Die Idee des Lebens: Zum Begriff der Grenze bei Hegel und Plessner 9783495817681, 9783495487686


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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
1. Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik
1.1. Die Grundstruktur der hegelschen Logik
1.2. Organismen als Naturzwecke: Kants Begriff des Organischen in der Kritik der Urteilskraft
1.3. Die qualitative Grenze
1.3.1. Die Genese des Werdens aus dem reinen Sein
1.3.2. Das Werden des Etwas aus der Negation
1.3.3. Etwas und Anderes
1.3.4. An-ich-Sein und Sein-für-Anderes
1.3.5. Bestimmung und Beschaffenheit
1.3.6. Die Grenze als Brücke zwischen Realität und Idealität
1.3.7. Die Grenze als Prozess: Die Dialektik von Schranke und Grenze
1.3.8. Für sich Sein: Die abstrakte Grenze seiner Selbst
1.3.9. Die Grenze als Bestimmung des Einen und Vielen
1.4. Die quantitative Grenze
1.4.1. Reine Quantität: Die Grenze, die keine ist
1.4.2. Die Zahl: begrenzte Quantität
1.4.3. Der Grad als über sich selbst hinaustreibende Grenze
1.4.4. Das quantitative Verhältnis
1.4.5. Das Maß: Quantitative Grenze als qualitative Bestimmtheit
1.4.6. Das Maßlose
1.5. Das Wesen: Die Grenze als Selbstvermittlung
1.5.1. Die Grenze als »absoluter Unterschied«
1.5.2. Die Verschiedenheit
1.5.3. Die Grenze als Gegensatz
1.5.4. Der Grund
1.5.5. Die Existenz
1.5.6. Das Ding
1.5.7. Die Erscheinung und das wesentliche Verhältnis
1.5.7.1. Der Teil und das Ganze
1.5.7.2. Die Kraft und ihre Äußerung
1.5.7.3. Die wesentliche Grenze als Unterschied des Inneren und des Äußeren
1.6. Substanz: Die Grenze als intersubjektive Bestimmung
1.6.1. Substanzialität und Akzidentialität
1.6.2. Formale Kausalität
1.6.3. Endliche Kausalität
1.6.4. Wirkung und Gegenwirkung
1.6.6. Wechselwirkung als präfigurierte Intersubjektivität
1.7. Der Begriff: Die Grenze als Urteil
1.7.1. Die Grenze als Besonderheit
1.7.2. Das Urteil
1.7.3. Der Schluss
1.7.4. Die Objektivität
1.7.4.1. Der Mechanismus
1.7.4.2. Der Chemismus
1.7.4.3. Die Teleologie
1.8. Die Idee des Lebens
1.8.1. Das lebendige Individuum
1.8.2. Der Lebensprozess
1.8.3. Die Gattung
1.9. Die absolute Idee
2. Die Stufung des Organischen in Hegels Philosophie der Natur und des Geistes
2.1. Das Mineralreich
2.2. Die Pflanze
2.3. Der tierische Organismus
2.4. Anthropologie – der Schlaf des Geistes
2.5. Selbstbewusstsein
3. Die Stufen des Organischen und der Mensch in Plessners Naturphilosophie und Anthropologie
3.1. Einführung
3.1.1. Noch einmal: Der Standpunkt des Urteils
3.1.2. Ausgangspunkt der Betrachtung: Doppelaspektivität des Lebendigen
3.1.3. Grenze und Medium
3.1.4. Positionalität
3.1.5. Prozesscharakter und Entwicklung organischen Seins
3.1.6. Die statischen Wesensmerkmale des Lebendigen
3.1.7. Naturteleologie
3.2. Organisationsweisen des Lebendigen
3.2.1. Organismus und Lebenskreis
3.2.2. Assimilation und Dissimilation
3.2.3. Angepasstheit und Anpassung
3.3. Die Stufung des Organischen: Pflanze und Tier
3.3.1. Die offene Form der Pflanze
3.3.2. Die geschlossene Form des Tieres
3.3.3. Die Positionalität der geschlossenen Form: Zentralität und Frontalität
3.3.4. Die dezentralistische Organisationsform
3.3.5. Die zentralistische Organisationsform
1.3.6. Die exzentrische Form der Positionalität
3.3.7. Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt
3.4. Schlussbetrachtung
4. Ausblick
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
I. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
II. Plessner; Helmuth
Sekundärliteratur
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Die Idee des Lebens: Zum Begriff der Grenze bei Hegel und Plessner
 9783495817681, 9783495487686

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Stascha Rohmer

Die Idee des Lebens Zum Begriff der Grenze bei Hegel und Plessner

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817681

.

B

Stascha Rohmer Die Idee des Lebens

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Im Rahmen der heutigen Ökologie- und Bioethik-Debatte, aber auch in der durch die Fortschritte der Neurowissenschaften ausgelösten Debatte über die Natur der Freiheit kommt der begrifflichen Bestimmung des Lebens und den damit einhergehenden anthropologischen Konsequenzen zentrale Bedeutung zu. Worin besteht das Wesen des Lebendigen und wodurch unterscheidet es sich vom Anorganischen? Was charakterisiert das spezifische Verhältnis von lebenden Organismus und Umwelt? Und wie lässt sich im Rahmen einer Kontinuität des Lebens der Mensch als eine Lebensform unter anderen Lebensformen in der Natur begreifen, ohne seine besondere Stellung zu bestreiten? Hegel und Plessner haben schon im 19. bzw. 20. Jahrhundert versucht, diese heute so aktuellen Fragen zu beantworten, wobei sie in ihren philosophischen Konzeptionen zugleich die Ergebnisse der Naturwissenschaften ihrer Zeit reflektierten. Während Hegel im Rahmen seiner Philosophie des absoluten Geistes bestrebt ist, die »Idee des Lebens« logisch herzuleiten, entwickelt Plessner eine Lebensphilosophie, in der das Leben gegenüber dem Geist als das Fundierende aufzufassen ist. Trotz dieser unbestreitbaren Differenz gehen beide Denker in ihrer Konzeption von einer ideellen Stufung der Natur aus, deren Dialektik die spezifischen Unterschiede zwischen Pflanze, Tier und Mensch entspringen. Wie in der vorliegenden Schrift dargelegt wird, kommt hierbei dem Begriff der Grenze besondere Bedeutung zu.

Der Autor: Stascha Rohmer, geb. 1966, promovierte nach einem Studium der Philosophie und Hispanistik 1999 an der Technischen Universität Berlin mit einer Arbeit zur Metaphysik Alfred North Whiteheads. Von 1999 bis 2010 war er Research Fellow am »Instituto de Filosofía« des Forschungszentrums CSIC in Madrid und unterrichtete ferner Philosophie am Philosophischen Seminar der Humboldt-Universität Berlin sowie an zahlreichen anderen deutschen Universitäten. Seit Februar 2015 ist er Professor für Philosophie an der Fakultät für Rechtswissenschaften an der Universidad de Medellín (Kolumbien). Sein wichtigstes, bisheriges Werk »Liebe – Zukunft einer Emotion« erschien 2008 im Verlag Karl Alber. Zahlreiche Veröffentlichungen.

https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Stascha Rohmer

Die Idee des Lebens Zum Begriff der Grenze bei Hegel und Plessner

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Gefördert aus Mitteln des Strategischen Forschungsfonds der Universidad de Medellín, Kolumbien.

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2016 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48768-6 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81768-1

https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik . . . 1.1. Die Grundstruktur der hegelschen Logik . . . . . . . . 1.2. Organismen als Naturzwecke: Kants Begriff des Organischen in der Kritik der Urteilskraft . . . . . . . . 1.3. Die qualitative Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. Die Genese des Werdens aus dem reinen Sein . . . 1.3.2. Das Werden des Etwas aus der Negation . . . . . 1.3.3. Etwas und Anderes . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4. An-sich-Sein und Sein-für-Anderes . . . . . . . . 1.3.5. Bestimmung und Beschaffenheit . . . . . . . . . 1.3.6. Die Grenze als Brücke zwischen Realität und Idealität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.7. Die Grenze als Prozess: Die Dialektik von Schranke und Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.8. Für-sich-Sein: Die abstrakte Grenze seiner Selbst . 1.3.9. Die Grenze als Bestimmung des Einen und Vielen . 1.4. Die quantitative Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Reine Quantität: Die Grenze, die keine ist . . . . . 1.4.2. Die Zahl: begrenzte Quantität . . . . . . . . . . . 1.4.3. Der Grad als über sich selbst hinaustreibende Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.4. Das quantitative Verhältnis . . . . . . . . . . . . 1.4.5. Das Maß: Quantitative Grenze als qualitative Bestimmtheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.6. Das Maßlose . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Das Wesen: Die Grenze als Selbstvermittlung . . . . . . 1.5.1. Die Grenze als »absoluter Unterschied« . . . . . . 1.5.2. Die Verschiedenheit . . . . . . . . . . . . . . . .

31 31 52 62 67 71 73 78 79 82 87 91 93 97 97 98 99 101 102 104 105 113 120 5

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Inhalt

1.6.

1.7.

1.8.

1.9. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5.

1.5.3. Die Grenze als Gegensatz . . . . . . . . . . . . . 1.5.4. Der Grund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.5. Die Existenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.6. Das Ding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.7. Die Erscheinung und das wesentliche Verhältnis . 1.5.7.1. Der Teil und das Ganze . . . . . . . . . . . . . 1.5.7.2. Die Kraft und ihre Äußerung . . . . . . . . . . 1.5.7.3. Die wesentliche Grenze als Unterschied des Inneren und des Äußeren . . . . . . . . . . . . Substanz: Die Grenze als intersubjektive Bestimmung . . 1.6.1. Substanzialität und Akzidentialität . . . . . . . . 1.6.2. Formale Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.3. Endliche Kausalität . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.4. Wirkung und Gegenwirkung . . . . . . . . . . . 1.6.5. Wechselwirkung als präfigurierte Intersubjektivität Der Begriff: Die Grenze als Urteil . . . . . . . . . . . . 1.7.1. Die Grenze als Besonderheit . . . . . . . . . . . . 1.7.2. Das Urteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.3. Der Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.4. Die Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.4.1. Der Mechanismus . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.4.2. Der Chemismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7.4.3. Die Teleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Idee des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.1. Das lebendige Individuum . . . . . . . . . . . . . 1.8.2. Der Lebensprozess . . . . . . . . . . . . . . . . 1.8.3. Die Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die absolute Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stufung des Organischen in Hegels Philosophie der Natur und des Geistes . . . . . . . . . . . . Das Mineralreich . . . . . . . . . . . . . . . . Die Pflanze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der tierische Organismus . . . . . . . . . . . . Anthropologie – der Schlaf des Geistes . . . . . Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . .

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6 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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193 194 195 199 208 213

Inhalt

3.

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3.4.

Die Stufen des Organischen und der Mensch in Plessners Naturphilosophie und Anthropologie . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Noch einmal: Der Standpunkt des Urteils . . . . 3.1.2. Ausgangspunkt der Betrachtung: Doppelaspektivität des Lebendigen . . . . . . . 3.1.3. Grenze und Medium . . . . . . . . . . . . . . 3.1.4. Positionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.5. Prozesscharakter und Entwicklung organischen Seins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.6. Die statischen Wesensmerkmale des Lebendigen 3.1.7. Naturteleologie . . . . . . . . . . . . . . . . . Organisationsweisen des Lebendigen . . . . . . . . . 3.2.1. Organismus und Lebenskreis . . . . . . . . . . 3.2.2. Assimilation und Dissimilation . . . . . . . . . 3.2.3. Angepasstheit und Anpassung . . . . . . . . . . Die Stufung des Organischen: Pflanze und Tier . . . . 3.3.1. Die offene Form der Pflanze . . . . . . . . . . . 3.3.2. Die geschlossene Form des Tieres . . . . . . . . 3.3.3. Die Positionalität der geschlossenen Form: Zentralität und Frontalität . . . . . . . . . . . . 3.3.4. Die dezentralistische Organisationsform . . . . 3.3.5. Die zentralistische Organisationsform . . . . . . 3.3.6. Die exzentrische Form der Positionalität . . . . . 3.3.7. Außenwelt, Innenwelt, Mitwelt . . . . . . . . . Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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290 293 295 299 303 310

4.

Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3.2.

3.3.

. 221 . 221 . 228 . 231 . 234 . 241

7 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Meiner Mutter gewidmet

https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einleitung

»Konvergenzen beruhen nicht immer auf Einfluss. Es wird in der Welt mehr gedacht, als man denkt« (Stu, 34) – mit diesen Sätzen charakterisiert Helmuth Plessner im Vorwort zur zweiten Auflage von 1964 das Verhältnis seines Hautwerkes Die Stufen des Organischen und der Mensch zum Denken Georg Friedrich Wilhelm Hegels. Er hätte sich auf Hegel berufen müssen, – so stellt er selbstkritisch 36 Jahre nach dem Erscheinen der ersten Auflage heraus, wenn ihm die entsprechenden Stellen damals nur bekannt gewesen wären. Aber an welche Stellen in Hegels Werk denkt Helmuth Plessner hier? Und von welchen Konvergenzen spricht er? In der Tat kann man es als ein Versäumnis der deutschen Forschung der letzten 80 Jahre begreifen, der von Plessner damit in gewisser Weise selbst aufgeworfenen Frage nach den Parallelen und Übereinstimmungen von seiner in seinem Hauptwerk entwickelten Konzeption des Lebendigen und Hegels Denken noch nicht gründlich nachgegangen zu sein. Dieses Versäumnis soll in der hier vorliegenden Schrift nachgeholt werden. Dabei soll erstens aufgezeigt werden, dass profunde Gemeinsamkeiten zwischen Hegels dialektischer Auffassung der Wirklichkeit und Plessners Philosophie des Organischen bestehen. Da Plessner einen direkten Einfluss Hegels auf sein Schaffen bei der Erarbeitung der Konzeption der Stufen bestreitet, und man in dieser Hinsicht mit Hans-Ulrich Lessing von einer »verpassten Rezeption« 1 sprechen muss, werden diese Gemeinsamkeiten zweitens in historischer Perspektive nicht zuletzt auf den starken Einfluss zurückgeführt, den Kants Kritik der Urteilskraft und hier insbesondere die Kritik der teleologischen Urteilskraft auf beide Denker ausgeübt hat – womit nicht in Zweifel gestellt werden soll, dass beide Denker auch allein durch die problemorientierte Arbeit an derselben 1 Vgl: Lessing, Hans-Ulrich, Hegel und Plessner. Die verpaßte Rezeption, in: Hegel in der neueren Philosophie, hg. v. Thomas Wyrwich, Hamburg 2011, S. 161–180.

11 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einleitung

Sache zu zumindest vergleichbaren Resultaten gelangt sein könnten. Es soll also nicht in Abrede gestellt werden, dass – wie Plessner lakonisch bemerkt – »in der Welt mehr gedacht wird als man denkt«. (Stu, 34) Geht man nun davon aus, dass die kantsche Urteilskraft – und hier insbesondere die Kritik der teleologischen Urteilskraft als Theorie der Selbstorganisation und der inneren Zweck-mäßigkeit des Lebendigen – den gemeinsamen Ausgangspunkt der theoretischen Konzeptionen von Hegel und Plessner abgibt, dann wird man sich zugleich zu vergegenwärtigen haben, dass man den Rahmen der hier angestrebten Untersuchung viel zu eng spannen würde, wenn man sich zu der Annahme verleiten ließe, dass sich nämliche Konvergenzen und konkrete »Stellen«, von denen Plessner spricht, allein oder vor allem in dem von Hegel mit dem Titel »Anthropologie« überschriebenen ersten Teil der Philosophie des Geistes befänden. Kein anderer Name in der Philosophie des 20. Jahrhunderts ist so eng mit dem Stichwort »Anthropologie« verknüpft, wie der Plessners. Jedoch treten in Bezug auf den Anthropologie-Begriff, von dem sich Hegel im Rahmen seines Systems leiten lässt, und dem Plessners einschneidende Differenzen zwischen beiden Denkern auf, die in letzter Konsequenz eher geeignet wären, Diskrepanzen, denn Konvergenzen zu Tage zu fördern. Denn die Anthropologie ist aus Hegels Sicht aus sich heraus gerade nicht zu dem in der Lage, was aus Plessners Sicht ihr eigentlicher Zweck und ihre Aufgabe ist: Die Frage nach dem Wesen des Menschen und die nach seiner Stellung in der Natur als Ganzer zu beantworten. Zunächst wird man natürlich in der hegelschen Anthropologie in Bezug auf Parallelen zum plessnerschen Denken reichlich fündig, insofern es Hegel hier um die Interpretation solcher seelisch-geistigen Phänomene geht, die aus seiner Sicht mit der Leiblichkeit, d. h. mit der Natur des Menschen in unmittelbaren Zusammenhang stehen: Ist doch Gegenstand der hegelschen Anthropologie die ihren leiblichen Körper gleichsam noch versenkte und daher sich im unmittelbaren Einssein mit ihrem Körper befindliche Seele. In Bezug auf dieses Einssein der Seele mit ihrem Körper denkt Hegel z. B. an Phänomene wie die unterschiedlichen Temperamente, die aus seiner Sicht den Rassenunterschieden entspringen, oder an die Lebensalter (Kindheit, Adoleszenz, Alter etc.), aber auch und vor allem an konkrete psycho-physische Zustände wie das Wachen und Schlafen, die Verrücktheit oder das Lachen und Weinen. Auf die Interpretation 12 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einleitung

dieser an die unmittelbare Leiblichkeit des Menschen geknüpften Phänomene hat sich allerdings aus Hegels Sicht die Anthropologie jedoch zu beschränken. Damit ist aber ihr Geltungsbereich zugleich sehr begrenzt. So ist es offenkundig, dass die Anthropologie in Hegels Systems nur ein untergeordnetes Element in der Philosophie des Geistes darstellt. Diese Unterordnung ist Resultat einer Über-zeugung Hegels, die sein ganzes Werk durchzieht, nämlich, dass die eigentliche Substanz des Menschen rein geistig ist und folglich zweitens – und dies ist das Entscheidende – die eigentliche Entwicklung des Geistes im humanen Ich mit der Aufhebung seiner Naturhaftigkeit und Leibgebundenheit überhaupt erst anhebt. Berühmt geworden ist diesem Zusammenhang Hegels Diktum vom »Blitz der Subjektivität« als dem »eigentlichen Erwachen der Seele und dem durch die Naturseele schlagende und ihre Natürlichkeit verzehrende Blitz« (10, 198). Aus dieser Perspektive ist zugleich einsichtig– wie vor allem Reiner Wiehl 2 betont hat –, warum für Hegel all jene psychischen Vorgänge, die unmittelbar an die Leiblichkeit des Menschen gebunden sind, mit einen spezifischen Mangel behaftet sind. Es ist dies aus Hegels Sicht ein Mangel an eben jener reinen Geistigkeit, die den Geist zum absoluten Geist macht; genauer gesagt, ein Mangel an jener Form von reiner Selbsttransparenz, die aus seiner Sicht für das begriffliche Denken – das Cogito ergo sum – charakteristisch ist. Hegel würdigt zwar die Gefühle und Empfindungen der »fühlenden Seele«, welche den Gegenstandsbereich der Anthropologie konstituieren, als erste, elementare Selbstoffenbarungen des Geistes. Denn schon im humanen Selbstempfinden tritt – anders als in dem bloßen Instinkt des Tieres – aus Hegels Sicht die Seele in ein Verhältnis zu sich selbst; ein Verhältnis, das sich als kontinuierliches Selbstgefühl kundtut und dessen Einheit alle Ausdrucksweisen und Gewohnheiten in sich integriert. Aber das Selbstgefühl ist als solches aus Hegels Sicht nur eine – wenn auch notwendige Vorstufe – zur Selbsterkenntnis; eine Selbsterkenntnis, zu der aus Hegels Sicht wiederum nur ein Subjekt in der Lage ist, dass von seiner Leiblichkeit und immanenten Lebendigkeit vollkommen zu abstrahieren vermag. 2 Wiehl, Reiner, Priorität der Wahrheit oder Priorität des Lebens. Die Alternative zwischen Hegels und Whiteheads Metaphysik der Subjektivität, in: Zeitwelten. Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte, Frankfurt am Main 1998, S. 115.

13 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einleitung

Hieraus resultiert, dass Hegel die »Seele« den bewussten Formen der Erkenntnis (Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Vernunft) als »Schlaf des Geistes« (10, 43) gegenüberstellt. Da sich aus Hegels Sicht die Anthropologie nun auf dem mit dem Begriff Schlafs des Geistes konnotierten Bereich – modern formuliert, auf den Bereich des vor- und unbewussten 3 Seelenlebens in seiner Verschlingung mit der Leiblichkeit – zu beschränken hat, führt dies zu dem paradoxen Tatbestand, dass Anthropologie bei Hegel nicht das ist, was sie ihrem eigentlichen Wortsinn nach ist: eine allgemeine Theorie vom Menschen. Von einer allgemeinen Theorie des Menschen würde man erwarten, dass sie Vernunft und Bewusstsein miteinbezieht. Da dies aber aus Hegels Sicht keine Gegenstände der Anthropologie sind, ist dieselbe nicht dazu in der Lage, zureichend zu begreifen, was den Menschen als Mensch ganz wesentlich ausmacht: nämlich sein Dasein als geistiges Wesen und die daraus resultierende Geschichtlichkeit seines Daseins. Odo Marquard spricht daher in Bezug auf Hegel nicht zu Unrecht von einer »Degradierung der Anthropologie« 4, die gerade in der Romantik hoch im Kurs stand. Auch der Philosoph Josef König, enger Freund Plessners, kommt in einem Brief vom 6. März 1926 an Plessner in Bezug auf die hegelsche Anthropologie zu dem Schluss: »Wichtigster Gesichtspunkt für Hegel: das Verhältnis von Anthropologischem zu rein Geistigem. Nach ihm widerspricht etwas bloß Anthropologisches dem Begriff des freien Geistes.« 5 Mit Sicherheit hat diese Auffassung des geschätzten Freundes Plessners Verhältnis zu Hegel geprägt und möglicherweise einer frühen Rezeption eher hinderlich entgegengestanden. Denn gerade die Aussöhnung des Gegensatzes von Natur und Geist – ohne einen der beiden Pole absolut zu setzen – ist das zentrale Anliegen von Plessners Naturphilosophie und Anthropologie. Und da Plessner von hier aus auch intendiert, den vermeidlichen Gegensatz von Natur und Geschichte aus dem Weg zu räumen, verhalten sich Zu Hegels Anthropologie als einer Theorie des Unbewussten s.: Wiehl, Reiner, Seele und Bewusstsein. Zum Zusammenhang von Hegels Anthropologie und Phänomenologie des Geistes, in: Subjektivität und System, Frankfurt am Main 2000, S. 73–107. 4 Marquard, Odo, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt am Main 1973, S. 132. 5 König, Josef/Plessner, Helmuth, Briefwechsel 1923–1933, Mit einem Briefessay von Josef König über Helmuth Plessners »Die Einheit der Sinne«, hg. v. Hans-Ulrich Lessing u. Almut Mutzenbacher, Freiburg/München 1994, S. 126. 3

14 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einleitung

diesbezüglich beide Konzeptionen offenkundig gegensätzlich zueinander: Plessner versucht, wie sich im Kommenden zeigen wird, die Anthropologie nicht zuletzt insofern als eine allgemeine Lehre vom Menschen – d. h. vom Menschen als psycho-physischer Ganzheit – zu rehabilitieren, als er sich nicht vom idealistischen Paradigma des Selbstbewusstseins als Grund und Ursprung der Welt leiten lässt, sondern demgegenüber das Selbstbewusstsein, den Geist, als Resultat einer spezifischen Form der Selbstorganisation der Natur deutet. Wenn man den Focus auf Plessners Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch richtet und diesem die hegelsche Anthropologie als Lehre von den ersten Regungen der fühlenden Seele gegenüberstellt, wird man so nicht umhinkommen festzustellen, dass sich unter dieser Perspektive nun umgekehrt die hegelsche Anthropologie als untergeordnetes Element eines größeren Ganzen darstellt, insofern Plessner mit seiner Anthropologie beansprucht, alle Leistungen des Menschen einer Interpretation zuzuführen – ohne damit die Existenz eines unbewussten Seelenlebens und seinen Zusammenhang mit der Leiblichkeit des Menschen zu negieren. Jedoch ist die Frage nach der Möglichkeit, wie sich das unbewusste, spontane Seelenleben in seine Theoriekonzeption als Ganzes integrieren lässt, in den Stufen offenkundig nicht Plessners vorrangiges Thema. Daher wird man auch davon ausgehen können, dass sich die Übereinstimmungen und Konvergenzen zu Hegel innerhalb der Stufen, die Plessner selbst am Anfang der Stufen anspricht, nicht in Hegels Anthropologie befinden. 6 Was Hegel und Plessner vielmehr miteinander verbindet, dies sind nicht die Anthropologie-Begriffe, von denen sie sich leiten lassen, sondern ist die Annahme einer prinzipiellen Kontinuität aller Erscheinungsformen des Lebendigen. Dabei ist der Begriff der Kontinuität bei diesem wie bei jenem allerdings dialektisch aufzufassen, insofern er zugleich die Bedingung der Möglichkeit beinhaltet, das humane Leben vom tierischen Leben abzuheben und in diesem Sinne Diskontinuitäten aufzuzeigen – ohne damit durch keine Theorie zu überbrückende Abgründe behaupten zu müssen. 7 Auch wenn es zunächst paradox klingen mag, ist es aus dieser Perspektive Dies gilt natürlich zweifelsohne nicht für alle Texte Plessners. Insbesondere die berühmte Studie Lachen und Weinen. Eine Untersuchung zu den Grenzen menschlichen Verhaltens. (VII, 201–388) scheint ganz direkt von Hegels Anthropologie inspiriert worden zu sein. 7 Ausdrücklich spricht Plessner von einer »Sonderstellung« des Menschen in der Natur; so z. B. in seinem Vortrag »Mensch und Tier« aus dem Jahre 1946 (GW, 52–65). 6

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Einleitung

gerade die Annahme, dass die grundlegenden Strukturen der Wirklichkeit allein geistiger Natur sind, welche die Nähe von Hegels Denken zu dem Plessners begründet. Entscheidend in Bezug auf das Verhältnis zu Plessner ist der Tatbestand, dass Hegels monistischer Ansatz ihn in systematischer Hinsicht dazu verpflichtet, einen Zusammenhang aller Erscheinungsformen des Lebendigen bis hin zu anorganischen zu präsupponieren und diese Annahme seinerseits in einer Naturphilosophie zu rechtfertigen. Die Modernität der hegelschen Naturphilosophie besteht dabei aus heutiger Sicht betrachtet in ihrem Anliegen, spezifische Vorformen der vernunftbegabten Subjektivität schon in einfacheren Formen des Organischen nachzuweisen. Hegels Naturphilosophie, in der das Anorganische nur ein (unwesentlicher) Grenzfall einer organologisch 8 konzipierten Natur darstellt, lässt sich so als eine Naturgeschichte der Freiheit rekonstruieren, die auf dem Boden der Annahme einer grundsätzlichen Kontinuität aller Erscheinungsweisen des Lebendigen darauf abzielt, die allgemeinen Möglichkeitsbedingungen der humanen Subjektivität und Freiheit auch schon in der außermenschlichen Natur aufzuzeigen. Eben dies verbindet ihn mit Plessner. Und bei beiden Denkern ist des Weiteren der Gesamtzusammenhang des Lebendigen die Grundlage all jener Selbstdifferenzierungen und Vermittlungen, welche eine kontinuierliche Entwicklung von niedrigeren zu höheren Formen von Subjektivität und Selbsthaftigkeit in der Natur überhaupt erst möglich macht. Hegel hat für diese Form von Entwicklungszusammen–hängen, in denen jedwedes Hervortreten von essentiell Neuem durch die bestimmte Negation und die Aufhebung des vorhergehenden Zustandes vermittelt ist, mit dem bereits erwähnten Begriff der »Stufe« konnotiert und in diesem Sinne ausdrücklich von einer ideellen und zu-gleich notwendigen Stufung der Natur gesprochen: »Die Natur«, so Hegel, »ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert«. (9, 37) Und in der Tat stoßen wir schon im Titel von Plessners Hauptwerk auf den für das plessnersche Werk wesentlichen Begriff der StuDie fundamentale Bedeutung, die dem Organismus als Paradigma in Hegels Philosophie im Ausgang von Kant zukommt, ist insbesondere von Rolf Horstmann betont worden, Wahrheit aus dem Begriff, Frankfurt am Main 1990.

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fung der Natur. Entscheidend für einen Vergleich von Hegel und Plessner ist, dass letzterer ebenso den »ideellen Charakter« der von ihm herausgearbeiteten Stufung der Natur betont. So sind etwa aus Plessners Sicht Pflanze und Tier »ideell in der Organisationsweise streng voneinander geschieden, weshalb sie in vielen Eigenschaften nur graduell voneinander abzuweichen brauchen und in manchem auch übereinstimmen können. Eine rein empirische Unterscheidung von Pflanze und Tier wird daher stets auf die größten Schwierigkeiten stoßen, weil sie an der Existenz von Übergangsformen nicht vorübergehen kann«. (Stu, 285)

Da Hegel und Plessner nun beide von einer ideellen Stufung der Natur ausgehen, die sich insbesondere in Pflanze, Tier und Mensch manifestiert, wäre offenbar der Gedanke nur naheliegend, dass man sich – wenn nicht der Anthropologie – dann doch unmittelbar der hegelschen Naturphilosophie zuzuwenden habe, wenn man Plessners Stufen und Hegels Denken in Bezug auf mögliche Konvergenzen hin untersuchen will. Ohne bestreiten zu wollen, dass sich die dezidierte »Logik« des Lebendigen, die Plessner in den Stufen entwickelt, wie auch Lessing betont, »sich in frappierender Weise mit Hegels Überlegungen zur Naturphilosophie berührt« 9, lässt sich jedoch leicht zeigen, dass ein solcher Vergleich sich unmittelbar als höchst problematisch darstellt. Wenn Hegel etwa an zentraler Stelle in der Naturphilosophie sagt: »Der tierische Organismus ist als lebendige Allgemeinheit der Begriff, welcher sich durch seine drei Bestimmungen als Schlüsse verläuft«, dann scheint sich vielmehr zwischen dem studierten Zoologen Plessner und seiner über weite Strecken in an Anlehnung an die moderne Naturwissenschaft gewählten Begriffssprache und der Sprache Hegels ein unmittelbar schwer zu überwindender Abgrund aufzutun – auch wenn Plessner offensichtlich ganz bewusst in vielerlei Hinsicht an die Terminologie des deutschen Idealismus und nicht zuletzt an die Hegels anknüpft. Worin wurzeln diese Schwierigkeiten? Sie resultieren daraus, dass sich in Hegels Philosophie des absoluten Geistes und Plessners Lebensphilosophie die Verhältnisse von Geist und Leben bzw. Leben und Geist umgekehrt darstellen. Zunächst ist festzuhalten: Sowohl bei Plessner als auch bei Hegel nimmt der Begriff des Lebens einen zentralen Stellenwert ein. Hegel inter9

Lessing, a. a. O., S. 179.

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pretiert die Dynamik von Geburt und Tod, wie sie den Werdegang des Lebendigen und die Kette der Generationen bzw. das Leben der Gattung kennzeichnet, ideell – als Überwindung der Unmittelbarkeit und Aufhebung des Einzelnen in das Allgemeine, des Endlichen in das Unendliche. Daher kann er von einer »Idee des Lebens« (LII; 469) sprechen. Und Plessner sagt ausdrücklich: »Jede Zeit findet ihr erlösendes Wort. Die Terminologie des achtzehnten Jahrhunderts kulminiert in dem Begriff der Vernunft, die des neunzehnten im Begriff der Entwicklung, die gegenwärtige im Begriff des Lebens.« (Stu, 37) Hier werden dann aber auch zugleich die Differenzen deutlich: Während bei Hegel der Geist sich als tragender Grund des Lebens darstellt, und das »Leben« selbst damit als eine der Entwicklungsstufen des absoluten Geistes aufzufassen ist, hat Plessner demgegenüber seine Anthropologie in einer »Metaphysik des Lebens« 10 fundiert, in der das Leben gegenüber dem Geiste als das Fundierende aufzufassen ist. Während somit bei Plessner die Stufung des Lebendigen in diesem Denken in der Natur ihren Ausgang nimmt, lässt sich Hegel in der Naturphilosophie von der Hypothese leiten, dass Lebewesen nicht nur über eine Struktur oder Organisationsform verfügen, die sich begrifflich erfassen lässt, sondern das endliche Organismen darüber hinaus einen allgemeinen »Begriff« verkörpern, der als schöpferisches Prinzip zugleich den tragenden Grund ihrer Existenz darstellt. Die Stufung der Natur von niedrigeren zu höheren Formen ist von hier aus in Hegels Augen als Ausdruck eines reinen Denkprozesses aufzufassen, nämlich in dem Sinne, dass jedwede Stufe der Natur in einer spezifischen Wahrheit sich gründet und als solche ein bestimmtes Entwicklungsstadium des zu-sich-selbst-kommenden, aus seiner Entäußerung zurückkehrenden Weltgeistes verkörpert. Die Stufen des Lebens, die sich hier in seiner Entwicklung zeigen, sind damit als Stufen einer Wahrheit und zugleich als einzelne Schritte auf dem Wege ihres Beleges und Beweises aufgefasst: »Die tierische Natur ist die Wahrheit der vegetabilischen, diese der mineralogischen, die Erde ist die Wahrheit des Sonnensystems.« (9, 32) Darüber darf man allerdings nicht vergessen, dass die Natur als solche aus Hegels Sicht nicht dazu in der Lage ist, den absoluten Geist zu offenbaren. Hegel steht zur Natur in eigenartigem, gespaltenen Verhältnis, das keineswegs frei von Widersprüchen ist. Denn einerseits identifiVgl. zu diesem Begriff einer »Metaphysik des Lebens«: Plessner, Helmuth, Elemente der Metaphysik, Berlin, 2002, S. 85 ff.

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ziert er immer wieder das Lebendige bzw. den Organismus mit dem Begriff. So heißt es an prominenter Stelle in der Enzyklopädie: »In der Natur ist es das organische Leben, welches der Stufe des Begriffs entspricht.« (8, 309) Aber andererseits wird Hegel nicht müde zu betonen, dass die Natur die göttliche Idee in der Form ihres »Andersseins« und daher der »sich entfremdete Geist« (9, 25) sei. Die Natur sei daher nur an sich in der Idee göttlich, »aber so wie sie ist, entspricht ihr Sein ihrem Begriffe nicht; sie ist vielmehr der unaufgelöste Widerspruch« (9, 28). Denn es sei die Ohnmacht der Natur, die »Begriffsbestimmungen nur abstrakt zu erhalten« (9, 34): In ihr herrsche daher allenthalben Zufälligkeit, Willkür, und Ordnungslosigkeit. Dem italienischen Philosophen Vanini (1585–1619), der durch die Inquisition hingerichtet wurde, da er behauptet hatte, dass schon ein einzelner Strohhalm hinreiche, um das Sein Gottes zu erkennen, hält Hegel von hier aus entgegen, dass »jede Vorstellung des Geistes, die schlechteste seiner Einbildungen, das Spiel seiner zufälligen Launen, jedes Wort ein vortrefflicherer Erkenntnisgrund für Gottes Sein« sei »als irgendein Naturgegenstand««. Denn »das Höchste, wozu es die Natur in ihrem Dasein treibt, ist das Leben; aber als nur äußerliche Idee ist dieses der Unvernunft, der Äußerlichkeit hingegeben […]« (9, 28). Offenbar wird man in Bezug auf diese Schwierigkeiten in Hegels Umgang mit der Natur Annette Sell Recht gegen müssen, wenn sie sagt, dass Hegel sich zwar »am Modell des natürlich Lebendigen für die Konzeption seiner Gedankenbestimmungen« orientiere, aber diese Orientierung sich »auf die dialektische Bewegung des Begriffs, der letztendlich ein Begriff der Subjektivität bleibt« 11, bezieht. Diese Subjektivität ist aber keine endliche Subjektivität, sondern mit dem Begriff des »Absoluten« konnotiert: Der Geist als die unendliche Idee, als das »absolute Wissen«, das im Wissen noch um sich selber weiß (LII, 469). Das Absolute bzw. Gott kann aber nicht mehr als Organismus gedacht werden. In Plessners lebensphilosophisch fundierter Anthropologie hingegen sind die einzelnen Stufen des Lebens Stufen des Lebensprozesses selbst. Das gilt auch für das Bewusstsein: »Bewusstsein ist nur die Grundform und Grundbedingung eines Lebewesens in Selbststellung zur Umgebung«. (Stu, 112) Damit ist allerdings nicht gesagt, dass der Geist in Plessners System keinen Platz hätte bzw. dass man in PlessSell, Annette, Der lebendige Begriff. Leben und Logik bei G. W. F. Hegel, Freiburg/ München 2013, S. 18.

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ners Stufen mit einem Biologismus oder Irrationalismus konfrontiert wäre. Im Gegenteil: Plessners Metaphysik des Lebens – wie die Anthropologie in Deutschland zu Beginn der 20. Jahrhunderts überhaupt 12 – gehört mit Denkentwürfen wie z. B. Whiteheads »process philosophy« oder Ortega y Gassets »Philosophie der lebendigen Vernunft« (»razon vital«) zu jenen Strömungen der europäischen Lebensphilosophie, die im bewusst gesuchten Gegensatz zu etwa Spengler, Klages und insbesondere Bergson auf eine Versöhnung von Vernunft und Leben abzielen; die – wie Joachim Fischer sagt – versuchen, »Geist im Leben aufzubauen« 13. Gerade bei Plessner tritt so die Sphäre des Geistes nicht in Gegensatz zu der des Lebens, sondern stellt aus seiner Sicht die höchste Erscheinungsweise des Lebens, ja höchste Form von Lebendigkeit selbst dar: nämlich jene Form, »in der Ich und Du wahrhaft zur Einheit des Lebens verknüpft sind und einer dem anderen ins aufgedeckte Antlitz blicken kann« (Stu, 382). Die Wirklichkeit als Einheit – hier ist sich Plessner mit Hegel wiederum einig – hat nur in der Dimension des Geistes Realität. Zugleich lässt aber Plessner keinen Zweifel daran: »Leben besteht zwar nicht im Wissen von sich, es vollendet sich nur in ihm.« (Stu, 59) Volker Gerhardt spricht in Bezug auf die Gesamtkonzeption von Plessners Stufen somit von einer »rationalen Wende zum Leben« 14. Eine solche Wende wird im Sinne eines Umdenkens nur sinnfällig, insofern sich die Philosophie nach Hegel als letztem großen Exponent des deutschen Idealismus als fortschreitende Destruktion des Idealismus und der grundlegenden Geltungsansprüche der Vernunft darstellt. Wenn Klages den Geist mit einem metaphysischen Parasiten vergleicht, der sich zwischen Leib und Seele einbohrt, um sie zu zerstören, dann ist dies nur im Grunde genommen nur der ultimative Ausdruck, der letzte Ausläufer einer Krise der Vernunft, die im Gefolge von Hegel schon bei Schopenhauer einsetzt und die sowohl den Vgl. etwa auch Scheler, M., Die Stellung des Menschen im Kosmos, GW 9, S. 67: »Geist und Leben sind aufeinander hingeordnet.« 13 Fischer, Joachim, Exzentrische Positionalität. Plessners Grundkategorie der Philosophischen Anthropologie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 48, (2000), 2, S. 270. 14 Vgl. Gerhardt, Volker, Die rationale Wendung zum Leben. Helmuth Plessner: Stufen des Organischen und der Mensch, in: Kunst, Macht und Institution. Studien zur philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, hg. v. Joachim Fischer u. Hans Joas, Frankfurt/New York 2003, S. 35–40. 12

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Glauben an die Universalität und Einheit der Vernunft als auch den Glauben an die Vernunft als Endursache alles kosmischen Lebens – den Glauben an den göttlichen Ursprung der Vernunft – destruiert. Namen wie Feuerbach, Marx, Stirner, Kierkegaard, Nietzsche und Freud stehen hier bei aller Gegensätzlichkeit für einen – mit Löwith gesprochen – »revolutionären Bruch« 15 im Denken des 19. Jahrhunderts ein, der zu einem »kaskadenartigen Abbau« 16 der Geltungsansprüche der Vernunft führte und in der freudschen Lehre vom Unbewussten als eigentlichem Motor des geistigen Lebens kulminierte. Schon bei Feuerbach kommt es zu einer massiven Depotenzierung der idealistischen Vernunft, insofern er die christliche Religion auf das natürliche Wesen des Menschen reduziert; Denker wie Stirner und Kierkegaard machen die existentielle Erfahrung der Vereinzelung gegen das Aufgehobensein und Vermitteltsein des Einzelnen in der universellen Vernunft geltend; Marx deckt die Abhängigkeit der jeweiligen Gestalten des geistigen Lebens einer Nation von deren Produktionsverhältnissen (Basis und Überbau) auf; und Nietzsche relativiert die absoluten Geltungsansprüche der Vernunft dahingehend, dass nun die Vernunft – verstanden als eine Lebensfunktion – sich ihrer Dienlichkeit in Bezug Steigerung des Lebensgefühls, des Machtgefühls zu bewähren hat. Offenkundig ist dabei unter dieser Perspektive, dass die Philosophie sich durch die fortschreitende Zersetzung des Glaubens an die Universalität und Einheit der Vernunft zugleich Schritt für Schritt den Boden entzieht, auf dem sie selbst von je her tätig war und die Gegensätze des Einzelwissenschaften zu vermitteln vermochte. Besonders problematisch wirkte sich unter diesem Gesichtspunkt auch der Verlust des Glaubens an den Sinn und die Einheit der Weltgeschichte aus. War bei Hegel noch der Gang der Weltgeschichte identisch mit der Verwirklichung der abendländischen Vernunft als Verwirklichung des Wesens des Menschen schlechthin, so dass aus seiner Sicht die unterschiedlichen Gestalten des Geistes sich im Rahmen einer hierarchischen Abfolge begreifen ließen, an deren oberster StuSo Karl Löwith in seiner berühmten, von Plessner sehr geschätzten Studie Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1995. 16 Ausführlich thematisiert Joachim Fischer die philosophiegeschichtlichen Hintergründe der anthropologischen Bewegung des 20. Jahrhunderts in seiner umfangreichen Studie: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, Freiburg/München 2008. 15

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fe der europäische Geist steht, so treten bei Dilthey und der historischen Schule nun die unterschiedlichen Manifestationen des Geistes »als Objektivationen des Lebens« gleichberechtigt in ganz unsystematischer Weise nebeneinander auf. Damit wird die Frage nach dem einheitlichen Wesen des Menschen angesichts der Vielfalt seiner kulturellen Erscheinungsformen – die Frage nach dem Wesen des Menschen – selbst virulent. Dilthey konstatiert: »Der Typus Mensch zerschmilzt im Prozess der Geschichte«. (VIII, 77) 17 Das Vakuum, das sich mit der Zersplitterung des Menschen samt seiner Vernunft in Gegensätze der Weltkulturen auftut, eröffnet aber nun zugleich den denkerischen Raum, das Wesen des Menschen in seiner kulturellen Vielfältigkeit ausgehend von der Einheit der Natur (d. h. des Lebensprozesses) zu denken. Unter einem anthropologischen Gesichtspunkt braucht, so Plessner, dann aber eine Theorie der Geisteswissenschaften eine Naturphilosophie, d. h. eine »nicht empirisch restringierte Betrachtung der körperlichen Welt, aus der sich die geistig-menschliche Welt nun einmal aufbaut, von der sie abhängt, mit der sie arbeitet, auf die sie zurückwirkt«. Was erforderlich ist für die »Durchführung der Anthropologie« ist eine »Philosophie des lebendigen Daseins« (Stu, 76). Obwohl sich aber nun der Fundierungszusammenhang von Leben und Geist, Geist und Leben bei Hegel und Plessner in diametral umgekehrter Form darstellt, ist von hier aus betrachtet beiden Denkern doch gemeinsam, dass sie die Stufung der Erscheinungen des Lebendigen als notwendige Voraussetzung für die Existenz vernunftbegabter Subjektivität betrachten. In der Tat kommen so Hegel und Plessner – wie schon bemerkt – darin überein, dass die Abfolge der ideellen Stufung der Natur, die zum Menschen hin führt, einer inneren Logik unterliegt, und dass es Aufgabe der Philosophie ist, sich über diese zu verständigen. Daher wäre es ein Irrtum zu glauben, Plessners Stufen würden ein Konkurrenzunternehmen zur modernen Evolutionstheorie darstellen. Ganz ausdrücklich betont Plessner: »Ob sich tierische Formen aus pflanzlichen oder menschliche aus tierischen entwickelt haben, muss der Phylogenetiker entscheiden, nicht der Philosoph. Aber was ein solcher Stufengang – sukzessiv oder nicht – logisch besagt, ist eine philosophische Frage.« (10, 325) Die Stufen sollen daher nicht im Sinne einer »Abbreviatur der EvoluAusdrücklich konstatiert auch Plessner: Mit Dilthey beginnt »die neue Anthropologie« (V, 165).

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tionstheorie« verstanden werden, sondern als eine »Logik der lebendigen Form« (10, 327). Vor diesem Hintergrund wird einsichtig, dass es nicht primär und nicht allein die hegelsche Naturphilosophie, sondern auch die Wissenschaft der Logik ist, in der sich zahlreiche Stellen finden, die Plessner hätte zitieren können und die bedeutende Konvergenzen mit Plessners Anthropologie in inhaltlicher Hinsicht aufweist. Denn in der Naturphilosophie wird auch Hegel nicht müde zu betonen, dass die Natur zwar als ein System von Stufen zu betrachten ist, »aber nicht so, dass die eine aus der anderen natürlich erzeugt würde«. Die »Metamorphose« – wie Hegel sich ausdrückt – kommt vielmehr »nur dem Begriff als solchem zu, da dessen Veränderung allein Entwicklung ist. Der dialektische Begriff, der die Stufen fortleitet, ist das Innere derselben«. (9, 31) Die Exemplifikation des Begriffs – die in der Naturphilosophie damit vorausgesetzt ist –, erfolgt aber in der Wissenschaft der Logik, die im Übrigen in ihrem letzten Kapitel die Grundstruktur und Grundgedanken der hegelschen Naturphilosophie in der Enzyklopädie vorwegnimmt. Plessner selbst hat sich mit dem Hauptwerk Hegels ausdrücklich erst zwei Jahre nach dem Erscheinen der Stufen beschäftigt, nämlich im Sommersemester 1930, als er im Rahmen seiner Kölner Lehrtätigkeit ein Seminar mit dem Titel »Übungen zu Hegels Logik« anbot. 18 Daher ist es nicht nur glaubwürdig, dass Plessner die besagten Stellen – insbesondere zum Wesen der Grenze –, deren Zitation doch so nahegelegen hätte, bei der Abfassung der Stufen noch nicht gekannt hat. Vielmehr kann man sich umgekehrt auch sicher sein, dass er im Nachhinein um die profunden Übereinstimmungen seiner Stufen mit Elementen von Hegels Logik gewusst haben konnte. Darüber hinaus wird man aber mit Krüger die Vermutung äußern dürfen, dass der späte Plessner seine eigenen Hegelkenntnisse in den zwanziger Jahren unterschätzt hat. 19 Vgl. Universität Köln, Personal und Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1930, Köln 1930, S. 79. Eine Übersicht über die gesamte Lehrtätigkeit Plessners während seiner Kölner Zeit vom WS 1920/21 bis zu seiner Zwangsemigration im WS 1932/33 findet sich bei: Pietrowicz, Stephan, Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophisch-anthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992, S. 158 ff. 19 Krüger, Hans-Peter, Zwischen Lachen und Weinen. Band II: Der dritte Weg Philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage, Berlin 2001, S. 293. Auch geht aus dem Briefwechsel mit König hervor, dass Plessner bereits im Wintersemester 1924/25 im Rahmen seiner Lehrtätigkeit eine Übung zu Hegel – wenn auch nicht zur 18

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Was Hegels Logik und Plessners Stufen konkret miteinander verbindet, ist erstens der beide Werke prägende kosmologische Grundzug, zumindest wenn man unter Kosmologie mehr versteht als das, was der moderne Physiker heute z. T. damit verbindet, d. h. Theorien vom Big Bang, Super Strings, Wurmlöchern, Multiversen etc. Vielmehr wird man sich diesbezüglich an dem zu orientieren haben, was vornehmlich in der Antike unter Kosmologie verstanden wurde: nämlich eine vom Glauben an die Einheit der Vernunft geprägte Lehre von den grundlegenden Strukturen des Universums qua Vernunftstrukturen. So verbindet Hegels Logik und Plessners Stufen mit der kosmologischen Grundurkunde des Abendlandes, mit Platons »Timaios«, dass in allen drei Werken die Entwicklung des belebten Kosmos konnotiert ist mit dem Heraufziehen einer dialektisch verfassten Ordnungsstruktur, die ebenso kategoriale wie ontologische Gültigkeit für sich beansprucht und in der ästhetische und ethische Elemente untrennbar miteinander verwoben sind. Hegel spricht in bewusster Anlehnung an diese Tradition – für die auch Namen wie Leibniz und Spinoza einstehen und die sich in seinen Augen auf Anaxagoras zurückführt – von seiner Logik auch als von einer »Intellektualansicht des Universums« (LI, 44). Ebenso wollte Plessner seine Stufen ursprünglich mit dem Untertitel »Pflanze, Tier, Mensch – Elemente einer Kosmologie der lebendigen Form« versehen. 20 Neben diesem kosmologischen Grundzug ist zweitens hervorzuheben, dass sich Hegels Logik ebenso wie Plessners Stufen als Theorie der Subjektivität kennzeichnen lässt, in der Selbstreferentialität und deren Intensivierung und Steigerung zum entscheidenden Grundzug der Wirklichkeit wird. Hegels Logik verfolgt bekanntlich als Ganze das Programm, die neuzeitliche Philosophie der Subjektivität mit der überkommenen Metaphysik der Substanz zu versöhnen. Dass die Logik beansprucht, die »eigentliche Metaphysik« (11,7) zu sein, hindert sie dabei nicht daran, zugleich als Metaphysikkritik aufzutreten. Kritisch wendet sich Hegel dabei nicht nur gegen die überkommene Metaphysik der Substanz, sondern ebenso auch gegen die kantsche Transzendentalphilosophie, die aus seiner Sicht der MeLogik, sondern zur Phänomenologie – veranstaltete. Vgl.: Brief an Köng vom 11. 11. 1924, a. a. O., S. 62. 20 Unter diesem Titel kündigt Plessner die Stufen im Vorwort zu Grenzen der Gemeinschaft 1924 dem Leser an.

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taphysik nicht nur insofern verhaftet bleibt, als sie ein unerkennbares Ding-an-sich postuliert, das als Schranke der Vernunft fungiert, sondern auch vor allem darin, als sie das Subjekt, dessen Erkenntnisleistungen sie untersucht, schlechterdings voraussetzt. Hegel und Plessner verbindet – wenn auch je auf unterschiedliche, sogar entgegengesetzte Weise –, dass sie ohne solch eine Voraussetzung auszukommen versuchen und auch noch die Genese des denkenden und empfindenden Subjektes selbst zur Darstellung bringen wollen – ersterer aus dem absoluten Geist, letzterer aus dem Leben der Natur. In Hegels Logik stellt sich diese Genese des Subjekts dabei als rein konzeptueller, logischer Vorgang dar. Denn das Subjekt entsteht hier aus der Abfolge der »bestimmten Begriffe«, welche »die Totalität des Begriffes selbst« konstituiert, der nach Hegel nichts anderes als »das Subjekt selbst« (LI, 62) ist. Im Begriff erhalten die Denkbestimmungen damit die »konkrete Intensität des Subjekts« (LI, 123). Das Subjekt, dessen Selbstentfaltung die Logik darstellt, ist freilich nicht das endliche Subjekt, sondern das unendliche Subjekt, das »Absolute« oder, wie Hegel sagt: »Gott«. Tritt doch die Logik mit dem ungeheuren Anspruch auf, dass sie »die Darstellung Gottes, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und des endlichen Geistes ist« (LI, 44). Da aber das Absolute auch wiederum aus Hegels Sicht nur in und durch endliche Subjekte hindurch Wirklichkeit erlangt, und der Begriff Gottes hier philosophisch betrachtet für die Wirklichkeit eines in sich konkreten Allgemeinen einsteht, kann man Hegels Einsichten in den stufenweisen, logischen Aufbau subjektiven Selbstseins – der eine gemeinsame Grundstruktur alles Lebendigen postuliert – auch in Ablösung von seinem absoluten Idealismus fruchtbar machen. Dies gilt gerade in anthropologischer Hinsicht. Um es mit Düsing zu sagen: »Das seiner selbst bewusste Subjekt erkennt in den Organismen als denjenigen Weltwesen, die dem Menschen am verwandtesten sind, Vorprägungen seiner selbst. Auch wenn man den Absolutheitsanspruch dieser Metaphysik nicht aufrechterhält, können wesentliche Evidenzen dieser Lehre in einer Theorie der endlichen Subjektivität weitergeführt werden.« 21

Eben das zeigt sich in ausgezeichneter Art und Weise, wenn man Hegel in ein Verhältnis zu Plessner setzt. Bezeichnet doch auch PlessDüsing, Klaus, Naturteleologie und Metaphysik bei Kant und Hegel, in: Hegel und die Kritik der Urteilskraft, hg. v. Hans Fulda u. Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart 1990, S. 157.

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ner selbst seine eigene Konzeption der Natur, die er in den Stufen präsentiert, mehrfach als »dialektisch«: »Eine derart apriorische Theorie des Organischen hat, so scheint es, mehr Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie. Sie geht von einem Grundsachverhalt, dessen Realität sie durchaus hypothetisch behandelt, aus und gelangt Schritt für Schritt von einer Wesensbestimmung zur anderen. Die Wesensbestimmungen ergeben sich auseinander, ordnen sich in Stufen, offenbaren sich als ein großer Zusammenhang, der damit wiederum als Manifestation des Grundsachverhalts begriffen wird«. (Stu, 167)

Bedingung der Möglichkeit dieses Strukturprinzips, im Rahmen dessen aus jeder neuen Stufe ihre bestimmte Negation im Sinne ihrer Entgegensetzung hervorgeht, ist drittens die für Plessners ebenso wie für Hegels Ansatz schlechterdings konstitutive Grundannahme, dass alles Lebendige auf einen Widerspruch d. h. inneren Antagonismus sich gründet. Von besonderer Bedeutung in Bezug auf diese widersprüchliche, antagonistische Struktur des Lebendigen ist nun der Begriff der »Grenze«, der in den Hauptwerken beider Denker – in der Wissenschaft der Logik und in den Stufen – einen zentralen Stellenwert einnimmt und in Plessners Stufen sogar zu dem zentralen Begriff avanciert. Schon Kant hat – wie im Kommenden noch erwiesen werden soll – in seiner Kritik der Urteilskraft in gewisser Weise auf die grenzüberschreitende Natur des Lebens hingewiesen, insofern er hier ein Vernunftkonzept des Lebendigen (bzw. Organischen) präsentiert, das die von ihm selbst in seiner Kritik der reinen Vernunft postulierten Grenzen der Vernunft radikal transzendiert: Den Widerspruch kann Kant hier nur dadurch von seiner Gesamtkonzeption fernhalten, dass er die Idee des Lebens nur als regulative Idee gelten lässt. Hegel und Plessner knüpfen nun gleichermaßen ausdrücklich an Kants Konzeption des Organismus an und verfolgen beide von hier aus in der Logik bzw. in den Stufen ein Programm, das man mit Hans-Peter Krüger als eine »Transformation« der kantschen Urteilskraft bezeichnen könnte; ein Programm, in dem das Subjekt bzw. der lebendige Organismus in der Grenze selbst Selbstbezüglichkeit aufbaut, sich realisiert, und auf diese Weise seine Selbsthaftigkeit intensiviert. 22 Allerdings verfolgen sie dabei auch eine jeweils unterschiedliche Intention.

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Vgl. Krüger, demzufolge Plessners Stufen von 1928 »die Frage der teleologisch

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Hegel nutzt seine umfangreichen Analysen zum Wesen der Grenze und die Darstellung von deren Transformation ins Urteil im Rahmen einer Rechtfertigung seines absoluten Idealismus: Wie Wiehl betont, erscheint unter dieser Perspektive die Analyse der Grenze als »wichtigste Etappe« auf dem Wege der Entwicklung des Begriffes der Idealität. Der Begriff der Grenze fungiert dabei als »widerlegende Kategorie«. 23 Was konkret in der Analyse der Grenze widerlegt werden soll, ist die Annahme der selbstgenügsamen, wahrhaften Existenz endlicher Dinge. Denn das Grundprinzip von Hegels absolutem Idealismus besteht bekanntermaßen darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seiendes anzuerkennen. Endliche Dinge müssen demzufolge in diesem Denken als unvollkommene Verkörperungen des Unendlichen, Ideellen verstanden werden. Daher sind sie aus Hegels Sicht mit einem Widerspruch behaftet, der sie mit Notwendigkeit über sich hinaustreibt und dazu zwingt, ihre Antagonismen miteinander zu vermitteln und auszusöhnen. Eben diesen Widerspruch des Endlichen will Hegel im Rahmen seiner Analyse der Grenze aufzeigen. Erst die Transformation der Grenze ins Urteil im Rahmen der durch den Begriff entfalteten komplexen Struktur in der Begriffslogik vermag es, – wie sich zeigen wird – diesen Widerspruch aufzulösen. Die Auflösung kulminiert dabei in der Aufhebung des Gegensatzes von Realität und Idealität, in der hegelschen Konzeption der sich selbst denkenden und in diesem Denken sich vollkommen verwirklichenden Idee. Eine derartige vollkommene Versöhnung des Gegensatzes zwischen dem Realen und dem Idealen, dem Endlichen und dem Unendlichen, wird man in Plessners Kritik der Grenzen des Organischen bzw. seiner Anthropologie hingegen vergeblich suchen. Zumindest ganz schablonenhaft gesprochen könnte man sagen, dass im Vergleich zu Hegels in wesentlichen Zügen dreistufigen – weil auf Aussöhnung der Gegensätze abzielenden – Dialektik Plessners Konzeption der Stufen des Organischen im Ausgang von den Grenzfunktionen mehr zweistufigen Formen von Dialektik – wie sie etwa von Existenzphilosophen wie Kierkegaard oder Unamuno vertreten wird – näher zu stehen scheint. Denn bei ihm verhält sich zwar jede Stufe antithetisch zu der vorhergehenden, doch es gibt im Rahmen seiner reflektierten Urteilskraft durch ein Modell der Selbstorganisation des Lebendigen in Interaktion mit seiner Umwelt beantwortet«, a. a. O., S. 298. 23 Wiehl, Reiner; Platons Ontologie in Hegels Logik des Seins, in: Hegel-Studien, Bd. 3, 1965, S. 170.

