de la France, ebd., S. 61–62. [188] Im Gegensatz zu einer sehr verbreiteten Meinung ist das Ghetto eine eher neue Einrichtung. Erst im Jahre 1462 werden die Juden in Frankreich in einem Ghetto eingeschlossen. »Von dieser harten Beschränkung [auf Ghettos] war im Mittelalter keine Rede. Im Gegenteil, die Juden konnten damals ihre Wohnungen nach Belieben wählen und jederzeit in der ganzen Stadt umhergehen.« Georg Ludwig Kriegk, Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter, Frankfurt 1862, S. 441, zitiert von: Cunow, Allgemeine Wirtschaftsgeschichte, ebd., Bd. III, S. 110. – Man darf die Judenviertel nicht mit Ghettos verwechseln. Die Judenviertel waren zu verschiedenen Epochen der jüdischen Geschichte bekannt, die Ghettos stammen aus der Periode, des »kleinen jüdischen Wucherers«. So bildet in Polen das Ghetto eine Ausnahme und nicht die Regel. Das hat aber die hitlersche Barbarei nicht gehindert, die polnischen Juden in die Ghettos »zurückzuschicken«. [189] Das Prinzip der Toleranz von einem der rückständigsten Länder Europas im Mittelalter propagiert! Muss das nicht verwirrend sein für die idealistischen Historiker, die das jüdische Problem einzig und allein durch das Prisma der religiösen Verfolgungen sehen? [190] Auf Deutsch im französischen Text. [191] »Bei Völkern, die wenig mit Handel und Manufaktur vertraut sind, kann der Landesherr aus Gründen, die später dargelegt werden sollen, nur selten eine nennenswerte Hilfe von seinen Untertanen bekommen. Daher sucht er in solchen Ländern gewöhnlich als einzige Zuflucht gegen solche Vorkommnisse einen Schatz zu sammeln.« Adam Smith, ebd., Bd. II, 4. Buch, S. 30 f. – Die Juden als servi camerae haben die Funktion, diese Schatzkammer zu füllen. [192] Eine deutsche Interpretation dieser Lage entbehrt nicht einer gewissen Würze: »Aus Dankbarkeit für Flavius Josephus, der seinen Sohn geheilt hatte, entschloss sich Kaiser Vespasian, die Juden zu beschützen. Titus nahm nach der Zerstörung des zweiten Tempels viele Juden auf, die er zu Sklaven machte. Seit dieser Zeit sind die Juden Sklaven des Staates, und als solche müssen sie auch vom deutschen Staat betrachtet werden; denn die germanischen Könige sind die Nachfolger der mächtigen Kaiser des römischen Reiches.« [193] Schipper, Jidiše Gešichte, ebd. [194] Pirenne, Histoire de l’Europe, ebd., S. 301. [195] »Es war so einträglich und leicht, die Juden auszubeuten, dass jeder Fürst versuchte, soviel Juden wie möglich zu haben. Es gab die Juden des Königs und die der
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Feudalherrn. Philipp der Schöne kaufte von seinem Bruder 1299 für 20 000 Pfund alle Juden der Grafschaft von Valois.« d’Avenel, Histoire économique, ebd., S. 111. [196] Depping, Die Juden im Mittelalter, ebd., S. 146. [197] Bédarride, Les Juifs en France, en Italie et en Espagne, ebd., S. 222. [198] Ebd., S. 207. [199] Brentano, Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, ebd., S. 369: Es wurde bestimmt, »dass das Vermögen des Juden, der den Glauben seiner Väter verlasse, der Krone zufalle als Entschädigung für den Verlust all’ der Einnahmen, welche der Jude, falls er Jude geblieben wäre, ihr gebracht haben würde.« – Vgl. ebenfalls: Montesquieu, L’Esprit des lois, Buch XXI, Kap. 20. [200] Schipper, Jidiše Gešichte, ebd. [201] Manchmal gingen die Juden auch zum Angriff über. 1376 stellte der Bankier Jekl Söldnertruppen auf gegen seine adeligen Schuldner, die die Zahlung ihrer Schulden verweigerten. Sein Sohn stellte Söldner ein, um Nürnberg anzugreifen, weil der Rat der Stadt seine Häuser konfisziert hatte. [202] Schipper, Jidiše Gešichte, ebd. [203] »Indem die Einwohner der Handelsstädte die feinen Manufakturwaren und kostspieligen Luxusartikel reicherer Länder einführten, nährten sie nicht wenig die Eitelkeit der großen Landeigentümer, die jene mit reichlichen Mengen der Rohprodukte ihrer eigenen Ländereien leicht einkauften. So kam es, dass der Handel eines großen Teils von Europa damals vornehmlich in dem Austausch seiner eigenen Rohprodukte gegen die Manufakturerzeugnisse zivilisierter Völker bestand.« Adam Smith, ebd., Bd. 1, 3. Buch, S. 175. [204] »Solange es noch hauptsächlich Rohstoffe waren, die aus England ausgeführt wurden, hat sich sein Außenhandel in den Händen fremder Kaufleute und der Stapelkaufleute befunden … Das hat sich in dem Maße geändert, als die Engländer dazu übergingen, ihre Rohstoffe, namentlich ihre Wolle, selbst zu bearbeiten. Nun traten Kaufleute auf, die fremde Märkte aufsuchten, um die Manufakte abzusetzen, die ›unternehmenden Kaufleute‹.« Brentano, Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, ebd., Bd. II, S. 139. [205] Schipper, Jidiše Gešichte, ebd. [206] Köhler, Die Juden in Halberstadt, ebd., S. 3. [207] »Der Wucher zentralisiert Geldvermögen, wo die Produktionsmittel zersplittert sind. Er ändert die Produktionsweise nicht, sondern saugt sich an sie als Parasit fest und macht sie miserabel. Er saugt sie aus, entnervt sie und zwingt die Reproduktion, unter immer erbärmlicheren Bedingungen vorzugehen. Daher der populäre Hass gegen den Wucher …« Marx, Das Kapital, Bd. III, ebd., S. 610. [208] Roscher, »Die Juden im Mittelalter«, ebd., S. 339.
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[209] Die Haltung des Adels erklärt sich wahrscheinlich dadurch, dass es dem reichen Bürgertum gelungen war, das »Judenregal« an sich zu reißen und deshalb die Interessen der Ritter mit denen der Volksmassen gegen die Patrizier übereinstimmen.
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IV. Die Juden in West- und Osteuropa 1. Die Juden in Westeuropa nach der Renaissance. Die These Sombarts Nach der Entdeckung der Neuen Welt und dem daraus resultierenden kolossalen Austausch schlug der alten ständischen Feudalwelt die Todesstunde. Der Handel erreichte ein höheres Stadium und zerstörte die letzten Reste vergangener Zeiten. Er bereitete den Boden für den industriellen Kapitalismus, indem er die Entwicklung der Manufakturen und der landwirtschaftlichen Industrie vorantrieb. Die alten Zentren des Zunfthandwerks und der mittelalterliche Handel zerfielen. An ihre Stelle trat Antwerpen, es wurde für begrenzte Zeit das wirtschaftliche Zentrum der damaligen Welt. Überall – wenn auch zu verschiedenen Epochen und in unterschiedlichen Formen – wurde der Abstieg der Naturalwirtschaft von dem Zerfall der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Stellung der Juden begleitet. Ein großer Teil der Juden war gezwungen, Westeuropa zu verlassen, um Zuflucht in den Ländern zu suchen, in denen der Kapitalismus noch nicht Fuß gefasst hatte, vor allem in Osteuropa und in der Türkei. Ein anderer Teil hat sich integriert und mit der christlichen Bevölkerung vermischt. Diese Assimilation war nicht immer leicht. Die religiösen Traditionen haben die ihnen entsprechende gesellschaftliche Situation lange überlebt. Durch Jahrhunderte hindurch hat die Inquisition erbittert und brutal die jüdischen Traditionen bekämpft, die sich unter den Bekehrten fortsetzen. Die Juden, denen es gelang, in die neue Handelsklasse aufgenommen zu werden, erwarben ein bestimmtes Ansehen unter dem Namen »neue Christen«, vor allem in Amerika und auch in Bordeaux und Antwerpen. Noch in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts befanden sich in Brasilien alle großen Zuckerplantagen in den Händen von Juden. Durch eine Verordnung vom 2. März 1768 wurden alle Register, die die »neuen Christen« betrafen, vernichtet. Das Gesetz vom 24. März 1773 stellte die »neuen Christen« den alten Christen rechtlich gleich. 1730 besaßen die Juden in Surinam 115 von den vorhandenen 344 Plantagen. Aber im Gegensatz zu früher unterschied sich die wirtschaftliche 101
Tätigkeit der Juden in nichts von der der Christen. Der »neue« christliche Händler war kaum anders als der alte christliche Händler. Ebenso war es mit den jüdischen Plantagenbesitzern. Dies ist auch der Grund, warum die juristischen, religiösen und politischen Unterschiede schnell verschwanden. Im 19. Jahrhundert gab es nur noch eine Handvoll Juden in Südamerika. [210] In Frankreich und England erfolgte die Assimilation der Juden ebenso schnell. Die reichen jüdischen Kaufleute von Bordeaux, von denen man sagte, »dass sie ganze Straßen besaßen und einen beträchtlichen Handel betrieben«, betrachteten sich als völlig in die christliche Bevölkerung integriert. »Diejenigen, die die portugiesischen Juden in Frankreich, Holland und England kennen, wissen, dass sie weit davon entfernt sind, einen unüberwindlichen Hass gegen alle Völker zu empfinden, die sie tolerieren, wie Herr de Voltaire sagt. Vielmehr identifizieren sie sich derart mit diesen Völkern, dass sie sich für einen Teil derselben halten. Ihr portugiesischer und spanischer Ursprung ist zu einer reinen Kategorie kirchlicher Zugehörigkeit geworden …« [211] Die im Westen integrierten Juden erkennen keinerlei Verwandtschaft mit den Juden an, die noch unter feudalen Lebensbedingungen leben. »Ein Jude aus London gleicht ebenso wenig einem Juden aus Konstantinopel, wie dieser einem chinesischen Mandarin. Ein Jude aus Bordeaux und ein deutscher Jude aus Metz erscheinen völlig verschieden.« »Herr Voltaire kann nicht verkennen, mit wieviel Sorgfalt die portugiesischen und spanischen Juden es vermeiden, sich durch Heirat oder Verbindungen anderer Art mit den Juden anderer Nationen zu vermischen.« [212] Neben den spanischen, französischen, holländischen und englischen Juden, deren vollständige Assimilierung langsam, aber sicher vorangeht, findet man in Osteuropa, hauptsächlich in Italien und Deutschland, noch Juden, die in Ghettos leben und die vor allem die Rolle von kleinen Wucherern und Hausierern spielen. Dies ist ein jämmerlicher Überrest der alten jüdischen Kaufmannsklasse. Sie werden erniedrigt, verfolgt und zahllosen Einschränkungen unterworfen. Sombart stützt seine berühmte These in seinem Buch »Die Juden und das Wirtschaftsleben« hauptsächlich auf die außerordentlich bedeutende 102
ökonomische Rolle, die die erste Kategorie von Juden innehatte. Er fasst dies folgendermaßen zusammen, dass »in der Tat die Juden es waren, die an entscheidenden Punkten den wirtschaftlichen Aufschwung dort förderten, wo sie erschienen, den Niedergang dort herbeiführten, von wo sie sich wegwandten … Begründer des modernen Kapitalismus … Kein moderner Kapitalismus, keine moderne Kultur ohne die Versprengung der Juden über die nördlichen Länder des Erdballs … Wie die Sonne geht Israel über Europa: wo es hinkommt, sprießt neues Leben empor; von wo es wegzieht, da modert alles, was bisher geblüht hatte.« [213] So präsentiert – wie man sieht, sehr poetisch – Sombart seine These. Als Beweis führt er folgendes an: 1. »Das große welthistorische Ereignis, dessen hier zuerst und vor allem zu gedenken wäre, ist die Vertreibung der Juden aus Spanien und Portugal (1492 bzw. 1495 und 1497). Es sollte niemals vergessen werden, dass am Tage, ehe Columbus aus Palos absegelte, um Amerika zu entdecken (3. August 1492), wie man sagt, 300 000 Juden aus Spanien … auswanderten.« [214] 2. Im 15. Jahrhundert seien die Juden aus den wichtigsten Handelsstädten Deutschlands vertrieben worden: aus »Köln (1424/1425), Augsburg (1439/1440), Straßburg (1438), Erfurt (1458), Nürnberg (1498/1499), Ulm (1499), Regensburg (1519)«. Im 16. Jahrhundert habe sie dasselbe Schicksal in vielen italienischen Städten getroffen. Sie seien 1492 aus Sizilien vertrieben worden, 1540/1541 aus Neapel und 1550 aus Genua und Venedig. Auch hier falle der wirtschaftliche Abstieg dieser Städte mit dem Weggang der Juden zusammen. 3. Die wirtschaftliche Entwicklung Hollands gegen Ende des 16. Jahrhunderts sei durch den Aufschwung des Kapitalismus bestimmt worden. Die ersten portugiesischen »Marranos« hätten sich in Amsterdam im Jahr 1593 niedergelassen. 4. Die kurze Blütezeit von Antwerpen als Zentrum des Welthandels und als internationale Börse falle genau mit der Zeit zwischen Ankunft und Abwanderung der Marranos zusammen. Diese Hauptbeweise für die These Sombarts lassen sich leicht genug widerlegen: 103
1. Es ist absurd, in der Gleichzeitigkeit des Aufbruchs von Christoph Columbus (»um Amerika zu entdecken«) und der Vertreibung der Juden aus Spanien einen Beweis für den Niedergang der Länder zu sehen, die die Juden verlassen hatten. »Nun geraten Spanien und Portugal im Verlauf des 16. Jahrhunderts unter Karl V. und Manuel dem Großen [Emanuel I. von Portugal] aber nicht in Verfall, sondern erreichen den Höhepunkt in ihrer Geschichte. Selbst noch zu Anfang der Regierung Philipps II. ist Spanien die erste Macht in Europa, und unermesslich sind die ihm aus Mexiko und Peru zuströmenden Reichtümer.« [215] Die erste These Sombarts ist ganz offensichtlich unrichtig. 2. Übrigens tragen auch die von Sombart angeführten Zahlen über die Verteilung der jüdischen Flüchtlinge aus Spanien dazu bei, seine These zu falsifizieren. Nach ihm sind von 165 000 Vertriebenen 122 000, also 72 Prozent, in die Türkei und die muselmanischen Länder ausgewandert. Dort hätte der »kapitalistische Geist« der Juden ja dann weitreichende Folgen zeitigen müssen. Muss man jedoch noch anführen, dass die Türkei – selbst, wenn man von einer Art wirtschaftlichem Aufschwung des türkischen Reichs unter Suleiman dem Großen sprechen will – bis in jüngste Zeiten hinein vom Kapitalismus kaum berührt wurde, sich die jüdischen »Sonnenstrahlen« hier also als sehr wenig »belebend« erwiesen? Es ist zutreffend, dass sich eine beträchtliche Anzahl Juden (nämlich 25 000) in Holland, Hamburg und England niedergelassen haben. Kann man jedoch zugeben, dass ein und dieselbe Ursache diametral entgegengesetzte Folgen gezeitigt hätte? 3. Die Kongruenz, die Sombart zwischen dem wirtschaftlichen Abstieg der deutschen Städte und der Vertreibung der Juden feststellt, erklärt sich leicht mit einer Umkehrung der Kausalbeziehung. Der Ruin dieser Städte wurde nicht durch die gegen die Juden ergriffenen Maßnahmen hervorgerufen; solche Maßnahmen waren vielmehr die Folge des Abstiegs dieser Städte. Andererseits war der Wohlstand anderer Städte nicht das Ergebnis der jüdischen Einwanderung, aber die Juden lassen sich natürlich in den reichen Städten nieder. »Augenscheinlich ist das Kausalverhältnis das umgekehrte des von Sombart behaupteten.« [216]
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Die Untersuchung der wirtschaftlichen Rolle der Juden in Deutschland und Italien Ende des 15. und im 16. Jahrhundert führt zum selben Ergebnis. Es ist klar, dass die Pfandleihen, die Geschäfte der jüdischen Wucherer, so lange erträglich waren, wie die wirtschaftliche Lage der Städte vergleichsweise gut war. Jede Verschlimmerung der Lage machte die Last des Wuchers unerträglicher, und der Zorn der Bevölkerung richtete sich dann in erster Linie gegen die Juden. 4. Das Beispiel Hollands widerlegt zwar die These Sombarts nicht, bestätigt sie andererseits aber auch nicht. Selbst wenn man zugesteht, dass der Wohlstand Hollands durch die Ankunft der Marranos gefördert wurde, so beweist dies doch nicht, dass ihre Ankunft diesen Wohlstand kausal bedingte. Und wie sollte man – von diesem Kriterium ausgehend – den Abstieg Hollands im 18. Jahrhundert erklären? Es sieht übrigens so aus, als ob man die wirtschaftliche Rolle der Juden in Holland übertrieben hätte. Bezüglich der holländischen Ostindischen Kompanie, die entscheidend zum Reichtum Hollands beigetragen hat, sagt André-E. Sayous: »Die Juden haben jedenfalls keinerlei Rolle gespielt bei dem Aufbau der ersten modernen Aktiengesellschaft: der holländischen Ostindischen Kompanie. Ihr Anteil am Gesellschaftskapital betrug kaum ein Prozent, und sie haben auch in den folgenden Jahren kaum wesentlich zu deren Aktivität beigetragen.« Soll man noch weitergehen und darlegen, dass die wirtschaftlich bedeutsame Entwicklung Englands genau in die Zeit nach der Vertreibung der Juden fällt? »Wäre das Kausalverhältnis das von Sombart behauptete, wie ließe es sich erklären, warum in Russland und Polen, obwohl dort ›das südliche Wüstenvolk‹ am zahlreichsten vertreten ist, aus seiner Einwirkung … eine wirtschaftliche Blüte so gar nicht hervorgegangen ist!« [217] Die Theorie Sombarts ist also völlig falsch. [218] Sombart gibt vor, die wirtschaftliche Rolle der Juden zu behandeln, aber er tut dies, indem er in äußerst fantasievoller Weise die Geschichte in seinem Sinne zurechtrückt. Er vertritt eine These über die Juden und das Wirtschaftsleben in seiner Gesamtheit – aber er behandelt nur einen sehr beschränkten Ausschnitt aus der Geschichte.
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Sombart stellt eine Theorie über die Juden in ihrer Gesamtheit und ihr Verhältnis zum Wirtschaftsleben auf – aber er behandelt nur eine Minorität von Westjuden, nämlich der Juden, die sich auf dem Weg zur völligen Integration befinden. In Wirklichkeit hätte man – selbst, wenn die Rolle der Westjuden der These Sombarts entsprechen würde – davon abstrahieren müssen, um die jüdische Frage heute zu verstehen. Denn ohne den Zufluss der Ostjuden ins Westeuropa des 19. Jahrhunderts wären die Westjuden seit langem völlig in ihrer Umwelt aufgegangen. [219] Eine letzte Bemerkung zur Theorie Sombarts: Wenn die Juden tatsächlich einen solchen wirtschaftlich immer und absolut positiven Faktor dargestellt hätten, wenn ihr Weggang tatsächlich den wirtschaftlichen Untergang betroffener Städte und Gebiete zufolge gehabt hätte, wie lassen sich dann die ständigen Judenverfolgungen im tiefen Mittelalter erklären? Aufgrund der Religion? Warum aber war dann die Stellung der Juden in Westeuropa im Spätmittelalter und in Osteuropa bis ins 19. Jahrhundert hinein so stabil? Wie muss man dann den Reichtum der Juden während langer Jahrhunderte in den rückständigsten Ländern Europas wie Polen und Litauen erklären? Wie soll man dann verstehen, dass der religiöse Fanatismus gerade in den fortschrittlichsten Ländern am heftigsten war? Wie kommt es dann, dass sich der Antisemitismus im 19. Jahrhundert in Polen besonders stark entwickelte? Es geht also darum, die Gründe für den unterschiedlichen Grad an religiösem Fanatismus zu suchen. Wir werden also wieder auf die Pflicht gestoßen, wirtschaftliche Phänomene zu analysieren. Die Religion erklärt die Judenverfolgungen in der Weise, wie etwa die Fähigkeit zu schlafen den Schlaf erklären kann. Wenn die Juden tatsächlich die ihnen von Sombart zugedachte Rolle gespielt hätten, wäre es schwer verständlich, warum der Kapitalismus ihnen so sehr zum Verhängnis werden konnte. [220] Es ist daher ungenau, in den Juden die Begründer des modernen Kapitalismus zu sehen. Die Juden haben sicherlich zur Entwicklung der Tauschwirtschaft in Europa beigetragen, aber ihre spezifische wirtschaftliche Rolle endet genau dort, wo der moderne Kapitalismus anfängt.