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Theorie keine letzte Aussöhnung der existenziellen Gegensätze in einer allumfassenden Sinnstruktur. 24 So verbleiben bei Plessner die Gegensätze in ihrer Polarität und inhärenten Spannung in einer Art Schwebezustand, die der potentiellen Fragibilität und Instabilität alles Lebendigen Rechnung tragen soll. Gleichwohl stehen viertens auch Plessners Analysen des Wesens der Grenze im Dienste einer Konzeption, die auf eine – im weitesten Sinne – ganzheitliche Beschreibung der Wirklichkeit abzielt. Wie gesagt: Plessners Stufen präsentieren sich im Sinne einer Kosmologie der lebendigen Form als eine Metaphysik des Lebendigen. Fundamentale Bedeutung kommt in seiner Metaphysik des Lebens der Überwindung des überkommenen Gegensatzes von res cogitans und res extensa, des Physischen und des Geistigen zu. Ähnlich wie Whitehead in seiner »organical philosophy« unter dem Motto »Against the bifurcation of Nature«, versucht Plessner in seinen Stufen, in theoretischer Hinsicht eine Aufspaltung der menschlichen Lebenswirklichkeit, wie sie sich in Natur- und Geisteswissenschaften darstellt, zu verhindern. Denn Plessner sieht sehr hellsichtig schon in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts, in der die Begriffe »Gentechnik« und »Biotechnologie« noch nicht existierten, die konkreten Gefahren, die mit einer derartigen, verfehlten Spaltung des Menschen in ein Naturwesen und ein geistiges Wesen verbunden sind. Plessner zufolge lässt sich nun eine solche Verbindung des Physischen und des Psychischen allein aufweisen, wenn man sich fragt, welchen funktionalen Stellenwert Physisches und Psychisches im Prozess des Lebens des Organismus bzw. in der Dynamik des Erlebens einnehmen. Und in der Tat nimmt nun seinerseits in Plessners Konzeption einer solch funktionalen Einheit von Körper und Geist der Begriff der Grenze den zentralen Stellenwert ein. So wie Hegel in seiner Analyse der Grenze aufzeigen will, dass das Endliche in seiner Grenze intrinsisch auf das Unendliche, Ideelle bezogen ist, so will Plessner zeigen, dass zumindest im Falles des Lebendigen in seiner Grenze sich Physisches und Psychisches in einer Weise miteinander verschränken, dass deren Funktionsweise einen ausgezeichneten Ausgangspunkt für eine Betrachtung abgibt, die den vermeintlichen Gegensatz des Körperlichen Ausdrücklich betont so Plessner z. B. in Bezug auf für die Stufen fundamentale Annahme der Doppelaspektivität von Körper und Seele: »Die Einheit […] ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet«. (Stu, 365)

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und des Geistigen transzendiert. Um diese These zu untermauern, stützt sich Plessner auf die ebenso einfache, wie einleuchtende These, dass sich lebendige Körper von unbelebten Dingen dadurch unterscheiden, dass sie eine prinzipiell divergente Außen-Innen-Beziehung als gegenständliche Bestimmtheit aufweisen: Während bei toten Körpern die Grenze einfach der »Rand ist, mit dem etwas an etwas Anderes als es selbst stößt« (Stu, 151), präsentieren lebendige Körper durch ihre Grenzfunktionen hindurch ein Außen, dass sich als Äußerung eines Inneren kundtut. Das Äußere zeigt sich hier als Äußerung eines »Innen« (und umgekehrt), weil das Besondere der Grenze eines lebendigen Körpers darin besteht, ihn nicht nur »einzuschließen«, sondern auch seiner Umwelt gegenüber »aufzuschließen«, zu öffnen – was allein Metabolismus im Falle der einfacheren Lebensformen sowie Sozialverhalten und Kommunikation im Falle der höheren möglich macht. Hierin, in der Annahme, dass die Grenze das Lebendige nicht abschottet, sondern eine vermittelnde Funktion zwischen Selbst und Anderem, zwischen Organismus und Medium und damit zugleich in der Selbstwerdung des Subjektes einnimmt, liegt fünftens die entscheidende, zentrale Übereinstimmung von Plessner Konzeption des Lebendigen mit der Konzeption Hegels: Hegel und Plessner vertreten damit gleichermaßen die These, dass alles Lebendige ganz ursprünglich auf das Andere seiner selbst bezogen ist, und dass diese ihm immanente Beziehung auf das Andere – gleichgültig ob man es nun Lebenskreis, Funktionskreis, Umwelt, Mitmensch oder Mitwelt nennt – Wesen und Form des Lebendigen derart mitbestimmt, dass dieses in Abstraktion von diesen Bezügen nicht verstanden werden kann. Wie in der folgenden Untersuchung erstens herausgearbeitet werden soll, erweist sich Plessners Denken, basierend auf der Grundannahme, dass in allem Lebendigen die Grenze eine Vermittlungsfunktion zwischen Selbst und Welt, Organismus und Umwelt einnimmt, als eine Form des Philosophierens, in der entscheidende Motive des deutschen Idealismus – und hier insbesondere der hegelschen Dialektik – kreativ weiterentwickelt werden und zur spezifischen Problematik der neuzeitlichen Aufspaltung von Natur- und Geisteswissenschaften in Beziehung gesetzt werden. Anhand der Untersuchung des Begriffes des Grenze soll in diesem Sinne konkret die »tiefe philosophische Gebundenheit an den deutschen Idealismus aufgewiesen« 25 werden, die aus Sicht Fischers nicht nur für Plessner, 25

Ebd. S. 505. Zu den Hauptvertretern der philosophischen Anthropologie zählt

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Einleitung

sondern für alle führenden Anthropologen des 20. Jahrhunderts charakteristisch ist. Schließlich geht es im Folgenden aber keineswegs um bloß Historisches. »Metaphysik ist«, so Reiner Wiehl, »im Grunde nichts anderes als der nachdenkliche Umgang des Menschen mit der Natur.« 26 Noch nie war solch ein nachdenklicher Umgang und damit Naturphilosophie, d. h. die denkende Durchdringung des Mensch-Natur-Verhältnis so wichtig wie heute – im Angesicht der ökologischen Katastrophe, die an vielen Orten der Welt nicht nur heran droht, sondern schon zu Realität geworden ist. Um es mit Achim Steiner, Leiter des UNO-Umweltprogrammes zu sagen: »Wir zerstören das Leben auf dieser Erde.« 27 Plessner kann mit seiner Naturphilosophie – die von einer wechselseitigen Durchdringung von Organismus und Umwelt ausgeht – für sich beanspruchen, einen der bedeutendsten Beiträge zu einer Ökophilosophie im 20. Jahrhundert geleistet zu haben. Und wenn hier entscheidende Motive dieses Denkens zugleich im Ausgang von Hegel entwickelt werden, dann auch um herauszustellen, dass Hegel zumindest als Vordenker einer ökologischen Auffassung des Lebens gelten kann. Im Zusammenbruch der Ökosysteme und dem damit einhergehenden massiven Artensterben, im Schmelzen der Polkappen und in der Klimakatastrophe erfährt die verdinglichende Auffassung des Lebendigen, die in der cartesischen Spaltung von Natur und Geist wurzelt, heute ihre konkrete, anschauliche Wiederlegung. 28 Was aber bleibt, ist die Idee des Lebens als Idee von etwas, das es zu bewahren wert gewesen wäre; und zwar eben darum, weil das Leben seiner Wurzel nach nicht etwas endliches, sondern ein transzendentes, metaphysisches Phänomen ist. Es ist Hegels Verdienst, die Unendlichkeit und Idealität, die schon dem Leben der Natur innewohnt, in einen sinnvollen Zusammenhang mit dem Leben des Geistes gesetzt zu haben, auch wenn man seinem Naturverständnis in vielen Punkten heute sicherlich nicht mehr folgen kann. Fischer in diesem Sinne – neben Plessner: Max Scheler, Arnold Gehlen, Erich Rothacker und Adolf Portmann. 26 Wiehl, Reiner, Metaphysik und Erfahrung, Frankfurt am Main 1996, S. 199. 27 UNO-Artenschutzkonferenz, Nagoya (Japan), 2010. 28 Der »Living Planet Index« des World Wildlife Fund (WWF) konstatierte 2014, dass die Artenvielfalt auf der Erde zwischen 1970 und 2010 um 52 Prozent gesunken ist. Lateinamerika erleidet mit durchschnittlich 83 Prozent den stärksten Verlust. Die Populationen der an Land lebenden Arten verkleinerten sich um 39 Prozent, Süßwasser-Arten um 76 Prozent und Arten in den Meeren um 39 Prozent.

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1. Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

1.1. Die Grundstruktur der hegelschen Logik Hegels Wissenschaft der Logik gehört zu den komplexesten Werken der Philosophiegeschichte. Es erstaunt daher kaum, dass sie damit zugleich zu jenen labyrinthischen Theoriegebäuden gehört, das ungefähr so viele Interpretationen besitzt wie Interpreten. Nicht nur dies verbindet sie mit Kants Kritik der reinen Vernunft, als deren grundlegende Kritik, Würdigung und Weiterentwicklung die Logik auftritt. Allen möglichen Interpretationsalternativen zum Trotz wird man zumindest was diesen einen Punkt, d. h. was das Verhältnis Hegels zu Kant angeht, nicht an der Einsicht nicht vorbeikommen, dass Hegels eigenem Selbstverständnis nach seine Logik das Programm einer Aufhebung der kantschen Transzendentalen Logik durch deren Radikalisierung darstellt. Im Zentrum von Hegels Kantaneignung und Transformation steht dabei Kants Konzeption der Einheit des Selbstbewusstseins, die Kant auf den Begriff der synthetischen, ursprünglichen Einheit der Apperzeption gebracht hatte. »Diese ursprüngliche Synthesis der Apperzeption«, hebt Hegel hier Kant ausdrücklich würdigend hervor, »ist eines der tiefsten Prinzipien für die spekulative Erfahrung; sie enthält den Anfang zum wahrhaften Auffassen der Natur des Begriffs«. (LII, 206 ff.) 29 Kant hatte diese Konzeption bekanntlich insbesondere gegen Humes radikalen Empirismus eingeführt. Kritisch wendet sich Kant mit seiner Konzeption dabei vor allem gegen Humes These, dass das humane Ich bzw. die Identität einer Person gar nicht existiert (insofern ihr kein konkreter Sinneseindruck entVgl.: »Es gehört zu den tiefsten und richtigsten Einsichten, die sich in der Kritik der Vernunft finden, dass die Einheit, die das Wesen des Begriffs ausmacht, als die synthetische Einheit der Apperzeption, als Einheit des ›Ich denke‹ oder Selbstbewusstseins erkannt wird.« (LII, 254)

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spricht), sondern wir vielmehr den Begriff der Einheit unseres Selbst qua Abstraktion von miteinander assoziierten Perzeptionen gewinnen. Ausdrücklich sagt Hume in diesem Sinne: »Wenn ich aber von einigen Metaphysikern, die sich eines solchen Ich zu erfreuen meinen, absehe, so kann ich wagen, von allen übrigen Menschen zu behaupten, dass sie nichts sind als ein Bündel (bundle) oder ein Zusammen (collection) verschiedener Perzeptionen, die einander mit unbegreiflicher Geschwindigkeit folgen und beständig in Fluss und Bewegung sind.« 30

Der Geist sei – so Hume in einer berühmten Metapher – nur »ein Theater, auf dem verschiedene Perzeptionen nacheinander auftreten, kommen und gehen«. 31 Kant macht gegen diese emphatische Unterdrückung von Allgemeinheit – die auch eine Metaphysik der Sitten unmöglich machen würde – zu Recht geltend, dass das Ich oder die Einheit des Selbstbewusstsein immer schon als ideelle Basis eine solchen Abstraktionsprozesses vorausgesetzt ist. Die humesche Interpretation der Genese des Ich aus der Vielheit ist daher schon darum aus seiner Sicht grundlegend falsch, als dass Hume die Einheit des Ich als Verbindung der Perzeptionen quasi empirisch auffasst. Der empirische Charakter der humeschen Ich-Auffassung tritt aus Kants Sicht darin zu Tage, dass Hume vergisst, dass es sich beim Denken, Fühlen, Anschauen etc. um Aktivitäten des Geistes bzw. denkenden Subjektes handelt: »Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht durch Wahrnehmung entlehnt werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist als das Vermögen, a priori zu verbinden«. (B 135, 136) Wie in der Theatermetapher des Ich als Einheit der Perzeption deutlich wird, denkt Hume hingegen die Bündelung oder Verbindung der Perzeptionen im Ich rein passiv, d. h. in einer Weise, dass die Aktivität des Verbindens oder Bündels gar nicht erst in den Blick kommt. Eben diese synthetische Aktivität des Selbstbewusstseins – die Kant auch »reine Apperzeption« nennt – stellt Kant und im Ausgang von ihm auch Hegel ins Zentrum seiner Betrachtung: Ein wirkliche Einheit in der Mannigfaltigkeit der Vorstellung kann nur dort aufgewiesen werden, wo im Verbundenen das Ich bzw. das Subjekt als das Verbindende mit sich selbst identifiziert ist. Damit ist aber die Selbstidentität des vorstellenden, denkenden »Ich« als eine Art unHume, David, Ein Traktat über die menschliche Natur, Buch I, Über den Verstand, Hamburg 1989, S. 327. 31 Ebd. 30

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hintergehbarer Urtatbestand immer schon vorausgesetzt. Kant spricht daher von der synthetischen Einheit der Apperzeption nicht nur von einer »reinen«, sondern auch einer »ursprünglichen« Einheit und expliziert diese wie folgt: »[N]ur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusstseins in diesem Vorstellungen selbst vorstelle, d. i. die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich.« (B 134)

Ohne diese synthetische Einheit, die eine analytische erst möglich macht, »würde ich ein so vielfarbiges, verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewusst bin« (B 134). In der ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption liegen damit Spontaneität und Rezeptivität des Erkennenden, die spontane Tätigkeit des Einigens und das Worin des Einigens untrennbar zusammen. Diese ursprüngliche Einheit rückt nun in das Zentrum der hegelschen Betrachtung. Fragte Kant nach der Einheit von Begriffen und Anschauungen im Prozess des Erkennens, so geht es Hegel jedoch jetzt um die absolute Identität von Denken und Sein. Für Hegel ist entscheidend, dass Kant das synthetische Sein des Selbstbewusstseins als Ermöglichung aller Objektivität begreift. Über Kant geht er jedoch insofern entschieden hinaus, als das, was Kant als Struktur des Erkennens postuliert, aus seiner Sicht zugleich ontologische Gültigkeit besitzt. Zwar kommt, wie Charles Taylor zu Recht betont, »die transzendentale Logik einer Ontologie sehr nahe. Die Aussage, dass gewisse begriffliche Strukturen auf die Welt anwendbar sein müssen, bedeutet, dass wir damit auch etwas über die Natur der Dinge aussagen«. 32 Aber Kant vermeidet bekanntlich diesen Schluss, indem er zwischen Dingen an sich und Phänomenen unterscheidet. Der Ausgangspunkt der hegelschen Kritik an Kant ist somit, dass, wie Hegel selbst betont, »auch die kantsche Objektivität des Denkens insofern selbst wiederum nur subjektiv ist, als nach Kant die Gedanken, obschon allgemeine und notwendige Bestimmungen, doch nur unsere Gedanken und von dem, was das Ding an sich ist, durch eine unübersteigbare Kluft unterschieden sind. Dagegen ist die wahre Objektivität des Denkens diese, dass die Gedanken nicht bloß Taylor, Charles, Hegel, aus dem Engl. übers. v. Gerhard Fehn, Frankfurt am Main 1983, S. 299.

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unsere Gedanken, sondern zugleich das Ansich der Dinge und des Gegenständlichen überhaupt sind.« (8, 116)

Hegel sieht sich zu dieser Behauptung, dass die Gedanken nicht bloß unsere Gedanken, sondern das Ansich der Dinge sind, berechtigt, da er der Auffassung ist, dass die kantsche Trennung von Erscheinung und Ding auf einem Rückfall in den Empirismus beruht, den er umso heftiger kritisiert, da Kant seiner Meinung nach an sich mit seinem Begriff der ursprünglichen bzw. reinen synthetischen Einheit diesen Empirismus schon überwunden hat. Was Hegel an Kant konkret bemängelt, ist, dass er die synthetische Einheit der Apperzeption einerseits als »ursprünglich« bezeichnet, er aber andererseits gleichwohl die sinnliche Welt als Rohstoff der Erkenntnis schlechterdings voraussetzt. 33 Es ist somit im Grunde genommen weniger die Trennung von Erscheinung und Ding-an-sich, sondern vielmehr der kantsche Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand – jener Dualismus, dem zufolge die Begriffe, mit denen wir unsere Wahrnehmung strukturieren, allein im menschlichen Verstand angesiedelt sind, und damit als bloße Formen auf einen ihnen fremden Inhalt angewiesen sind –, der im Zentrum von Hegels Kantkritik steht. 34 Denn aus Hegels Sicht schließt Kants eigene Auffassung der Struktur des Selbstbewusstseins solch eine Deutung des Erkenntnisaktes als konstruktive Leistung des erkennenden Subjektes aus. Das entscheidende Argument, dass Hegel gegen den kantschen Formalismus des Verstandes geltend macht, ist, dass das Subjekt der reinen Apperzeption in seinen Vorstellungen nur dann um sich selbst wissen – d. h. sich selbst darin als es selbst erkennen – kann, wenn es in diesen Vorstellungen unmittelbar mit sich selbst identifiziert ist. Eine solche Unmittelbarkeit aber ist Hegel zufolge nur dann gegeben, wenn es keinen Unterschied von unserem Selbst und seinem Erkennen (vgl. 3, 70) gibt. Das Sichselbst-Erkennen des erkennenden Subjektes im Erkannten ist damit aus Hegels Sicht nur dann möglich, wenn das Erkannte selbst den Charakter der Erkenntnis hat und somit das Erkennen des Erkannten Vgl. LII, 267: »An der apriorischen Synthesis des Begriffs hatte Kant ein höheres Prinzip, worin die Zweiheit in der Einheit, somit dasjenige erkannt werden konnte, was zur Wahrheit gefordert wird; aber der sinnliche Stoff, das Mannigfaltige der Anschauung war ihm zu mächtig, um davon weg zur Betrachtung des Begriffs und der Kategorien an und für sich und zu einem spekulativen Philosophieren kommen zu können.« 34 Vgl. hierzu: Pippin, Robert B., Hegel’s Idealism. The Satisfactions of Self-Consciousness, Cambridge 1989. 33

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unmittelbar zu einer Selbsterkenntnis der Erkenntnis führt. In solch einer Selbsterkenntnis der Erkenntnis lassen sich nun aber offenkundig die Form (das Ich als das Allgemeine) und der Inhalt der Erkenntnis (der einzelne Erkenntnisakt als solcher) gar nicht mehr voneinander ablösen. Kant hingegen glaubte in der Selbsterkenntnis das DassSein der Erkenntnis von deren Inhalt, dem Was-Sein, unterscheiden zu können und unterscheidet von hier aus eine transzendentale und eine empirische (sinnliche, psychologische etc.) Subjektivität. Als denkendes Wesen bin ich mir aus Kant Sicht »bewusst, nicht wie ich mir erscheine, noch wie ich an mir selbst bin, sondern nur dass ich bin« (B 158). Aus Hegels Sicht hingegen ist das erkennende Subjekt in seiner Selbsterkenntnis und seinen Gegenständen auf eine Weise mit sich vertraut und bei-sich-selbst, die eine solche Differenzierung gerade unmöglich macht. Und gesetzt den Fall, dass Kant recht hat, dass wirkliche Erkenntnis nur dort möglich ist, wo sich das erkennende Subjekt im Erkannten als das Verbindende bewusst ist, dann impliziert die Einsicht in die Untrennbarkeit des Dass-Sein und des Was-Sein der Erkenntnis in der Selbsterkenntnis zugleich, dass die gesamte sinnliche Welt als Inhalt der Vorstellung objektiv betrachtet zugleich die Form eines – sei es auch noch so rudimentär ausgeprägten – Erkenntnisprozesses hat: Die Sinnenwelt (oder das »Unmittelbare«, wie Hegel zu sagen pflegt) kann daher kein bloßes Material oder ein Rohstoff der Erkenntnis sein, sondern muss in sich selbst über eine Reflexionsstruktur, eine Art »Selbstsein« verfügen. Dieses Selbstsein, das sich im Begreifen von etwas als etwas dem Erkennenden mitteilt, ist dann aber offenkundig nichts anderes als das, was das Ding-an-sich selbst ist – damit das Ding an sich, das Kant für unerkennbar hielt. Die Radikalisierung der kantschen Transzendentalen Logik durch Hegel basiert damit auf der Auffassung Hegels, dass sich erstens innerhalb der synthetischen Einheit der Apperzeption immer wieder nur Erkenntnisse finden lassen und zweitens das Erkennen dieser Erkenntnisse im erkennenden Prozess den Charakter einer Selbsterkenntnis der Erkenntnis hat. Ersteres impliziert, dass es so etwas wie »nackte Fakten«, die als Bausteine der Erkenntnis dienen könnten bzw. eine allen Sinne entkleidete Sinnlichkeit, die derselben als Rohstoff vorausgesetzt ist, gar nicht gibt, sondern Erkenntnis nur insofern möglich ist, indem alles Erkannte den Seinssinn der Subjektivität in sich birgt; Letzteres, dass der Mensch Träger eines Geistes ist, der ihn in seiner Endlichkeit unendlich transzendiert, insofern er 35 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

aus dieser Perspektive in allem, was ihn umgibt, in gewisser Weise zugleich sich selbst gegenüber ist. Damit ist im Grunde genommen auch Hegels Auffassung, dass das innere Wesen der Wirklichkeit nichts anderes ist, als die Selbsterkenntnis des Absoluten, schon in entscheidender Hinsicht charakterisiert. Denn die Einheit des Selbstbewusstseins muss von hier aus offenkundig als eine gedacht werden, die den Gegensatz von Subjekt und Objekt, Ich und Welt übergreift: Wenn die reine Apperzeption und ihre Synthesis wirklich erst das Erscheinen des Seienden als Seiendes, des Objekts für ein Subjekt möglich macht, dann müssen sich aus der ursprünglichen Einheit der Apperzeption »das Ich als Subjekt und das Mannigfaltige als Leib und Welt erst abscheiden« (2, 307). Die ursprüngliche Identität muss daher als eine solche begriffen werden, die »nach einer Seite Subjekt überhaupt erst wird, nach der anderen aber Objekt und ursprünglich beides ist« (2, 308). Als solche ist sie Hegel zufolge adäquat nur als Vernunft, als »vernünftige Identität« aufzufassen. Dem Bewusstsein mag es daher zunächst so erscheinen, als ob sein Gegenstand als ein unmittelbarer, seiender, gegebener wäre; in der Tat ist der Gegenstand aber aus Hegels Sicht »an sich mit dem Geiste identisch« und ist »nur durch eine Selbstteilung des Geistes zu scheinbar vollkommener Unabhängigkeit« (10, 202) entlassen. Hegel geht also insofern über Kant hinaus, als dass die Identität von Denken und Sein, Realität und Begriff für ihn nicht nur von epistemischer Relevanz ist, sondern eminente ontologische Bedeutung besitzt: Was wirklich ist, ist nicht nur vernünftig strukturiert und daher dem Erkennen zugänglich, sondern die Vernunft ist zugleich alle Wirklichkeit. 35 Die Doppelung der Vernunft als alle Wirklichkeit und als Erkenntnisprozess, in der sie folglich ihr eigener Gegenstand ist, veranlasst Hegel das Werden der Wirklichkeit in Natur und Geschichte als in sich gegenläufigen Prozess zu denken: Einerseits muss das Voranschreiten der Wirklichkeit zu höheren Formen und Gestalten des Selbstseins bzw. Selbstbewusstseins als Selbstexemplifikation begrifflicher Strukturen gedacht werden, wobei das Exemplifizierte in diesem Fall nichts anderes ist als die konkrete, sinnliche Welt. Diese Selbstexemplifikation ist aber zugleich nichts anderes als der fortschreitende Prozess der Selbsterkenntnis der Erkenntnis, die Hegel Selbsterkenntnis der Vernunft nennt. Diese interVgl. hierzu: Edmundts, Dina/Horstmann, Rolf-Peter, G. W. F. Hegel. Eine Einführung, Stuttgart 2002, S. 33 ff.

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pretiert Hegel zugleich als Rückkehrbewegung. Grund hierfür ist, dass aus Hegels Sicht der Geist ursprünglicher ist als die Natur, als die er sich zunächst realisiert, und das Sich-Erfassen des Geistes im absoluten Wissen in diesem Sinne ein Rückgang in den Grund darstellt, aus dem Geist und die von ihm geschaffene Natur herrührt: Die Rückkehr ist hier als Rückkehr aus der Selbstentfremdung zu interpretieren. In gleicher Weise stellt sie einen Prozess des »Erinnerns« (3, 591) im Sinne des »Insichgehens« (3, 590) dar, in dem der Geist schrittweise gewahrt, dass er alle Wirklichkeit ist – ja, dass er alle Wirklichkeit schon immer gewesen ist. Hier hat der Begriff Rückkehr auch die Funktion anzuzeigen, dass der Geist bzw. die von ihm geschaffene Wirklichkeit aus einem zeitlosen Grund emaniert. Bekanntermaßen hat Hegel nun – neben Religion und Kunst – der Philosophie im Rahmen der Weltgeschichte die denkbar höchste Stellung eingeräumt, dass sie das Medium ist, in dem sich diese Rückkehr des Weltgeistes vollendend. »Denn die wahre Gestalt, in welcher die Wahrheit existiert«, meint Hegel, »kann allein das wissenschaftliche System derselben sein« (3, 14). Wenn das innere Wesen der Wirklichkeit darin bestehen sollte, die Selbsterkenntnis des Absoluten zu sein, und das Absolute nichts anderes ist als Vernunft, dann muss sich aus Hegels Sicht die gesamte Wirklichkeit als in sich schlüssiges System begrifflicher Zusammenhänge interpretieren lassen. Die Wirklichkeit als selbst-evidente Selbstexemplifikation der Vernunft kann freilich aber unter zweierlei Gesichtspunkten ins Auge gefasst werden: 1.) Ausgehend von der konkreten Erfahrung, indem nachgewiesen wird, dass das sinnliche Einzelne – so wie es sich in Erfahrung präsentiert – nicht das ist, was in Wahrheit ist, sondern vielmehr die vernünftige Allgemeinheit, der Geist, in dem es sich gründet. Insofern das innere Wesen der Wirklichkeit Selbsterkenntnis ist, impliziert dies offenkundig eine Aufhebung des Gegensatzes von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt, die Hegel »Befreiung vom Gegensatze des Bewusstseins« (LI, 43) zu nennen pflegt. In diesem Sinne, sagt Hegel, habe er in der Phänomenologie des Geistes »das Bewusstsein in seiner Fortbewegung vom ersten unmittelbaren Gegensatz seiner und des Gegenstandes bis zum absoluten Wissen dargestellt« (LI, 42). Das absolute Wissen ist nichts anderes als »der sich in Geistgestalt wissende Geist«, oder das »sich begreifende Wissen« (3, 582). 2.) In dem Nachweis, dass das Allgemeine in sich konkret ist, und 37 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

daher aus sich selbst heraus fähig ist, die konkrete Wirklichkeit schöpferisch hervorzubringen und zu begründen. Diesen Nachweis versucht Hegel in der Wissenschaft der Logik, in der es eine deszendente Bewegung von allgemeinsten Begriffen und Strukturen, in denen sich der Geist entfaltet, hin zur konkreten Subjektivität gibt. Beide Werke hängen methodologisch aus Hegels Sicht bekanntermaßen darin zusammen, dass Hegel seine Phänomenologie des Geistes zugleich als Einführung in die Wissenschaft der Logik versteht: Indem die Logik »die Befreiung vom Gegensatze des Bewusstseins voraussetzt«, baut sie auf dem in der Phänomenologie erreichten Standpunkt auf. Während Hegel an Kant kritisiert, dass »die Gedanken, obschon allgemeine und notwendige Bestimmungen, doch nur unsere Gedanken […] sind«, enthält die Logik »den Gedanken, insofern er eben so sehr die Sache an sich selbst ist, oder die Sache an sich selbst, insofern sie ebenso sehr der reine Gedanke ist« (LI, 116). Wenn Hegel hier im Ausgang von Kant »Gedanken« als »allgemeine und notwendige Bestimmungen« definiert, dann denkt er dabei an nichts anderes als an die grundlegenden Kategorien von Kants transzendentaler Logik. Hegel kritisiert hier an Kants Auffassung dieser Kategorien wie z. B. Quantität, Qualität, Kausalität etc. weniger, dass Kant diese im Großen und Ganzen von Aristoteles übernommen hat – wenn er auch nicht umhinkommt zu bemängeln, dass es sich »die kantsche Philosophie mit der Auffindung der Kategorien sehr bequem gemacht hat« (LI, 117). Vielmehr gilt für die Kategorien insbesondere, was für die Erkenntnis im Allgemeinen gilt: Wenn die Wirklichkeit objektiv betrachtet ein Prozess der Selbsterkenntnis des Absoluten ist, dann sind auch diese Kategorien nicht nur subjektiv, sondern vielmehr als Grundstrukturen des Universums und in diesem Sinne zugleich als das innere Wesen der Dinge aufzufassen. Demgegenüber wird man zunächst einwenden können, dass es sich bei den Begriffen Quantität, Qualität, Wirklichkeit, Möglichkeit etc. zunächst einmal nur um Wörter handelt, und dass es doch möglicherweise gar keinen Zusammenhang gibt zwischen der Sprache auf der einen und den inneren Wesen der Dinge auf der anderen Seite. In der Tat verfolgt aber Hegel in Anlehnung an das Diktum des Johannesevangeliums »Am Anfang war das Wort« eine onto-poetische Auffassung der Sprache, der zufolge jedes Wort insofern Chiffre des Universums sein kann, insofern die Sprache aus seiner Sicht im Prozess der Selbsterkenntnis des Absoluten das reine Sich-Vernehmen der Idee ist: 38 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Grundstruktur der hegelschen Logik

»Die Logik stellt die Selbstbewegung der absoluten Idee nur als das ursprüngliche Wort dar, das eine Äußerung ist, aber eine solche, die als Äußeres unmittelbar wieder verschwunden ist, indem sie ist; die Idee ist also nur in dieser Selbstbestimmung, sich zu vernehmen, sie ist in dem reinen Gedanken, worin der Unterschied noch kein Anderssein, sondern sich vollkommen durchsichtig ist und bleibt.« (LII, 550)

Die Sprache ist somit das »ursprüngliche Wort«, weil sie der Selbstidentifikation des Absoluten, des Geistes entspringt oder wie man anders sagen könnte: Weil in ihr allein die Selbstidentifikation als Erkenntnisprozess Wirklichkeit hat. Insofern sich in diesem Identifikations- bzw. Erkenntnisprozess das Dass-Sein und das Was-Sein nicht voneinander trennen lassen, kommt in der Sprache somit in formaler und inhaltlicher Weise zum Ausdruck, wie das Absolute »Mit-sich-Selbst-Zusammengeht«: Was in der Sprache zum Sprechen kommt, ist die vermittelte Unmittelbarkeit des Weltgeistes, in der das Unmittelbare nur als in-sich-reflektiertes, als Gespiegeltes, ist, was es ist. Wenn man nun des Weiteren bedenkt, dass für Hegel die qua »ursprüngliches Wort« vermittelte Selbstidentifikation im Begriff kulminiert und dieser die empirische Wirklichkeit erst hervortreibt, dann wird man sagen dürfen, dass für Hegel die Sprache insofern ein Spiegel des Geistes sein kann, als sie sich gleichnishaft zur Schöpfung als Selbsterschaffung, als Autopoiesis, verhält. Insofern die Denkformen (bzw. Kategorien) nun »in der Sprache des Menschen herausgesetzt und niedergelegt sind« (LI, 20), impliziert dies allein schon auf Grund ihrer sprachlichen Verfasstheit, dass sie einen strukturellen Zusammenhang im Rahmen dieses Selbstidentifikations- bzw. Vermittlungsprozesses entfalten. Hier wird man unwillkürlich an den frühen Wittgenstein denken müssen, wenn er sagt: »Der Satz zeigt die logische Form der Wirklichkeit.« (XX, 4. 121) Die Wittgenstein-Interpreten mögen sich nun streiten, wie dieser Satz im Kontext von Wittgensteins Gesamtwerk zu deuten ist. Für Hegel gilt: Die Sprache besitzt erstens eine logische Struktur und diese Struktur ist isomorph zur Struktur der Welt. 36 Dies gilt aus Hegels Sicht insbesondere im Falle der deutschen Sprache. Ganz im Gegensatz zu Leibniz etwa, der niemals einen philosophischen So vertritt etwa Michael Theunissen die Auffassung: »Insofern ist die spekulative Logik sogar im Ganzen Theorie eines Satzes, dessen logisch-ontologischen Vorrang vor allen Bestimmungen sie erweisen will«, s. Theunissen, Michael, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt am Main 1978, S. 67.

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

Text in deutscher Sprache abfasste, da er diese für das Philosophieren als völlig ungeeignet betrachtete und daher dem Französischen und dem Lateinischen den Vorzug gab, war Hegel der Überzeugung, dass die deutsche Sprache »viele Vorzüge vor anderen modernen Sprachen« hat. (LI, 20) Wenn man aber von dieser Fixierung auf eine Sonderrolle der deutschen Sprache unter allen andern Sprachen der Welt, was ihren philosophischen Sinngehalt angeht, absieht, wird man zugestehen müssen, dass in der hegelschen Auffassung der fundamentalen Bedeutung der Sprache für das Denken ein großer Teil seiner heutigen Modernität begründet ist, insofern sich hier die Möglichkeit auftut, zwischen analytischer und kontinentaler Philosophietradition zu vermitteln. Diese Möglichkeit einer semantischen Interpretation ist in den Vereinigten Staaten insbesondere von Richard Brandom 37 verfolgt worden, und hier Deutschland mit je unter–schiedlichen Akzenten von Pirmin Stekeler-Weithofer 38 und Alexander Grau. 39 Wenn sich nun auch mit einer semantischen Interpretation des hegelschen Gedankengutes, dem zufolge es Hegel um Sinnkritik bzw. die Konstitutionsbedingungen von Bedeutung geht, ein hohes Maß an Anschlussfähigkeit des deutschen Hegeldiskurses an den der analytischen Philosophie herstellen lässt, so sollte dabei nicht übersehen werden, dass es Hegel – in Abhebung von Kant – in der Logik nicht allein um die Bedeutung von Begriffen, sondern darin zugleich um ontologische Fragstellungen geht. Das wird ganz deutlich in der Behandlung des Lebensprozesses, in dessen Interpretation die Logik kulminiert und auf dessen Deutung sie von Anfang an zustrebt. Wenn Hegel hier über die Begattung, das Verhältnis von Leib und Seele oder über die Sensibilität und die Irritabilität des Lebendigen spricht, dann geht es ihm um die Struktur des Organischen, um »die reine Idee von dem Naturleben«. (LII, 470) Hier wird dann ganz offenkundig, wie Georg Sans zu Recht betont: »Wegen seines ausdrücklichen ontologischen Interesses ist Hegels Logik mehr als eine Semantik. Es geht ihm nicht

Brandom, Robert, Making It Explicit. Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Cambridge (Mass.) 1994. 38 Stekeler-Weithofer, Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als Theorie der Bedeutung, Paderborn 1992. 39 Grau, Alexander, Ein Kreis von Kreisen. Hegels postanalytische Erkenntnistheorie, Paderborn 2001. 37

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Die Grundstruktur der hegelschen Logik

nur um die Bedeutung von Begriffen, sondern um die Verfassung der Wirklichkeit.« 40 Hegel Interesse an Sprache basiert darauf, dass in ihr aus seiner Sicht die Denkformen herausgesetzt sind, und diese Denkformen will er »nicht nur als tote, unwirksame und gleichgültige Behälter von Vorstellungen oder Gedanken« (8, 310) verstanden wissen, sondern vielmehr gilt zu erweisen, dass »von dem Wirklichen nur wahr […], was Kraft dieser Formen, durch sie und in ihnen wahr ist« (8, 310). Methodisch möchte Hegel in der Logik diesen Beweis führen, indem er hinterfragt, inwiefern die Denkformen »fähig seien, das Wahre zu erfassen« (8, 86). Hegel gibt selbst zu, dass solch eine Fragestellung dem »gewöhnlichen Bewusstsein seltsam vorkommen« muss: »Denn dieselben scheinen nur in ihrer Anwendung auf gegebene Gegenstände die Wahrheit zu erhalten, und es hätte hiernach keinen Sinn, ohne diese Anwendung nach ihrer Wahrheit zu fragen«. (8, 85) Aber in der Tat geht Hegels Fragestellung in der Logik gerade dahin, zu hinterfragen, inwiefern Gedankenbestimmungen für sich der Wahrheit entsprechen. Hegel gibt zu bedenken, dass das nur möglich ist, wenn man sich von einem spezifischen Wahrheitsverständnis leiten lässt: »Dabei muss man freilich wissen, was unter Wahrheit zu verstehen ist.« (8, 86) Gewöhnlich verstehe man unter Wahrheit die »Übereinstimmung eines Gegenstandes mit unserer Vorstellung.« (Ebd.) Im philosophischen Sinne dagegen habe man unter Wahrheit die »Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst zu verstehen« (ebd.). Mit dieser Behauptung kann Hegel auf das, was er in der Phänomenologie glaubt aufgewiesen zu haben, zurückgreifen – nämlich auf den Maßstabscharakter des Bewusstsein: Urteilen mit einem Anspruch auf Wahrheit, meint Hegel, können wir nur, da wir immer schon im Besitz eines den Gegensatz Subjekt und Objekt übergreifenden Begriffs sind. In der Logik geht es um diesen Begriff als solchen: Wenn Gegenstand der Logik die Wahrheit ist, und die Wahrheit nichts anderes ist als die Übereinstimmung von Begriff und Realität – und zwar einer Realität, die letztendlich selbst durch den Begriff gesetzt wurde – dann ist der Gegenstand der Logik offenkundig der sich begreifende Begriff als »das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen

40 Sans, Georg, Die Realisierung des Begriffs. Eine Untersuchung zu Hegels Schlusslehre, Berlin 2004, S. 19.

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

Gedankens« (LI,44). Unter dieser Perspektive betrachtet erstaunt es nicht, dass ebenso wie sich die Phänomenologie des Geistes anschickt, eine Interpretation der realen abendländischen Geschichte zu sein, sich die Wissenschaft der Logik als sich begreifendes Denken mehr oder weniger ausdrücklich als Interpretation der gesamten abendländischen Philosophiegeschichte präsentiert. Hegel interpretiert diese Philosophiegeschichte im Sinne eines Fortschritts im Bewusstsein der Freiheit so, dass alle vor ihm auftretenden Formen wahrhaften Philosophierens Versuche darstellen, das Allgemeine als in sich konkret bzw. die Substanz als Subjekt aufzufassen: Selbst solchen Auffassungen, wie der der Pythagoreer, der zufolge die Dinge in Wahrheit Zahlen sind, oder der Demokrits, demzufolge die Atome und das Leere die letzte Wirklichkeit begründen, gesteht er ein Wahrheitsmoment zu. Von allen Denkern, die in der Logik auf die eine oder andere Weise behandelt oder zumindest berührt werden (und das sind fast alle namhaften Philosophen vor ihm), wird man unter den neueren neben Kant vor allem Leibniz und Spinoza hervorzuheben haben. Von besonderer Bedeutung für das Ganze der Logik ist Spinozas Metaphysik, weil Hegel seine Konzeption der Substanz als causa sui historisch betrachtet als unmittelbare Vorstufe seiner eigenen Konzeption des Begriffs betrachtete, um die es in der Logik geht. 41 Der Zusammenhang kann wie folgt dargestellt werden: Die Logik präsentiert sich als das sich-selbst begreifende Denken. Begriffen hat man aus Hegels Sicht wiederum etwas, wenn man explizieren kann, worin es sich als solches gründet, d. h. wenn man um seine Ursachen weiß. Mit dieser Auffassung des »Begriffs« kann er sich auf Spinoza berufen, der die These vertrat: »Die Erkenntnis der Wirkung hängt von der Erkenntnis der Ursache ab und schließt dieselbe ein.« 42 Schon Spinoza versuchte von hier aus bekanntlich, indem er Gott als »immanente Kausalität« (causa immanens) deutete, eine vollkommen rationale Theorie des Universums zu entwickeln, die vom Menschen adäquat erkannt werden kann und die dennoch zugleich – wie die Logik – beanspruchen konnte, eine metaphysische Theologie zu sein. In Spinozas Ethik ist aus Hegels Sicht so ein wichtiger Schritt hin zu

Vgl.: »Im Allgemeinen ist darüber zu bemerken, dass das Denken sich auf den Standpunkt des Spinozismus gestellt haben muss; das ist der wesentliche Anfang alles Philosophierens.« (20, 165) 42 Baruch de Spinoza; Ethik, aus dem Lateinischen übers. v. Jakob Stern, Berlin 2014, S. 23. 41

42 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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einer begrifflichen Fassung des Absoluten getan, in der Gott nicht nur geglaubt, sondern als sich-selbst-transparenter Geist und darin als rationale Notwendigkeit gewusst werden kann. Umgekehrt erscheint auf Grund eines Fehlens solcher Selbsttransparenz Hegel die überkommene Religion, als deren höchste Erscheinungsweise er das Christentum begreift, noch als defiziente Erscheinungsweise des absoluten Wissens. Denn in der Religion ist – wie Hegel sich ausdrückt – der Inhalt (d. h. das Göttliche) noch ein anderer, ein Vorgestellter, der als etwa Ansich-Seiendes vom Subjekt gleichsam vor es gestellt und so zum Gegenstand der Anbetung werden kann. Er ist damit als Ansichseiender aber noch nicht eins mit dem An- und Fürsichsein des vorstellenden Subjekts. Obwohl die Religion – ebenso wie die Kunst – das Wahre zum Gegenstand hat, ist der Inhalt der Religion damit aus Hegels Sicht »seiner Gewissheit noch ungleich«. (3, 583): Im Sichbegreifenden Denken oder absoluten Wissen – das man auch als Vernunftreligion bezeichnen könnte – hingegen ist der Begriff »eigenes Tun des Selbst«, und ferner »das Wissen des Tuns des Selbst in sich als aller Wesenheit und alles Dasein« (8, 582). Der Begriff stellt folglich eine Selbstrealisationsstruktur dar, die in der Realisierung ihrer selbst um sich selbst weiß, d. h. sich als Grund ihrer selbst weiß. Der Begriff ist somit causa sui – und zwar im spinozistischen Sinne, Hegels Begriff des Begriffs transzendiert aber zugleich auch Spinoza, insofern Hegel zufolge die spinozistische Substanz nur als »Starrheit« (20, 166), d. h. nur als abstrakte Einheit bestimmt ist. Hegel lobt an Spinoza, dass er alle Wirklichkeit als Wirkung nur einer Ursache begreift, die ihrerseits Ursache ihrer selbst ist, nämlich Gott: »Diese Spinozistische Idee ist als wahrhaft begründet zuzugeben.« (20, 166) Die Substanz als causa sui – so wie Spinoza sie auffasst – ist aber insofern nur abstrakte Einheit, da die Substanz als Ursache von Spinoza nicht so konzipiert ist, dass sie in ihren Wirkungen sich selbst verursacht und darin einer Selbstbegründung zuführt. Solch eine Selbstverursachung der Substanz setzt aus Hegels Sicht eine vermittelte Rückkehr der Ursache aus der Andersheit und damit eine völlige Entäußerung Gottes an die Welt voraus – ein Gedanke, vor dem Spinoza zweifelsohne zurückgeschreckt wäre. Wenn Hegel nun danach fragt, inwiefern die Denkbestimmung für sich genommen fähig sind, eine Wahrheit zu entfalten, dann ist damit nichts anderes gemeint als die Frage, inwiefern die Kategorien fähig sind, ein in sich kohärentes System im Sinne eines Beziehungsgefüges zu bilden, dass – mit Iber gesprochen – eine selbstevidente 43 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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»Selbstbegründungsstruktur« 43 darstellt, die zugleich als tragender Grund aller endlichen Dinge interpretiert werden kann. Um es mit Plessner zu sagen: »Sobald man die erkenntnistheoretische Orientierung der Kategorienlehre als einseitig und die wirkliche Weite der kategorialen Funktionen einengend erkannt hat, tritt das – am umfassendsten bisher in Hegels Logik aufgerollte – Problem des Zusammenhanges der Kategorien als ontologisches Problem auf.« (Stu, 166)

In diesem Sinne wird man zugleich Taylor Recht geben müssen, dem zufolge in der Logik, »indem die notwendigen Beziehungen zwischen den Kategorien einer transzendentalen Logik entdeckt werden, auch die notwendige Struktur der Wirklichkeit erkennbar wird«. 44 Wenn aber Beziehungen zwischen universellen Kategorien die notwendige Struktur der konkreten Wirklichkeit widerspiegeln sollen, d. h. nicht nur formale, sondern inhaltliche Relevanz besitzen sollen, dann setzt dies offenkundig voraus, dass die Wirklichkeit in irgendeinen Sinne selbst ein Beziehungsgefüge darstellt; und zwar eines, indem die Verzahnung allgemeiner, begrifflicher Strukturen ineinander unmittelbar auch mit einer Verknüpfung in ontologischer Hinsicht konnotiert ist. Eben hier kommt nun neben Spinoza Leibniz ins Spiel. Hegel kann an den Panlogismus Leibnizens anknüpfen, der in seiner Monadologie als erster systematisch vorführte, dass Allgemeinheit als Grund der endlichen Dinge behauptet und jedes endliche Ding in diesem Sinne als Verkörperung eines allgemeinen Begriffes interpretiert werden kann: Nämlich genau dann, wenn man jedes Einzelding als Spiegel, als Konkretion des gesamten Universums auffasst. Schon bei Leibniz zeigt sich, dass, wenn man jedes Einzelding als Eins unter Vielen und als Einheit der Vielen auffasst, sich damit ein komplexer logischer Raum auftut, dessen allgemeine Strukturen unmittelbar ontologisch bedeutsam sind. Von besonderer Bedeutung ist hier für Hegel, dass die Universalität des Universums schon bei Leibniz nicht nur formale, sondern zugleich inhaltliche Bedeutung zukommt. Denn indem Leibniz eine universelle Harmonie alles Seienden lehrt, im Rahmen derer ein jedes einzelne Seiende die Iber, Christian, Übergang zum Begriff: Rekonstruktion der Überführung von Substanzialität, Kausalität und Wechselwirkung in die Verhältnisweise des Begriffes, in: Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen »Subjektiven Logik«, Paderborn 2003, S. 62. 44 A. a. O., S. 299. 43

44 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Möglichkeitsbedingungen seiner eigenen, konkreten Existenz aus dem Sein aller Anderen zieht, ist damit zum ersten Mal in der abendländischen Philosophiegeschichte die Solidarität alles Seienden zugleich als der Grund ausgesprochen, aus dem heraus das endliche Sein existiert. Auch Hegels eigene Logik stellt von hier aus betrachtet zweifelsohne eine radikale Form von Relationsontologie, eine »Metaphysik universeller Relativität« 45, dar. Um es mit Michael Theunissen zu sagen: »Die gesamte Logik gründet Hegel auf die Hypothese, dass alles, was ist, nur in der Beziehung und letztendlich nur als die Beziehung auf sein Anderes es selbst sein könne.« Die wahre Wirklichkeit, so Theunissen, ist für Hegel eine, »in der die relatio alles ist und die relata nichts für sich zurückbehalten«. 46 Hegels Logik enthält dabei zugleich eine scharfe Kritik der Grundprinzipien der leibnizschen Monadologie. Denn trotz einer konsequent durchgeführten Relationsontologie verbleiben in seinen Augen im leibnizschen Denken die metaphysischen Gegensätze des Einzelnen und des Allgemeinen, von Einheit und Vielheit, Für-sichSein und Seins-für-Andere, aber insbesondere die der Kausalität und Finalität in einer Art paradoxen Schwebezustand: Leibniz kann sein System nur durch die Einführung eines es stabilisierenden Gottes aufrechterhalten. Hegel bezeichnet die Monadologie Leibnizens daher als »vollständig entwickelten Widerspruch« (8, 350) als ein System, in dem »Gott die Gosse ist, in der alle Widersprüche zusammenlaufen« (20, 255) und schickt sich nun gerade in der Logik an diese Widersprüche aufzulösen. Aus Hegels Sicht ist das bekanntlich nur möglich, wenn man dem Widersprüchlichen bzw. Negativen selbst die Dignität eines ontologischen Faktums einräumt. Was aber ist das Widersprüchliche bzw. Negative Hegel zufolge? Das Widersprüchliche oder Negative gleichsam für sich genommen ist aus Hegels Sicht nichts anderes als die Selbstausschließung des Allgemeinen, die für ihn im bewusst gesuchten Gegensatz zu Leibniz’ harmonisierender Konzeption des Universums und seiner Geschichte sowohl eine logische Notwendigkeit als auch ein realgeschichtliches Faktum darstellt, das letztendlich für eine Weltgeschichte verantwortlich ist, in der aus Hegels Sicht »die Perioden des Glücks leere Blätter sind«. Das Negative ist metaphorisch gesprochen nichts als gleichsam der »Tod GotIber, Christian, Metaphysik absoluter Relationalität: Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin/New York 1990. 46 A. a. O., S. 30. 45

45 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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tes« 47 (von dem Hegel und nicht erst Nietzsche schon ausdrücklich spricht); ein Tod, den Hegel aber dialektisch verstanden haben will, nämlich als notwendiges Element in Selbstrealisation des Absoluten. Was Phänomenologie und Logik somit miteinander verbindet, ist, dass Hegel in beiden Werken im Sinne einer Rechtfertigung Gottes darlegen will, dass auch noch die Selbstentfremdung bzw. Entzweiung des Absoluten eine notwendige Form der Selbstbestimmung des Allgemeinen, der Idee bzw. des Göttlichen darstellt. Eben dies ist die List der Vernunft, die dort aus Hegels Sicht zum Zuge kommt, wo Einzelne, indem sie in einer von Kriegen verwüsteten Welt ihre vermeidlich eigenen Zielsetzungen verfolgen, am Ende dennoch das Allgemeine verwirklichen, oder wo in der Logik die Idee sich gerade dadurch verwirklicht, dass sie gänzlich zum Anderen ihrer selbst wird, um dann dieses Anderssein aufzuheben. Dabei nimmt zweifelsohne die Art und Weise, wie Hegel die Selbstbestimmung des Allgemeinen durch dessen eigene Selbstausschließung in der Logik darstellt, gegenüber der Phänomenologie eine viel abstraktere Form an. Die Abstraktheit dieser Form rührt daher, dass Hegel in der Logik selbst einen Zusammenhang zwischen Abstraktion und einer dialektisch als Selbstbestimmung des Absoluten gedachten Selbstausschließung auf rein begrifflicher Ebene herstellt: Hier geht es darum, darzustellen, dass die Selbstentfremdung des Absoluten, welche die Weltgeschichte prägt, als ein logisch notwendiges Moment seiner rationalen Struktur als solcher inhäriert. Es wäre dabei zu undifferenziert, wenn man von hier aus das Abstrakte der Logik mit dem Negativen der Weltgeschichte bzw. der Selbstentfremdung des Absoluten identifizieren würde. Zwar sagt Hegel in der Einführung in die Ge»Der reine Begriff aber, oder die Unendlichkeit, als Abgrund des Nichts, worin alles Sein versinkt, muss den unendlichen Schmerz, der vorher nur in der Bildung geschichtlich und als das Gefühl war, worauf die Religion der neuen Zeit beruht – das Gefühl, dass Gott selbst tot ist […] – rein als Moment, aber auch nicht mehr denn als Moment der höchsten Idee bezeichnen und so dem, was etwa auch entweder moralische Vorschrift des empirischen Wesens oder Begriff formeller Abstraktion war, eine philosophische Existenz geben und also der Philosophie die Idee der absoluten Freiheit und damit das absolute Leiden oder den spekulativen Karfreitag, der sonst historisch war, und ihn selbst in der ganzen Wahrheit und Härte seiner Gottlosigkeit wiederherstellen, aus welcher Härte allein – weil das Heitere, Unergründlichere und Einzelnere der dogmatischen Philosophien sowie der Naturreligionen verschwinden muss – die höchste Totalität in ihrem ganzen Ernst und aus ihrem tiefsten Grunde, zugleich allumfassend und in die heiterste Freiheit ihrer Gestalt auferstehen kann und muss.« (2, 432 ff.)

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46 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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schichte der Philosophie, dass die Philosophie dem Abstraktesten am feindlichsten ist und zum Konkreten zurückführt. Aber in der Rückführung ist das Negative logisch betrachtet auch noch etwas anderes, als das Abstrakte. Das Abstrakte ist vielmehr auf dem Gebiet des reinen Geistes aus Hegels Sicht das Allgemeine im Sinne eines Mediums, aus dem heraus sich das Positive und das Negative, dass Eine und sein Anderes erst herauszukristallisieren haben. Allerdings ist aus Hegels Sicht diese Unbestimmtheit des Abstrakten die Unbestimmtheit von etwas: Sie ist ein Mangel an Bestimmtheit der Vernunft durch sich selbst. Gleichwohl also Abstraktion nicht identisch ist mit dem Negativem, das der Wirklichkeit innewohnt, sondern vielmehr das Positive und das Negative gleichsam übergreift, so ist sie dennoch negativ konnotiert, indem sie den Blick auf die Wirklichkeit der Vernunft in ihrer Anonymität gleichsam verschleiert. Die hegelsche Logik schickt sich nun an diesem Schleier der Maya aufzuheben, indem sie aufzuzeigen trachtet, dass auch noch den allgemeinsten Begriffen unseres Denken eine Beziehung zur Bestimmung der Vernunft durch sich selbst und damit in eins zur inneren Architektonik des Universums innewohnt: Als das »reine sich entwickelnde Selbstbewusstsein« (LI, 43) will Hegel die Denkbestimmungen, die seiner Meinung nach im herkömmlichen Sprechen »ungegenständlich, unbeobachtet« bleiben, so dass sie »unseren Geist instinktartig und bewusstlos durchziehen« (LI, 30), aus ihrer Bewusstlosigkeit befreien. Ist es doch in seinen Augen das »Geschäft der Philosophie« gegen den Verstand zu zeigen, »dass das Wahre, die Idee, nicht in leeren Allgemeinheiten besteht, sondern in einem Allgemeinen, das in sich selbst das Besondere, das Bestimmte ist.« (18, 43). Dieses logische Geschäft, das Allgemeine als in sich konkret zu erweisen, vollzieht sich nun in der Logik bekanntlich in einer Weise, dass Hegel in ihr vom allgemeinsten Begriff des Denkens – nämlich dem des »Seins« – gleichsam herabsteigt, um beim Leben, der Subjektivität, sogar bei der »Persönlichkeit« (LII, 570) anzugelangen. Und da Hegel der Überzeugung ist, dass allen unseren Begriffen eine intrinsische Beziehung auf die Selbstbestimmung des Absoluten innewohnt, ist es im Grunde genommen gar nicht er (als Theoretiker), sondern der Geist als der gedanklichen Materie innewohnender Logos, der diesen Abstieg vornimmt: »Die Logik ist die metaphysische Theologie, welche die Evolution der Idee Gottes in dem Äther des reinen Gedankens betrachtet, so sie eigentlich derselben, die an und 47 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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für sich schlechthin selbständig ist, nur zusieht.« (17, 419) Wie aber geht die Evolution der Idee und die Entwicklung vom Abstrakten zum Konkreten im »Äther des reinen Gedankens« genau vonstatten? Ist es nicht ein Widersinn zu sagen, dass das Allgemeine das Besondere ist und das Besondere allgemein? In der Tat spitzt Hegel bekanntlich das widersprüchliche Verhältnis des Einzelnen und des Allgemeinen bekanntlich zu der Behauptung zu, dass »die Identität an ihr selbst absolute Nicht-Identität ist« (LII, 41), aber ferner auch »die Bestimmung der Identität dagegen ist« (ebd.). Somit darf beim Widerspruch nicht stehen geblieben werden, sondern es gilt vielmehr eine Auffassung von Identität zu entwickeln, die den Gegensatz von Identität und Unterschied zugleich übergreift. Aus seiner Auffassung, dass Identität an ihr selbst absolute Nichtidentität ist, die als Grundlage seiner dialektischen Logik gelten kann, leitet Hegel ab, dass erstens alle abstrakten Allgemeinbegriffe in sich widersprüchlich verfasst und damit die Beziehung auf ihr Entgegengesetztes in sich enthalten, und dass zweitens die fortschreitende Auflösung dieser Widersprüche zu dem Begriff eines in sich konkreten Allgemeinen führt, insofern die Beziehung auf das Einzelne dem Allgemeinen unmittelbar inhäriert. Wesentlich hieran ist, dass aus Hegels Sicht das in-sich-konkrete Allgemeine nicht aus dem Abstrakten hervorgeht, sondern vielmehr die Wahrheit, dass das Allgemeine in-sich konkret ist, immer schon zugleich als Wahrheit vorgesetzt ist. Diese Voraussetzung allein macht es möglich, dass die Logik ihren Begriff im Rahmen einer Kritik der Abstraktionen entwickelt. Diese Kritik besteht hier eben darin, aufzuzeigen, dass jeder Begriff – für sich genommen – solange als fehlgeleitete Abstraktion begriffen werden muss, solange er die Beziehung auf sein Entgegengesetztes in sich als aufgelösten Widerspruch enthält; umgekehrt führt folglich die Auflösung der Widersprüche zu einem reicheren Begriff oder einem Mehr an Bestimmtheit, insofern der abstrakteste Begriff zumal der Widersprüchlichste ist. Hegel fasst von hier aus die methodologischen Voraussetzungen seines System wie folgt zusammen: »Das Einzige, um den wissenschaftlichen Fortgang zu gewinnen – um dessen ganz einfache Einsicht sich wesentlich zu bemühen ist – ist die Erkenntnis des logischen Satzes, dass das Negative ebenso sehr positiv ist oder dass das sich Widersprechende sich nicht in Null, in das abstrakte Nichts auflöst, sondern wesentlich nur Negation seines besonderen Inhalts […] ist. Indem das Resultierende, die Negation, bestimmte Negation ist, hat sie einen Inhalt. Sie ist ein neuer Begriff, aber der höhere, reichere Begriff als der vor-

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hergehende; denn sie ist um dessen Negation oder Entgegengesetztes reicher geworden, enthält also ihn, und ist die Einheit seiner und seines Entgegengesetzten.« (LI, 49)

Obwohl nun der reichste und zugleich konkreteste Begriff der Logik – nämlich der Idee als Einheit von Begriff und Realität – sich aus der Auflösung aller vorangegangen Widersprüche ergibt, die sich im Laufe des wissenschaftlichen Fortgangs der Logik ergeben, so ist das Resultat der Logik jedoch nicht so zu denken, als ob es am Ende des logischen Fortgangs über einen Inhalt verfügen würde, der widerspruchsfrei gegeben wäre. Das wäre aus Hegels Sicht ein Rückfall in die Starrheit der spinozistischen Substanz. Als eine – wie es Iber formuliert – durch den »Selbstwiderspruch ihrer Negation mit sich vermittelte Selbstbegründungsstruktur« 48 muss die Idee vielmehr als unendliche »Selbstbewegung« (LII, 550) und als unendlicher »Prozess« (LII, 467) der Auflösung ihrer inneren Gegensätze gedacht werden: »Die Idee hat um der Freiheit willen, die der Begriff in ihr erreicht, auch den härtesten Gegensatz in sich; ihre Ruhe besteht in der Sicherheit und Gewissheit, womit sie ihn ewig erzeugt und ewig überwindet und in ihm mit sich selbst zusammengeht.« (LII, 468) Die Idee ist folglich der pulsatorische Prozess, in dem ein Anderes gesetzt wird, in dem sie die Einheit mit sich selbst wiedererlangt. Als einen solchen Prozess begreift Hegel nun aber das Leben, insofern das Lebendige sich eine zugleich ihm äußerliche Welt voraussetzt, die es assimilieren und in der es sich unendlich zu verobjektivieren hat. Was die Logik am Ende entfaltet, ist daher die »Idee des Lebens«. Denn das Leben ist aus Hegels Sicht nichts anderes als der Begriff, als die Seele, als »das anfangende, sich selbst bewegende Prinzip« (LII, 475). Eben weil diese Logik streng genommen beansprucht, zu leben, weil es innerhalb ihrer sogar ein »logisches Leben« geben soll (LII, 470, 472), allein darum kann Hegel behaupten, dass er mit seiner dialektischen Logik den Formalismus der überkommenen Logik überwindet, die er immer wieder als »totes Gebein«, dass es eben zu »beleben« gelte, bezeichnet hat. (LI, 48) Sollte hingegen umgekehrt »die Logik freilich nichts als leere, tote Gedankenformen enthalten, so könnte von keinem solchen Inhalte, wie der Idee oder das Leben ist, die Rede sein.« (LII, 469) Freilich ist das Leben, das die Logik entfaltet, nicht das Leben der Natur, sondern das »Leben des Geistes« (LII, 471). Aus-

48

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drücklich aber stellt Hegel »das natürliche Leben« (LII, 471) als eine notwendige Voraussetzung des »Lebens des Geistes« dar. 49 Wie schon bemerkt: Erkenntnis als Selbsterkenntnis ist zwar aus Hegels Sicht nur da möglich, wo es überhaupt einen Unterschied des Erkennenden vom Erkannten, von Subjekt und Objekt gibt. Dieser Unterschied muss aber aus Hegels Sicht als Selbstdifferenzierung im Rahmen einer Subjekt und Objekt, Begriff und Realität immer schon übergreifenden Einheit (Identität) gedacht werden. Denn nur, wo es eine solch übergreifende Einheit gibt, ist der Erkennende im Erkannten in seiner Unterschiedenheit zugleich unmittelbar mit sich identifiziert. Diese Einheit von Subjektivität und Objektivität, welche das Erkennen ermöglicht, ist aus Hegels Sicht das natürliche Leben, das Leben der »Gattung«, das er daher auch als »unmittelbare Idee« (LII, 470) bezeichnet. 50 Schon Marcuse stellt zu Recht heraus: »Die ontologische Bedeutung, die Voraussetzung des Erkennens ist für Hegel die Idee des Lebens, und zwar in ihrer wahren Gestalt als ›Allgemeinheit‹, Einheit von Subjektivität und Objektivität, Ich und verlebendigter Welt. Die Einheit von Ich und Welt, die vorgängige Bindung des Seienden an das Erkennende ist also keine erkenntnismäßige, gründet nicht in der zufälligen Konstitution der Erkenntnis des Menschen (oder der Erfahrung), sondern ist eine ontologische […].« 51

Die Idealität des Lebens besteht dabei aus Hegels Sicht nicht allein darin, dass es als »einigende Einheit« den Gegensatz von Subjektivität und Objektivität dynamisch übergreift, oder in der durch den Tod bewirkten Aufhebung der Unmittelbarkeit der Einzelheit (auf die wir noch zu sprechen kommen werden), sondern darüber hinaus in seiner teleologischen Verfassung, die er im ausdrücklichen Ausgang von Kant auch mit dem Begriff der inneren Zweckmäßigkeit belegt. Das Leben verwirklicht im Lebendigen die Idee, insofern es sich als eine Es ist Voraussetzung – wie sich zeigen wird – allerdings nur in einem angeleiteten, sekundären Sinne, nämlich unter der ihrerseits weitaus grundlegenderen Voraussetzung, dass die Natur an sich Geist ist, der sich entäußert hat, d. h. dass die Natur, wie Hegel sagt, die »Idee in der Form ihres Anderssein« ist (9, 24). 50 Dem natürlichen Leben in der Logik entspricht in der Philosophie des Geistes die bereits zu Beginn erwähnte »fühlende Seele«, die Gegenstand der Anthropologie in der Philosophie des Geistes ist – nur mit dem Unterschied, dass der Begriff des natürlichen Lebens hier zugleich die außermenschlichen Lebensformen, d. h. Pflanze und Tier, umgreift. 51 Marcuse, Herbert, Hegels Ontologie einer Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit, Frankfurt am Main 1932, S. 183. 49

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ursprüngliche Ganzheit konstituiert, in welcher der Zweck (als Formursache), dem Inhalt (als der Substanz) vollkommen immanent ist. Die Objektivität hat das Lebendige daher nicht unmittelbar an sich, sondern »sie ist die Realisation eines Zwecks, eine durch die Tätigkeit des Zwecks gesetzte Objektivität, welche als Gesetztsein ihr Bestehen und ihre Form nur als durchdrungen von ihrem Subjekt hat«. (LII, 467) Das Lebendige ist in diesem Sinne für Hegel nicht nur Inbegriff für eine von der Vernunft völlig durchdrungene Wirklichkeit, die als solche notwendig dynamisch verfasst – die Trieb und Selbstzweck – ist. Sondern insofern die Vernunft sich aus seiner Sicht in dieser Welt unendlich selbst bezweckt, die Welt als Ganze somit als Verwirklichung eines Zwecks (der Idee) zu betrachten ist (vgl. 8, 387), ist die Vernunft – Gott – selbst lebendig: Es ist das Leben der Vernunft, dass aus Hegels Sicht die Sphäre der Objektivität begründet. 52 Da nun Hegel davon ausgeht, dass die Vernunft alle Wirklichkeit ist, erstaunt es kaum, das sein Verständnis von dem, was vernünftigerweise als ein Objekt gelten kann, von der Struktur des Lebendigen geleitet ist: Wie Rolf-Peter Horstmann herausgestellt hat, vertritt Hegel – wie bereits bemerkt – ein organologisches Konzept dessen, was vernünftigerweise als Objekt der Erkenntnis zu gelten hat. Wie Horstmann und auch Annette Sell 53 aufzeigten, hat Hegel diese seine organologische Konzeption in kritischer Auseinandersetzung mit Kants Kritik der Urteilskraft entwickelt; ein Werk, auf dessen eminente Bedeutung für Hegel und Plessner bereits hingewiesen wurde: Schon bei Kant stoßen wir nämlich auf so etwas wie eine Naturgeschichte der Freiheit; schon bei Kant stoßen wir auf den Versuch, im Sinne eines Analogieschlusses Vorformen der humanen Subjektivität in den einfacheren Formen der Natur zu verorten. Bevor wir uns daher der Analyse der Art und Weise widmen wollen, in der Hegel den logischen Begriff des Objektes (bzw. Organismus) in der Wissenschaft der Logik entwickelt, um von dort aus zu Plessners Stufenlehre überzugehen, soll daher im folgenden Kapitel kurz auf die Grundzüge von Kants Naturteleologie eingegangen werden.

So bezeichnet Hegel die an- und fürsichseinde, d. h. absolute Idee als »Einheit der Idee des Lebens und der Idee des Erkennens« (8, 388). 53 A. a. O., S. 150 ff. 52

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1.2. Organismen als Naturzwecke: Kants Begriff des Organischen in der Kritik der Urteilskraft Kant vertrat in der Kritik der Urteilskraft bekanntlich die These, dass es zwei Arten von Naturobjekten gäbe, von denen die eine Klasse – nämlich die lebenden Organismen im Gegensatz zu den toten mechanischen Objekten – aus seiner Sicht nur einer teleologischen Betrachtungsweise zugänglich sind. Hegel hat diese kantsche Unterscheidung zwischen Mechanismus und Organizismus gering geschätzt; insbesondere, insofern sie bei Kant aus seiner Sicht mit einer Unterscheidung von objektiv gültigen Erkenntnissen auf der einen Seite (nämlich auf der Seite der Mechanismen) und von nur subjektiv gültigen Erkenntnissen (auf Seite der Organismen) einherging. (Vgl. 2, 103 f.) Umso mehr würdigt er jedoch die kantsche Naturteleologie, die in der Annahme einer »inneren Zweckmäßigkeit« alles Lebendigen kulminiert und die in der Tat wohl mit zu »seinen größten, ganz und gar originellen Leistungen« 54 gehört. Kant hat seine Theorie des Lebendigen im Rahmen seiner dritten Kritik, der Kritik der Urteilskraft entfaltet, die als Ganze beansprucht, die zwei Hauptteile seines eigenen philosophischen Systems – die Kritik der theoretischen und die Kritik der praktischen Vernunft – zu einen Ganzen zu verbinden und damit sein System zu vollenden. Geht es doch Kant im Rahmen seiner Kritik der Urteilskraft darum, die – wie Kant selbstkritisch feststellt – »unübersehbare Kluft zwischen dem Gebiet des Naturbegriffes, als dem Sinnlichen und dem Gebiete des Freiheitsbegriffes, als dem Übersinnlichen« (5, 175) zu überwinden. Denn während die erscheinende Natur, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft untersucht, aus seiner Sicht der Gesetzgebung des Verstandes und hier insbesondere der a priorischen Kategorie der Kausalität unterliegt, basiert die sittlich-moralische Welt des Menschen, die Kant in der Kritik der praktischen Vernunft untersucht, auf der Wirklichkeit von sittlichen Handlungen, die der Gesetzgebung der Vernunft und damit der Freiheit des Willens entspringen. Während Kant der Überzeugung ist, dass die Naturkausalität keinerlei Einfluss auf die Selbstbestimmung des Menschen durch seinen Willen haben kann, muss im Gegensatz dazu die sinnliche Natur in ihrer Kausalität zugleich als eine gedacht werden, in der nicht nur eine mechanische Kausalität, sondern zugleich eine Kausa54

Gerhardt, Volker, Immanuel Kant – Vernunft und Leben, Stuttgart 2002, S. 304.

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Kants Begriff des Organischen in der Kritik der Urteilskraft

lität aus Freiheit denkbar ist. Denn »der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetzte aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen«; und die Natur »muss folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheit zusammenstimme« (5, 176). Um einen Auseinanderfallen der Erfahrungswelt in eine Welt der Kausalität und eine Welt der Freiheit bzw. Sittlichkeit zu verhindern und zugleich zu gewährleisten, dass die Vernunft praktisch werden kann, muss daher aus Kants Sicht die Natur in ihrer Sinnlichkeit als »empfänglich« für die Gesetzgebung der Freiheit gedacht werden. Im Rahmen von Kants transzendentaler Methode ist dieses Problem einer Vermittlung von Natur und Freiheit nicht primär ein ontologisches Problem, sondern eines der »Denkungsart nach Prinzipien« (5, 176). Den Übergang zwischen Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und Sittlichkeit leistet dabei in Kants System der Begriff der Zweckmäßigkeit, die Kant als ein transzendentales Prinzip der reflektierten Urteilskraft begreift. Anderes als im Falle der Kategorien, die Kant in der Kritik der reinen Vernunft untersucht, ist – wie schon angedeutet – aus Kants Sicht der transzendentale Begriff einer Zweckmäßigkeit der Natur für unser Erkennen allerdings ein bloß subjektiv notwendiger Gedanke der Urteilskraft, der im Gegensatz zu dem Prinzip der Naturkausalität und der damit einhergehenden mechanischen Erklärungsart der Natur zu keinerlei objektiven Erkenntnissen führt: Es handelt sich also nicht um ein Prinzip, dass der Möglichkeit einer Natur überhaupt, d. h. des Daseins ihrer Erscheinungen nach Gesetzen zugrunde liegt. Gleichwohl kommt man nicht umhin festzustellen, dass Kant gerade in seiner Theorie des Lebens es dem Interpreten zumindest sehr nahe legt, die von ihm selbst gezogenen Grenzen seiner transzendentalen Methode zu kritisieren und zu überschreiten. Schon Goethe meinte diesbezüglich nach seiner Lektüre der Kritik der Urteilskraft, ihm dünke, »der köstliche Mann verfahre schalkhaft ironisch, indem er bald das Erkenntnisvermögen aufs engste einzuschränken bemüht schien, bald über die Grenzen, die Grenzen, die er selbst gezogen hatte, mit einem Seitenwink hinausdeutete.« 55 Als »zweckmäßig« fasst nun Kant diejenige Gruppe von Phänomenen bzw. Dingen auf, die so beschaffen sind, »dass ihrer Möglichkeit eine 55

J. W. von Goethe, Werke, Hamburg 1955, Bd. XIII, S. 30.

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

Idee von denselben in unserer Urteilskraft zugrunde gelegt werden muss« (5,177). Die Idee muss dabei als Zweckursache der Beschaffenheit des Dinges aufgefasst werden. Wie sich im weiteren Fortgang der Abhandlung erweist, geht es dabei Kant insbesondere um selbstzweckhafte Gebilde, denen Kant eine absolute Zweckmäßigkeit zuspricht. Der Grund hierfür liegt darin, dass diese selbstzweckhaften Gebilde aus Kants Sicht in besonders enger Beziehung zur menschlichen Freiheit und damit zum Wesen des Menschen stehen, insofern der Mensch als Vernunftwesen aus Kants Sicht den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat und seine Zwecke von selbst bestimmen kann. Indem die Urteilskraft es vermag (Selbst-)Zweckhaftigkeit in der sinnlichen Natur vorstellig zu machen, ebnet sie damit in transzendentaler Hinsicht auch den Weg, der eine Kausalität aus Freiheit in der sinnlichen Natur denkbar macht. Unter den selbstzweckhaften Gebilden nehmen nun die Kunstwerke bzw. der Bereich des Schönen auf der einen und die lebendigen Organismen der Natur auf der anderen Seite die entscheidende Stellung ein. Kant unterscheidet diesbezüglich zwischen einer subjektiven und objektiven Zweckmäßigkeit. Dabei ist der Bereich der subjektiven Zweckmäßigkeit der ästhetischen Urteilskraft zugeordnet. Geht es doch um subjektive Zweckmäßigkeit aus Kants Sicht im Bereich der Erfahrung des Schönen, insofern Kant zufolge die Zweckmäßigkeit des Schönen darin begründet ist, dass es das Gefühl der Lust im Betrachter (d. h. im Subjekt) herzurufen vermag. Der Zweck eines Kunstobjektes liegt in diesem Sinne außerhalb seiner. Objektive (oder auch reale) Zweckmäßigkeit charakterisiert hingegen Kant zufolge den gesamten Bereich der Naturerfahrung, der als lebendig aufgefasst wird, d. h. die organische Natur. Um diese reale Zweckmäßigkeit zu charakterisieren, gebraucht Kant auch den Begriff der »inneren Zweckmäßigkeit«, insofern hier der Zweck in dem Naturding (und nicht etwa, wie im Falle des Kunstwerks, außerhalb seiner, d. h. im Künstler oder Betrachter, liegt). Ein Ding, das über innere Zweckmäßigkeit verfügt, bezeichnet Kant von hier aus auch knapp als »Naturzweck«. »Innere Zweckmäßigkeit« und »Naturzweck« sind damit die zentralen Begriffe von Kants Naturteleologie, die er im Rahmen einer Kritik der teleologischen Urteilskraft zur Darstellung bringt. Was versteht Kant nun konkret unter innerer Zweckmäßigkeit bzw. Naturzwecken? Kant schlägt zunächst folgende Definition vor: »Ein Ding existiert als Naturzweck, wenn es von sich selbst (obgleich 54 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Kants Begriff des Organischen in der Kritik der Urteilskraft

in einem zwiefachen Sinne) Ursache und Wirkung ist«. (5, 371 ff.) Entscheidendes Kennzeichen des Lebendigen als Naturzweck ist demnach zunächst die Selbstverursachung, durch die hindurch es sich selbst produziert und reproduziert. Kant erläutert dies am Beispiel der Fortpflanzung und des Wachstums: »Ein Baum erzeugt einen anderen Baum; insofern dieser aber derselben Gattung angehört, erzeugt er sich selbst der Gattung nach, in dem er einerseits als Wirkung, andererseits als Ursache, von sich selbst unaufhörlich hervorgebracht, und ebenso, sich selbst oft hervorbringend, sich, als Gattung, beständig erhält.« (5, 371)

Zweitens produziert der Baum im Wachstum auch sich selbst »vermittels eines Stoffes, der, seiner Mischung nach, sein eigenes Produkt ist« (5, 371); ein »Scheidungs-und Bildungsvermögen«, dass – wie Kant es sagt – die »Originalität« des Lebendigen charakterisiert. Drittens charakterisieren sich die gewachsenen Produkte oder – wie Kant im Folgenden sagt – »Teile« des Baumes (z. B. die Blätter) dadurch, dass in ihren Charakter als Produkte (bzw. Teile), das Ganze, dessen Produkt sie sind, zugleich reproduzieren. Die Blätter, die ein Baum hervortreibt und in diesem Sinne verursacht, erhalten und »verursachen« umgekehrt in ihren Wirkungen auch den Baum, denn Entblätterung würde ihn töten. In dieser Reflexivität, in der eine Wirkung des Ganzen ihrerseits zugleich als Ursache widergespiegelt ist, kommt nun aus Kants Sicht der entscheidende Zug der von ihm als Naturzwecke aufgefassten Wesen zum Tragen. Ein Ding kann als Naturzweck betrachtet werden, so Kant, wenn »die Teile desselben sich dadurch zur Einheit des Ganzen verbinden, dass sie einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind. Denn auf solche Weise ist es allein möglich, dass umgekehrt (wechselseitig), die Idee des Ganzen wiederum die Form und die Verbindung aller Teile bestimme«. (5, 373)

Kant macht diese seine These durch den Vergleich eines Organismus mit einem Kunstwerk plausibel. Ein Organismus kann als ein »Analogon der Kunst« betrachtet werden. Was Organismen mit Kunstwerken verbindet, ist die innere Vollkommenheit, der zufolge – sowohl im Organismus, als auch im Kunstwerk alles sinnvoll geordnet ist. Während aber ein Gebilde der Kunst von einem außenstehenden Künstler entworfen wird, sind lebendige Organismen Kant zur Folge selbst das Subjekt ihrer schöpferischen Tätigkeit und verfügen damit über selbst-bildnerische Kraft. Schon Kant gebraucht, um diese selbst55 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

schöpferische und selbst-bildnerische Kraft der Organismen einer Erklärung zuzuführen, den heute so gängigen Begriff der Selbstorganisation: ein Naturzweck muss als ein »organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen« (5, 374) aufgefasst werden können. Besonders bedeutsam für die Wirkmächtigkeit der Kritik der Urteilskraft ist der in Kants Selbstorganisationsbegriff ausgesprochene Gedanke, dass der Organismus als Subjekt (als sich selbst organisierendes) die Fähigkeit zur Selbstverobjektivierung (organisiertes) besitzt; d. h., dass der Organismus als in sich differenzierte Ganzheit gedacht werden muss, die Subjektivität und Objektivität einerseits voneinander unterscheidet und in dieser Unterschiedenheit zugleich miteinander identifiziert – denn hiermit wird nicht zuletzt das Problem der Grenze virulent. Die Fähigkeit des Organismus zur Selbstorganisation und Selbstverobjektivierung kommt nun aus Kants Sicht konkret darin zum Ausdruck, dass jeder Teil in seinen Wirkungen zugleich so zur Ursache eines anderen Teils wird, dass die Teile in der Gesamtheit der Aufeinander-Abgestimmtheit ihrer Wirkungen ein Ganzes hervorbringen, das selbst als nicht anders denn als die koordinierende (bzw. organisierende) Instanz der auf es selbst abzielenden Wirkungen gedacht werden kann. Folglich muss die Ganzheit, welche der Organismus als organisiertes Wesen objektiv verkörpert, zugleich als Telos, d. h. als das Woraufhin der auf es abzielenden Wirkungen gedacht werden. Die Selbstverursachung des Lebendigen in jedem einzelnen seiner Teile gründet sich damit Kant zufolge in einem immer schon vorausgesetzten »Begriffe der Vernunft« (5, 370), der sich als solcher in der zielgerichteten Tätigkeit, die von jedem einzelnen Glied und Teil des Organismus ausgeht, verwirklicht. »Zu einem Dinge als Naturzweck wird nun ernstlich erfordert, dass die Theile (ihrem Dasein und der Form nach) nur durch ihre Beziehung auf das Ganze möglich sind. Denn das Ding selbst ist ein Zweck, folglich unter einem Begriffe oder einer Idee befasst, die alles, was in ihm enthalten sei soll, a priori bestimmen muss.« (5, 373)

Als solche Teile, die einerseits nur durch die Wirkung aller anderen da sind, und andererseits nur um der anderen willen und des Ganzen willen existierend gedacht werden können, fasst Kant konkret die Organe eines Organismus auf, die in ihren organologischen Charakter (im ursprünglichen Sinne des Wortes, d. h. als Instrumente), aus seiner Sicht die innere Zweckmäßigkeit des Organismus exemplifizie56 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Kants Begriff des Organischen in der Kritik der Urteilskraft

ren. In direkter Anlehnung an die berühmte Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs – »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (4, 421) – schreibt Kant von hier aus: »Ein organisiertes Produkt der Natur ist das, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist.« (5, 376) Damit ist die Verbindung von Vernunft und Leben in Kants Theorie des Lebendigen endgültig hergestellt: Sowie der Mensch als »Zweck an sich selbst« im Bereich des Sittlichen durch die Autonomie seines einzelnen Willens die Wirklichkeit des Allgemeinen im Sinne einer Selbstgesetzgebung der Vernunft exemplifiziert, so exemplifiziert der einzelne Organismus im Bereich der Natur durch seine zielgerichtete Selbsttätigkeit ein allgemeines Prinzip (»Begriff der Vernunft«), das seine ihm immanente, ihn organisierende Idee als Zweck-an-sich-selbst zum Ausdruck bringt. Und sollten in einem Organismus alle Mittel auch Zwecke sein, und dies in einer Weise, dass er in seiner Selbstvermittlung als sich organisierendes Wesen seinen Begriff als Zweck-an-sich-selbst Realität verleiht, dann legt dies nahe, die Selbstorganisation des Organismus als Form einer Vermittlung des Einzelnen und des Allgemeinen zu begreifen, die nicht nur den Gegensatz von Subjektivität und Objektivität, sondern auch den von praktischer und theoretischer Vernunft transzendiert. Die Einheit des Organismus, als eine Synthesis der ihn zugleich als Organismus konstituierenden Mannigfaltigkeit, muss gedacht werden als Resultat einer zielgerichteten Tätigkeit, d. h. als ob ein Wille im Organismus wirksam wäre. Das von Kant damit entworfene Bildung einer synthetisch-organischen Ganzheit, welche der Organismus als Resultat seiner eigenen zweckgerichteten Tätigkeit objektiv verkörpert, opponiert aber nun ganz offensichtlich Kants Begriff der synthetischen Einheit der Apperzeption, der zufolge die Gegenstände, die in der erkennbaren Welt aufeinander bezogen sind (im Falle der Organismus: die Mittel, die Organe), schöpferisches Produkt des konstruktiven Wirkens des humanen Verstandes sind, welcher die kategoriale Form ins Sinnesdatum einführt. Kant sieht dieses Problem sehr genau und lässt eben darum den Begriff einer inneren Zweckmäßigkeit der Organismen auch nur unter dem Vorbehalt des »Als-ob« gelten. Um die Endlichkeit des menschlichen Verstandes noch einmal besonders herauszustreichen, stellt Kant von hier aus der Diskursivität des humanen Verstandes, welcher die durch die Sinneswerkzeuge gegebene Empi57 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

rie stets erst unter seine Begriffe zu bringen hat (damit Erkenntnis möglich ist), einen intuitiven, göttlichen Verstand gegenüber, der allein unmittelbar das Einzelne als solches, d. h. das Konkrete aus dem Synthetisch-Allgemeinen heraus, begreifen könnte (vgl. KdU, § 77) Für solch einen intuitiven oder anschauenden Verstand bestünde die Empirie nicht außerhalb der Begriffe, sondern wäre selbst durch Begriffe »gesetzt«. Offenkundig hat Hegel die Kritik der Urteilskraft (und hier insbesondere die Kritik der teleologischen Urteilskraft) nun genau in dem Sinne gelesen, nämlich dass Kant mit seinem Begriff der »inneren Zweckmäßigkeit« des Lebendigen nicht nur den Gedanken eines in sich konkreten Allgemeinen entwickelt hat, das den Gegensatz von theoretischer und praktischer Vernunft transzendiert, sondern darüber hinaus mit dem Begriff des »intuitiven Verstandes« auch noch gleichsam einen »Wink« (im Sinne Goethes) gibt, wie ein solches konkret Allgemeines zu erkennen sein könnte: Für Hegel entwirft Kant mit dem Begriff eines intuitiven, anschauenden Verstandes die wahre Vorstellung von Verhältnis von Idee und Wirklichkeit. So empfiehlt Hegel in der Enzyklopädie die Lektüre der KdU, denn, so Hegel, »die Vorstellung eines intuitiven Verstandes, innerer Zweckmäßigkeit usf. ist das Allgemeine zugleich als an ihm selbst konkret gedacht« (8, 140). Und fährt an selber Stelle fort: »Die Gegenwart […] der lebendigen Organismen und des Kunstschönen zeigt auch für den Sinn und die Anschauung schon die Wirklichkeit des Ideals. Die kantschen Reflexionen über diese Gegenstände wären daher besonders geeignet, das Bewusstsein in das Fassen und Denken der konkreten Idee einzuführen.« (Ebd.)

Aber bereits in der großen Logik hatte Hegel »eines der großen Verdienste Kants«, die Unterscheidung zwischen »äußerer und innerer Zweckmäßigkeit«, gewürdigt: Kant habe damit nicht mehr und nicht weniger als »den Begriff des Lebens, die Idee aufgeschlossen« (LII, 440). Für Hegel – und ebenso für Plessner – ist zunächst im Ausgang von Kant die innere Zweckmäßigkeit des Organischen und die darin angelegte Beziehung auf eine Idee als Konstitutionsprinzip des Organismus ein objektiver Tatbestand in der Natur. Damit ist auch die Identifikation (bzw. der Gegensatz) von Subjektivität und Objektivität (sich organisierend/organisiert), deren Herstellung Kant als eine Leistung der reflektierten Urteilskraft begreift, als ein objektiver Tat58 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Kants Begriff des Organischen in der Kritik der Urteilskraft

bestand in der Natur zu betrachten. Demgemäß liegt der Differenz, die in der denkenden Betrachtung die Möglichkeit eröffnet, sich überhaupt urteilend auf Gegenstände zu beziehen, sowohl aus Hegels wie aus Plessners Sicht ein realer Gegensatz von Subjektivität und Objektivität in der Natur zugrunde, der sich in paradigmatischer Weise an allen Lebewesen zeigt und Bedingung der Möglichkeit von deren Selbstvermittlung und Selbstidentifikation ist. Weil Hegel sich aber – von Fichte und Schelling her kommend – am Paradigma des Selbstbewusstsein orientiert, ist der Gegensatz von Subjektivität und Objektivität aus seiner Sicht adäquat einzig als vernünftige Identität auf dem Boden einer Theorie, deren Grundlage der Geist darstellt, aufzufassen. Schon in der Differenzschrift von 1801 sagt Hegel in Bezug auf die KdU, dass Kant »die Natur als Subjekt-Objekt« darstelle, »indem er das Naturprodukt als Naturzweck betrachtet, zweckmäßig ohne Zweckbegriff, notwendig ohne Mechanismus, Begriff und Sein identisch« (2, 103). Und ebenfalls schon an dieser Stelle kritisiert er von hier aus, dass bei Kant »diese Ansicht der Natur nur teleologisch, d. h. nur als Maxime unseres eingeschränkten menschlichen Verstandes gelte […]« (ebd.). Positiv streicht Hegel zwar heraus, dass die Transzendentalphilosophie »ihr Subjekt als Subjekt-Objekt setzt«, aber »diese Identität, von allen Mannigfaltigkeiten des Wissens abgesondert, als reines Selbstbewusstsein, zeigt sich als eine relative darin, dass sie aus ihrem Bedingtsein durch ein Entgegengesetztes in keiner ihrer Formen herauskommt« (ebd.). Diese Diskrepanz von Begriff und Realität, die in der kantschen Trennung von Sinnlichkeit und Verstand ihren konkreten Ausdruck finde, lässt sich aus Hegels Sicht nur spekulativ durch die Annahme auflösen, dass die Realität selbst durch den Begriff gesetzt wird, d. h. wenn die Realität objektiv als Manifestation eines Begriffes, d. h. der Idee aufgefasst wird. Hegel hat die daraus resultierende ontologische Auffassung des Begriff auf die schlagwortartige Formel gebracht: »[A]lle Dinge sind ein Urteil« (8, 318) – und von hier aus gegen Kant geltend gemacht, dass weder der »Begriff noch das Urteil bloß in unserem Kopf befindlich sind und nicht bloß von uns eingebildet werden« (ebd.). Begriff, Urteil und Schluss müssen vielmehr zugleich als Tätigkeiten verstanden werden, durch die hindurch sich alles Lebendige als der tätige Begriff durch seine urteilende Tätigkeit fortfahrend als es selbst realisiert. In diesem Sinne bezeichnet Hegel etwa in einem bekannten Beispiel den Wachstumsprozess der Pflanze – das Werden der Wurzel, der Blüte und Blüten aus dem Keim usw. – als das »Urteil der 59 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

Pflanze« (8, 318). Dieser kann aus Hegels Sicht als ein kontinuierliches Urteilen aufgefasst werden, insofern im Rahmen dieses Prozesses die Pflanze in ihrer Einzelheit ein allgemeines, ihr innewohnendes Prinzip realisiert, das nichts anderes ist als ihr Begriff. Damit verlagert Hegel die kantsche Diskrepanz von Sinnlichkeit (Einzelheit) und Verstand (als Vermögen der Begriffe) in den Gegenstand hinein: »[A]lle Dinge sind ein Urteil – d. h. sie sind Einzelne, welche eine Allgemeinheit oder innere Natur in sich sind, oder ein Allgemeines, das vereinzelt ist; die Allgemeinheit und Einzelheit unterscheidet sich in ihnen, aber ist zugleich identisch« (8, 318). Wenn sich nun Plessner in seiner Philosophie des Organischen zur Aufgabe gemacht hat, seine Philosophie nicht auf den Begriff der Vernunft, sondern den des Lebens zu gründen, dann impliziert dies nicht nur – gerade im Vergleich mit Hegel – eine Aufwertung des Stellenwerts von Leiblichkeit und Sinnlichkeit, sondern unmittelbar damit einhergehend eine Absage an das Paradigma des Selbstbewusstseins als alleinigem Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Grundsituation. Es versteht sich von selbst, dass Plessner von hier aus im Rahmen seiner Aneignung und Transformation der kantschen Urteilskraft andere Wege einzuschlagen hat als Hegel. Wie Hans-Peter Krüger herausgestellt hat, überführt Plessner »die Frage der teleologisch reflektierten Urteilskraft 1928 in sein Programm Die Stufen des Organischen und der Mensch, das die Phänomene des Lebendigem strukturfunktional aufschließt«: 56 Die zentrale Frage, die Plessner an Kant heranträgt und von der aus er versucht, Einzelnes und Allgemeines, Subjekt und Welt, Körper, Leib und Seele, was ihren pragmatischen Stellenwert im Erleben angeht, zu erschließen, lautet: »Wie ist es dem physischen Organismus möglich, ein Mittel seiner selbst zu sein, ohne damit seine teleologische Selbstgenügsamkeit aufzugeben?« (Stu, 251) Für Plessner ist diese Frage im Wesentlichen eine nach dem Ursprung der Distanz, die ein Organismus zu sich selbst aufzubauen vermag und aus der heraus er allein so etwas wie Vermittlung seiner mit sich (»Mittel seiner selbst«) sein kann und darin ein rückbezügliches Selbst aufbauen kann; eine Distanz, die – wie sich im Kommenden erweisen wird – in der »exzentrischen Positionalität«, welche die Daseinsweise des Menschen charakterisiert, ihre höchste Exemplifikation erfährt. Plessner gibt nun einerseits auf diese Frage eine Antwort, die sein eigenes Denken in direkte 56

Krüger, Hans-Peter, a. a. O., S. 280.

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Kants Begriff des Organischen in der Kritik der Urteilskraft

Nähe zu den Grundannahmen des hegelschen Systems und insbesondere Hegels Konzeption der Subjektivität bringt: Denn der Organismus muss, so Plessner, »die Unterscheidung zwischen ihm, dem Lebendigen und dem Leben physisch an ihm selbst [durchführen]«. (Stu, 252) Auch Plessner zufolge muss daher der Organismus in gewisser Weise als ein in Einzelheit (»ihm als Lebendigen«) und Allgemeinheit (Leben) »geurteiltes Ding« betrachtet werden. Und ebenso wie Hegel macht Plessner von hier aus die in Kants Modell des Organismus gleichsam nur implizit angelegte Beziehung auf Allgemeinheit (Universalität) explizit: »Ein Organismus ist Einheit nur als durch Anderes, als er selbst ist, in ihm vermittelter Körper, Glied eines Ganzen, das über ihm hinausliegt.« (Stu, 257) Eine notwendige Folge dieser Auffassung, der zufolge Selbstsein überhaupt erst in der Vermittlung mit der ihn umgebenden Welt Realität hat und die Hegel und Plessner somit beide teilen, ist nun die spezifische Auffassung der Grenze bzw. Grenzfunktionen des Organismus. Vollzieht der Organismus die Unterscheidung zwischen Einzelheit (Subjekt) und Allgemeinheit (Welt) an ihm selbst, dann ist es unmittelbar einsichtig, dass sich dies an der Form seiner Abgegrenztheit gegen seine Umwelt irgendwie zeigen muss. In der Tat gehen Hegel und Plessner nun beide – in wörtlicher Übereinstimmung – davon aus, dass der Organismus nur als ein Prozess denkbar ist, der in seinen Grenzen zugleich auch über seine Grenzen hinaus ist. Die endlichen Dinge – so Hegel – »sind« nur darin, dass sie sich über sich selbst »hinausschicken« (LI, 139), indem sie über ihre Grenze »hinausgehen« (LI, 143); »der Organismus, Mittel seines Lebens«, so Plessner, »setzt voraus das Hinaussein des Organismus als des Lebens über ihn« (Stu, 253). Während aber Hegel das unendliche Über-sich-Hinaus-gehen des Lebendigen in seiner Einzelheit für eine ontologische Notwendigkeit erachtet, die sich daraus ableitet, dass das Allgemeine, der Geist, die eigentliche und alleinige Grundlage des Wirklichen ist; die Grenze zwischen Organismus und Umwelt daher letztendlich epistemologischen Stellenwert hat, stellt der Lebensprozess in Plessners Metaphysik in positivem Sinne die Grundlage der Wirklichkeit dar: Die Vermittlung des Lebewesen mit seiner Umwelt – d. h. das Leben – dient hier nicht der Aufhebung des Lebewesens in seiner unmittelbaren Einzelheit in die Allgemeinheit des Begriffs, sondern dient der Erhaltung und Steigerung des Lebens des Lebendigen selbst. Hier tritt dann auf der anderen Seite auch die Differenz zu Hegel deutlich zu Tage: Während Plessner Hegel vorwirft, eine »Grundkonzeption 61 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

einer durchgängigen Homogenität zu entwickeln« (Stu, 208), »ein Medium der Vermittlung alles und jedes Heterogenen«, geht er hingegen davon aus, dass die Grenze des Organismus einen echten »Bruch« oder »Spaltung« der Natur zum Ausdruck bringt. Plessner würde daher unter Umständen Hegels Diktum »alles ist ein Urteil« (zumindest im Falle des Lebendigen) zustimmen. Allerdings würde er hieraus nicht den Schluss ziehen, dass das in diesem Sinne »geurteilte« Subjekt auch seinem innersten Wesen nach so etwas ist wie das begriffliche Denken, d. h. der Begriff, dem das Urteil entstammt. Daher ist in Plessners Anthropologie wohl einerseits die Subjekt-Objekt-Spaltung die Bedingung der Möglichkeit des Urteils, ohne dass man jedoch sagen könnte, dass diese Spaltung in der reinen Idealität, in der Dialektik von Begriff, Urteil und Schluss ihre Aufhebung erfährt oder auch nur erfahren könnte. Damit geht ganz offenkundig im Vergleich zu Hegel eine Aufwertung der naturhaften Grundlagen des humanen Lebens einher, die Plessners Lebensphilosophie in die Nähe zu der Diltheys bringt: Die Natur ist – wie schon bemerkt – hier nicht als entfremdeter Geist, sondern umgekehrt auch noch als Fundament der subtilsten geistigen Leistungen gedacht. Wie Krüger betont, kann man damit Plessners Philosophie als »naturphilosophische Antwort auf die Frage nach dem Ermöglichungsgrund der SubjektObjekt-Spaltung und dem Selbstbewusstsein« und damit »auf das Vermittlungsproblem der Kantschen KdU begreifen«. 57

1.3. Die qualitative Grenze Als ein Gemeinsames von Hegels und Plessners Konzeption der Grenzen bzw. der Grenzfunktionen lebendigen, subjektiven Daseins wird man seiner allgemeinsten Form nach herausstellen können, dass aus Sicht beider Denker das Lebendige in seiner Begrenztheit zugleich in einer Weise über diese Grenze hinaus ist, dass gerade dieses Hinaussein es ihm ermöglicht, in seiner Grenze Selbstbezüglichkeit im Sinne einer Vermittlung seiner mit sich aufzubauen. Bei diesem

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Krüger, a. a. O., S. 307.

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Die qualitative Grenze

wie bei jenem Denker ist darüber hinaus die Grenze dasjenige Element, wodurch das Subjekt (bzw. der Organismus) mit seinem Anderen (bzw. dem angrenzenden Medium) vermittelt ist. Während Plessner die Vermittlungsleistungen des Organismus in der Grenze als Lebensfunktionen denkt, sind wir bei der Analyse von Hegels Grenzbegriff und dessen Transformation ins Urteil in der Wissenschaft der Logik zugleich mit einem logischen Tatbestand und einer logischen Entwicklung im Medium des reinen Denkens konfrontiert; ungeachtet des Tatbestandes, dass Hegel diesem logischen Tatbestand ontologische Bedeutung zuspricht. Tatsächlich durchzieht diese logische Entwicklung im Grunde genommen die gesamte Wissenschaft der Logik, wenn Hegel auch in der subjektiven Logik den Begriff der Grenze nur noch selten explizit verwendet und stattdessen von Besonderheit bzw. Urteil spricht. Hegel hat seine Logik in drei Teile geteilt: 1.) Die Lehre vom Sein, 2.) Die Lehre vom Wesen, 3.) Die Lehre vom Begriff und der Idee. Dabei gehören der erste und der zweite Teil der sogenannten objektiven Logik an, und der dritte Teil von Begriff und Idee der subjektiven Logik. Schon diese Einteilung verrät etwas von Hegels Programm, das seit der Phänomenologie des Geistes darin besteht, die Substanz als Subjekt zu erweisen, d. h. zu erweisen, dass objektives Sein in Wahrheit notwendig die Subjektivität zur Grundlage hat. Der Übergang vom objektiven zum subjektiven Sein, der sich als solcher in der sogenannten Wesenslogik vollzieht, ist es denn auch, der in logischer Hinsicht die Dynamik der Transformation der Grenze ins Urteil bestimmt: Während in der Logik des Seins, der wir uns zunächst zuwenden werden, die Grenze (eben insofern sie noch mit Äußerlichkeit behaftet ist) ontologisch mit der dynamischen Kategorie des »Übergehens in Anderes« 58 zusammengehört, ist die Grenze im Wesen »als dem sich auf sich beziehenden« – wie Hegel ausdrücklich betont – »zugleich als Beziehung, Unterschied, Gesetztsein, Vermitteltsein«. (8, 239) In der Sphäre des Wesens ist diese Selbstbezüglichkeit jedoch nur an sich vorhanden, insofern das Wesen in seiner Selbstvermittlung und seinem Selbstvollzug sich noch nicht als das

58 »Übergehen in Anderes ist der dialektische Prozess in der Sphäre des Seins und Scheinen in Anderes in der Sphäre des Wesens. Die Bewegung des Begriffes dagegen ist Entwicklung, durch welche nur dasjenige gesetzt wird, was an sich schon vorhanden ist. In der Natur ist es das organische Leben, welches der Stufe des Begriffs entspricht.« (8, 309)

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

Subjekt dieser Vermittlung gegenständlich geworden ist. Die im Wesen schon an sich vorhandene Selbstvermittlung als An- und Fürsichseiende und damit den Begriff (der Subjektivität) als solchen zu exponieren, dies bleibt vielmehr der Logik des Begriffs vorenthalten, in der sich somit die Transformation der Grenze ins Urteil vollendet. Hegel definiert das Urteil als »die Selbstbestimmung des Lebendigen« (LII, 479). Wesentlich für Hegels Begriff des Lebens und dessen Zusammenhang mit dem der Grenze ist, dass – wie schon bemerkt – die urteilende Selbstbestimmung des Lebendigen aus Hegels Sicht kein solipsistischer Akt ist, sondern sich das Lebendige in Interaktion mit seiner Umwelt zweckgerichtet als es selbst bestimmt. Denn Hegel betrachtet das Leben als eine erste Erscheinungsweise der Idee und das einzelne Lebewesen als individuelle Verkörperung der Idee des Lebens. Die Idee charakterisiert sich ihrerseits überhaupt dadurch, dass sie sich eine Welt als ihr Anderes gegenüberstellt, um dieses Andere dann aufzuheben. Das einzelne Lebewesen ist insofern eine Verkörperung der Idee, insofern ihm »im Urteil des Begriffs« eine Welt als sein Anderes gegenübertritt, und das Lebendige nun dieses Anderssein aufzuheben, zu assimilieren hat: Denn in der Tat geht es, so Hegel, »im Anderen nur mit sich selbst zusammen« (8, 375). Im Urteil des Begriffes wird daher nicht nur ein Anderes negiert, bzw. ausgeschlossen; sondern das Subjekt ist aus Hegels Sicht auch im Anderen als Beziehung auf sich selbst (»bei-sich-selbst«) und enthält dasselbe ideell. Das Urteil ist in diesem Sinne nur die erste Negation; indem das Lebendige in seinen Anderen mit sich selbst zusammengeht, sich mit sich zusammenschließt, ist dies (als der Schluss) die Negation der Negation (vgl. LII, 482). Insofern Hegels Begriff des Urteils aus einem logischen Prozess hervorgeht, in dem das Subjekt in der Grenze schrittweise Selbstbezüglichkeit aufbaut; die Grenze somit das präfigurierte Urteil ist, dürfte es einsichtig sein, dass Hegel nun schon einen Grenzbegriff gewinnen muss, der das Subjekt von seinem Anderen nicht abschottet, sondern zugleich mit diesem Anderen und darin mit sich selbst vermittelt. Das Problem ist also, die Grenze immanent und dialektisch – als ihr Gegenteil – nämlich als Beziehung, als Verbindung und Beziehung zu denken. Aus Hegels Sicht bedeutet dies nichts anderes, als die Idealität der Grenze zu erweisen. Die Grenze verhält sich demnach zu den Dingen, die sie in ihrer Einzelheit und Partikularität voneinander unterscheidet, zugleich als ein Allgemeines, das sie in einer Weise aufeinander bezieht, dass durch 64 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die qualitative Grenze

diese Bezogenheit auf das Andere zugleich Selbstbezüglichkeit ermöglicht wird. Ausgangspunkt von Hegels Überlegungen, welche die Idealität der Grenze erweisen sollen, ist hier Spinozas berühmtes Diktum, dass alle Bestimmtheit Negation ist (»Omnis determintatio es negatio«, vgl. LII, 121; 8, 196). Endliche Dinge sind, insofern sie qualitativ bestimmt sind, aus Spinozas Sicht begrenzt, denn sie sind mit einer Negation behaftet und schließen andere endliche Dinge aus sich aus: Ein Tisch ist kein Stuhl, die Blume kein Baum. Hegel identifiziert diese Negation, die aus seiner Sicht »Grundlage aller Bestimmtheit« ist (8, 196) mit der Grenze und spricht dementsprechend von qualitativen Grenzen im Unterschied zu quantitativen Grenzen. Wenn ein Grundstück drei Morgen groß ist, so ist die Grenze Hegel zufolge eine quantitative Grenze. Aber aus einer anderen Perspektive – ist dieses Grundstück z. B. eine Wiese, die von einem Wald oder einen See begrenzt wird – ist dies seine qualitative Grenze. (Vgl. 8, 197) Worauf Hegel nun hinauswill in der Elaborierung seines Grenzbegriffes, ist, dass es nicht nur so ist, dass etwas in seiner Grenze sein Anderes ausschließt (negiert); sondern, dass etwas zugleich überhaupt erst wird, was es ist, durch die Vermittlung mit seinem Anderen in seiner Grenze. Einerseits unterscheidet also die Grenze etwas von seinem Anderen; andererseits ist aus Hegels Sicht »Etwas« aber auch selbst – ansich – als ein Anderes bestimmt und ist daher auch etwas Bestimmtes durch die Vermittlung mit seinen Anderen. Schon die Grenze als solche stellt daher bei Hegel eine »doppelte Negation« dar: Erstens negiert etwas in der Grenze sein Anderes; insofern es aber selbst als ein Anderes bestimmt ist und in seinem Anderen mit sich vermittelt ist, negiert es auch diese Negation – denn es enthält ideell sein Anderes. Die Art und Weise, in der Hegel die Negation behandelt, stellt aus Dieter Henrichs Sicht die »Grundoperation« 59 Hegels überhaupt dar, die zugleich die rationale Grundlage seines Systems als Ganzem abgibt und aus der sich die methodischen Leitformeln und Grundtermini ableiten, die Hegel gerade in der Logik entwickelt. Dieter Henrich vertritt dabei den Standpunkt, dass die Negation in der Wissenschaft der Logik von Anfang an autonomisiert und selbstreferentiell Henrich, Dieter, Hegels Grundoperation, in: Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für Werner Marx, hg. v. Ute Guzzoni/Bernhard Rang/Ludwig Siep, Hamburg 1976, S. 208–230.

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

vorkommt. 60 Wie Anton Friedrich Koch im Ausgang von Henrich dargelegt hat, sollte man aber vielleicht besser von einer Steigerung der Autonomie und Selbstreferentialität der Negation im Laufe der Wissenschaft der Logik sprechen. 61 Dies gilt insbesondere für den Übergang von der Seins- zur Wesenslogik: Während die Negation in der Seinslogik zwar selbstreferentiell, aber noch unselbständig ist, da sie noch mit unmittelbarem Sein kontaminiert (d. h. die Negation von etwas ist, das als solches noch nicht Resultat der Selbstvermittlung der Negation ist), kommt es in der Wesenslogik zu einer völlig autonomisierten absoluten Negation, in der sich die Negativität nur noch auf sich selbst bezieht. Diese Steigerung der Selbstbezüglichkeit der Negation ist – wie sich im Laufe der Abhandlung erweisen wird – überhaupt dieselbe Steigerung, in der das sich konstituierende Subjekt im Laufe der logischen Bewegung Selbstbezüglichkeit in seiner Grenze aufbaut, d. h. sich mit sich in Interaktion mit seinem Anderen vermittelt. Denn – wie bereits bemerkt – konnotiert Hegel den BeHenrich, a. a. O.: Die Selbstreferenzialität der Negation bei Hegel lässt sich aus Henrichs Sicht zumindest in Analogie zur Aussagelogik denken: »Für Hegels Negation gilt ebenso wie für die klassische Negation der Aussagelogik: (1) Die Negation negiert etwas. (2) Die Negation kann auf sich selber angewendet werden. (3) Der selbstreferentielle Gebrauch der Negation hat ein Resultat.« (S. 214) Allerdings hat diese Analogie zur Aussagelogik ihre Grenzen; und hierin kommt die Autonomisierung der Negation um Ausdruck. Denn während die negative Aussage der Aussagelogik ein gleichursprüngliches Gegenstück voraussetze, kulminiert die Negation bei Hegel in ihrer Verdoppelung in einer Figur, in der sie als einziger Term zur Grundlegung fungiert. Anders als in der Aussagelogik ist bei Hegel »Negation von vornherein in Beziehung zu sich gesetzt«. (S. 215) Letztendlich liegt daher auch nur im Falle Hegels eine echte Selbstreferenz der Negation vor. Denn im Falle der Aussagelogik »negiert die erste Negation eine Aussage, die zweite diese erste Negation. Die Verdoppelung der Negation bedeutet in diesem Falle in striktem Sinne gar nicht Selbstreferenz, sondern nur die Anwendung einer Negation zweiter Stufe auf eine Negation in der ersten. Für Hegels autonomisierte Negation gilt aber, dass sie gerade deshalb verdoppelt werden muss, weil sie auf diese Weise selbstreferentiell gemacht werden kann.« (S. 216) 61 Vgl. Koch, Anton Friedrich, Die Selbstbeziehung der Negation in Hegels Logik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 53 (1999), I, S. 2: »Zwischen einer selbstreferentiellen und einer autonomisierten (absoluten) Operation muss unterschieden werden. Für die Negation heißt dies, dass die absolute Negation zwar selbstreferentiell ist, aber nicht jede selbstreferentielle Negation ohne weiteres als absolut gelten kann. Daran möchte ich den Interpretationsvorschlag knüpfen, die selbstreferentielle Negation der Wesenslogik als absolute Negation aufzufassen und sie so gegenüber der selbstreferentiellen, aber dabei stets mit unmittelbaren Sein kontaminierten Negation der Seinslogik auszuzeichnen.« 60

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Die qualitative Grenze

griff der Grenze mit dem Seinssein der Negation: Etwas ist aus seiner Sicht begrenzt, insofern es ein Nichtsein an sich hat, und als ein solches ist es an sich selbst als ein Negatives (d. h. in seiner Terminologie als ein Anderes) bestimmt. Dieses Anderssein des Etwas hat nun in seiner Grenze Realität, und die Vermittlung des Etwas in seinem Anderssein mit sich selbst ist folglich als Selbstbeziehung der Negation zu denken. In diesem Sinne ist die Vermittlungsfunktion der Grenze, welche deren Idealität und Transformation ins Urteil begründet, in diesem Denken im Wesentlichen eine rein logische Folge der Art und Weise, in der Hegel die Negation ausdeutet.

1.3.1. Die Genese des Werdens aus dem reinen Sein Hegels Auffassung der Grenze unterscheidet sich vom Alltagsverständnis wohl kaum durch die Annahme, dass eine Grenze etwas zwischen zwei qualitativ verschiedenen Dingen ist. Sie unterscheidet sich vielmehr vom Alltagsverständnis durch die Annahme, dass die Grenze aus seiner Sicht darüber hinaus die Momente dessen, was sie unterscheidet, in ihr ideell enthält. (LI, 136) Die Idealität der Grenze entwickelt Hegel aus dem Gedanken, dass jedwedes Etwas erstens in notwendiger Beziehung zu seinem Anderen steht, und es zweitens in diesem Verhältnis selbst als ein Anderes bestimmt ist. Bevor man sich Hegels Auffassung, dass die Grenze der Anfang der Idealität darstellt, zuwenden kann, muss man sich daher fragen, wie Hegel die Annahme rechtfertigen kann, dass Etwas »an sich das Andere seiner selbst« ist, d. h. die Genese des Begriffes des »Anderen« nachzuzeichnen haben, der – wie Christa Hackenesch herausgestellt hat – einer der komplexesten und zentralen Begriffe der Logik als solcher darstellt. 62 Dabei kann man zugleich ein weiteres ontologisches Problem mitbetrachten, das für den Zusammenhang von Grenze und Organismus schlechterdings fundamental ist: Wenn Etwas (d. h. ein Organismus oder ein Mensch) in seiner Grenze mit seinem Anderen und darin mit sich selbst kontinuierlich vermittelt ist, dann muss die Grenze dynamischen Charakter haben; dann muss sie sich als prozessartig auffassen lassen, ohne dabei ihren Charakter als Grenze schlechterdings zu

Hackenesch, Christa, Die Logik der Andersheit. Eine Untersuchung zu Hegels Begriff der Reflexion, Frankfurt am Main 1978.

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verlieren und sich völlig zu verflüchtigen. Hegel löst dieses Problem, indem er den prozessartigen Charakter der Grenze mit dem Gedanken der Andersheit in Beziehung setzt. Diese Beziehung ist aus Hegels Sicht etymologisch schon im deutschen Begriff der »Veränderung« angedacht. 63 Demgemäß ist die Realität ein Prozess, d. h. verändert sich beständig, weil alle Dinge an sich selbst auch Anderes – d. h. negativ bestimmt – sind. Ist dem aber so, dann hängt überhaupt alles Entstehen und Vergehen von Dingen in irgendeiner Form mit dem Problem der Andersheit zusammen; und da Etwas nur dadurch ein Anderes (an sich selbst) ist, insofern es in seinem Anderen (von dem es sich abgrenzt) als solches reflektiert ist, hängt damit auch das ontologisch schlechterdings fundamentale Problem des Ursprungs des Entstehens und Vergehens mit dem Problem der Grenze zusammen. Nun ist Entstehen aus Hegels Sicht ein Übergang von Nichts zu Sein und Vergehen umgekehrt ein Übergang von Sein zu Nichts – ein Gedanke, der keinerlei Schwierigkeiten bereiten dürfte. Aus dieser Perspektive erstaunt es denn auch nicht, dass Hegel den Ursprung der Grenze letztendlich im reinen Unterschied von Sein und Nichts verortet. Allerdings leitet Hegel hier den Begriff der Grenze nicht schlagartig, sondern in einzelnen Schritten aus der Dialektik des Seins und des Nichts ab, indem er zunächst den Begriff des Werdens, dann den des Daseins und dann den des Etwas und seines Anderen mit seiner immanenten Grenze herleitet. Der Gedankengang soll hier insoweit nachgezeichnet werden, als es für die Verdeutlichung der Vorgeschichte der Grenze in der Logik erforderlich ist. »Das reine Sein und das reine Nichts« – so bekanntlich die provokante These, mit der die Logik anhebt – »sind dasselbe«. (LI, I) Denn da es sich bei den Begriffen des reinen Seins und des reinen Nichts – wenn man sie getrennt voneinander betrachtet – Hegel zufolge um »leere Abstraktionen« (LI, 192) handelt, gibt es weder innerhalb des Seins, noch innerhalb des Nichts etwas, was es ermöglichen würde, beide voneinander zu unterschieden: Das reine Sein und das reine Nichts sind beide »reine Unbestimmtheit«, »vollkommene Leere« und »Inhaltslosigkeit«. Als das »unbestimmte Unmittelbare« ist das Sein diese seine Bestimmungslosigkeit aber auch nur im »Gegensatz gegen das Bestimmte oder Qualitative« (LI, 82). Die »Unbestimmtheit des Seins macht daher«, so Hegel, »selbst seine Qualität aus« (LI, 82). In gleicher Weise wird man von der Unmittelbarkeit des 63

Vgl. Theunissen, a. a. O., S. 237 ff.

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Seins sagen müssen: »Die einfache Unmittelbarkeit ist selbst ein Reflexionsausdruck und bezieht sich auf den Unterschied von dem Vermittelten.« (LI, 68) An sich ist daher das reine Sein, gerade insofern es unbestimmt und unmittelbar ist, auch bestimmt und vermittelt. Eben aus diesem Grunde antizipiert das reine Sein gerade in seiner qualitätslosen Unmittelbarkeit einen Übergang. Der Übergang, der aus Hegels Sicht allein aus der Selbstbewegung des logischen Inhalts resultiert, ergibt sich aus dem Aufweis des widersprüchlichen Charakters, der aus Hegels Sicht dem Begriff des reinen Seins unmittelbar zukommt: Wird das Sein in seiner Unmittelbarkeit genommen, erweist es sich unmittelbar als dasselbe als das Nichts; wird das Nichts von hier aus als unmittelbar und bestimmungslos genommen erweist es sich umgekehrt unmittelbar als das Sein. Es ist die Unbestimmtheit und der Mangel an Inhalt, der Sein und Nichts gleichermaßen zukommt; Grund dafür, dass beide sich miteinander identifizieren. 64 Damit ist aber aus Hegels Sicht nicht gesagt, dass sich der Gegensatz von Sein und Nichts – und ihm mit Sein und Nichts als solche – in »Null und Nichts« auflösen. Als die Wahrheit des Seins und des Nichts ist vielmehr im Sinne des Übergehens ihre »Bewegung des Verschwindens des einen in das andere« zu begreifen. Diese Bewegung ist das Werden – als ein fortfahrendes Übergehen von Sein in Nichts und Nichts in Sein: »Was in Wahrheit ist«, so Hegel, »ist weder das Sein noch das Nichts, sondern das Sein in Nichts und Nichts in Sein – nicht übergeht, sondern übergegangen ist.« (LI, 83) Hierin – in der Einsicht in den abstrakten Charakter des reinen Seins – liegt für Hegel die eigentliche Bedeutung Heraklits, der im Gefolge von Demokrit den Gedanken des reinen Seins als Grundlage aller Wirklichkeit kritisierte und demgegenüber das Werden (»Alles fließt«) als die eigentliche Wirklichkeit auffasste. »Der tiefsinnige Heraklit hob gegen jene einfache und einseitige Abstraktion den höheren totalen Begriff des Werdens hervor und sagte: das Sein ist sowenig als das Nichts, oder auch: Alles fließt, das heißt: Alles ist Werden.« (LI, 84) Das Werden ist auch aus Hegels Sicht als dynamische Einheit des Seins und des Nichts die grundlegendere Wirklichkeit. Erst diese dialektische Einheit, die das Sein und das Nichts im Werden eingehen, stellt aus Hegels Sicht die konkrete Grundlage dafür dar, dass überhaupt ein Un64 Vgl. Movia, Giancarlo, Über den Anfang der Hegelschen Logik, in: G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, hg. v. Anton Friedrich Koch u. Friedrike Schick, Berlin 2002, S. 11–26.