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2. Die Juden in Osteuropa
bis zum 19. Jahrhundert Am Vorabend der Entwicklung des industriellen Kapitalismus stand das Westjudentum kurz vor dem Verschwinden. Die Französische Revolution beseitigte die letzten rechtlichen Hindernisse, die sich der Integration der Juden entgegensetzten. Sie sanktionierte damit nur bereits bestehende Tatsachen. Aber es ist sicherlich kein Zufall, dass die jüdische Frage im selben Augenblick, in dem sie im Westen verlischt, im Osten erneut und mit doppelter Heftigkeit aufflammt. Als man die Juden in Westeuropa niedermetzelte und verbrannte, suchte ein Großteil von ihnen Zuflucht in den Ländern, die der Kapitalismus noch nicht erobert hatte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebte die große Mehrheit der Juden in Osteuropa, vor allem im ehemaligen Gebiet der königlichen Republik Polen. In diesem Paradies der sorgenfreien »Szlachta« hatte die jüdische Kaufmannsklasse ein weites Betätigungsfeld gefunden. Während langer Jahrhunderte war der Jude Händler, Wucherer, Gastwirt, Haushofmeister von Adeligen und im übrigen Vermittler für alles. Die kleinen jüdischen Städte, die oft an Schlösser von polnischen Adeligen angrenzten und inmitten eines Meers von Bauerndörfern lagen, repräsentierten die Tauschwirtschaft im Schoß einer reinen Feudalgesellschaft. Die Juden saßen – wie Marx sagt – »in den Poren der polnischen Gesellschaft«. [221] Diese Situation hielt solange an, wie die gesellschaftliche und politische Situation Polens unverändert blieb. Im 18. Jahrhundert wurde der polnische Feudalismus von den politischen Wirren und dem wirtschaftlichen Abstieg tödlich getroffen. Zu gleicher Zeit wurde auch die Jahrhunderte alte Stellung der Juden in Osteuropa tiefgreifend erschüttert. Das Judenproblem, das im Westen im Begriff war zu verschwinden, stellte sich im Osten mit erneuter Schärfe. Die Flamme, die im Westen zu erlöschen scheint, erhält aus dem östlichen Brandherd neue Nahrung. Die Zerstörung der wirtschaftlichen Position der Juden in Osteuropa hat ihre massive Emigration in alle Welt zufolge. Und überall – wenn auch in verschiedenen Formen und unter verschiedenen Gesichtspunkten – verschärft der Zustrom jüdischer Emigranten aus
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Osteuropa das jüdische Problem. So wurde die Geschichte der Ostjuden für die Judenfrage, wie sie sich heute stellt, zum entscheidenden Faktor. Die Handelsbeziehungen der osteuropäischen Juden in Böhmen, Polen und Kleinrussland gehen auf die Karolinger-Epoche zurück. Der Handelsverkehr, den die Juden im Hochmittelalter zwischen Asien und Europa entwickelt hatten, erfasste auf diese Weise die Gebiete Polens und die Steppen der Ukraine. Wie ihre Glaubensbrüder, die Radhaniten, tauschten die Ostjuden die kostbaren Produkte Asiens, wie z. B. Gewürze und Seiden, gegen die Rohprodukte Europas ein. Sie stellten das einzige Handelselement in einer rein agrarisch bestimmten Gesellschaft dar. Zur Zeit der Karolinger stand das wirtschaftliche System in ganz Europa nahezu auf gleicher Ebene, und die Rolle des Ostjudentums entsprach der des Westjudentums. Erst später schlug ihre Geschichte ganz verschiedene Wege ein. Die Reiseerzählungen des Ibrāhīm ibn Ya’qūb (965) berichten von einer beachtlichen Entwicklung des jüdischen Handels im Prag des 10. Jahrhunderts. Die Juden kamen dorthin aus dem Fernen Osten und aus Byzanz mit verschiedenartigen wertvollen Waren und byzantinischen Münzen und kauften Weizen, Zinn und Pelze ein. [222] In einem Dokument von 1090 werden die Juden von Prag als Kaufleute und Geldwechsler, die viel Geld und Gold besitzen, und als die reichsten Händler der Welt dargestellt. Auch Sklavenhändler und andere Juden aus dem Fernen Osten, die die Grenze mit Karawanen überschreiten, sind in Dokumenten aus den Jahren 1124 und 1222 erwähnt. Der Zinssatz der jüdischen Bankiers in Prag, deren Geschäfte sich weit ausdehnten, pendelte zwischen 108 und 180 Prozent. [223] Der Chronist Gallus schreibt, dass Judith, die Frau des Fürsten Władysław I. Herman von Polen, sich im Jahre 1085 bemüht habe, christliche Sklaven von jüdischen Händlern loszukaufen. Ausgrabungen aus dem vergangenen Jahrhundert ermöglichten es, die ganze Bedeutung der Juden für die Wirtschaft dieser Zeit in Polen zu erhellen. Man fand polnische Münzen mit hebräischen Zeichen aus dem 12. und 13. Jahrhundert. Dies allein beweist schon, dass der polnische Handel in den Händen der Juden lag. Die Invasion der Tataren im 13. Jahrhundert war auf die polnischen und russischen Juden 108
sicherlich nicht ohne Einfluss, aber schon 1327 ist in einem von dem polnischen König Władysław I. Łokietek (1320–1333) zugestandenen Privileg von jüdischen Händlern aus Ungarn die Rede, die nach Krakau gezogen seien. Während der folgenden Jahrhunderte verringert sich der jüdische Handel in keiner Weise, im Gegenteil, er wächst ständig an. Wie in Westeuropa ging die Entwicklung des Handels Hand in Hand mit der Entfaltung des Wuchers. Auch hier versuchte der Adel – sein wichtigster Kunde – die Beschränkung des jüdischen Wuchers zu erreichen, im Gegensatz zu den Königen, die ihn förderten, »denn die Juden müssen als Kammerknechte immer Geld für den Dienst an uns zur Verfügung haben«. Auf dem Sejm von 1347 stieß der Adel, der den bis zu 108 Prozent reichenden Zinsfuß eingeschränkt haben wollte, auf den entschiedenen Widerstand des Königtums. Im Jahre 1456 verkündet der König Kasimir IV. Andreas Jagiełło, dass er dem gottgewollten Prinzip der Toleranz folge, wenn er die Juden beschütze. 1504 erklärt der polnische König Alexander der Jagiellone, »dass er sich den Juden gegenüber verhalte, wie es sich für Könige und Mächtige gebühre, welche sich nicht nur durch Toleranz gegenüber Christen, sondern auch gegenüber Andersgläubigen auszeichnen müssten«. Unter solchen Vorzeichen mussten die jüdischen Geschäfte florieren. Im 13., 14. und 15. Jahrhundert gelang es den jüdischen Wucherern, sich einen Teil der dem Adel gehörenden Ländereien anzueignen. 1389 wird der Jude Sabetai Eigentümer eines Teils des Gebietes von Cawilowo. 1390 erhält der Jude Josman aus Krakau die Güter des Prinzen Diewiez von Przesławice als Pfand. 1393 bemächtigt sich der Jude Moschko aus Posen des Gebietes von Ponicz. 1397 werden die Ländereien des Gebietes von Abiezesz an den Juden Abraham aus Posen verpfändet. Diese Ländereien der Adeligen wurden den Juden zu vollem Eigentum überlassen. Bei dem zuletzt angeführten Beispiel überfiel der betroffene Adelige die an Abraham übertragenen Besitztümer, das Gericht bestätigte jedoch das Eigentumsrecht des Juden und bestrafte den Angreifer mit einer hohen Geldstrafe. 1404 bestimmte ein Gericht in einem Urteil, dass drei an den Juden Schmerlin verpachtete Dörfer für immer in dessen Eigentum
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übergehen sollen (cum omnibus juribus utilitatibus dominio, etc., in perpetuum). Die wichtigsten »Bankiers« lebten in Krakau, der königlichen Residenz. Ihre Hauptschuldner waren in der Tat Könige, Fürsten, Wojwoden und Erzbischöfe. Kasimir der Große machte bei jüdischen Bankiers die riesige Anleihe von 15 000 Mark. König Ludwig von Ungarn schuldete dem Wucherer Lewko in Krakau einmal 30 000, ein anderes Mal 3000 Gulden. König Władysław II. Jagiełło und Königin Hedwig schuldeten ihm ebenfalls bedeutende Summen. Lewko war nicht nur ein großer Bankier, sondern auch Generalintendant des Reichs. Er verwaltete das Münzhaus und die Münzprägerei, die Salzbergwerke von Wieliczka und Bochinia. Er besaß in Krakau Häuser und eine Brauerei. Wie die großen Patrizier wurde er mit dem Titel »vir discretus« ausgezeichnet. Der Wucher der großen jüdischen Bankiers, wie Miesko, Jordan von Posen und Aaron, denen es gelang, riesige Güter anzukaufen und Dörfer und Ländereien in ihre Hände zu bringen, hatte einen Proteststurm des Adels zufolge. Das Statut von Warta (1423) hat den jüdischen Wucher stark beschränkt. So wurde der Jude Alexander, an den 1427 die Dörfer Dombrowka und Sokolov verpfändet worden waren, im Jahre 1432 durch die Entscheidung eines Gerichtes dazu verpflichtet, diese Güter an seinen Schuldner zurückzugeben. Das Statut von Warta hatte nämlich die Geldausleihe gegen Grundeigentum als Sicherheit verboten. Weder die Juden noch die Könige resignierten in dieser Situation sofort. In einem erbitterten Kampf erreichten sie die Beseitigung des Statuts von Warta. Die Bankiers konnten ihre Geschäftssphäre noch weiter ausdehnen. Der König verpfändete also 1444 sein Schloss Lemberg an den Bankier Schina. Dieser Wucherer zählte daneben noch den Fürsten Szwidrigiella, den Wojwoden Chriczka, der ihm das Dorf Winiki verpfändet hatte, und andere zu seiner Kundschaft. Aber auch der Adel gab sich nicht geschlagen. Er griff immer wieder von Neuem an, und es gelang ihm, den König zu zwingen, 1454 das Statut von Nieszawa zu erlassen, das die Bestimmungen des Statuts von Warta noch verschärft. Aber – und diese Tatsache genügt, um den grundlegenden 110
Unterschied zu zeigen, der auf diesem Gebiet zwischen Polen und Westeuropa besteht – auch noch so drakonische Maßnahmen konnten dem jüdischen Wucher kein Ende setzen. Von 1455 an kam es sogar zu einem Wiederaufleben des Bankhandels, was vor allem auf die Zuwanderung von Juden aus Mähren und Schlesien und aus anderen Ländern zurückzuführen ist. Ab 1460 bezeugen die Akten von Krakau eine Wiederaufnahme von wucherischen Transaktionen, die an die Zeiten von Lewko und Schmerlin erinnern. Der reichste Bankier war ein gewisser Fischel, verheiratet mit der Bankinhaberin Raschka von Prag. Er verlieh Gelder an den polnischen König Kasimir IV. Andreas Jagiełło und an dessen Söhne, die zukünftigen Könige Albrecht und Alexander. Während es dem westeuropäischen Adel aufgrund der aufkommenden Tauschwirtschaft und von Geldüberfluss gelang, sich überall vom jüdischen Wucher zu befreien, war eine solche Entwicklung in Osteuropa wegen der fortbestehenden Feudalwirtschaft unmöglich. Die jüdische Bank überlebte hier alle Verbote. Die Rückständigkeit des Landes verhinderte auch die Entwicklung, die wir in den anderen Ländern Osteuropas verfolgt haben: den Ausschluss der Juden aus dem Handel und ihre Beschränkung auf den Wucher. Das Bürgertum und die Städte standen erst am Anfang ihrer Entwicklung. Der Kampf der Bourgeoisie gegen die Juden blieb im Anfangsstadium stecken und führte zu keinerlei ausschlaggebenden Resultaten. Zu den Kaufleuten gesellten sich die Handwerker, die unter dem jüdischen Wucher litten. Auch hier gilt, dass desto früher Konflikte mit den Juden entstehen, je früher sich eine Provinz entwickelt hat. Die Handwerker provozierten 1403 in Krakau, 1445 in Böhmen Judenmassaker. Aber diese Auseinandersetzungen blieben vereinzelt und führten nirgends zur völligen Beseitigung des jüdischen Elements. Im Gegenteil, im 16. und 17. Jahrhundert festigte sich die Stellung der Juden nur noch mehr, und der jüdische Handel florierte weiterhin. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist in Lemberg von einem »Konsortium« aus drei Lemberger Juden – Schlomo, Lzewja und Jakob – die Rede, das zum Zwecke der Belieferung des Stadtrats mit italienischen Waren gebildet wurde. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts sind die Juden die Lieferanten des königlichen Hofes. Im Jahre 1456 konfisziert der Starost 111
(Älteste) von Kamjanez-Podilskyj orientalische Waren im Werte von 600 Mark bei jüdischen Händlern, die aus den Handelszentren des Schwarzen Meeres nach Polen gekommen waren. Die byzantinischen und italienischen Juden aus Capha unternahmen zahlreiche Reisen nach Polen. Der Jude Caleph Judäus aus Capha ließ mit der Bewilligung der Stadt Lemberg große Mengen von orientalischen Waren über die Grenze bringen. Selbst nach der Zerstörung der italienischen Kolonien am Schwarzen Meer (1475) unterhielten die Juden weiterhin Beziehungen mit dem Orient. Ab 1467 versorgte der Jude David aus Konstantinopel Lemberg mit orientalischen Waren. Man spricht sogar von einem Wiederaufleben des Sklavenhandels in Kleinrussland zwischen 1440 und 1450. 1449 berichten die russischen Gerichtsakten von einer interessanten Tatsache: Als ein Sklave des Juden Mordechai aus Galitsch geflohen war, verlangte ihn sein Besitzer auf gerichtlichem Wege zurück. Die jüdischen Händler aus Capha und Konstantinopel kamen nur zu den großen Märkten von Lemberg und Lublin. Dorthin kamen auch die in den russischen und polnischen Städten und Marktflecken zerstreuten Juden, um orientalische Waren zu kaufen und in ihren Heimatgebieten abzusetzen. Die jüdischen Händler verkehrten auf den Straßen zwischen Lemberg, Lublin und Groß- und Kleinpolen bis hin zur schlesischen Grenze. Die Juden überschritten auch diese Grenze und führten einen regen Handel mit Böhmen und Deutschland. Aus Briefen aus dem Jahre 1588 erfahren wir, dass Kupfer und Pelze von Krakau nach Prag gebracht wurden und dass man Zinsgeschäfte und Pfandleihe betrieb. Der Markt von Lublin diente als Treffpunkt für die jüdischen Händler aus Polen und Litauen. Die jüdischen Händler exportierten aus Litauen Häute, Pelze, Holz und Honig und kauften auf dem Markt von Lublin Gewürze aus der Türkei und Fertigwaren aus Westeuropa ein. Die Bücher der Stadt Danzig erwähnen jüdische Händler aus Litauen, die zwischen 1423 und 1436 Holz, Wachs, Pelze, Häute und ähnliches exportierten. Die Lage der litauischen Juden war noch günstiger als die der polnischen. Bis zur Union von Lublin (Vereinigung des polnischen und des litauischen Reichs 1569) genossen die Juden dieselben Rechte wie die 112
übrige freie Bevölkerung. In ihren Händen lagen der Großhandel, die Bank, die Zölle usw. Die Steuer- und Zolleinziehung verhalf ihnen zu großem Reichtum. Ihre Kleider waren mit Gold verziert, und sie trugen Degen wie Edelleute. Aus den Akten der litauischen Staatskanzlei geht hervor, dass die Juden in der Zeit von 1463 bis 1494 fast alle Zollstellen des litauischen Herzogtums innehatten. Bielsk Podlaski, Brjansk, Brest, Hrodna, Kiew, Minsk, Nowgorod, Schytomyr. Dokumente aus den Jahren 1488/89 erwähnen einige Juden aus Torsk und Kiew, die die großherzoglichen Salzminen ausbeuteten. Zur gleichen Zeit tauchten Juden als Gastwirte auf – ein Beruf, der im polnischen und kleinrussischen Dorf Hand in Hand mit dem kaufmännischen Wuchergeschäft ging. Die zunehmende Anarchie des Adels in Polen blieb nicht ohne Folgen für die Lage der Juden. Im 16. Jahrhundert ist ihre Stellung noch unerschüttert, aber sie geraten mehr und mehr aus der königlichen Kontrolle unter die der großen und kleinen Feudalherren. Mit der Schwächung der königlichen Gewalt wird auch die den Juden gewährte Protektion immer ungewisser, und die Juden suchen selbst nach weniger glanzvollen, aber zuverlässigeren Beschützern. König Sigismund beklagte sich auf dem Sejm von 1539: »Die Szlachta unseres Königreichs will alle Profite der Juden aus den Marktflecken, Dörfern und Domänen an sich reißen. Sie erheben den Anspruch, Recht über sie zu sprechen. Unsere Antwort hierauf lautet: Wenn die Juden selbst auf die Vorrechte einer ihnen von den Königen, unseren Vorfahren, zugestandenen und von uns bestätigten autonomen Gerichtsbarkeit verzichten, lehnen sie gleichzeitig unseren Schutz ab. Wir haben keinerlei Nutzen mehr an ihnen und haben keinen Grund, ihnen mit Gewalt unsere Güte aufzuzwingen.« Es ist verständlich, dass die Juden auf diese »Güte« verzichteten; denn das Königtum stellte kaum mehr eine reale Macht in diesem von Adeligen beherrschten Land dar. Im 16. Jahrhundert festigte sich die Stellung der Juden. Sie erhielten erneut alle Rechte, die man ihnen während des vorangegangenen Jahrhunderts zu entziehen versucht hatte. Ihre wirtschaftliche Lage verbesserte sich. 113
Die wachsende Macht des Adels (Polen wird 1569 zur Wahlmonarchie) brachte die Juden um den Schutz des Königs, aber die Feudalherren unternahmen alles, um die jüdischen Geschäfte zu stimulieren. Als Kaufleute, Geldleiher und als Haushofmeister der herrschaftlichen Domänen, mit ihren Gaststätten und Brauereien waren die Juden den Feudalherren, die ihre Zeit in der Fremde in Luxus und Müßiggang verbrachten, außerordentlich nützlich: »Die kleinen Städte und Ländereien der Szlachta hatten alle ihre jüdischen Lagerhäuser und Herbergen. Soweit es dem Juden gelang, in den Augen des Feudalherren Gnade zu finden, bewegte er sich völlig frei.« [224] Die wirtschaftliche Stellung der Juden war in der Regel sehr gut. Aber sie waren dem Adel unterworfen, und das untergrub auf die Dauer ihre Autonomie, die in Polen sehr stark entwickelt war. »Die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen Polens erlaubten den Juden, wie ein Staat im Staate zu leben mit eigenen religiösen, administrativen und juristischen Institutionen. Die Juden bildeten eine besondere Klasse mit autonomer innerer Struktur …« [225] Eine Verordnung des Königs Sigismund August (vom August 1551) legte bezüglich der jüdischen Unabhängigkeit in Großpolen folgendes fest: Die Juden haben das Recht, Rabbiner und Richter selbst zu wählen nach allgemeiner Vereinbarung untereinander. Sie können sich der Zwangsgewalt des Staats bedienen. Jede jüdische Stadt und jeder jüdische Marktfleck hatte einen Gemeinderat. In den größeren Städten hatte der Gemeinderat vierzig Mitglieder, in den kleineren zehn. Die Mitglieder wurden aufgrund eines Doppelwahlsystems gewählt. Der Tätigkeitsbereich dieses Gemeinderates war sehr ausgedehnt. Er musste die Steuern erheben, die Schulden und die öffentlichen Einrichtungen verwalten, die wirtschaftlichen Fragen lösen, sich der Rechtsprechung annehmen. Die Macht eines jeden Rates, Kahal genannt, erstreckte sich auf die umliegenden Dörfer. Die Räte der großen Städte waren denen der kleinen Gemeinden hierarchisch übergeordnet. So wurden sie zu Gemeindeverbänden, den sogenannten Galiloth zusammengefasst.
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Wir haben schon von dem Wa’ad Arba’ Aratzot gesprochen, das die Generalversammlung der jüdischen Gemeinderäte in Polen (d. h. der vier Länder Großpolen, Kleinpolen, Podolien und Wolhynien) war. Es versammelte sich in regelmäßigen Abständen und bildete ein richtiges Parlament. Im 17. Jahrhundert gerieten die Grundlagen der jüdischen Unabhängigkeit ins Wanken. Zu gleicher Zeit verschlechterte sich die materielle Lage der polnischen Juden, die das Chaos, das die Feudalgesellschaft erschütterte, zu spüren bekamen. Die aufgrund der Minderung der königlichen Autorität in bestimmten Bereichen veränderte Lage der Juden brachte sie mehr als früher mit der großen Masse der unterworfenen Bevölkerung in Kontakt. Der Jude, Hofmeister des Adeligen oder Gastwirt, wurde von den Bauern ebenso, wenn nicht noch mehr als die Feudalherren gehasst; denn er hatte sich zum Hauptinstrument ihrer Ausbeutung entwickelt. Diese Situation führte bald zu furchtbaren gesellschaftlichen Explosionen, vor allem in der Ukraine, wo die Autorität des polnischen Adels geringer war als in Polen. Unermessliche Steppen dienten als Brutstätte für kosakische Militärkolonien, in denen die flüchtigen Bauern die Stunde ihrer Vergeltung vorbereiten konnten. »Der jüdische Haushofmeister bemühte sich, so viel als möglich aus den adeligen Domänen zu ziehen und den Bauern optimal zu exploitieren. Der kleinrussische Bauer empfand tiefen Hass für den polnischen Grundbesitzer, und dies in zweifacher Hinsicht: Er hasste ihn als Herrn und als Ljach (Polen). Aber er hasste vielleicht noch mehr den jüdischen Pächter, mit dem er sich in beständigem Kontakt befand. In ihm erkannte er zugleich den verachtungswürdigen Diener des Herrn und den ihm durch Religion und durch seinen Lebensstil fremden ›Nicht-Christen‹.« [226] Der furchtbare Aufstand der Kosaken unter Bohdan Chmelnyzkyj im Jahre 1648 führte zur Vernichtung von 700 jüdischen Gemeinden. Dieser Aufstand offenbart zugleich die außerordentliche Gebrechlichkeit des anarchistisch zerrütteten Königreichs Polen und leitete seine Aufteilung ein. Ab 1648 ist Polen ununterbrochen Opfer von Invasionen und inneren Unruhen.
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Mit dem Ende des Feudalismus in Polen findet auch die privilegierte Stellung der Juden ihr Ende. Sie werden durch Massenmorde dezimiert. Die Anarchie, die im Lande regiert, macht jegliche normale wirtschaftliche Tätigkeit hinfällig. Die Verschlechterung der Lage der Juden bringt die alten ideologischen Grundlagen des Judentums ins Wanken. Das Elend und die Verfolgung schaffen einen fruchtbaren Boden für die Entwicklung des Mystizismus. Das Studium der Kabbala löst das des Talmud ab. Messianische Bewegungen wie die des Schabbtai Zvi gewinnen an Boden. Es ist in diesem Zusammenhang noch interessant, sich die Bekehrung von Frank und seinen Anhängern zum Christentum zu vergegenwärtigen. »Die Anhänger von Frank forderten ein Gebiet für sich allein, weil sie weder vom Wucher oder der Ausbeutung der Bauern leben noch Gasthäuser führen wollten. Sie wollten die Erde bearbeiten.« [227] Diese Bewegungen hielten sich in kleinem Rahmen, da die Stellung des Judentums noch nicht endgültig kompromittiert war. Erst Ende des 18. Jahrhunderts bricht die polnische Feudalgesellschaft unter den Wirkungen der internen Anarchie, des ökonomischen Verfalls und der ausländischen Intervention in sich zusammen. Hier setzen für das Judentum die Probleme der Auswanderung und des Wechsels zu anderen Berufen ein. Anmerkungen: [210] »Über die weit ausgedehnten Republiken des einst spanischen Südamerika waren Hunderte von Juden als Kaufleute, Grundbesitzer, zum Teil auch als Soldaten zerstreut, die aber von der Religion ihrer Väter kaum noch etwas wussten.« Martin Philippson, Neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Leipzig 1907, S. 226. [211] Lettres de quelques juifs portugais, allemands et polonais à M. de Voltaire, Bd. I, Paris 1827, S. 48–49. In England »bekehrten sich einige dieser portugiesischen Juden zum Christentum … Familien, die später weltberühmt geworden sind: Disraeli, Ricardo, Aguilar haben sich so vom Judentum abgewandt. Andere sephardische Familien wurden langsam durch die englische Gesellschaft assimiliert.« Heinrich Graetz, Histoire juive, Bd. VI, S. 344. [212] Lettres de quelques juifs, ebd., S. 43, 46. [213] Werner Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, S. VI, VII, VIII und 15. [214] Ebd., S. 15; für die folgenden Thesen siehe: ebd., S. 16–19.
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[215] Brentano, Die Anfänge des modernen Kapitalismus, ebd., S. 163. [216] Ebd., S. 165. [217] Ebd. S. 165 f. [218] »Das Buch von Herrn Sombart über die Juden beinhaltet eine endlose Reihe von schweren Irrtümern; man könnte beinahe sagen, dass hier ein Paradoxon rigoros entwickelt wird von einem Mann, der ein Talent für lange Ausführungen hat … Wie alle Paradoxa enthält es nicht nur falsche Ideen; der Teil über die heutige Zeit muss gelobt werden, obwohl auch er allzu oft den Charakter des semitischen Volks verzerrt. Der historische Teil ist jedenfalls nahezu lächerlich … Der moderne Kapitalismus wird geboren und entwickelte sich zunächst in dem Augenblick, wo die Juden – überall oder beinahe überall verstoßen – alles andere waren als Vorläufer des Kapitalismus.« AndréE. Sayous, »Les juifs«, in: Revue économique internationale, Brüssel, Jahrgang 24, Bd. 1, Nr. 3, März 1932, S. 533. [219] Siehe die folgenden Seiten dieses Buchs. [220] »Die Stellung der Juden während des Mittelalters ist soziologisch mit der einer indischen Kaste in einer im übrigen kastenlosen Umwelt zu vergleichen: sie waren ein Pariavolk … Daher findet sich unter den Schöpfern der modernen Wirtschaftsorganisation, den Großunternehmern, kaum ein Jude … Der jüdische Fabrikant dagegen ist eine moderne Erscheinung.« Weber, Wirtschaftsgeschichte, ebd., S. 305, 307. [221] Marx, Das Kapital, Bd. I, MEW 23, Berlin 1969, S. 93. [222] Schipper, Jidiše Gešichte, ebd., S. 342. [223] Ebd. [224] Graetz, Histoire des Juifs, ebd. [225] Ebd. [226] Ebd. [227] Ebd.