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terschied voneinander an ihnen aufgezeigt werden bzw. sich manifestieren kann. Ein konkreter Unterschied von Sein und Nichts liegt Hegel zufolge dem Werden zugrunde, insofern es aus einer Sicht als Doppelbewegung aufgefasst werden muss: Als Entstehen und Vergehen. Dabei versteht Hegel – wie schon bemerkt – das Entstehen als »Übergehen von Nichts zu Sein« und das Vergehen umgekehrt als »Übergehen von Sein zu Nichts«. 65 Aus Hegels Sicht ist nun auch dieses Übergehen dialektisch verfasst, und zwar in einer Weise, welche gerade in der ihr immanenten Dynamik eine Selbstaufhebung des Werdens bewirkt, aus welcher das Dasein resultiert. Das Werden beruht aus Hegels Sicht »auf dem Unterschiede von Sein und Nichts.« (LI, 113) Dieser Unterschied hebt sich aber aus Hegels Sicht in der Dynamik von Entstehen und Vergehen zugleich unmittelbar wieder auf. Daher hebt das Werden mit dem Unterschied von Sein und Nichts sich selbst auf. Hegel erläutert die Aufhebung des Werdens so, dass sich Entstehen und Vergehen als »unterschiedliche Richtungen« (LI, 112) durchdringen und sich damit gegenseitig »paralysieren«: »Die eine ist Vergehen; Sein geht in Nichts über, aber Nichts ist ebenso sehr das Gegenteil seiner selbst, Übergehen in Sein, Entstehen. Dieses Entstehen ist die andere Richtung; Nichts geht in Sein über, aber Sein hebt ebenso sehr sich selbst auf und ist vielmehr das Übergehen in Nichts, ist Vergehen.« (LI, 112)

Das Resultat der Selbstaufhebung des Werdens nennt Hegel, die »zur ruhigen Einfachheit gewordene Einheit des Seins und des Nichts. Diese ruhige Einfachheit ist Sein, jedoch nicht mehr für sich, sondern als Bestimmung des Ganzen.« Hegel bezeichnet diese Einheit als Dasein. Das Dasein ist zunächst als das einfache Einssein des »Sein und des Nichts« (LI, 116) bzw. als das aufgehobene Werden zu betrachten. Am Dasein wird sich nun auf Grund der ihm inhärenten Negation die Grenze manifestieren.

»Das Werden ist auf diese Weise in gedoppelter Bestimmung; in der einen ist das Nichts als unmittelbar, d. h. anfangend vom Nichts, das sich auf das Seins bezieht, d. h. in dasselbe übergeht, in der anderen ist das Sein als unmittelbar, d. i. anfangend vom Sein, das in das nichts übergeht«. (LI, 122)

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1.3.2. Das Werden des Etwas aus der Negation Aus dem Werden geht aus Hegels Sicht das Dasein hervor. Als die einfache Einheit des Seins und des Nichts ist Dasein »Sein mit einem Nichtsein, so dass dies Nichtsein in einfache Einheit mit dem Sein aufgenommen ist« (LI; 116). Da dasjenige, wodurch das Sein des Daseins vermittelt wurde – nämlich das Werden – aufgehoben wurde, hat das Dasein die Form der Unmittelbarkeit. In dieser Unmittelbarkeit entspricht das Dasein dem Sein des Anfangs. Während das anfängliche Sein aber ein unbestimmtes, qualitätsloses ist, muss Hegel zufolge das Dasein als bestimmtes, konkretes Sein aufgefasst werden. Die Bestimmtheit des Daseins leitet Hegel aus dem Nichtsein ab, welches das Dasein als Einheit von Sein und Nichtsein enthält: »Um der Unmittelbarkeit willen, in der im Dasein Sein und Nichts eins sind, gehen sie nicht übereinander hinaus; soweit das Dasein seiend ist, soweit ist es Nichtsein, ist es bestimmt.« (LI, 117) Insofern das Dasein bestimmtes Sein ist, ist es damit als Einheit von Realität und Negation bestimmt. Die Bestimmtheit für sich isoliert, als seiende Bestimmtheit, ist die Qualität – ein Einfaches, Unmittelbares. Aber Hegel insistiert darauf, dass die Qualität ebenso in die Bestimmung des Nichts zu setzen ist, womit dann »die unmittelbare oder seiende Bestimmtheit als eine unterschiedene, reflektierte gesetzt wird, das Nichts so als das Bestimmte einer Bestimmtheit ist ebenso ein reflektiertes, eine Verneinung«. (LI, 118) Wird die Qualität als nur seiende Qualität betrachtet, so ist sie die Realität; wird sie hingegen als mit einer Verneinung behaftet betrachtet, so ist sie Negation. Als Negation ist sie gleichfalls eine Qualität – so ist z. B. das Weiße das NichtSchwarze – aber eine, die als ein Mangel gilt. Dasein besitzt seine qualitative Bestimmtheit somit nur im Kontrast zu einer anderen Qualität, die es verneint; aber die verneinte Bestimmtheit, die sein faktisches Dasein transzendiert, muss gleichwohl als Bestandteil seiner Realität aufgefasst werden, von der sie zugleich unterschieden ist: »Beide sind ein Dasein, aber in der Realität als Qualität mit dem Akzente, eine seiende zu sein, ist es versteckt, dass sie die Bestimmtheit, also auch die Negation enthält.« (LI, 118) Insofern Dasein an ihm selbst somit auf etwas Unterschiedliches, d. h. vom ihm unterschiedenes, verweist, muss es daher aus Hegels Sicht selbst als »etwas Unterschiedliches« aufgefasst werden – Dasein ist »Unterschied an ihm« (LI, 123): Das Weiße ist implizit das Nicht-Schwarze; es hat diesen Unterschied damit an ihm. Vom bloßen Dasein lässt sich, insofern es 71 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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etwas Unterschiedliches ist, damit die Qualität unterscheiden, da dieser als daseiender der Unterschied von Realität und Negation anhaftet: Als etwas Unterschiedliches ist das Dasein eben nicht einfach da. Aber an sich – fährt Hegel nun fort – ist die Realität auch Negation und die Negation auch Realität: »Die Realität enthält selbst die Negation, ist Dasein, nicht unbestimmtes abstraktes Sein. Ebenso ist die Negation Dasein, nicht das abstrakt sein sollende Nichts, sondern hier gesetzt, wie es an sich ist, als seiend, dem Dasein angehörig.« (LI, 123) Damit ist jedoch aus Hegels Sicht nicht gesagt, dass der Unterschied von Realität und Negation einfach übergegangen werden bzw. weggelassen werden kann: »Der Unterschied kann nicht weggelassen werden; denn er ist.« (LI, 123) Was vorhanden ist, so Hegel, ist »dass das Dasein überhaupt, Unterschied an ihm und das Aufheben dieses Unterschiedes; das Dasein nicht als unterschiedslos, wie anfangs, sondern als wieder sich selbst gleich durch das Aufheben des Unterschieds, die Einfachheit des Daseins, vermittelt durch dieses Aufheben« (LI, 123).

Was Hegel damit sagen will, ist wohl das Folgende: Wir können das Weiße und das Schwarze nur auseinanderhalten, insofern diese sich zugleich objektiv spiegelbildlich zueinander verhalten: Wir benötigen zur Bestimmung des Weißen als Weißem das Schwarze (als das Nicht-Weiße) oder umgekehrt. Worauf Hegel nun hinaus will, ist, die Bestimmung des Weißen als erste Form von Selbstbeziehung und Selbstbestimmung zu denken. Das Weiße bestimmt sich selbst als das Weiße in seinem Verhältnis zum Schwarzen (d. h. seinem Nichtsein) – es stellt seine Gleichheit mit sich her und ist in sich reflektiert. Ist seine Bestimmung aber die ihm immanente Negation, dann bedeutet das, dass es seine Negation negiert. Erst auf diese Weise ist es ihm nicht äußerlich (d. h. unsere Zutat), dass es weiß ist, sondern es verinnerlicht seine Qualität durch seine eigene Selbstbeziehung. Offenkundig in diesem Sinne sagt Hegel: Auf diese Weise ist das Dasein »Insich«; das Dasein ist »Daseiendes, Etwas« (LI, 123). Etwas, so Hegel, »ist die erste Negation der Negation, als einfache Beziehung auf sich. Dasein, Leben, Denken usf. bestimmt sich wesentlich zum Daseienden, Lebendigen, Denkenden (Ich) usf. Diese Bestimmung ist von der höchsten Wichtigkeit, um nicht bei dem Dasein, Leben, Denken usf., auch nicht bei der Gottheit (statt Gottes) als Allgemeinheiten stehenzubleiben. Etwas gilt der Vorstellung mit Recht als ein Reelles. Jedoch ist Etwas noch eine sehr oberflächliche Bestimmung; wie Realität und Negation, das Dasein und dessen

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Bestimmtheit zwar nicht mehr die leeren – Sein und Nichts –, aber ganz abstrakte Bestimmungen sind. Deswegen sind sie auch die geläufigsten Ausdrücke, und die philosophisch nicht gebildete Reflexion gebraucht sie am meisten, gießt ihre Unterscheidungen darein und meint daran etwas recht gut und fest Bestimmtes zu haben. Das Negative des Negativen ist als Etwas nur der Anfang des Subjekts – das Insichsein nur erst ganz unbestimmt. Es bestimmt sich fernerhin zunächst als Fürsichseiendes und so fort, bis es erst im Begriff die konkrete Intensität des Subjekts erhält« (LI, 123).

1.3.3. Etwas und Anderes Die Unbestimmtheit des Etwas im Sinne einer einfachen Beziehung auf sich gründet nun des Näheren betrachtet darin, dass das Etwas die Form der Negation an ihm selbst hat, denn die Negation ist »im Dasein mit dem Sein noch unmittelbar identisch« (8, 197). Während ein Mensch sich im Laufe seines Lebens verändern kann und aus Hegels Sicht trotzdem dieselbe Person bleibt, ist das Dasein schlechterdings eins mit seiner qualitativen Bestimmtheit, die zugleich seine Negation ist. Hieraus resultiert das Etwas, insofern es die Form der Negation an ihm selbst hat, unmittelbar auch ein Anderes ist und das des Weiteren mit der Realität des einen Etwas aus Hegels Sicht auch die Realität eines anderen Etwas gesetzt ist, für das ersteres Etwas ein Anderes, oder in Verhältnis zu dem es etwas Unterschiedliches ist. Hegels Gedanke bei der Ableitung des Begriffes des Anderen aus dem Begriff des Daseins lässt sich vielleicht wie folgt explizieren: Der Gegensatz von Sein und Nichts ist im Dasein in der Form des Unterschiedes von Realität und Negation enthalten. Das Nichts als das Bestimmte einer Bestimmung ist dabei als ein reflektiertes, als eine Verneinung aufzufassen – »ist gleichfalls eine Qualität, aber die für einen Mangel gilt« (LI, 118). Nun stellte sich aber heraus, dass die Realität jedoch auch Negation enthält und umgekehrt der Negation eine Realität zukommt. Der entscheidende Punkt aber ist darüber hinaus: Realität und Negation verhalten sich hier zwar als das Entgegensetzte zueinander. Aber der Unterschied ist zweischneidig, denn es ist hier nicht ausgemacht, welche der beiden Seiten des Gegensatzes als einerseits als Realität (Sein) und welche andererseits als Negation (Nichts) zu gelten hat. Realität und Negation sind in ihrer Entgegensetzung zugleich gegeneinander austauschbar. Mit anderen Worten: Denken 73 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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wir das Dasein als bestimmtes Sein in der »einseitigen Bestimmtheit des Seins« (LI, 117), dann denken wir uns ein Dasein mit einer Qualität – z. B. dem Weiß-Sein –; ein Dasein, das daher zugleich mit einem Mangel behaftet ist, insofern das Weiße das Nicht-Schwarze ist. In diesem Falle ist das Weiß–Sein als Realität und das SchwarzSein als Negation bestimmt. Aber die hier getroffene Festsetzung von dem, was da als Realität und was da als Negation zu gelten hat, ist völlig willkürlich: Denn mit gleichen Recht könnten wir das Schwarz–Sein als die Realität und das Weiß-Sein als deren Negation, als Mangel denken. Um es mit Koch zu sagen: »Zwei Ursachverhalte, einer die Negation des anderen, keiner ›objektiv‹ real, keiner ›objektiv‹ nichtig, jeder real vom eigenen Standpunkt aus, jeder negiert durch den anderen, füllen zusammen den logischen Raum.« 66 Wollen wir das Dasein als bestimmtes Sein denken, müssen wir nun Hegel zufolge in der Tat beide Seiten bedenken: Es ist unsinnig, das Weißsein allein als das Positive zu behaupten und das Schwarze als das Negative. Das Weiße und das Schwarze sind vielmehr beide ebenso gut positiv wie negativ. Insofern das Dasein als bestimmtes Sein etwas Unterschiedliches und als ein solches Daseiendes, Etwas ist, impliziert dies, dass das Sein des ersten Etwas die Existenz eines anderen Etwas, das auf die gleiche Weise wie es selbst ein Daseiendes oder ein Unterschiedliches ist. Das zweite Etwas ist also ebenso als ein Daseiendes, aber als Negatives des ersteren Etwas – d. h. als ein Anderes bestimmt. (Vgl. LI, 124) Aus dem gleichen Grunde ist das erstere Etwas aber ebenso als ein Anderes reflektiert – es ist ansich das Andere dieses Anderen. Das gedankenlose Meinen aber hält aus Hegels Sicht fälschlicherweise allein an der positiven Bestimmtheit der Dinge fest. Hegel insistiert daher nun zunächst darauf, dass Etwas und etwas Anderes beide Daseiende oder Etwas sind. Ebenso gut sind beide Andere. Denn das Eine ist ebenso gut ein »Unter–schiedliches« wie das Andere. Gegen die Logik des Verstandes, »der bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere« 67 stehen bleibt, macht Hegel den Unterschied vom Etwas und seinem Anderen nun in einer Weise geltend, der zugleich ihre konkrete Koch, a. a. O., S. 14. »Das Denken als Verstand bleibt bei der festen Bestimmtheit und der Unterschiedenheit derselben gegen andere stehen; solche ein beschränktes Abstraktes gilt ihm als für sich bestehend und seiend.« (8, 169)

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Bezogenheit und damit eine erste Form von in sich konkreter Allgemeinheit als Sphäre real-seiender Vermittlung begründet. Hegels Kritik am Verstandesdenken basiert darauf, dass er demselben eine spezifische Einseitigkeit unterstellt. Diese Einseitigkeit besteht darin, dass der Verstand aus Hegels Sicht sich vom »Anderen« einen verdinglichenden Begriff bildet, d. h. das Andere in Analogie zu einer bloß äußerlichen Eigenschaft denkt, die Etwas im Verhältnis zu einem anderen Etwas zukommt oder zugeschrieben wird: »Es erscheint somit das Anderssein als eine dem so bestimmten Dasein fremde Bestimmung oder das Andere außer dem einem Dasein, teils, dass ein Dasein erst durch das Vergleichen eines Dritten, teils dass es nur um des Anderen willen, das außer ihm ist, als Anderes bestimmt werde, aber nicht für sich so sei.« (LI, 126)

Die Äußerlichkeit kommt aus Hegels Sicht dadurch zustande, dass der Verstand das Andere zwar als ein Negatives (B als das Andere von A) auffasst; er aber den Unterschied zwischen Etwas und seinem Anderen insofern verabsolutiert, als er diesen als einen auffasst, der weder dem Wesen von A noch dem von B zugehörig ist: Die »Negation fällt so außerhalb der beiden.« (LI, 125) Die Folge einer solchen Verabsolutierung des Unterschiedes ist, dass sich Etwas und Anderes unter dieser Perspektive betrachtet völlig äußerlich und beziehungslos gegenüberstehen. Nun bestreitet Hegel keineswegs, dass Etwas und Anderes auch äußerliche Wirklichkeit füreinander haben, bzw. real unterschieden sind. Worauf Hegel aber hinaus will, ist, dass Etwas und sein Anderes gerade in dieser real-seienden Unterschiedenheit miteinander identifiziert sind und vermittelt sind: Gegenüber der Verdinglichung und Isolation des Etwas und seines Anderen, die sich »zunächst gleichgültig gegenüberstehen«, gilt es daher »ihre Beziehung« als »ihre Wahrheit« herauszuarbeiten. Ist es doch aus Hegels Sicht nicht mehr und nicht weniger als der »Zweck der Philosophie«, »die Gleichgültigkeit zu verbannen, so dass das eine seinem Anderen gegen-übersteht« (8, 246). Wie erfüllt nun die Philosophie diese ihre hehre Aufgabe angesichts der Verabsolutierung des Unterschiedes zwischen dem Etwas und seinem Anderen, die der Verstand betreibt, der daher einzig und allein um deren Beziehungslosigkeit weiß? Hegels entscheidendes Argument, das er gegen die Verdinglichung des Anderen in einer Weise geltend macht, dass dies zugleich ein Argument gegen die Ausgrenzung des Anderen ist, besteht darin, dass A und B als Andere füreinander »auf gleiche Weise Andere« (LI, 75 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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125) sind. Nach ihrer Unterschiedenheit hin sind Etwas und Anderes zunächst beide Daseiende oder Etwas. Aber – fährt Hegel fort – ebenso ist ein jedes ein Anderes: »Es ist gleichgültig, welches zuerst und bloß darum Etwas genannt wird (im Lateinischen, wenn sie in einem Satz vorkommen, heißen beide aliud, oder Einer den Anderen alius alium, bei einer Gegenseitigkeit ist der Ausdruck alter alterum analog). Wenn wir ein Dasein A nennen, das Andere aber B, so ist zunächst B als das Andere bestimmt. Aber A ist ebenso sehr das Andere des B. Eben darum sind beide sind auf gleiche Weise Andere.« (LI, 125)

Mit anderen Worten: A und B sind zwar als das Negative voneinander entgegensetzt; aber A als das Negative von B ist demselben nicht auf eine andere Weise entgegengesetzt, wie umgekehrt. Insofern nun der Begriff vom Anderssein aber gerade darauf abzielt, die Form der Unterschiedenheit von A und B zum Ausdruck zu bringen, sind beide paradoxerweise auf gleich Weise »das Andere«. Hieraus resultiert, das A und B als Andere füreinander über eine »gemeinschaftliche Unterschiedenheit« (LI, 137) verfügen. Worin besteht aber diese gemeinschaftliche Unterschiedenheit, d. h. das Gemeinschaftliche in der Unterschiedenheit? So vermag auch schon das reine Verstandesdenken bzw. die äußere Reflexion etwas Gemeinsames im Verhältnis von Etwas und etwas Anderem herauszustellen – nämlich dass beide das Andere »ihres« oder, wie man besser sagen müsste, irgendeines Anderen sind. Nur versteht die äußere Reflexion dies so, dass keines der beiden, die da das Andere von irgendeinem Anderen ist, darum schon an sich selbst als Andere sind. Denn die äußere Reflexion beharrt aus Hegels Sicht nun eben darauf, dass das Etwas für sich genommen nur Etwas sei, »und die Bestimmung ein Anderes zu sein, demselben nur durch äußerliche Betrachtung zukomme« (8, 198). Wenn die äußere Reflexion so zwar auch eingestehen wird, dass in einem Verhältnis, in dem zwei – sagen wir A und B – Andere füreinander sind, d. h. ein jedes der beiden das Andere des Anderen ist, so versteift sich doch zu der Behauptung, dass es sich dabei im jeweiligen Fall um ein anderes Anderes handle, für das A bzw. für das B ein Anderes ist. Sie verkennt eben dabei, dass zwei, die Andere füreinander sind, in ein- und derselben Hinsicht Andere – darum überhaupt Andere füreinander sind – und negiert damit die Existenz des gemeinsamen Verhältnisses als solchem. 76 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Hegel vertritt nun die Auffassung, dass zwei, die Andere füreinander sind, durch ihr gemeinsames Anderssein zugleich in ihrem gemeinsamen Verhältnis miteinander vermittelt sind. Das nötigt Hegel dazu – wie Theunissen zu Recht betont – das Anderssein »als die Relation zu denken, die das Ganze ist.« 68 Dem Anderssein muss demnach zugetraut werden, die Verhältnismäßigkeit des Verhältnisses als solchem aufbauen zu können und die Isolation der Etwasse aufheben und transzendieren. Das kann es aber nur leisten, wenn es eine Reflexionsstruktur besitzt und in Beziehung zu sich selbst gesetzt wird. Von hier aus ist zugleich einsichtig warum Hegel den Begriff des Anderen isoliert auffassen möchte, »in Beziehung auf sich selbst« (LI, 126). Das Andere für sich ist dann das »Andere an ihm selbst, hiermit das Andere seiner selbst«, also »das Andere des Anderen« (LI, 127). Was ist aber damit gewonnen? Ist es nicht offenkundig, dass jedes der Etwasse das Andere des Anderen ist? In der Tat erzielt Hegel hier einen Fortschritt, insofern er den Begriff des Anderssein – wie sich bereits zeigte – mit der Negation konnotiert. Das Andere des Etwas ist die Realität der Negation des Etwas. Das Andere des Anderen ist somit die Negation dieser Negation – die doppelte Negation und damit wiederum affirmatives Sein. In diesem Sinne ist es, so Theunissen, »das Andere, das sich auf das Andere und darin auf sich selbst bezieht«. 69 So kommt auch Henrich zu dem Schluss, das Hegel mit der Verdoppelung der Andersheit »in einem Gedanken von Negation zum ersten Male Selbstbezüglichkeit herstellt«. 70 Hegel selbst erläutert den negationslogischen Zusammenhang, der die Selbstfindung des Etwas im Anderen begründen soll, will folgt: Als das Andere des Anderen ist das Andere für sich zunächst »das in sich schlechthin Ungleiche, sich Negierende, das sich Verändernde«. Aber ebenso »identisch mit sich, denn dasjenige, in welches es sich veränderte, ist das Andere, das sonst keine Bestimmung hat; aber das sich Verändernde ist auf keine verschiedene Weise, sondern auf dieselbe, ein Anderes zu sein, bestimmt; es geht daher in demselben nur mit sich zusammen«. (LI, 127)

Etwas ist auf diese Weise aus Hegels Sicht identisch mit sich durch das Aufheben des Andersseins; ein Anderssein, das zugleich Moment des Etwas ist und von dem Etwas unterschieden. Hegel erläutert diese zweifelsohne zunächst sehr abstrakt und kryptisch klingenden The68 69 70

A. a. O., S. 261. Ebd. Henrich, Dieter, Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971, S. 250.

77 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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sen dahingehend, dass Etwas als das Andere-seiner-selbst insofern mit sich identifiziert ist, als es sich aus der Entäußerung an das Andere zurückzugewinnen hat.

1.3.4. An-ich-Sein und Sein-für-Anderes Hegels Terminus für solch ein entäußertes Sein ist »Sein-für-Anderes«: »Die Negation, nicht mehr das abstrakte Nichts, sondern als ein Dasein und Etwas, ist nur Form an diesem, sie ist als Anderssein. Die Qualität, indem dies Anderssein ihre eigene Bestimmung, aber zunächst von ihr unterschieden ist, ist Sein-für-Anderes.« (8, 196) Das Sein-für-Andere ist – wie Hegel betont – zunächst ein Nichtsein, denn »insofern Etwas in einem Anderen oder für ein Anderes ist, entbehrt es des eigenen Seins«. (LI, 129) Etwas ist aber »nicht rein sein Anderssein«: Es ist – so Hegel – wesentlich »eins und nicht eins« mit seinem Anderssein; es steht also in Beziehung auf sein Anderssein. Insofern sich des Weiteren Etwas in seinem Nichtsein sein erhält, ist es Sein – aber kein unmittelbares oder beziehungsloses – »sondern als Beziehung auf sich gegen seine Beziehung auf Anderes, als Gleichheit mit sich gegen seine Ungleichheit.« (LI, 128) Solch ein Sein nennt Hegel nun »Ansichsein«. Sein-Für-Anderes und Ansichsein machen damit aus seiner Sicht die zwei Momente des Etwas aus. Während Etwas und Anderes die Beziehungslosigkeit ihrer Bestimmung zum Ausdruck bringen, der zufolge sie »auseinanderfallen«, bringen die Begriffe Sein-fürAnderes und Ansichsein ihre »Wahrheit« im Sinne ihrer Beziehung zum Ausdruck (LI, 128). Sein-für-Anders und Ansichsein sind somit als Momente eines und desselben gesetzt und darin als Bestimmungen, welche ebenso Beziehungen sind, aufzufassen. Als Beziehungen sind sie nicht nur als Beziehungen des einen Etwas auf sein Anderes, sondern auch als unmittelbar aufeinander aufzufassen. Das Sein des Etwas ist Ansichsein. Aber das Sein des Etwas als Beziehung auf sich, als Gleichheit mit sich, ist jetzt kein unmittelbares mehr, sondern Beziehung auf sich nur als Nichtsein des Andersseins, d. h. als in sich reflektiertes Sein. Somit ist erstens das Ansichsein die »negative Beziehung auf das Nichtdasein, es hat das Anderssein außer ihm und ist demselben entgegen; insofern etwas an sich ist, ist es dem Anderssein und dem Sein-für-Anderes entnommen« (LI, 128). Zweitens hat das Ansichsein, so Hegel, das Nicht-Sein aber auch an ihm selbst, denn es 78 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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ist selbst »das Nichtsein des Seins-für-Andere« (LI, 128). Umgekehrt ist das Nichtsein des Etwas – als Sein-für-Anderes – wie wir bereits sahen, kein Nichtsein als reines Nichts, sondern als eines in Beziehung auf die Rückkehr zu sich. Das in sich zurückgekehrte Sein ist aber nichts anderes als das Ansichsein. Ansich ist Etwas folglich – dieser Gedanke ist für Hegels ganzes Gedankengebäude zentral – »insofern es aus dem Sein-für-Anderes heraus, in sich zurückgekehrt ist« (LI, 129). Aber – fährt Hegel fort – Etwas hat auch eine Bestimmung oder einen Umstand an sich oder an ihm, insofern dieser Umstand äußerlich an ihm, ein Sein-für-Anderes ist. Ansichsein und Sein-für-Anderes sind daher zunächst verschieden. Aber da das Etwas dasselbe, was es an sich ist, auch an ihm hat, und umgekehrt, was es als Sein-für-Anderes ist, auch an sich ist – dies ist, so Hegel, die Identität des Ansichseins und des Seins-für-Anderes: Etwas ist auch ansich das, was es für Andere ist und kann daher von anderem überhaupt gleichsam »angegangen« werden. (Hegel verweist hier auf die deutsche Redeweise: »da ist etwas dran«) Hegel wendet von hier aus gegen Kant ein, dass das Ding-an-sich eine »wahrheitslose, leere Abstraktion« (LI, 130) ist, wenn von allem Sein-für-Anderes abstrahiert wird (LI, 129 ff.). Entscheidend ist für Hegel, dass das Sein-für-Andere am Etwas ist. Das, was Etwas an sich ist und das, was zugleich als äußere Wirklichkeit an ihm ist, ist die qualitative Bestimmtheit des Etwas. Insofern das Etwas in seinem Sein aber nun als in-sich-reflektiertes aufzufassen ist, ist die Bestimmtheit ebenso als reflektierte zu denken. Um sie von der unmittelbar seienden Bestimmtheit des Etwas zu unterscheiden, spricht Hegel daher von der Bestimmung des Etwas.

1.3.5. Bestimmung und Beschaffenheit Die Bestimmung ist aus Hegels Sicht als in sich reflektierte das konkrete Ansichsein des Etwas, insofern dieses durch die Negation seines Sein-für-Andere vermittelt ist, welches zugleich es als sein eigenes Moment enthält. Die Bestimmung ist daher zunächst als Selbstbestimmtheit im Gegensatz zur Fremdbestimmtheit durch das Andere zu begreifen. Als eine solche ist sie aber das, was sie ist, auch nur in Beziehung zu ihrem Gegenteil. Die Bestimmung ist als bloße Selbstbestimmtheit zunächst »affirmative Bestimmtheit«, d. h. »als das Ansichsein, dem das Etwas in seinem Dasein gegen eine Vermittlung mit 79 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Anderem, wovon es bestimmt würde, gemäß bleibt, sich in seiner Gleichheit mit sich erhält, sie in seinem Sein-für-Anderes geltend macht« (LI, 132). Insofern Etwas seine Bestimmung erst noch in seinem Sein-für-Andere geltend zu machen hat, hat die Bestimmung in ihrer Wirklichkeit zugleich den Charakter einer Aufgabe, die Etwas zu erfüllen hat. Und Etwas erfüllt seine Bestimmung, »insofern die weitere Bestimmtheit, welche zunächst aus einem Verhalten zu Anderem mannigfaltig erwächst, seinem Ansichsein gemäß seine Fülle wird. Die Bestimmung enthält dies, dass, was etwas an sich ist, auch an ihm sei« (LI, 132). Hegel erläutert seinen Begriff der Bestimmung am Beispiel der Beziehung des Menschen auf die Vernunft. Die Bestimmung des Menschen ist die denkende Vernunft; Denken überhaupt ist die einfache Bestimmtheit, die ihn vom Tier unterscheidet. In diesem Sinne ist der Mensch Denken an sich – gleichsam die existierende platonische Idee der Vernunft. Aber das Denken prägt zugleich seine konkrete Wirklichkeit und sein geschichtliches Umfeld und hier ist die denkende Vernunft erst etwas, was noch zu verwirklichen ist. Daher ist die Bestimmung des Menschen als eine Vernunft, die bloß er an sich ist, auch im Sinne eines Sollens aufzufassen, d. h. sie ist »mit der Erfüllung, die ihrem Ansich einverleibt ist, in der Form des Ansich überhaupt gegen das ihr nicht einverleibte Dasein«. (LI, 133) In Bezug auf das Verhältnis von Etwas und seinem Anderen bedeutet dies, dass die Bestimmung auch den Charakter eines Sollens hat, dass sich gegen die äußere Wirklichkeit stellt: Die Erfüllung des Ansichseins mit derjenigen Bestimmtheit, die seinem Ansichsein gemäß ist, ist auch unterschieden von der Bestimmtheit, die »nur Sein-für-Anderes ist und außer der Bestimmung bleibt« (ebd.). Das, was Etwas an ihm hat, so Hegel, »teilt sich so und ist nach dieser Seite äußerliches Dasein des Etwas, dass auch sein Dasein ist, aber nicht seinem Ansichsein angehört« (ebd.). Dieses äußerliche Dasein nennt Hegel die Beschaffenheit des Etwas. Hegel insistiert nun darauf, dass auch die Beschaffenheit als Fremdbestimmtheit, als Bestimmt-Werden durch Anderes, als Teil der Bestimmtheit des Etwas aufzufassen ist. So wie das Geknechtet-Werden durch den Herrn das leidige Dasein des Knechtes bestimmt – obwohl dieses in einem Anderen sich gründet – so muss es als die Qualität des Etwas begriffen werden, einer Äußerlichkeit preisgegeben zu sein, sie an sich zu erleiden und eine Beschaffenheit zu haben. Wenn Etwas sich verändert, dann, so Hegel, verändert es sich zunächst in seiner Beschaffenheit; diese ist »am 80 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Etwas, das ein Anderes wird« (ebd.). Bestimmtheit und Beschaffenheit erscheinen somit zunächst als bloß unterschieden, in der Tat gilt aber für beide, was für das Etwas und sein Anderes und für das Ansichsein und das Sein-für-Andere gilt: Ihre Wahrheit ist ihre Beziehung. Das, was am Etwas ist, oder das, was etwas an sich erleidet, zerfällt zunächst in die Extreme der Bestimmung und der Beschaffenheit, die beide die Bestimmtheit des Etwas ausmachen. Aber in Wahrheit geht Bestimmung in Beschaffenheit über und umgekehrt. Hegel glaubt dies aus dem bisher Gesagten ableiten zu können: »Insofern das, was Etwas an sich ist, auch an ihm ist, ist es mit Sein-für-Anderes behaftet; die Bestimmung ist damit als solche offen dem Verhältnis zu Anderem.« (LI, 134) Auch Hegel spricht damit dem Etwas – als erste Erscheinungsweise des Subjektes – eine konstitutive Offenheit für seine Umwelt, für sein Anderes zu – ein Gedanke, den wir im Kommenden bei Plessner weiterverfolgen werden. Die Offenheit rührt daher, dass die Bestimmtheit mit dem Ansichsein, das ihr anhaftet, vereinigt, selbst zur Beschaffenheit »herabgesetzt« wird. Die Beschaffenheit als das Sein-für-Andere ist nun aber aus Hegels Sicht für sich selbst und isoliert gesetzt, überhaupt dasselbe, was das »Andere an ihm selbst«, d. h. das Andere seiner selbst. Die Beschaffenheit als das Andere ihrer selbst ist somit sich auf sich beziehendes Dasein, so Ansichsein mit einer Bestimmtheit also Bestimmung. Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, d. h. Bestimmung und Beschaffenheit, sind somit – gleichwohl sie auch zu unterscheiden sind – doch zugleich ineinander verwoben und das fremde Bestimmen durch das Andere ist durch das eigene immanente Bestimmen des Etwas mitbestimmt. In diesem Sinne kann etwas sich verändern, nämlich indem es die Weise bestimmt, in der es aus seiner Entäußerung an das Andere zurückkehrt und sein Anderssein aufhebt. Das aufgehobene Anderssein ist dann als Negation in ihm immanent gesetzt, als sein »entwickeltes Insichsein« (ebd.). Mit der Aufhebung des Unterschieds von Bestimmtheit und Beschaffenheit, von Selbst- und Fremdbestimmung, gewinnt zugleich das Verhältnis, in dem Etwas und sein Anderes sich zueinander befinden, an Konkretheit. Das erste Etwas – das Etwas des Verstandes – ist seinem Anderen eigentlich – so Hegel – nur »äußerlich gegenüber« (LI, 135). In Wahrheit ist aber Etwas aus Hegels Sicht in seinem Anderen sich selbst gegenüber: »Etwas«, so Hegel, »verhält sich aus sich selbst zum Anderen, weil das Anderssein als sein eigenes Moment in ihm gesetzt 81 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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ist; sein Insichsein befasst die Negation in sich, vermittels derer überhaupt es nur affirmatives Dasein hat.« (LI, 135, Hervorhebung S. R.) Auf diese Weise hängen Etwas und sein Anderes nun schlechthin, d. h. ihrem Begriffe nach zusammen, nämlich insofern »Dasein in Anderssein, Etwas in Anderes übergegangen; Etwas sosehr als das Andere ein Anderes is.« (LI, 135). Insofern des Weiteren das entwickelte Insichsein des Etwas das Nichtsein des Anderseins ist, welches im Etwas enthalten aber zugleich als seiend unterschieden ist, ist Etwas selbst die Negation, oder »das Aufhören eines Anderem an ihm« (LI, 135). Als ein solches ist es »sich negativ dagegen verhaltend und damit sich erhaltend gesetzt« (LI, 135). Etwas ist damit auf zweifache Weise auf das Andere bezogen: Erstens ist das Insichsein des Etwas als Negation der Negation – damit als aufgehobenes Anderssein – zugleich sein Ansichsein. Aber zweitens ist dieses Aufheben des Andern im eigenen Sein »als einfache Negation an ihm, nämlich als seine Negation des ihm äußerlichen anderen Etwas« (LI, 135). Dennoch – obwohl die Negation hier einmal als einfache Bestimmung und einmal als doppelte Negation in ihrer Selbstbezüglichkeit zu nehmen ist – handelt es sich in Hegels Augen um nur eine Bestimmtheit: Der Tatbestand, dass beide Etwasse das Andere des Andern sind, begründet einmal im Sinne der doppelten Negation die innere Wirklichkeit des Etwas. Zugleich sind beide Etwasse als Andere aber auch partikuläre, äußere Wirklichkeiten füreinander. Indem »diese Negationen als andere Etwas gegeneinander sind, sie aus ihnen selbst zusammenschließt und ebenso voneinander, jedes das Andere negierend, abscheidet« (LI, 135), bestimmt sich damit das Anderssein als Grenze.

1.3.6. Die Grenze als Brücke zwischen Realität und Idealität Damit sind wir zum Begriff der Grenze vorgedrungen. Wie schon bemerkt, ist die Bestimmung des Etwas Hegel zufolge als solche »offen« in dem Verhältnis zu anderen: Denn weil das Etwas das, was es an sich ist, auch an ihm ist, wird seine Bestimmung zur Beschaffenheit, zum Sein-für-Andere herabgesetzt. Diese Beschaffenheit ist aber an ihr selbst das Andere ihrer selbst – d. h. sich auf sich beziehendes Sein. Als sich-auf-sich-beziehendes Sein ist sie als Aufheben des Anderseins, d. h. als eine Negation des Seins-für-Andere. Eben eine solche Negation, in welcher Etwas sich auf sich bezieht und sein 82 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Anderes von sich abscheidet, ist aus Hegels Sicht die Grenze. Über die Grenze lässt sich daher – zum jetzigen Stand – schon Folgendes sagen: Zunächst ist die Grenze nichts, das zwischen dem Etwas und seinem Anderen schlicht vorhanden ist, sondern sie ist als ein SichAbgrenzen als eine Form von tätiger Selbstbezüglichkeit bestimmt. Insofern dieses Sich-Abgrenzen ein Negieren ist, muss man jedoch zugleich festhalten, dass die Negation zweischneidig ist: Im Sinne der einfachen Negation negiert Etwas in der Grenze sein Anderes, das dadurch zu einer äußeren Wirklichkeit für es wird: »Sein-für-Anderes ist unbestimmte, affirmative Gemeinschaft von Etwas mit seinem Anderen; in der Grenze hebt sich das Nicht-Sein-für-Anderes hervor, die qualitative Negation des Anderen, welches dadurch von dem in sich reflektierten Etwas abgehalten wird.« (LI, 136)

Zweitens ist das Ansichsein des Etwas aber auch im Sinne der doppelten Negation durch die Beziehung auf das Andere vermittelt. Die Grenze enthält daher – wie Hegel betont – drittens einen Widerspruch. Dieser ist darin vorhanden, dass »die Grenze als in sich reflektierte Negation des Etwas die Momente des Etwas und des Anderen in ihr ideell enthält, und diese als unterschiedene Momente zugleich in der Sphäre des Daseins als reell, qualitativ unterschieden gesetzt sind« (LI, 138). Der Widerspruch der Grenze besteht somit darin, dass sie das, was sie voneinander abgrenzt, sowohl miteinander identifiziert als auch voneinander unterscheidet – verbindet und nicht verbindet. Hier, in dieser Dialektik der Grenze, zeigt sich die besondere Bedeutung, die Hegel der Grenze zeit seines Lebens bei der begrifflichen Bestimmung des Lebendigen zumaß: So definiert Hegel schon im »Systemfragment« von 1800 in seiner Frankfurter Zeit das Leben als »Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung« (1, 422). So wird sich denn auch im weiteren Verlauf dieser Abhandlung zeigen, wie Hegel diesen Widerspruch, der der Grenze inhäriert, zum wesentlichen Gegensatz zuspitzt, um durch dessen Aufhebung hindurch zu einem in-sich reflektierten Begriff von Identität vorzudringen, welcher sein Gegenteil, den Unterschied, beinhaltet und als solcher der Idee des Lebens zugrunde liegt. Aber damit greifen wir schon vor. Hegel betrachtet die Grenze nun zunächst aus unterschiedlichen Perspektiven. Etwas hat als unmittelbares sich-auf-sich beziehendes Dasein – sagen wir A – seine Grenze zunächst gegen sein Anderes, gegen B. So ist die Grenze aus der Sicht von A das Nichtsein des 83 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Anderen, von B, und das Etwas begrenzt in ihr sein Anderes. Aber – fährt Hegel nun fort – dieses Andere B ist ebenfalls ein Etwas, das sich von seinem Anderen, nämlich von A, abgrenzt. Aus dieser Perspektive ist die Grenze offenkundig das Nichtsein des ersteren Etwas d. h. von A. So ist die Grenze als Negation von A und B das Nichtsein von Etwas überhaupt. Aber die Grenze ist ebenso wesentlich das Nichtsein des Anderen und so ist Etwas aus Hegels Sicht zugleich durch seine Grenze. »Indem Etwas begrenzt ist, wird es zwar dazu herabgesetzt, selbst begrenzt zu sein; aber seine Grenze ist, als das Aufhören des Anderen an ihm, zugleich selbst nur das Sein des Etwas; dieses ist durch sie das, was es ist und hat in ihr seine Qualität.« (LI, 136) In diesem Verhältnis, dass die Grenze zunächst als Negation des Etwas überhaupt erscheint und damit auf das Anderssein verweist, aber umgekehrt als Negation des Anderen wiederum auf das Insichsein des Etwas verweist, sieht Hegel – gleichsam phänomenologisch betrachtet – die äußere Erscheinung dessen, dass »die Grenze einfache Negation oder erste Negation, das Andere aber zugleich die Negation der Negation, das Insichsein des Etwas ist« (LI, 136). Etwas ist als unmittelbares Dasein zwar die Grenze gegen anderes Etwas, aber es hat diese Grenze an ihm selbst, denn es ist Etwas durch die Vermittlung derselben. Die Grenze ist, so Hegel daher weiter, »eine Vermittlung, wodurch Etwas und Anderes sowohl ist als nicht ist« (LI, 136). Der Verstand, der auf der Beziehungslosigkeit des Etwas und seines Anderen beharrt, tendiert aber nun dazu, die Vermittlung in der Grenze auszublenden und eben damit das Andere auszugrenzen: Insofern Etwas in seiner Grenze ist und nicht ist, tendiert das vorstellende Denken dazu, sich das Etwas – im räumlichen Sinne – als außerhalb seiner Grenze vorzustellen; und auch das Andere dieses Etwas – eben weil es selbst ein Etwas ist – außerhalb der gemeinsamen Grenze zu denken. Aus dieser Perspektive erscheint die Grenze gleichsam als ein Niemandsland, als eine Zone bzw. als Mitte ohne Vermittlung, in der die beiden Etwas einfach aufhören zu sein. So haben sie »ihr Dasein jenseits voneinander und von ihrer Grenze; die Grenze als das Nichtsein eines jeden ist das Andere von beiden« (LI, 137). Offenkundig entspricht diese Vorstellungsweise der Tendenz des Verstandes, das Etwas nicht als eines zu denken, das an sich selbst ein Anderes ist. Denn das gemeinsame Anderssein wird hier gewissermaßen in die Grenze ausgelagert. Wenn aber nun die Grenze als das Nichtsein eines jeden der Etwasse, d. h. als das Andere von beiden Etwas nicht an ihnen selbst sein sollte, so spräche – so fährt 84 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Hegel fort polemisch fort – allerdings nichts dagegen, das Sein des Etwas in völliger Abstraktion von seiner Grenze zu begreifen. So gesehen wären Etwas und sein Anderes aber offenkundig gar nicht unterschieden: Beide wären demnach nur Dasein überhaupt und daher schlicht und ergreifend dasselbe. Beide wären demnach auf völlig unbestimmte Weise. Aber ihr zunächst unmittelbares Dasein »ist nun gesetzt mit der Bestimmtheit als Grenze, in welcher beide sind, was sie sind, unterschieden voneinander« (LI, 137). Wenn das Etwas als bestimmtes Dasein betrachtet wird – wenn der Tisch also insofern Tisch ist, als er nicht der Stuhl ist – dann macht die Grenze »die Realität des Daseins« (LI, 197) aus. Aus dieser Perspektive betrachtet hat Etwas sein Dasein offenkundig nur in seiner Grenze. Des Weiteren ist die Grenze aber ihre »gemeinschaftliche Unterschiedenheit, die Einheit und Unterschiedenheit derselben, wie das Dasein« (LI, 137). Diese gemeinschaftliche Unterschiedenheit (d. h. die Idealität bzw. Allgemeinheit der Grenze) besteht eben darin, dass beide (das Etwas und sein Andres) erst darin und dadurch, dass sie füreinander da sind, zu dem werden, was sie sind. Die deutsche Redeweise: »Das lasse ich Dir nicht durchgehen!« enthält, wenn auch auf unbestimmte Weise, den Gedanken, dass die Grenze (im Normalfall) eben doch zugleich eine Durchlässigkeit (Offenheit/Bezogenheit) für das Andere beinhaltet. Hegel leitet nun aus dieser Durchlässigkeit der Grenze den dynamischen Charakter derselben ab: Wenn Etwas nur durch seine Grenze zu seinem Anderen zu dem wird, was es ist, weil es in derselben mit sich vermittelt ist, dann opponiert diese Vermittlung offenkundig dem, was es unmittelbar ist – denn sonst müsste es ja nicht erst noch werden. Daraus folgt: Etwas hat sein Dasein nicht nur in seiner (gleichsam statischen, undurchlässigen) Grenze, sondern die Grenze als Vermittlung und das unmittelbare Dasein des Etwas sind »zugleich das Negative voneinander« (LI, 137). Die Grenze macht daher nicht nur auf der einen Seite die Realität des Daseins aus, sondern »andererseits ist sie dessen Negation« (8, 197): Die Grenze ist somit am Etwas als seine eigene, negative Selbstbezüglichkeit, als ein »seiendes Nichts« (8, 137) – denn es ist das Etwas ja selbst, dass sich im Anderen auf sich und darin primär negativ auf sich bezieht. Insofern das Etwas überhaupt erst als das Andere seiner selbst das wird, was es ist, gilt nun eben aus diesem Grunde, dass das Etwas sich in seiner immanenten Grenze über sich hinausschickt. In seiner Grenze, so Hegel, »trennt sich das Etwas daher von sich selbst«, insofern diese 85 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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»auf sein Nichtsein weist und dies als sein Sein ausspricht und so in dasselbe übergeht« (LI, 138). Im Folgenden, in der Wesenslogik, werden wir sehen, wie die Grenze diese trennende Funktion verliert und als in-sich reflektierter Unterschied zur Form wird. Hegel erläutert den Doppelcharakter der Grenze, demzufolge das Etwas einerseits nur in seiner Grenze ist, was es ist und es andererseits doch erst zu dem zu werden hat, was es ist und daher über seine Grenze fortfahrend hinauszugehen hat, an Hand elementarer geometrischer Figuren: So sind einerseits die Grenzen, in denen etwas ist, das Prinzip und damit der Ursprung dessen, was sie begrenzen. Der Punkt z. B. ist nicht nur Grenze der Linie, sondern die Linie entspringt gleichsam dem Punkt – er ist ihr »absoluter Anfang« (LI, 138); ebenso begründet die Linie als Grenze die Fläche als solche etc.: »Diese Grenzen sind das Prinzip dessen, was sie begrenzen; wie das Eins, z. B. als Hundertstes, Grenze ist, aber auch Element des ganzen Hundert.« (Ebd.) Die andere Bestimmung des Etwas in seiner Grenze, in der es immanent ist, ist aber hingegen die Unruhe des Etwas, »der Widerspruch zu sein, der es über sich hinausschickt« (ebd.). So ist, so Hegel, »der Punkt diese Dialektik seiner selbst, zur Linie zu werden, die Linie die Dialektik, zur Fläche, und die, Fläche die, zum totalen Raum zu werden« (ebd.). Das Etwas in seiner immanenten Grenze muss folglich als der »Widerspruch seiner selbst« (ebd.) aufgefasst werden, durch den es über sich hinausgewiesen und hinausgetrieben wird. Als solche begründet die negative Selbstbezüglichkeit des Etwas seine Endlichkeit. »Die endlichen Dinge sind,« sagt Hegel daher an einer zentralen Stelle der Logik, »aber ihre Beziehung auf sich selbst ist, dass sie sich negativ auf sich selbst beziehen, eben in dieser Beziehung auf sich selbst sich über sich, über ihr Sein, hinauszuschicken. Sie sind, aber die Wahrheit dieses Seins ist ihr Ende. Das Endliche verändert sich nicht nur, wie Etwas überhaupt, sondern es vergeht, und es ist nicht bloß möglich, dass es vergeht, so dass es sein könnte, ohne zu vergehen. Sondern das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim des Vergehens als ihr Insichsein zu haben; die Stunde ihrer Geburt ist die Stunde ihres Todes.« (LI, 140)

Schon an dieser Stelle wird deutlich: Die Einheit des Endlichen und des Unendlichen, die Aufhebung des Endlichen in das Unendliche ist durch den Tod des Endlichen gestiftet, der dem endlichen als selbstbezügliche Negativität in einer Weise innewohnt, dass es sich in einer kontinuierlichen Antizipation desselben vollzieht.

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1.3.7. Die Grenze als Prozess: Die Dialektik von Schranke und Grenze Hegel entwickelt nun aus dem Gedanken des Selbstwiderspruches des Endlichen eine radikal prozessuale Auffassung der Grundstruktur der Wirklichkeit, wobei dem Begriff der Grenze erneut eine besondere Bedeutung zukommt. Zugleich benutzt er den Gedanken des Prozesses, um zum Begriff des Unendlichen überzuleiten. Hegel exponiert dabei seinen Unendlichkeitsbegriff zunächst in kritischer Abhebung von Kant und Fichte (was hier nur angemerkt werden kann). Hegel hat bekanntermaßen in beiden Philosophien Formen von SollensEthik gesehen, deren Schwäche er darin sah, dass in ihnen die Verwirklichung der Vernunft durch die Autonomie des Willens zur unendlichen bzw. absoluten Aufgabe wird, die sich in der Natur niemals vollkommen verwirklichen lässt. Hegel hat in diesen Gegensätzen Formen von Beschränkungen und Einschränkungen der Vernunft gesehen, die er mit seiner Konzeption des Verhältnisses des Endlichen und des Unendlichen gerade überwinden will. Diesbezüglich führt er nun – neben den Begriff der Grenze – den kantschen Begriff der Schranke und den des Sollens ein, wobei er jedoch beide Begriffe in spezifischer Weise dialektisch und in kritischer Wendung gegen Kant gebraucht. Da Hegels Grenzbegriff aber, wie wir sahen, zweischneidig ist, kommt es ihm natürlich entgegen, dass sich schon bei Kant zwei Begriffe für das Phänomen der Limitation finden. Insofern das Etwas seine Bestimmung (als das, was es an sich) nur dadurch verwirklichen kann, dass es über sich selbst bzw. seine Grenze hinausgeht, liegt im Ansichsein des Etwas die negative Beziehung auf seine von ihm auch unterschiedene Grenze. Diese Grenze, welche das Negative des Daseins des Etwas ist, d. h. die, die sein Anderssein oder seine Selbstdistanzierung begründet, nennt Hegel nun Schranke. Insofern Etwas – als das Andere des Anderen – fortfahrend über seine immanente Grenze hinauszugehen hat, um überhaupt mit sich zusammengehen zu können, muss es in diesem Sinne dieser Terminologie über seine Schranke hinausgehen. Die Schranke ist als erste oder einfache Negation einerseits die Negation des Anderen, andererseits – insofern das Etwas über seine Schranke hinzugehen hat – aber auch die Negation des Etwas selbst, dass sie sich im Hinausgehen dazu anschickt, selbst ein Anderes zu werden. Ferner muss die Grenze aber auch als Resultat der Selbstaufhebung des Prozesses betrachtet werden, in dem Etwas nun über seine sogenannte Schranke hinaus87 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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geht und darin seine Bestimmung erfüllt. Das Werdesein des Etwas, als fortfahrende Rückkehr aus der Entäußerung an das Andere, erscheint von daher zunächst als Bewegung, in der jede erreichte Schranke zur Grenze wird, die im folgenden Schritt wiederum als Schranke bestimmt ist. Hieraus ergibt sich offenkundig ein unendlicher Progress ins Unendliche im Sinne des Endlosen: »Etwas wird ein Anderes, aber das Andere ist selbst ein Etwas, also wird gleichfalls ein Anderes, und so fort ins Unendliche.« (8, 198) Allerdings ist diese Unendlichkeit nun genau das Gegenteil der Unendlichkeit, auf die Hegel hinaus will und die er im Gegensatz zum unendlichen Progress auch die affirmative Unendlichkeit nennt. Die im unendlichen Progress liegende Unendlichkeit ist aus Hegels Sicht als die Unendlichkeit des Verstandes nur eine sein-sollende Unendlichkeit. Was die nur sein-sollende Unendlichkeit von der wahren Unendlichkeit, die er als affirmative bezeichnet, unterscheidet, ist, dass die wahre Unendlichkeit im Endlichen auch zu sich kommt und damit das Endliche als ihr eigenes Moment enthält. 71 In dem nur Sein-Sollenden Unendlichen, im unendlichen Progress, in dem Etwas ein Anderes und aus diesem Anderen wiederum ein Etwas wird, ist es hingegen immer von Neuem ein anderes Etwas, das sich dem Unendlichen entgegenstellt und über das Hinauszugehen ist. Jedwede (scheinbar) überwundene Schranke wird wieder erneut zur Grenze. Aus Hegels Sicht handelt es sich bei diesem Unendlichen daher um ein beschränktes, bedingtes und daher sogar falsches Unendliches, da hier das Endliche – anstatt im Hinausgehen über seine Beschränkung das Unendliche zu verwirklichen – stattdessen als Schranke, als Grenze des Unendlichen aufgefasst wird. Ein beschränktes Unendliches wäre aber aus Hegels Sicht ein Paradox, d. h. gar kein Unendliches. Insofern es sich beim unendlichen Progress um eine nur sein-sollende Unendlichkeit handelt, geht Hegel nun zu einer Kritik des Begriffes des Sollens über. Da das Etwas seine Bestimmung nur allein darin verwirklichen kann, dass es über seine Schranke hinausgeht, und insofern Etwas seine Bestimmung zu erfüllen hat, liegt es in der Bestimmung des Etwas, dass dieses auch über seine Schranke hinausgehen soll: »Das Endliche«, so Hegel, »hat sich so als die Beziehung seiner BestimWenn Hegel im Kommenden das Allgemeine als »freie Liebe« deutet, die sich im Endlichen nur zu sich selbst verhält, dann ist dieser eminent theologische Gedanke in seiner Deutung des Verhältnisses des Unendlichen und Endlichen schon mit angelegt.

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mung auf seine Grenze bestimmt; jene ist in dieser Beziehung Sollen, diese Schranke.« (LI, 143) Nach der Seite betrachtet, dass Etwas nur in seiner Grenze ist und die Grenze in der Bestimmung etwas selbst als Schranke ist, geht etwas folglich in der Verwirklichung seiner Bestimmung über sich selbst hinaus. Dieses grenzüberschreitende Übersich-Hinausgehen fasst Hegel nun in der Tat als einen Grundzug des Lebendigen überhaupt auf – ein wichtiges, ja in unserem Zusammenhang zentrales Motiv, das wir im Kommenden bei Plessner wiederfinden werden. Dabei gilt zunächst das Motto: »Du kannst, weil Du sollst.« Schon die Pflanze geht so aus seiner Sicht »über die Schranke, als Keim zu sein, ebenso über die, als Blüte, als Frucht, als Blatt zu sein, hinaus; der Keim wird entfaltete Pflanze, die Blüte verblüht usw.« (LI, 146). Für den Stein mag seine Schranke keine Schranke sein, weil er nicht denkt, nicht empfindet. Aber selbst der Stein ist als Etwas aus Hegels Sicht in seine Bestimmung oder sein Ansichsein und sein Dasein unterschieden und geht in gewisser Weise über seine Grenze als Schranke hinaus, indem er mit seiner Umwelt insofern in chemischer Weise reagiert. »Enthält eine Existenz den Begriff aber nicht nur als abstraktes Ansichsein, sondern«, so Hegel, »als für sich seiende Totalität, als Trieb, als Leben, als Empfindung, Vorstellen usf., so vollbringt sie selbst in ihr dies, über die Schranke hinaus zu sein und hinauszugehen«. (Ebd.) Hier ist denn auch der Ort, an dem Hegel den kantschen Begriff der Schranke des Denkens, der Vernunft rügt: »Es pflegt zuerst viel auf die Schranken des Denkens, der Vernunft usf. gehalten zu werden, und es wird behauptet, es könne über die Schranke nicht hinausgegangen werden. In dieser Behauptung liegt die Bewusstlosigkeit, dass darin selbst, dass etwas als Schranke bestimmt ist, darüber bereits hinausgegangen ist. Denn eine Bestimmtheit, Grenze ist als Schranke nur bestimmt im Gegensatz gegen sein Anderes überhaupt als gegen sein Unbeschränktes, das Andere einer Schranke ist eben das Hinaus über dieselbe. Der Stein, das Metall ist nicht über seine Schranke hinaus, darum weil sie für ihn nicht Schranke ist.« (LI, 145)

Allerdings ist nun das Sollen als Hinausgehen über die Schranke selbst nur ein endliches Hinausgehen – wohingegen es aus Hegels Sicht darauf ankommt, über das Hinausgehen hinauszugehen. Denn das Sollen für sich bzw. als bloßes Hinausgehen führt – wie schon bemerkt – so wie Hegel es auffasst in einen unendlichen Regress hinein, in dem jede erreichte Grenze, wieder mit einer Negation behaftet, zur Schranke, d. h. zum Sollen herabgesetzt wird: Im wahrhaft 89 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Unendlichen hingegen aber ist aus Hegels Sicht »alle Bestimmtheit, Veränderung, alle Schranke und mit ihr das Sollen selbst verschwunden, als aufgehoben« (LI, 151). Heißt es einerseits: »Du kannst, weil Du sollst«, dann heißt es nun umgekehrt ebenso gut polemisch: »Du kannst nicht, weil Du sollst.« (LI, 144) Denn im bloßen Sollen ist ebenso sehr – wie abstrakten Begriff des Endlichen – die Schranke als Schranke ausgesprochen: »Was sein soll, ist und ist zugleich nicht. Also hat das Sollen wesentlich eine Schranke.« (LI, 145) Nun ist das Sollen mit der ihm immanenten Schranke aus Hegels Sicht überhaupt derselbe Widerspruch, der das Andere an sich, d. h. das Andere seiner selbst ist: In der Schranke ist die erste Negation, d. h. die eigene Grenze des Etwas als ein negatives, das zugleich wesentlich ist, gesetzt, wohingegen das richtig verstandene »Sollen« (d. h. nicht endliche Sollen) die Negation dieser Negation ist: die negative Beziehung des Endlichen auf seine von ihm auch unterschiedene Schranke – womit zugleich die Selbstaufhebung des Sollens ausgesprochen ist, denn das Sollen ist nur durch die Schranke. Warum kommt also das Sollen aus der Sicht des Verstandes im unendlichen Progress nicht zum Sein? Warum kommt es nicht zu einer Selbstaufhebung des Sollens? Hegel würde hierauf wohl antworten: Insofern das Allgemeine, Ideelle hier nicht als in sich konkret gedacht wird. Denn im unendlichen Progress ist die Beziehung zwischen Unendlichkeit (Allgemeinheit) und Endlichkeit (Einzelheit) als rein äußerliche Beziehung gedacht. Das Unendliche ist somit hier nicht im Endlichen als mit sich selbst identifiziert aufgefasst, sondern ist als das endlose Übergehen in immer neue Momente gedacht. Das Unendliche im Sinne des Endlosen ist damit hier gleichsam wie eine Brücke aufgefasst, die zu immer neuen Brücken zu Brücken usf. führt, ohne jemals an ein Ufer zu gelangen. Wird das Allgemeine hingegen als in-sich-konkret gedacht, dann entspringt das Einzelne einer Selbstunterscheidung des Allgemeinen und seine Bestimmung oder sein Sollen besteht darin, diese – und damit das Sollen selbst – aufzuheben. Das Sollen und die Schranke sind so aus Hegels Sicht in Wahrheit dieselbe »Entzweiung« (LI, 148), derselbe Unterschied des Ansichseins und des Dasein. Die Differenz besteht hier nur darin, dass das Sollen als das Unendliche, Allgemeine die Negation des Endlichen als »in sich reflektiert« (LI, 151) enthält, die Endlichkeit hingegen die »als Schranke gesetzte Schranke« (LI, 151) ist. Indem das Endliche nun als das Andere des Anderen über sich hinausgeht und als Beziehung-auf-sich seine Negation (Schranke) 90 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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negiert, bestimmt es sich nun aus Hegels Sicht selbst als das Unendliche. So ist es aus Hegels Sicht »die Natur des Endlichen selbst, über sich hinauszugehen, seine Negation zu negieren und unendlich zu werden« (LI, 150). Die Unendlichkeit, die Hegel hier ausspricht, ist damit eine, die durch die Beziehung des Etwas auf sein Anderes vermittelt ist und dieses Andere in sich aufgehoben hat. Denn, so Hegels Überzeugung, Etwas geht »in seinem Übergehen in Anderes nur mit sich selbst zusammen, und diese Beziehung im Übergehen und im Anderen auf sich ist die wahrhafte Unendlichkeit« (8, 201). Das wahrhaft Unendliche besteht darin, »in seinem Anderen zu sich selbst zu kommen« (8, 199) – in der Selbstfindung im Anderen. Als solches ist das wahrhaft Unendliche nichts anderes als das Leben; denn die Unendlichkeit des Lebens – wie sie sich im Leben der Gattung manifestiert, in der sich das einzelne Lebewesen transzendiert – besteht aus Hegels Sicht eben darin, sich unendlich im Anderen-seiner-selbst wiederzufinden und von dort aus zu sich zurückzukehren. Schon in den Frühschriften definiert Hegel so das Leben als »Vereinigung des Endlichen und des Unendlichen« (1, 420). 72

1.3.8. Für sich Sein: Die abstrakte Grenze seiner Selbst Das Etwas, das im Übergehen in Anderes nur mit sich selbst zusammengeht und darin seine Endlichkeit aufhebt, ist das wahrhaft Unendliche. Hegel nennt es Fürsichsein, denn es ist das aus der Negation der Negation unendlich in sich zurückkehrende Sein. Wesentlich für Hegels Begriff der Grenze ist in diesem Zusammenhang, dass Hegel den Begriff und die Analyse des Fürsichseins dazu benutzt, von der qualitativen zur quantitativen Grenze überzuleiten. Der Übergang wird dabei vermittelt durch die Dialektik des Einen und Vielen, womit Hegel implizit an Platons Parmenides, aber auch die Vorstellungen der frühen Atomisten wie Leukipp, Demokrit und Epikur anknüpfen kann. Das Fürsichsein als solches ist zunächst »Realität in höherem Sinne« (LI, 164), denn es enthält das Endliche als aufgehoben in sich. Hier gewinnt nun Hegels berühmtes Diktum seinen Sinn: »Das Endliche ist nicht das Reale, sondern das Unendliche« (LI, 164), denn das Vgl. Sell, a. a. O., S. 16 f., 51 f.; ferner: Hoffmann, Thomas Sören: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Eine Propädeutik, Wiesbaden 2012, S. 355.

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

Fürsichsein ist Idealität, aber als eine solche, die das Endliche als eines seiner Momente enthält: »Der Satz, dass das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus.« (LI, 172) Zunächst ist nun festzuhalten, dass dem Fürsichsein, insofern es als unendliche Rückkehr aus der Andersheit ist, nicht mehr wie dem Etwas ein Anderes gegenübersteht. Das Andere ist im Fürsichsein vielmehr »nur als ein aufgehobenes, als sein Moment; das Fürsichsein besteht darin, über die Schranke, über sein Anderssein so hinausgegangen zu sein, dass es als diese Negation die unendliche Rückkehr in sich ist« (LI, 175). Das Fürsichsein kann daher als das vollendete qualitative Sein verstanden werden, denn das Etwas enthält die Bestimmtheit nur relativ – das heißt in seinem Unterschied vom Anderen –, während das Fürsichsein »absolutes Bestimmtsein« (LI, 174) ist: »Das Fürsichsein ist die vollendete Qualität und enthält als solche das Sein und das Dasein als seine ideellen Momente in sich. Als Sein ist das Fürsichsein einfache Beziehung auf sich, und als Dasein ist dasselbe bestimmt; diese Bestimmtheit ist dann aber nicht mehr die endliche Bestimmtheit des Etwas in seinem Unterschied vom Anderen, sondern die unendliche, den Unterschied in sich als aufgehoben enthaltende Bestimmtheit.«

Hegel nennt als Paradigma des Fürsichseins das menschliche Ich: »Das nächste Beispiel des Fürsichseines ist das Ich. Wir wissen uns als daseiend zunächst unterschieden von anderen Daseienden und auf dasselbe bezogen. Weiter wissen wir dann aber auch diese Breite des Daseines als zugespitzt gleichsam zur einfachen Form des Fürsichseins. Indem wir sagen Ich: Ich&, so ist das Ausdruck der unendlichen und zugleich negativen Beziehung auf sich.« (8, 204)

Aber auch schon das Bewusstsein überhaupt kann als Beispiel für das Fürsichsein dienen, denn indem es einen Gegenstand, den es empfindet, anschaut, sich vorstellt usw., hat es seinen Inhalt als einen Ideellen in ihm: »[E]s ist in seinem Anschauen selbst, überhaupt in seiner Verwicklung mit dem Negativen seiner, mit dem Anderen bei sich selbst«. (LI, 175) Insofern nun das Fürsichsein unendliche Rückkehr aus dem Anderssein ist, ist daher die Bestimmtheit, welche am Dasein als solchem ein Anderes und Sein-für-Anderes ist, »in die unendliche Einheit des Fürsichseins zurückgebogen« und das Moment des Dasein ist im Fürsichsein aus Hegels Sicht als Sein-für-Eines vorhanden (LI, 176): es ist das Fürsichsein selbst, das sich auf sich als auf das aufgehobene Andere bezieht, und darin für das Eine ist, das es selbst ist. 92 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die qualitative Grenze

In der deutschen Redeweise: Was ist das für ein Ding? wird so aus Hegels Sicht in vorzüglicher Weise der idealistische Standpunkt ausgesprochen, dass Etwas insofern qualitativ bestimmt ist, »insofern dasjenige welches ist, und dasjenige für welches es ist, ein und dasselbe ist« (LI, 177 f.; Hervorh. S. R.). Das Fürsichsein hat des Weiteren betrachtet die Form der Unmittelbarkeit, denn als aus der Negation der Negation hervorgegangen, hat es seine Vermittlung hinter sich gelassen. Als gesetzte Negation der Negation ist das Fürsichsein ferner Fürsichseiendes – Fürsichseiendes aber nun paradoxerweise im Gegensatz zum Etwas mit seiner immanenten Grenze als die »ganz abstrakte Grenze seiner selbst – das Eins« (LI, 182). Insofern die Grenze ein Unterscheiden, ein Ausschließen beinhaltet, das Eins aber kein Anderes mehr außer sich hat, ist damit zugleich der Widerspruch am Fürsichseinden Eins zum Ausdruck gebracht.

1.3.9. Die Grenze als Bestimmung des Einen und Vielen Denn indem das Fürsichsein auf diese Weise Sich-Eines-ist, ist es sich auch ein Anderes: »Als seinem Begriffe nach sich auf sich beziehende Negation hat es den Unterschied in ihm« (LI, 183). Weil das Fürsichsein als Eins, als für sich Seiendes, als unmittelbar Vorhandenes fixiert ist, daher ist, so Hegel, »seine negative Beziehung auf sich zugleich Beziehung auf ein Seiendes; und da sie ebenso sehr negative ist, bleibt das, worauf es sich bezieht, als ein Dasein und ein Anderes bestimmt; als wesentlich Beziehung auf sich selbst ist das Andere nicht die unbestimmte Negation, als Leeres, sondern gleichfalls Eins. Das Eins ist somit das Werden zu vielen Eins.« (LI, 187)

Das Resultat dieser Dialektik ist daher zunächst die unendliche »Selbstzersplitterung des Eins« (LI, 193) – insofern das Eins Sichein-Unterschiedliches ist, ist es das »schlechthin mit sich Unverträgliche« (8, 205). Damit schließt es sich aus sich selbst aus. Das – wie Hegel sagt – außersichgekommene Eins sind viele Eins. Hegel nennt dieses Außersich-Kommen des Eins Repulsion. Die Repulsion des fürsichseienden Eins von sich selbst – sagt Hegel sehr anschaulich – »ist die Explikation dessen, was das Eins an sich ist; die Unendlichkeit aber als auseinander gelegt ist hier die außer sich gekommene Unendlichkeit« (LI, 188). Das außer-sich-gekommende Eins »gebärt« diese vielen Eins nicht, auch werden aus dem ersteren Eins nicht viele Eins, 93 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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»vielmehr ist das Eins […] nur dies, sich von sich selbst auszuschließen und als das Viele zu setzen, ein jedes der Vielen ist aber selbst Eins«. (8, 205) Dabei ist die Repulsion als Außer-sich-Kommen des Eins als »Repulsion dem Begriffe« nach von der »äußeren Repulsion« zu unterscheiden. Die äußere Reflexion betrachtet zunächst die Repulsion als das negative Verhalten einer schon vorhandenen – schlicht vorausgesetzten – Vielheit, deren Momente sich gegenseitig voneinander abhalten und gegenseitig ausschließen. In diesem Zusammenhang kommt Hegel auf Leibniz und den Atomismus zu sprechen. Vor der Atomistik gilt – so Hegel in Anspielung auf das Verhältnis Demokrit-Platon –, dass sie »den Begriff der Idealität« (LI, 189) nicht hat. Auch die Philosophie Leibnizens muss aus Hegels Sicht als eine Form von Atomismus aufgefasst werden. Denn der »Leibnizsche Idealismus nimmt die Vielheit unmittelbar als eine gegebene auf und begreift sie nicht als eine Repulsion der Monade; er hat daher die Vielheit nur nach der Seite ihrer abstrakten Äußerlichkeit« (LI, 189). Die äußere Reflexion setzt aber nicht nur – wie im Falle Leibnizens – aus Hegels Sicht die Vielheit fälschlicherweise schlicht voraus und betrachtet damit die Realität als Grundlage der Idealität – was aus Hegels Sicht eine Verdrehung des wahren Verhältnisses darstellt, sondern sie übersieht zweitens, dass die in der abstrakten Vielheit enthalten vielen Eins sich gerade insofern sie sich gegenseitig ausschließen, sich darin zugleich in konkrete Beziehung zueinander setzten: »[D]as Ausschließende steht mit dem noch in Verbindung, was von ihm ausgeschlossen wird«. (LI, 196) Aber auch Hegel vertritt von hieraus zunächst den Standpunkt, dass in der die Vielheit als solcher begründenden Repulsion zunächst eine trennende, disjunktive Beziehung zum Ausdruck kommt – sonst gäbe es keine Vielheit. Aber diese trennende Beziehung oder die Repulsion schlägt aus einer Sicht in ihr Gegenteil, die Attraktion, um und die vielen Eins werden wiederum Eins. Denn Hegel insistiert darauf, dass die trennende Beziehung, auf welcher die Vielheit beruht, die Abstraktion zu ihrer Grundlage hat und daher – ebenso wie die Schranke bzw. das Sollen (vgl. LI, 196) – über sich hinausweist: Das Viele ist nicht das losgelöste Gegenteil des Einen (bzw. des Eins), sondern eben das Anderssein des Einen an ihm selbst. Hegel bezieht so die dem Eins innewohnende Negativität auch auf die Leere, welche die Atomisten den Atomen als gleichursprüngliches Prinzip gegenüberstellten: Die Negativität ist der Quell der Leere. 73 73

Besonders würdigt Hegel hier die Vorstellung der Atomisten, dass die Leere zu-

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Die qualitative Grenze

Von dieser gilt einerseits, dass die vielen Eins in ihr nicht sind; die Leere ist das Sich-einander-Ausschließen der Vielheit. Aber die Leere enthält ferner auch die Vielheit als Eine; die Vielen als die Selbstzersplitterung des Eins sind gleichsam in der Grenze, die ihre Teilung (oder Disjunktion) ist, aufeinander bezogen. In diesem Sinne »sind die vielen auch in der Grenze, sie sind im Leeren, oder ihre Repulsion ist ihre gemeinsame Beziehung« (LI, 190, Hervorh. S. R.). Die Vielen sind also einerseits nur Viele, insofern sie sich unterscheiden, d. h. Nicht-Eins sind; aber der Unterschied identifiziert die Vielen zugleich miteinander und macht die Vielheit zu einer. Die Vielen sind gleichsam »eingeteilt« in ihrer gemeinsamen Grenze und in der Einheitlichkeit dieser Teilung liegt der Grund für das Umschlagen von Repulsion in Attraktion. Diesen Grund kann man sich einsichtig machen, wenn man das Verhältnis der vielen Eins zueinander mit dem des Etwas in seiner immanenten Grenze zu seinem Andern vergleicht. Das Anderssein des Etwas ist ein anderes Etwas, das gerade insofern ein Anderes ist, insofern es als das Nichtsein des ersteren Etwas über eine andere qualitative Bestimmtheit verfügt. Indem das Etwas und sein Anderes sich einander ausschließen, beinhaltet die immanente Grenze, die das Etwas gegen sein Anderes an ihm selbst hat und in der beide in ihren gegenseitigen Sich-Ausschließen zugleich konkret aufeinander bezogen sind, auch den qualitativen Unterschied beider gegeneinander. Das Weiße und das Schwarze unterscheiden sich voneinander, insofern sie beide Farben, aber eben unterschiedliche Farben sind. In ihrer »Ausschließlichkeit« sind sie im Sich-Einander-Ausschließen als Farben miteinander identifiziert, aber so, dass ihre »Ausschließlichkeit«, auch den Unterschied beider Sich-Einander-Ausschließenden gegeneinander enthält, der sie voneinander abhält. Die vielen Eins hingegen schließen sich einander aus, aber so, dass sie gerade durch ihr Einssein in ihrer immanenten Grenze miteinander identifiziert werden: »Die Vielen sind aber das eine, was das andere ist, jedes ist Eins oder auch Eins der Vielen; sie sind daher eins und dasselbe.« (8, 206) Anders als das Weiße oder Schwarze, werden die vielen Eins durch ihr Sich-einander-Ausschließen wieder in Eins gesetzt. So ist die Repulsion als das Hervorbringen nicht

gleich Quelle der Bewegung ist: »Die Ansicht, dass das Leere den Grund der Bewegung ausmache, enthält den tieferen Gedanken, dass im Negativen überhaupt der Grund des Werdens, der Unruhe der Selbstbewegung liegt«. (LI, 186)

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unterschiedener Qualität unmittelbar wieder ein Zusammensinken in Eins – die Attraktion. Die Repulsion ist, so Hegel, »als das negative Verhalten der vielen Eins gegeneinander ebenso wesentlich ihre Beziehung aufeinander; und da diejenigen, auf welche sich das Eins in seinem Repellieren bezieht, Eins sind, so bezieht es sich in ihnen auf sich selbst.« (LI, 206) Die Repulsion ist daher an ihr selbst ihr Anderes, die Attraktion »als Setzen der vorhandenen Ununterschiedenheit der Eins« (I, 194). Die vorhandene Ununterschiedenheit ist als solche in der immanenten Grenze der Eins gesetzt. Damit hat sich aus Hegels Sicht die Entwicklung des Fürsichseins vollendet: »Das Eins als unendlich, d. i. als gesetzte Negation der Negation auf sich selbst beziehend ist die Vermittlung, dass es sich als sein absolutes (d. h. abstraktes) Anderssein (die Vielen) von sich abstößt, und indem es sich auf dies, sein Nichtsein negativ, es aufhebend, bezieht, eben darin nur Beziehung auf sich selbst ist.« (LI, 198)

Hier hätte Hegel auch Platon zitieren können: »Und das Sein annehmen, nennst du das nicht Werden? – Ich nenne es so. – Und vom Sein ablassen, nennst du das nicht Vergehen? – Freilich. – Das Eins also, wie es scheint, da es das Sein erfasst und fahren lässt, wird auch und vergeht. – Notwendig. – Da es nun Eins ist und Vieles und werdend und vergehend, wird nicht, wenn es Eins wird, das Vielsein vergehen, wenn es aber Vieles wird, das Einssein vergehen? – Freilich.« 74

Das Eins, dass aus der Aufhebung der Repulsion qua Attraktion hervorgeht, ist nun aber nicht dasselbe, wie das abstrakte Eins, d. h. Eins als ganze abstrakte Grenze seiner selbst. Sondern es enthält vielmehr die Vermittlung – und damit auch die Vielheit – »in sich selbst als seine Bestimmung«: »Indem es die Repulsion in seiner Bestimmung enthält«, so Hegel, »erhält diese die Eins als Viele zugleich in ihm; es bringt sozusagen durch sein Attrahieren etwas vor sich; gewinnt einen Umfang oder Erfüllung« (LI, 195). Die qualitative Bestimmtheit, welche im Eins ihr An- und Fürsichsein erreicht hat, ist damit aus Hegels Sicht in die Bestimmtheit als aufgehobene übergegangen, und dies ist das Sein der Quantität.

Parmenides, 156. Hegel selbst hat den Parmenides bekanntlich als »berühmtestes Meisterstück der platonischen Dialektik« (19, 79) gewürdigt.

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Die quantitative Grenze

1.4. Die quantitative Grenze Quantität ist, so Hegel, »das reine Sein, an dem die Bestimmtheit nicht mehr Eins mit dem Sein selbst, sondern als aufgehoben oder gleichgültig gesetzt ist«. (LI, 209) Während am Etwas seine Grenze als seine Bestimmtheit ist, und zwar in seiner Weise, dass sich mit seiner Grenze auch seine Bestimmtheit ändert, so ist die quantitative Grenze zunächst das schlechthin veränderliche – »eine Grenze, die ebenso sehr keine ist« (LI, 209). Denn indem die Repulsion der vielen Eins unmittelbar in ihrer Gegenteil, die Attraktion und Kontinuität derselben überging, und das Fürsichsein hier somit schlechthin identisch ist mit dem Sein-für-Anderes, hat das quantitative bestimmte Fürsichsein nun kein anderes mehr außerhalb seiner, gegen das es abgrenzt wäre. Es setzt sich vielmehr affirmativ in demselben fort. Die Quantität bestimmt Hegel als reine Quantität, als begrenzte Quantität bzw. Quantum und als Grad. Dabei entspricht die reine Quantität dem Sein, das Quantum dem Dasein, und das Grad dem Fürsichsein. Dabei erweist sich der Grad als der auf die Spitze getriebene Widerspruch, welcher das Fürsichsein an und für sich ist, nämlich die reine Exklusivität und darin zugleich die absolute Äußerlichkeit zu sein.

1.4.1. Reine Quantität: Die Grenze, die keine ist Die reine Quantität ist zunächst wie das reine Sein Unmittelbarkeit. Als unmittelbare Beziehung auf sich enthält die Quantität die beiden Seiten des Prozesses, aus denen sie hervorging ideell: die Attraktion als Kontinuität und die Repulsion als Diskretion. Kontinuität und Diskretion begründen beide die Kategorie der Quantität als solche. Hegel stellt den Sachverhalt wie folgt dar: »Die absolute Sprödigkeit des repellierenden Eins ist in diese Einheit zerflossen, welche aber, als die Eins enthaltend, durch die innewohnende Repulsion zugleich bestimmt, als Einheit des Außersichseins Einheit mit sich selbst ist.« (LI, 212) Die Kontinuität ist also einerseits die »einfache, sich selbstgleiche Beziehung auf sich, die durch keine Grenze und Ausschließung unterbrochen ist.« Aber sie ist diese Einheit nicht als unmittelbare, sondern als Einheit der Fürsichseienden Eins. In der Kontinuität ist damit das Auseinandersein der Vielheit noch enthalten, aber wie Hegel sagt, als ein nicht Unterschiedenes, Ununterbrochenes. Die 97 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Kontinuität enthält daher auch die Diskretion, denn sie ist nur als Kontinuität des Vielen – ebenso wie bereits die Attraktion sich das Auseinandersein der vielen Eins sich voraussetzt. Umgekehrt enthält auch die Diskretion das Moment der Kontinuität, denn eine Teilung setzt ein Ungeteiltes voraus, das geteilt wird. Die Kontinuität, welche die Diskretion enthält, ist so aus Hegels Sicht, als »dasselbe der vielen Eins, die Einheit« (8, 212). Hegel führt folgendes Beispiel an: »Man sagt z. B. der Raum, den dieses Zimmer einnimmt, ist eine kontinuierliche Größe, und diese Hundert Menschen, die darin versammelt sind, bilden eine diskrete Größe. Nun aber ist der Raum kontinuierlich und diskret zugleich, und wir […] teilen den Raum dann auch ein, z. B. eine gewisse Länge in soundsoviel Fuß, Zoll usw., welches nur unter der Voraussetzung geschehen kann, dass der Raum an sich auch diskret ist. Ebenso ist dann auch andererseits die aus hundert Menschen bestehende diskrete Größe zugleich kontinuierlich, und das Gemeinschaftliche, die Gattung Mensch, welche durch alle Einzelnen hindurchgeht, und dieselben untereinander verbindet, ist es, worin die Kontinuität dieser Größe begründet ist.« (8, 213)

Kontinuierliche und diskrete Größe können daher nicht als unterschiedliche Arten von Größen betrachtet werden, sondern sie sind in Wahrheit Bestimmungen »desselben Ganzen« (8, 213). Als reine, unmittelbare Quantität ist dieses Ganze nun aber in der einseitigen Bestimmung der Kontinuität vorgestellt: Mit dem Begriff der Größe ist noch keinerlei bestimmte Größe impliziert. Aber auch die reine Quantität ist – so Hegel – nur, insofern sie Einheit unterschiedener Momente ist, wobei diese Momente jetzt jedoch nicht wieder als Attraktion und Repulsion vorgestellt werden dürfen, sondern jede in Einheit mit der anderen, d. h. als das Ganze bleibend. Auf diese Weise ergibt sich der Begriff des Quantums bzw. der begrenzten Quantität, in welchem der Unterschied von Kontinuität und Diskretion nicht nur an sich vorhanden, sondern als solcher gesetzt ist.

1.4.2. Die Zahl: begrenzte Quantität Die Quantität gesetzt mit der ausschließenden Bestimmtheit, die in ihr enthalten ist, bezeichnet Hegel als das Quantum bzw. als begrenzte Quantität. Das Quantum ist das Dasein der Quantität. Und so, wie das Dasein nur als qualitativ bestimmtes Sein ist, so ist das Quantum das quantitativ bestimmte Sein. Das quantitativ bestimmte Sein aber ist nichts anderes als die Zahl. Das Eins ist aus Hegels Sicht das Prin98 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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zip der Zahl, »aber als das Eins der Quantität« (LI, 230). Als ein solches Element der Quantität ist die Zahl sowohl kontinuierlich wie diskret, d. h. sie ist Einheit und Anzahl. Als Anzahl bestimmt sich das Quantum, weil es in der immanenten Grenze das Eingeteiltsein der Vielen – die Vielen, so wie sie »in« der Grenze sind – enthält. Als Einheit, weil dieses Viele – wie wir sahen – in der Teilung in Eins zusammensinkt. Das Quantum hat in diesem Sinne nicht nur eine Grenze, sondern ist als Ganzes eben diese Grenze selbst – die Zahl ist »die Grenze, als in sich mannigfaltig gesetzt« (LI, 232). Zugleich schließt die Grenze anderes Dasein, d. h. andere Viele aus; das Quantum hat eine Bestimmung gegen andere Quanta – sowie das Etwas gegen sein Anderes. Das Quantum ist damit »sich auf sich beziehende, b) umschließende und c) anderes aus–schließende Grenze« (LI, 232). Als sich-auf-sich-beziehende (d. h. ideelle) Grenze ist die Zahl, so Hegel, Gedanke, aber »der Gedanke als ein sich vollkommen äußerliches Sein«, »der die Äußerlichkeit der Anschauung zu seiner Bestimmung habende Gedanke« (8, 218). Man kann aber trotzdem die Zahl als eine Erscheinungsweise der Idee betrachten, weil sie – allein darin, dass sie überhaupt Einheit (eine Drei, eine Vier, etc.) ist – die bloße Vielheit transzendiert und dieselbe als immanente Selbstunterscheidung des Einen in der Grenze ausweist. Hegel würdigt in diesem Zusammenhang durchaus die Pythagoreer, die »in Zahlen philosophiert und die Grundbestimmung der Dinge als Zahl« (8, 220) aufgefasst haben. Die Pythagoreer stehen aus Hegels Sicht zwischen den ionischen Philosophen und den Eleaten. Während die ersteren das Wesen der Dinge als etwas Materielles betrachteten, und letztere zum reinen Denken in der Form des Seins fortgeschritten seien, bildet die pythagoreische Philosophie »gleichsam eine Brücke zwischen dem Sinnlichen und dem Übersinnlichen« (8, 221).

1.4.3. Der Grad als über sich selbst hinaustreibende Grenze Die Grenze ist mit dem Ganzen des Quantums selbst identisch. Als Anzahl bzw. als »Grenze, die in sich mannigfaltig ist«, ist die Grenze extensives; als einfache Bestimmtheit bzw. Einheit intensive Größe oder Grad. Die extensive Größe – man denke zum Beispiel an ein Längenmaß – ist somit von der Zahl überhaupt nur dadurch unterschieden, »dass ausdrücklich die Bestimmung der Vielheit in dieser gesetzt ist«. Als extensive Größe ist die Zahl »die Beziehung-auf-An99 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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deres innerhalb ihrer selbst« (LI, 251). Die Anzahl als das Viele der Grenze ist jedoch nicht ein in sich Ungleiches, sondern ein Kontinuierliches – jedes der Vielen ist das, was das andere ist. Das Viele fällt daher – so Hegel – »für sich selbst in seine Kontinuität zusammen und wird einfache Einheit« (LI, 251). In dieser einfachen Bestimmung der Grenze wird es intensive Größe, d. h. Grad – z. B. ein bestimmter Temperaturgrad oder eine bestimmte Farbintensität. Hegel insistiert darauf, dass sich jede extensive Größe auch als intensive – und umgekehrt – ausdrücken lässt: Einer als Hitze gefühlten Temperatur (d. h. als intensive Größe/Grad) entspricht so z. B. ein gewisse Ausdehnung des Quecksilbers im Thermometer; mit einer intensiveren Farbe lässt sich ein größere Fläche einfärben, als mit einer schwächeren. Extensive Größe und intensive Größe sind letztendlich »eine und dieselbe Bestimmtheit des Quantums«; der Unterschied ist nur, dass »die eine die Anzahl innerhalb ihrer, die andere dasselbe, die Anzahl außerhalb ihrer hat« (LI, 254). Aber der Grad – z. B. als der zehnte, zwanzigste etc. – unterscheidet sich auch von anderen Graden, der zehnte Grad liegt zwischen dem neunten und dem elften. Trotzdem ist er als zehnter Grad nicht als bloße Summe und Anzahl seiner Vorgänger aufzufassen. Das äußerliche Bestimmtsein des Grades macht vielmehr seine einfache Bestimmtheit aus. Die Grade bilden auf diese Weise notwendig eine kontinuierliche, ins Unendliche fortgehende Reihe, die nie zum Abschluss kommen kann, da es immer – nach jedem n – noch ein n +1stes Quantum geben muss, das als die Bestimmtheit von n ist: »Das Quantum hat in seinem Begriffe ein Jenseits seiner zu haben.« (LI, 262) Im Grad ist daher aus Hegels Sicht der Begriff des Quantums bzw. der Zahl gesetzt: »Es ist die Größe als gleichgültig für sich und einfach, so dass sie aber die Bestimmtheit, wodurch sie Quantum ist, schlechthin außer ihr in anderen Größen hat.« Damit ist zugleich der Widerspruch des Quantums zum Ausdruck gebracht, nämlich insofern, als dass hier die »fürsichseiende gleichgültige Grenze« zugleich die »absolute Äußerlichkeit« ist. Aus diesem Widerspruch resultiert aus Hegels Sicht der unendliche quantitative Prozess als »eine Unmittelbarkeit, die unmittelbar in ihr Gegenteil, das Vermitteltsein (das Hinausgehen über das soeben schon gesetzte Quantum), und umgekehrt, umschlägt« (LI, 218). Das Quantum als die »sich über sich selbst hinaustreibende Grenze« ist somit als die unendlich sichauf-sich beziehende Negativität die Nachfolgebestimmung des sich aus sich ausschließenden, repellierenden Eins. Aber während die vie100 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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len Eins noch Andere gegeneinander – äußerliche Wirklichkeiten füreinander – waren, ist das Quantum dieses Anderssein an ihm selbst: »[E]s ist an ihm selbst gesetzt sich über sich hinauszuschicken und ein Anderes zu werden«. (LI, 260) Das Quantum als die sich über sich selbst hinaustreibende Grenze enthält damit schon die Bestimmung eines Etwas, das sich in seiner Grenze als seine Grenze vollzieht und das darin gesetzte Sich-Äußerlichsein unendlich aufhebt; es kommt aber nun darauf an, das darin angelegte Element des Selbstbezüglichkeit herauszuarbeiten, d. h. die Rückkehr der Qualität in der Quantität.

1.4.4. Das quantitative Verhältnis Hegel sieht diese qualitative Bestimmtheit des Quantums darin liegen, dass das Quantum in der Äußerlichkeit, in die es sich als sein Jenseits unendlich hinausschickt, zugleich auf sich bezogen bleibt, insofern das Quantum sich selbst in seiner fürsichseienden Bestimmung äußerlich ist. Das Jenseits des Quantums ist so zwar erstens ein Nichtsein des Quantums, aber zweitens steht das Quantum – wie schon bemerkt – in Kontinuität mit diesem seinem Jenseits, denn »das Quantum besteht eben darin, das Andere seiner selbst, sich selbst äußerlich zu sein; so ist dies Äußerliche ebenso sehr nicht ein Anderes als das Quantum; das Jenseits oder das Unendliche ist also selbst ein Quantum« (LI, 262 f.). Das Hinausschicken des Quantums über sich ist daher nicht nur Negation, sondern auch Negation dieser Negation. Indem das Quantum übergeht in das, was jenseits seiner selbst ist, hebt es sich so einerseits auf. Aber das Jenseits, welches als das sich-über-sich-hinausschickende-Quantum ist, wird ebenfalls aufgehoben, denn es bestimmt sich als dasjenige Quantum, wodurch das erstere Quantum in seiner Äußerlichkeit bei sich selbst war – das Jenseits ist damit als ein »eigenes Moment des Quantums bestimmt« (LI, 279). Was somit vorhanden sind, sind einerseits zwei Quanta, »die jedoch aufgehoben sind, und diese Einheit ist die Bestimmtheit des Quantums« (LI, 279). Die Bestimmtheit des Quantums ist aber nichts anderes als die Rückkehr der Qualität in der Quantität: Das quantitative Verhältnis als das Bestimmtsein der Zahl durch die Zahl (d. h. durch sich selbst) ist die Vereinigung von Fürsichsein und Äußerlichsein. Diese Vereinigung liegt aus Hegels Sicht eigentlich in jedem arithmetischen Verhältnis zugrunde: In dem Verhältnis 2 : 4 – 101 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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so ein Beispiel Hegels – haben wir zwei Größen, die nicht in ihrer Unmittelbarkeit als solche gelten, sondern bei denen allein ihre gegenseitige Beziehung aufeinander relevant ist, d. h. das ist, was »wirklich zählt«. Diese Beziehung ist selbst eine Größe, nämlich der Exponent (heute würde man sagen: Quotient) des Verhältnisses; würde man den Exponenten ändern, würde sich damit das ganze Verhältnis als solches ändern, wohingegen das Verhältnis 4 : 2 auch gleich dem Verhältnis 6 : 3 ist. Mit dem quantitativen Verhältnis hat damit das Quantum seine Qualität zurückerhalten.

1.4.5. Das Maß: Quantitative Grenze als qualitative Bestimmtheit Das quantitative Verhältnis ist aber noch eine unvollkommene Verknüpfung der Quantität und der Qualität, denn die Seiten des Verhältnisses sind noch unmittelbare Quanta; die qualitative und die quantitative Bestimmung noch einander äußerlich. Nach ihrer Wahrheit aber ist das Quantitative selbst Beziehung auf sich in seiner Äußerlichkeit – es ist das Maß. Die Idee des Maßes kommt aus Hegels Sicht in der Mathematik im Potenzverhältnis zum Ausdruck, insofern das Anderssein der Zahl an sich selbst – die Anzahl der Einheiten – hier selbst die Einheit ist. »Die Potenz ist eine Menge von Einheiten, deren jede diese Menge selbst ist.« (LI, 382) Auch im Potenzverhältnis ist das Quantum als das sich Äußerliche vorhanden, aber diese Äußerlichkeit ist so als sein Moment gesetzt, dass es eben »in ihr sich auf sich selbst bezieht, Sein als Qualität ist« (LI, 383). Die zur Potenz erhobene Quantität ist aber ist nichts anderes als die zurückgekehrte Qualität. Die im Quantum zurückkehrende Qualität ist nun aus Hegels Sicht zunächst das qualitative Quantum – d. h. »ein Quantum, an welches ein Dasein oder eine Qualität gebunden ist« (LI, 224). Hegel erinnert in diesem Zusammenhang an die antike Auffassung des Maßes, der zufolge man das Maß als eine Definition des Absoluten betrachten kann; nämlich in dem Sinne, dass »Gott das Maß aller Dinge ist«: Diese Auffassung läuft aus seiner Sicht darauf hinaus, dass ihr zufolge »er es sei, welcher allem seine Grenze gesetzt, dem Meer und dem festen Lande, den Flüssen und den Bergen und ebenso den verschiedenen Arten von Pflanzen und Tieren« (8, 225). Im frühen griechischen Denken – so Hegel weiter – findet sich ferner die Kategorie des Maßes im Sinne eines ethischen Ideals, im Sinne der Nemesis: eine Vorstellung, der zufolge alles Menschliche – Reichtum, 102 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Ehre, Macht usw. – sein bestimmtes Maß hat, dessen Überschreitung vermessen ist und nur ins Verderben führen kann. Hegel selbst hingegen sieht die Idee des Maßes insbesondere auf dem Gebiet des höheren organischen Lebens verkörpert, insofern quantitative Bestimmungen – sowohl im Ganzen, als auch in den Teilen – den Organismen nicht gleichgültig sind, womit er wohl meint, dass z. B. eine Maus daher wohl kaum die Größe eines Elefanten haben könnte (und umgekehrt) und das Bein einer Biene nicht den Umfang des Beins eines Rindes haben könnte. (Vgl. LI, 396) In der Tat besitzt etwas ein Maß, insofern es gegen seine Grenze nicht mehr – wie die reine Quantität – gleichgültig ist, sondern die Grenze ist im Maß als sich auf sich beziehende Äußerlichkeit selbst die qualitative Bestimmtheit dieses etwas. (LI, 394 ff.) Im Maß ist damit schon ein entscheidender Schritt hin zur Transformation der Grenze in Urteil, d. h. der Kultivierung der Grenze getan: Denn das Maß ist schon die Grenze als ein wesentlicher Unterschied, in dem etwas in Beziehung zu sich selbst steht. Aber das Maß enthält die Einheit von Qualität und Quantität (Fürsichsein und Äußerlichkeit) als eine unmittelbare – die »im Maß vorhandene Identität der Quantität und der Qualität ist nur erst an sich, aber noch nicht gesetzt« (8, 226). Das Maß ist daher zu keinerlei Entwicklung fähig; es ist bar jeglicher Geschichtlichkeit – es ist als solches statisch (Maßstab) und darin gleichsam von je her seiend. Daher tritt am Maß auch sogleich der Unterschied der Qualität und der Quantität auf unmittelbare Weise hervor. Denn dass etwas ein Maß hat, besagt sogleich, dass einerseits seine quantitativen Bestimmungen in gewissen Maßen verändert werden können, dass andererseits aber auch dieses gleichgültige Vermehren oder Vermindern eine Grenze hat, an der es zu dem sprichwörtlichen Umschlagen von Quantität in Qualität kommt: So kann die Temperatur des Wassers etwa bis um eine gewisse Überoder Untergrenze (Gefrierpunkt/Siedepunkt) vermindert oder erhöht werden, ohne dass eine qualitative Veränderung einsetzt; wird aber die Obergrenze bzw. Untergrenze überschritten, dann schlägt Wasser in Dampf oder in Eis um – Wasser geht in Dampf oder Eis über. Am Maß ist das quantitative, sich-äußerliche also noch nicht vollkommen aufgehoben; auch dem Maß – insofern es eben in gewissen Maßen veränderbar ist und dieser quantitativen Veränderung zugleich gleichgültig gegenübersteht – inhäriert eine Unbestimmtheit in Bezug auf das, was an ihm selbst real und was an ihm ideell ist. Hegel deutet, im Gesamtkontext der Logik betrachtet, diese Unbestimmt103 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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heit dahingehend, dass objektives Sein nur dann ein vollkommen bestimmtes Sein hat, wenn es die Form der Selbstbestimmung hat; oder – was dasselbe ist – dass die unmittelbare Identität solange nur abstrakte Identität ist, solange hier kein wirkliches Selbst vorliegt, das mit sich als solchem durch die Aufhebung aller Gegensätze identifiziert ist. Das Umschlagen von Quantität in Qualität, dort, wo ein bestimmtes Maß überschritten ist, ist aus dieser Perspektive betrachtet gewissermaßen das Element der Lebendigkeit, das dem Maß inhäriert, das sich als solches aber in seiner Unmittelbarkeit in diesem Hinausgehen zugrunde richtet. Das Maß enthält also die Unterscheidung der Momente der Quantität und der Qualität, aber die weitere logische Entwicklung besteht darin, dass »die Identität, welche sie an sich sind, als ihre Beziehung aufeinander wird, d. i. gesetzt wird« (LI, 391). Dies geschieht, indem das Maß »sich zu sich selbst ins Verhältnis und damit zugleich als Moment setzt« (LI, 391). Auf diese Weise wird das Maß das, was es »seinem Begriffe nach ist«, d. h. es geht in das Wesen über. Den Übergang zwischen Maß und Wesen leistet dabei der Begriff des Maßlosen.

1.4.6. Das Maßlose Das Maßlose ist zunächst das »Hinausgehen eines Maßes durch seine quantitative Natur über seine Qualitätsbestimmung« (8, 227). In diesem Hinausschreiten triumphiert gleichsam die Quantität über die Qualität, da – wie sich zeigte – die Quantität überhaupt als ein solches Hinausschreiten über sich ist. Indem nun die im Maß vorhandene Quantität eine gewisse Grenze überschreitet, so wird damit die demselben entsprechende Qualität aufgehoben. Aber hiermit wird nicht die qualitative Bestimmtheit überhaupt eliminiert, sondern eine andere Qualität tritt an die Stelle der ersteren: Eis wird zu Wasser, Wasser zu Dampf etc … Insofern diese ebenso quantitativ bestimmt ist, ist das Maßlose gleichfalls wiederum ein Maß – ein Vorgang, der aus Hegels Sicht als ein unendlicher Prozess vorgestellt werden kann – »als das sich im Maßlosen Aufheben und Wiederherstellen des Maßes« (8, 228). Hegel veranschaulicht diesen Prozess auch mit dem Bild einer Knotenlinie, wo jeder Knoten einem Umschlagen von Quantität und Qualität entspricht und die Abstände zwischen den Knoten der bloßen, gleichgültigen Veränderung der Quantität. Das Resultat dieses Prozesses der unendlichen Selbstüberbietung des 104 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Das Wesen: Die Grenze als Selbstvermittlung

Maßes und dem darin angelegten erneuten Zusammengehens-mitsich ist nun aus Hegels Sicht, dass die »Unmittelbarkeit, welche noch dem Maße als solchem zukommt, aufgehoben wird« (8, 228). Im Maß verfügen Quantität und Qualität nur über eine »relative Identität« (8, 228). Diese relative Identität wird jedoch zugunsten ihrer direkten, einfachen Beziehung-auf-sich im Hinausgehen des Maßes über sich aufhoben, insofern dieses einerseits Negation – d. h. das Sich-Aufheben des Maßes im Maßlosen –, aber auch »Negation dieser Negation« als das unendliche Sich-Wiederherstellen des Maßes ist. Das aus der Negation der Negation hervorgehende affirmative Unendliche hat nun nicht das Sein und das Nichts oder das Etwas und sein Anderes zu seinen Seiten, sondern die Qualität und die Quantität. Dabei erwies sich – wie wir sahen – die Qualität als Prozess des Übergehens in die Quantität; die Quantität aber wiederum als ein Übergehen in die Qualität. Während aber nun im Maß die Einheit der Qualität und der Quantität nur an sich vorhanden ist, tritt im Prozess des Sich-Aufhebens des Maßes und Wiederherstellen des Maßes dies Einheit an- und fürsich hervor: »als einfache Beziehung-auf-sich, welche das Sein überhaupt und dessen Formen als aufgehobene in sich enthält« (8, 229). Die Identität, welche die Quantität und die Qualität an sich – als ihre Beziehung aufeinander – sind, wird auf diese Weise so gesetzt, dass sich das Maß unmittelbar zu sich selbst ins Verhältnis und damit zugleich als Moment setzt; eine Vermittlung, durch die es als Aufgehobenes bestimmt ist. Das Sein oder die Unmittelbarkeit, »welche durch die Negation ihrer selbst Vermittlung mit sich und Beziehung auf sich selbst ist, somit ebenso Vermittlung, die sich zur Beziehung auf sich, zur Unmittelbarkeit aufhebt« (8,229), nennt Hegel das Wesen.

1.5. Das Wesen: Die Grenze als Selbstvermittlung In der Logik des Wesens vollzieht sich der erste entscheidende Schritt in Bezug auf die Transformation der Grenze ins Urteil. Das Maß enthält schon die Einheit von Grenze und Selbstbezüglichkeit, damit die verinnerlichte wesentliche Grenze; aber es ist diese Grenze als rein Ansichseiendes, nicht An- und Fürsich-Seiendes, d. h. es ist sich in seiner Grenze noch nicht vollkommen selbstbezüglich geworden. Daher der statische Charakter des Maßes. Eben diese Selbstbezüglichkeit ereignet sich aber nun im Wesen, das Hegel auch als reine Selbst105 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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bewegung und Selbstvermittlung charakterisiert – eine Bewegung, die Hegel im Ausgang von Kant als Reflexion bezeichnet, wobei er die Reflexion im Gegensatz zu diesem jedoch nicht als Bewegung der Urteilskraft, sondern als ontologische Kategorie auffasst – als »Selbstentfaltung in die äußere Wirklichkeit«. 75 Anderes als bei der Entäußerung des Daseins in seinem Hinausgehen-über-sich oder Übergehen-in-Anderes handelt es sich jedoch nun bei der Bewegtheit des Wesens um eine reine Selbstbewegung, die sich in ihren Entäußerungen – dem Setzen der äußeren Wirklichkeit – nicht verliert, sondern unmittelbar bei sich, »In-einem« bleibt. Das ist im Rahmen von Hegels System als Ganzem ein wichtiger Schritt zur begrifflichen Fundierung des Lebendigen. Denn für Hegel ist das Leben nicht primär individuelles, endliches Leben, sondern das Leben der Gattung. Dieses muss als unendliche Selbstbewegung aufgefasst werden: Nur so kann das Leben in seiner Wurzel als ideell und damit als vorgeformter Geist interpretiert werden. Hegel steht hier in einer Tradition, die von Platon über Aristoteles bis hin zu Plotin reicht, der zufolge das individuelle Leben als solches nur gedacht werden kann, wenn man davon ausgeht, dass es aus einem zeitlosen Grund emaniert. 76 Dieser zeitlose Grund ist aus Hegels Sicht das Wesen als dynamische Selbstvermittlung, in der die Bewegung stets in sich selbst bleibt und alles Übergehen unmittelbar sich in sich aufhebt: »Die Bewegung wendet sich als Fortgehen unmittelbar in ihr selbst um und ist nur so Selbstbewegung – Bewegung, die aus sich kommt […].« (LII, 28) Hegel erinnert in diesem Zusammenhang daTaylor, a. a. O., S. 338. Hegel bearbeitet in seiner Wesenslogik ein Problem, um dass es auch Platon ging, nämlich die Frage, wie die Kluft zwischen Idee und Einzelding, Unendlichem und Endlichem zu überbrücken ist. Platon führte diesbezüglich in seinem Spätdialog Timaios bekanntlich neben den immerseienden Ideen noch einen weiteren Ewigkeitsbegriff ein, nämlich den des Aions. Der Demiurg machte, so Platon, »von der in Einem bleibenden Ewigkeit (Aion) ein nach Zahlen vorrückendes aionisches Abbild, das wir Zeit genannt haben« (37 d, zit. in der Übers. von Hans Günter Zekl, Hamburg 1992). Der Aion ist der Begriff, mit dem Platon die Kluft zwischen Ideenkosmos und sinnlicher Welt überbrücken möchte. Anscheinend hieß der Begriff Aion ursprünglich, wie bei Homer etwa, gar nichts anderes als »Lebenskraft«, »Quell des Lebens«, »Ursprung und Prinzip des Lebens«, aber auch »Lebensganzheit«, »Lebenszusammenhang« und wurde erst später um temporale Bedeutungskomponenten erweitert. Vgl. hierzu: Böhme, Gernot, Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant, Frankfurt am Main 1974, S. 81; Gloy, Karen, Studien zur Platonischen Naturphilosophie im Timaios, Würzburg 1986, S. 54 f.; Theunissen, Michael, Negative Theologie der Zeit, Frankfurt am Main 1991, S. 107.

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ran, dass das Partizip Perfekt des Verbes »Sein« sich etymologisch aus dem Wort »Wesen« ableitet: »Die Sprache hat im Zeitwort sein das Wesen in der vergangenen Zeit, »gewesen«, behalten; denn das Wesen ist das vergangene, aber zeitlos vergangene Sein.« (LII, 13) In diesem Sinne ist das Wesen bei Hegel Leben; und zwar unvergängliches, ewiges Leben, in dem Sinne, in dem Plotin vom Leben Gottes sagte: »Leben ist, das in demselben bleibt, da es immer das Ganze gegenwärtig hat« 77, die reine »Energeia des Lebendigen« 78. Als ein solch unendliches Leben, in dem das endliche Leben aus Hegels Sicht sich gründet, steht das Wesen als Leben aber nun zunächst dem Begriff, d. h. dem Subjekt mit Erkenntnisvermögen gegenüber: »Das Wesen ist Anundfürsichsein, aber dasselbe in der Bestimmung des Ansichseins; denn seine allgemeine Bestimmung ist, aus dem Sein herauszukommen oder die erste Negation des Seins zu sein. Seine Bewegung besteht darin, die Negation oder Bestimmung an ihm zu setzen, dadurch sich Dasein zu geben und als unendliches Fürsichsein zu werden, was es an sich ist.« (LII, 16)

Bedingung der Möglichkeit dieser lebendigen Selbstbewegung und Selbstvermittlung bzw. Reflexion, die das Wesen im Modus des Ansichseins (d. h. ideell) ist, ist die Negation, die nun nicht nur selbstreferentiell, sondern absolut und autonom auftritt. 79 Das Wesen ist das Andere an- und fürsich und bezieht sich auf keinerlei bloß vorausgesetztes, unmittelbares Sein: »In dem Werden des Seins liegt der Bestimmtheit das Sein zugrunde und sie ist Beziehung auf Anderes. Die reflektierte Bewegung hingegen ist das Andere als die Negation an sich, die nur als sich auf sich beziehende Negation ein Sein hat.« (LII, 24) Daher geht die Autonomisierung der Negation hier unmittelbar mit der Aufhebung der Grenze als trennende Beziehung zwischen voneinander (scheinbar) unabhängig existierendem Sein auf. Im Wesen, sagt Hegel, »findet kein Übergehen mehr statt, sondern nur Beziehung« (8, 229). Wenn in der Sphäre des Seins Etwas zu etwas anderem wird, d. h. Etwas in etwas anderes übergeht, dann bedeutet dies zugleich die Auflösung des ersteren Etwas. Denn in der Grenze »trennt« sich – wie wir sahen – etwas von sich selbst. Nicht so hingegen in der Sphäre des Wesens. Für das Wesen gilt in diesem Sinne in Bezug auf die Grenze dasselbe, wie für das quantitative Sein: 77 78 79

Plotin, Enneaden, III 7, 3, 16 f. Plotin, Enneaden, III 7, 6,11. Vgl. Koch, a. a. O., S. 2.

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es ist die »absolute Gleichgültigkeit gegen die Grenze« (LII, 15). Denn das Wesen ist nicht »das Sein mit der Negation oder Grenze, sondern die Negation mit der Negation« (LII, 24). Somit ist das Wesen »das Selbständige, das ist als durch seine Negation, welche es selbst ist, sich mit sich vermittelnd« – es ist die »identische Einheit der absoluten Negativität und der Unmittelbarkeit« (LII, 22). Die wesentliche Unmittelbarkeit resultiert somit aus der »Gleichheit der Negation mit sich«, diese Gleichheit der Negation mit sich ereignet sich aber nur als die »negierte Negation«. (LII, 24) Das Anderssein ist damit hier eben nicht mehr »das qualitative, die Bestimmtheit, Grenze«, sondern vielmehr gilt: Im Wesen, dem sich auf sich beziehenden, »ist die Negation zugleich als Beziehung, Unterschied, Gesetztsein, Vermitteltsein« (8, 239). Eben dies, dass sich die Grenze hier in den Dreh- und Angelpunkt der Selbstvermittlung des Wesens transformiert, nähert sie sich dem Urteil an. Hegel nennt nun – wie schon bemerkt – die Selbstbewegung und Vermittlung des Wesens im Folgenden »Reflexion«; und von Reflexion spricht er auch als von einem »Scheinen des Wesens in sich selbst« (LII, 35): »Scheinen-in-sich« ist damit die Nachfolgekategorie des »Übergehens in Anderes«, die für die Seinslogik zuständig war. Mit dem Terminus »Schein« rekurriert Hegel dabei auf die klassische Dichotome von Wesen und Erscheinung. Dabei zielt er einerseits darauf ab, zu erweisen, dass die unmittelbare Wirklichkeit in Wahrheit Erscheinung ist. Demnach gibt es nichts unmittelbar Gegebenes, sondern die Dinge beruhen auf einer zugrunde liegenden Basis, durch die sie ins Sein »gesetzt« sind. In diesem Sinne lautet der Satz des Wesens: »Dasein ist Gesetztsein.« (LII, 32) Denn auf diese Weise wird »das Sein nach seiner einseitigen Bestimmung, Unmittelbares zu sein, zu einem Negativen herabgesetzt, zu einem Schein« (8, 231). Der Schein des Wesens ist aus dieser Perspektive der »Schein der Positivität«. 80 Das Unmittelbare soll aber im Folgenden auch nicht als bloße Erscheinung (etwa als Phänomen im Gegensatz zum Dingan-sich im Sinne Kants) verstanden werden, sondern im Gegenteil: Das Unmittelbare, Erscheinende soll als Manifestation der zugrunde liegenden Notwendigkeit, der Totalität, aufgefasst werden, die Hegel Wesen nennt: Das Wesen muss erscheinen. Hegels Anliegen ist – wie Thomas M. Schmidt zu Recht herausstellt – in diesem Sinne ein zweifaches: 80

Theunissen, a. a. O., S. 146 ff.

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»Die traditionelle Ontologie kann […] den im Prinzip richtigen Gedanken, dass das unmittelbar Gegebene nur Schein und nicht das Wahre sein kann, nicht angemessen explizieren, weil der Schein als das bloß Unwahre gegenüber dem substantiellen, reflexionsunabhängigen Sein gedacht wird. Die Subjektphilosophie verfehlt dagegen den Sinn ihrer an sich richtigen Prämisse, Wirklichkeit als Schein, als Erscheinung zu verstehen, die in ihrer Reflexion den Grund ihrer Objektivität und Erkennbarkeit findet, da sie die Reflexion als bloß subjektive Denktätigkeit interpretiert.« 81

Die Schwierigkeit, das Wesen in seiner Reflexion – wenn diese als Bewegung der Wirklichkeit aufgefasst wird – adäquat begrifflich zu fassen, liegt dabei darin, dass es hier kein Substrat der Bewegung gibt, das bewegt werden würde. Sondern das Selbst dessen, was sich hier objektiv bewegt, ist als solches auch nur in der Bewegung der sich auf sich beziehenden Negativität gegeben: Das Wesen treibt in diesem Sinne seine Gleichheit mit sich – die wesentliche Unmittelbarkeit – erst darin hervor, dass es sich negativ auf sich bezieht, d. h. indem es sich von sich selbst abstößt. Das Wesen ist demnach paradoxerweise wesentliche Unmittelbarkeit, insofern es »das Aufheben seiner Gleichheit mit sich, wodurch es erst Gleichheit mit sich ist« (L II 27). Die »Rückkehr des Wesens« ist somit sein »Abstoßen von sich selbst« (LII, 27). Das scheinbar vorgefundene Unmittelbare wird nur darin, dass es »verlassen« wird; »seine Unmittelbarkeit ist die aufgehobene Unmittelbarkeit« (LII, 27). In diesem Sinne ist die Reflexion sich selbst voraus: »Die Unmittelbarkeit kommt überhaupt nur als Rückkehr hervor und ist dasjenige, welches der Schein des Anfangs ist, der durch die Rückkehr negiert wird. Die Rückkehr des Wesens ist somit sein Abstoßen von sich selbst. Oder die Reflexion-in-sich ist wesentlich das Voraussetzen dessen, aus dem sie Rückkehr ist.« (LII, 27)

Das Unmittelbare, als Resultat dieser Bewegung, ist damit nicht als ein »seiendes Substrat«, noch als »Erstes« aufzufassen, »sondern die Unmittelbarkeit ist nur diese Bewegung selbst« (LII, 24). Das Werden des Wesens, seine reflektierte Bewegung, so Hegel in einer seiner kryptischsten Formulierungen, ist »die Bewegung von Nichts zu Nichts und dadurch zu sich selbst zurück« (ebd.). So ist das Andere, das in der Reflexion des Wesens wird, nicht, wie in der Seinslogik, das Nichtsein eines Seins, sondern die absolute Negativität, die in ihrem 81 Schmidt, Thomas M., Die Logik der Reflexion, in: G. W. F. Hegel: Wissenschaft der Logik, Berlin 2002, S. 101.

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Negieren unmittelbar ihr Negieren negiert und somit sich in ein Selbstverhältnis setzt. Auf diese Weise legt sich die Reflexion – wie Theunissen herausstellt – in zwei Momente auseinander: »Sie vollzieht sich als Sichvon-sich-Unterscheiden und als Sich-auf-sich-Beziehen und beides in vollkommener Einheit: eine Selbstbeziehung die auf eine Selbstunterscheidung beruht.« 82 Hegel zufolge vollzieht sich nun auch diese Reflexion des Wesens mit ihren zwei Momenten, genauer analysiert, in einer Doppelbewegung, die er setzende und äußere Reflexion nennt. In der setzenden Reflexion steht die Grenze in ihrer trennenden, unterscheidenden Eigenschaft im Vordergrund, in der äußeren die Reflexion die Allgemeinheit der Grenze. Daher fängt die setzende Reflexion beim »Nichts« an, die äußere vom unmittelbaren Sein. Entscheidend ist, dass die Negation einmal so interpretiert werden kann, dass sie beim Unmittelbaren als einer scheinbar äußeren Wirklichkeit ansetzt, das somit vorausgesetzt ist; umgekehrt aber das Unmittelbare aus Hegels Sicht so immer schon so interpretiert werden muss, dass es Resultat der rein sich auf sich beziehenden Negativität ist, die in diesem Sinne in ihrem Abstoßen-von-sich die wesentliche Unmittelbarkeit erst hervortreibt. Die Voraussetzung der äußeren Wirklichkeit ist in diesem Sinne die setzende Reflexion, die in der zweiten Bewegung, der äußeren Reflexion erfasst wird und als solche gegen die Bewegung der Reflexion als Bestimmtheit derselben manifestiert wird. Hegel interpretiert beide Reflexionsfiguren nun so, dass sie als »bestimmte Reflexion« eine einheitliche Bewegung konstituieren (LII, 32). Diese negiert nicht nur jedwede äußere Voraussetzung der Reflexion, sondern ist im »Aufheben der Voraussetzung zugleich voraussetzend« (LII, 25). Was Hegel mit seiner Deutung des Wesens als Reflexion letztendlich destruieren will, ist somit – wie Theunissen betont – der »Schein der Erstheit, in den das Dasein eingehüllt ist«. 83 Hegel selbst sagt ausdrücklich: »Die Unmittelbarkeit kommt überhaupt nur als Rückkehrbewegung hervor und ist dasjenige Negative, welches der Schein des Anfangs ist, der durch die Rückkehr negiert wird.« (LII, 27) Mit der Deutung des Wesen als »absoluter Reflexion« ist damit ein weiterer entscheidender Schritt für die Deutung des Lebens – die Deutung der Lebewesen – gewonnen, der über die Deutung 82 83

Theunissen, a. a. O., S. 357. A. a. O., S. 165.