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V. Die Entwicklung der jüdischen Frage
im 19. Jahrhundert Die Juden waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts in überwiegender Mehrzahl in den rückständigen Ländern Osteuropas konzentriert. In Polen gab es zum Zeitpunkt der Teilung des Landes mehr als eine Million. Nach der russischen Volkszählung von 1818 verlief die gesellschaftliche Schichtung des Ostjudentums folgendermaßen: Land Händler Handwerker Landwirte Ukraine 86,5 % 12,1 % 1,4 % Litauen u. Weißrussland 86,6 % 10,8 % 2,6 % zusammen 86,5 % 11,6 % 1,9 % Der Prozentsatz von Handwerkern und Landwirten zeigt den Beginn der gesellschaftlichen Differenzierung des Judentums an. Aber im Allgemeinen hat sich die Struktur des Ostjudentums noch nicht wesentlich verändert. Sie bleibt, was sie Jahrhunderte hindurch gewesen ist. Einige Reisebeschreibungen von Soldaten, die an dem Russlandfeldzug Napoleons teilnahmen, legen Zeugnis ab von dem Leben der Juden zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Viele von ihnen, sagt Furtenbach, seien »die Besitzer oder Pächter der an der Straße befindlichen Krüge, Kretschams oder Wirtshäuser; kurz, sie beherrschen hier alles; sie strecken Geld vor an Edelleute und Bauern und machen sich selbe untertänig«. Außerdem besuchten sie die Leipziger Messe. [228] Ein anderer Soldat, der Franzose Puybusque gibt in seinen »Lettres sur la guerre de Russie« interessante Informationen über die Rolle der Juden im Wirtschaftsleben Polens: »Die Juden, die in diesen Provinzen geduldet werden, tragen dazu bei, die Bedingungen der Bauern unglücklicher zu machen. Die Herren bauen in der Regel Gasthäuser für die Verteilung von Branntwein auf den Straßen … Sie vermieten sie an Juden gegen ein Entgelt … Bei der Geburt eines Kindes muss der Bauer dem Juden einen Eimer Branntwein abnehmen; bei einer Heirat oder im Todesfall die gleiche Menge Branntwein, die der Bauer sofort bezahlen muss: Wenn der Gesegnete kein Geld hat, nimmt der Jude für mehrere Wochen und zu 118
einem sehr niedrigen Preis all das in Zahlung, was auf den Markt gebracht werden soll … Juden sind die Makler von ganz Polen … Alles, was sich kaufen lässt, alles, was sich verkaufen lässt, geht durch ihre Hände.« Der Autor erzählt, dass zwischen polnischen Juden und ihren deutschen Glaubensgenossen dauernde Geschäftsbeziehungen bestanden. Sie hatten ihre eigene Post und waren über die Börsenkurse in ganz Europa informiert. [229] Der Autor des Buchs »Reise eines Moskauer Offiziers von Triest nach Konstantinopel« (1810), schreibt: »Man könnte Polen zu Recht ein jüdisches Königreich nennen. Die großen und kleinen Städte sind hauptsächlich von Juden bewohnt. Man findet selten ein Dorf ohne Juden. Jüdische Gaststätten sind überall entlang der großen Straßen zu finden. Abgesehen von einigen Domänen, die von den Feudalherren selbst verwaltet werden, sind alle anderen an Juden verpachtet oder an Juden verpfändet. Sie besitzen ungeheuer viel Geld und niemand kann ohne ihre Unterstützung auskommen. Nur einige sehr reiche Feudalherren stecken nicht bis zum Hals in Schulden bei den Juden.« [230] »Die Juden in den Dörfern«, schreibt Kamanin in »Das Archiv des südlichen und östlichen Russlands«, »begnügen sich damit, die Mühlen, die Schankwirtschaften und die Herbergen zu verwalten.« Es gibt nahezu kein Dorf ohne seinen jüdischen »Pächter«. Dies geht so weit, dass in den Volkszählungen oft der Begriff des Pächters mit dem des Juden gleichgesetzt und der Beruf mit der Nationalität oder der Religion verbunden wird. Statt »es gibt keinen Juden im Dorf« heißt es dann, »es gibt keinen Pächter im Dorf«. [231] Diese Autoren geben jedoch, auch wenn sie glauben, die Gegenwart zu beschreiben, nichts als die Vergangenheit wieder. Die weltliche Stellung des Judentums in Osteuropa um die Jahrhundertwende wurde – wenn auch sehr langsam – vom Kapitalismus untergraben. Der Kapitalismus zerstörte das alte Feudalsystem, um dann endgültig an seine Stelle zu treten. Der Feudalismus zerfiel, bevor noch die neuen kapitalistischen Formen seine Nachfolge angetreten hatten. »Die numerische … Vermehrung [der Juden] erforderte größere und neue Erwerbsmöglichkeiten, während die alten Verdienstmöglichkeiten immer mehr schwanden … Die Juden, seit Jahrhunderten der Naturalwirtschaft angepasst, fühlten jetzt den Boden 119
unter ihren Füßen schwinden.« Sie hatten zu lange das Tauschmonopol besessen. »… der Kapitalisierungsprozess [brachte] in Russland und in Polen die Gutsbesitzer dazu, sich immer mehr selbst mit den verschiedenen Zweigen der Wirtschaft zu beschäftigen und die Juden daraus zu verdrängen. Nur eine kleine Zahl reicher Juden konnte bei der neuen Lage einen günstigen Boden für ihre Tätigkeit finden.« [232] Aber die große Mehrzahl der Juden, die sich aus kleinen Händlern, Gastwirten und Hausierern zusammensetzte, litt sehr unter den neuen Zuständen. Die alten Handelszentren der Feudalzeit verfielen. Neue Industrie- und Handelsstädte lösten die kleinen Städte und Märkte ab. Eine einheimische Bourgeoisie begann sich zu entwickeln. Die wirtschaftliche Lage der jüdischen Massen war derart kritisch geworden, dass sich schon vor der Teilung Polens die Frage nach einer Veränderung der gesellschaftlichen Struktur der Juden und nach Emigrationsmöglichkeiten stellte. [233] Die Auswanderung war zunächst nur innerhalb der Staaten denkbar, die Polen unter sich aufgeteilt hatten. Die jüdischen Massen bemühten sich, die verfallenen und rückständigen Gebiete des polnischen Königreichs mit seinen immer beschränkteren Existenzmöglichkeiten zu verlassen, um neue Beschäftigungen in den entwickelteren Teilen der Nachfolgereiche zu finden. Schon 1776 und 1778 ersuchen einige jüdisch-polnische Gemeinschaften die russische Regierung um die Einwanderungserlaubnis. »Zu Beginn des 19. Jahrhunderts bewegte sich ein breiter Auswandererstrom vom alten Polen nach Russland.« [234] Ebenso war es in den von Preußen und Österreich annektierten Gebieten. Die Juden zogen nach Berlin, nach Wien, in alle Zentren, wo der Puls eines neuen Wirtschaftslebens schlug, wo Handel und Industrie ausgedehnte Arbeitsmärkte schufen. »Die Emigration der Juden aus Podolien, Wolhynien, Weißrussland und Litauen nach Russland, aus Posen und Polen nach England und sogar nach Amerika beweist, dass die osteuropäischen Juden Einwanderungsländer schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts suchten.« [235] Dieser Wille zur Auswanderung ging Hand in Hand mit den Versuchen, aus den Juden wieder »nützliche Bürger« zu machen, sie an die neue Situation anzupassen, z. B. durch Umschulung auf Handwerk und Landwirtschaft. Der polnische »Große 120
Sejm« von 1784 bis 1788 hatte bereits das Problem der »produktiven Eingliederung« der Juden als einen Punkt der Tagesordnung. [236] Alle Regierungen, die einen Teil des polnischen Judentums zum Erbe erhalten hatten, hielten seine gesellschaftliche Struktur für anomal. Es wurden Versuche unternommen, die Juden zu Fabrikarbeitern umzuschulen. Wenn ein Handwerker einen jüdischen Lehrling beschäftigte, gab es für beide eine Belohnung. [237] Tausende von Juden wurden in bestimmten Regionen Russlands als Kolonisten angesiedelt. [238] Den so entstandenen Dörfern gelang es – trotz großer anfänglicher Schwierigkeiten – sich auf die Dauer zu akklimatisieren. »Zwei Prozesse charakterisieren die Entwicklung des jüdischen Volks im vergangenen Jahrhundert: die Emigration und die gesellschaftliche Differenzierung. Der Zerfall des Feudalsystems und des Systems der Knechtschaft haben parallel mit der Entwicklung des Kapitalismus zwar neue Unterhaltsquellen geschaffen, aber zugleich in sehr viel weiterem Maße die Vermittlerrolle zerstört, von der der größte Teil des jüdischen Volks lebte. Diese Prozesse haben die jüdischen Massen dazu veranlasst, ihre Wohnorte und ihr gesellschaftliches Milieu zu verändern; sie haben sie gezwungen, einen neuen Platz in der Welt und eine neue Stellung in der Gesellschaft zu suchen.« [239] Zu Beginn des 19. Jahrhunderts steht der Prozess der »produktiven Eingliederung« immer noch an seinem Anfang. Einerseits geht der Zerfall der Feudalwirtschaft nur langsam voran, und die Juden können sich deshalb noch lange Zeit in ihren alten Positionen halten. Andererseits ist der Kapitalismus in seinen Anfängen noch ziemlich primitiv und eine beachtliche Zahl von Juden finden ein weites Beschäftigungsfeld im Handel und Handwerk. [240] Sie spielen sehr aktiv die kaufmännische Vermittlerrolle für die junge kapitalistische Industrie und tragen zur Kapitalisierung der Landwirtschaft bei. Ganz allgemein kann man annehmen, dass die Eingliederung der Juden in die kapitalistische Gesellschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erfolgt. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind jedoch im Gegensatz dazu beträchtliche Scharen von Juden gezwungen, Osteuropa zu verlassen. Der Jahresdurchschnitt von Emigranten betrug: 121
zwischen 1830 und 1870: 4 000 – 5 000 zwischen 1871 und 1880: 8 000 – 10 000 zwischen 1881 und 1900: 50 000 – 60 000 zwischen 1901 und 1914: 150 000 – 160 000 Während der ersten Periode, die bis zum Jahre 1880 reicht, handelt es sich hauptsächlich um eine interne Umsiedlung in die Großstädte. Zwischen 1830 und 1880 beträgt die Zahl der jährlichen Auswanderer nicht mehr als 7000, aber das jüdische Volk ist von 3 281 000 auf 7 763 000 gestiegen. Dieses rapide natürliche Wachstum wurde großenteils von den Ländern, in denen die Juden lebten, absorbiert. Eine außerordentliche Veränderung tritt erst ab 1881 und vor allem ab 1901 ein, als die jüdische Emigration so beeindruckende Zahlen wie 150 000 bis 160 000 Emigranten jährlich erreicht. Was sind die Gründe für diese Veränderung? Die Kapitalisierung der russischen Wirtschaft wurde durch die Reform von 1863 beschleunigt. Die Landwirtschaft produzierte mehr und mehr für den Markt. Die Bande der Grunddienstbarkeit und der feudale Zwang lockerten sich; die gesellschaftliche Differenzierung machte im Dorf rapide Fortschritte. Ein Teil der Bauern verwandelte sich in wohlhabende Farmer, ein anderer Teil proletarisierte sich. Die Kapitalisierung der Landwirtschaft hat die Entstehung eines bedeutenden Binnenmarkts für die Produktionsmittel (Maschinen etc.) und für die Konsumtionsgüter zufolge. Die kapitalistische Landwirtschaft setzt in der Tat voraus: 1. Die Arbeitsteilung innerhalb der Landwirtschaft infolge der Spezialisierung der einzelnen Zweige; 2. eine wachsende Nachfrage nach Fertigwaren seitens der reichen Bauern und der proletarisierten Massen, die nur ihre Hände zum Leben besitzen und die ihren Unterhalt erkaufen müssen; 3. die landwirtschaftliche Produktion benötigt im Hinblick auf den Markt in immer weiterem Ausmaß Maschinen. Dies trägt zur Entwicklung der Produktionsmittelindustrie bei; 4. die wachsende Produktion von Produktionsmitteln hat ein ständiges Anwachsen des städtischen Proletariats zufolge. Dies trägt ebenfalls zur Erweiterung des Konsumtionsmittelmarkts bei.
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Diese weitgehenden Möglichkeiten des Binnenmarkts boten den aus ihren ehemaligen wirtschaftlichen Positionen verdrängten jüdischen Massen Gelegenheit, sich in die kapitalistische Wirtschaft zu integrieren. Ihre Werkstätten und Kleinindustrien erreichten große Ausdehnung. Während der nicht-jüdische Schmied oder Bauer zu Fabriken oder Minen Zugang fand, strömte das jüdische Proletariat in die kleinen, Konsumtionsgüter produzierenden Industrien. Aber es besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen der Verwandlung des Bauern oder des Schmieds in einen Metallarbeiter und derjenigen des jüdischen Händlers in einen Handwerker oder Schneidergesellen. Die kapitalistische Entwicklung der Schwerindustriezweige wird von einer Veränderung der materiellen Produktionsbedingungen begleitet. Die Produktionsmittel wechseln nicht nur ihre Bestimmung, sondern auch ihre Form. Das primitive Werkzeug wird zur modernen, perfektionierten Maschine. Nicht so verhält es sich mit den Konsumtionsmitteln. Ob es sich um Produkte zur Deckung des Eigenbedarfs für den lokalen Markt oder für den Weltmarkt handelt, das Kleidungsstück und das Handwerkszeug ändern sich kaum. Anders verhält es sich mit dem Werkzeug, das sich in eine immer perfektere Maschine verwandelt und immer beträchtlichere Kapitalinvestitionen verlangt. Um die Maschinenfabrikation in Gang zu setzen, bedarf es von Anfang an großer Kapitalien. Das erklärt sich vor allem zu Beginn durch den Umfang der nötigen Arbeitszeit. »Je nach der längern oder kürzern Dauer der Arbeitsperiode [ununterbrochene Folge von nötigen Arbeitstagen in einer Branche, um ein fertiges Produkt zu schaffen [241] ], welche die spezifische Natur des Produkts oder des zu erreichenden Nutzeffekts zu ihrer Herstellung beansprucht, ist eine beständige zuschüssige Ausgabe von zirkulierendem Kapital (Arbeitslohn, Roh- und Hilfsstoffen) erfordert …« [242] Dies ist der Grund dafür, dass die Produktion der Produktionsmittel von Anfang an unter der Form kapitalistischer Großunternehmen stattfindet, während die Herstellung der Konsumgüter nach wie vor in den Werkstätten von früher erfolgt.
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Erst viel später verdrängt die Großfabrik die Werkstätten und die veralteten Arbeitsmethoden auch aus diesem letzten Bereich. Dies geschieht mit der Erfindung perfektionierter Arbeitsmaschinen, die sich auch im Sektor der Konsumgüter durchsetzen. Hier spielt also das Wachstum des fixen Kapitals eine entscheidende Rolle. [243] Auf diese Art und Weise werden die Produktionsbedingungen in den beiden Hauptsektoren der Wirtschaft nivelliert. »Der Umstand, ob die Dampfmaschine ihren Wert stückweis täglich auf Garn, das Produkt eines diskreten Arbeitsprozesses, oder während drei Monaten auf eine Lokomotive, das Produkt eines kontinuierlichen Produktionsakts, abgibt, ändert durchaus nichts an der Auslage des für den Ankauf der Dampfmaschine nötigen Kapitals … in beiden Fällen findet die Erneuerung der Dampfmaschine vielleicht erst nach 20 Jahren statt.« [244] Die Befreiung der Bauern in Russland hatte einen großen Markt für Fertigwaren geschaffen. An die Stelle der noch großteils feudalen Wirtschaft tritt die Produktion von Tauschwerten. Russland beginnt die Kornkammer Europas zu werden. Die Städte, Handels- und Industriezentren entwickeln sich schnell. Die Juden verlassen in Massen die Kleinstädte, um sich in den Großstädten niederzulassen, wo sie viel zur Entwicklung des Handels und der handwerklichen Konsumtionsmittelindustrie beitragen. Um 1900 bildeten die Juden in 11 von 21 wichtigen Städten die absolute Majorität der Einwohner. Die Einwanderung der Juden in die Großstädte wird von einer gesellschaftlichen Differenzierung begleitet, die die traditionellen Grundlagen des Judentums erschüttert. Aber die Entwicklung des Produktionsmittelsektors zieht eine Mechanisierung der Landwirtschaft und der Leichtindustrie nach sich. Die Maschinen machen den kleinen jüdischen Handwerksbetrieben nach und nach erbitterte Konkurrenz. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts wandert die große Masse der nicht-jüdischen Arbeiter in Richtung der Großstädte ab, wo sich der Wachstumsrhythmus der jüdischen Bevölkerung verlangsamt und schließlich ganz zum Stillstand kommt. [245] Die jüdischen Handwerksbetriebe, die sich aufgrund des erweiterten Binnenmarkts entwickelt hatten, erliegen der Mechanisierung und der Modernisierung der Industrie zum größten Teil. 124
Es war schwer für den jüdischen Handwerker, mit den vom Land zuströmenden bäuerlichen Massen zu konkurrieren, die einen sehr niedrigen Lebensstandard hatten und seit eh und je an schwere körperliche Arbeit gewohnt waren. Natürlich gab es an bestimmten Orten jüdische Arbeiter, die alle Schwierigkeiten überwanden und ebenfalls einen Platz in der mechanisierten Industrie fanden, aber der Großteil musste Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Weg ins Exil nehmen. Der Prozess der Verwandlung des Juden vom vorkapitalistischen Kaufmann in einen handwerklichen Arbeiter überschnitt sich mit einem anderen, nämlich dem der Ersetzung des jüdischen Arbeiters durch die Maschine. [246] Der zweite Prozess beeinflusst den ersten. Die verdrängten jüdischen Kleinstädter konnten sich nicht mehr proletarisieren und waren so zur Emigration gezwungen. So erklärt sich das unglaubliche Anwachsen der jüdischen Emigration gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während die Auflösung der alten Feudalwirtschaft und die Schaffung eines Binnenmarkts für Juden und Nicht-Juden ähnliche Folgen hatten, führten Mechanisierung und industrielle Konzentration zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen. Hierdurch lassen sich auch bestimmte Tendenzen der jüdischen Emigration erklären, die den allgemeinen Tendenzen der Emigration nicht entsprechen. Die jüdische Emigration begann relativ zögernd, nahm aber ständig zu, während für die Emigration im Allgemeinen oft das Gegenteil gilt. In Deutschland z. B. schwankt die jährliche Emigrationsquote zwischen 100 000 und 200 000 Auswanderern in den Jahren zwischen 1880 und 1892, überschreitet zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch kaum 20 000. Dieses starke Absinken der Zahl der deutschen Auswanderer erklärt sich durch die rasche wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands zu dieser Zeit. Das Phänomen der Verdrängung der Juden aus der Industrie führt uns selbstverständlich zum Problem des jüdischen Proletariats. Die Beschränkung der jüdischen Arbeiterklasse auf die Konsumtionsmittelindustrie stellt unwidersprochen eines der eigenartigsten Phänomene der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur des jüdischen Volks dar. Die Tatsache, dass nur eine verschwindend geringe Anzahl von jüdischen Arbeitern in den ersten Stadien der industriellen Produktion 125
beschäftigt war, während ihr Prozentsatz in den letzten Phasen ins Riesenhafte gestiegen ist, bildet ein schlagendes Beispiel für das, was man gemeinhin die »jüdische Anomalie« nennt. Diese wirtschaftliche Basis des jüdischen Proletariats ist nicht nur in sich brüchig, sie nimmt auch parallel zur Entwicklung der Technik ständig ab. Die jüdischen Arbeiter leiden nicht nur an den der handwerklichen Industrie anhaftenden Unannehmlichkeiten, nämlich an der Unorganisiertheit der Arbeiter, an den saisonbedingten Beschäftigungsmöglichkeiten, an der verschärften Ausbeutung und den schlechten Arbeitsbedingungen; sie werden auch mehr und mehr aus ihren wirtschaftlichen Positionen verdrängt. Die kapitalistische Wirtschaft ist charakterisiert durch das ununterbrochene Anwachsen des konstanten Kapitals gegenüber dem variablen Kapital. Anders ausgedrückt: Die Bedeutung des in den Produktionsmitteln vergegenständlichten Kapitals wächst gegenüber der Bedeutung des für die Bezahlung der Arbeitskraft aufgewandten Kapitals. Dieser wirtschaftliche Prozess hat die wohlbekannten Folgen der Ausschaltung des Arbeiters durch die Maschine, des Handwerksbetriebes durch die Fabrik, Verminderung des spezifischen Gewichts des Teils der Klasse, der Konsumtionsmittel produziert, zugunsten jenes Teils, der Produktionsmittel produziert. Die offizielle Nationalökonomie charakterisiert diesen Vorgang folgendermaßen: »Das einzig wirklich Sichere – und dies ist von außerordentlicher Wichtigkeit – in der Wirtschaftsentwicklung der letzten 100 bis 150 Jahre ist, dass das fixe Kapital relativ an Bedeutung gewonnen, das zirkulierende Kapital aber relativ an Bedeutung verloren hat.« [247] Je primitiver der Mensch ist, desto mehr zählt die Arbeit, die es ihm erlaubt, seine unmittelbaren Bedürfnisse zu befriedigen. Je mehr aber die Menschheit Fortschritte macht, desto mehr wendet sich ihre Aufmerksamkeit zunächst dem Werkzeug und dann der Maschine zu, die ihre Produktivkraft in großartiger Weise vervielfältigen. Zu Beginn ist das Werkzeug ein Anhängsel des Menschen, später wird der Mensch ein Anhängsel des Werkzeugs. Diese kurze Erinnerung an eine hinreichend bekannte wirtschaftliche Entwicklung kann die einschneidende Bedeutung der besonderen Lage der 126
jüdischen Arbeiterklasse nur unterstreichen und erlaubt uns, sofort zu unserem Thema zu kommen. Ein Problem, das sofort auftaucht, bis jetzt jedoch noch nicht die entsprechende Aufmerksamkeit gefunden hat, ist die Suche nach dem oder den historischen Gründen für diesen Stand der Dinge. In seiner grundlegenden Studie über die jüdische Wirtschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem Titel: »Di antwiklung fun jidiszn folk far di lecte 100 jor« schreibt Jakob Lestschinsky zu der Zusammensetzung der jüdischen bzw. nicht-jüdischen Handwerker zu dieser Zeit: »Ein ganz oberflächlicher Blick auf die vergleichende Statistik genügt zu der Feststellung, dass die jüdischen Handwerker in den Berufen tätig waren, bei denen die Möglichkeit des Übergangs zur Fabrikproduktion geringer war, während die zu einem solchen Übergang prädestinierten Berufe von den nicht-jüdischen Handwerkern ausgeübt wurden. Die Nicht-Juden stellten in Galizien 99,6 Prozent der Schlosser, 99,2 Prozent der Leineweber, 98,2 Prozent der Schmiede, 98,1 Prozent der Spinnweber (während 94,3 Prozent der Schneider, 78 Prozent der Kürschner Juden waren). Diese vier Berufe sind die Grundlage, auf der sich später Textil- und Metallindustrie entwickeln … Ohne diese qualifizierten Arbeiter, die die industrielle Massenproduktion vom Handwerk geerbt hatte, wäre die Entstehung dieser Industrien nicht möglich gewesen … In dieser historischen Tatsache liegt vielleicht der Hauptgrund für die schwache Teilnahme der Juden an der Großindustrie. Es war nur zu natürlich, dass die ersten Arbeiterorganisationen in den Metall- und Textilfabriken sich ausnahmslos aus Nicht-Juden zusammensetzten. Dieser dichte Wall nicht-jüdischer Arbeitermassen hatte sicherlich eine natürliche Anziehungskraft für die nicht-jüdische Bevölkerung, die ihm religiös, national und psychologisch näherstand. Er stieß aber sicherlich die jüdischen Massen ab, die ihm bis heute in jeder Beziehung fremd geblieben sind.« [248] Die Erklärung von Lestschinsky trägt zur Erhellung des Problems bei, das uns beschäftigt. Sie zeigt uns den primären und unmittelbaren Grund für die spezifische Berufsstruktur der jüdischen Arbeiterklasse. Auf der anderen Seite stellt sie uns jedoch vor ein neues Problem, oder besser noch, 127
sie zeigt uns das Problem unter einem anderen Aspekt. Wenn wir im jüdischen Arbeiter von heute einen Nachfahren des Handwerkers des 18. Jahrhunderts erkennen, so müssen wir grundsätzlich die Ursache für die verschiedene berufliche Zusammensetzung der jüdischen und nichtjüdischen Handwerker in dieser Zeit suchen. Warum waren die letzteren hauptsächlich Schneider und die ersteren Schmiede? Warum waren diese hauptsächlich in Berufen vertreten, die mit der Produktion verbunden sind, während jene auf Kleidung spezialisiert waren und also für die Konsumtion produzierten? Die Frage so zu stellen, heißt sie beinahe beantworten. Die Naturalwirtschaft, die in Osteuropa zu dieser Zeit vorherrschte, war beinahe ausschließlich durch die Produktion von Gebrauchswerten charakterisiert; das implizierte das nahezu vollständige Fehlen einer Arbeitsteilung in Berufe. Jede Familie genügte sich selbst bzw. produzierte in etwa alles, was zur Befriedigung des Eigenbedarfs nötig war. Émile Vandervelde beschreibt diesen Zustand folgendermaßen: »Jede Familie ist nahezu autark: Sie lebt in einem eigenen kleinen Holzhäuschen aus dem nächsten Wald und versorgt sich dort selbst mit Stroh und Lehm; sie heizt ausschließlich und hauptsächlich mit Torf, Heidekraut, Ginster und Totholz, das sie in der Umgebung sammelt; sie spinnt, webt und verarbeitet den Flachs oder Hanf aus ihrer Ernte zu Kleidung; sie ernährt sich von ihrem Weizen, ihren Kartoffeln und ihrem Gemüse …; sie backt ihr Brot, stellt ihren Wein … oder ihr Bier her, trocknet ihren Tabak selbst, tauscht ihre Eier oder Butter gegen die wenigen Waren, die sie von außerhalb bekommt: Kerzen, Öl, Eisengegenstände usw. Kurz gesagt, sie produziert so gut wie alles, was sie konsumiert, und konsumiert alles, was sie produziert, und verkauft nur das Nötigste, um die sehr begrenzten Barausgaben zu decken.« [249] Dasselbe kann man mutatis mutandis von den feudalen Gütern sagen. Es ist leicht verständlich, dass ein solches Wirtschaftssystem die berufliche Spezialisierung zwar nicht völlig ausschließt, dass die wenigen Berufe jedoch, die sich in diesem Rahmen entwickeln, notwendigerweise das Ergebnis von außergewöhnlichen Umständen sind.