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des Wesens als bloße Selbstbewegung hinausgeht: die Spontanität des Lebendigen. Hegel sieht ganz klar, dass die Lebendigkeit, die den Lebewesen innewohnt, nicht darin gründet, dass irgendeinem vorausgesetzten, unmittelbaren, toten Substrat gleichsam das »Leben eingehaucht wird«. Die Unmittelbarkeit, die dem Lebendigen zukommt, muss vielmehr durch das Leben dieser Wesen selbst hervorgebracht werden. Dies impliziert, dass das Lebendige in seiner Selbstbewegung dazu fähig ist, einen absoluten Anfang zu setzen. Die absolute Negation, die das Unmittelbare erst in ihrer Zurückwendung auf sich hervorbringt, ist in diesem Sinne einer »creatio ex nihilo« vergleichbar; nur ist dieses »Nichts« hier eben nicht das Nichts des reinen Anfangs der Logik, sondern die Negation des Nichts, welches die selbstbezügliche Negativität als »Pulsation« des Lebendigen ist. 84 Durch die bestimmte Reflexion ist das Wesen nun in sich bestimmt. Aber die Bestimmtheit des Wesen bzw. der Reflexion ist zugleich von der qualitativen Bestimmtheit des Daseins zu unterscheiden: Die Negation als Qualität ist seiend; sie bestimmt sich paradigmatisch als Etwas und Anderes in ihrer spiegelbildlichem Verhältnis, die beide über eine gemeinsame Unterschiedenheit, über eine Grenze verfügen. Das Wesen hingegen hat diese Grenze sich einverleibt; die Bestimmtheit des Wesens ist Gesetztsein, worunter Hegel versteht, dass sie »ein Unmittelbares ist, aber nicht sich selbst gleich, sondern als sich selbst negierend, es hat absolute Beziehung auf die Rückkehr in sich« (LII, 33). Das Gesetztsein ist also ein vermitteltes, unselbständiges Sein – etwa, in dem Sinne, in dem wir sagen, Kinder seien von ihren Eltern ins Leben gesetzt worden –; als solches verweist es auf einen Grund, mit dem es noch in unvollkommener Weise eins ist, dem es in gewisser Weise ausgeliefert ist. Dieser Grund ist die Negativität es Wesens, dass sich ganz von selbst, aber noch nicht als es selbst vollzieht – denn diese bleibt als Entwicklung dem Begriff, d. h. dem Subjekt vorbehalten: Das Wesen ist noch nicht das Subjekt seiner Selbstbewegung. Während die Negation als Qualität das Sein als Grundlage hat, hat die Reflexionsbestimmung damit das Reflektiertsein des Wesens in sich selbst zum Grunde. Und während die Qualität des Daseins sich als eine erwies, die sich selbst ungleich war, weshalb das qualitativ Vgl. a. Seel, a. a. O., S. 34: »Leben zeichnet sich bei Hegel stets dadurch aus, dass es keines Anstoßes von außen bedarf, sondern sei es als natürliches Leben oder als menschliches Zusammenleben aus sich heraus bewegt ist.«

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bestimmte Etwas notwendig ein veränderliches, in anderes übergehendes war, das sich in seiner Grenze fortfahrend über sich hinausschickte, kommt es nun aber in der Bestimmtheit des Wesens zu einer echten Selbstidentifikation, die Hegel als wesentliches Bestimmtsein auffasst: »Das Gesetztsein fixiert sich zur Bestimmung eben darum, weil die Reflexion die Gleichheit mit sich selbst in ihrem Negiertsein ist; ihr Negiertsein ist daher selbst Reflexion-in-sich. Die Bestimmung besteht hier nicht durch das Sein, sondern durch ihre Gleichheit mit sich. Weil das Sein, das die Qualität trägt, das der Negation ungleiche ist, so ist die Qualität in sich selbst ungleich, daher übergehendes, im Anderen verschwindendes Moment. Hingegen die Reflexionsbestimmung ist das Gesetztsein als Negation, Negation, die zu ihrem Grunde das Negiertsein hat, also sich in sich selbst nicht ungleich ist, somit wesentliche, nicht übergehende Bestimmtheit. Die Sichselbstgleichheit der Reflexion, welche das Negative nur als Negatives, als Aufgehobenes oder Gesetztes hat, ist es, welche demselben Bestehen gibt.« (LII, 234)

Die Beziehung des Wesens auf sich hat damit die »Form der Identität« (LII, 234). Diese tritt jetzt an die Stelle der Unmittelbarkeit, mit der Hegel das Sein identifizierte. Interessant ist, dass Hegel setzende und äußere Reflexion nun mit der kantschen Bewegung der Urteilskraft vergleicht – die setzende mit der bestimmenden und die äußere mit der reflektierten: 85 Hierin wird nicht nur einmal mehr deutlich, wie Vgl. LII, 30 ff.: Die Reflexion wird gewöhnlicherweise in subjektivem Sinne genommen als die Bewegung der Urteilskraft, die über eine gegebene unmittelbare Vorstellung hinausgeht und allgemeine Bestimmungen für dieselbe sucht oder damit vergleicht. Kant setzt die reflektierende Urteilskraft der bestimmenden Urteilskraft entgegen. (Kritik der Urteilskraft, Einleitung, S. XXIII f.) Er definiert die Urteilskraft überhaupt als das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend. Die Reflexion ist somit hier gleichfalls das Hinausgehen über ein Unmittelbares zum Allgemeinen. Das Unmittelbare wird teils erst durch diese Beziehung desselben auf sein Allgemeines bestimmt als Besonderes; für sich ist es nur ein Einzelnes oder ein unmittelbares Seiendes. Teils aber ist das, worauf es bezogen wird, sein Allgemeines, seine Regel, Prinzip, Gesetz, überhaupt das in sich Reflektierte, sich auf sich selbst Beziehende, das Wesen oder das Wesentliche. Es ist aber hier nicht, weder von der Reflexion des Bewusstseins noch von der bestimmteren Reflexion des Verstandes, die das Besondere und Allgemeine zu ihren Bestimmungen hat, sondern von der Reflexion überhaupt die Rede. Jene Reflexion, der Kant das Aufsuchen des Allgemeinen zum gegebenen Besonderen zuschreibt, ist, wie erhellt, gleichfalls nur 85

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stark der Einfluss von Kant auf Hegel auch noch gerade da ist, wo er sich scheinbar weit von ihm entfernt, sondern auch gerade sein Programm, den logischen Ort, den in der Seinslogik die Grenze einnahm, Schritt für Schritt mit dem Urteil zu besetzen, wird hier transparent: Wie schon bemerkt: Die setzende Reflexion ist die Reflexionsbestimmung, die an die Stelle der Grenze in ihrer trennenden Eigenschaft tritt; die äußere reflektiert das Wesen der Grenze als Verbindung. Da das Wesen als Reflexion die Form der Identität hat, geht Hegel nun zur Diskussion dessen über, was er als »Reflexionsbestimmungen« verstanden haben will: die Begriffe der Identität, des Unterschiedes, des Gegensatzes und des Widerspruchs. Hier ist denn auch der Ort in der Logik, in dem Hegel die sogenannten allgemeinen Denkgesetze, wie insbesondere den Satz der Identität, den Satz des Wiederspruches und dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten, einer scharfen Kritik unterzieht und sein eigenes Konzept der Identität der Identität und der Nicht-Identität entwickelt, demzufolge der Widerspruch eine »so wesenhafte und immanente Bestimmung« ist, wie die Identität (LII, 75). Hegels Kritik an den allgemeinen Denkgesetzen kann hier nicht ausführlich diskutiert werden; Sein eigener Standpunkt soll & soweit dies für den Prozess der Transformation der Grenze in Urteil erforderlich ist, dargelegt werden.

1.5.1. Die Grenze als »absoluter Unterschied« Das Wesen ist erstens »einfache Identität« (LII, 39) mit sich. Aber diese einfache Identität mich sich oder Gleichheit mit sich ist nicht die, welche etwa dem Sein oder dem Nichts zukommt, sondern im Wesentlichen Resultat, nämlich als eine »sich zur Einheit herstellende«, »aus sich selbst heraus herstellende«, damit »wesentliche Identität« (LII, 39). Als sich aus sich heraus herstellende enthält sie aber ebenso sehr die Bestimmung des Unterschiedes. Denn das Wesen ist die äußere Reflexion, die sich auf das Unmittelbare als auf ein Gegebenes bezieht. – Aber es liegt darin auch der Begriff der absoluten Reflexion; denn das Allgemeine, das Prinzip oder Regel und Gesetz, zu dem sie in ihrem Bestimmen fortgeht, gilt als das Wesen jenes Unmittelbaren, von dem angefangen wird, somit dieses als ein Nichtiges, und die Rückkehr aus demselben, das Bestimmen der Reflexion, erst als das Setzen des Unmittelbaren nach seinem wahrhaften Sein, also das, was die Reflexion an ihm tut, und die Bestimmungen, die von ihr herkommen, nicht als ein jenem Unmittelbaren Äußerliches, sondern als dessen eigentliches Sein.«

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sich herstellende Identität nur als sich auf sich beziehende Negativität, als Abstoßen von sich oder eben absoluter Gegenstoß. Dieses »innerliche Abstoßen« ist als Reflexion-in-sich unmittelbar sich in sich zurücknehmendes Abstoßen. In diesem Sinne ist die wesentliche Identität nur »als der mit sich identische Unterschied« (LII, 40). Der Unterschied ist aber nur identisch mit sich, wenn er absolute NichtIdentität, und d. h. aus Hegels Sicht absoluter Unterschied ist. Absolut ist der Unterschied aber nur, wenn man ihn als eine Selbstunterscheidung des Wesens (oder der Identität) begreift. Schon wenn wir sagen, die Identität sei verschieden von der Verschiedenheit, – also sagen, die Identität sei ein Verschiedenes – drücken wir aus Hegel Sicht aus, das die Identität selbst einen absoluten Unterschied beinhaltet: »an ihr selbst als absolute Nicht-Identität« (LII, 41) ist. Die Identität ist demnach an ihr selbst widersprüchlich erfasst, denn sie ist Nichtidentität und die Bestimmung dagegen – sie ist das Ganze und ihr eigenes Moment. Dasselbe gilt für den absoluten Unterschied. Zunächst ist herauszustellen, dass dies nach Hegel der wahre Begriff der Identität ist, der aus seiner Sicht von der abstrakten Identität des Verstandes zu unterscheiden ist. Der Verstandesbegriff der Identität zeichnet sich dadurch aus, dass er Identität und Unterschied getrennt voneinander behandelt, so dass der Unterschied getrennt und abgesondert von der Identität auftritt. Der abstrakte Begriff dieses Identisch- bzw. Gleichsetzens ist aus Hegels Sicht für den Formalismus der Logik und deren Inhaltslosigkeit verantwortlich. Der Begriff und die Idee – und hier insbesondere die Idee des Lebens – enthalten aber den Unterschied in sich, der sich im Folgenden als Widerspruch und darin als Wurzel aller Lebendigkeit und Bewegtheit zeigen wird: »Die abstrakte Identität mit sich ist noch keine Lebendigkeit, sondern dass das Positive an sich selbst die Negativität ist, dadurch geht es außer sich und setzt sich in Veränderung. Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten. Wenn aber ein Existierendes nicht in seiner positiven Bestimmung zugleich über seine negative überzugreifen und eine in der anderen festzuhalten, den Widerspruch nicht in ihm selbst zu haben vermag, so ist es nicht die lebendige Einheit selbst, nicht Grund, sondern geht in dem Widerspruche zugrunde.« (LII, 76)

Hier macht es Sinn noch einmal zu hinterfragen? Warum ist die abstrakte Identität, die den Unterschied von sich fernhält, eine »Bestim114 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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mung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins« (LII, 75)? Wieso hängt das Problem des Lebens überhaupt mit der Frage der Natur der Identität zusammen? Wie bereits erwähnt, hat das Leben aus Hegels Sicht die Struktur der vermittelten Rückkehr aus der Andersheit; eine Struktur, die im Falle des Lebens des Geistes im Selbstbewusstsein, das sich nur im gegenseitigen Anerkennen konstituiert, kulminiert. Die spezifische Selbstbewegung, die das Leben als solches charakterisiert, ist eine Folge des Tatbestandes, dass das Leben sein »Anderssein an ihm selbst hat« (d. h. das Negative seiner selbst ist) und dieses fortfahrend aufzuheben hat (die die Negativität überwinden, um Integrität zu kämpfen hat) – so die Pflanze z. B. im assimilieren (»angleichen«) der Umwelt, das Tier im verschlingen (»negieren«) der Beute, und der Mensch im Anerkennen des Anderen als Anderen und darin als wesensmäßig gleichen (»Negation dieser Negation«). Erst aus dieser – im weitesten Sinne intersubjektivitätstheoretischen oder sozialontologischen – Perspektive heraus wird einsichtig, warum Hegel den Wiederspruch in Zusammenhang bringt mit dem Trieb, dem Streben alles Lebendigen, d. h. dem Nisius, dem Appetius der Monade: Denn der Mensch strebt aus Hegels Sicht aus genau dem gleiche Grunde nach Anerkennung, wie die Pflanze nach Licht oder das Tier nach Nahrung: Weil er in seiner Endlichkeit als das Negative seiner bestimmt, d. h. an sich widersprüchlich verfasst ist. »Ebenso ist die innere, die eigentliche Selbstbewegung, der Trieb überhaupt (Appetit oder Nisus der Monade, die Entelechie des absolut einfachen Wesens) nichts anderes, als dass Etwas in sich selbst und der Mangel, das Negative seiner selbst, in einer und derselben Rücksicht ist.« (LII, 78)

Etwas muss sich demnach in seinem Anderen (= Nicht-Ich) in Beziehung zu sich selbst setzten können, was bedeutet, dass es in seinem Anderen zugleich sich gegenüber ist. Damit ist aber zugleich ausgesagt, dass der Unterschied als immanente Grenze, der einerseits zwischen es und sein Anderes und andererseits zugleich auch »in« es fällt, dialektisch verfasst ist: Das Unterschiedene kann nicht ein »Anderes überhaupt« (8, 243) sein, sondern muss mit dem ersteren, dessen Anderes es ist, zugleich identifiziert sein – sonst würde das In-sich-selbst Unterschiedene vom Unterschied gleichsam durchgeschnitten. In einer Weise, die von Hegel zu Plessner führt, könnte man auch sagen: Das Lebendige darf in seinen Grenzen von seinem An115 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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dern einerseits nicht allein abgeschlossen, sondern muss seiner Umwelt gegenüber zugleich aufgeschlossen sein. Bestimmen doch die Grenzen gleichermaßen die Identität des Lebendigen mit sich, so dass eine abstrakte Identität auch »grenzmäßig« eine völlige Abgeschlossenheit implizieren würde. Andererseits darf der Unterschied, die Grenze – wie vor allem Plessner herausgestellt hat – aber auch nicht so gedacht werden, dass er den Organismus auflöst, tötet. In ähnlichem Sinne scheint ferner auch die gängige Rede von intersubjektiven Beziehungen ein »inter« vorauszusetzen, das sowohl einen Unterschied wie die identische Beziehung des Unterschiedenen voraussetzt. Denn jede Beziehung bedarf einer gemeinsamen Grundlage. Indem die abstrakte Identität diese Form des Bei-sich-selbstSeins im Anderen bzw. solch eine gemeinsame Grundlage ausschließt und das Andere überhaupt von sich abscheidet, macht sie aus Hegels Sicht auch ein Verständnis des Lebendigen – das Leben des Geistes und das der Natur – unmöglich. Hier vielleicht ist nochmal an Hegels Bestimmung des Zwecks der Philosophie zu erinnern: »Das gewöhnliche Bewusstsein betrachtet die Unterschiedenen als gleichgültig gegeneinander […]. Der Zweck der Philosophie ist dagegen, die Gleichgültigkeit zu verbannen, so dass das Andere als seinem Anderen gegenüberstehend erscheint.« (8, 246) Es geht darum, herauszustellen, dass das Subjekt »sein Anderes sich gegenüber« hat (8, 246). Auch Hegels Bestimmung der Identität als Identität der Identität und der Nichtidentität (L I, 43), darf demnach natürlich nicht so verstanden werden, als ob Identität schlicht dasselbe wäre wie Unterschied – denn dann gäbe es keinen Unterschied, kein Anderes, keine Intersubjektivität und kein Leben. Daher muss zugleich auch von einem Unterschied der Identität und des Unterschiedes gesprochen werden. Hiermit tritt die Frage auf, ob der erstgenannte Unterschied eventuell ein höherstufigerer Unterschied ist als derjenige einfache Unterschied, welcher zwischen A und Nicht-A fällt. Wenn man zudem an der identischen Beziehung des Unterschiedenen festhalten will (d. h. das Etwas sein Anderes sich gegenüber hat), bzw. Identität und Unterschied als Bestimmungen ein- und derselben Reflexion begreifen will, führt diese Frage offenkundig in einen unendlichen Regress von immer höherstufigen Unterscheidungen von Identität und Unterschied. Wie entgeht Hegel diesem Regress? In der Tat kann man sagen, dass Hegel zwei Begriffe der Identität hat, nämlich den der »reinen oder abstrakten Identität« (Unmittelbar116 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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keit als Gleichheit mit sich) und den komplexen Begriff einer Identität, welche die Beziehung auf ihr Gegenteil in sich enthält. Für diesen komplexeren Begriff steht dann der Begriff des Begriffes und insbesondere der Begriff der Idee ein. Hingegen hat er aber nur einen Begriff des Unterschiedes. Der Grund dafür liegt darin, dass aus Hegels Sicht sowohl der Begriff der Identität, als auch der Begriff des Unterschiedes einen Widerspruch in sich enthält. Aber die Identität ist aus seiner Sicht dieser Wiederspruch nur an sich, der Unterschied hingegen dieser Widerspruch an- und fürsich. Daher strebt der Unterschied seiner eigenen Selbstaufhebung entgegen; und zwar so, dass er durch seine eigene, innere logische Selbstentfaltung »abstrakte Identität« mit wirklicher Selbstidentität vermitteln kann. Hegel unterscheidet in diesem Sinne einen »unmittelbaren Unterschied« (8, 239) oder auch »äußeren Unterschied« von einem »in sich reflektierten« (LII, 54), der in den Gegensatz übergeht und im Widerspruch kulminiert. Dabei gilt: »Was überhaupt die Welt bewegt, das ist der Widerspruch, und es ist lächerlich zu sagen, der Widerspruch lasse sich nicht denken. Das Richtige in dieser Behauptung ist nur dies, dass es beim Widerspruch nicht sein Bewenden haben kann und dass derselbe sich durch sich selbst aufhebt.« (8, 247)

Das Unterscheiden ist demnach als eine gedoppelte Bewegung zu verstehen, nämlich als eine, die im unmittelbaren Unterscheiden des Unterschiedenen sich in ein Verhältnis zu sich selbst setzt, und darin das Unterschiedene aufeinander bezieht, um den Unterschied aufzuheben. Das Unterscheiden, das sich zu sich selbst in Beziehung setzt, ist dabei als Widerspruch aufgefasst. Durch die Annahme einer solch gedoppelten Natur des Unterschiedes, der einmal als unmittelbarer Unterschied die Unterschiedlichkeit des Unterschiedenen garantiert und als in sich reflektierter bzw. als Gegensatz und Widerspruch die innere Einheit derselben zu Tage fördert, erspart sich Hegel erstens die Annahme eines höherstufigen Unterscheidens von Identität und Unterschied, das in ein Paradox führen würde. Zweitens ermöglicht es ihm, den Unterschied, der jetzt an die Stelle der Grenze getreten ist, im Kommenden als Form zu interpretieren, durch die hindurch das Existierende seine Bestimmtheit erlangt. Für die Form gilt dabei das gleiche, wie für den Unterschied: Als unreflektierte Form beruht sie auf einem Unterschied (nämlich dem des Inneren und des Äußeren), als reflektierte

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Form ist dieser Unterschied als aufgehoben in ihr. Aber damit greifen wir schon vor. Der Unterschied lässt sich aber nun wiederum nur in eine Beziehung zu sich setzen bzw. als Reflexionsbestimmung auffassen, wenn man ihn als absoluten Unterschied auffasst. Hegel definiert diesen wie folgt sehr klar: »Dieser Unterschied ist der Unterschied an und für sich, der absolute Unterschied, der Unterschied des Wesens. Er ist der Unterschied an und für sich, nicht Unterschied durch ein Äußerliches, sondern sich auf sich beziehender, also einfacher Unterschied. Es ist wesentlich, den absoluten Unterschied als einfachen zu fassen. Im absoluten Unterschiede des A und NichtA voneinander ist es das einfache Nicht, was als solches denselben ausmacht. Der Unterschied selbst ist einfacher Begriff. Darin, drückt man sich aus, sind zwei Dinge unterschieden, dass sie usw. – Darin, d. h. in einer und derselben Rücksicht, in demselben Bestimmungsgrunde. Er ist der Unterschied der Reflexion, nicht das Anderssein des Daseins«. (LII, 46)

Es mag hilfreich sein, sich für den Fortgang Folgendes zu verdeutlichen: Der absolute Unterschied ist – als Selbstunterscheidung – nun an sich schon das, was das Urteil als »immanente Unterscheidung« (8, 316) des Begriffes und als die Selbstbestimmung des Lebendigen ist. Er ist nur darum noch nicht das Urteil, insofern das Wesen noch »zwischen Sein und Begriff« steht (LII, 15) da es »Anundfürsichsein, aber dasselbe in der Bestimmung des Ansichseins« (LII, 16) ist. Im Wesen ist der Begriff noch nicht für sich, die Bestimmungen sind im Wesen nur relative, sind noch Beziehung auf Anderes. Denn das Wesen »als das durch die Negativität seiner selbst sich mit sich vermittelnde Sein, ist Beziehung auf sich selbst, nur indem sie Beziehung auf Anderes ist, das aber unmittelbar nicht als Seiendes, sondern als Gesetztes und Vermittelndes ist.« (LII, 231) Im Wesen kommt es daher – wie gesagt – nur zu einer »unvollkommenen Verknüpfung der Unmittelbarkeit und der Vermittlung«, denn das Wesen ist als unendliche Vermittlung seiner mit sich nicht als das Vermittelnde, d. h. als das Subjekt der Vermittlung, gegeben: Sonst wäre das Wesen Begriff und der Unterschied Urteil. Daher hat der Unterschied des Wesens auch noch nicht den Charakter einer tätigen Selbstunterscheidung, in der sich etwas selbst als es selbst bestimmt. Denn das Wesen ist Gleichheit mit sich nur durch das Aufheben der Gleichheit mit sich, diese ist daher »in der Negation verloren, die ihrerseits das Herrschende ist« (LI, 34). Das Wesen ist damit Beziehung (Gleichheit-mit-sich) nur als 118 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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unendlich Bezogenes, in dem die Selbstbezüglichkeit nur an sich, nicht an- und fürsich vorliegt. Wirkliche Selbstbezüglichkeit liegt aus Hegels Sicht streng genommen nur dort vor, wo etwas sich selbst als es selbst verursacht – d. h. in der Form der Selbstverursachung. Diese kann aber aus Hegels Sicht sich nur in Form einer realen Entgegensetzung eignen, durch die hindurch das Subjekt – als Ursache seiner selbst – zu sich in ein Selbstverhältnis treten kann. Das Wesen aber ist das Andere, das noch nicht hinter sich gekommen ist, um im Anderen in einer Weise mit sich zusammengehen zu können, dass es das Anderssein aufheben bzw. zu wirklicher Selbstidentität kommen könnte – es bleibt sich selbst äußerlich. Dies tritt gleich – in der Reflexionsbestimmung der Verschiedenheit – in aller Schärfe hervor. Trotzdem ereignet sich im absoluten Unterschied eine Steigerung des Zusammenhangs von Selbstbezüglichkeit und sich-auf-sich beziehender Negativität. Das zeigt sich, wenn man den absoluten Unterschied mit der Grenze vergleicht, an deren Stelle er quasi tritt. In der qualitativen Grenze – so wie sie zwischen dem Etwas und seinem Anderen zu Tage trat – war der Widerspruch angelegt, dass die »Grenze als in sich reflektierte Negation des Etwas die Momente des Etwas und des Anderen in ihr ideell enthält, und diese als unterschiedene Momente zugleich in der Sphäre des Daseins als reell, qualitativ unterschieden gesetzt sind« (LI, 136). Die Grenze ist in diesem Sinne nicht einfache oder erste Negation des Anderen, sondern in ihrer Idealität auch die Negation dieser Negation. Aber in der Grenze verhalten sich die beiden negationslogischen Figuren noch äußerlich zueinander, die Grenze ist dieser Widerspruch nur an sich. Daher vermögen das Etwas und sein Anderes auch nicht ihre in der Grenze angelegte »gemeinschaftliche Unterschiedenheit« als ihre Entgegensetzung zu reflektieren und darin aufzuheben. Denn das Etwas, das seinem Anderen gegenübersteht, steht seinem Andern als ein unmittelbares Dasein gegenüber: »Ein Dasein und ein anderes Dasein sind gesetzt als auseinanderfallend; jedes der gegeneinander bestimmten Daseine hat ein unmittelbares Dasein für sich. Das Andere des Wesens dagegen ist das Andere an und für sich, nicht das Andere als eines anderen außer ihm Befindlichen, die einfache Bestimmtheit an sich. […] Hier in der Sphäre der Reflexion tritt der Unterschied als reflektierter auf, der so gesetzt ist, wie er an sich ist.« (LII, 46)

Als reflektierter Unterschied ist der Unterschied der sich auf sich beziehende Unterschied, so der Unterschied »seiner von sich selbst; er 119 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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ist er selbst und sein Anderes« (LII, 47). Das Unterschiedene aber vom Unterschied ist die Identität. Der reflektierte Unterschied ist daher »er selbst und die Identität« (LII, 47). Damit ist er »das Ganze und seine eigenes Moment« (ebd.), ebenso wie dies von der Identität behauptet werden muss. Dies ist aus Hegels Sicht als nicht mehr und nicht weniger »als die wesentliche Natur der Reflexion und als bestimmter Urgrund aller Selbstbewegung zu betrachten«. (LII, 47) Anders als die einfache Grenze, in der Realität und Idealität, Identität und Unterschied noch auf ganz unbestimmte Weise vorhanden sind, ist der Unterschied, als Einheit seiner und der Identität, »an sich selbst bestimmter Unterschied« (LII, 47). Als an sich selbst bestimmter Unterschied, als Einheit von Identität und Unterschied hat er zwei Momente, die selbst in sich reflektiert sind. Als ein solcher ist er aus Hegels Sicht zunächst die Verschiedenheit.

1.5.2. Die Verschiedenheit Identität und Unterschied scheinen jetzt zunächst irgendwie überhaupt dasselbe zu sein; beide sind als Reflexionen-in-sich das Ganze und ihr eigenes Moment. Nur von außen, von einem dritten Standpunkt scheinen sie überhaupt noch unterscheidbar zu sein. Diese Art der äußeren Differenzierung nennt Hegel »Verschiedenheit«. Dabei insistiert er allerdings darauf, dass diese Betrachtung »nicht von außen induziert wird«, sondern in der Logik der Sache liegt. »In der Verschiedenheit ist die Reflexion sich äußerlich geworden.« (LII, 48) Die Entäußerung der Reflexion gründet darin, dass diese an sich als Reflexion-in-sich ein Verhältnis von Identität und Unterschied ist, aber dieses Verhältnis, das sie an sich ist, noch nicht für sich ist. Denn für die wesentliche Identität gilt eben, wie für das Wesen als solches, dass sie Selbstbeziehung nur als Beziehung auf Anderes ist, das aber als ein Gesetztes, Vermitteltes bestimmt ist. Die Verschiedenheit macht somit »das Anderssein als solches der Reflexion« (LII, 48) aus. Dieses Anderssein bzw. die Verschiedenheit gründet konkret in einer »Logik des Zerfalls« (Fink-Eitel): Ähnlich, wie das Fürsichsein als fürsichseiendes Eins in die vielen Eins zersplittert, so zerfällt aus Hegels Sicht die Identität an ihr selbst in Verschiedenheit, »weil sie als absoluter Unterschied in sich selbst sich als das Andere ihrer setzt, und diese ihre Momente, sie selbst und das Negative ihrer, Reflexionen-in-sich, identisch mit sich sind« (LII, 48). Mit anderen Worten: 120 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Wenn die Reflexion erstens die Bewegung ist, die sie selbst und nicht sie selbst in einer Einheit ist, und man zweitens davon ausgeht, dass die Reflexion eine identifizierende Bewegung ist, die sich in einer Rückwendung auf sich konstituiert, dann markiert die Verschiedenheit den prekären Punkt in der logischen Entwicklung, in der die Reflexion nur noch darin, dass sie nicht sie selbst ist, sie selbst ist – d. h. mit sich zusammengeht. Insofern das Wesen nicht das Andere des Anderen, sondern sich das Andere an und für sich ist, ist es nun Sich-ein-Unterschiedliches: »Das Andere des Daseins hat das unmittelbare Sein zu seinem Grunde, in welchem das Negative besteht. In der Reflexion aber macht die Identität mit sich, die reflektierte Unmittelbarkeit, das Bestehen des Negativen und die Gleichgültigkeit desselben aus«. (LII, 48) Die Verschiedenen verhalten sich gleichgültig gegeneinander, insofern eines so gut wie das Andere ein Verschiedenes oder alle Unterschiedliche sind. Es liegt aber nicht an ihnen selbst, dass sie unterschiedlich sind, sondern ihr Unterschiedlichsein ist Gesetztsein, – ist daher ihnen äußerlich. Hegel leitet diesen paradoxen Tatbestand auch so her »Die Momente des Unterschiedes sind die Identität und der Unterschied selbst. Verschiedene sind sie als in sich selbst reflektierte, sich auf sich beziehende; so sind sie in der Bestimmung der Identität Beziehungen nur auf sich; die Identität ist nicht bezogen auf den Unterschied, noch ist der Unterschied bezogen auf die Identität; indem so jedes dieser Momente nur auf sich bezogen ist, sind sie nicht bestimmt gegeneinander. – Weil sie nun auf diese Weise nicht an ihnen selbst unterschiedene sind, so ist der Unterschied ihnen äußerlich. Die Verschiedenen verhalten sich also nicht als Identität und Unterschied zueinander, sondern nur als Verschiedene überhaupt, die gleichgültig gegeneinander und gegen ihre Bestimmtheit sind.« (LII, 49)

Als solche Indifferenz gibt die Verschiedenheit zugleich, wie Iber zu Recht sagt, die »reflexionslogische Form der Erscheinungswelt ab«. 86 Im Sinne einer solchen Indifferenz nennt Hegel die Verschiedenheit eben auch den »unmittelbaren Unterschied« (8, 239). In ihr ist die Reflexion gedoppelt – einmal als Reflexion-in-sich, welche hindurch die Verschiedenen überhaupt noch in Beziehung zueinander stehen, und als Negation, Gesetztsein, dem unmittelbaren Sein der Unterschiedlichen als Unterschiedliche. Obwohl man nun 86

A. a. O., S. 333.

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offenkundig nicht sagen kann: Das Verschiedene ist verschieden von sich – so wie man sagt, etwas ist identisch mit sich oder unterscheide sich von einem anderen –, so beharrt Hegel doch darauf, dass der Verschiedenheit die Reflexion zugrunde liegt. Denn die Verschiedenen sind nur als solche, insofern sie sich voneinander unterscheiden. Die Reflexion der Verschiedenen ist in diesem Sinne das Vergleichen – denn nur im Akt des Vergleichens hat das Sich-Voneinander-Unterscheiden der Verschiedenen Realität. Das Vergleichen hat als Bestimmung der Reflexion für Hegel dabei eine ontologische Bedeutung. Der äußerliche Unterschied der Verschiedenen ist als Identität der Bezogenen aufgefasst nun die Gleichheit, als Nicht-Identität derselben die Ungleichheit. Nun erweist sich aber, dass dieser Unterschied nicht äußerlich ist, sondern er nur der äußere Ausdruck der Reflexion des Unterschiedes-in-sich ist. Die Gleichheit ist daher an sich der Widerspruch, dass sie nur Identität von solchen ist, die nicht dieselben, nicht identisch miteinander sind – denn von einem Ding zu sagen, es sei gleich, ist Unsinn. Umgekehrt ist die Ungleichheit nur als Beziehung der Gleichen d. h. die Ungleichheit tut sich erst vermittels eines Vergleichens von zwei Dingen hervor. Diese müssen aber in irgendeinem Sinne überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können – selbst wenn dieser gemeinsame Nenner nur darin bestehen sollte, dass sie »Dinge oder zwei überhaupt sind« (LII, 54). Man würde daher, so Hegel, auch einem, der zwei Dinge unterscheidet, die weit auseinanderliegen – wie etwa eine Schreibfeder und ein Kamel – keinen großen Scharfsinn zusprechen; ebenso, wie der, der nur nahe beieinanderliegende Dinge – wie einen Kirche und einen Tempel oder eine Buche und eine Eiche – vergleichen kann, es offenbar im Vergleichen nicht weit gebracht hat (vgl. 8, 242). Wir verlangen daher beim Unterscheiden die Identität, ebenso wie wir im Vergleichen, d. h. im Falle der Identität, einen Unterschied voraussetzen müssen. Entscheidend bei der Reflexion, welche das Vergleichen ist, ist dabei, dass Identität (Gleichheit) und Unterschied (Ungleichheit) »nicht in verschiedene Seiten oder Rücksichten gleichgültig auseinanderfallen, sondern das eine ist das Scheinen in die andere« (8, 242). Gleichheit und Ungleichheit sind daher »in einem und demselben verschieden« (LII, 54). Es ist demnach nicht so, dass ein Ding einem anderen in einer gewissen Hinsicht gleich, in einer anderen ungleich ist, sondern die Dinge sind an sich selbst als gleich und ungleich und damit als widersprüchlich bestimmt: 122 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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»Die gewöhnliche Zärtlichkeit für die Dinge aber, die nur dafür sorgt, dass diese sich nicht widersprechen, vergisst hier wie sonst, dass damit der Widerspruch nicht aufgelöst, sondern nur anderswohin, in die subjektive oder äußere Reflexion geschoben wird […]«. (LII, 55)

Damit erweist sich, dass Gleichheit und Ungleichheit Reflexionskategorien darstellen, und, so Schmidt, »die verglichenen Relate in sich reflektiert sind, d. h. sie erhalten ihre Bestimmung, dem anderen gleich oder ungleich zu sein, nicht erst durch die Prozedur des Vergleichens«. 87 Vielmehr will Hegel eben zeigen, dass der äußerliche Unterschied der Verschiedenen »in Wahrheit in sich reflektierter Unterschied an ihm selbst« (LII, 54) ist – damit eben nicht bloß äußerlicher Unterschied, sondern eine Beziehung der beiden Momente. Die Verschiedenheit aber, deren gleichgültige Seiten ebenso sehr nur Momente einer negativen Einheit sind, ist der Gegensatz. Hegel betrachtet die Zuspitzung der Verschiedenheit zum wesentlichen Gegensatz dabei letztendlich als einen die Natur wie die Geschichte durchziehenden Prozess, der bei der Natur als »unaufgelöstem Widerspruch« ansetzt und in der gegenseitigen Anerkennung des Menschen kulminiert: »Die denkende Vernunft aber spitzt sozusagen den abgestumpften Unterschied des Verschiedenen, die bloße Mannigfaltigkeit der Vorstellung, zum wesentlichen Unterschiede, zum Gegensatze zu.« (LII, 78)

1.5.3. Die Grenze als Gegensatz Der Gegensatz, so Hegel, »ist die bestimmte Reflexion, der Unterschied vollendet. Er ist die Einheit der Identität und der Verschiedenheit; seine Momente sind in einer Identität verschiedene; so sind sie entgegengesetzte« (LII, 55). Als solcher begründet der Gegensatz den Widerspruch, der die Grenze als gemeinschaftliche Unterschiedenheit an sich ist, an- und fürsich. Hegel betont nochmal den Zusammenhang von Widerspruch und Lebendigkeit: »Die Mannigfaltigen werden erst auf die Spitze des Widerspruchs getrieben regsam und lebendig gegeneinander und erhalten in ihm die Negativität, welche die innewohnende Pulsation der Selbstbewegung und Lebendigkeit ist.« (LII, 78) Der Unterschied überhaupt, so Hegel, ist schon Widerspruch an sich, »denn er ist die Einheit von solchen, die nur sind, 87

Schmidt, a. a. O., S. 113.

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insofern sie nicht eins sind, – und die Trennung solcher, die nur sind als in derselben Beziehung getrennte« (LII, 65). Der Gegensatz aber ist der »gesetzte Widerspruch«, welcher die Grenze als unflektierter Unterschied auf ganz unbestimmte Weise ist: »Als sich auf sich beziehender Unterschied ist er gleichfalls schon als das mit sich Identische ausgesprochen«. (8, 247) Worin der Unterschied als Beziehung auf sich selbst ist, ist Reflexion der Gleichheit bzw. der Ungleichheit, die ineinander scheinen: Denn jede der beiden Bestimmungen – so Hegel – ist an ihr selbst »die Einheit der Gleichheit und Ungleichheit« (LII, 56). So ist die Gleichheit nur in der Reflexion, welche unter der Voraussetzung der Ungleichheit vergleicht und die Ungleichheit ist nur in derselben reflektierenden Bestimmung, in der die Gleichheit ist – beide sind durch ihr Anderes zugleich mit sich vermittelt. Die reflektierte Gleichheit mit sich, die in ihr selbst die Beziehung auf die Ungleichheit enthält, nennt Hegel nun das Positive; die reflektierte Ungleichheit, die in ihr selbst die Beziehung auf die Gleichheit enthält, nennt Hegel das Negative. Das Positive und das Negative sind also beide dasselbe Ganze des Gegensatzes. Das Positive ist dieses Ganze, insofern der Gegensatz in seiner Gegensätzlichkeit die Einheit der Gegensätze, d. h. das »Nicht-Entgegengesetzte« selbst seiner Seiten enthält (LII, 58); das Negative ist die Entgegensetzung der beiden Entgegengesetzten als solche. So sind – um ein Beispiel zu nennen – Norden und Süden sind zwar das Entgegengesetzte voneinander (d. h. Ungleiche), aber nur insofern beide sich als Himmelsrichtungen (d. h. als das Gleiche) entgegengesetzt sind, Hitze und Kälte sind beide Temperaturen usw. Wesentlich ist es aus Hegels Sicht folglich, das Positive und das Negative als an sich positiv bzw. an sich negativ aufzufassen. So scheint z. B. die Zahl –a zunächst das negative von +a zu sein. Aber was als –a, d. h. als negativ erscheint, könnten auch die Schulden sein, die wiederum das positive Vermögen des Gläubigers darstellen: –a und +a sind so aus dieser Sicht nur »Entgegengesetzte überhaupt«; es ist willkürlich, welches wir positiv und welches wir negativ nennen. Das Ansich oder wahrhaft Negative ist aber vielmehr die Entgegensetzung von –a und +a als solchen, d. h. der »Unterschied als solcher in der Bestimmung, nicht Identität zu sein« (8, 245). 88 Vgl. zu dieser Unterscheidung von »ansich positiv« und »ansich negativ« auch: Wolff, Michael, Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels, Königstein 1981.

88

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Da das Positive und das Negative je auf ihre Weise zugleich das Ganze des Gegensatzes sind, nennt Hegel sie auch die selbstständig gewordenen Seiten des Gegensatzes: »Sie sind selbstständig, in dem sie die Reflexion des Ganzen in sich sind, und gehören dem Gegensatze an, insofern es die Bestimmtheit ist, die als Ganzes in sich reflektiert ist.« (LII, 57) Die gleichgültige Selbständigkeit für sich hat jedes dadurch, dass es die Beziehung auf sein anderes Moment an ihm selbst hat; so ist es der ganze in sich geschlossene Gegensatz. Als dieses Ganze ist das Positive bzw. Negative einerseits durch sein Anderes mit sich vermittelt und enthält dasselbe. Aber anderseits es ist ferner durch das Nichtsein seines Andern mit sich vermittelt: so ist es für sich seiende Einheit und schließt das Andere aus sich aus. Eben und allein aus diesen Grunde liegt hier ein Widerspruch vor. Wie schon gesagt: Die Grenze ist an sich der Widerspruch, das Andere real zu negieren, aber ideell miteinzubeziehen. Der Gegensatz, als die Reflexion von Gleichheit und Ungleichheit ineinander aber, ist dieser Widerspruch an und für sich. Denn indem die »selbständige Reflexionsbestimmung in derselben Rücksicht, als sie die andere enthält und dadurch selbständig ist, die andere ausschließt, so schließt sie in ihrer Selbständigkeit ihre eigene Selbständigkeit aus sich aus« (LII, 65). Das Positive ist so der Widerspruch, Gleichheit mit sich nur als Gleichheit des Entgegengesetzten mit sich zu sein. Als das Nicht-Entgegengesetzte ist es damit aber nicht nur und nicht allein Gleichheit mit sich, insofern es die Entgegensetzung als solche aus sich ausschließt. Sondern als ein die Entgegensetzung ausschließendes bestimmt es sich im Ausschließen des Anderen selbst als ein Entgegengesetztes. Weit davon entfernt, der Entgegensetzung gleichgültig gegenüberzustehen, potenziert das Positive somit vielmehr dieselbe: Das potenzierte Positive ist – wie man sagen könnte – als das Sichmiteinander-Auseinandersetzen der Entgegengesetzten: Indem es sich der Entgegensetzung entgegensetzt, bezieht es die Entgegengesetzten im Sinne eines konstruktiven Konfliktes aufeinander. »So ist es der Widerspruch, dass es als das Setzen der Identität mit sich durch das Ausschließen des Negativen sich selbst zum Negativen vom Einem, also zu dem Anderen macht, das es von sich ausschließt.« (LII, 65) Aber das Positive ist als das Sich-Miteinander-AuseinanderSetzen der Entgegengesetzten dieser Widerspruch nur an sich; das Negative hingegen ist der Widerspruch als solcher. Der Widerspruch des Positiven ist, sich selbst im Ausschließen seines Anderen, als dieses Andere, Negative seiner zu setzen; aber in derselben Reflexion ist 125 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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auch das Negative als ein solches reflektiert – das Setzen beider ist, wie Hegel betont, überhaupt »eine Reflexion« (LII, 66). Das Negative aber ist nichts anderes als die Entzweiung, die sich als Nicht-Identisches oder als Entgegensetzung darin als identisch mit sich bestimmt, dass sie die Identität ausschließt. Als ein solches besteht es darin, wie Hegel sagt, »gegen die Identität identisch mit sich zu sein« (LII, 66). Indem aber nun die Identität des Negativen gerade darin besteht, Nicht-Identität, also Entgegensetzung zu sein, schließt sich das Negative damit nicht als Identität, sondern als Nicht-Identität, aus. Es schließt sich damit als die Entgegensetzung, dies es selbst ist, aus – und der Widerspruch löst sich auf. Dieser aufgelöste Widerspruch ist – wie auch Hegel sagt, als das »rastlose Verschwinden der Entgegengesetzten«, in dem sich das Positive und das Negative in ihrer Selbstständigkeit ineinander aufheben: die Null (LII, 67). Aber der Widerspruch ist eben nicht nur die Null, sondern es ist die Selbstständigkeit der Extreme, d. h. die Entgegensetzung als solche, die sich in der Null aufhebt: Es ist die als Entgegensetzung nur auf sich beruhende Entgegensetzung, die sich selbst in der ausschließenden Reflexion ausschließt. Der Unterschied an sich, sagt Hegel, ist schon Widerspruch, denn er ist Einheit von solchen, die nur sind, insofern sie nicht eins sind, – und Trennung solcher, die nur in derselben Beziehung als getrennte sind. Das Positive und das Negative aber sind der »gesetzte Wiederspruch« (LII, 65), weil jedes in seinem Anderen sich selbst entgegengesetzt ist; nur in sich reflektiert ist, indem es in sein Anderes reflektiert ist. Die Selbstständigkeit des Wesens ist so »durch ihre eigene Negation in sich zurückkehrende Einheit, indem sie durch die Negation ihres Gesetztseins in sich zurückkehrt« (LII, 68). Durch den Selbstwiderspruch seiner Negation manifestiert sich das Wesen somit als die Einheit des Positiven und des Negativen nun als Grund der Existenz: Die gleichgültig »Verschiedenen« sind nicht mehr, sie »gehen zu Grunde« – zugunsten von Existenzen, die in einem realen Verhältnis zueinander stehen, bei dem es sich um ein Begründungsverhältnis handelt.

1.5.4. Der Grund Insofern der Grund Einheit des Positiven und des Negativen ist, definiert Hegel ihn als »Einheit der Identität und des Unterschiedes« (8, 248). Hegel präzisiert diese zunächst sehr abstrakt klingende Formel 126 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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dahingehend, das der Grund konkret als »die Reflexion-in-sich, die ebenso sehr Reflexion-in-Anderes ist« (8, 248) aufzufassen ist. Was damit gemeint ist, ist nichts anderes als dass das Wesen eine Sphäre allseitiger bzw. universeller Relationalität begründet, in der die Dinge sich in ihrer Reflexion ineinander gegenseitig einer Begründung zuführen. Vater und Sohn z. B. – in ein- und dasselbe Verhältnis gesetzt – sind nicht nur Verschiedene überhaupt, sondern zugleich entgegengesetzte: Wenn A Vater von B ist, dann ist es ausgeschlossen, das A zugleich Sohn von B ist – und umgekehrt. Und doch lässt sich die Identität der Identität und des Unterschiedes in diesem Verhältnis als Reflexion des Grunds aufzeigen. Denn es gibt keine kinderlosen Eltern. So gründet das Sein des Vaters als Vater in dem des Sohnes (Reflexion-in-anderes), gleichwohl er im Sohn nur mit sich selbst als Vater zusammengeht (Reflexion-in-sich) – und das Gleiche gilt für den Sohn. Als Grund ist damit »das Wesen als Totalität gesetzt« (ebd.). Das bedeutet zugleich, dass der Charakter der Grenze als rein trennende Beziehung zwischen unterschiedlichem Seienden, wie er für die Seinslogik kennzeichnet war, vollkommen aufgehoben ist. Indem Hegel die Grenze als absoluten Unterschied und diesen als Entgegensetzung und Widerspruch interpretiert, verwandelt sich die Grenze in ihr Gegenteil: Nämlich als ein Unterschied, der die Bedingung der Möglichkeit ist, dass das Existierende in der Reflexion-insein-Anderes nur mit sich selbst zusammengeht und so die Beziehung zum Anderen zum notwendigen Teil seiner Selbstbegründung und Selbstverwirklichung wird. Zugleich ist damit die Sphäre des Seins endgültig verlassen: Die Wirklichkeit ist aus dieser Perspektive nicht im positivistischen Sinne als schlicht »vorhanden« aufzufassen, sondern als eine zu betrachten, die aus einem zeitlosen Grund emaniert. Hegel bezieht sich in diesem Zusammenhang durchaus positiv auf Leibniz und dessen Prinzip des zureichenden Grundes: Alles hat einen zureichenden Grund. Bemerkenswert erscheint Hegel an Leibnizens Satz insbesondere, das Leibniz das »Zureichende des Grundes vornehmlich der Kausalität in ihrem strengen Sinne, als der mechanischen Wirkungsweise«, entgegenstellt hat. So stellt Hegel zu Recht heraus, dass schon Leibniz die Insuffizienz eines reinen Kausalitätsdenken im Sinne des Mechanizismus klar erkannt hat, wenn es darum geht, die Wirklichkeit als solche zu begründen. Das Problem ist dabei ein zweifaches: Ein reines Kausalitätsdenken basiert erstens auf dem Unterschied des Grundes und des Gegründeten bzw. des explanans und des explanandums. 127 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Während der Mensch verantwortlich ist für seinen Handlungen und er selbst in diesem Sinne der Grund bzw. die Ursache von dem ist, was er in seinen Handlungen bewirkt – er also in diesem Sinne seine Gründe hat –, ist im reinen Kausalitätsdenken die Ursache stets zu unterschieden von dem, was sie als Wirkung hervorbringt, d. h. dem Bewirkten. Während dort, wo sich etwas von sich aus als sich selbst verursacht, d. h. sich selbst begründet, der Grund ideell ist, spricht Hegel in Bezug auf die Auffassung, welche den Unterschied des Grund und des Begründeten absolut setzt, von realen Gründen. Der Mangel des realen Grundes liegt darin, dass auf Grund der Verschiedenheit von Ursache und Wirkung hier ihre Beziehung als eine äußerliche und zufällige erscheint. Dies hat ihrerseits zur Folge, dass auch die Prämissen, die zur Erklärung eines Tatbestandes herangeführt werden, als kontingent erscheinen und diesem Sinne keine zureichenden Gründe sind. »Das bloß Vermittelte ist das, was es ist, nicht durch sich selbst, sondern durch ein Anderes«, kommentiert Hegel diesen Tatbestand, »und damit ist dasselbe auch bloß ein Zufälliges«. (8, 289) Auf Grund dieser Zufälligkeit führt ein reines Kausalitätsdenken notwendig in einen unendlichen Regress, indem die »Ursachen« immer wieder als von äußerlichen Umständen bedingt erscheinen, die daher ihrerseits erklärungsbedürftig sind, ohne jemals zum Unbedingten, d. h. zu Endursachen, vorzustoßen. Worum es aber Hegel in letzter Konsequenz geht, ist das Seins der Wirklichkeit als solcher als Ausdruck nicht bloß zufälliger Beziehungen, sondern als Ausdruck rationaler Notwendigkeit zu erweisen. Ferner gibt Hegel zu bedenken, dass ein reines Kausalitätsdenken nie zum organischen Charakter, d. h. zu einer begrifflichen Bestimmung des Lebens vordringen kann. Der springende Punkt ist, dass ein wirkliches Ding als eine Einheit mannigfaltiger Bestimmungen aufzufassen ist; die Kausalität ihrem engeren Begriffe nach d. h., als mechanische Wirksamkeit hingegen eine beschränkte Tätigkeit ist. Das Kausalitätsdenken verkennt daher den synthetischen Charakter der Wirklichkeit, »die Teilbestimmungen werden durch ihre Ursachen begriffen; aber die Beziehung derselben, welche das Wesentliche einer Existenz ausmachen, ist nicht in den Ursachen des Mechanismus enthalten«. (LII, 83) Diese Beziehung, das Ganze als wesentliche Einheit, liegt vielmehr – wie vor Kant auch schon Leibniz betonte – im Begriffe, im Zweck als Zweckverursachung. Aber, gibt Hegel zu bedenken, die Bestimmung der Zweckverursachung gehört nicht in die Wesenslogik; »der teleologische Grund ist Eigentum des 128 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Begriffs und Vermittlung durch denselben, welche die Vernunft ist« (LII, 83). Warum kommt Hegel dann an dieser Stelle auf den Zweck zu sprechen? Hegel macht hier ein fundamentale Annahme, die von besonderer Wichtigkeit für die Bestimmung des Lebens ist: Lebewesen sind – wie schon Kant herausgestellt hat – im ausgezeichneten Sinne Ganzheiten. Bei einem Stein, einem Gebirge oder einem Sonnensystem ist eine solche Ganzheit eine relative, eine bloß unterstellte. Hingegen hat – wie schon bemerkt – schon Kant herausgestellt, dass wir uns gar keinen Begriff von einem Organismus machen können, ohne ihn als Ganzheit aufzufassen oder eine solche zumindest zu unterstellen. Leben kann daher nur begriffen werden, wenn man davon ausgeht, dass es seine Gründe in sich trägt und sich selbst als es selbst in seiner Ganzheit verursacht. Das erfordert aber eine Auffassung des Grundes, die ein Entstehen von solchen Ganzheiten, wie es Lebewesen sind, überhaupt denkbar macht. Um seine eigene dialektische Ausfassung des Grundes von hier aus zu rechtfertigen, stellt Hegel dieser Insuffizienz des Kausalitätsdenken nun die Insuffizienz der entgegengesetzten Auffassung entgegen, die er als »formelle Grundbeziehung« (LII, 96 ff.) bezeichnet. Der reale Grund enthält einen verschiedenen Inhalt, womit jedoch Zufälligkeit und Äußerlichkeit in die Grundbeziehung eintreten, die ihrerseits einen unendlichen Regress zur Folge haben. Die formelle Grundbeziehung hingegen führt nicht zu einem solchen Regress; sie identifiziert vielmehr Grund und Gegründetes so miteinander, dass diese Identifikation notwendig ist, jedoch sie für sich genommen tautologisch. Hegels unterzieht von hier aus zahlreiche Begründungsversuche (»Ätiologien«) der Wissenschaft seiner Zeit einer herben Kritik, insofern er die Behauptung vertritt, es handle sich bei diesen Begründungsversuchen, um mehr oder weniger gut getarnte Tautologien. Wenn etwa, so ein Beispiel Hegels, »eine Kristallisationsform dadurch erklärt wird, dass sie ihren Grund in dem besonderen Arrangement habe, in das die Moleküle zueinander treten, so ist die daseiende Kristallisationsform dieses Arrangement selbst, welches als Grund angeführt wird«. (LII, 99)

Das Begründete (die Kristallisationsform) und der Grund (das Arrangement der Moleküle) haben hier denselben Inhalt; die Erklärung ist notwendig und führt auch nicht in einen unendlichen Regress, aber sie ist zugleich nichtssagend. Ebenso erweist sich die Erklärung, dass 129 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

die Erde sich um die Sonne drehe, weil zwischen Sonne und Erde eine anziehende Kraft vorliege (Hegel bezieht sich hier auf Newton), als bloße Tautologie. Denn hinterfragt man, »was die anziehende Kraft für eine Kraft sei, so ist die Antwort, dass sie die Kraft ist, welche macht, dass sich die Erde um die Sonne bewegt, d. h. sie hat durchaus denselben Inhalt als das Dasein, dessen Grund sie sein soll […]« (LII, 98). Um zu einer wirklichen Begründung eines Geschehens vorzustoßen, die nicht tautologisch ist, aber Grund und Gegründetes auch nicht nur äußerlich aufeinander bezieht, gilt es daher, reale und formelle Gründe miteinander auszusöhnen. Hegels Argumentation ist hier in der großen Logik äußerst komplex, dunkel und langwierig und kann an dieser Stelle nicht adäquat diskutiert werden. Herausgestellt werden sollen hier nur die Stellen, die für die Genese der Idee des Lebens zentral sind. Hegel bezeichnet die Einheit von realem und ideellem, formellen Grund als vollständigen Grund. Der vollständige Grund hat im Zusammenschluss vom realen und formellen Grund die Äußerlichkeit des ersteren erhalten. Um zwischen beiden miteinander zu vermitteln, führt Hegel erstens den Begriff der Bedingung ein und identifiziert diesen zweitens mit der wesentlichen Unmittelbarkeit, die das Wesen in seiner Reflexion sich selbst voraussetzt. Der springende Punkt ist: Die Sache (z. B. ein Lebewesen) hat ein Wesen und dieses Wesen ist das Unbedingte der Sache. Unter diesem Gesichtspunkt gilt dann das berühmt-berüchtigte Wort Hegels: »Die Sache ist ehe sie existiert« und zwar als »Wesen oder als Unbedingtes« (LII, 122). Die Sache hat aber auch eine existierende Mannigfaltigkeit von äußeren Umständen (Bedingungen) als ihre Voraussetzung. In Anlehnung an die Reflexionsstruktur der Wesenslogik (die auch im Grund erhalten) bleibt, ist aber nun Voraussetzen nichts anderes, als das sich negativ auf sich beziehende Setzen. Hegel geht nun in der Tat davon aus, dass die unbedingte Sache sich bestimmte Bedingungen als die ihren voraussetzt. Die Bedingungen sind dabei das Unmittelbare, durch das hindurch die Sache mit sich vermittelt ist: »Das Unmittelbare, auf das der Grund sich als auf seine wesentliche Voraussetzung bezieht, ist die Bedingung« (LII, 123) – als Nachfolgebestimmung des realen Grundes. Aber die Unmittelbarkeit der Bedingungen der Sache ist die wesentliche Unmittelbarkeit, die nur in der Rückwendung der Reflexion auf sich ist. Daher gilt: »Es ist das Tun der Sache, sich zu bedingen und ihren Bedingungen sich als Grund gegenüberzustellen« (LII, 119). Die Reflexion des Grundes hebt nun »die Unmittelbarkeit der 130 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Bedingungen auf und bezieht sie zu Momenten in der Einheit der Sache, aber die Bedingungen sind das von der unbedingten Sache selbst vorausgesetzte« (LII, 121). Daher geht die Sache in der Reflexion ihrer Bedingungen nur mit sich selbst zusammen. Hegel drückt dies auch metaphorisch so aus, dass sich die Sache aus der zerstreuten Mannigfaltigkeit ihres Bedingungsgefüges heraus sich an sich selbst »erinnert«: »Wenn also alle Bedingungen der Sache vorhanden sind, d. h. wenn die Totalität der Sache als grundloses Unmittelbares gesetzt ist, so erinnert sich diese zerstreute Mannigfaltigkeit an ihr selbst.« (LII, 122) Unter dieser Perspektive werden die scheinbar bloß vorausgesetzten Bedingungen auch erst durch dieses Zurückerinnern zu den Bedingungen dieser Sache. Die Bewegung der Sache ist somit eine doppelte: Einerseits geht der Grund in das Gegründete über, andererseits ist das Gegründete ein solches, dass erst in dem Rückgang in den Grund, in dem es nur mit sich selbst zusammengeht, zu dem wird, was es ist. Damit hebt sich aber der Unterschied des Grundes und des Gegründeten und damit alle Vermittlung, d. h. auch der Grund selbst auf: »Wenn alle Bedingungen einer Sache vorhanden sind, so heben sie sich als unmittelbares Dasein der Voraussetzung auf, und ebenso sehr hebt sich der Grund auf. Der Grund zeigt sich nur als der Schein, der unmittelbar verschwindet; dies Hervortreten ist somit die tautologische Bewegung der Sache zu sich, und ihre Vermittlung durch die Bedingungen und den Grund ist das Verschwinden beider.« (LII, 122)

Dieses Sichaufheben des Unterschiedes und damit der Vermittlung ist, so Hegel, »Wiederherstellung der Unmittelbarkeit oder des Seins, aber des Seins, insofern es durch das Aufheben der Vermittlung vermittelt ist« (LII, 252). Für dieses Sein hat Hegel den Begriff der »Existenz« vorbehalten. Das Existierende ist eine Ganzheit, die aus der Reflexion der Mannigfaltigkeit ihres Bedingungsgefüges hervorgeht – es hat ein im Wesentlichen synthetisches Sein. Hier liegt der Kern einer ökologischen Auffassung des Lebens in Hegels Logik begründet.

1.5.5. Die Existenz Hegel denkt bei dieser Verwendung des Begriffes der Existenz an die lateinische Bedeutung des Begriffes, die so viel bedeutet wie »Hervorgegangensein«, denn die Existenz ist in seinen Augen »das aus dem 131 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Grunde hervorgegangene, durch Aufhebung der Vermittlung wiederhergestellte Sein« (8, 253). Als solche ist die Existenz die unmittelbare Einheit der Reflexion-in-sich und der Reflexion-in-Anderes. Hegel führt dies in einem berühmten Zitat wie folgt aus: »Sie ist daher die unbestimmte Menge von Existierenden als in-sich-Reflektierten, die zugleich ebenso sehr in-Anderes-scheinen, relativ sind, und eine Welt gegenseitiger Abhängigkeit und eines unendlichen Zusammenhangs von Gründen und Begründeten bilden. Die Gründe sind Existenzen und die Existierenden ebenso nach vielen Seiten hin Gründe sowohl als Begründete.« (8, 253)

Hegel meint, sich mit dieser Deutung des Verhältnisses von Existenz und Grund zugleich auf das gewöhnliche Bewusstsein berufen zu können: So ist etwa der Grund für eine Feuersbrunst der Blitz, der in einen Gebäude eingeschlagen hat und der Grund der Verfassung eines Volkes ist in dessen Sitten und Lebensverhältnissen zu suchen. Die Schwäche des gewöhnlichen Bewusstsein besteht darin, dass in dieser allseitigen Relativität das Existierende isoliert, d. h. als »abstrakt für sich auffasst« (8, 267). Aus Hegels Sicht liegt die Wahrheit jedoch darin, dass das Existierende – Hegel gebraucht hier eine noch heute gängige deutsche Redewendung – im »Verhältnis steht«, d. h. in einem »Anderen« (nämlich allen andern Existierenden) im Verhältnis zu sich selbst steht. Dieses Verhältnis ist, so Hegel, »das Wahrhafte jeder Existenz« (8, 267). Hegel nimmt damit eine entscheidende Einsicht der heutigen Quantenphysik vorweg: Denn auch in dieser ist, wie Carl Friedrich von Weizsäcker betont, »die Weise, in der ein zunächst isoliert gedachtes Objekt doch Objekt sein kann, also eigentlich überhaupt sein kann, seine Wechselwirkung mit anderen Objekten.« 89 Das wesentliche Verhältnis ist nun aus Hegels Sicht zugleich die »Äußerlichkeit und Entgegensetzung selbstständiger Existenzen und deren identische Beziehung, in welcher die Unterschiedenen allein das sind, was sie sind« (8, 267). Allein hieraus wird man erschließen können, dass das wesentliche Verhältnis eine Form haben muss, welche den Gegensatz von Innerlichkeit (Reflexion-in-sich) und Äußerlichkeit (Reflexion-in-Anderes) übergreift. Das wesentliche Verhältnis muss folglich als dynamische Form der Vermittlung des Inneren und des Äußeren gedacht werden. Worin der Gegensatz des Inneren und des Äußeren gesetzt ist, dies ist aber wiederum die 89

Weizsäcker, Carl Friedrich v., Einheit der Natur, München 1971, S. 490.