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»Wir müssen die Arbeiten des Schmieds und des Töpfers als die ersten spezialisierten Berufe ansehen, weil sie von Anfang an mehr Geschicklichkeit und speziellere Arbeitsinstrumente verlangen. Selbst bei den Nomaden findet man die Nur-Handwerker im Eisengewerbe.« [250] Man versteht also leicht, dass selbst in der Epoche der Naturalwirtschaft die Berufe des Schmieds und des Webers [251] in den Dörfern verbreitet und in den Städten im Überfluss vorhanden waren. Die Städte waren in Osteuropa überdies nahezu ausschließlich Militär- und Verwaltungszentren. »In Galizien, in der Bukowina, in vielen Teilen Ungarns, Rumäniens und Transsylvaniens und bei den Völkern in Jugoslawien gab es bis vor Kurzem noch keine anderen Handwerker als Schmiede …« [252] Die Existenz einer nicht-jüdischen Handwerkerschaft in Osteuropa ist also darauf zurückzuführen, dass auch eine Gesellschaft, die in der Naturalwirtschaft (noch nicht Tauschwirtschaft) ihre ökonomische Grundlage hat, in besonderen Fällen den Austausch von Dienstleistungen benötigt. Ganz anders war der Ausgangspunkt der jüdischen Handwerkerschaft. Sie entstand aus den besonderen Bedingungen der jüdischen Kleinstadt und sorgte für deren Bedarfsdeckung. Wer aber jüdische Kleinstadt im 18. Jahrhundert sagt, meint eine Ansammlung von Kleinkaufleuten, Gastwirten, Bankiers und Vermittlern aller Art. [253] Der jüdische Handwerker arbeitete also nicht für den Bauern, der selbst produzierte, sondern für den Händler, den Bankier, die unproduktive Vermittlertätigkeiten ausübten. Hier liegt der wesentliche Grund für die besondere Berufsstruktur des jüdischen Proletariats und seines Vorgängers, der jüdischen Handwerkerschaft. Der nicht-jüdische Handwerker produziert keine Konsumgüter für den Bauern, denn dieser deckt seinen Bedarf – wie wir gesehen haben – selbst. Die Tätigkeit des jüdischen Handwerkers ist im Gegenteil durch seine Kundschaft bestimmt, die sich aus Leuten zusammensetzt, die sich mit Geld- und Warenhandel beschäftigen und also erklärtermaßen keine Produzenten sind. Dem Bauern steht also der nicht-jüdische Schmied, dem Finanzmann der jüdische Schneider zur Seite. [254] 129
Der Unterschied in der Berufsstruktur zwischen den jüdischen und den nicht-jüdischen Handwerkern beruht also letzten Endes auf ihren unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen. Diese Erklärung ist notgedrungen recht schematisch und erlaubt es wie alle Schemata lediglich, die Phänomene in ihrer Allgemeinheit zu erfassen, ohne der Vielfalt des realen Lebens gerecht zu werden. Aber diese Vielfalt exakt und detailliert wiedergeben zu wollen, hieße wiederum das Verständnis der allgemeinen Prozesse erschweren. Auch die Soziologie ist gezwungen, sich ständig im Kreise zu drehen: von der Realität zum theoretischen Schema und umgekehrt. Wer letzterem vorwirft, nicht die ganze Diversität des Lebens wiederzugeben, hat diese dialektische Interdependenz nicht erfasst. Man kann auch feststellen, dass der Kampf, der zu bestimmten Zeiten zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Handwerkern ausbricht, durch wechselseitige Übergriffe in die jeweils fremde Geschäftssphäre provoziert zu sein scheint. Diese Kämpfe haben nichts zu tun mit der damals angeblich schon bestehenden nationalen Konkurrenz, die im Feudalismus, der der Begründung der Nationen vorangeht, ganz einfach unvorstellbar wäre. »Das Nationalgefühl ist in der zerstückelten Gesellschaft des Mittelalters unbekannt …« [255] Zur Illustration könnte man eine alte Prager Chronik zitieren, die »Ramschackie Chronik« von 1491: »Den Juden war es verboten, Arbeiten für die Christen durchzuführen, aber sie hatten die nötige Muße, für ihre jüdischen Klienten zu arbeiten.« Der Prager Stadtrat beklagte sich zur selben Zeit, »dass die Juden die alten Privilegien und Verordnungen nicht beachteten, nach denen es ihnen untersagt sei, für Christen zu arbeiten«. In Posen, schreibt Graetz, sei es den Juden erlaubt gewesen, einige Berufe, wie z. B. den des Schneiders, auszuüben, jedoch nicht für Christen, sondern nur, um die eigenen Bedürfnisse der Juden zu befriedigen. Ich glaube, dass wir so die ganze Kausalkette der wirtschaftlichen Struktur des jüdischen Proletariats von heute bis zu seinen Ursprüngen zurückverfolgt haben. Sie ist insofern vollständig, als sie uns auf ein gesellschaftliches Problem allgemeiner Art zurückgeführt hat, das auch 130
schon untersucht worden ist: das Problem der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Funktion der Juden in der vorkapitalistischen Epoche. Anmerkungen: [228] Friedrich von Furtenbach, Krieg gegen Russland und russische Gefangenschaft, Nürnberg und Leipzig 1912, S. 56 f. [229] Louis Guillaume de Puybusque, Lettres sur la guerre de Russie, Paris 1816, S. 179– 181. [230] Zitiert von Wolf Dubnow in: Zur ökonomischen Geschichte der Juden in Russland, S. 576. [231] Iwan M. Kamanin, Archive de la Russie méridionale et occidentale, zitiert in: Jakob Lestschinsky, Di antwiklung fun jidiszn folk far di lecte 100 jor, Berlin 1928. [232] Bernhard D. Weinryb, »Neueste Wirtschaftsgeschichte der Juden in Russland und Polen«, in: Historische Untersuchungen, Heft 12, Breslau 1934, S. 5, 7, 8 f. [233] Lestschinsky, ebd. [234] Ebd. [235] Ebd. [236] Ebd. [237] Ebd. [238] Zar Alexander I. ermutigte die »jüdische Kolonisation« in Russland. [239] Lestschinsky, ebd. [240] Bezeichnend ist der Kampf zwischen der Haskala (Emanzipationsbewegung) und der orthodoxen Richtung. Diese Opposition zwischen denjenigen, die das wirtschaftliche Leben des Judentums ebenso wie das kulturelle verändern wollen, und den Trägern der alten Traditionen, widerspiegelt den Antagonismus zwischen der jüdischen Bourgeoisie, die aus der kapitalistischen Entwicklung Nutzen zieht und zur völligen Assimilation neigt, und den alten feudalen Schichten, die an ihrer überkommenen Lebensform hängen. Dieser Kampf dauerte das ganze 19. Jahrhundert hindurch und endete mit der Niederlage der Assimilatoren. Diese Niederlage ist weniger auf die Solidität der alten Wirtschaftsformen, als vielmehr auf die Zerbrechlichkeit der neuen zurückzuführen. [241] Vgl. weiter unten. [242] Marx, Das Kapital, Bd. II, MEW Bd. 24, Berlin 1971, S. 234. [243] »Dass das Verlagssystem [d. h. das System der Heimarbeit] sich solange halten konnte, hat seinen Grund in der Schwäche des stehenden [d. h. des fixen] Kapitals.« Weber, Wirtschaftsgeschichte, ebd., S. 146. [244] Marx, Das Kapital, Bd. II, ebd.
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[245] Im 19. Jahrhundert wuchs die jüdische Bevölkerung in den polnischen Städten schneller an als die nicht-jüdische. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts, als die Großindustrie entstand und große nicht-jüdische Massen in die Städte auswanderten, verlangsamte sich das Wachstum der jüdischen Bevölkerung und kam an manchen Orten ganz zum Erliegen. Vgl. La situation économique des Juifs dans le monde, Congrès juif mondial, Paris 1938, S. 215. [246] Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auch in ländlichen Gegenden. »In den Gebieten mit höchstentwickeltem landwirtschaftlichem Kapitalismus kreuzt sich dieser Prozess der gleichzeitigen Einführung von Lohnarbeit und von Maschinen mit einem anderen Prozess: mit der Verdrängung der Lohnarbeiter durch die Maschine.« Wladimir I. Lenin, »Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland«, in: Werke, Bd. 3, Berlin 1963, S. 229. [247] Ansiaux, Traité d’économie politique, ebd., S. 137. [248] Lestschinsky, ebd. [249] Émile Vandervelde, L’exode rural et le retour aux champs, Paris 1903, S. 70. [250] A. Mendes, L’artisanat, chez les Juifs aux temps bibliques. [251] Der Beruf des Webers sowie der des Schmieds erfordert eine besondere berufliche Ausbildung und löst sich sehr früh von der häuslichen Wirtschaft. Der Leineweber der Feudalzeit führt ein Wanderleben. Er zieht von Haus zu Haus, von Dorf zu Dorf, um seinen Beruf auszuüben. [252] Ansiaux, Traité d’économie politique, Bd. II, Paris 1923, S. 22. [253] Die Juden lebten bei Weitem nicht alle in den Kleinstädten. Aber ihre gesellschaftliche Rolle in den Großstädten oder in den Dörfern war dieselbe wie in den Kleinstädten. Die Kleinstadt charakterisierte jedoch aufgrund ihrer Besonderheiten diese gesellschaftliche Rolle am besten. Nach einer Zählung in den Gouvernements der Ukraine und Weißrusslands im Jahre 1818 waren 86,2 Prozent der Juden Kaufleute, 11,6 Prozent Handwerker, 1,9 Prozent Landwirte. In Galizien waren im Jahre 1820 81 Prozent aller Kaufleute Juden. [254] Bestimmte, dem Handel verwandte Berufe wurden ebenfalls oft von den Juden ausgeübt, beispielsweise der Beruf des Goldschmieds. [255] Pirenne, Les anciennes démocraties des Pays-Bas, ebd., S. 179.
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VI. Die widersprüchlichen Tendenzen
der jüdischen Frage in der Epoche der Entfaltung des Kapitalismus Die Französische Revolution vereinheitlichte die Ergebnisse der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung des Judentums in Westeuropa und schloss sie ab. Die Entfaltung des industriellen Kapitalismus beschleunigte das Vordringen der Juden in die Reihen der Bourgeoisie und ihre kulturelle Assimilierung. Überall bildete der Triumphzug der napoleonischen Armeen das Signal für die Emanzipation der Juden. Die napoleonische Politik spiegelte den Willen der bürgerlichen Gesellschaft wider, die Juden völlig in sich zu integrieren. In den Gebieten jedoch, in denen das System des Feudalismus noch beherrschend war, stellten sich der jüdischen Emanzipation große Schwierigkeiten in den Weg. So unterschieden sich beispielsweise die Juden aus dem Elsass – im Gegensatz zu den Juden aus Bordeaux, die völlig in der bürgerlichen Klasse aufgegangen waren – nur wenig von ihren mittelalterlichen Vorfahren. Gegen den jüdischen Wucher gerichtete Bauernaufstände zwangen Napoleon, Ausnahmegesetze gegen das elsässische Judentum zu erlassen. Die bürgerlichen Rechtsnormen erwiesen sich als unanwendbar auf feudale Gesellschaftszustände. Dasselbe gilt für Polen, wo die formelle Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz durch Napoleon eingeführt worden war, sich aber auf die Juden »für eine Periode von zehn Jahren« – wie man, um den Schein zu wahren, sagte – nicht anwenden lasse. Man muss allerdings hinzufügen, dass die breite Masse der polnischen Juden, angeführt von fanatischen Rabbinern, sich der Emanzipation entschieden widersetzte. Abgesehen von einer dünnen Schicht reicher Bürger empfanden die Juden in Polen nirgends die Notwendigkeit der staatsbürgerlichen Gleichheit. Allgemein gesehen betritt das Westjudentum jedoch seit Beginn des 19. Jahrhunderts den Weg zu einer vollständigen Assimilation. Bereits Ende des 18. Jahrhunderts – in einem Zeitraum von 30 Jahren – bekehrte sich die Hälfte der Berliner Juden zum Christentum. Diejenigen, die der jüdischen Religion treu geblieben waren, wehrten sich energisch dagegen, 133
eine getrennte Nation zu bilden. »Ohne Land, Staat und Sprache gebe es keine Nation, weshalb auch das Judentum längst aufgehört habe, eine solche zu sein«, [256] sagt Gabriel Riesser, ein Repräsentant der deutschen Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. »Wir sind Deutsche, nichts als Deutsche, wenn vom Begriff der Nationalität die Rede ist …«, sagte etwas später, im Jahre 1879, ein jüdischer Professor in Berlin. [257] Während der Kapitalismus in Westeuropa die Assimilierung der Juden vorantrieb, riss er sie in Osteuropa aus ihrer jahrhundertealten wirtschaftlichen Position. Indem er so den Zustrom der Juden in den Westen provozierte, zerstörte er mit der linken Hand, was er mit der rechten geschaffen hatte. Ströme von Ostjuden flossen kontinuierlich in die westlichen Länder und flößten so dem absterbenden Judentum neues Leben ein. [258] »Unsere großen Volksmassen im Osten, die noch in jüdischer Tradition und allenfalls in deren Atmosphäre wurzeln, bilden für die Auflösung der Westjudenheit ein Hemmnis … Die Judenheit im Westen besteht also nur noch als Abglanz des Ostjudentums …« [259] Die Tatsache, dass es zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Wien nur einige hundert Juden gab, dass ihre Zahl im 20. Jahrhundert jedoch 176 000 erreichte, genügt, um die volle Bedeutung der jüdischen Immigration aus Osteuropa zu verstehen. Die massive Emigration der Juden nach Westeuropa und vor allem nach Amerika ging einher mit der völligen territorialen Umordnung der Juden. Es ist bekannt, dass die Entwicklung des Kapitalismus von einer gewaltigen Ausdehnung der Großstädte begleitet wurde. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die großen Handels- und Industriezentren ein starker Anziehungspunkt für die Juden. Die Konzentration der jüdischen Massen in Großstädten war in den Einwanderungsländern ebenso deutlich wie in den Ursprungsländern, aus denen die Juden kamen. Sie verließen in Massen die kleinen Städte, die jahrhundertelang die Zentren ihres Wirtschaftslebens gebildet hatten, und strömten in die Handels- und Industriestädte Polens und Russlands oder in die Großstädte der westlichen Welt wie Wien, London, Berlin, Paris oder New York. »Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war die Mehrzahl der Juden 134
in Osteuropa konzentriert. Dort boten aufgrund des Fehlens von Kommunikationsmitteln die Kleinstädte den Händlern große Vorteile. In dieser Epoche wohnten die Juden vor allem in Kleinstädten (und in Dörfern) … Nach einer Statistik aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts über die polnischen Provinzen Kiew, Wolhynien und Podolien entfielen im Durchschnitt auf jedes Dorf sieben jüdische Einwohner, d. h. eine Familie. Es gab zahllose Dörfer und sehr wenige Städte. In Ostgalizien lebten 27 Prozent der jüdischen Bevölkerung in den Dörfern und in Westgalizien bis zu 43 Prozent … Analoge Bedingungen herrschten auch in einigen deutschen Staaten wie Hessen und Baden.« [260] Im 19. Jahrhundert trat hier eine entscheidende Veränderung ein. Große Massen von Juden konzentrierten sich in den urbanen Zentren der ganzen Welt. In Russland nahm die jüdische Bevölkerung in den Gemeinwesen von mehr als 10 000 Seelen zwischen 1847 und 1926 um das Achtfache zu. 1847 existierten im russischen Reich nur drei jüdische Gemeinwesen von mehr als 10 000 Personen. 1897 waren es bereits 28 und 1926 38 (innerhalb des Gebietes des ehemaligen »Heiligen Russland«). Der Prozentsatz der russischen Juden, die in diesen großen Gemeinwesen lebten, betrug 1847 5,0 % 1897 28,2 % 1926 50,2 % Die entsprechenden Ziffern in Deutschland: 1850 6,0 % 1880 32,0 % 1900 61,3 % Mehr als drei Viertel der amerikanischen Juden leben heute in Gemeinschaften von mehr als 10 000 Personen. Die riesigen jüdischen Gemeinden in New York (zwei Millionen), Warschau (300 000–500 000), Paris, London etc. bezeugen, dass die Juden das »großstädtischste Volk der Erde« geworden waren. Die Konzentration der jüdischen Massen in den Großstädten stellt ohne Zweifel eines der wichtigsten Phänomene des jüdischen Lebens in der Epoche des modernen Kapitalismus dar. 135
Wir haben bereits den Unterschied zwischen der jüdischen Emigration bis 1880 und dem darauffolgenden Exodus untersucht. Bis 1880 bot die Entwicklung in den von den Juden bewohnten Staaten noch genügend Möglichkeiten, sich in die kapitalistische Wirtschaft einzugliedern. Die Migration erfolgte vor allem ins Innere der Länder. Nach dieser Periode jedoch überstürzen sich die Ereignisse: Die Feudalwirtschaft bricht schlagartig zusammen und mit ihr die handwerklichen Zweige des Kapitalismus, in denen die Juden hauptsächlich vertreten waren. Die Juden beginnen ihre Heimatländer in großen Massen zu verlassen. Zwischen 1800 und 1880 stieg die Zahl der Juden in den USA – dem Hauptziel der jüdischen Emigration – von einigen Tausend auf 230 000, was einen Durchschnitt von ungefähr 2000 Zuwanderern pro Jahr ergibt. Zwischen 1881 und 1899 erreicht der jährliche Durchschnitt 30 000 und zwischen 1900 und 1914 100 000. Wenn man noch die Auswanderung in die überseeischen Länder (Kanada, England, Südamerika, Palästina etc.) und die nach Westeuropa hinzunimmt, erreicht die jüdische Emigration aus Osteuropa zwischen 1800 und 1880 im Ganzen ungefähr 250 000 oder 3000 jährlich, zwischen 1881 und 1899 eine Million oder 50 000 jährlich, zwischen 1900 und 1914 zwei Millionen oder 135 000 jährlich. Diese Zahlen setzen die Ostjuden unter den auswandernden Völkern an die erste Stelle. Gegen Mitte des Zeitabschnitts von 1881 bis 1914 betrug ihre Zahl in Russland, Galizien und Rumänien 6,5 Millionen; im Vergleich dazu beträgt die Auswanderungsziffer 50 Prozent. Die entsprechenden Zahlen für Italien, dem größten Auswanderungsland in Europa, betragen nur 15 Prozent nach Abzug der zurückgekehrten Emigranten, die unter den Italienern zahlreich, bei den Juden jedoch sehr selten waren. [261] Diese phantastische Emigrationsbewegung wurde begünstigt durch die hohe Geburtenrate der Juden. Die Zahl der Juden insgesamt stieg auf: 1825 3 281 000 1850 4 764 500 1880 7 663 000 1900 10 602 500
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Zwischen 1825 und 1925 verfünffachte sich die Zahl der Juden. Der Zuwachs war anderthalbmal höher als der der übrigen europäischen Bevölkerung. »Die Zahl der Juden heute übersteigt sicherlich 18 Millionen. Die Feststellung ist jedoch wichtig, dass trotz der hohen Auswanderungsquote die Zahl der Juden in Osteuropa nicht abgenommen hat, sondern sogar gestiegen ist.« »Das Ostjudentum hat in den letzten 30 Jahren vier Millionen Menschen in die Fremde entlassen, und dennoch hat sich die Zahl der Juden in Osteuropa nicht verringert, sondern sogar stark vergrößert. Sie ist von sechs Millionen auf acht Millionen angewachsen.« [262] Die Emigration hat zur gesellschaftlichen Differenzierung des Judentums beigetragen, die im 19. Jahrhundert rapide voranging. Zu Beginn der kapitalistischen Ära befanden sich wenigstens 90 Prozent der Juden in Vermittlerpositionen oder waren Kaufleute. Im 20. Jahrhundert können wir feststellen, dass es in Amerika ungefähr 2,5 Millionen jüdische Proletarier gibt, die etwa 40 Prozent aller wirtschaftlich aktiven Juden ausmachen. [263] Die berufliche Aufgliederung der Juden in ihrer Gesamtheit war 1932 die Folgende: Handel (inbegriffen Transport, Vergnügungswesen und Banken) 6 100 000 38,6 % Industrie (inbegriffen Minen und Handwerk) 5 750 000 36,4 % Freie Berufe und Verwaltung 1 000 000 6,3 % Landwirtschaft 625 000 4,0 % Gelegenheitsarbeiter, Dienstboten 325 000 2,0 % Ohne Beruf (Rentner, Pensionäre und Sozialhilfeempfänger) 2 000 000 12,7 % Summe 15 800 000 100 % Die Zahl der jüdischen Arbeiter, relativ niedrig in den rückständigen Ländern wie Polen, wo sie etwa 25 Prozent der wirtschaftlich aktiven Bevölkerung ausmacht, erreicht in Amerika 46 Prozent. Die Berufsstruktur der jüdischen Arbeiterklasse unterscheidet sich noch weitgehend von der 137
des Proletariats anderer Völker. Die Angestellten machen zwischen 30 und 36 Prozent aller jüdischen Lohnarbeiter aus; dies ist das Drei- bis Vierfache von anderen Nationen. Die landwirtschaftlichen Arbeiter, die bei den Juden nahezu wegfallen, nehmen bei den nicht-jüdischen Arbeitern 15– 25 Prozent ein. 60 bis 70 Prozent der in der Industrie beschäftigten Juden sind in Wirklichkeit handwerkliche Arbeiter (in Osteuropa arbeiten 80 Prozent der Proletarier in Werkstätten und nicht in Fabriken), während bei den Arbeitern anderer Nationen 75 bis 80 Prozent Fabrikarbeiter sind. Schließlich und endlich sind die jüdischen Arbeiter vor allem in den Konsumtionsmittelbranchen tätig, während die nicht-jüdischen Arbeiter in diesen Branchen nur einen kleinen Prozentsatz des Proletariats ausmachen. Vergleichende Statistiken über die berufliche Aufgliederung von jüdischen und »arischen« Arbeitern erlauben es noch mehr, dieses Phänomen zu vergegenwärtigen. [264] In einigen europäischen Ländern (in Prozent) Juden Nicht-Juden Kleidung 43,7 8,5 Ernährung 11,0 9,5 Leder 10,5 1,7 Metallurgie 8,6 19,9 Holz 7,9 6,9 Textil 6,8 12,0 Bau 4,2 15,2 Druckerei, Papier 3,2 3,2 anderes 3,8 22,1 In Polen (1937) [265] Juden Nicht-Juden Handwerk 58,7 33,2 Handel und Transport 18,7 12,5 Heimarbeit 9,2 1,9 Kleinindustrie 8,9 9,6 Mittel- und Großindustrie 3,8 23,0 Bergbau 0,4 8,4 Elektrizität, Wasser, Eisenbahn 0,3 8,9 138
Hüttenwerke 2,5 Dies zeigt deutlich, dass die jüdischen Arbeiter im Gegensatz zu den vor allem in der Schwerindustrie konzentrierten »nicht-jüdischen« Arbeitern in erster Linie Handwerker sind. In der Bekleidungsindustrie arbeiten fünfmal so viel Juden wie Nicht-Juden. In der metallurgischen Industrie, in der Textilindustrie und im Bauwesen sind dagegen zwei- oder dreimal mehr nicht-jüdische als jüdische Arbeiter beschäftigt. Wenn jedoch die Berufsstruktur der jüdischen und der nicht-jüdischen Arbeiterklasse auch noch so sehr differiert, so stachelt doch das Elend mehr und mehr jüdische Arbeiter an, trotz aller Hindernisse in Berufszweige vorzudringen, die ihnen bislang verschlossen waren. Vor einigen Jahrzehnten antwortete ein Großindustrieller aus Łódź auf die Frage eines Journalisten bezüglich des Boykotts jüdischer Arbeiter in seinen Fabriken: »Ich will nicht 2000 Teilhaber in meinem Unternehmen haben.« Dennoch befanden sich vor diesem Krieg 15 Prozent der jüdischen Arbeiter an den Maschinen. Das Judentum unterlag also einer tiefgreifenden Veränderung in der kapitalistischen Epoche. Die Volks-Klasse hat sich gesellschaftlich differenziert. Aber dieser Prozess, der von beträchtlicher Bedeutung ist, wird von einer Vielzahl widersprüchlicher Tendenzen begleitet, die es dem Judentum bis heute noch nicht erlaubt haben, zu einer festen Form zu finden. Es ist sehr viel leichter zu sagen, was das Judentum war, als zu definieren, was es heute ist. In der Tat hat der Kapitalismus die jüdische Entwicklung in zwei diametral entgegengesetzte Richtungen vorangetrieben. Einerseits begünstigte er die ökonomische und infolgedessen auch die kulturelle Integration. Andererseits stimulierte er die Entwicklung des jüdischen Nationalismus, indem er die jüdischen Massen entwurzelte, sie in den Städten zusammendrängte und den Antisemitismus provozierte. Die »Wiedergeburt der jüdischen Nation«, die Herausbildung der modernen jüdischen Kultur, der jiddischen Sprache und des Zionismus begleiten den Prozess der Emigration und der Konzentration der jüdischen Massen in den Städten und entwickeln sich parallel zum modernen Antisemitismus. In allen Teilen der Welt, auf allen Wegen ins Exil finden sich die jüdischen 139
Massen in besonderen Wohnvierteln zusammen, gründen ihre eigenen Kulturzentren, ihre Zeitungen und ihre jiddischen Schulen. Die nationale Bewegung findet natürlich ihren stärksten Ausdruck in den Ländern mit der größten Konzentration von Juden, in Russland, Polen und den USA. Aber die Entwicklung der Geschichte ist dialektisch. Im selben Augenblick, wo sich die Grundlagen der neuen jüdischen Nationalität herausbilden, entstehen auch alle Bedingungen für ihr Verschwinden. Während die ersten jüdischen Einwanderergenerationen noch stark am Judentum festhalten, verlieren die neuen Generationen sehr schnell ihre besonderen Bräuche und ihre eigene Sprache. »Unter den Einwanderern, die von Osteuropa nach Westeuropa, Amerika usw. kamen, wird noch jiddisch gesprochen, wenigstens in der ersten Generation. Aber es mischen sich bereits viele englische Worte unter, so dass die Sprache sich stark vom polnischen oder litauischen Jiddisch unterscheidet. Die zweite Generation spricht jiddisch und die einheimische Sprache. Die dritte Generation kennt kein Jiddisch mehr … Die jiddische Presse hat sich vor allem in den Vereinigten Staaten während der letzten 50 Jahre entwickelt, als zwei Millionen Juden ohne Englischkenntnisse aus Osteuropa kamen … Aber seit einigen Jahren, mit dem Absterben der Einwanderungswelle, hat der Erfolg der jiddischen Presse abgenommen, und die junge Generation amerikanisiert sich schnell.« [266] 1920 war nach offiziellen Statistiken das Jiddische die Muttersprache von 32,1 Prozent der amerikanischen Juden, 1930 nur noch von 27,8 Prozent. In Ungarn verschwindet das Jiddische fast vollständig. Bei einer Volkszählung von 1920 erklären 95,2 Prozent der Juden Ungarisch zu ihrer Muttersprache, 4 Prozent Deutsch, 0,8 Prozent andere Sprachen. Um 1900 sprechen in der ganzen Welt von 100 Juden 60,6 Prozent Jiddisch, 1930 nur noch 42,7 Prozent. Mit dem Verschwinden des Jiddischen wächst die Zahl der Mischehen. Je mehr sich ein Land entwickelt, desto häufiger werden Mischehen geschlossen. In Böhmen waren 44,7 Prozent der Eheschließungen, bei denen ein Partner Jude war, Mischehen. Dagegen war die Zahl der Mischehen in der »Karpato-Ukraine« [267] und in der Slowakei verschwindend gering. [268] 140
Der Prozentsatz der Mischehen zwischen Juden und Nicht-Juden im Verhältnis zu den rein jüdischen Ehen: Berlin zwischen 1901 und 1904 35,4 % 1905 44,4 % Hamburg zwischen 1903 und 1905 49,5 % Triest zwischen 1900 und 1903 61,5 % Kopenhagen zwischen 1880 und 1889 55,8 % zwischen 1890 und 1899 68,7 % zwischen 1900 und 1905 82,9 % [269] Auch die Zahl der Konvertiten steigt. In Wien z. B. steigt die Durchschnittsziffer der jüdischen Konvertiten von 0,4 Prozent im Jahre 1870 auf 4,7 Prozent in den Jahren 1921/1922. Die allgemeine Schwächung der Religion nimmt diesem Indiz jedoch viel von seiner Bedeutung. Man sieht also, was für ein zerbrechliches Gebilde die »nationale Renaissance« des Judentums ist. Die Auswanderung, zunächst mächtiges Hindernis für die Assimilierung und wichtiger Faktor für die »Nationalisierung« der Juden, wird sehr schnell zum Instrument der Vermischung der Juden mit den anderen Völkern. Die Zusammenballung der jüdischen Massen in den Großstädten, die eine Art territoriale Grundlage für die jüdische Nationalität darstellte, kann den Prozess der Assimilierung nicht lange verhindern. Die Atmosphäre in den großen städtischen Zentren gleicht einem brennenden Schmelztiegel, in dem alle nationalen Eigenheiten sehr schnell verschwinden. Wenn der Kapitalismus zunächst die Bedingungen für eine Art »nationaler Renaissance« schuf, indem er Millionen Juden entwurzelte, aus ihrem traditionellen Lebensrhythmus herausriss und sie in den Großstädten zusammendrängte, so trug er bald dazu bei, ihre Assimilierung voranzutreiben. Das Jiddische z. B. verschwand ebenso schnell, wie es sich entfaltet hatte. Die Entwicklung des Kapitalismus führte, obwohl sie oft unerwartete Wege ging, zur Vermischung der Juden mit anderen Völkern. Aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts künden deutliche Zeichen die Degeneration des Kapitalismus an. Die jüdische Frage, die im 19. Jahrhundert ihrer normalen Lösung entgegen zu gehen schien, wurde 141
aufgrund des Niedergangs des Kapitalismus außerordentlich abrupt zurückgeworfen. Die Lösung der jüdischen Frage scheint unerreichbarer denn je. Anmerkungen: [256] Simon Markowitsch Dubnow, Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes, Bd. II, Berlin 1929, S. 50. [257] Moritz Lazarus, Was heißt national?, Berlin 1880, S. 18. [258] »Der Zufluss der Ostjuden nach Westeuropa erlahmte. Er hat wahrscheinlich die Westjuden vor dem völligen Aussterben gerettet, das sonst unausweichlich gewesen wäre.« Lestschinsky, Di antwiklung fun jidiszn folk far di lecte 100 jor, ebd. »Ohne die Zuwanderung aus Osteuropa hätten die kleinen jüdischen Gemeinschaften in England, Frankreich, Belgien wahrscheinlich ihren israelischen Charakter allmählich verloren. Das gleiche gilt für Deutschland …« Ruppin, Les Juifs dans le monde moderne, ebd., S. 68. [259] Jakob Klatzkin, Krisis und Entscheidung im Judentum, Berlin 1921, S. 51, 52. [260] Ruppin, ebd., S. 38–40. [261] Ruppin, ebd., S. 52. [262] Di Jidiše Ekonomik, Vilnius, Jg. 2, Januar–Februar 1938. [263] Der Prozentsatz von Angestellten und Arbeitern betrug:
in England 77,0 % (1923)
in den USA 75,0 % (1920) in Belgien 73,0 % (1910)
in Deutschland 62,0 % (1907)
in Frankreich 48,0 % (1906)
in Polen 24,8 % (1921)
in Russland 15,0 % (1925). [264] Di Jidiše Ekonomik, ebd., Juli–August 1938. [265] Ebd., S. 320. [266] Ruppin, Les Juifs dans le monde moderne, ebd., S. 280, 338. [267] Karpato-Russland oder Karpato-Ukraine, vor dem Zweiten Weltkrieg östlicher Teil der Tschechoslowakei, Grenzgebiet zwischen Polen, Russland, Rumänien und Ungarn, heute Teil der Ukraine. [268] Di Jidiše Ekonomik, ebd., Jg. 3, April–Juni 1939. [269] Ruppin, Les Juifs dans le monde moderne, ebd., S. 311.
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VII. Der Niedergang des Kapitalismus und die jüdische Tragödie im 20. Jahrhundert Das größte Verdienst des kapitalistischen Systems ist die großartige Ausdehnung der Produktivkräfte, die Begründung der Weltwirtschaft und ein nie gekannter Aufschwung von Technik und Wissenschaft. Der Stagnation der feudalen Welt setzte der Kapitalismus eine Dynamik ohnegleichen entgegen. Viele Millionen Menschen, bisher in einem aussichtslosen Routinealltag eingepresst, fühlten sich plötzlich von dem Strom einer intensiven, fiebernden Existenz erfasst. Die Juden lebten in den Poren der feudalen Gesellschaft. Als die feudale Ordnung in sich zusammenstürzte, stieß sie zunächst die Elemente ab, die ihr zugleich fremd und unentbehrlich waren. Noch bevor der Bauer sein Dorf gegen das Industriezentrum eintauschte, verließ der Jude die mittelalterliche Kleinstadt, um in die Großstädte der damaligen Welt einzuwandern. Der Verlust der jahrhundertealten Funktion der Juden in der Feudalgesellschaft geht einher mit einer Art passiven Eindringens in die kapitalistische Gesellschaft. Wenn jedoch der Kapitalismus der Menschheit auch wertvolle Eroberungen ermöglichte, so kann die Menschheit sich diese erst mit seinem Abtreten dienstbar machen. Allein der Sozialismus ist in der Lage, die materiellen Grundlagen der Zivilisation der ganzen Menschheit zugänglich zu machen. Aber der Kapitalismus überlebt sich selbst und all seine großartigen Errungenschaften wenden sich mehr und mehr gegen die elementarsten Interessen der Menschheit. Die Fortschritte von Technik und Wissenschaft verwandeln sich in Fortschritte der Wissenschaft und Technik des Todes. Die Entfaltung der Produktionsmittel ist gleichbedeutend mit dem Wachstum der Vernichtungsmittel. Die Welt, zu klein geworden für den vom Kapitalismus geschaffenen Produktionsapparat, wird noch weiter eingeengt durch die verzweifelten Bemühungen jedes Imperialismus, seine Einflusssphäre zu erweitern. Obwohl der Export im Übermaß ein untrennbarer Bestandteil der kapitalistischen Produktionsweise ist, versucht der dekadente 143
Kapitalismus sich seiner zu entledigen; d. h. seinen alten Übeln noch die mit seiner Selbstauflösung verbundenen Übel hinzuzufügen. Mächtige Barrieren behindern die freie Zirkulation der Waren und der Menschen. Unüberwindbare Hindernisse bauen sich vor den Massen auf, die infolge des Zusammensturzes der traditionellen feudalen Welt weder Brot noch Arbeit finden. Die Fäulnis des Kapitalismus beschleunigte nicht nur den Verfall der feudalen Gesellschaft, sondern vervielfachte auch die daraus resultierenden Leiden. Die in der Sackgasse steckenden »Zivilisatoren« versperren denjenigen, die sich zivilisieren wollen, den Weg. Sie können sich nicht zivilisieren, noch weniger jedoch können sie im Stadium der Barbarei verharren. Der Kapitalismus verschließt denjenigen Völkern, deren traditionelle Existenzgrundlage er zerstört hat, den Weg in die Zukunft, nachdem er den Weg in die Vergangenheit abgeschnitten hat. An diese allgemeinen Phänomene knüpft die jüdische Tragödie des 20. Jahrhunderts an. Die extreme und tragische Situation des Judentums in unserer Zeit erklärt sich durch die außerordentliche Unsicherheit seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Stellung. Als erste von dem zerfallenden Feudalismus abgestoßen, werden die Juden auch als erste von dem sich im Todeskampf aufbäumenden Kapitalismus zurückgeworfen. Die jüdischen Massen finden sich so zwischen dem Amboss des absterbenden Feudalismus und dem Hammer des niedergehenden Kapitalismus wieder. 1. In Osteuropa Die ganze Situation des Judentums in Osteuropa erklärt sich aus der Verbindung des Zerfalls der alten feudalen Formen mit dem Niedergang des Kapitalismus. Die gesellschaftliche Differenzierung, die sich in den Dörfern infolge des Vordringens des Kapitalismus durchsetzt, hat zur Folge, dass reiche wie proletarisierte Bauern in die Städte strömen; erstere bringen ihr Kapital, letztere ihre Arbeitskraft auf den Markt. Aber es gibt ebenso wenig Möglichkeiten für die Unterbringung von Kapital wie Möglichkeiten, Arbeit zu finden. Kaum geboren, zeigt das kapitalistische System bereits Anzeichen von Senilität. Die allgemeine Dekadenz des Kapitalismus offenbart sich innerhalb der Länder Europas in Krise und
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Arbeitslosigkeit, außerhalb ihrer Grenzen in der Beseitigung aller Auswanderungsmöglichkeiten. Im Inneren Osteuropas stellen sich der Abwanderung immer unüberwindbarere Schwierigkeiten entgegen. Sieben bis acht Millionen Bauern bleiben ohne Land und nahezu ohne Arbeit im »unabhängigen« Polen. Die Juden befinden sich zwischen zwei Feuern. Sie dienen Kleinbürgern und Bauern, die sich auf ihre Kosten sanieren wollen, zur Zielscheibe. »Die Stellung der Juden ist besonders bedroht von der polnischen Stadtbourgeoisie und den reichen Bauern, die die Lösung ihrer Schwierigkeiten in einem wilden Wirtschaftsnationalismus suchen. Die polnische Arbeiterklasse dagegen, die unter ständiger Arbeitslosigkeit leidet, sucht ihre Rettung eher in der wirtschaftlichen und politischen Befreiung, als in einer sterilen und mörderischen Konkurrenz …« [270] Gerade in den vom Kapitalismus am weitesten entwickelten Gebieten bildet sich schnell eine nicht-jüdische Handelsklasse heraus. Hier tobt der Antisemitismus am wildesten. »In den zentralen Wojwodschaften ging man am weitesten mit der Zerstörung jüdischer Geschäfte. Dies waren Gegenden mit rein polnischer Bevölkerung. Die Bauern hatten hier einen relativ hohen Lebensstandard erlangt, die Industrie war relativ fortgeschritten, was für die materielle und intellektuelle Lage des Dorfes sehr wichtig war.« [271] Während 1914 72 Prozent der Geschäfte in den Dörfern jüdisch waren, sank dieser Prozentsatz 1935 auf 34 Prozent, d. h. um mehr als die Hälfte. Die Lage der Juden war in den wirtschaftlich weniger entwickelten Gebieten besser. »Die jüdische Teilnahme am Handel ist in den rückständigeren Wojwodschaften größer.« (Lipowski) »Die östlichen, von Weißrussen besiedelten Gebiete sind in ökonomischer, intellektueller und politischer Hinsicht der rückständigste Teil Polens. In diesen Gebieten hat sich die absolute Mehrheit der jüdischen Händler um ein Drittel vergrößert.« [272] 1938 befanden sich in den rückständigen Gebieten Polens 82,6 Prozent der Geschäfte in jüdischen Händen. [273] Alle diese Tatsachen beweisen noch einmal, dass dem jüdischen Problem in Osteuropa die Zerstörung des Feudalismus zugrunde liegt. Je weiter ein Gebiet in seiner Entwicklung zurückliegt, desto leichter gelingt es den Juden, ihre jahrhundertealte Position zu halten. Aber der allgemeine 145
Zerfall des Kapitalismus macht eine Lösung der jüdischen Frage unmöglich: Die chronische Krise und Arbeitslosigkeit versperren den Juden den Zugang zu anderen Berufen. Sie erzeugen einen wilden Andrang auf die von den Juden ausgeübten Berufe und tragen zur Verschärfung des Antisemitismus bei. Die Regierungen der Junker und der Großkapitalisten bemühen sich natürlich, die antijüdische Bewegung zu organisieren und so die Massen von ihrem wahren Feind abzulenken. »Die Lösung der jüdischen Frage« wird für sie synonym für die Lösung der sozialen Frage. Um den nationalen Kräften Spielraum zu verschaffen, organisiert der Staat einen systematischen Kampf, um alle Berufe vom jüdischen Element zu »reinigen«. Die Mittel, um den Handel in Polen zu polonisieren, reichen von dem einfachen Boykott der jüdischen Geschäfte durch entsprechende Propaganda bis zu Judenpogromen und -bränden. Als Beispiel möge der »Siegesbericht« in dem polnischen Regierungsblatt »Ilustrowany Kurier Codzienny« aus dem Jahr 1936 dienen: 160 polnische Handelsgeschäfte seien während der ersten drei Monate des Jahres im Kreis von Radom erworben worden. Allein in Przytyk (berühmt wegen seiner Pogrome) seien 50 Handelspatente von Polen aufgekauft worden. Im Ganzen seien in den verschiedenen Bezirken 2500 polnische Handelsgewerbe erobert worden. [274] Das jüdische Handwerk wurde von der polnischen Regierung nicht besser behandelt. Boykott, übermäßige Steuern, Prüfungen nur auf Polnisch (Tausende von jüdischen Handwerkern beherrschten diese Sprache nicht) trugen dazu bei, die jüdischen Handwerker zu vertreiben. Ohne Arbeitslosenunterstützung ist das Handwerkerproletariat ganz besonders benachteiligt. Die Gehälter der jüdischen Arbeiter sind sehr niedrig und die Lebensbedingungen unerträglich (ein Arbeitstag hat bis zu 18 Stunden). Die Universitäten wurden das Lieblingsterrain des antisemitischen Kampfs. Die polnische Bourgeoisie unternahm alles, um den Juden den Zugang zu den intellektuellen Berufen zu versperren. Die polnischen Universitäten wurden zum Schauplatz von wirklichen Pogromen und Fensterstürzen. Lange vor den Judensternen Hitlers führte die polnische Bourgeoisie die Ghettobanken in den Universitäten ein. »Legale Methoden«, diskreter, aber nicht weniger wirksam, machten der jüdischen 146
Jugend, deren intellektuelle Fähigkeiten aufgrund des Lebensstils ihrer Vorfahren stark entwickelt waren, den Zugang zu den Universitäten so gut wie unmöglich. Der Prozentsatz der jüdischen Studenten in Polen verringerte sich zwischen 1923 und 1934 um 24,5 Prozent, zwischen 1933 und 1936 um 13,2 Prozent. [275] In derselben Weise ging man in Lettland und Ungarn gegen die jüdischen Studenten vor. Der Anteil der jüdischen Studenten sank in Lettland von 15,7 Prozent im Jahre 1920 auf 8,5 Prozent im Jahre 1931; in Ungarn von 31,7 Prozent (1918) auf 10,5 Prozent (1931). Alles in allem glich die Lage der Juden in Ungarn jahrhundertelang der der polnischen Juden. In diesem Land der großen Feudalmagnaten spielten die Juden lange Zeit hindurch die Rolle der Vermittlerklasse zwischen Herren und Bauern. »Einer unserer Berichterstatter erinnert uns daran, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein gewisser Graf von Palugyay, der sich selbst mit der industriellen Verarbeitung der auf seinen Ländereien gewonnenen Produkte beschäftigen wollte, insbesondere mit der Destillation von Kartoffelschnaps und Branntwein, mit Mühe und Not dem Ausschluss aus dem nationalen Verein des ungarischen Adels in Budapest entging. Er hatte sich sogar erlaubt, den Verkauf zu übernehmen.« Auch die liberalen Berufe waren Opfer dieses Vorurteils, das sowohl in der hohen Aristokratie wie beim niedrigen Adel verbreitet war. Kurz vor dem Sturz der Doppelmonarchie äußerte sich ein ungarischer Magnat verächtlich über die Adeligen, die »für Geld« den Hals von Individuen untersuchten, die sie nicht kannten. Natürliche Folge dieser Haltung war, dass die Juden insbesondere in den Städten gezwungen waren, die Rolle der Vermittlerklasse zwischen Bauern und Adel zu übernehmen. Der Handel, vor allem der Kleinhandel, war in den Augen des Volks Judensache. Noch heute ist der Kaufladen und alles, was mit dessen Betrieb zusammenhängt, in den Augen des ungarischen Volks eine jüdische Angelegenheit, selbst wenn dieser Kaufladen längst zu einem Instrument des wirtschaftlichen Kampfs gegen die Juden geworden ist. Folgende Anekdote offenbart diesen Bewusstseinsstand in erstaunlicher Weise: Eine Bäuerin schickt ihren Sohn um Einkäufe. Sie will, dass er dies 147
in der halbstaatlichen Kooperative Mangya tut, nicht in einem jüdischen Laden, und sie sagt ihm: »Piesta, gehe zum Juden, aber nicht zu dem, der Jude ist, sondern in das neue Geschäft.« [276] Die Juden wurden in ganz Osteuropa aus ihren wirtschaftlichen Positionen vertrieben. Die jüdischen Massen gerieten in eine aussichtslose Lage. Eine von allem ausgeschlossene Jugend vegetierte ohne Aussicht auf Integration in das Wirtschaftsleben in hoffnungslosem Elend dahin. Vor dem Zweiten Weltkrieg baten 40 Prozent der jüdischen Bevölkerung bei philanthropischen Institutionen um Hilfe. Die Tuberkulose wütete. Geben wir den Berichterstattern der wirtschaftlichen und statistischen Abteilung des jüdischen Wissenschaftsinstitutes, das sich in einem Gebiet befand, wo Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit unter der jüdischen Jugend regierten, das Wort. Über Międzyrzecze Górne sagen sie: »Die Lage der jüdischen Jugend ist sehr schwierig, besonders die der Kaufmannssöhne und -töchter, die ohne Arbeit sind, da ihre Eltern ihrer Mithilfe nicht bedürfen. Unmöglich, neue Unternehmen zu eröffnen. 75 junge Männer, 120 junge Mädchen zwischen 15 und 28 Jahren leben ohne jede Hoffnung, sich in die Wirtschaft des Landes zu integrieren.« Von Sulejów (Wojwodschaft Łódź) verfügen wir über ein detaillierteres, für die polnischen Kleinstädte charakteristisches Bild: »Nahezu 50 Prozent der Kinder jüdischer Händler arbeiten bei ihren Eltern mit, aber nur, weil es ihnen nicht gelingt, eine andere Beschäftigung zu finden. 25 Prozent erlernen irgendeinen Beruf, und die restlichen 25 Prozent sind zum Nichtstun verurteilt. 70 Prozent der Kinder von Handwerkern bleiben in den Werkstätten ihrer Eltern, obwohl diese nahezu ohne Arbeit sind und sehr gut ohne Hilfe auskommen könnten. 10 Prozent erlernen neue Berufe, 20 Prozent haben nichts zu tun. Die Söhne von Rabbinern und Angestellten der jüdischen Gemeinschaft neigen dazu, ihren Lebensunterhalt durch die Erlernung eines Berufes zu sichern. Die ganze Jugend möchte auswandern, 90 Prozent nach Palästina, aber ihre Chancen sind gering, da die Zahl der Auswanderungsgenehmigungen beschränkt ist. Aber sie gingen selbst auf den Nord- oder Südpol, nur um dieser Stagnation zu entfliehen. Die Jugend wendet sich mehr und mehr dem Handwerk zu, und ihre Beteiligung am Handel nimmt ab.« [277] 148
2. In Westeuropa Die Lage des Judentums – in Osteuropa in hoffnungsloser Verstrickung zwischen dem zusammenbrechenden Feudalismus und dem in Fäulnis begriffenen Kapitalismus – schuf eine Treibhausatmosphäre wilder Antagonismen, die sich in gewisser Weise auf die ganze Welt ausdehnte. West- und Mitteleuropa werden zum Schauplatz eines grauenvollen Antisemitismus. Während das Zurückgehen der jüdischen Emigration, deren jährlicher Durchschnitt von 155 000 in den Jahren 1901 bis 1914 auf 43 657 in den Jahren 1926 bis 1935 sank, [278] die Lage der Juden in Osteuropa fürchterlich erschwerte, machte die allgemeine Krise des Kapitalismus selbst diese beschränkte Auswanderung für die westeuropäischen Länder untragbar. Die jüdische Frage spitzte sich ungeheuer zu, nicht nur in den Auswanderungs-, sondern auch in den Einwanderungsländern. Schon vor dem ersten imperialistischen Krieg schuf die massive Ankunft jüdischer Immigranten eine starke antisemitische Bewegung in den Mittelklassen mehrerer Länder in Mittel- und Westeuropa. Es genügt, an die großen Erfolge der antisemitischen Christlichsozialen Partei in Wien und an ihren Führer Karl Lueger zu erinnern, an das Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland (Heinrich von Treitschke) und an die Affäre Dreyfus. Der Antisemitismus zeigte seine Wurzeln am deutlichsten in Wien, einem der großen Zentren der jüdischen Immigration vor dem ersten imperialistischen Krieg. Das Kleinbürgertum, ruiniert durch die Entfaltung des Monopolkapitalismus, auf dem Wege der Proletarisierung, geriet bei dem massiven Einbruch des jüdischen Elements, das seiner Tradition nach kleinbürgerlich und handwerklich war, in äußerste Erbitterung. Nach dem Ersten Weltkrieg sahen die Länder West- und Mitteleuropas, Deutschland, Österreich, Frankreich und Belgien, Zehntausende jüdische Einwanderer aus Osteuropa zerlumpt und ohne jegliche Reserven einströmen. Der trügerische Nachkriegswohlstand erlaubte diesen Elementen, in alle kaufmännischen und handwerklichen Bereiche vorzudringen. Selbst die jüdischen Immigranten, die Zugang zu den Fabriken gefunden hatten, blieben dort nicht lange.