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Grenze, die daher nicht nur als Voneinander-Abgrenztheit einander äußerlicher Existenzen, sondern als Entgegensetzung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit am und im Existierenden als seine Form nachgewiesen werden muss. Das Existierende muss demnach eine Form haben, in der es sich als solches vollzieht. Dann aber ist die Form dem Existierenden wesentlich zugehörig und kann über keinerlei ihr fremden Inhalt verfügen: Eine solche Form ist – streng genommen – Lebensform, lebendige Form. Hier ist die Stelle, an der Hegel seine Auseinandersetzung mit Kant und seiner Konzeption des Verstandes wieder ausdrücklich aufnimmt. Ansatzpunkt ist dabei Kants Begriff des Dinges-an-sich. Um die menschliche Freiheit zu retten und in der (aus heutiger Sicht falschen) Überzeugung, die Natur müsse mechanistisch im Sinne Newtons gedacht werden, hat Kant bekanntlich zwischen Dingen-an-sich und Erscheinungen unterschieden. Die Annahme der Unerkennbarkeit der Dinge-an-sich führte ihn dabei zugleich zur Trennung von Sinnlichkeit und Verstand, insofern die Formen, in denen wir die Dinge als solche erkennen, eben nicht den Dingen an sich zukommen, sondern ihren Ursprung im humanen Verstand haben. In diesem Sinne bezieht sich aus Kants Sicht die Form auf das Sinnliche als Material der Erkenntnis als auf ein Anderes. Hegel hingegen will zeigen, dass die Dinge Erscheinungen sind, aber keinen bloßen Erscheinungen, sondern Ausdruck der inneren Notwendigkeit und als solche selbst über einen Inhalt und eine Form verfügen. So gilt es, einerseits das Anderssein bzw. Auseinandertreten oder die Abstrahierbarkeit von Inhalt und Form einer Erklärung zuzuführen und andererseits deren Identität aufzuweisen, um die kantsche Kluft zwischen Sinnlichkeit und Verstand zu überwinden.

1.5.6. Das Ding Das Existierende, so Hegel, ist nicht nur eines unter Vielen in einer Welt der Relativität und allseitigen Abhängigkeit, sondern »enthält die Relativität und seinen mannigfachen Zusammenhang mit anderen Existierenden an ihm selbst und ist in sich als Grund reflektiert« (8, 254). Dadurch ist das Existierende Ding. Kant hält Hegel vor, das Ding nur als abstrakte Reflexion-in-sich aufzufassen, an der gegen die Reflexion-in-Anderes festgehalten wird. (8, 254) Darauf wurde bereits in der Interpretation der Seinslogik hingewiesen. 90 Das Ding 133 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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beruht aus Hegels Sicht auf einen grundlegenden Widerspruch: Einerseits ist das Ding Träger von Eigenschaften, andererseits besteht es aus denselben bzw. aus Materien (wie Hegel in Anlehnung an die Sprache der Chemie seiner Zeit) sagt. Die Beziehung des Dinges auf seine Eigenschaften ist zunächst die des Habens: »Haben tritt als Beziehung an die Stelle des Seins«. Das Etwas »hat« zwar auch Qualitäten; aber dieser Ausdruck ist aus Hegels Sicht nicht ganz exakt, denn das Etwas ist unmittelbar Eins mit seinen Qualitäten. Das Ding hat aber – als eine kontinuierliche Reflexion-in-sich – eine von seinen Bestimmungen auch unterschiedene Identität. Zugleich aber sind, so Hegel, die einzelnen Eigenschaften des Dinge – als seine Bestandteile – vom Ding ablösbar und selbstständig: das Ding erscheint als Etwas Sich-Äußerliches. Unter diesem Gesichtspunkt seines Sich-Äußerlich-Seins betrachtet, besteht das Ding »nicht an ihm selbst, sondern aus den Materien und ist nur deren oberflächlicher Zusammenhang, eine äußerliche Verknüpfung derselben« (8, 258). Die Materien oder Stoffe haben sich insofern verselbständigt, insofern das Ding nun aus ihnen besteht. Als »unmittelbare Einheit der Existenz« ist die existierende Materie dabei auch gleichgültig gegen Bestimmtheit, die »verschiedenen Materien gehen daher in die eine Materie […] zusammen« (8, 259). Wie ist dies nun zu erklären, dass das Ding auf diese Weise auseinanderfällt in ein ideelles Prinzip und in abstrakte Materie? Für das Ding gilt in besonderem Maße das, was für das Wesen als solches gilt: es ist sich in der Vermittlung seiner mit sich noch nicht als das Vermittelnde gegeben – sonst wäre das Ding nicht Ding, sondern lebendiger Begriff, Subjekt. Denn nur im Begriff ist die Form (»Begreifen«) mit dem Inhalt absolut identisch und daher »absolute Form«. Da umgekehrt das Ding nicht aus sich selbst heraus das ist, was es ist, ist das, was es ist und das, wodurch es ist, noch voneinander abstrahierbar. Ein Mensch ist kein Ding z. B. im Sinne einer Kohlenstoffverbindung. Für das Verhältnis von Existenz und Identität gilt hingegen, das »die Existenz sich auf die wesentliche Identität als auf ein Anderes bezieht«. 91 Hegel bezieht diese Abstrahierbarkeit auf die Begriffsbestimmungen der Identität und des Unterschiedes, die er mit den

90 91

Vgl. Kap. 1.3.4. Vgl. Schmidt, K. J., a. a. O., S. 134.

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klassischen Begriffen der Materie und der Form identifiziert. Wie Peter Rohs 92 in der nach wie vor wohl gründlichsten Studie zu dieser Problematik herausgearbeitet hat, hat sich Hegel in dieser seiner Konzeption des Verhältnisses von Materie und Form stark an Aristoteles orientiert. In der materiellen Beschaffenheit des Dinges kommt die Reflexionsbestimmung der Identität (Reflexion-in-sich), in der Form als qualitativer Bestimmtheit die des Unterschiedes (Reflexion-in-Anderes) zum Ausdruck. »Die Materie«, so Hegel, »ist die einfache unterschiedslose Identität, welche das Wesen ist, mit der Bestimmung, das Andere der Form zu sein«. (LI, 88) Als solche ist sie die »eigentliche Grundlage« oder das »Substrat der Form« (LII, 88). Demgegenüber gilt, das »der Form überhaupt alles Bestimmte« angehört (LI, 86). Es ist somit die Form das Ideelle am Ding, welches es zum selbständigen Träger von Eigenschaften macht. Die Materie ist ferner »das Passive gegen die Form als Tätiges«. (LII, 89) Die Form als Reflexionsbestimmung des Unterschiedes ist daher nichts anderes, »als das sich auf sich beziehende Negative der Widerspruch in sich selbst« (LII, 89). Als solche ist sie aber auch die »absolute Identität« und enthält die Materie. Form und Materie sind als Reflexionsbestimmungen zwar voneinander abstrahierbar, aber zugleich an sich dasselbe. Die Einheit von Materie und Form ist damit ihre »Beziehung« (8, 260) in welcher sie ebenso als unterschieden voneinander sind und ineinander »scheinen«. Das Ding ist damit der Widerspruch, einerseits nach einer negativen Einheit (d. h. als Reflexion des Unterschiedes) die Form zu sein, in der die Materie bestimmt und zu Eigenschaften herabgesetzt ist und andererseits zugleich aus Materien zu bestehen, die sich verselbständigt haben und damit die Selbständigkeit des Dinges negieren: Aus dieser Perspektive ist das Ding nur die »äußerliche Verbindung und die quantitative Grenze« (LII, 144) derselben. Das Ding ist auf diese Weise als Negation seiner eigenen Selbstständigkeit. Das Ding ist so die wesentliche Existenz als eine in-sich-selbst aufhebende, d. h. als Erscheinung.

Rohs, Peter, Form und Grund: Interpretation eines Kapitels der Hegelschen Wissenschaft der Logik, Bonn, 1969.

92

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1.5.7. Die Erscheinung und das wesentliche Verhältnis Was aber versteht Hegel unter Erscheinung? In der Tat gebraucht Hegel den Begriff der Erscheinung im diametralen Gegensatz zu Kant: Während Kant den Begriff Erscheinung gebrauchte, um eine Differenz der erscheinenden Welt zu dem, was dieser Welt zugrunde liegt, dem An-sich-Seienden oder den Noumena zum Ausdruck zu bringen, gebraucht Hegel den Terminus, um das wesentliche Manifestiert-Sein der Wirklichkeit, d. h. die Wirklichkeit als Manifestation des Wesens zum Ausdruck bringen. Wie Taylor zu Recht bemerkt, macht sich Hegel dabei eine Doppeldeutigkeit zu Nutze, die im Deutschen in der Bedeutung des Wortes »Erscheinen« angelegt ist. »Erscheinen« bedeutet hier nicht, dass etwas nur scheinbar das ist, was es seinem (ersten) Anschein nach ist bzw. zu sein auch nur scheint. Sondern das Erscheinende befindet sich als das »Sich-Offenbarende«, »Sich-Zeigende« im Gegensatz zum Verborgenen 93: »Die Wirklichkeit als Erscheinung zu betrachten, bedeutet für Hegel, sie als das Erscheinen der inneren Notwendigkeit zu verstehen, als entfaltet, um eine Notwendigkeit zu manifestieren, die von Natur aus dazu bestimmt ist, vollkommen manifest zu werden.« 94 So sagt Hegel in genau diesem Sinne: »Das Wesen muss erscheinen. Sein Scheinen in ihm ist das Aufheben seiner zur Unmittelbarkeit, welche als Reflexion-in-sich so Bestehen (Materie) ist, als Form, Reflexion-in-Anderes, sich aufhebendes Bestehen ist. Das Scheinen ist die Bestimmung, wodurch das Wesen nicht Sein, sondern Wesen ist, und das entwickelte Scheinen ist die Erscheinung. Das Wesen ist nicht hinter oder jenseits der Erscheinung, sondern dadurch, dass das Wesen es ist, welches existiert, ist die Existenz Erscheinung.« (8, 262)

Während im Ding Materie und Form, Identität und Unterschied noch auseinandertreten, existiert aus Hegels Sicht das Erscheinende nun so, »dass sein Bestehen unmittelbar aufgehoben, dieses nur ein Moment der Form selbst ist; die Form befasst das Bestehen oder die Materie als eine ihrer Bestimmungen in sich« (8, 132). Auf diese Weise verfügt die Form über einen Inhalt. Der Inhalt ist nichts anderes als der innere Zusammenhalt, die innere Einheit der Wirklichkeit als eines notwendigen Begründungszusammenhangs, in dem die Form als das Gesetz der wechselseitig aufeinander bezogenen, 93 94

Ausführlich erläutert Hegel dies in der Anmerkung von § 133 der Enzyklopädie. Taylor, a. a. O., S. 358.

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existierenden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen wirksam ist. »Diese unendliche Vermittlung«, so Hegel, »ist zugleich eine Einheit der Beziehung auf sich, und die Existenz ist zu einer Totalität und Welt der Erscheinung, der reflektierten Endlichkeit entwickelt«. (8, 264) Als das Gesetz der Erscheinung ist die Form als Inhalt daher gleichsam die vergeistigte Materie, d. h. die Materie, der die Form als ihr sie begründendes Prinzip innewohnt. Das unterscheidet den Inhalt von der Materie. Wenn auch – wie Hegel betont – die Materie nicht ohne jedwede Form ist, so ist es für einen Block Marmor doch gleichgültig, ob der die Form einer ionischen oder dorischen Säule hat. Die Beziehung eines Inhalts zu einer Form hingegen ist aus Hegels Sicht eine solche, in der eine solche Gleichgültigkeit nicht gegeben ist und eben hier liegt das geistige Moment, da es erlaubt zu hinterfragen, ob denn eine Form einem Inhalt auch angemessen ist. So ist es etwa für ein Kunstwerk als Kunstwerk nicht gleichgültig, was für eine Form es hat, ein Kunstwerk benötigt daher – so Hegel – »die rechte Form« (8, 265). Hier zeigt sich allerdings zugleich das Zweischneidige, das der Form in Bezug auf ihre Beziehung zum Inhalt innewohnt, denn eine Kunstwerk, so Hegel, dem die rechte Form fehlt, ist eben darum kein rechtes: »Wahrhafte Kunstwerke sind eben nur solche, deren Inhalt und Form sich als identisch erweisen.« (8, 266) Es ist somit ein Zweifaches vorhanden, nämlich das einerseits die Form dem Inhalt äußerlich ist (sonst könnten wir Form und Inhalt nicht auseinanderhalten), und andererseits sie sich zugleich mit dem Inhalt identisch erweist. Um sich diesem Problem anzunähern und sich zu vergegenwärtigen, worauf Hegel mit seinem Formbegriff eigentlich abzielt, ist ein kurzer Verweis auf Leibniz hilfreich: Leibniz hatte als das innere Wesen (Inhalt) der monadologischen Wirklichkeit bekanntlich die universelle Harmonie ausgesprochen. Leibniz dachte dabei an die Abstimmung aller monadologischen Wirklichkeiten aufeinander, durch die hindurch in einer wechselseitigen Anhängigkeit von Tätigsein und Erleiden (»accion et passion«), d. h. von Gründen und Begründeten, die monadischen Wirklichkeiten einander auszudrücken vermögen (Monadologie, § 52, § 56). Da die leibnizschen Monaden aber nicht im hegelschen Sinne »Andere« gegeneinander sind, erfolgt die Abstimmung der monadischen Wirklichkeiten nur indirekt, nämlich durch Gott, der die Monaden von jeher aneinander angepasst hat. Tatsächlich harmonieren daher die Monaden nur äußerlich miteinander – so. wie Teile eines Puzzles durch ihre spezifische Unterschiedenheit hindurch ein Ganzes zum Ausdruck bringen können. Es liegt 137 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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aber nicht im Wesen der Monade begründet, in ihrem Anderen mit sich zusammengehen zu können – als vollständiger Begriffe ist je Monade per se eine Ganzheit. 95 Die Monaden gehen – mit anderen Worten – nicht in der universellen Harmonie als diese Harmonie mit sich zusammen: Ihr innerer Zusammenhalt ist nicht durch dieselbe gestiftet, da der Punkt, in dem sie alle aufeinander bezogen sind, d. h. ihre Vermittlung in Gott liegt. Damit die Monaden in der universellen Harmonie als diese Harmonie mit sich zusammengehen könnten und die Harmonie damit inhaltliche Relevanz gewinnen würde, müssten sie ihre Unterschiedenheit als eine Form der Selbst-Unterscheidung und diese Selbst-Unterscheidung als eine Form von Selbstidentität reflektieren. Der Unterschied dürfte nicht einfach zwischen sie fallen, sondern müsste reflektiert und »verinnerlicht« werden; die Monaden an- und fürsich zu sein. Eben dies will Hegel mit seiner dialektischen Interpretation des Form-Begriffes leisten, der einerseits dem Inhalt äußerlich ist und andererseits doch vom Inhalt nicht ablösbar ist. Die Form ist – wie wir sahen – selbst als der absolute Unterschied, d. h. der Unterschied an sich, so zugleich das Unterschiedene vom Unterschied. Demzufolge existiert die Form auf zweifache Weise, nämlich einerseits »nicht reflektiert« (8, 264) als Grenze, Unterschiedenheit und Entgegensetzung einander äußerlicher Existenzen und als reflektierter Unterschied oder »entwickelte Form« – als deren identische Beziehung. Es ist demnach nicht so, das einerseits das Vater-Sein das Sein des Sohnes begründet und anderseits das Sein des Sohnes das Vater-Sein – wie dies bei Leibniz der Fall wäre, aus dessen Sicht hier zwei (wenn auch wechselseitig aufeinander durch Gott bezogene) Sachverhalte vorliegen. Sondern ihrer beider Reflexion-in-ihr-Anderes ist als ihre Reflexion ineinander zugleich ihre Reflexion-in-sich – es ist ein Verhältnis, um das es sich hier buchstäblich dreht. Der Vater – als unmittelbare Existenz aufgefasst – setzt sich somit das von ihm unterschiedene äußerliche Sein des Sohnes voraus, so dass der Vater überhaupt erst Vater ist mittels der Rückkehr aus der Reflexion in sein Anderes – seiner Entäußerung an den Sohn; und umgekehrt gilt das Gleiche. Der Inhalt (Vatersein) – nun verstanden als die Identität »Ferner, da sie Begrenzte nur sind als sich auf andere Begrenzte beziehend, die Monade aber zugleich ein in sich geschlossenes Absolutes ist, so fällt die Harmonie dieser Begrenzungen, nämlich die Beziehung der Monaden aufeinander, außer ihnen und ist gleichfalls von einem anderen Wesen oder an sich prästabiliert.« (LII, 199)

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von Form und Inhalt – ist daher der Form auch äußerlich, denn er setzt einerseits zur Verwirklichung seiner selbst den Unterschied (d. h. der Vater die äußerliche Existenz des Sohnes) voraus und wir können Inhalt und Form insofern auch auseinanderhalten, insofern wir auch Vater und Sohn auseinanderhalten können. Andererseits ist in der Bestimmtheit des Vaterseins aber die Beziehung auf den Sohn auch innerlich angelegt, denn sie begründet den Vater als Vater – erst in seinem Anderen (Sohn/Tochter) geht dieser mit sich zusammen – gibt es doch keine Väter ohne Söhne oder Töchter, d. h. keine kinderlosen Eltern. »Die Erscheinung«, führt Hegel dies aus, »so gesetzt, ist das Verhältnis, dass ein- und dasselbe, der Inhalt, als die entwickelte Form, als die Äußerlichkeit und Entgegensetzung selbstständiger Existenzen und deren identische Beziehung ist, in welcher Beziehung die Unterschiedenen allein das sind, was sie sind.« (8, 267)

Die Erscheinung bestimmt sich somit wesentlich als Verhältnis in dem alle Existierenden zueinander und darin jedes Einzelne zu sich selbst steht: »Das Existierende ist dadurch nicht abstrakt für sich, sondern nur in einem Anderen, aber in diesem Anderen ist es die Beziehung auf sich und das Verhältnis ist die Einheit der Beziehung auf sich und der Beziehung auf anderes.« (8, 267) Worin das Verhältnis als Verhältnis ist, dies ist wiederum die Grenze, die einerseits als Abgegrenztheit und Unterschiedenheit des Existierenden und in der darin angelegten Beziehung jedes einzelnen Existierenden auf sich selbst ist. Für die Betrachtung der Rolle der Grenze bedeutet dies: die Grenze existiert erstens nun einmal als Unterscheidung von aneinander äußerlichen Existenzen (bzw. als Unterscheidung von Form und Inhalt) und zweitens als Formprinzip, in der diese Unterscheidung reflektiert und aufgehoben ist (d. h. als Identität von Form und Inhalt). Da dem wesentlichen Inhalt aber – wie wir sahen – die Form nicht gleichgültig ist und die Form – als nicht reflektiert – trotzdem dem Inhalt auch äußerlich ist, bedeutet dies, dass die Grenze drittens nicht nur an dem Existierenden ist, sondern als wesentliche Grenze in jedes Einzelne des Existierenden fällt: Der Vater ist als Vater immer schon »innerlich« auf den ihm zugleich als eigenständige Existenz »äußerlich« gegenüberstehenden Sohn bezogen, weil er in dieser Beziehung erst zu dem wird, was er ist. Die Grenze, sowie sie in jedes einzelne Existierende fällt, d. h. Grenze als wesentliche Grenze, manifestiert sich somit als Gegensatz des Inneren und des Äußeren quer durch das Existierende hindurch und ist als reflektierte zugleich die 139 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Form der Vermittlung, durch die hindurch die Einheit des Innern und des Äußeren gestiftet ist. Wie schon im Falle Schranke entspringt der Grenze (d. h. der Form als nicht reflektiert) damit ein Sollen, denn als Innere markiert sie die Wirklichkeit von etwas nur An-Sich-Seiendem, noch Auszuformenden, die Möglichkeit von etwas, das erst im Heraustreten in die Wirklichkeit zu dem wird, was es ist. Als Vermittlung des Inneren und des Äußeren in der Reflexion der Im-Verhältnis-stehenden-Dinge nimmt die Grenze damit in gewisser Weise die Rolle ein, die der prästabilisierende, die Monaden aufeinander abstimmende, Gott in Leibniz Monadologie innehatte. In diesem Sinne lässt sich mit Félix Duque sagen, dass es sich beim Unterschied des Inneren und des Äußeren »um die wesentliche Grenze handelt, die auf ihre Weise das Absolute vertritt durch den Trennstrich InneresÄußeres«. 96 1.5.7.1. Der Teil und das Ganze Hegel geht – um die Dialektik des Innern und des Äußeren bzw. die wesentliche Grenze zu explizieren, nicht unmittelbar vom wesentlichen Verhältnis als Identität und Unterschied von Inhalt und Form über, sondern führt zunächst die Begriffe des Ganzen und des Teils, sowie den der Kraft und ihrer Äußerung ein. Um sich zu verdeutlichen, warum Hegel diesen Weg einschlägt kann man auch hier noch einmal auf Leibniz rekurrieren. Die Monaden – sagten wir – gehen nicht in der universellen Harmonie als diese Harmonie mir sich zusammen, da sie als Teile des universellen Ganzen nur äußerlich bzw. indirekt durch Gott aufeinander bezogen sind. Den Monaden fehlt in diesem Sinne die Fähigkeit, ihr Leben in konstruktiver Weise miteinander zu teilen – sich im Anderen auf sich selbst beziehen zu können, so dass es zu einer Selbstintegration des Ganzen in seinen Teilen, d. h. den Monaden als Teilnehmern des monadologischen Kosmos käme. Hegel möchte hingegen zeigen, dass das Existierende erst in der Teilung »seines Leben« mit seinem Anderen, zu dem es im Verhältnis steht, mit sich selbst zusammengeht. Das Zusammengehen des Existierenden mit sich ist folglich durch eine Teilung des Lebens (»Verhältnis«) vermittelt, und diese Teilung als solche ist nichts anderes als Duque, Félix, Das Erscheinende und das wesentliche Verhältnis, in: Die Wissenschaft der Logik, a. a. O., S. 159.

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die Äußerlichkeit und Entgegensetzung selbstständiger Existenzen. Vater und Sohn sind so gesehen beide die Teile (»Teilnehmer« würden wir heute sagen) eines Verhältnisses, insofern das Vater-Sein die äußerliche Wirklichkeit des Sohnes als Selbstständige voraussetzt und umgekehrt. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Verhältnis das Ganze und es besteht aus seinen Teilen. Aber es zeigt sich ja schon, dass der Vater überhaupt erst Vater wird, in dem Verhältnis, in dem er zu Tochter oder Sohn steht. Die Wirklichkeit des Vaters impliziert und enthält daher die des Sohnes – und umgekehrt; und beide sind daher selbst das Ganze. Beide sind »im Anderen zugleich bei sich selbst« – um Hegels berühmte Redeweise zu benutzen – und heben daher die Teilung auf. Oder, mit anderen Worten: Beide sind daher Teil und Ganzes und in der Tat gehört es ja auch zum Begriff des Ganzen, Teile zu haben. Aber ein Ganzes, das geteilt wird, wiederum hört auf ein Ganzes zu sein. Das widersprüchliche Verhältnis der Teile und des Ganzen ist, als ein Unmittelbares begriffen, daher nichts anderes als der unaufgelöste Widerspruch oder die Form als nicht-reflektiert: »Das Verhältnis des Ganzen und der Teile ist insofern unwahr, als dessen Begriff und Realität einander nicht entsprechen.« (8, 267) Das Ganze ist das Positive (der wesentliche Inhalt), dem die Teile (die Form als unreflektiert) als das Negative gegenüberstehen. Ist das Positive der Widerspruch, die Auseinandersetzung der Entgegensetzten zu potenzieren, indem es dieselben als das in gleicher Hinsicht Entgegengesetzte zugleich aufeinander bezieht, dann ist das Negative dieser Widerspruch an und für sich, so dass es sich – wie wir sahen – als das Entgegengesetzte im Ausschließen der Identität mit sich selbst »als das Entgegengesetzte« aufhebt. Dieser Widerspruch an und für sich, welcher das Negative ist, ist das Teil. »Die Teile«, sagt Hegel, »sind voneinander verschieden und sind Selbstständige. Sie sind aber nur Teile in ihrer identischen Beziehung aufeinander oder insofern sie zusammengenommen das Ganze ausmachen. Aber das Zusammen ist das Gegenteil und Negation des Teils«. (8, 267) Hegel führt diese Dialektik auch so vor, indem er auf Kants Antinomie der unendlichen Teilbarkeit der Materie rekurriert: Die Teile sind überhaupt nur hinsichtlich eines Ganzen als Teile. Streicht man nun dieses Ganze gleichsam durch, dann sind die Teile keine Teile mehr, sondern selbst Ganzheiten, in deren Begriff es aber wiederum enthalten ist, Teile zu haben, d. h. sich negativ auf sich zu beziehen – ein Prozess, der offenbar ins Unendliche führt, insofern jedes neue Teil wieder als Ganzes, dieses 141 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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wiederum als teilbar betrachtet werden kann. Das Irrtümliche, das in einer solchen Betrachtungsweise liegt, besteht darin, dass unmittelbar vom Begriff des Ganzen zu dem des Teils übergegangen wird. Tatsächlich aber ist aus Hegels Sicht das Teil nicht das Andere des Ganzen, zu dem übergegangen werden könnte, sondern das »Anderssein« (LII, 169) des Ganzen, d. h. die Einheit an ihr selbst. Die Teile sind daher nur als Teile in einer Teilung – einem Zusammen oder Miteinander – womit aber zugleich ihr Anderssein gegeneinander und damit sie als Teile zugleich auch aufgehoben ist. So führt der Gedanke des selbstbezüglichen Anderssein zu dem eines unendlich in-sich-reflektierten Ganzen, das in seiner Reflexion-in-Anderes in eine unendliche Teilung seiner selbst übergeht und »sich als existierend setzt und umgekehrt diese Reflexion-in-Anderes zur Beziehung auf sich und zur Gleichgültigkeit zurückführt« 97 (8, 268). Das in-sichreflektierte Ganze muss daher aus Hegel Sicht als Kraft und ihre Äußerung aufgefasst werden. 1.5.7.2. Die Kraft und ihre Äußerung Die Kraft ist aus Hegels Sicht die wahre Unendlichkeit, welche in der Antinomie der unendlichen Teilbarkeit zum Tragen kommt. Sie ist die »negative Beziehung des Verhältnisses auf sich, […] das mit sich identische Ganze als Insichsein, – und als dies Insichsein (sich) aufhebend und sich äußernd, und umgekehrt die Äußerung, die verschwindet und in die Kraft zurückgeht« (8, 269). Während das Verhältnis des Ganzen und der Teile endlich ist, muss die Kraft zugleich als unendlich aufgefasst werden. Die Unendlichkeit liegt darin, dass

Denselben Gedanken finden wir in einer hoch-elaborierten Form in Whiteheads Hauptwerk »Process and Reality«. Whitehead entwickelt hier eine Theorie der »koordinierten Teilung« (coordinate division) auf dem Boden einer relationalen Raumtheorie, mit der er zugleich eine theoretische Fundierung der Quantentheorie auf dem Gebiet der Naturphilosophie leisten will. Dabei entspricht die Reflexion-in-Anderes der makroskopische Prozess und der Aufhebung der Teilung, d. h. der Reflexion-insich, der mikroskopische. Vgl. a. a. O., Part IV, S. 283 ff. Bei Whitehead ist dabei die die Dialektik des Teils und des Ganzen eng mit der des Einen und des Vielen verbunden. Vgl. Rohmer, Stascha, Whiteheads Synthese von Kreativität und Rationalität. Reflexion und Transformation in Alfred North Whiteheads Philosophie der Natur, Freiburg/München 2000. Auch bei Hegel scheint es sinnvoll, das Verhältnis Teil/Ganzes als reflexionslogische Weiterentwicklung des Verhältnis des Einen und des Vielen aus der Seinslogik aufzufassen. Vgl. hierzu: Sell, a. a. O., S. 62.

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die Identität der beiden Seiten des Verhältnisses (Ganzes/Teil) in der Kraft gesetzt ist. Während das Ganze aufhört, ein Ganzes zu sein, wenn es geteilt wird, gilt von der Kraft, dass sie erst dadurch, dass sie sich äußert, sich als Kraft bewährt und in ihrer Äußerung daher zu sich selbst zurückkehrt. Denn die Äußerung der Kraft ist selbst wiederum Kraft. Es macht demnach aus Hegels Sicht auch keinen Sinn, anstatt vom inneren Wesen der Dinge oder des unerkennbaren Ansich-Seienden nun von verborgenen Kräften zu reden, denn das, was es nötig hat sich zu verbergen, ist eben darum nicht kräftig. Ungeachtet ihrer Unendlichkeit – als unendliche Vermittlung des Teils und des Ganzen – ist die Kraft in ihrer Unendlichkeit zugleich endlich. Kritisch wendet Hegel daher gegen Herder ein, dass es verfehlt ist, Gott als Kraft aufzufassen. (8, 270) Auch in der Kraft treten – anders als im sich-begreifenden Begriff – Inhalt und Form noch auseinander. Denn die Kraft ist die Unendlichkeit, die sie ist, nur an sich, nicht an- und fürsich. Um die Unendlichkeit, die sie an sich ist, für sich zu sein, müsste die Kraft Lebenskraft sein, d. h. aber auch Zwecke verfolgen, denn der Zweck ist – wie wir im Kommenden sehen werden – aus Hegels Sicht nichts anderes als die für-sich-seiende Idealität, welche die Idee des Lebens begründet. Auch die Kraft ist daher sich in der Vermittlung mit sich noch nicht als das Vermittelnde geben, weil sie gleichsam nicht dahinter kommt, was sie an sich ist, so dass sich selbst als selbst ins Werk setzen und gleichsam anstoßen könnte. Hierin liegt die Unfreiheit der bloßen Kraft. Während der Mensch in der zielgerichteten Handlung in seiner Freiheit auf seine Freiheit ausgreifen kann, muss die Kraft durch Anderes angeregt werden (sie bedarf der »Sollizitation von außen«) und bedarf ferner »zu ihren Bestehen eines Anderen« (273 ff.). So hat z. B. die magnetische Kraft einen Träger – nämlich das Eisen –, der nicht sich selbst als Magnetismus und sein Ausdruck verstehen lässt. Alle Kräfte sind demnach aus Hegels Sicht bedingt und vermittelt durch Anderes. Da die bloße Kraft damit nicht »von sich selbst ausgehend« wirkt, hat dies zur Folge, dass die Kraft – als bloße Kraft betrachtet – blind wirkt. Ungeachtet dieser Eigenblindheit, fehlenden Spontaneität und Subjektivität ist die Kraft aber in ihrem vorausgesetzten Anderen zugleich mit sich vermittelt. Die Kraft ist das Ganze, welches sich negativ auf sich bezieht, und sich äußert. Die Äußerung ist als unendliche Teilung die Reflexion-in-Anderes, die aber ebenso Vermittlung, Reflexion-in-sich ist. Daher ist die Äußerung die Vermittlung, wodurch die Kraft zu sich selbst zurückkehrt und überhaupt als Kraft ist. Die 143 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Äußerung muss daher als Aufhebung der Verschiedenheit der beiden Seiten, welche in diesem Verhältnis vorhanden sind, betrachtet werden. (8, 273 ff.) Diese beiden Seiten sind nun das Innere und das Äußere – geschieden durch die wesentliche Grenze. 1.5.7.3. Die wesentliche Grenze als Unterschied des Inneren und des Äußeren Das Innere und das Äußere sind die zwei Seiten des Verhältnisses, in dem die Kraft sich bewegt; geschieden nur durch die wesentliche absolute Grenze, welche als absoluter Unter–schied, Negativität und entwickelte Form zugleich schon längst keine bloße Grenze mehr ist, sondern selbst dasjenige, wodurch die Vermittlung erfolgt. Wie bereits dargelegt, macht die Identität des Inneren und des Äußeren an sich seienden Inhalt ihres Verhältnisses aus. Das Innere und das Äußere sind daher aus Hegels Sicht (der sich hier auch kritisch gegen Descartes wendet) für sich genommen leere Abstraktionen – einzig und allein in ihrer Beziehung aufeinander haben sie einen Sinn. Das Innere – für sich genommen – ist die »leere Form der Reflexion-insich«, der die Existenz als Äußeres, als »leere Form der Reflexion-inAnderes« gegenübersteht. (8, 274) Ihr Unterschied ist die Grenze. Diese aber ist nichts anderes als die Form als nicht reflektiert. Ihre Identität hingegen ist der aufgehobene Unterschied, die entwickelte, reflektierte Form. Diese ist zugleich der »erfüllte Inhalt«, nämlich als die »in der Bewegung der Kraft gesetzte Einheit des Reflexion-in-sich und der Reflexion-in-Anderes«. (8, 274) Damit stellt sich die Frage: Gibt es auch schon bei Hegels Konzeption der Subjektivität, so, wie sie sich in der Genese des Begriffs abzeichnet, eine in der Grenze angelegte Doppelaspektivität im Sinne nicht ineinander überführbarer Richtungsgegensätze von Innen und Außen, wie er im Zentrum von Plessners Konzeption des Lebendigen steht, der wir uns im Kommenden zuwenden werden? In der Tat wird man diese Frage schon an dieser Stelle vorsichtig bejahen können. Denn einerseits sagt Hegel zwar: »Das Äußere ist daher fürs erste derselbe Inhalt als das Innere. Was innerlich ist, ist auch äußerlich vorhanden und umgekehrt; die Erscheinung zeigt nichts, was nicht im Wesen ist, und im Wesen ist nichts, was nicht manifestiert ist.« (8,274) Aber der »erfüllte Inhalt« ist als ihre Identität doch erst in der Überführung des Inneren in das Äußere und umgekehrt gegeben; eine Überführung, die einen echten Gegensatz von Innerlichkeit und Äußerlichkeit voraussetzt. In die144 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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sem Sinne sind Innen und Außen als unaufgelöster Widerspruch aus Hegels Sicht »schlechthin entgegengesetzt«. (8, 274) Paradoxerweise führt diese Entgegensetzung aus Hegels Sicht jetzt aber dazu, dass er davon ausgeht, dass das, »was daher nur ein Innerliches ist, auch damit nur ein Äußerliches ist und was nur ein Äußerliches ist, auch nur erst ein Innerliches ist«. (8, 274) Es sei, so Hegel, ein gewöhnlicher Irrtum, das Wesen als das bloß Innere zu nehmen. Hegel erläutert diese seine zunächst eigenwillig klingende These am Beispiel des Kindes. Im Kind ist die Vernünftigkeit zunächst nur innerlich (an sich), nämlich als Potenzial (Möglichkeit) für seine weitere Entwicklung – seine (Ver-Wirklichung) – enthalten. Gerade darum muss dem Kind aber zugleich die Vernünftigkeit von Anderen, d. h. von außen – nämlich von Eltern, Lehrern etc. – beigebracht werden. Als Vernunftwesen betrachtet ist das Kind sich damit gleichsam selbst ein Stück weit fremd, d. h. äußerlich, insofern es seine Vernünftigkeit noch nicht wirklich verinnerlicht hat und daher der Unterweisung bedarf. Aber die Vernunft verinnerlichen hieße aus Hegels Sicht, sie zunächst zur Entfaltung zu bringen, d. h. zu entäußern und aus dieser Entäußerung zurückzukehren. Ebenso verfehlt wie die Auffassung des Wesens als einen bloß inneren, verborgenen erscheint Hegel der Glaube an das Vorhandensein innerlicher Vorzüge (Talente, moralische Qualitäten etc.), wenn diese als solche nie in Erscheinung treten. »Was der Mensch tut«, so Hegel, »das ist er«. Hier zeigt sich Hegel als scharfer Kritiker jeglicher Form von deontologischer Ethik: Die Wirklichkeit der Vernunft, als Wirklichkeit von Moralität und Sittlichkeit, ist in seinen Augen etwas, was sich in dieser Welt zu erweisen hat. Mit seiner Deutung des Verhältnisses von Innerlichkeit und Äußerlichkeit unternimmt Hegel daher schon einen ersten entscheidenden Schritt hin zur Deutung der Vernunft als aller Wirklichkeit, d. h. der Identität von Vernunft und Wirklichkeit. In der Tat vertritt Hegel so auch die These, dass die Identität des Inneren und des Äußeren nichts anderes als die Wirklichkeit ist. Diese ist schlechterdings »die unmittelbare Einheit des Wesens und der Existenz oder des Inneren und des Äußeren« (8, 279). Das Innere und das Äußere sind »leere Abstraktionen«, der »als Schein gesetzte Schein« (ebd.): »Durch die Äußerung der Kraft wird das Innere in Existenz gesetzt; dies Setzen ist das Vermitteln durch leere Abstraktionen; es verschwindet in sich selbst zur Unmittelbarkeit, in der das Innere und das Äußere an und für sich identisch und deren Unterschied als nur Gesetztsein bestimmt ist.« (8, 279)

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1.6. Substanz: Die Grenze als intersubjektive Bestimmung Vom Begriff der Wirklichkeit als Einheit des Inneren und des Äußeren leitet Hegel zum Begriff der Substanz über. Der Übergang wird dabei durch eine Analyse des Begriffes der Modalkategorien Möglichkeit Wirklichkeit, Zufall und Notwendigkeit geleistet, der hier ausgeblendet werden muss. 98 Das absolut Notwendige erweist sich in dieser Analyse als Einheit des Seins und des Wesens; damit als die »Reflexion oder Form des Absoluten«. (Ebd.) Als ein solches Sein betrachtet ist das absolut Notwendige Substanz. Denn die Substanz »ist das Sein, das ist, weil es ist, das Sein als absolute Vermittlung seiner mit sich selbst« (LII, 219). Hegel begreift in kritischer Würdigung von Spinozas Deutung der Substanz diese als causa sui als Selbstbegründungsstruktur. Von hier aus ist zugleich zu ersehen, warum Hegel im Anschluss an die Exposition seines Substanzbegriffes zu einer Diskussion der Begriffe der Kausalität und Wechselwirkung übergeht. Die Diskussion der Wechselwirkung ist es denn auch, im Rahmen derer der Übergang von der Wesenslogik in die Logik des Begriffs erfolgt. Hier vollzieht sich denn auch der letzte Schritt hin zu einer Transformation der Grenze ins Urteil. Zugleich legt Hegel hier die logischen Grundlagen eines Übergangs von mechanischen zu lebendigen und geistigen Wirkungsweisen: Der Selbstbewegung und Spontaneität, dem synthetischen Charakter und der Selbstdifferenzierung in Inneres und Äußeres fügt er nun noch die Form der Selbstverursachung und die Leidensfähigkeit hinzu. Als das Sein, das ist, weil es ist, ist nun die hegelsche Substanz gar nichts anderes als die spinozistische Substanz als causa sui. Während aber Spinoza aus Hegels Sicht die Substanz als Ursache-ihrerselbst bloß postuliert, möchte Hegel – wie bereits bemerkt – das logische Bild »einer durch den Selbstwiderspruch ihrer Negation bewiesenen und begründeten Selbstbegründungsstruktur« 99 entwerfen. Dazu ist es aus Hegels Sicht erforderlich, die Starrheit der spinozistischen Substanz zu überwinden, d. h. die Substanz in ein dynamisches Verhältnis zu sich selbst zu setzen. Spinozas Fehler besteht aus Hegels Sicht darin, dass er Bestimmtheit in der einseitigen Form der Negation (Anderssein) als unmittelbarer denkt. Spinoza entwickelt Vgl. hierzu: Henrich, Dieter, Hegels Theorie über den Zufall, in: Kant-Studien 50 (1–4), 1959, S. 131–148. 99 A. a. O. 98

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Substanz: Die Grenze als intersubjektive Bestimmung

aber nicht den Gedanken einer Negation der Negation bzw. selbstbezüglichen Negativität, wie dies Hegel mit der Konzeption des Wesens tut, das Gleichheit mit sich nur durch das Aufheben der Gleichheit mit sich ist. Hegel bezeichnet dieses Verhältnis, indem die Substanz sich auf sich bezieht, als »absolutes Verhältnis« (8, 294). Während im wesentlichen Verhältnis Beziehung-auf-sich nur als Beziehung auf Anderes ist, und daher auch noch die Kraft und ihre Äußerung noch als bedingt erscheinen, ist das absolute Verhältnis nun ein reines Selbstverhältnis, das sich als solches in seinem Unterschieden nur zu sich verhält. Das absolute Verhältnis ist der »Prozess, in welchem das Verhältnis sich ebenso zur absoluten Identität aufhebt« (8, 294). Von hier aus ist zu sehen, dass sich das absolute Verhältnis in dreifacher Weise expliziert: als Substanzialität, Kausalität und Wechselwirkung. Denn dies sind die drei Entfaltungsstufen, in denen sich die absolute Notwendigkeit als das enthüllt, was sie in Wahrheit ist: als Freiheit des Begriffs.

1.6.1. Substanzialität und Akzidentialität In seiner unmittelbaren Form ist das absolute Verhältnis nun nichts Anderes als das Verhältnis von Substanzialität und Akzidentialität. Als Einheit von Unmittelbarkeit und absoluter Negativität fasst Hegel dabei die Substanz als ein Verhältnis auf, das sich in seinen Akzidenzien (Eigenschaften) nur zu sich selbst verhält (»in sich reflektiert ist«). Anderes als das Ding, das einerseits Träger von Eigenschaften ist und andererseits aus Materien besteht, ist die Substanz nun als Manifestation ihrer selbst in ihren Akzidenzien. »Die Substanz«, führt Hegel dies aus, »ist hiermit die Totalität der Akzidenzien, in denen sie sich als deren absolute Negativität, d. i. als absolute Macht und zugleich als deren Reichtum alles Inhalts offenbart« (8, 294). Die Macht der Substanz ist aus Hegels Sicht die absolute Negativität selbst. Die Substanz muss als Prozess, Selbstverhältnis, d. h. als unendliches Übergehen der Akzidenzien verstanden werden, in welcher sie als das formende Prinzip – als Aktuosität – wirksam ist. Die Substanz ist damit sowohl schaffende, als auch zerstörende Macht; aber so, dass das Schaffende zerstörend und das Zerstörende schaffend ist. (Vgl. LII, 221) Obwohl sich aber die Substanz einerseits nur in ihren Akzidenzien manifestiert, so treten doch Akzidenzien und Substanz nun auseinander. Die Substanz erscheint als das unvergängliche, un147 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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sterblich-ewige, das sich in allem Wechsel ihrer sterblichen Akzidenzien durchhält. Die Akzidenzien sind damit einer Außenwelt preisgegeben, in der die Substanz als Substanz nicht erscheint. Einerseits manifestiert sich die Substanz in ihren Akzidenzien, andererseits zieht sie sich in ihrer Negativität gleichsam in sich selbst zurück und unterscheidet sich auch von der durch sie gesetzten Äußerlichkeit. Grund dafür ist aus Hegels Sicht, dass sich die Substanz – gleichsam an der Schwelle des Begriffs – zwar in der Vermittlung mit sich, sich als das Vermittelnde, d. h. als Quasi-Subjekt gegeben ist (»Das Sein, das ist, weil es ist«). Aber auch die Substanz ist als ein »Zugrundeliegendes« diese Subjektivität nur an sich, nicht an- und fürsich, und eben aus diesem Grunde ist die Substanz überhaupt Substanz im Unterschied zu Akzidenzien.

1.6.2. Formale Kausalität Hegel beginnt seine Analyse zunächst mit einer Dekonstruktion der spinozistischen Substanz. Die Substanz erscheint als Verhältnis, insofern sie sich von der ihr gesetzten Akzidentialität sowohl unterscheidet, als auch auf sich bezieht. Die Akzidentialität, welche die Substanz von sich unterscheidet und als das Negative ihrer setzt, erscheint so als eine Wirkung der Substanz, während die in ihren Akzidenzien in sich reflektierte Substanz als Ursache, als die »ursprüngliche Sache«, erscheint. Die Ursache hat als ursprüngliche Sache einerseits »die Bestimmung von absoluter Selbstständigkeit und einem sich gegen sie Wirkung erhaltenden Bestehen« (8, 297). Nun bemerkt Hegels, dass der Prozess, in dem die Ursache wirkt, ein notwendiger ist. Denn es macht keinen Sinn, von einer Ursache zu sprechen, wenn keine Wirkung vorliegt. Das heißt aber, dass die Substanz als Ursache erst in und durch die Wirkung wirklich wird. Dann aber kann sie nicht zugleich als ursprüngliche Wirklichkeit gegenüber der Wirkung behauptet werden. »Die Ursprünglichkeit der Ursache wird in der Wirkung aufgehoben, in der sie sich zum Gesetztsein macht. Die Ursache ist aber damit nicht verschwunden, so dass das Wirkliche nur die Wirkung wäre. Denn das Gesetztsein ist ebenso unmittelbar aufgehoben, es ist vielmehr die Reflexion der Ursache in sich selbst, ihre Ursprünglichkeit; in der Wirkung ist erst die Ursache wirklich Ursache«. (8, 298)

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So kann man mit Iber sagen: »War zuvor die Ursache das Ursprüngliche gegen die Wirkung, so erweist sich, dass die Ursache das Ursprüngliche gegen die Wirkung nur in der Wirkung ist«. 100 Hier knüpft Hegel nun an Spinoza an: Insofern die Ursache in der Wirkung sich selbst verursacht, lässt sich von ihr behaupten, dass sie anund fürsich causa sui ist; hierin liegt die »absolute Wahrheit« (8, 298) der Ursache. Anders als die Kraft, die von außen angeregt werden muss, ist die Ursache so »selbstständige Quelle des Hervorbringens aus sich«. (LII, 224) Gegen Jacobi, der an der absoluten Unterschiedenheit der Ursache (Gott) und der Wirkung (Welt) festhielt, und behauptete, der menschliche Verstand könnte nur endliche Formen der Bedingtheit und gegenseitigen Anhängigkeit ausloten, d. h. niemals zur Selbstverursachung der Wirklichkeit im Sinne der Identität von Ursache und Wirkung vordringen, macht Hegel daher geltend, dass es sich bei der von Spinoza behaupteten Identität von Ursache und Wirkung keineswegs um einen bloßen Formalismus handelt. Es ist allerdings ein Formalismus in der Form, in der Spinoza diese Identität behauptet, denn Spinozas System beinhaltet den Widerspruch in sich, dass er einerseits zu dem Gedanken einer Vermitteltheit der Ursache in ihren Wirkungen vordringt (in dem er Gott als Macht, potentia, deutet) und anderseits an der Unmittelbarkeit der Ursache gegen ihre Wirkungen festhält. Tatsächlich ist der Begriff der Substanz als causa sui aus Hegels Sicht bei Spinoza daher defizient, denn er bleibt in einer Tautologie gefangen. Die Tautologie ist aus Hegels Sicht der einfache Begriff der Kausalität als solcher. Denn da sich die Ursache vollständig aus ihren Wirkungen heraus begreifen lässt und die Wirkungen die Wirklichkeit und Ursächlichkeit der Ursache als Ursache begründen, gilt: »Die Wirkung enthält überhaupt nichts, was nicht die Ursache enthält. Umgekehrt enthält die Ursache nichts, was nicht in ihrer Wirkung ist.« (LII, 224) Die Kausalität ist damit rein formal geworden, da die beiden Seiten des Kausalitätsverhältnisses denselben Inhalt haben. Damit lässt sich aber das Kausalitätsverhältnis nicht mehr als Verhältnis zwischen der Substanz (als dem Allgemeinen) und den Akzidenzien (als dem Einzelnen) behaupten. Was bleibt ist vielmehr irgendeine unmittelbare, endliche Existenz:

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»Die Ursache erlischt in ihrer Wirkung; damit ist ebenso die Wirkung erloschen, denn sie ist nur die Bestimmtheit der Ursache. Diese in der Wirkung erloschene Kausalität ist somit eine Unmittelbarkeit, welche gegen das Verhältnis von Ursache und Wirkung gleichgültig ist und es äußerlich an ihr hat.« (LII, 225)

Hierin zeigt sich aus Hegels Sicht, dass der Begriff der Substanz als causa sui – so wie Spinoza ihn (aus Hegels Sicht) verwendet – als universelles Erklärungsparadigma für die Existenz endlicher Dinge sich nicht plausibel machen lässt. Vielmehr scheint er die Existenz endlicher Dinge, die er einer Erklärung zuführen will, immer schon irgendwie vorauszusetzen. Hegel geht daher zu einer Analyse endlicher Kausalitätsverhältnisse über.

1.6.3. Endliche Kausalität Tatsächlich stoßen wir schon im endlichen Bereich, so Hegel, auf diese eigenartige Identität der Ursache und der Wirkung. Sagen wir: Vom Regen rührt die Feuchtigkeit her, dann ist dies aus Hegels Sicht ein- und derselbe Inhalt, nämlich die »Nässe« oder »Wasser«, der hier einmal in der Form der Ursache und einmal in der Form der Wirkung behauptet wird. Sagen wir, ein bestimmtes Farbpigment sei die Ursache für die Einfärbung einer Fläche, dann ist ein- und dasselbe Pigment – mal als Ursprung der Färbung, mal als Färbendes – zugleich als Ursache und als Wirkung behauptet. Damit tritt natürlich die Frage auf, wieso der Verstand überhaupt darauf verfällt, kausale Zusammenhänge in der äußeren Natur zu behaupten. So ist aus Hegels Sicht die Tautologie des Kausalitätsverhältnisses nur ein Ausdruck für die Äußerlichkeit der durch die einfache, rein endlich aufgefasste Kausalität gestifteten Relationen. Die rein kausale Betrachtungsweise der Dinge ist in der unbelebten, toten Natur in dem Maße zulässig, in dem die Dinge auf einen Mechanismus reduziert werden können. Denn in der unbelebten Natur kommt es dialektisch betrachtet zu einer unvollkommen Identifikation der Ursache und der Wirkung, weil hier kein wirklicher Unterschied zwischen denselben vorliegt. Daher gibt es hier – im Sinne des Kausalgesetzes – in der unbelebten Natur eine absolute Konstanz der Ursache in der Wirkung. Diese Konstanz der Ursache in der Wirkung in der unbelebten Natur ist aber eben aus Hegels Sicht nur eine Folge der ontologischen Insuffizienz derselben. Von der lebendigen Natur gilt im Gegensatz zur un150 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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belebten, dass sie die Konstanz der Ursache in der Wirkung durchbricht, »weil das Lebendige die Ursache nicht zu ihrer Wirkung kommen lässt, d. h. sie als Ursache aufhebt« (LII, 228). Die unbelebte Natur hingegen ist aus Hegels Sicht eben darum als das Andere des Geistes, weil sie nicht in der Lage ist, sich selbst als solche zu begründen. Sie ist aber darum zugleich das »Andere an ihr selbst«. Sie ist das Andere an ihr selbst, weil ihr Sich-Äußerlichsein zugleich ihr Innerstes, ihr Wesen begründet. Weil in der unbelebten Natur das Anderssein von Ursache und Wirkung selbst unmittelbar ihre Identität begründet, führt dies des Weiteren in einen unendlichen Regress hinein. Der Regress besteht darin, dass in einem Kausalzusammenhang »abwechslungsweise die Ursache auch als ein Gesetztes oder als Wirkung bestimmt« (LII, 298), diese »dann aber wieder eine andere Ursache« hat und so fort. »Der Mechanismus«, so Hegel, »besteht in dieser Äußerlichkeit der Kausalität, dass die Reflexion der Ursache in ihrer Wirkung in sich zugleich ein abstoßendes Sein ist oder dass die Identität, welche die ursächliche Substanz in ihrer Wirkung mit sich hat, sie sich ebenso unmittelbar Äußerliches bleibt und die Wirkung in eine andere Substanz übergegangen ist.« (LII, 237)

Stellen wir z. B. eine Reihe von Dominosteinen auf, in der das Anstoßen des ersten zum Umfallen seines Nachfolgers führt, der wiederum den nächsten Stein in der Reihe mit sich reißt usw., dann scheint es sich hier auf den ersten Blick um ein Identifikationsgeschehen von Ursache und Wirkung zu handeln, indem ein Quantum an Energie vom ersten auf den letzten Stein übertragen wird. Allerdings handelt es sich hierbei – wie schon bemerkt – um einen äußerlichen Vorgang. Denn der Prozess der Energieübertragung setzt zugleich endliche »Substrate« (z. B. die Dominosteine) voraus, an denen sich die Kausalität verläuft und die äußerlich aufeinander bezogen sind. Unter einem »Substrat« versteht Hegel »irgendein Ding, das mannigfaltige Bestimmungen seines Daseins hat, unter anderem auch diese, dass es in irgendeiner Rücksicht Ursache oder auch Wirkung ist« (LII, 229). Im Falle der Dominosteine sind diese Substrate die einzelnen Steine, von denen jeder einmal einerseits – gleichsam passiv – als Angestoßener in einen Wirkungszusammenhang (Gesetzter) eingebettet ist. In keinen einzelnen Fall kann hier aber davon gesprochen werden, dass eine Ursache – vermittelt durch ihre Wirkung – sich selbst verursacht. 151 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Dies gilt es allerdings jetzt genauer zu betrachten. Denn genauer betrachtet kommt es auch schon im Falle der endlichen Kausalität zu einer partiellen Selbst-Identifikation der Ursache. Im Falle des Umfallens einer Reihe von Dominosteinen ist zunächst jeder einzelne Stein zugleich ein notwendiges Element innerhalb des Kausalzusammenhangs – der Vorgang als Ganzer könnte ohne ihn nicht ablaufen. Obwohl von außen angestoßen (d. h. von seinem Vorgänger) hängt doch der Ablauf des Vorgangs als Ganzem (d. h. das Umfallen der ganzen Reihe Steine) zugleich auch mit den Charakteristika (d. h. dem Inhalt) der einzelnen Steine als Dominosteine zusammen – ein Dominostein aus Gummi wäre möglicherweise nicht dazu in der Lage, seinen Nachfolger zum Umfallen zu bewegen. Die Reaktion läuft in diesem Sinne nicht nur an den Steinen als gleichgültigen Substraten äußerlich bzw. rein passiv ab, sondern die Substrate sind zugleich auch »Substanzen« (LII, 231), in denen es zu einer Reflexion des Kausalitätsverhältnisses kommt und die damit selbsteigene Kausalität bzw. Aktivität besitzen. Genauer gesagt transformiert die Kausalität passive Substrate in aktive Substanzen. Allein auf Grund dieser Reflexion bzw. Transformation kommt es zu einer Wieder-holung der Ursache als Ursache in jedem einzelnen Energieimpuls, den ein Stein an den nächsten weitergibt. Während im Falle der immanenten Kausalität der spinozistischen Substanz aus Hegels Sicht die Ursache einfach erlischt, lässt sich das Paradigma der Kausalität auf Grund dieser fortfahrenden Reaktivierung der Ursache als Ursache in endlichen Zusammenhängen immer neu zur Anwendung bringen. Insofern nun diese Reaktivierung eine Transformation von passiven Substraten in aktive Substanzen bewirkt, muss aus Hegels Sicht auch diese Transformation selbst noch als eine Leistung der Kausalität verstanden werden. Wenn aber die Transformation von einander äußerlichen Substraten, die Wirkungen nur erleiden, in aktive Substanzen, die aufeinander wirken, selbst noch eine Leistung, eine Form von Kausalität ist, dann muss daher aus Hegels Sicht der endlichen Kausalität selbst noch eine unendliche Kausalität zugrunde liegen, in der sich diejenige Kausalität, die an den Substraten nur äußerlich zu verlaufen erscheint, in Wahrheit auf sich selbst bezieht. Diese unendliche Kausalität bestimmt Hegel im Kommenden als die Freiheit des Begriffs. So bestimmte schon Spinoza diese unendliche Kausalität als Gott. Im Gegensatz zu äußerlichem Bewirktwerden durch Anderes muss die selbsteigene Kausalität, die den Substraten qua Substanzen 152 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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zukommt, aus seiner Sicht diesen zurückgeführt werden, insofern für Spinoza – wie schon bemerkt – Gott als den Dingen innewohnende, nicht vorübergehende Kausalität ist. Spinozas System krankt in dieser Hinsicht an dem konkreten Mangel, dass das äußerliche Bewirktwerden durch Anderes (bzw. das Sein der passiven Substrate in Hegels Terminologie) auf der einen Seite und die selbsteigene Kausalität derselben Substrate qua Substanzen in Gott in keinem notwendigen Zusammenhang steht. Ein solcher Zusammenhang lässt sich nun aus Hegels Sicht nur dadurch herstellen, wenn man davon ausgeht, dass die Kausalität im Bewirktwerden durch Anderes – d. h. in den passiven Substraten – sich selbst bewirkt. Hieraus resultiert zugleich, dass auch das Bewirktwerden bzw. die Passivität der Substrate – also ihr Erleiden der Wirkung durch Anderes – zugleich auch in irgendeinem Sinne eine Aktivität sein muss. Jedenfalls kann er das Sein der Substrate als Substrate »nicht auf sich beruhen lassen«, denn es muss einen Grund dafür geben, warum sich passive Substrate in aktive Substanzen transformieren und dieser Grund kann aus Hegels Sicht nur im Wesen der Kausalität selber liegen. Weil es sich bei den Substraten, welche die Wirkungen erleiden, um vorausgesetzte Wirklichkeiten handelt, muss daher aus Hegels Sicht davon ausgegangen werden, dass die »Kausalität« (verstanden als notwendiger Zusammenhang von Ursache und Wirkung) sich in logischer Hinsicht selbst voraussetzt. Da Voraussetzen aus Hegels Sicht nichts anderes als das sich negativ auf sich beziehende Setzen ist, bedeutet dies: Die Kausalität bedingt sich selbst, denn sie setzt sich unmittelbar als ihr Anders voraus und ist erst durch die Aufhebung dieses von ihr selbst vorausgesetzten Anderen. Mit dieser fundamentalen Annahme wird zugleich die Herrschaft des Gesetztseins durch das Wesen gebrochen, weil die Ursache sich in ihrem Anderen auf sich als auf ihr Anderes bezieht und damit alles Anderssein und Gesetztsein aufhebt: Erst dann ist die Ursache die Kraft, die hinter sich gekommen ist und nicht mehr blind wirkt. Hegel argumentiert nun folgerichtig so, dass es in der Logik der Sache, welche die Kausalität ist, liegt, dass sich die Ursache überhaupt erst durch ihre Reaktivierung – d. h. aus der vermittelten Rückkehr aus der Andersheit – als Ursache bestimmt. »Die Ursache wirkt auf sich als auf ein Anderes«, so Hegel in einer eigenwilligen Formulierung, »hebt dieses Anderssein derselben auf« und »setzt dieses Aufheben des Anderseins oder die Rückkehr in sich als eine Bestimmtheit« (LII, 234). Weil die Kausalität sich als das Andere ihrer selbst 153 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

voraussetzt, ist hiermit zugleich »eine andere Substanz vorhanden, auf welche die Wirkung geschieht« (8, 300). Diese Andere ist gegenüber der Aktivität der Ursache zunächst als »passive Substanz« gesetzt. (LII, 234) Die »passive Substanz« ist die Nachfolgebestimmung des vormals passiven Substrates; nun jedoch in der Rolle, dass sich in ihr die Kausalität selbst bewirkt. Daher erweist sich jetzt natürlich, dass die passive Substanz – anders als das Substrat – ebenso sehr aktive, wie die aktive passiv ist. Diesen Nachweis vollzieht Hegel in der Diskussion der Gegenwirkung. Festzuhalten ist aber zunächst: Die Ursache muss aus Hegels Sicht sich urteilen, d. h. in zwei Substanzen auseinandertreten, um überhaupt als Ursache zu sein. Denn erst, indem die Ursache in zwei Substanzen auseinandertritt, kann sie sich aus Hegels Sicht in ein Verhältnis zu sich als Ursache setzen, um dadurch nicht nur an sich, sondern an- und fürsich Ursache zu sein. Das Sich-Urteilen der Ursache ist dabei im Wesen der Ursache selbst angelegt, insofern die Ursache im Verursachten d. h. der Wirkung als eine erweist, die in Beziehung zu sich selbst steht und sich setzt, indem sie sich zugleich als das Andere ihrer voraussetzt. Während die Kraft eben darum nur blinde Kraft ist, weil sie gleichsam nicht dahinter kommen kann, was sie selbst an sich ist, und daher auf einem Unterschied beruht, den sie nicht aufzuheben vermag, vollzieht sich in der Wechselwirkung zweier Substanzen der wahre Übergang von der Logik des Wesens in die des Begriffes. Es dabei die geurteilte Substanz als causa sui – und damit zugleich die Grenze, gesetzt als Unterschied zwischen zwei Substanzen – in der sich der letzte Schritt der Transformation der Grenze ins Urteil.