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Die lange kaufmännische Vergangenheit der Juden begünstigte ihre Nachkommen, und die wirtschaftlich vorteilhaften Bedingungen der Nachkriegszeit führten zu einer fühlbaren Entproletarisierung in Westeuropa und in den USA. Die jüdischen Arbeiter behielten in den Einwanderungsländern ihre handwerkliche Struktur bei. In Paris betrieben von 21 083 gewerkschaftlich organisierten jüdischen Arbeitern im Jahre 1936 9253 Heimarbeit. Die wirtschaftliche Katastrophe von 1929 machte die Lage der kleinbürgerlichen Massen aussichtslos. Die Überlastung im Kleinhandel, im Handwerk und in den intellektuellen Berufen nahm ungewohnte Ausmaße an. Der Kleinbürger betrachtete seinen jüdischen Konkurrenten mit wachsender Feindseligkeit, dessen berufliche Überlegenheit – Ergebnis jahrhundertelanger Praxis – ihm oft leichter über »die schweren Zeiten« hinweghalf. Der Antisemitismus gewann sogar bei den breiten Schichten der handwerklichen Arbeiter an Boden, die schon immer unter dem Einfluss des Kleinbürgertums gestanden hatten. Es ist also falsch, das Großkapital zu bezichtigen, den Antisemitismus ins Leben gerufen zu haben. Das Großkapital hat sich nur den elementaren Antisemitismus der kleinbürgerlichen Massen zunutze gemacht. Es formte ihn zu einem Meisterstück faschistischer Ideologie. Mit dem Mythos des »jüdischen Kapitalismus« versuchte das Großkapital den Kapitalistenhass der Massen von sich abzulenken. Die reale Möglichkeit einer Agitation gegen die jüdischen Kapitalisten lag in dem Antagonismus zwischen Monopolkapital und spekulativem Kaufmannskapital, das in der Regel in jüdischen Händen lag. Die Skandale innerhalb dieses spekulativen Kaufmannskapitals, insbesondere die Börsenskandale, sind in der Öffentlichkeit vergleichsweise gut bekannt geworden. Dies erlaubte es dem Monopolkapital, den Hass der kleinbürgerlichen Massen und teilweise sogar der Arbeiter zu kanalisieren und gegen den »jüdischen Kapitalismus« zu lenken. 3. Der Rassismus »Die Ideologie ist ein Prozess, der zwar mit Bewusstsein vom sogenannten Denker vollzogen wird, aber mit einem falschen Bewusstsein. Die eigentlichen Triebkräfte, die ihn bewegen, bleiben ihm unbekannt; 150
sonst wäre es eben kein ideologischer Prozess. Er imaginiert sich also falsche resp. scheinbare Triebkräfte.« [279] Bis jetzt haben wir versucht, die wirklichen Grundlagen des Antisemitismus unserer Zeit herauszuarbeiten. Man muss sich jedoch nur die Rolle vergegenwärtigen, die das erbärmliche Dokument der zaristischen Ochrana, die »Protokolle der Weisen von Zion«, für die Entwicklung des Antisemitismus spielte, um die Bedeutung der »falschen resp. scheinbaren Triebkräfte« des Antisemitismus zu verstehen. In der hitlerschen Propaganda heute spielt das wirkliche Motiv des Antisemitismus in Westeuropa, die wirtschaftliche Konkurrenz des Kleinbürgertums, keine Rolle mehr. Dagegen kehren die fantastischen Aussagen aus den »Protokollen der Weisen von Zion«, die »Weltherrschaftspläne des internationalen Judentums«, in jeder Rede und in jedem Manifest Hitlers wieder. Man muss also dieses mystische Element in der Ideologie des Antisemitismus analysieren. Die Religion ist das charakteristischste Beispiel für eine Ideologie. Ihre wirklichen Triebkräfte müssen in dem außerordentlich prosaischen Bereich der materiellen Interessen einer Klasse gesucht werden, obwohl sie scheinbar in eher ätherischen Sphären liegen. Dennoch war der Gott, der der englischen Aristokratie und Karl I. die fanatischen Puritaner Cromwells als Geißel schickte, nichts anderes als der Reflex oder das Symbol der Interessen der englischen Bauern und Bürger. Jede religiöse Revolution ist in Wirklichkeit eine soziale Revolution. Die ungezügelte Entfaltung der Produktivkräfte, die auf die engen Grenzen der Konsumtionsfähigkeit stößt – das ist die eigentliche Triebkraft des Imperialismus als höchstem Stadium des Kapitalismus. Stattdessen erscheint jedoch die Rasse als seine offensichtlichste Kraft. Der Rassismus ist also in erster Linie die ideologische Verkleidung des modernen Imperialismus. Die »für ihren Lebensraum kämpfende Rasse« spiegelt nichts anderes wider als den ständigen Expansionszwang, der den Finanzoder den Monopolkapitalismus charakterisiert. Wenn der kapitalistische Grundwiderspruch zwischen der Produktion und der Konsumtion das Großbürgertum dazu zwingt, für die Eroberung ausländischer Märkte zu kämpfen, so zwingt er das Kleinbürgertum, für die 151
Ausdehnung des Binnenmarkts zu kämpfen. Das Fehlen der Absatzmärkte im Ausland geht Hand in Hand mit deren Fehlen im Inland. Während die Großbourgeoisie verbissen gegen die Konkurrenz im Ausland kämpft, kämpft das Kleinbürgertum nicht weniger verbissen gegen seine Konkurrenten im Inland. Der nach außen gerichtete Rassismus wird von einem internen Rassismus ergänzt. Die kapitalistischen Widersprüche, die sich im 20. Jahrhundert extrem verschärften, führen auch zu einer Verschärfung des externen und des internen Rassismus. Die primär kaufmännische und handwerkliche Struktur des Judentums, das Erbe einer langen historischen Entwicklung, macht die Juden zum Feind Nummer eins des Kleinbürgertums auf dem Binnenmarkt. Es ist also der kleinbürgerliche Charakter des Judentums, der es dem Kleinbürgertum so verhasst macht. Wenn jedoch die Vergangenheit des Judentums einen bestimmenden Einfluss auf seine heutige gesellschaftliche Zusammensetzung ausübt, so wirkt sie nicht weniger stark auf das Bewusstsein der Massen ein. Für diese ist und bleibt der Jude der traditionelle Vertreter der »Geldmacht«. Dies ist sehr wichtig, denn das Kleinbürgertum ist nicht nur eine kapitalistische Klasse, d. h. eine Klasse, die alle kapitalistischen Tendenzen in Miniatur in sich trägt. Es ist zugleich antikapitalistisch. Es hat das starke, wenn auch vage Bewusstsein, vom Großkapital ausgeplündert und ruiniert zu werden. Aber sein Doppelcharakter, seine Lage zwischen zwei Klassen, erlaubt es ihm nicht, die wirkliche Struktur der Gesellschaft und den wirklichen Charakter des Großkapitals zu durchschauen. Es ist unfähig, die tatsächlichen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung zu verstehen, denn es ahnt, dass für es selbst diese Entwicklung nur tödlich sein kann. Es will antikapitalistisch sein, ohne aufzuhören, kapitalistisch zu sein. Es will den schlechten Charakter des Kapitalismus zerstören, d. h. die Tendenzen, die es selbst ruinieren, und zugleich den »guten Charakter« des Kapitalismus erhalten, der es ihm erlaubt, zu leben und sich zu bereichern. Aber da es einen Kapitalismus mit guten und ohne die schlechten Seiten nicht gibt, muss ihn das Kleinbürgertum erfinden. Nicht zufälligerweise ist es die Kleinbourgeoisie, die den »Superkapitalismus« erfunden hat – die Verirrung und die Bösartigkeit des Kapitalismus. Es ist kein Zufall, dass seine 152
Theoretiker, vor allem Proudhon [280] , seit mehr als einem Jahrhundert zum Kampf gegen den »schlechten, spekulativen Kapitalismus« aufrufen und den »nützlichen, produktiven Kapitalismus« verteidigen. Der Versuch der nationalsozialistischen Theoretiker, zwischen dem »nationalen, produktiven Kapital« und dem »jüdischen, parasitären Kapital« zu unterscheiden, ist wahrscheinlich der letzte Versuch dieser Art. Der »jüdische Kapitalismus« ist am ehesten geeignet, die Rolle des schlechten Kapitalismus zu übernehmen. Die Vorstellung des »jüdischen Reichtums« war in der Tat im Bewusstsein der Massen fest verankert. Es ging nur darum, mit einer gut abgestimmten Propaganda das Bild des »jüdischen Wucherers«, gegen den Bauern, Kleinbürger und Gutsbesitzer lange Zeit hindurch gekämpft hatten, wieder wachzurufen und zu aktualisieren. Das Kleinbürgertum und ein Teil der unter seinem Einfluss stehenden Arbeiterklasse lassen sich leicht von einer solchen Propaganda mitreißen und fallen der Ideologie vom jüdischen Kapitalismus zum Opfer. Historisch gesehen bedeutet der Erfolg des Rassismus, dass es dem Kapitalismus gelungen ist, das antikapitalistische Bewusstsein der Massen auf eine dem Kapitalismus vorangehende, nur noch fragmentarisch erhaltene Gesellschaftsform abzulenken. Diese fragmentarischen Überreste genügen jedoch, um dem Mythos einen Anschein von Realität zu verleihen. Man sieht, dass der Rassismus aus sehr heterogenen Elementen zusammengesetzt ist. Er spiegelt den Expansionswillen des Großkapitals wider. Er drückt den Hass des Kleinbürgertums gegen die »fremden« Elemente auf dem inländischen Markt ebenso aus wie seine antikapitalistischen Tendenzen. Als kapitalistisches Element bekämpft das Kleinbürgertum die jüdische Konkurrenz, als antikapitalistisches Element kämpft es gegen das jüdische Kapital. Der Rassismus lenkt schließlich den antikapitalistischen Kampf der Massen gegen eine dem eigentlichen Kapitalismus vorangehende, nur noch in Resten vorhandene, frühere kapitalistische Form. Aber wenn es die wissenschaftliche Analyse auch erlaubt, die Komponenten der rassistischen Ideologie aufzudecken, so muss sie doch als eine völlig homogene Doktrin erscheinen. Der Rassismus dient gerade dazu, alle Klassen in dem Schmelztiegel einer Rassengemeinschaft, die sich 153
anderen Rassen entgegenstellt, aufgehen zu lassen. Der Rassenmythos bemüht sich, als einheitliches Ganzes – mit nur sehr vagen Beziehungen zu seinen oft sehr verschiedenen Quellen – zu erscheinen. Er versucht, seine verschiedenen Elemente in perfekter Manier zu vereinen. So muss z. B. der nach außen gerichtete Rassismus als ideologischer Deckmantel für den Imperialismus keineswegs schon per se einen antisemitischen Charakter haben. Aber aufgrund der Notwendigkeit einer Verschmelzungsideologie bedient er sich in der Regel dieser Erscheinungsform. Der Antikapitalismus der Massen, zunächst gegen das Judentum gelenkt, bezieht sich sehr bald auch auf den äußeren Feind, der mit dem Judentum identifiziert wird. Die germanische Masse muss gegen den Juden, ihren Hauptfeind, in allen seinen Verkleidungen kämpfen: der des Bolschewismus und des Liberalismus im Inneren, der der angelsächsischen Plutokratie und der des russischen Bolschewismus. Hitler schreibt in »Mein Kampf«, dass man die verschiedenen Feinde unter einem gemeinsamen Aspekt zeigen müsse, da sonst die Gefahr bestehe, dass die Massen zu viel über die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede nachdenken würden. Der Rassismus ist also keine Doktrin, sondern ein Mythos. Er fordert Glauben und fürchtet die Vernunft wie das Feuer. Der Antisemitismus ist am besten geeignet, die verschiedenen Elemente des Rassismus zu verkitten. Ebenso, wie es nötig ist, die verschiedenen Klassen in einer Rasse aufgehen zu lassen, muss diese Rasse auch einen gemeinsamen Feind haben: den internationalen Juden. Der Rassenmythos ist konsequenterweise von einem Gegenmythos begleitet: dem der Antirasse, des Juden. Die Rassengemeinschaft baut auf dem Hass gegen die Juden auf. Dieser Hass hat sein solidestes Fundament in der Geschichte. Er wurzelt in der Epoche, in der die Juden ein wirklicher Fremdkörper für alle Klassen waren. Die Ironie der Geschichte will es, dass der radikalste Antisemitismus, den die Geschichte bisher kennt, zu einem Zeitpunkt ausbricht, wo sich das Judentum auf dem Weg zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Integration befindet. Aber, wie immer in der Geschichte, ist das scheinbare Paradoxon nur allzu verständlich. Zu der Zeit, da der Jude nicht integrierbar war, zu der 154
Zeit nämlich, als er wirklich das Kapital verkörperte, war er für die Gesellschaft unentbehrlich. Seine Ausrottung stand nicht zur Diskussion. Heute aber versucht sich die kapitalistische Gesellschaft, am Rand des Abgrunds angelangt, dadurch zu retten, dass sie den Juden und mit ihm den Judenhass wiederaufleben lässt. Und gerade weil die Juden nicht mehr die ihnen zugeschriebene Rolle spielen, kann ihre Verfolgung solche Ausmaße annehmen. Der »jüdische Kapitalismus« ist ein Mythos, und deshalb ist er so leicht zu überwinden. Aber indem er sein Pendant zerstört, zerstört der Rassismus ebenfalls seine eigenen Existenzgrundlagen. In dem Maße, in dem das Phantom des jüdischen Kapitalismus verblasst, ersteht die kapitalistische Realität in ihrer ganzen Hässlichkeit. Die gesellschaftlichen Widersprüche, die für einen Augenblick im Rausch des Rassenwahns untergingen, treten wieder in ihrer ganzen Schärfe hervor. Auf die Dauer ist der Mythos der Realität gegenüber machtlos. Trotz seiner scheinbaren Homogenität lässt die Entwicklung des Rassismus deutlich die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Transformationen erkennen, die er zu vertuschen sucht. Das Großkapital muss zunächst seinen inneren Feind, das Proletariat schlagen, bevor es die nötige Grundlage für den Kampf um Lebensraum, den imperialistischen Krieg, schaffen kann. Das Kleinbürgertum und die zum Lumpenproletariat herabgesunkenen Elemente stellen die Stoßtruppen, die fähig sind, wirtschaftliche und politische Organisationen des Proletariats zu sprengen. Der Rassismus erscheint anfänglich als Ideologie der Kleinbürger. Sein Programm spiegelt die Interessen und Illusionen dieser Klasse wider. Er verspricht den Kampf gegen den »Superkapitalismus«, gegen die Trusts, gegen die Börse, die großen Geschäfte etc. Sobald jedoch das Großkapital das Proletariat mit Hilfe des Kleinbürgertums zerschlagen hat, wird ihm auch dieses zu einer untragbaren Last. Das Kriegsvorbereitungsprogramm beinhaltet eine gnadenlose Ausmerzung der Kleinunternehmer, eine ungeheure Entwicklung der Trusts und eine starke Proletarisierung. Dieselbe militärische Vorbereitung bedarf aber der Unterstützung oder mindestens der Neutralität des Proletariats, des wichtigsten Produktionsfaktors. Das Großkapital zögert auch keinen Augenblick, seine feierlich gegebenen Versprechungen aufs zynischste zu brechen und das 155
Kleinbürgertum in brutaler Manier abzuwürgen. Der Rassismus bemüht sich nun, das Proletariat zu gewinnen, indem er sich als radikal »sozialistisch« ausgibt. Hier spielt die Identifikation Judentum-Kapitalismus die wichtigste Rolle. Die radikale Enteignung der jüdischen Kapitalisten dient als Garantie und Beweis für die Bereitschaft des Rassismus zum antikapitalistischen Kampf. Der anonyme Charakter des Monopolkapitalismus im Gegensatz zu dem im Allgemeinen an Personen gebundenen (und oft spekulativ kaufmännischen) Charakter der jüdischen Unternehmen erleichtert diese betrügerische Operation. Der Mann auf der Straße erkennt leichter den »realen Kapitalismus«, nämlich den Händler, den Fabrikanten, den Spekulanten, als den »respektablen Direktor einer Aktiengesellschaft«, den man als einen »notwendigen Produktionsfaktor« darstellt. Auf diese Art und Weise gelangt die Rassenideologie zu folgenden Identifikationen: Judentum = Kapitalismus, Rassismus = Sozialismus, gelenkte Kriegswirtschaft = sozialistische Planwirtschaft. Unleugbar haben sich beachtliche Teile der Arbeiterklasse, ihrer Organisationen beraubt und durch den politischen Erfolg Hitlers geblendet, von dem Rassenmythos ebenso täuschen lassen wie zuvor das Kleinbürgertum. Im Augenblick scheint die Bourgeoisie ihr Ziel erreicht zu haben. Grauenvolle Judenverfolgungen erstrecken sich über ganz Europa und dienen dazu, den »Endsieg« des Rassismus und die endgültige Niederlage des internationalen Judentums zu beweisen. 4. Über die jüdische Rasse Die heute herrschende »Rassentheorie« ist nichts anderes als der Versuch, den Rassismus »wissenschaftlich« zu fundieren. Sie hat keinerlei wissenschaftlichen Wert. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur die kläglichen intellektuellen Verrenkungen anzusehen, derer sich die Rassentheoretiker bedienen müssen, um die Verwandtschaft zwischen Germanen und Japanern oder den unüberwindbaren Antagonismus zwischen »germanischem Heldengeist« und »angelsächsischem Krämergeist« zu beweisen. Die Verirrungen eines George Montandon über die »Entprostituierung« der jüdischen »Ethnie« durch die Verpflichtung, den Davidstern zu tragen, sind sicher nicht mehr wert. Die wirkliche Prostitution bestimmter »Wissenschaftler« gegenüber dem Rassismus zeigt 156
ein seltsames Schauspiel menschlicher Selbsterniedrigung. Hier vollendet sich die Dekadenz der bürgerlichen Wissenschaft, die bereits zu Zeiten der Demokratie nichts weniger als objektiv war. Der Rassenwahn darf uns jedoch nicht von der Untersuchung abhalten, inwieweit man von einer jüdischen Rasse sprechen kann. Schon bei sehr oberflächlicher Betrachtung erkennt man, dass »die Juden« in Wirklichkeit eine Mischung höchst heterogener Rassen sind. Natürlich ist die jüdische Diaspora die Hauptursache für diese Erscheinung. Doch schon in Palästina bildeten die Juden keineswegs eine »reine Rasse«. Ohne in Betracht zu ziehen, dass die Israeliten – nach der Bibel – bei ihrem Auszug aus Ägypten eine Menge Ägypter mit sich nahmen, so dass Strabon sie als Abkömmlinge der Ägypter ansah, genügt es, sich die zahlreichen Rassen, die sich in Palästina zusammenfanden, ins Gedächtnis zu rufen: Hethiter, Kanaaniter, Philister, (»Arier«), Ägypter, Phönizier, Griechen und Araber. Judäa war nach Strabon von Phöniziern, Ägyptern und Arabern bewohnt. Die Entwicklung des jüdischen Proselytismus während der Epoche der griechischen und römischen Herrschaft hat stark zum Mischcharakter des Judentums beigetragen. Schon 139 v. Chr. wurden die Juden aus Rom vertrieben, weil sie dort Proselyten angeworben hatten. Die jüdische Gemeinde in Antiochia setzte sich zum großen Teil aus Proselyten zusammen. Der Proselytismus hat nie völlig aufgehört, selbst zu späteren Zeiten nicht. Die Zwangsbekehrung der Sklaven zum Judentum, die Bekehrung der Chasaren sowie anderer Rassen und Volksstämme während der langandauernden Diaspora haben ebenso dazu beigetragen, aus dem Judentum ein Rassenkonglomerat zu machen. Heute besteht z. B. keinerlei rassische Homogenität zwischen den jemenitischen Juden und den Juden von Dagestan. Die ersteren sind Orientalen, während die letzteren der mongolischen Rasse angehören. Es gibt schwarze Juden in Indien und äthiopische Juden (Falascha) ebenso wie jüdische »Höhlenbewohner« in Afrika. Aber dieser fundamentale Unterschied wie z. B. der zwischen Juden aus Dagestan und den jemenitischen Juden erschöpft unsere Frage nicht. Tatsächlich wohnen neun Zehntel der heute lebenden Juden in Osteuropa oder stammen von dort. Gibt es eine osteuropäische jüdische Rasse? Der antisemitische 157
Theoretiker Hans Günther antwortet darauf: »Das Ostjudentum, etwa neun Zehntel des Judentums, heute gebildet durch das Judentum Russlands, Polens, Galiziens, Ungarns, Österreichs und Deutschlands sowie den größten Teil der Juden Nordamerikas und einen großen Teil der Juden Westeuropas, entspricht etwa einem Rassengemische, das man in der Hauptsache als vorderasiatisch-orientalisch-ostbaltisch-ostischinnerasiatisch-nordisch-hamitisch-negerisch bezeichnen kann.« [281] Untersuchungen, die in New York an 4235 Juden und Jüdinnen vorgenommen wurden, ergaben folgende Haarfarben: Juden Jüdinnen braunes Haar 52,62 % 56,94 % blondes Haar 10,42 % 10,27 % gemischtfarbenes Haar 36,96 % 32,79 % 14,25 Prozent der Juden und 12,7 Prozent der Jüdinnen besaßen die sogenannte typische jüdische Nase, die nichts anderes ist, als eine Nasenform, die man bei den Völkern Kleinasiens, besonders bei den Armeniern findet. Diese Nase ist auch stark bei den Mittelmeervölkern sowie bei den Bayern (dinarische Rasse) verbreitet. Diese wenigen Tatsachen zeigen bereits, dass die »jüdische Rasse« nichts anderes als ein hohler Begriff ist. Die jüdische Rasse ist ein Mythos. Dagegen ist es richtig zu sagen, dass die Juden eine Rassenmischung darstellen, die sich von den Mischungen der meisten europäischen Völker, die hauptsächlich slawischen oder germanischen Ursprungs sind, unterscheidet. Jedoch sind es nicht so sehr anthropologische Besonderheiten, die die Juden von anderen Völkern unterscheiden, sondern vielmehr physiologische, pathologische und vor allem psychische Kategorien. Es ist vor allem die wirtschaftliche und gesellschaftliche Funktion des Judentums im Verlaufe der Geschichte, die das jüdische Phänomen erklärt. Jahrhunderte hindurch wohnten die Juden in Städten und widmeten sich dem Handel. Der jüdische Typus ist weit mehr das Ergebnis dieser jahrhundertealten Funktion als einer rassischen Besonderheit. Die Juden haben eine Unzahl rassisch heterogener Elemente in sich aufgenommen, alle diese Elemente jedoch waren den besonderen Bedingungen unterworfen, unter denen die Juden lebten. Dies führte auf die Dauer zur 158
Herausbildung dessen, was man heute den »typischen Juden« nennt. Er ist das Ergebnis eines langen ökonomischen und gesellschaftlichen, nicht jedoch rassischen Selektionsprozesses. Körperliche Schwäche, die Häufigkeit bestimmter Krankheiten wie Diabetes und Nervosität, eine bestimmte Körperhaltung etc. sind keine Rassenmerkmale, sondern das Ergebnis einer spezifischen gesellschaftlichen Position. Nichts ist lächerlicher, als etwa die Neigung zum Handel, die Tendenz zur Abstraktion bei den Juden durch ihre Rasse erklären zu wollen. Überall, wo die Juden sich wirtschaftlich anpassen, überall, wo sie aufhören, eine Klasse zu bilden, verlieren sie sehr schnell alle diese besonderen Merkmale. Überall, wo die Rassentheoretiker eine »wirkliche Rasse« aufzuspüren glauben, sind sie in Wirklichkeit mit einer menschlichen Gemeinschaft konfrontiert, deren Besonderheiten vor allem und in erster Linie das Ergebnis von jahrhundertelangen gesellschaftlichen Bedingungen sind. Die Veränderung dieser Bedingungen hat natürlich das Verschwinden der jüdischen »Rassenmerkmale« zufolge. 5. Der Zionismus Der Zionismus ist geboren im Widerschein zweier Ereignisse, die Ende des 19. Jahrhunderts die zunehmende Verschärfung des jüdischen Problems widerspiegelten: die russischen Pogrome des Jahres 1882 und die DreyfusAffäre. Die schnelle Kapitalisierung der russischen Wirtschaft nach der Reform von 1863 machte die Situation der jüdischen Massen in den Kleinstädten unerträglich. Im Westen begannen die Mittelklassen, von der kapitalistischen Konzentration zerrieben, sich gegen das jüdische Element zu wenden, dessen Konkurrenz ihre Situation verschärft. In Russland bildet sich die Gesellschaft der »Freunde Zions«. Leo Pinsker schreibt seine »Autoemanzipation«, ein Buch, in dem er die Rückkehr nach Palästina als einzig mögliche Lösung der jüdischen Frage empfiehlt. In Paris beginnt Baron Rothschild, der wie alle jüdischen Geldmagnaten die massenhafte Ankunft jüdischer Einwanderer in den westlichen Ländern ungern sieht, sich für das Werk der jüdischen Kolonisierung zu interessieren. Ihren »unglücklichen Brüdern« zu helfen, in das Land ihrer »Vorfahren« zurückzukehren – d. h. möglichst weit wegzuziehen – kann der westlichen 159
Bourgeoisie, die nicht ohne Grund ein Anwachsen des Antisemitismus befürchtet, nur recht sein. Kurze Zeit nach dem Erscheinen des Buchs von Leo Pinsker erlebt ein jüdischer Journalist aus Budapest namens Theodor Herzl in Paris eine antisemitische Demonstration, die durch die Affäre Dreyfus provoziert wurde. Er schreibt daraufhin sein Buch »Der Judenstaat«, das bis heute das Evangelium der zionistischen Bewegung geblieben ist. Seit seinem Ursprung erscheint der Zionismus als eine Reaktion des jüdischen Kleinbürgertums (das noch heute den Kern des Judentums darstellt), das, von der steigenden Woge des Antisemitismus getroffen, von einem Ort zum anderen abgeschoben, versuchte, das Gelobte Land zu erreichen, wo es sich aus den Stürmen heraushalten könnte, die über die moderne Welt hinwegbrausen. Der Zionismus ist also eine sehr junge Bewegung, die jüngste der europäischen nationalen Bewegungen. Das hindert ihn aber keineswegs – und zwar weniger als alle anderen Nationalismen – an der Behauptung, dass er seine Substanz aus sehr ferner Vergangenheit ziehe. Während der Zionismus in Wirklichkeit ein Produkt der letzten Phase des bereits morschen Kapitalismus ist, beansprucht er jedoch, seinen Ursprung in einer mehr als zweitausendjährigen Vergangenheit zu haben. Während er im Wesentlichen eine Reaktion gegen die für die Juden so verhängnisvolle Verknüpfung feudalistischer und kapitalistischer Auflösungstendenzen ist, versteht er sich als Reaktion auf die jüdische Geschichte seit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 der christlichen Zeitrechnung. Seine junge Existenz ist natürlich der beste Beweis für die Unrichtigkeit dieser Behauptung. In der Tat, wie kann man glauben, dass das Heilmittel gegen ein seit 2000 Jahren bestehendes Übel erst Ende des 19. Jahrhunderts hätte gefunden werden können? Wie alle Nationalismen jedoch – und noch weit stärker – betrachtet der Zionismus die historische Vergangenheit im Lichte der Gegenwart. Auf diese Weise verzerrt sich das Bild der Gegenwart. Ganz wie die französischen Kinder lernen, dass Frankreich seit dem Gallien von Vercingetorix existiere, ganz wie man den Kindern in der Provence die Siege, die die Könige der Île-de-France gegen ihre Vorfahren errungen haben, als ihre eigenen Erfolge darstellt, so versucht der Zionismus den
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Mythos des ewigen Judentums zu schaffen, das ständig mit denselben Verfolgungen habe kämpfen müssen. Der Zionismus sieht in der Zerstörung Jerusalems die Ursache für die Diaspora und demzufolge auch die Quelle aller jüdischen Leiden in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. »Die Quelle aller Leiden des jüdischen Volks ist der Verlust seiner geschichtlichen Heimat und seine Zerstreuung in alle Welt«, erklärt die marxistische Delegation von Poale Zion beim holländisch-skandinavischen Komitee. Nach der gewaltsamen Zersprengung der Juden durch die Römer habe die leidensvolle Geschichte begonnen. Aus ihrem Vaterland vertrieben, hätten die Juden sich nicht assimilieren wollen (wie schön ist die freie Entscheidung!). Durchdrungen von ihrer »nationalen Zusammengehörigkeit«, einem »ethischen Gefühl höherer Art« und einem »unzerstörbaren Glauben an einen einzigen Gott«, [282] hätten sie allen Verlockungen zur Assimilierung widerstanden. Ihre einzige Hoffnung in den dunklen Tagen dieser zweitausendjährigen Leidensgeschichte sei die Vision einer Rückkehr in ihr altes Vaterland gewesen. Warum haben die Juden während dieser 2000 Jahre niemals den Versuch unternommen, in ihre Heimat zurückzukehren? Diese Frage hat sich der Zionismus niemals ernsthaft gestellt. Warum musste man das 19. Jahrhundert abwarten, damit Herzl kommen und sie von der Notwendigkeit einer Rückkehr überzeugen konnte? Warum wurden alle Vorgänger Herzls, wie beispielsweise der berühmte Schabbtai Zvi, jeweils wie ein falscher Messias behandelt? Warum wurden die Anhänger von Schabbtai Zvi von dem orthodoxen Judentum so grausam verfolgt? Natürlich nimmt man, um diese peinlichen Fragen zu beantworten, Zuflucht zu der Religion. »Solange die Massen glaubten, dass sie bis zur Ankunft des Messias in der Diaspora bleiben müssten, mussten sie schweigend dulden«, sagt Chaim Schitlowsky, [283] dessen Zionismus übrigens recht umständebedingt ist. Es handelt sich nämlich genau darum zu erfahren, warum die jüdischen Massen glaubten, dass sie, »um in ihre Heimat zurückkehren zu können«, den Messias erwarten müssten. Die Religion, die ein ideologischer Reflex der hinter ihr stehenden gesellschaftlichen Interessen ist, muss diesen notwendigerweise entsprechen. 161
Heute bildet die Religion nirgends mehr ein Hindernis für den Zionismus. [284]
In Wirklichkeit war, solange das Judentum im feudalen System seinen Platz hatte, der »Traum von Zion« nichts anderes als ein Traum und entsprach keinem realen Interesse des Judentums. Der jüdische Gastwirt oder »Pächter« im Polen des 16. Jahrhunderts dachte ebenso wenig an eine »Rückkehr« nach Palästina wie heute der jüdische Millionär in Amerika. Der jüdische Messianismus unterschied sich durch nichts von den Messianismen anderer Religionen. Die jüdischen Pilger, die nach Palästina zogen, trafen dort katholische, orthodoxe und muselmanische Pilger. Es war übrigens nicht so sehr die »Rückkehr nach Palästina«, die den Grund für diesen Messianismus bildete, sondern eher der Glaube an den Wiederaufbau des Tempels in Jerusalem. All diese idealistischen Konzeptionen des Zionismus sind natürlich untrennbar mit dem Dogma des ewigen Antisemitismus verbunden. »Solange die Juden in der Diaspora leben, werden sie von den Einheimischen gehasst werden.« Dieser Grundgedanke des Zionismus, sein Gerippe sozusagen, wird natürlich durch diverse Strömungen nuanciert. Der Zionismus überträgt den modernen Antisemitismus auf alle Zeiten. Er erspart sich das Studium der verschiedenen Formen des Antisemitismus und seiner Entwicklung. Wir haben aber gesehen, dass das Judentum zu verschiedenen geschichtlichen Epochen den besitzenden Klassen angehörte und wie diese behandelt wurde. Im Ganzen gesehen müssen die Quellen des Zionismus wohl in der Unmöglichkeit gesucht werden, sich zu assimilieren, anstatt in einem »ewigen« Antisemitismus oder dem Willen, die »Reichtümer des Judentums« zu erhalten. [285] In Wirklichkeit ist die zionistische Ideologie, wie alle Ideologien, nichts anderes als eine verzerrte Widerspiegelung der Interessen einer bestimmten Klasse. Er ist die Ideologie des jüdischen Kleinbürgertums, das zwischen den Ruinen des Feudalismus und dem absterbenden Kapitalismus zerrieben würde. Die Widerlegung der ideologischen Phantastereien schafft natürlich die wirklichen Bedürfnisse, aus denen jene entstanden sind, nicht aus der Welt. Es ist der moderne Antisemitismus, der den Zionismus schürt, und nicht der Mythos des »ewigen« Antisemitismus. Ebenso ist die wesentliche 162
Frage nicht, inwieweit der Zionismus fähig ist, das »ewige« jüdische Problem zu lösen, sondern ob er fähig ist, die jüdische Frage zur Zeit des kapitalistischen Niedergangs zu lösen. Die zionistischen Theoretiker lieben den Vergleich des Zionismus mit allen anderen nationalen Bewegungen. Aber in Wirklichkeit sind die Grundlagen nationaler Bewegungen und die des Zionismus völlig verschieden. Die nationale Bewegung der europäischen Bourgeoisie ist eine Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung; sie spiegelt den Willen des Bürgertums wider, sich der feudalen Überreste zu entledigen. Der Nationalismus der europäischen Bourgeoisie ist eng verbunden mit dem aufsteigenden Kapitalismus. Im 19. Jahrhundert, der Blütezeit der Nationalismen, war das jüdische Bürgertum jedoch weit vom Zionismus entfernt und in großem Maße assimilierungswillig. Der wirtschaftliche Prozess, aus dem die modernen Nationen hervorgegangen sind, legte den Grundstein für die Integration des jüdischen Bürgertums in die bürgerliche Nation. Erst als der Prozess der Bildung der Nationen seinem Ende zuging, als den entfalteten Produktivkräften die nationalen Grenzen schon längst zu eng geworden sind, beginnt man, die Juden aus der kapitalistischen Gesellschaft auszustoßen. Der moderne Antisemitismus entsteht. Die Ausrottung des Judentums begleitet den Niedergang des Kapitalismus. Weit davon entfernt, Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte zu sein, ist der Zionismus gerade Konsequenz des totalen Stillstands der Entwicklung, das Resultat der kapitalistischen Erstarrung. Während die nationale Bewegung das Ergebnis der Entfaltung des Kapitalismus ist, ist der Zionismus ein Produkt der imperialistischen Ära. Die jüdische Tragödie des 20. Jahrhunderts ist eine direkte Folge des Niedergangs des Kapitalismus. Hier liegt das prinzipielle Hindernis für die Verwirklichung des Zionismus. Der Niedergang des Kapitalismus, Grundlage für das Wachstum des Zionismus, ist auch die Ursache für die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung. Das jüdische Bürgertum ist verpflichtet, mit allen Mitteln einen eigenständigen Nationalstaat zu schaffen und den objektiven Rahmen für die Entfaltung seiner Produktivkräfte zu sichern – und das zu einer Zeit, wo die Bedingungen einer solchen Entwicklung längst vorüber sind. Der 163
Niedergang des Kapitalismus, der die jüdische Frage so sehr zugespitzt hat, hat auch ihre Lösung durch den Zionismus illusorisch gemacht. Das ist keineswegs erstaunlich. Man kann ein Übel nicht ohne seine Ursachen beseitigen. Der Zionismus aber will die jüdische Frage lösen, ohne den Kapitalismus, die Hauptquelle der jüdischen Leiden, zu zerstören. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als das jüdische Problem erst begann, sich in seiner ganzen Schärfe zu stellen, verließen 150 000 Juden jährlich ihr Herkunftsland. Zwischen 1881 und 1925 sind beinahe vier Millionen Juden ausgewandert. Trotz dieser enormen Zahlen wuchs die ostjüdische Bevölkerung von sechs auf acht Millionen an. Selbst wenn der Kapitalismus sich noch weiter entfalten würde, wenn die Überseeländer noch weiterhin Emigranten aufnehmen würden, wäre eine Lösung der jüdischen Frage (im zionistischen Sinn) noch in unerreichbarer Ferne. Anstatt sich zu verringern, zeigt die jüdische Bevölkerung immer noch die Tendenz, sich zu vermehren. Um einen wirklichen Anfang bei der Lösung der jüdischen Frage zu machen, d. h. um die jüdischen Massen wirklich zu verpflanzen, wäre es nötig, dass die Immigrationsländer wenigstens etwas mehr als das natürliche Wachstum der Juden in der Diaspora, also wenigstens 300 000 Juden pro Jahr absorbieren. Und wenn vor dem ersten imperialistischen Krieg, als noch alle Bedingungen für die Emigration günstig waren, als noch alle fortgeschrittenen Länder, wie die USA, Immigranten in Massen aufnahmen, eine solche Zahl nicht erreicht werden konnte, wie sollte dies dann in der schweren Krise des Kapitalismus und in der Periode beinahe unaufhörlicher Kriege möglich sein? Natürlich gibt es genügend Schiffe in der Welt, um Hunderttausende oder gar Millionen Juden zu transportieren. Aber wenn alle Länder den Emigranten die Türen verschlossen, so deshalb, weil eine Überproduktion von Arbeitskräften existierte, wie es auch eine Überproduktion von Waren gibt. Im Gegensatz zur These von Malthus, nach der es zu viel Menschen auf der Erde geben werde, weil es zu wenig Produkte geben werde, ist es gerade der Überfluss an Produkten, der den »Überfluss« an Menschen erzeugt. Welches Wunder hätte – selbst in einem noch so reichen und noch so großen Land – zu einer Zeit, wo die Märkte der Welt mit Produkten 164
gesättigt sind und überall permanente Arbeitslosigkeit herrscht, die Produktivkräfte in dem Maße entwickeln können, um 300 000 Einwanderer jährlich zu verkraften (ganz abgesehen von den besonderen Voraussetzungen des armen und kleinen Palästina)? In Wirklichkeit verringerten sich die Auswanderungsmöglichkeiten für die Juden in demselben Maße, in dem ihre Notwendigkeit stieg. Die Gründe für die Emigration sind dieselben, die ihre Verwirklichung verhindern, sie sind auf den Niedergang des Kapitalismus zurückzuführen. Gerade dieser grundlegende Widerspruch zwischen der Notwendigkeit und der Möglichkeit der Auswanderung macht auch die politische Schwierigkeit des Zionismus aus. Die Entwicklungsphase der europäischen Nationen ging einher mit der intensiven Kolonisierung der Überseeländer. Nordamerika wurde zu Beginn und Mitte des 19. Jahrhunderts – der goldenen Jahre des europäischen Nationalismus – kolonisiert. Zur selben Zeit begannen auch Südamerika und Australien sich zu entwickeln. Weite Teile der Erde waren nahezu herrenlos und eigneten sich vorzüglich dazu, Millionen europäischer Emigranten aufzunehmen. Zu dieser Zeit dachten die Juden gar nicht oder kaum an Emigration – aus Gründen, die wir bereits kennengelernt haben. Heute ist die ganze Welt kolonisiert, industrialisiert und unter den verschiedenen imperialistischen Mächten aufgeteilt. Die jüdischen Auswanderer prallen zugleich überall auf den Nationalismus der »Einheimischen« und auf den jeweils dominierenden Imperialismus. In Palästina stößt der jüdische Nationalismus auf einen immer aggressiveren arabischen Nationalismus. Die Bereicherung Palästinas durch die jüdischen Emigranten vergrößert noch die Intensität des arabischen Nationalismus. Die wirtschaftliche Entwicklung des Landes zieht das Anwachsen der arabischen Bevölkerung, deren gesellschaftliche Differenzierung und die Entfaltung eines nationalen Kapitalismus nach sich. Um den arabischen Widerstand zu brechen, bedürfen die Juden des englischen Imperialismus. Aber seine »Unterstützung« ist nicht weniger schädlich als der arabische Widerstand. Der englische Imperialismus sieht zwar mit Wohlwollen eine schwache jüdische Einwanderung, die ein Gegengewicht gegen die Araber bildet. Aber er ist entschieden gegen eine jüdische Immigration größeren 165
Stils, gegen die industrielle Entwicklung und das Anwachsen des Proletariats in Palästina. Die Juden dienen ihm nur zur Neutralisierung der arabischen Bedrohung. Er tut alles, um die jüdische Immigration zu erschweren. So gesellt sich zu den wachsenden Schwierigkeiten, die der arabische Widerstand macht, das perfide Spiel des britischen Imperialismus. Schließlich muss man noch einen letzten Schluss aus den bisher entwickelten grundsätzlichen Prämissen ziehen: Infolge ihres notwendigerweise künstlichen Charakters, infolge ihrer geringen Aussichten auf eine schnelle und normale Entwicklung der palästinensischen Wirtschaft in unserer Epoche braucht die zionistische Kolonisierung beträchtliches Kapital. Der Zionismus verlangt den jüdischen Rassen in aller Welt unaufhörlich wachsende Opfer ab. Solange jedoch die Lage der Juden in der Diaspora mehr oder weniger erträglich ist, verspürt keine jüdische Klasse den Drang, Opfer auf sich zu nehmen. Je mehr jedoch die jüdischen Massen die Notwendigkeit eines eigenen Vaterlandes empfinden, je mehr die Judenverfolgungen zunehmen, desto weniger sind die jüdischen Massen in der Lage, das Werk des Zionismus zu unterstützen. »Der Wiederaufbau Palästinas braucht ein starkes jüdisches Volk in der Diaspora«, sagt Ruppin. Aber solange das jüdische Volk in der Diaspora stark ist, verspürt es keinen Drang, Palästina zu helfen. Will es jedoch, fehlen ihm die Mittel dazu. Es wäre schwierig, die europäischen Juden, deren erste Sorge heute die Emigration ist, dazu zu bringen, den Wiederaufbau Palästinas zu unterstützen. An dem Tag, an dem sie dazu in der Lage sein werden, wird sich ihr Enthusiasmus sicherlich sehr verringern. Man kann natürlich einen relativen Erfolg des Zionismus nicht ausschließen, derart etwa, dass eine jüdische Mehrheit in Palästina entsteht. Denkbar wäre sogar die Bildung eines »jüdischen Staats«, d. h. eines Staats unter der vollständigen Herrschaft des englischen oder amerikanischen Imperialismus. Dies wäre in gewisser Weise eine Rückkehr zum Stand der Dinge vor der Zerstörung Jerusalems, und aus dieser Sicht könnte man sogar von der »Wiedergutmachung einer zweitausend Jahre alten Ungerechtigkeit« sprechen. Aber dieser winzige, »unabhängige« jüdische Staat inmitten einer weltweiten Diaspora wäre nichts anderes als eine 166
augenscheinliche Rückkehr in die Zeit vor dem Jahre 70 n. Chr. Es wäre noch nicht einmal der Beginn der Lösung der jüdischen Frage. In der Tat hatte die Diaspora im römischen Reich solide wirtschaftliche Grundlagen. Die Juden spielten in der damaligen Welt eine wichtige ökonomische Rolle. Die Existenz oder Nicht-Existenz einer jüdischen Metropole hatte für die Juden der damaligen Zeit nur eine sekundäre Bedeutung. Heute handelt es sich nicht mehr darum, den Juden einen politischen oder geistigen Mittelpunkt zu geben (wie es Achad Ha’am wollte). Es geht vielmehr darum, das Judentum vor der Vernichtung zu bewahren, die ihm in der Diaspora droht. Was aber kann ein kleiner jüdischer Staat in Palästina an der Situation der polnischen oder deutschen Juden ändern? Angenommen, alle Juden der Welt wären heute Bürger Palästinas: Würde dies die Politik Hitlers beeinflussen? Man muss mit unglaublicher juristischer Naivität geschlagen sein, um zu glauben, dass gerade heute die Schaffung eines kleinen jüdischen Staats in Palästina irgendetwas an der Lage der Juden in der Welt ändern könnte. Die eventuelle Schaffung eines jüdischen Staats in Palästina würde dem Stand der Dinge im römischen Reich nur in einer Hinsicht gleichen, dass nämlich in beiden Fällen die Existenz eines kleinen jüdischen Staats in Palästina keinen Einfluss auf die Lage der Juden in der Diaspora hätte. Zur Zeit Roms war die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung des Judentums in der Diaspora sehr stark. Auch das Verschwinden des jüdischen Staats konnte sie nicht berühren. Heute hat sich die Lage der Juden in der ganzen Welt sehr verschlechtert: Auch die Errichtung eines jüdischen Staats könnte sie nicht verbessern. In beiden Fällen hängt das Schicksal der Juden nicht von der Existenz eines jüdischen Staats in Palästina ab, sondern von der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Gesamtlage. Selbst unter der Annahme, dass der zionistische Traum in Erfüllung ginge und die »jahrhundertealte Ungerechtigkeit« beseitigt würde (was in weiter Ferne liegt), so würde dadurch die Lage des Weltjudentums nicht verändert. Der Tempel wäre vielleicht wiedererrichtet, aber die Gläubigen würden ihren Leidensweg weitergehen. Die Geschichte des Zionismus ist die beste Illustrierung der unüberwindbaren Schwierigkeiten, auf die er stößt. Diese Schwierigkeiten entstehen letzten Endes aus dem grundlegenden Widerspruch, an dem er 167
krankt: der Antinomie zwischen der wachsenden Notwendigkeit, die jüdische Frage zu lösen, und der wachsenden Unmöglichkeit, dies unter dem Vorzeichen des im Niedergang befindlichen Kapitalismus zu tun. Unmittelbar nach dem imperialistischen Krieg stellten sich der jüdischen Emigration keine großen Hindernisse entgegen. Die wirtschaftlichen Bedingungen der kapitalistischen Länder nach dem Krieg ließen eine Auswanderung nicht als sehr dringlich erscheinen. Die Emigrationsbewegung war daher sehr schwach. Das war übrigens auch der Grund, weshalb die britische Regierung der Einreise der Juden in Palästina keine größeren Hindernisse in den Weg stellte. In den Jahren 1924, 1925 und 1926 eröffnete die polnische Bourgeoisie eine wirtschaftliche Offensive gegen die jüdischen Massen. In diesen Jahren stieg die Einwanderungsquote in Palästina sehr an. Aber diese massive Zuwanderung stieß rasch auf unüberwindbare wirtschaftliche Schwierigkeiten. Der Rückfluss der Emigranten war beinahe ebenso groß wie ihr Zufluss. Bis zur Machtergreifung Hitlers 1933 blieb die Immigrationsquote in Palästina gering. Nach diesem Ereignis zogen Zehntausende von Juden nach Palästina. Diese »Hochkonjunktur« erlahmte bald unter dem Druck antijüdischer Kundgebungen und Judenmassaker. Die Araber befürchteten ernsthaft, eine Minderheit im eigenen Lande zu werden. Die arabischen Feudalherren befürchteten, von der kapitalistischen Welle hinweggeschwemmt zu werden. Der britische Imperialismus nützte diese Spannung aus, um den Juden die Einreise zu erschweren und den Graben zwischen Juden und Arabern zu vertiefen, indem er die Teilung Palästinas vorschlug. Bis zum zweiten imperialistischen Krieg sah sich der Zionismus wachsenden Schwierigkeiten gegenüber. Die palästinensische Bevölkerung lebte in einem Zustand ständigen Terrors. Gerade als die Lage der Juden immer verzweifelter wurde, zeigte sich der Zionismus völlig unfähig, hier Abhilfe zu schaffen. Die »heimlichen« jüdischen Einwanderer wurden mit Schüssen aus den Gewehren ihrer britischen »Beschützer« empfangen. Die zionistische Illusion verlor nach und nach ihre Anziehungskraft selbst in den Augen der weniger Aufgeklärten. Die letzten Wahlen in Polen zeigten, dass sich die jüdischen Massen völlig vom Zionismus abgewandt hatten. Sie fingen an zu begreifen, dass der Zionismus ihre Lage nicht nur 168
nicht ernsthaft verbessern konnte, sondern dass er den Antisemiten mit seinen Theorien über die »objektive Notwendigkeit der jüdischen Auswanderung« nur die Waffen lieferte. Der imperialistische Krieg und der Triumph des Hitlerismus in Europa wurden für das Judentum zum Verhängnis ohnegleichen. Das Judentum ist von vollständiger Vernichtung bedroht. Was kann der Zionismus in Anbetracht einer solchen Katastrophe ausrichten? Ist es nicht offensichtlich, dass die jüdische Frage sehr wenig vom zukünftigen Geschick Tel-Avivs abhängt, in starkem Maße jedoch von dem Regime, das morgen in Europa und in der Welt dominiert? Die Zionisten setzen große Hoffnungen in einen Sieg der angelsächsischen Imperialisten. Aber besteht denn irgendein Grund für die Annahme, dass die Haltung der angelsächsischen Imperialisten sich nach einem eventuellen Sieg ändern werde? Nicht im Geringsten! Selbst wenn der angelsächsische Imperialismus in irgendeiner Art die Missgeburt eines jüdischen Staats bewirkte, würde dadurch – wie wir gesehen haben – die Lage des Weltjudentums nicht beeinflusst. Eine Einwanderung größeren Stils in Palästina würde nach diesem Krieg auf dieselben Schwierigkeiten stoßen wie vorher. [286] Unter den Voraussetzungen des Niedergangs des Kapitalismus ist es unmöglich, Millionen von Juden zu verpflanzen. Nur eine weltweite sozialistische Planwirtschaft wäre zu solch einem Wunder fähig. Aber dies setzt natürlich die proletarische Revolution voraus. Der Zionismus aber will das jüdische Problem unabhängig von der Weltrevolution lösen. Da der Zionismus die wirklichen Quellen der jüdischen Frage in unserer Zeit verkennt und sich in kindischen Träumen und dummen Hoffnungen wiegt, zeigt er sich als ideologischer Auswuchs ohne jeglichen wissenschaftlichen Wert. Anmerkungen: [270] La situation économique des Juifs dans le monde, ebd. [271] Ebd. [272] Ebd. [273] Di Jidiše Ekonomik, ebd., September–Oktober 1938 [274] In Warschau waren 1882 79,3 Prozent der Kaufleute Juden, 1931 nur noch 51 Prozent. Jakob Lestschinsky, Der wirtschaftliche Zusammenbruch der Juden in Deutschland und Polen, Paris 1936.
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[275] Zu einer Zeit, wo die kleinbürgerlichen jüdischen und nicht-jüdischen Intellektuellen Hitler als den einzigen Verantwortlichen des Antisemitismus in unserer Zeit darstellen, zu einer Zeit, wo die Vereinten Nationen, unter ihnen Polen, die Verteidigung der »Menschenrechte« übernehmen, dürfte es nicht nutzlos sein, dies ins Gedächtnis zurückzurufen. Sicherlich hat Hitler in ausgeklügelter Weise die Zerstörung des europäischen Judentums vorbereitet. Hier wie auf anderen Gebieten personifiziert er die kapitalistische Barbarei, aber die verschiedenen Regierungen, mehr oder minder »demokratisch«, die sich in Polen ablösen, hätten nicht viel von ihm lernen können. Das Verschwinden Hitlers kann nichts Wesentliches zur Veränderung der Lage der Juden beitragen. Eine vorübergehende Verbesserung des jüdischen Schicksals wird die tiefen Wurzeln des Antisemitismus im 20. Jahrhundert nicht beseitigen. [276] La situation économique des Juifs dans le monde, ebd. [277] La situation économique des Juifs dans le monde, ebd., S. 252. [278] Di Jidiše Ekonomik, ebd., Mai–Juni 1938. [279] Friedrich Engels an Franz Mehring am 14. Juli 1893, MEW Bd. 39, Berlin 1968, S. 97. [280] Vgl. die Utopie Proudhons über den »crédit gratuit« [zinslosen Kredit]. [281] Hans F. K. Günther, Rassenkunde des jüdischen Volkes, München 1930, S. 191. [282] Ben-Adir, »Antisemitismus«, in: Algemeyne Entsiklopedye, ebd. [283] Chaim Schitlowsky, Der sotzjalizm un di natzjonale frage, New York 1908. [284] Es gibt eine bürgerliche religiös-zionistische (Misrachi) und eine proletarische religiös-zionistische Partei (Poale Misrachi). [285] Vgl.: Adolf Böhm, Die zionistische Bewegung bis zum Ende des Weltkrieges, Berlin 1935, S. 16 ff. [286] Es geht in diesem Kapitel nur um den Zionismus in Beziehung zur jüdischen Frage. Die Rolle des Zionismus in Palästina ist natürlich eine andere Frage.
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VIII. Die Wege zur Lösung der jüdischen Frage Es ist falsch, dass eine Lösung des jüdischen Problems sich seit 2000 Jahren angeboten hätte. Die Tatsache, dass während dieser langen Zeit keine Lösung gefunden werden konnte, beweist schon ihre Überflüssigkeit. Das Judentum war für die vorkapitalistische Gesellschaft unentbehrlich. Es stellte ein wesentliches Strukturelement dieser Gesellschaft dar. Dies erklärt seine zweitausendjährige Existenz in der Diaspora. Der Jude war für die feudale Gesellschaft ebenso charakteristisch wie Grundherr und Leibeigener. Nicht zufälligerweise ist es ein fremdes Element, das im feudalen Wirtschaftssystem die Rolle des »Kapitals« übernommen hat. Die feudale Gesellschaft konnte als solche keine kapitalistischen Formen ausbilden. Von dem Augenblick an, als sie dazu in der Lage war, hörte sie auf, feudal zu sein. Es ist auch kein Zufall, dass der Jude dem feudalen Milieu fremd blieb. Das »Kapital« der vorkapitalistischen Gesellschaft existiert außerhalb ihres wirtschaftlichen Systems. Von dem Augenblick an, wo das Kapital sich von diesem gesellschaftlichen System zu lösen beginnt und so das fremde Organ ersetzt, verschwindet der Jude zur selben Zeit, wie die Feudalgesellschaft aufhört, feudal zu sein. Erst der moderne Kapitalismus hat das Judenproblem geschaffen. Nicht, weil die Juden nahezu 20 Millionen zählen (der Prozentsatz der Juden gegenüber den Nicht-Juden ist seit der römischen Epoche sogar stark gesunken), sondern weil der Kapitalismus die jahrhundertealte Existenzgrundlage des Judentums zerstörte. Er zerstörte die Feudalgesellschaft und mit ihr die Funktion der jüdischen Volks-Klasse. Die Geschichte verurteilte diese Volks-Klasse zum Untergang, und so stellte sich das jüdische Problem. Die jüdische Frage ist die Frage der Anpassung des Judentums an die moderne Gesellschaft, das Problem der Beseitigung des feudalistischen Erbes. Durch Jahrhunderte hindurch stellte das Judentum einen gesellschaftlichen Organismus dar, in dem Elemente der sozialen Struktur 171
und Elemente nationaler Art einander wechselseitig durchdrangen. Die Juden bilden keineswegs eine Rasse; im Gegenteil, sie sind, wahrscheinlich in besonders charakteristischer und ausgeprägter Art, eine Rassenmischung. Das schließt nicht aus, dass in dieser Rassenmischung das asiatische Element besonders hervorsticht, jedenfalls in ausreichendem Maße, um den Juden in der Welt des Okzidents, in der er am stärksten vertreten ist, auffallen zu lassen. Dieser reale nationale »Hintergrund« wird von einem irrealen, literarischen Hintergrund ergänzt, gebildet durch die jahrhundertealte Tradition, die den Juden der Gegenwart mit seinen entferntesten »Ahnen« aus der Bibel verbindet. Auf diese nationale Grundlage wurde in der Folgezeit der Klassenhintergrund, die merkantile Psychologie aufgetragen. Nationale und gesellschaftliche Elemente haben sich weitgehend vermischt und gegenseitig durchdrungen. Es wäre schwierig, bei einem polnischen Juden das Erbe seiner Vorfahren von dem seiner sozialen Funktion geschuldeten Erbe zu trennen, die er in Polen über Jahrhunderte hinweg ausgeübt hat. Sicherlich hat die gesellschaftliche Basis seit langer Zeit an Einfluss gegenüber dem nationalen Hintergrund gewonnen. Aber, wenn der gesellschaftliche Aspekt zum nationalen hinzukommt, so konnte letzterer nur dank des ersteren überleben. Nur dank seiner gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Position konnte der Jude sich »konservieren«. Der Kapitalismus hat die jüdische Frage gestellt, d. h. er hat die gesellschaftlichen Grundlagen zerstört, auf denen das Judentum sich seit Jahrhunderten erhielt. Aber er hat sie nicht gelöst, weil er den von seinem bisherigen gesellschaftlichen Rahmen befreiten Juden nicht in sich aufnehmen konnte. Der Kapitalismus im Niedergang hat den Juden ins Nichts geworfen. Der »vorkapitalistische« jüdische Händler verschwand weitgehend, aber sein Sohn fand keinen Platz in der modernen Produktion. Das Judentum verlor den gesellschaftlichen Boden unter den Füßen und wurde weithin ein deklassiertes Element. Der Kapitalismus hat nicht nur die gesellschaftliche Funktion der Juden, sondern auch die Juden selbst zum Untergang verurteilt. Kleinbürgerliche Ideologien neigen immer dazu, historische Phänomene zu zeitlosen Kategorien aufzuwerten. Für sie ist die Judenfrage 172
ein Ergebnis der Diaspora; nur die Rückkehr der Juden nach Palästina kann sie lösen. Es ist kindisch, die jüdische Frage auf eine territoriale Frage zurückführen zu wollen. Die territoriale Lösung könnte nur dann einen Sinn haben, wenn sie das Verschwinden des traditionellen Judentums, sein Eindringen in die moderne Wirtschaft, die »produktive Eingliederung« der Juden in die kapitalistische Ordnung bedeuten würde. Der Zionismus gelangt auf umgekehrtem Weg zu den von seinen ärgsten Feinden, den konsequenten »Assimilatoren«, vorgeschlagenen Lösungen. Für beide handelt es sich darum, das »verfluchte« Erbe der Vergangenheit zu beseitigen, aus den Juden Arbeiter, Landwirte und produktive Intellektuelle zu machen. Die Illusion des Zionismus besteht nicht in seinem Willen, dieses Ergebnis zu erreichen; dabei handelt es sich schlicht um eine historische Notwendigkeit, die sich früher oder später Bahn brechen wird. Seine Illusion besteht in dem Glauben, dass die unüberwindbaren Schwierigkeiten, die der niedergehende Kapitalismus diesen Zielen entgegensetzt, sich in Palästina auf wunderbare Weise von selbst lösen würden. Wenn sich die Juden in der Diaspora wirtschaftlich jedoch nicht integrieren konnten, so werden dieselben Gründe verhindern, dass ihnen dies in Palästina gelingt. Die Welt ist heute so eng geworden, dass der Versuch, sich einen Schlupfwinkel vor ihren Stürmen zu schaffen, völlig absurd ist. Deshalb bedeutet der Fehlschlag der »Assimilation konsequenterweise zugleich ein Versagen des Zionismus«. Als sich das jüdische Problem zur ungeheuren Tragödie ausweitete, erwies sich die Hoffnung auf Palästina als schwacher Trost. Zehn Millionen Juden befinden sich in Konzentrationslagern. Was bedeuten einige zionistische Kolonien in Anbetracht dieser gigantischen Zahl? Also weder Assimilation noch Zionismus? Dann gibt es keine Lösung? Nicht innerhalb des kapitalistischen Systems, ebenso wenig wie es für die anderen Probleme der Menschheit eine Lösung ohne tiefgreifende gesellschaftliche Umwälzung gibt. Es sind die gleichen Gründe, die die jüdische Emanzipation und die Zielsetzungen des Zionismus unmöglich machen. Man kann die Folgen der jüdischen Frage nicht ohne ihre tieferliegenden Ursachen beseitigen. 173
Das Ghetto und die Ringellöckchen sind wieder aufgetaucht, Symbole des tragischen Wegs, den die Menschheit eingeschlagen hat. Der Antisemitismus wächst, aber er trägt bereits den Keim seines Absterbens in sich. Die Ausrottung der Juden schafft vorübergehend eine Art Lebensraum für das Kleinbürgertum. Die »Arisierung« erlaubt es, einige Zehntausend beschäftigungsloser Intellektueller und Kleinbürger unterzubringen. Indem sich die Kleinbürger jedoch gegen die scheinbaren Gründe ihres Elends wenden, tragen sie nur dazu bei, die wahren Gründe und deren Wirkung zu verstärken. Der Faschismus beschleunigt die Proletarisierung der Mittelklassen. Nach den jüdischen Kleinbürgern werden viele Tausende Händler und Handwerker enteignet und proletarisiert. Die kapitalistische Konzentration hat gigantische Fortschritte gemacht. Die »offensichtliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage« geschah um den Preis der Vorbereitung des zweiten imperialistischen Kriegs, der eine Quelle furchtbarer Zerstörungen und Massenmorde wurde. So spiegelt das tragische Schicksal des Judentums mit besonderer Schärfe die Lage der Menschheit in ihrer Gesamtheit wider. Der Niedergang des Kapitalismus bedeutet für die Juden die »Rückkehr zum Ghetto«, und dies zu einem Zeitpunkt, wo das Ghetto längst zusammen mit den Grundmauern der feudalen Gesellschaft verschwunden war. Der Kapitalismus versperrt der Menschheit den Weg in die Vergangenheit ebenso wie den Weg in die Zukunft. Nur die Zerstörung des Kapitalismus kann die Menschheit in die Lage versetzen, die ungeheuren Errungenschaften des industriellen Zeitalters für sich zu nutzen. Ist es verwunderlich, dass die jüdischen Massen, die als erste und mit besonderer Schärfe unter den Widersprüchen des Kapitalismus litten, dem sozialistischen und revolutionären Kampf im Übermaß Kräfte zur Verfügung stellten? Lenin unterstrich wiederholt die Bedeutung der Juden für die Revolution, nicht nur in Russland, sondern auch in anderen Ländern. Lenin sagte auch, dass die Flucht eines Teils der jüdischen Bevölkerung ins Innere Russlands im Anschluss an die Besetzung der westlichen Industriegebiete sehr nützlich für die Revolution war, ebenso wie das Auftreten einer großen Zahl jüdischer Intellektueller in den russischen Städten während des Kriegs. Sie ermöglichten den Bolschewiki die 174
Durchbrechung der allgemeinen Sabotage, auf die sie überall nach der Revolution stießen und die sehr gefährlich war. Dadurch halfen sie den Bolschewiki, eine sehr kritische Phase zu überwinden. [287] Der hohe Prozentsatz von Juden in der proletarischen Bewegung spiegelt nur die tragische Situation des Judentums in unserer Zeit wider. Die geistigen Fähigkeiten des Judentums, die es seiner historischen Entwicklung verdankt, sind so für die proletarische Bewegung eine ernstzunehmende Unterstützung. Hierin liegt sicherlich noch eine letzter – wenn vielleicht auch nicht weniger wichtiger – Grund für den modernen Antisemitismus. Die herrschenden Klassen verfolgen mit besonderem Sadismus die jüdischen Intellektuellen und Arbeiter, die viele Kämpfer für die proletarische Bewegung stellten. Die völlige Isolierung der Juden von den Quellen von Kultur und Wissenschaft wird für das ins Schwanken geratene Regime, das sie verfolgt, unumgänglich. Die lächerliche Legende vom »jüdischen Marxismus« ist nichts Weiteres als eine Karikatur der tatsächlichen Beziehung zwischen dem Sozialismus und den jüdischen Massen. Noch nie ist die Lage der Juden so tragisch gewesen. Selbst in den schlimmsten Zeiten des Mittelalters gab es viele Landstriche, die sie beherbergten. Heute macht ein weltweiter Kapitalismus die Erde für sie unbewohnbar. Noch nie hat die Fata Morgana des Gelobten Landes die jüdischen Massen so sehr verführt. Aber noch nie war das Gelobte Land weniger in der Lage, die jüdische Frage zu lösen, als in unserer Zeit. Der Paroxysmus der jüdischen Frage heute ist auch der Schlüssel zu ihrer Lösung. Wenn die Lage der Juden noch niemals so tragisch war, so war sie auch noch niemals so nahe daran, als Problem gelöst zu werden. In den vergangenen Jahrhunderten hatte der Judenhass einen wirklichen Grund in dem gesellschaftlichen Antagonismus zwischen Juden und anderen Teilen der Bevölkerung. Heute sind die Interessen der jüdischen Klassen eng mit jenen der Bevölkerungsmassen auf der ganzen Welt verknüpft. Indem der Kapitalismus die Juden als »Kapitalisten« verfolgt, macht er sie zu Parias der Gesellschaft. Die grausamen Judenverfolgungen demaskieren die stupide Bestialität des Antisemitismus und zerstören die letzten Vorbehalte der arbeitenden Klassen gegen die Juden. Die Ghettos 175
und die gelben Sterne verhindern nicht, dass die Arbeiter eine wachsende Solidarität für die empfinden, die am meisten unter dem leiden müssen, an dem die Menschheit in ihrer Gesamtheit leidet. Eine gesellschaftliche Explosion – die großartigste, die die Welt je gesehen haben wird – wird die Befreiung der am meisten verfolgten Parias unserer Erde vorbereiten. Wenn endlich die Menschen in den Fabriken und auf den Feldern die Vormundschaft der Kapitalisten abgeschüttelt haben, wenn sich vor der befreiten Menschheit eine Zukunft unbeschränkter Entwicklung auftut, dann können die jüdischen Massen einen nicht unbeachtlichen Beitrag zum Aufbau dieser neuen Welt leisten. Das soll nicht heißen, dass der Sozialismus wie mit einem Zauberstab alle Schwierigkeiten, die mit der Lösung der jüdischen Frage verbunden sind, mit einem Schlag aus der Welt schaffen wird. Das Beispiel der Sowjetunion zeigt, dass selbst nach der proletarischen Revolution die spezifische, historisch ererbte Struktur des Judentums eine bestimmte Anzahl Schwierigkeiten verursachen wird, vor allem während der Übergangsperiode. So haben die Juden in Russland beispielsweise während der Neuen Ökonomischen Politik (NÖP) aufgrund ihrer Handelstradition der neuen Bourgeoisie zahlreiche Kader geliefert. Andererseits hat die große Masse der kleinen jüdischen Händler und Handwerker zu Beginn der Diktatur des Proletariats viel gelitten. Erst später, mit dem Erfolg des Fünfjahresplans, drangen die Juden in Massen in die sowjetrussische Wirtschaft ein. Im Ganzen gesehen war die Erfahrung – trotz einiger Schwierigkeiten – eindeutig: Hunderttausende von Juden sind Arbeiter und Bauern geworden. Die Tatsache, dass ein recht hoher Prozentsatz der jüdischen Lohnempfänger aus Angestellten und Beamten besteht, ist keineswegs beunruhigend. Der Sozialismus hat kein Interesse daran, dass die Juden sich auf manuelle Tätigkeiten beschränken. Im Gegenteil, die intellektuellen Fähigkeiten der Juden müssen ihm soweit wie möglich zur Verfügung gestellt werden. Es hat sich also erwiesen, dass selbst unter den relativ schwierigen Bedingungen eines rückständigen Landes die jüdische Frage vom Proletariat gelöst werden kann. Die Juden haben sich in Massen in die russische Wirtschaft integriert. Die »produktive Eingliederung« der Juden wurde von 176
zwei parallel laufenden Prozessen, einem Prozess der Assimilation und einem Prozess der territorialen Konzentration, begleitet. Dort, wo die Juden in die Industrie vordrangen, assimilierten sie sich schnell. Schon im Jahre 1926 sprachen kaum 40 Prozent der jüdischen Bergarbeiter im DonezkBecken noch Jiddisch. Dennoch leben die Juden in nationaler Autonomie. Sie besitzen eigene Schulen, eine jiddische Presse und unabhängige Gerichte. Aber die jüdischen Nationalisten beklagen unaufhörlich das nachlassende Interesse an diesen Schulen und dieser Presse. Nur dort, wo die jüdischen Massen in genügender Dichte als Siedler hingeschickt worden waren, besonders nach Birobidschan, erlebte man eine Art »nationaler Renaissance«. [288] Das Leben selbst zeigt also, dass das Problem, das das Judentum so sehr entzweit, nämlich die Alternative: Assimilation oder territoriale Konzentration – nur für die kleinbürgerlichen Träumer von Belang ist. Die jüdischen Massen wünschen nur eines, nämlich das Ende ihres Martyriums. Dies kann ihnen nur der Sozialismus verschaffen. Aber der Sozialismus muss ihnen wie auch allen anderen Völkern die Möglichkeit geben, sich zu assimilieren und zugleich ein eigenes nationales Leben zu führen. Ist dies das Ende des Judentums? Mit Sicherheit. Trotz ihrer scheinbar unüberwindlichen Gegensätzlichkeit sind sich Assimilatoren und Zionisten darin einig, das Judentum, so wie es die Geschichte kennt, nämlich als merkantiles Judentum in der Diaspora, als Volks-Klasse, zu bekämpfen. Die Zionisten werden nicht müde zu wiederholen, dass es sich darum handle, in Palästina einen völlig neuen Typ von Juden zu schaffen, völlig verschieden von dem der Diaspora. Sie verwerfen mit Abscheu selbst Sprache und Kultur des Judentums der Diaspora. In Birobidschan, in der Ukraine und im Donezk-Becken entledigt sich der »alte Jude« ebenfalls seines jahrhundertealten Plunders. Die Volks-Klasse, das historische Judentum, ist endgültig von der Geschichte verurteilt. Der Zionismus wird trotz aller seiner traditionellen Forderungen eine »nationale Wiedergeburt« nicht bewirken können, sondern höchstens eine »nationale Geburt«. Der »neue Jude« gleicht weder seinem Bruder in der Diaspora noch seinem Vorfahren aus der Zeit der Zerstörung Jerusalems. Der junge Palästinenser, der stolz ist, die Sprache bar Kochbas zu sprechen, hätte diesen wahrscheinlich nicht 177
verstanden. In der Tat sprachen die Juden zur Zeit Roms fließend Aramäisch und Griechisch, aber sie hatten nur sehr vage Kenntnisse des Hebräischen. Das Neu-Hebräisch entfernt sich überdies gezwungenermaßen mehr und mehr von der biblischen Sprache. All dies wird dazu beitragen, die palästinensischen Juden von denen der Diaspora zu entfremden. Und wer kann daran zweifeln, dass morgen, wenn die nationalen Barrieren und Vorurteile in Palästina verschwinden, eine fruchtbare Annäherung zwischen arabischen und jüdischen Arbeitern stattfindet, was zu ihrer partiellen oder totalen Vermischung führen wird? Das »ewige« Judentum, das noch nie mehr als ein Mythos war, wird verschwinden. Es ist voreilig, in der »Assimilation« und in der »nationalen Lösung« unvereinbare Widersprüche zu sehen. Selbst in den Ländern, in denen sich möglicherweise Juden national gruppieren, wird man entweder das Entstehen einer neuen, von der alten völlig verschiedenen jüdischen Nationalität oder die Bildung neuer Nationen erleben. Übrigens wird im ersten Fall diese neue Nationalität – es sei denn, dass die ansässige Bevölkerung vertrieben würde oder die strengen Verordnungen Esras und Nehemias wiedereingeführt würden – von den ursprünglichen Bewohnern des Landes beeinflusst werden. Der Sozialismus führt im nationalen Bereich notwendigerweise zur Demokratisierung im weitesten Sinne. Er muss den Juden die Möglichkeit geben, in allen Ländern, in denen sie ansässig sind, ein eigenes nationales Leben zu führen. Er muss ihnen außerdem ermöglichen, sich auf ein oder mehrere Gebiete zu konzentrieren, ohne natürlich die Interessen der einheimischen Bevölkerung zu verletzen. Nur eine so weit wie möglich ausgedehnte proletarische Demokratie wird es erlauben, die jüdische Frage mit einem Minimum an Leiden zu lösen. Natürlich hängt das Tempo der Lösung der jüdischen Frage vom Rhythmus des sozialistischen Aufbaus ab. Der Antagonismus zwischen Assimilation und nationaler Lösung ist relativ, die letztere ist oft nur die Einleitung zur ersteren. Historisch gesehen sind alle bestehenden Nationen Produkte diverser Rassen- und Völkervermischungen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass, entweder durch den Zusammenschluss oder sogar durch die Auflösung bestehender Nationen, neue Nationen entstehen. Wie 178
dem auch sei, der Sozialismus muss sich hier darauf beschränken, »der Natur ihren Lauf zu lassen«. Man wird übrigens im gewissen Sinne zur Praxis der vorkapitalistischen Gesellschaft zurückkehren. Erst der Kapitalismus hat dadurch, dass er dem nationalen Problem eine wirtschaftliche Basis gegeben hat, auch die unüberwindbaren nationalen Gegensätze geschaffen. Vor der Epoche des Kapitalismus lebten Slowaken, Tschechen, Deutsche und Franzosen in völliger Eintracht miteinander. Die Kriege hatten keinen nationalen Charakter; sie interessierten nur die besitzenden Klassen. Die Politik erzwungener Assimilierung und nationaler Verfolgung war bei den Römern unbekannt. Die barbarischen Völker ließen sich auf friedlichem Wege romanisieren oder hellenisieren. Die nationalen kulturellen und sprachlichen Antagonismen von heute sind nichts anderes als die Folgen der vom Kapitalismus geschaffenen wirtschaftlichen Widersprüche. Mit dem Verschwinden des Kapitalismus wird das nationale Problem seine ganze Schärfe verlieren. Wenn es auch verfrüht wäre, von einer weltweiten Assimilation der Völker zu sprechen, so ist es doch offensichtlich, dass eine globale Planwirtschaft eine beträchtliche Annäherung aller Völker der Welt zur Folge hätte. Es wäre jedoch unangebracht, die Assimilierung künstlich voranzutreiben; nichts könnte ihr mehr schaden. Noch ist nicht vorauszusehen, welcher Art die »Nachfahren« des heutigen Judentums sein werden. Aber der Sozialismus wird darüber wachen, dass sich diese »Generation« unter optimalen Bedingungen entfalten kann. Dezember 1942 Anmerkungen: [287] Semjon Dimanstein, Lenin über die Judenfrage in Russland, Moskau 1924; zitiert von Otto Heller in: Der Untergang des Judentums, Wien/Berlin 1931, S. 229. [288] Das jüdische Problem in Russland wird hier nur gestreift.
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Der Autor
Abraham Léon Abraham Wejnstok, der sich später Abraham Léon nannte, wurde 1918 in Warschau geboren. Als er das Schulalter erreichte, emigrierte die Familie nach Palästina. Doch der Aufenthalt dauerte nur ein Jahr. Sie musste nach Polen zurückkehren, um dann 1926 endgültig nach Belgien auszuwandern. Dort schloss sich Abraham noch als Schüler der zionistischen Jugendbewegung »Hashomer Hatzair« an. Diese versuchte, die Perspektive eines eigenen Staats für das jüdische Volk mit sozialistischen Vorstellungen zu verknüpfen. Sie war der Ansicht, dass die Schaffung eines jüdischen Nationalstaats die Voraussetzung für die Teilnahme der jüdischen Arbeiter am Kampf für den Sozialismus sei. Léon verschrieb sich der politischen Arbeit mit Leib und Seele, stieg rasch in die nationale Führung auf und amtierte ein Jahr lang als Vorsitzender der Brüsseler Föderation der zionistischen Jugend. Während Europa immer tiefer im nationalistischen Strudel versank und sich die Tragödie der Juden bedrohlich am Horizont abzeichnete, löste sich Léon nach und nach von den nationalistischen Vorstellungen des Zionismus und gelangte zur Überzeugung, dass die Lösung der jüdischen Frage untrennbar mit der Verwirklichung des Sozialismus im Weltmaßstab verbunden sei. Er brach schließlich mit »Hashomer Hatzair« und schloss 180
sich der trotzkistischen Vierten Internationale an, deren belgische Sektion er während des Zweiten Weltkriegs leitete. Léons erste Kontakte mit der trotzkistischen Bewegung gingen auf das Jahr 1936 zurück. Damals hörte er den belgischen Trotzkisten Walter Dauge während einer großen Streikwelle im wallonischen Bergbau zu Arbeiterversammlungen sprechen. Er überzeugte sich rasch von der Richtigkeit der Standpunkte Trotzkis im Kampf gegen Stalin und betrachtete sich fortan auch in seiner eigenen Organisation, auf die die Stalinisten einen gewissen Einfluss ausübten, als Parteigänger Trotzkis. Sein endgültiger Bruch mit dem Zionismus dauerte aber noch einige Zeit. Er war nicht der Mann, der über Nacht seine politischen Überzeugungen wechselt. Er eignete sich die neue Weltanschauung an, indem er gründlich mit den theoretischen Voraussetzungen des Zionismus abrechnete und bis zu den historischen Wurzeln der jüdischen Frage vordrang. Dieser Arbeit verdankt das vorliegende Buch seine Entstehung. Den ersten Entwurf legte Léon Anfang 1940 unter dem Titel »Thesen zur jüdischen Frage« in seiner zionistischen Jugendorganisation zur Diskussion vor. In den folgenden Jahren entwickelte und ergänzte er ihn. Léon geht von einem streng materialistischen Standpunkt an die jüdische Frage heran: Nicht die jüdische Religion und Kultur erklärt seiner Ansicht nach, weshalb sich die Juden als gesonderte gesellschaftliche Gruppe erhalten haben, sondern ihre Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft. Dieser Rolle, wie sie sich über die Jahrhunderte hinweg verändert hat, spürt er in allen Einzelheiten nach und erklärt daraus sowohl den Fortbestand der jüdischen Religion als auch die Wurzeln des Antisemitismus, mit dem andere gesellschaftliche Gruppen wiederholt auf das Judentum reagiert haben. Die Ursache des modernen Antisemitismus, der im Rassenwahn der Nazis seine extremste Form fand, entdeckt er im Niedergang der kapitalistischen Gesellschaft. Hatte der Kapitalismus in seiner Aufstiegsphase die Juden noch assimiliert und integriert, so erweist er sich dazu in seiner Zerfallsperiode nicht mehr in der Lage:
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»… die furchtbare Krise der kapitalistischen Ordnung im 20. Jahrhundert hat die Lage der Juden unerhört verschlechtert. Den aus ihren wirtschaftlichen Positionen im Feudalismus verdrängten Juden gelang es nicht, sich in die im Auflösungsprozess befindliche kapitalistische Wirtschaft zu integrieren. In seinen Krisenanfällen verwirft der Kapitalismus selbst jene jüdischen Elemente, die er sich noch nicht völlig einverleibt hat. Überall entwickelt sich ein wütender Antisemitismus in den Mittelschichten, die an den kapitalistischen Widersprüchen zugrunde zu gehen drohen. Das Großkapital bedient sich dieses elementaren Antisemitismus des Kleinbürgertums, um die Massen um die Fahne des Rassismus zu mobilisieren. Die Juden werden zwischen zwei Systemen zerrieben: dem Feudalismus und dem Kapitalismus, von denen jeder den Fäulnisprozess des anderen vorantreibt.« [1] Der Zionismus entstand als Reaktion auf diese Entwicklung. Doch dieselbe Entwicklung macht ihn auch zur Illusion: »Das jüdische Bürgertum ist verpflichtet, mit allen Mitteln einen eigenständigen Nationalstaat zu schaffen und den objektiven Rahmen für die Entfaltung seiner Produktivkräfte zu sichern – und das zu einer Zeit, wo die Bedingungen einer solchen Entwicklung längst vorüber sind ... Man kann ein Übel nicht ohne seine Ursachen beseitigen. Der Zionismus aber will die jüdische Frage lösen, ohne den Kapitalismus, die Hauptquelle der jüdischen Leiden, zu zerstören.« [2] Einmal bei diesen Überzeugungen angelangt, stürzte sich Léon mit demselben Mut und Eifer in den politischen Kampf, den er zuvor schon im zionistischen Jugendverband an den Tag gelegt hatte. Der deutsche Einmarsch im Mai 1940 hatte die belgische Arbeiterbewegung in ihren Grundfesten erschüttert und auch die trotzkistische Bewegung in eine Krise geworfen. Es war zu einem großen Teil Léon zu verdanken, dass sie wiederaufgebaut wurde und Zugang zu den Arbeitern fand. Er war politischer Sekretär der »Parti communiste révolutionnaire« (Revolutionäre Kommunistische Partei), leitete die Redaktion der illegalen Zeitung »La Voie de Lénine« (Lenins Weg), besuchte Betriebskomitees, die in den 182
großen Fabriken im Untergrund arbeiteten, und war für die äußerst riskante Arbeit unter den deutschen Besatzungssoldaten verantwortlich. Als überzeugter Internationalist bemühte er sich, die Isolation der belgischen Bewegung zu überwinden und die Arbeit der Vierten Internationale neu zu beleben. Im Januar 1942 organisierte er in Brüssel ein Treffen mit drei führenden französischen Genossen. Im Sommer 1943 beteiligte er sich in den belgischen Ardennen an der Gründung eines provisorischen Europäischen Sekretariats, dem er fortan angehörte. Und im Februar 1944 wagte er eine Reise nach Frankreich, um in Saint-Germainla-Poterie bei Beauvais an der Oise an der ersten – illegalen – Europäischen Konferenz der Vierten Internationale seit ihrer Gründung im Jahr 1938 teilzunehmen. Die Vierte Internationale bereitete sich auf einen Aufschwung der Arbeiterbewegung am Ende des Kriegs vor. Den belgischen Trotzkisten war es gelungen, in den wallonischen Bergwerken eine illegale Struktur von Vertrauensleuten aufzubauen. Um diese Arbeit aus nächster Nähe zu verfolgen, entschloss sich Léon, nach Charleroi umzuziehen. Dieser Schritt wurde ihm zum Verhängnis. Noch am Abend seiner Ankunft, dem 18. Juni 1944, wurde er verhaftet und tagelanger, schrecklicher Folter ausgesetzt. Es gelang ihm noch einmal, schriftlichen Kontakt zu seinen Genossen aufzunehmen. Doch dann wurde er von der Gestapo deportiert – nach Auschwitz. Die Zwangsarbeit richtete seine Gesundheit rasch zugrunde. Er wurde für die Gaskammer selektiert und am 7. Oktober 1944 ermordet. Eine erste französische Ausgabe seines Buchs erschien 1946, unmittelbar nach dem Krieg. Es folgten 1950 eine englische und 1968 eine weitere französische, 1970 auch eine arabische Ausgabe. In deutscher Sprache erschien es erstmals 1971 unter dem Titel »Judenfrage & Kapitalismus« in München. Das Buch wurde 1995 in überarbeiteter Übersetzung im Arbeiterpresse Verlag, jetzt Mehring Verlag, veröffentlicht. Für die E-Book-Ausgabe 2020 wurden die Quellenangaben überprüft und ergänzt. Anmerkungen: [1] Siehe S. 30–31.
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[2] Siehe S. 193–194.
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Impressum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Titelbild:
Hester Street im New Yorker Stadtteil Lower East Side
im Jahr 1899, das Hauptansiedlungsgebiet jüdischer
Einwanderer aus Osteuropa um die Jahrhundertwende.
© Museum of the City of New York 1. Auflage Juli 1995
E-Book-Ausgabe Mai 2020
(http://www.mehring-verlag.de) Satz und Datenaufbereitung:
Klartext Medienwerkstatt GmbH, Essen
(http://www.k-mw.de) Alle Rechte vorbehalten. © der ersten Auflage in der Bearbeitung
von Hartmut Mehringer, Trikont Verlag, München 1971
© der neu bearbeiteten Auflage
Mehring Verlag, Essen 1995 ISBN 978-3-88634-764-3 (ePub)
auch erhältlich als
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