1.6.4. Wirkung und Gegenwirkung Hegel argumentiert zunächst, dass die als erste angenommene Ursache auf eine andere Substanz wirkt: »Diese ist als unmittelbar nicht sich auf sich beziehende Negativität und aktiv, sondern passiv.« Was heißt aber passiv in diesem Zusammenhang? Hegel bestimmt die Passivität als ein Gewährenlassen der Wirkung der aktiven Substanz. Die aktive Substanz tritt der passiven Substanz zunächst als Macht und Gewalt gegenüber – »Gewalt ist die Erscheinung der Macht oder die Macht als Äußerliches« (LII, 235). Aber – so Hegels in einer ungeheuerlichen und oft missverstandenen Formulierung – »der passiven Substanz wird durch die Einwirkung einer anderen Gewalt nur 154 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Substanz: Die Grenze als intersubjektive Bestimmung

ihr Recht angetan« (ebd.). Denn »was Gewalt über das Andere hat, hat sie nur, weil es die Macht desselben ist, die sich darin und das Andere manifestiert«. (Ebd.) Was Hegel damit sagen will, ist offenkundig Folgendes: Die aktive Substanz wirkt zunächst auf ihr Anderes, die passive. Die Wirkung der aktiven auf die passive Substanz ist erstens die der aktiven Substanz eigene Wirkung. Da sie aber die passive Substanz nun zur bedingten Voraussetzung hat, ist sie zugleich Wirkung in der Anderen, die sie damit in das Bewirktwerden, in das Gesetztsein überführt. Nun ist es aber zugleich die eigene Bestimmung der passiven Substanz, als Gesetztsein oder »Von-außen-Bestimmtwerden« ansich bestimmt zu sein; die passive Substanz geht daher in ihrem Bestimmtwerden nur mit sich als passiver Substanz zusammen. Die passive Substanz wird also erst zu dem, was sie ist, durch das Zulassen des Bewirktwerdens durch ihr Anderes, die aktive Substanz. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Zulassen der Einwirkung der aktiven Substanz aber selbst eine Aktivität, durch die hindurch die passive Substanz zu dem wird, was sie ist. Passivität schlägt daher in Aktivität und Ursächlichkeit um: Es ist »das Tun des Passiven selbst, mit sich zusammenzugehen und somit sich zum Ursprünglichen und zur Ursache zu machen. Das Gesetztwerden durch ein Anderes und das eigene Werden sind ein- und dasselbe« (LII, 236). Als ursächliche Substanz hebt nun erstens die ehemals passive Substanz die durch die aktive Substanz erlittene Wirkung auf, sie lässt diese Wirkung »nicht auf sich beruhen«, sondern setzt ihr eigene Wirklichkeit entgegen und wirkt zweitens nun ihrerseits auf die ehemals aktive Substanz, d. h. sie agiert, indem sie re-agiert. In der Reaktion steht ihr die vormals aktive Substanz nun als passive gegenüber, die aber nun ihrerseits die in sie gesetzt Wirkung aufhebt und ihrerseits reagiert. Die Kausalität ist damit aus Hegels Sicht in das Verhältnis der Wechselwirkung übergegangen. »In der Wechselwirkung«, so Hegel, »obgleich die Kausalität noch nicht in ihrer wahrhaften Bestimmung gesetzt ist, ist der Progress von Ursachen und Wirkungen ins Unendliche auf wahrhafte Weise aufgehoben, indem das gradlinige Hinausgehen von Ursachen zu Wirkungen und von Wirkungen zu Ursachen in sich um- und zurückgebogen ist«. (8, 300)

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

1.6.6. Wechselwirkung als präfigurierte Intersubjektivität Unter Wechselwirkung versteht Hegel zunächst die »gegenseitige Kausalität von vorausgesetzten, sich bedingenden Substanzen« (LII, 238). Damit glaubt Hegel sich auf die gewöhnliche Vorstellung der Wechselwirkung zwischen Dingen berufen zu können. Es scheinen mindestens zwei Substanzen in einem Ursache-Wirkungs-Kreislauf verwickelt sein zu müssen, damit es zur Wechselwirkung kommen kann: Beide heben aus dieser Perspektive als Ursache durch ihr Wirken die ursächliche Aktivität der jeweils anderen auf und bringen sich durch das Aufheben der in sie gesetzten Wirkung als ursächlich wirkende Substanzen wiederum hervor. Diese Vorstellung will Hegel aber zugleich destruieren. Wenn man die beiden Seiten des Wechselwirkungsverhältnisses als etwas »unmittelbar Gegebenes« (8, 302), dann setzt die Wechselwirkung immer schon das voraus, was sie erklären will. Denn beide Substanzen sollen durch ihre Reaktion aufeinander einerseits erst zu dem werden, was sie sind, und sind andererseits doch immer schon als ein fertiges vorausgesetzt. Damit fallen die Substanzen wiederum auf den Status von bloßen Substraten der Einbildungskraft zurück, die sich gegenseitig bedingen und somit in ihrem gemeinsamen Verhältnis ihrem Zueinander-Verhalten gleichsam passiv ausgeliefert sind. Der Verstand, der an der Zweiheit der Substanzen festhält, beharrt also einerseits an der Äußerlichkeit des Verhältnisses – dem unmittelbaren Sein der Substanzen als Substrate – und hält andererseits an dem Gedanken der Vermittlung fest, der die innerliche Bezogenheit der Substanzen qua Substanz aufeinander zum Ausdruck bringt. Der Widerspruch der Verstandesauffassung der Wechselwirkbeziehung lässt sich nur durchbrechen, wenn man die vorausgesetzte Unmittelbarkeit der Substanzen zugleich als Resultat der Vermittlung der Substanzen auffasst. Unter diesem Gesichtspunkt aber macht es aus Hegels Sicht keinen Sinn mehr, an der Zweiheit der Substanzen festzuhalten. Warum? Der Grund hierfür ist, dass die Substanz Ursache ist. Wenn aber die Ursache erst dadurch zur Ursache wird, dass sie – vermittelt durch die Wirkung auf ihr Anderes – sich mit sich selbst vermittelt, dann steht die Ursache in der Wechselwirkung offenbar in Beziehung mit sich selbst. In der Wechselwirkung entpuppt sich »die Ursprünglichkeit als durch ihre Negation sich mit sich vermittelnd«. (LII, 237) Die Negation ist die Wechselwirkung. Daher gilt: »Die Wechselwirkung hat nicht nur eine Wirkung, sondern in der Wir156 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Der Begriff: Die Grenze als Urteil

kung steht sie als Ursache mit sich selbst in Beziehung.« (LII, 238) Es gibt keine zwei Substanzen, weil sich in letzter Konsequenz die Wechselwirkung – als präfigurierte Subjektivität – ihrem Wirken selbst als Ursache bestimmt. Demnach liegt nur eine Ursache vor, weil der Unterschied zwischen den zwei endlichen Substanzen den Charakter nur einer Selbstunterscheidung der absoluten Substanz hat, durch den hindurch diese nur mit sich zusammengeht. Damit ist aber zugleich auch alles äußere Bedingtsein aufgehoben und die Notwendigkeit bestimmt sich selbst als Freiheit. »Die Notwendigkeit«, so Hegel, »wird nicht dadurch zu Freiheit, dass sie verschwindet, sondern dass nur ihre noch innere Identität manifestiert wird, – ein Manifestation, welche die identische Bewegung des Unterschiedenen, die Reflexion des Scheins als Schein in sich ist.« (LII, 239). Hierdurch ist, so Hegel, »die Kausalität zu ihrem absoluten Begriffe zurückgekehrt und zugleich zum Begriff selbst gekommen«. Als solche stößt sich die Substanz nicht mehr als absolute Notwendigkeit von sich ab, noch fällt sie in zufällige Wirklichkeiten auseinander, sondern unterscheidet sich in drei Totalitäten: Einzelheit, Allgemeinheit und Besonderheit. Diese sind als »Totalitäten […] ein- und dieselbe Reflexion […], welche ihre eine und dieselbe Identität ist« (L II, 239). Diese Totalität nennt Hegel den Begriff. In ihm ist die Grenze nur als ein Unterscheiden, welche als identische Bewegung des Unterschiedenen absolute Selbstbeziehung ist, d. h. als Besonderheit des Begriffs und damit als Urteil vorhanden.

1.7. Der Begriff: Die Grenze als Urteil Hegel definiert den Begriff als die Einheit des »Seins und des Wesens«: »Das Wesen ist die erste Negation des Seins, das dadurch zum Schein geworden ist; der Begriff ist die zweite oder die Negation dieser Negation, also das wiederhergestellte Sein, aber als die unendliche Vermittlung und Negativität desselben in sich selbst.« (LII, 269) In diesem Charakter des Begriffes, unendliche Vermittlung seiner mit sich zu sein, aber so, dass hierin das aktiv »Vermittelnde« (die Ursache) qua absoluter Negativität mit sich selbst als Ursache vermittelt ist, liegt die Subjektivität des Begriffes begründet: Die Subjektivität ist – als Ursache ihrer selbst – »die zum Begriffe befreite Substanz« (LII, 251). Im Folgenden wollen wir der Begriff nur soweit betrachten, wie das Verständnis seiner Struktur für das Ver157 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

ständnis der Struktur des Lebendigen, die Hegel aus dem Begriff ableitet, notwendig ist. Wegeleitend ist dabei Hegels These, dass der Begriff das »Subjekt« selbst und Organismen »existierende Begriffe« sind. Es ist hinlänglich bekannt, dass Hegel den »reinen Begriff« mit dem »Ich« oder »reinen Selbstbewusstsein« (LII, 253) identifiziert hat: »Ich habe wohl Begriffe, d. h. bestimmte Begriffe; aber Ich ist der reine Begriff selbst, der als Begriff zum Dasein gekommen ist. Wenn man daher an die Grundbestimmungen, welche die Natur des Ich ausmachen, erinnert, so darf man voraussetzen, dass an etwas Bekanntes, d. i. der Vorstellung Geläufiges erinnert wird. Ich aber ist erstlich diese reine sich auf sich beziehende Einheit, und dies nicht unmittelbar, sondern indem es von aller Bestimmtheit und Inhalt abstrahiert und in die Freiheit der schrankenlosen Gleichheit mit sich selbst zurückgeht. So ist es Allgemeinheit, Einheit, welche nur durch jenes negative Verhalten, welches als das Abstrahieren erscheint, Einheit mit sich ist und dadurch alles Bestimmtsein in sich aufgelöst enthält. Zweitens ist Ich ebenso unmittelbar als die sich auf sich selbst beziehende Negativität Einzelheit, absolutes Bestimmtsein, welches sich Anderem gegenüberstellt und es ausschließt; individuelle Persönlichkeit.« (LII, 253)

Über diese Bestimmung des Begriffes als reines Selbstbewusstsein darf aber nicht vergessen werden, dass aus Hegels Sicht erstens die gesamte Natur durch den Begriff und seines Strukturbestimmungen gesetzt ist und sich daher aus Hegels Sicht die Momente des Begriffes insbesondere an Pflanzen und Tieren herausstellen lassen; und das zweitens das Leben des Geistes das natürliche Leben als aufgehoben in sich erhält; und bestimmte Charakteristika des Begriffes wie Selbstbewegung, Spontaneität und Leidensfähigkeit allen Lebensformen zukommen. In diesem Sinne scheint Hegel die absolute Idee auch als Einheit der Idee des Lebens und der Idee des Erkennens zu bestimmen. Die Allgemeinheit des Begriffs ist zunächst einfache Identität oder Gleichheit mit sich. Für sich genommen ist das Allgemeine so das reine »als«, in dem etwas als etwas bestimmt ist und es hat keine bestimmte Bestimmtheit. So kommen einer Person (z. B. »Peter«) in seiner Individualität und Einzelheit zu einem bestimmten Zeitpunkt bestimmte Eigenschaften zu, die ihn charakterisieren. Aber diese Eigenschaften kommen einer Person nicht als Peter, sondern als Menschen zu. Nur weil dem Einzelnen seine bestimmten Eigenschaften als Menschen zukommen, kann er auch im Wechsel seiner Eigen158 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Der Begriff: Die Grenze als Urteil

schaften, in seiner Entwicklung als individuelle Persönlichkeit, mit sich als solchem identisch bleiben. Die Allgemeinheit des Begriffes ist in diesem Sinne »die Seele des Konkreten, dem es innewohnt, ungehindert und sich selbst gleich in dessen Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit. Es wird nicht mit in das Werden gerissen, sondern kontinuiert sich ungetrübt durch dasselbe und hat die Kraft unveränderlicher, unsterblicher Selbsterhaltung«. (LII, 276)

Insofern das Allgemeine gleichsam »alle möglichen« Bestimmungen in sich aufnimmt, ist es die Nachfolgebestimmung der passiven Substanz. Hegel identifiziert die Allgemeinheit im Folgenden mit der Sensibilität und Leidensfähigkeit des Lebendigen – einem Gedanken, den er von der leibnizschen erleidenden Monade übernimmt. Ebenso wie die passive Substanz sich als Erleidende auch als aktiv erwies, ist das Allgemeine unter dieser Perspektive aber auch nicht ohne das Einzelne, als dessen Bestimmtheit es ist. Weil das Allgemeine vielmehr »nur identisch mit sich ist, indem es die Bestimmtheit als aufgehoben in sich enthält«, ist es daher überhaupt »dieselbe Negativität, welche die Einzelheit ist«: Die Einzelheit ist in diesem Sinne die »mit sich identische Bestimmtheit«, oder »bestimmte Bestimmtheit« (LII, 296) in der das Allgemeine »als identisch mit sich gesetzt ist«. (L II, 240, Hervorhebung S. R.) Dabei ist das Einzelne als das sich selbst Bestimmende, als konkrete Subjektivität, die Nachfolgebestimmung der aktiven Substanz. Ist es aber die Negativität als solche, durch die hindurch Einzelheit und Allgemeinheit im Subjekt konkret miteinander vermittelt sind, dann ist diese ihrerseits nichts anderes als die Besonderheit, welche »vom Einzelnen das Moment der Bestimmtheit und vom Allgemeinen das Moment der Reflexion-in-sich in unmittelbarer Einheit enthält« (LII, 240). Die Besonderheit ist somit die qualitative Bestimmtheit des Begriffes als des Begriffes; der Begriff ist das Allgemeine, das das vom im unterschiedene Einzelne zugleich in sich enthält. Damit ist die Besonderheit zugleich nichts anderes als die Nachfolgebestimmung der »Wechselwirkung« (LII, 479); nun aber gedacht als ein Verhalten, in dem sich das Subjekt in Interaktion mit seiner Umwelt selbst bestimmt: »die Selbstbestimmung des Lebendigen«, welche »sein Urteil« ist, »wonach es sich auf das Äußerliche als auf eine vorausgesetzte Objektivität bezieht und in Wechselwirkung damit ist«. (LII, 479) So bestimmt Hegel im Folgenden, wo es um die Idee des Lebens geht, die Besonderheit als Irritabilität: »Be159 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

sonderheit als Reizbarkeit von außen und aus dem aufnehmenden Subjekte kommende Rückwirkung dagegen nach außen«. (9, 437) Dies charakterisiert aus Hegels Sicht die Grenze, insofern man diese als organische Funktionsweise auffasst.

1.7.1. Die Grenze als Besonderheit Worin liegt nun also der Unterschied zwischen der Einzelheit und der Besonderheit? In der Tat kann man sagen, dass in der Besonderheit – im Unterschied zur bloßen Einzelheit – das individualisierende Element des Begriffes liegt. Das Einzelne als solches – d. h. isoliert genommen – wäre aus Hegels Sicht eigentlich derselbe Wiederspruch, der die Verschiedenheit ist: Denn alle sind ja darin identisch, dass sie Einzelne sind – was sie aber nur sein können, insofern sie zugleich unterschieden, d. h. in Wahrheit in ihrer gemeinsamen Grenze entgegengesetzt sind. Die Reflexion aber, in welcher sich die Entgegensetzung und ihre Selbstaufhebung ereignet, ist die Besonderheit. Das Individuum ist das »Unteilbare«, weil es die Teilung als das freie SichUnterscheiden seiner Eigenschaften in seiner Selbstbestimmung unmittelbar als aufgehoben in sich enthält. Der Begriff ist damit das schlechthin konkrete, »weil die negative Einheit mit sich als Anund-für-sich-Bestimmtsein, welches die Einzelheit ist, selbst die Beziehung auf sich, die Allgemeinheit ausmacht.« (LII, 280) Der Begriff ist somit aus Hegels Sicht »schöpferische Macht«, weil er ein »Unterscheiden in sich« ist, denn dieses »ist Bestimmen dadurch, dass das Unterscheiden mit der Allgemeinheit eins ist« (LII, 279). Das Unterscheiden muss folglich als Tätigkeit aufgefasst werden und als eine solche ist es das Bestimmen – ein Bestimmen, das ein Unterscheiden und ein Unterscheiden, das ein Bestimmen ist. Die Bestimmtheit des Begriffes ist damit der Doppelschein – als ein Unterscheiden ist sie Reflexion-in-anderes, als Bestimmen Reflexion-in-sich: »Das Allgemeine hat hiernach eine Besonderheit, welche ihre Auflösung in einem höheren Allgemeinen hat« (z. B. »Alle Tiere sind Lebewesen«). Aber auch der bestimmte Begriff ist einer, in welchem die Allgemeinheit »in der freien Beziehung auf sich selbst steht«, d. h. Selbstbestimmung ist: Darin, dass das Tier als Lebewesen bestimmt ist, ist der bestimmte Begriff »in der Äußerlichkeit in sich zurückgebogen« (LII, 278). Denn das Leben ist dem Tier als Tier immanent – es geht darin nicht über sich als Tier hinaus. Wie sich der 160 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Der Begriff: Die Grenze als Urteil

Unterschied (bzw. die Grenze) hier zeigt, ist er nun aus Hegels Sicht »in seinem Begriffe und damit in seiner Wahrheit« (LII, 281). Als unmittelbarer Unterschied war er im Sein als die Grenze eines Anderen, in der Reflexion des Wesens war er gesetzt als sich auf sein Anderes wesentlich beziehend; in der Logik des Begriffes bezieht er sich im Anderen auf sich als auf sein Anderes und hebt alles Anderssein und damit sich als Unterschied auf. Die Besonderheit unterscheidet sich damit darin von der Qualität, dass sie – anderes als diese – »keine Grenze mehr ist, die sich zu einem Anderen als einem Jenseits ihrer verhielte« (LII, 280). Denn in der Logik des Begriffes ist die Grenze als Besonderheit nur die erste oder unmittelbare Negation; die Negation dieser Negation ist der sich-mit-sich vermittelnde Begriff selbst. Diese Selbstvermittlung des Begriffes ist, wie sich im Kommenden erweisen wird, der Schluss. Aber damit greifen wird schon vor. Zunächst ist festzuhalten: Die Besonderheit ist, anderes als die Grenze, damit »das eigene immanente Element des Allgemeinen; dieses ist daher in der Besonderheit nicht bei einem Anderen, sondern schlechthin bei sich selbst« (LII, 280). Allgemeinheit, Besonderheit und Einzelheit sind nun Hegel zufolge abstrakt genommen dasselbe, was Identität, Unterschied und Grund sind: »Aber das Allgemeine ist das mit sich Identische ausdrücklich in der Bedeutung, dass in ihm zugleich das Besondere und Einzelne enthalten sei. Ferner ist das Besondere das Unterschiedene oder die Bestimmtheit, aber in der Bedeutung, dass es allgemein in sich und als Einzelnes sei. Ebenso hat das Einzelne die Bedeutung, dass es Subjekt, Grundlage sei, welche die Gattung und Art in sich enthalte und selbst substanziell sei.« (8, 314)

Einzelheit, Besonderheit und Allgemeinheit sind demnach einerseits nur ein- und derselbe Begriff oder ein- und dieselbe Reflexion ineinander. Insofern das Einzelne als Subjekt, d. h. als Grund aufzufassen ist, befindet es sich aber unmittelbar auch im Gegensatz zu der ihm zukommenden Allgemeinheit. Denn der Grund zeigt sich ja als die Identität von Identität und Unterschied, aber nicht als die abstrakte, sondern nur als aufgehobener Widerspruch. Dieser Widerspruch ist nun als immanente Unterscheidung des Begriffs im Urteil gesetzt. In diesem Sinne ist das Urteil »der Begriff in seiner Besonderheit«, der Begriff »als unterscheidende Beziehung seiner Momente« (8, 319).

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

1.7.2. Das Urteil Das Einzelne ist das Allgemeine des Begriffes zunächst nur an sich, aber nicht an- und fürsich. So ist der Keim zunächst nur an sich eine Pflanze und Embryo zunächst nur an sich ein Mensch. Wesentlich ist, dass die drei Momente des Begriffes zugleich voneinander unterscheidbar, d. h. abstrahierbar sind. Hegel insistiert darauf, dass dieses Abstrahieren selbst eine Leistung des Begriffes ist. (Vgl. LII, 296) Diese Leistung ist nun nichts anderes als das Urteil. Der Begriff urteilt sich selbst; d. h. er ist die »ursprüngliche Teilung«, weil das Einzelne dem Allgemeinen, das es zugleich an sich ist, sowohl entgegengesetzt ist als auch wiederum dieser Entgegensetzung entgegengesetzt ist. Eben aus diesem Grunde fühlt sich Hegel der bereits erwähnten Auffassung berechtigt, dass »alle Dinge ein Urteil sind«, denn »die Allgemeinheit unterscheidet sich in ihnen und ist zugleich identisch« (8, 319). Für das Urteil gilt aus dieser Perspektive dasselbe, wie für die Grenze – in ihm vollzieht sich das Endliche, insofern es sich negativ auf sich bezieht. »Der Standpunkt des Urteils«, so Hegel denn auch, »ist die Endlichkeit, und die Endlichkeit der Dinge besteht auf demselben darin, dass sie ein Urteil sind, dass ihr Dasein und ihre allgemeine Natur (ihr Leib und ihre Seele) zwar vereinigt sind, sonst wären die Dinge nichts, aber dass diese ihre Momente sowohl bereits verschieden als überhaupt trennbar sind.« 101 (8, 319)

Tatsächlich ist das Urteil dabei immer noch Grenze, d. h. es enthält die Grenze als aufgehoben in sich und zwar im doppelten – oder besser dreifachen – Sinne: Erstens ist das Einzelne insofern geurteilt, insofern es dem Allgemeinen, Universellen – d. h. der Welt als seiner Welt – auch entgegengesetzt ist; so fällt das Urteil als Grenze zunächst zwischen Subjekt und Welt. Dies gilt insbesondere für das »unendliche Urteil«, als welches Hegel die Idee des Lebens denkt, die Subjektivität und Objektivität, Seele und Körper voneinander unterscheidet und zugleich aufeinander bezieht. Zweitens ist das Sich-Urteilen des Subjektes eine Form des Hinausgehens-über-sich, ein Hinausgehen, das als ein »freies Unterschieden« aber nun zugleich ein Sich-zur-Entfaltung-bringen ist, daher in sich reflektiert und viel-

101 Zu Erinnern ist in diesem Zusammenhang an den früher gängigen Ausdruck für die Verstorbenen: die »Verschiedenen«.

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Der Begriff: Die Grenze als Urteil

mehr Entwicklung ist – Entwicklung ist überhaupt die »Bewegung des Begriffes« (8, 308) (im Gegensatz zum Scheinen und Übergehen). Eben in diesem Sinne sagt Hegel, dass man den Wachstumsprozess einer Pflanze als das »Urteil der Pflanze« (8, 318) betrachten kann, denn das Besondere der Pflanze ist zunächst nur an sich vorhanden und »wird erst gesetzt, indem der Keim sich erschließt« (8, 318). 102 Drittens ist das Urteil damit der Dreh- und Angelpunkt der Vermittlung bzw. des Übergangs von Subjektivität und Objektivität, d. h. der Schluss. War die Form als nicht reflektiert die absolute Grenze als Gegensatz des Innern und der Äußeren, so ist unter dieser Perspektive das Urteil die Nachfolgebestimmung der Form als nicht reflektiert, welche der Schluss als Nachfolgebestimmung der reflektierten, entwickelten Form gegenübersteht. Im Schluss schließt sich das Einzelne mit sich zusammen; er ist aus dieser Perspektive die »negative Rückkehr« des Einzelnen »zu sich selbst aus dem Verhältnisse der Äußerlichkeit und dadurch Erzeugung und Setzen seiner als eines Einzelnen« (9, 437). Hegel insistiert dabei darauf, dass es aus seiner Sicht das Urteil selbst ist, das sich als Schluss setzt. Damit opponiert Hegel bekanntlich der Auffassung, dass die Kopula »ist«, in welcher auf sprachlicher Ebene aus seiner Sicht das Urteil als ursprüngliche Teilung seine Wirklichkeit hat, nur als äußerliche Verbindung zweier Begriffe bzw. als bloße Subsumtion des Einzelnen unter das Allgemeine aufzufassen ist. (Vgl. LII, 305, ff.) Die Elementarform des Urteils lautet aus Hegels Sicht »S ist P«, wobei das Subjekt (S) für das Einzelne, das Prädikat (P) für das Allgemeine einsteht. Hegel bringt diesen Sachverhalt auf die provokante Formel: »Das Einzelne ist allgemein«. (LII, 312) In seiner Urteilslehre, die Hegel insbesondere in der großen Logik präsentiert und in der er zahlreiche Urteilsformen exponiert (die wir hier nicht näher betrachten können), geht es nun Hegel insbesondere darum, die Unangemessenheit zwischen Einzelnen und Allgemeinen, wie sie im positiven Urteil »Das Einzelne ist allgemein« zum Ausdruck kommt, abzubauen. Hegel glaubt diese Unangemessenheit abbauen zu müssen, weil er zeigen will, dass die Subjektivität des Begriffes in seine Objektivität übergeht. Dabei denkt Hegel ein objektives Sein als ein solches, das in einem Entsprechungsverhältnis zu sich selbst und darin zu seinem Begriff steht: Ein einzelnes Ding ist nicht nur eines, das 102 Vgl. Sans, a. a. O., S. 14: »Wenn Hegel von der Tätigkeit des Begriffes spricht, hat der […] die organische Entwicklung eines lebendigen Wesens vor Augen.«

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

ist, sondern eines, das in Wahrheit ist. Dieses Entsprechen ist das Allgemeine, das folglich als eines gedacht werden muss, das im Einzelnen eine ihm entsprechende Realität haben kann. Besondere Bedeutung kommt daher in Hegels Urteilslehre Werturteilen und sich daraus ableitenden apodiktischen Urteilen zu, die Hegel die Urteile des Begriffes nennt. Das Einzelne ist aus Hegels Sicht das Allgemeine nur im Sinne der Negation der Negation, in der es sich als in-sich konkretes Allgemeines selbst bestimmt. Wesentlich hierbei ist, dass das Einzelne auf Grund seiner eigenen negativen Natur, Idealität und Unendlichkeit immer schon innerlich auf das Allgemeine als seine »Seele« bezogen ist. Ebenso wie im Fall der Grenze als Schranke, oder im Falle des Verhältnisses des Inneren und des Äußeren, zeigt sich aus Hegels Sicht diese innere Unendlichkeit als ein Sollen, das das faktische Sein des Einzelnen transzendiert. Formallogisch betrachtet macht die Aussage: »Dieser Kriegsverbrecher ist ein Unmensch« keinen Sinn, denn ein Kriegsverbrecher fällt in gleicher Hinsicht unter den Begriff Mensch, wie ein Heiliger oder ein gewöhnlicher Mensch. In Hegels spekulativer Logik könnte aber hingegen die Aussage »Dieser Mensch ist ein Unmensch« eine höhere Wahrheit für sich beanspruchen als etwa die Aussage »der Himmel ist blau« oder »ich habe heute Nacht gut geschlafen«; und zwar, weil hier die Beziehung des Einzelnen und des Allgemeinen als eine konkrete Beziehung aufgefasst ist, in der Form, dass das Einzelne seinem Begriff als immanenter Allgemeinheit entsprechen kann – oder auch nicht. »Erst ein solches Urteilen«, so Hegel, »ob ein Gegenstand, Handlung usf. gut oder schlecht ist, wahr, schön usf. ist, heißt man auch im gemeinen Leben urteilen; man wird keinem Menschen Urteilskraft zuschreiben, der z. B. die positiven oder negativen Urteile zu machen weiß: ›diese Rose ist rot‹, ›dies Gemälde ist rot, grün, staubig‹ usf.« (8, 330)

Damit ist im assertorischen Urteil zugleich erstens der Formalismus der formalen Logik überwunden, denn als ein Entsprechungsverhältnis, in dem das Einzelne zu sich selbst steht, kommt dem Allgemeinen hier offenkundig inhaltliche Relevanz zu: »Ein solches Allgemeines«, führt Hegel denn auch aus, »wie das Prädikat gut, passend, richtig usw., hat ein Sollen zugrunde liegen und enthält das Entsprechen des Daseins zugleich; nicht jenes Sollen oder die Gattung für sich, sondern dies Entsprechen ist die Allgemeinheit, welche das Prädikat des apodiktischen Urteils ausmacht.« (LII, 349)

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Der Begriff: Die Grenze als Urteil

Um es noch einmal im Ausgang von Leibniz zu formulieren: Das Entsprechen ist die Allgemeinheit, weil die Individuen unter dem Anspruch stehen, in dem Verhältnis, in dem sie zu allen Anderen (d. h. der Allgemeinheit) als dieses Verhältnis, als diese Harmonie (Allgemeinheit) mit sich zusammenzugehen. Hier wird denn auch deutlich, wieso sich Hegel dazu berechtigt sehen kann, das begriffliche Allgemeine als »freie Liebe« und »schrankenlose Seligkeit« (LII, 277) zu deuten. Denn so aufgefasst ist das Allgemeine »ein Verhalten seiner zu dem Unterschiedenen [d. h. dem Einzelnen] als nur zu sich selbst, in demselben ist es nur zu sich selbst zurückgekehrt«. (LII, 277) Schrankenlos ist es, weil die Grenze nun insofern keine Grenze oder Schranke mehr ist, insofern jedes Einzelne in seinem Andern nur mit sich selbst zusammengeht und somit darin das Allgemeine realisiert, dass damit insofern freie Liebe ist, insofern es Beziehungsgrund und damit Grund der Freiheit ist. 103 Insofern das Allgemeine im Werturteil im Einzelnen in ein Selbstverhältnis zu sich tritt, macht sich im Werturteil zugleich die Objektivität der Vernunft geltend. Wer aus Hegels Sicht sagt: »Ich persönlich finde, dieses Haus ist schlecht, diese Gesetz ist verkehrt« usw., der urteilt streng genommen nicht, denn die Beziehung des Einzelnen (»dieses«) Hauses auf seinen Begriff (»Haus«) wird gleichsam in die Einheit des bloß subjektiven Empfindens (»Ich finde«) zurückgenommen. Wer hingegen sagt: »Das ist ein schlechtes Haus, diese Handlung ist schlecht«, der stellt darüber hinaus auch einen objektiven Anspruch auf Wahrheit auf, so dass man den Satz auch umformulieren könnte in: »Ich behaupte, dass es ist wahr, dass dieses Haus schlecht ist«. Aber was Hegel darüber hinaus sagen möchte, ist, dass die Dinge insofern in Wahrheit sind (»da sind«), insofern sie auch als diese ihre Wahrheit sind – und diese ihre Wahrheit ist der Begriff, den sie verkörpern und der daher selbst zugleich als objektive Wirklichkeit aufzufassen ist. Denkend vermögen wir demnach die objektive Wirklichkeit zu erfassen, weil diese selbst begrifflich strukturiert ist, – ja aus Hegels Sicht von dem Begriff selbst gesetzt wurde. Das Werturteil leitet aus dieser Sicht zu Hegels ontologischer Auffassung des Begriffes über,

103 In meinem Buch »Liebe – Zukunft einer Emotion« (Alber 2008/Spanische Fassung: Herder Barcelona 2013) habe ich versucht, diesen zentralen Gedanken Hegels auszudeuten.

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Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

der zufolge der Begriff nicht nur ein adäquates Mittel zur Beschreibung der Wirklichkeit ist, sondern als eine schöpferische Macht die Wirklichkeit erst als solche begründet. Diese – zweifelsohne extreme – Auffassung kann Hegel allerdings nur rechtfertigen, wenn er zeigen kann, dass im Urteilen die Beziehung nicht nur auf Objektivität, sondern darüber hinaus auf Vernunftgründe abgelegt ist. Denn nur dann kann der sich-urteilenden Vernunft zugetraut werden, sich als objektive Wirklichkeit im Urteil selbst zu begründen. Eben dies leistet das apodiktische Urteil. Lautet das assertorische Urteil: »Dieses Haus ist gut«, dann das apodiktische: »Dieses Haus, das so und so beschaffen ist, ist gut«. Die Beschaffenheit ist – als qualitative Bestimmtheit des Begriffes – dabei nichts anderes als die Besonderheit, welche zugleich Urteil, Grenze ist. Hier aber tritt nun das eigentlich dialektische Moment des Begriffes zu Tage: Denn die Beschaffenheit (Besonderheit, Urteil, Grenze) ist im apodiktischen Urteil nun zugleich selbst als der »vermittelnde Grund« zwischen der Einzelheit des Wirklichen und seiner Allgemeinheit gesetzt: Weil dieses Haus so und so beschaffen ist (z. B. über eine ökologische Bauweise verfügt), daher ist es gut. Daher hebt sich im apodiktischen Urteil das Urteil als trennende Beziehung (Grenze) zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen auf: Der Riss, der die Grenze ist, wird damit endgültig geheilt. Was damit »in der Tat« gesetzt worden ist, ist die Einheit des Subjektes und des Prädikats als der Begriff selbst: »[E]r ist die Erfüllung des leeren ›Ist‹ der Kopula, und indem seine Momente zugleich als Subjekt und als Prädikat unterschieden sind, ist er als die Einheit derselben, als die sie vermittelnde Beziehung gesetzt – der Schluss«. (8, 331)

1.7.3. Der Schluss Der Schluss ist, so Hegel, »die Einheit des Begriffs und des Urteils; – er ist der Begriff als einfache Identität, in welche die Formunterschiede des Urteils zurückgegangen sind.« (8, 331) Für den Schluss (bzw. die Tätigkeit des Schließens) gilt dabei das gleiche, was schon für das Urteil galt: Er darf nicht nur als eine subjektive Aktivität des Denkens verstanden werden. Hegel rügt in diesem Zusammenhang die Auffassung seiner Zeit (die wohl auch noch heute die gängige ist), die den Schluss zwar als die Seele des Denkens und das höchste Vermögen der Vernunft betrachtet, aber den Schluss selbst nicht als eine Eigenschaft 166 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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der Gegenstände des Denkens – zumal der höchsten Gegenstände des Denkens – begreift. Wenn aber die Wirklichkeit selbst begrifflich strukturiert ist bzw. sogar durch den Begriff gesetzt ist, dann muss auch dem Schluss ontologische Dignität zugesprochen werden; dann müssen die Dinge selbst als Vernunftschlüsse betrachtet werden. Insofern »alles ein Urteil ist«, ist daher auch »Alles […] ein Schluss« (8, 332): »Das Wirkliche ist ein Einzelnes, das durch die Besonderheit sich in die Allgemeinheit erhebt und sich identisch mit sich macht.« 104 (8, 332) Das Wirkliche ist eines, das mit sich auseinandertritt, und der Schluss ist der »Kreislauf der Vermittlung«, durch den hindurch es sich als Eines setzt. Wesentlich kommt es Hegel dabei in seiner Lehre vom Schluss – ebenso wie in seiner Lehre vom Urteil – darauf an, den Formalismus des Schließens zu überwinden. Das sei hier nur ganz kurz angedeutet. Das Formelle des Schließens besteht darin, dass Einzelheit und Allgemeinheit im Verstandesschluss nur äußerlich aufeinander durch die Besonderheit bezogen werden, und so das Allgemeine durch die Vermittlung (d. h. das Schließen) ein ihm äußerliches Subjekt subsumiert. Aus diese Weise treten das Vermittelnde (der Begriff) und das Vermittelte (das Einzelne) noch auseinander. In dem Schluss B–A–E Alle Menschen sind sterblich Nun ist Cajus ein Mensch Ergo ist Cajus sterblich. ist der Obersatz nur insofern richtig, insofern der Untersatz richtig ist: Wäre Cajus nicht sterblich, so wäre der Obersatz nicht richtig. Die Verbindung des Einzelnen und des Allgemeinen erscheint so aber noch als eine zufällige; die Verbindung der Prämissen verweist auf kein Sein, das so ist, wie es ist, weil es ist. Anderes verhält sich dies aus Hegels Sicht bei dem hypothetischen und dem disjunktiven Schluss. Im hypothetischen Schluss Wenn A ist, so ist B Nun ist A, Also ist B gibt es eine notwendige Beziehung zwischen dem Obersatz und dem Untersatz – »die Äußerlichkeit hat sich damit aufgehoben und 104 Oder umgekehrt: »Alles ist ein Begriff, und sein Dasein ist der Unterschied der Momente desselben, so dass seine allgemeine Natur durch die Besonderheit sich äußerliche Realität gibt und hierdurch als negative Reflexion-in-sich sich zum Einzelnen macht.« (Ebd.)

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deren in sich gegangen Einheit gesetzt«. (LII, 398) Dies gilt aus Hegels Sicht in besonderem Maße im disjunktiven Schluss: A ist entweder B oder C oder D A ist aber nicht C noch D Also ist es B Hier liegt nicht nur eine notwendige Beziehung zwischen Obersatz und Untersatz vor, sondern das Allgemeine »schließt« im unmittelbaren, Einzelnen (A), vermittelt durch dessen Besonderheit (nicht C und D), nur auf die Wirklichkeit seiner selbst im Einzelnen zurück, bzw. das Einzelne bestimmt sich selbst als es selbst nur vermittelt der ihm immanenten Allgemeinheit. Damit ist aber aus Hegels Sicht der Formalismus des Schließens endgültig aufgehoben und der letzte Rest des Gesetztseins durch das Wesen – das Auseinandertreten von Vermittelndem und Vermittelten – ausgelöscht. Das Resultat ist nun »eine Unmittelbarkeit, die durch das Aufheben der Vermittlung hervorgegangen, ein Sein, das ebenso sehr identisch mit der Vermittlung und der Begriff ist, der aus und in seinem Andersssein sich hergestellt hat«. (LII, 401). Dieses Sein ist aus Hegels Sicht »die Sache an und für sich« – die Objektivität. Die Objektivität erweist sich hier – wie Taylor zu Recht sagt – »aus dem Denken einer sich selbst begründenden Notwendigkeit«. 105

1.7.4. Die Objektivität Hegel gibt selbst zu, dass die Selbstaufhebung des Schlusses in der Objektivität dem gewöhnlichen Bewusstsein als »fremdartig« vorkommen muss. (8, 345) Wie kann Hegel die Objektivität, die Wirklichkeit aus der Vernunft ableiten? Das entscheidende Argument, das Hegel für seine These, dass die Objektivität im Begriffe sich gründet, ins Feld führt, ist dies, dass die Vernunft lebt – und in diesem Sinne tätig, wirklich ist. Denn es ist die Lebendigkeit der Vernunft selbst, welche aus Hegels Sicht die Objektivität als solche begründet: Es ist das Leben des Geistes, welches die Objektivität als eine Sphäre des Geistes begründet. Dies wird insbesondere darin deutlich, dass Hegel 105 Taylor behauptet nicht ganz zu Unrecht, Hegels Argumentation sei in diesem Punkt »recht wenig einleuchtend«. Die Gedankenfigur erscheint als zu klein, um einen Gottesbeweis einzuleiten – was Hegel hier insgeheim vorhat. Vgl. a. a. O., S. 410.

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den Begriff der Objektes bzw. der Objektivität dem des Dinges gegenüberstellt. Das Ding ist – wie bereits sahen – überhaupt nur darum Ding, weil es die Allgemeinheit, die es an sich ist, nicht für sich ist – das Ding war noch nicht sich selbst objektiv, da es sich in der Vermittlung seiner mit sich nicht als das Vermittelnde geben war. Daher traten im einzelnen Ding Materie (Identität/Allgemeinheit) und Form (Unterschied/Besonderheit) noch auseinander. Auf Grund dieses Auseinandertretens wäre es daher auch wohl kaum nicht möglich, von einer Sphäre der Dingheit zu sprechen, so wie man von einer Sphäre der Objektivität spricht. Was das Objekt vom Ding unterscheidet ist somit, dass es über ein gewisses in sich geschlossenes Selbstsein verfügt und dieses Selbstsein ist das Wesen, die geistige Grundlage des Objektes, die Selbstverobjektivierung des Geistes als »Nicht-Dinglichkeit« oder als Unbedingtheit des Faktischen. Oder, mit anderen Worten: Wenn man die Dinge als Vernunftschlüsse betrachtet, dann sind sie keine bloßen Dinge mehr, sondern Objekte, die auf eine sie tragende und zugleich transzendierende, geistige Grundlage verweisen. Als Objekte sind die Dinge die »Realisierung des Begriffes« (8, 345); was der Begriff aber im Objekt realisiert ist nichts als er selbst – in diesem Sinne ist die Realisierung das Leben des Begriffes. 106 Im 20. Jahrhundert hat Wittgenstein in einer Tagebucheintragung den Gedanken Gottes in ähnlicher Weise mit der Unbedingheit des Faktischen verbunden: »Wie sich alles verhält, ist Gott. Gott ist, wie sich alles verhält.« (TB 1.8.16) »Unter Objekt«, so Hegel, »pflegt man nicht bloß ein abstraktes Seiendes oder existierendes Ding oder ein Wirkliches überhaupt zu verstehen, sondern ein konkretes, in sich vollständiges Selbstständiges«. Diese Vollständigkeit aber ist die »Totalität des Begriffes.« (8, 346) Die Selbstständigkeit ist der Begriff »als das sich selbst Bestimmende«, »als absolut mit sich identische Negativität« (LII, 403). Hie106 Hegel erinnert in diesem Zusammenhang nicht von ungefähr auf die früheren ontologischen Gottesbeweise und betont: »Gott als lebendiger Gott und noch mehr als absoluter Geist wird nur in seinem Tun erkannt.« (LII, 404). Dies Tun ist in diesem Falle die Realisierung des Begriffes. Am ausführlichsten hat sich m. W. Ute Guzzoni (Werden zu sich. Eine Untersuchung zu Hegels Wissenschaft der Logik, Freiburg/ München 1963) mit der Frage auseinandergesetzt, in welchen Sinne Hegel in seine Logik als »Gottesbeweis« bzw. Beweis des Absoluten verstanden haben wollte. Hegel hat an den klassischen Gottesbeweisen (er bezieht hier sich insbesondere auf den Anselms, s. 8, 348) kritisiert, dass die Einheit von Begriff und Sein immer schon vorausgesetzt ist. Was Hegel aus Guzzonis Sicht zeigen will, ist demgegenüber, das es »der absolute Begriff selbst ist, der den Beweis seiner selbst führt«. (S. 27)

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raus resultiert, dass das Objekt eine Totalität für sich ist: Während am Ding die Eigenschaften abstrahierbar sind und sich verselbständigen (das Ding besteht aus seinen Eigenschaften), und das Ding auf Grund dieser seiner Unselbstständigkeit als Erscheinung der zugrunde liegenden Notwendigkeit zu interpretieren war, gibt es im Objekt aus Hegels Sicht keine Unterscheidung zwischen Substanz und Akzidenz, dem Subjekt als Träger und den Eigenschaften – »diese Verhältnisse sind überhaupt schon im Begriff untergegangen« (LII, 410). Denn im Objekt ist »die Besonderheit schlechthin in die Totalität reflektiert«. (LII, 411) Es erstaunt daher kaum, dass Hegel seine eigene Konzeption des Objektes am ehesten im Panlogismus Leibnizens verwirklicht sieht, d. h. im Begriff der Monade. Denn diese ist die »Totalität der Weltvorstellung« (8, 350); aber als an sich seiend – »in ihrer einfachen Einheit ist aller Unterschied als ein ideeller, unselbständiger«. In der Tat kommt Leibniz Hegels Konzeption des Objektes insofern nahe, insofern Leibniz die Eigenschaften der Monaden (Besonderheit) als solche denkt, die im logischen Sinne im Begriff der Monade im »vollständigen Begriff« enthalten sind. Wie schon bemerkt, bleibt Leibniz damit allerdings einer Substanzontologie mit scholastischen Zügen verhaftet. Denn den individuellen Begriffen der Monaden entsprechen in seinem System jene Begriffe, die nur als Subjekte und nie als Prädikate auftreten, so dass die Monaden streng genommen nur akzidentelle Veränderungen erleben. Die Monade ur-teilt sich nicht, tritt nicht in Subjekt und Objekt auseinander, sondern jede Monade ist der ganze Begriff für sich als ein in-sich geschlossenes Universum: »Es kommt nichts von außen in die Monade, sie ist in sich der ganze Begriff, nur unterschieden durch dessen eigene größere oder geringere Entwicklung.« (8, 350) Hier tritt denn auch aus Hegels Sicht zugleich der Widerspruch des leibnizschen Systems zutage: Zugleich sollen alle Monaden in Gott aufeinander bezogen, »In-Eins-GesetztSein«: »In der Monade der Monaden und der prästabilierten Harmonie ihrer inneren Entwicklungen sind diese Substanzen ebenso wieder zur Unselbständigkeit und Idealität reduziert.« (8, 350) Die leibnizsche Philosophie ist so aus Hegels Sicht »der vollständig entwickelte Widerspruch« (8, 350). Hegel formuliert den Widerspruch, der aus seiner Sicht im Begriff des Objektes enthalten ist, dahingehend, dass

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»das Objekt überhaupt das eine noch weiter in sich unbestimmte Ganze, die objektive Welt überhaupt, Gott, das absolute Objekt [ist]. Aber das Objekt hat ebenso den Unterschied an ihm, zerfällt in sich in unbestimmte Mannigfaltigkeit (als objektive Welt), und jedes dieser Vereinzelten ist auch ein Objekt, ein in sich konkretes, vollständiges, selbständiges Sein«. (L II, 346)

Der Widerspruch des Objektes besteht somit darin, dass jedes Objekt für sich als Verkörperung der Totalität auftritt, und doch alle Objekte zugleich nur Verkörperungen ein– und derselben Totalität sind. Die Auflösung dieses Widerspruches besteht aus Hegels Sicht darin, dass sich die Totalität »in einem unendlichen Urteil« zu sich als Totalität ins Verhältnis setzt; ein Verhältnis, das Hegel »Idee« nennt, und dessen unmittelbare Erscheinungsform das Leben – die Idee des Lebens – ist. »Leben« ist dabei aus Hegels Sicht – wie schon bemerkt – der Inbegriff für die dynamische Einheit von Subjektivität und Objektivität; das Leben ist Idee, insofern die Idee Identität und Unterschied von Subjektivität und Objektivität, absoluter Widerspruch und Auflösung desselben ist. Als solches ist das Leben aus Hegels Sicht im Wesentlichen Resultat seiner eigenen zweckgerichteten Tätigkeit der Selbstvermittlung. Zugleich setzt es sich aber eine Objektivität (unbelebte Natur, Materie, Licht etc.) voraus, in der es sich als Zweck verwirklicht. Empirisch betrachtet ist das Leben daher nicht voraussetzungslos, sondern findet sich in einer Objektivität (»Natur«) vor, in der zugleich noch andere Prozesse und Kräfte als die des Lebens am Wirken sind. Hegel geht nun davon aus, dass auch in logischer Hinsicht das Objekt zunächst nicht als lebendig bzw. in der Form der Zweckbeziehung auftritt. Grund dafür ist aus Hegels Sicht, dass das Objekt den Begriff nur an sich, als subjektiven zunächst außer ihm hat, so dass alle Bestimmtheit als eine äußerliche gesetzt ist. Um zum Zweck zu werden, muss sich das durch den Schluss mit sich zusammengeschlossene Objekt gleichsam erneut dazu ent-schließen, sich gegenüberzutreten, um im Be-schluss wiederum mit sich zusammenzugehen: »Der Begriff«, so Hegel, »welcher zunächst nur subjektiv ist, schreitet, ohne dass es dazu eines äußeren Materials oder Stoffs bedarf, seiner eigenen Tätigkeit gemäß dazu fort, sich zu objektivieren, und ebenso ist das Objekt nicht ein Starres und Prozessloses, sondern sein Prozess ist der, sich als das zugleich Subjektive zu erweisen, welches den Fortgang zur Idee bildet.« (8, 351)

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Die Vitalisierung des Objektes durchläuft die drei klassischen Formen des »Mechanismus, des Chemismus und der Zweckbeziehung«. (8, 352) 1.7.4.1. Der Mechanismus Hegel argumentiert hier so, dass sich im Schluss, in dem das Subjekt sich mit sich zusammenschließt, der Unterschied welches die Besonderheit als die Bestimmtheit des Objektes ist und damit zugleich alle Vermittlung aufhebt – das Objekt ist »der Schluss, dessen Vermittlung ausgeglichen und daher unmittelbare Identität geworden ist« (LII, 410). Auf Grund der dem Objekt zunächst wesentlich zukommenden Unmittelbarkeit hat die »negative Einheit des Begriffes« (d. h. der Zweck) noch nicht »von der Unmittelbarkeit dieser Totalität abgeschieden«. (LII, 409) Die Objektivität ist daher am Objekt noch nicht als Unterschied, d. h. »als Urteil« gesetzt. Weil die Objektivität aber dem Begriff immanent ist und so der Unterschied desselben an ihr vorhanden ist, so sind die Unterschiedenen nun ihrerseits »vollständige und selbstständige Objekte, die sich daher auch in ihrer Beziehung nur als selbständige zueinander verhalten und sich in jeder Beziehung äußerlich bleiben« (LII, 409). Die Sphäre der Objektivität erscheint – mit anderen Worten – als eine Sphäre des Geistes, die in unterschiedliche Objekte geurteilt ist, aber so, dass die Urteilung zunächst rein objektiv ist und daher nicht den Charakter einer Selbstunterscheidung des absoluten Subjektes hat. Eben dies macht aus Hegels Sicht den Mechanismus aus, nämlich dass die Beziehung, welche zwischen den Verbundenen stattfindet, eine ihnen fremde und äußerliche ist. Allerdings wäre der Mechanismus keine Erscheinungsweise der Idee, bzw. die Natur als Ganze nicht die »Idee in der Form ihrer Anderseins« (9, 25), wenn diese Äußerlichkeit schon alles wäre. Auch in anorganischer Natur verbirgt sich nach Hegel die »Einheit des Begriffes«, auch hier gibt es eine innere Notwendigkeit, in der die Dinge miteinander verbunden sind. Bedingung der Möglichkeit des Mechanismus – dem Hegel als Erklärungsmodell einfacher Verhältnisse (Stoß, Druck etc.) ein gewisses (wenn auch sehr begrenztes) Recht zuspricht – ist, das die Natur sich selbst äußerlich ist, bzw. den Begriff gleichsam in auswendiger Form an sich hat. Dies bedeutet zunächst: Weil das Objekt die in die unmittelbare Identität zusammengegangene Vermittlung ist, ist es zunächst auf völlig unbestimmte Weise. 172 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Weil aber der Begriff wesentlich bestimmt ist, besteht diese Unbestimmtheit darin, die Bestimmtheit als eine zwar vollständige, aber »unbestimmte, d. i. verhältnislose Mannigfaltigkeit an ihm zu haben« (LII, 411). Das Objekt erscheint damit als ein »Zusammengesetztes«, ein »Aggregat« (8, 352). Der »formelle Mechanismus« besteht nun darin, dass die Wirksamkeit der Objekte aufeinander äußerliche Beziehung bleibt. Die Objekte sind in dieser Beziehung und Unselbständigkeit ebenso selbständig, d. h. einander Widerstand leistend. Hier tritt denn aber aus Hegels Sicht zugleich der Widerspruch zutage, der aus Hegels Sicht im Begriff des Objektes enthalten ist. Der Begriff ist aus Hegels Sicht – wie bereits bemerkt – das »Wirkende seiner selbst«. Das Objekt hingegen, das nur an sich Begriff ist, ist einerseits das Wirkende eines Anderen, andererseits erleidet es selbst die Wirkung eines Anderen. Wirkungen eines Anderen erleiden kann das Objekt aber nur, insofern es selbständig ist, d. h. dem anderen Widerstand entgegensetzt. Die Konstanz der Ursache in ihren Wirkungen ist so gesehen sowohl durch das Unterschiedlichsein, als auch durch die Ununterschiedenheit der Objekte gegeneinander vermittelt. Die »identische Allgemeinheit« (Ununterschiedenheit) kommt in der Konstanz der Ursache in der Wirkung zum Vorschein, d. h. in der Art und Weise, in der sich eine Ursache (z. B. Stoß, Explosion, Welle etc.) in der durch Objekte konstituierten Welt »mitteilt«: So können z. B. die Wirkungen, deren Ursache ein Vulkanausbruch ist, sich noch hunderte oder tausende Kilometer weit ausbreiten, eben weil die materielle Welt extrem mitteilsam ist, d. h. sich als unendlicher Vermittlungszusammenhang von Ursache und Wirkung darstellt. Anders als im Falle des Kausalitätsverhältnisses, wo – wie wir sahen – noch Substrate vorliegen, denkt Hegel nun diese Mitteilung als ein Reflexionsgeschehen, welches zugleich das Wesen jedes einzelnen Objektes konstituiert: Als Mitteiler sind die Objekte – wenn auch auf eine sehr unvollkommene Weise – »Teilnehmer« des objektiven Universums; die »Mitteilung« ist die Form, in der sie ihr »objektives Dasein«, »ihr Leben« miteinander teilen in der sie gleichsam miteinander kommunizieren. Das Objekt erscheint aus dieser Perspektive als das »Sich-selbst-Äußerliche«, insofern sein Selbstsein durch das Geschehen der mitgeteilten Wirkungen, die es zugleich erleidet, vermittelt ist. Damit baut sich auf rudimentäre Weise die Struktur der selbstbezüglichen Negativität in der Objektwelt auf. Denn aus dieser Perspektive »schließt das Objekt sich durch die Negation seiner, seine Unselbständigkeit, mit sich selbst zusammen und ist so erst 173 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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selbständig« (8, 355). Das Objekt existiert so gesehen nicht nur als das Sich-Äußerliche, sondern in der Totalität der äußeren Beziehungen aufeinander als Vermittlung seiner mit sich. Weil sich aber diese Ver-mitt-lung seiner mit sich im Medium der Äußerlichkeit abspielt, ist aus Hegels Sicht die materielle Körperwelt die Dialektik, ihren Mittelpunkt außerhalb ihrer »zu setzen und zu haben« (9, 68). Dieser Mittelpunkt ist – wie im Falle des Sonnensystems – der Zentralkörper, welcher in seiner Zentralität die präfigurierte Subjektivität in der materiellen Welt ausmacht. Für den Zentralkörper gilt dabei allerdings das Gleiche wie für jeden andern Körper: Dieser ist ebenso zentral in sich und darin ebenso nur auf andere Zentren bezogen. Jeder Körper ist so zentrale Einzelheit und hat in seiner Zentralität sein Zentrum zugleich in einem Anderen. Die Beziehung der Einzelheit auf das außer ihrer gesetzte Zentrum denkt Hegel dabei als Gravitation, als Schwere. Diese ist als Anziehungskraft aus Hegels Sicht gleichsam die Widerlegung des formellen Mechanismus, denn in der Gravitation tritt zutage, dass die materiellen Körper auch »innerlich« (d. h. durch ihre Unselbständigkeit hindurch) miteinander und darin mit sich vermittelt sind. Die Schwere ist das »Insichsein der Materie, in diesem Sinne, dass, eben insofern sie noch nicht Mittelpunkt, Subjektivität an ihr selbst ist« (9, 62). Sie ist in gewisser Weise das Geistige, das dem Körper innewohnt; der Geist aber im Modus seines vollkommenen Andersseins. Denn in der Materie, die ihre Einheit außerhalb ihrer setzt, ist die Einheit nur als ein Sollen wirklich. Dieses Sollen hat seine Wirklichkeit in der Selbstbewegung der Materie, die Hegel als ein unendliches Suchen, als ein unendliches Streben nach dem Mittelpunkt interpretiert. Entscheidend für den weiteren Fortgang der Interpretation ist hierbei, das sich aus Hegels Sicht die materielle Wirklichkeit als begriffliches System konstituiert, bzw. durch die Macht des Begriffes hindurch sich selbst organisiert: Indem das selbständige Objekt als Einzelnes durch die Negation seiner selbst, d. h. durch seine Besonderheit, mit sich vermittelt ist – eine Vermittlung welche im Zentralkörper ihre Wirklichkeit hat – kommt es zu einer ersten Selbstintegration des Allgemeinen im Einzelnen. Auf Grund dieser Selbstintegration des Allgemeinen im Einzelnen erscheint das Objekt nun als etwas Bestimmtes; es bestimmt sich jedoch noch nicht selbst als es selbst, sondern ist nur an sich bestimmt – nicht an- und fürsich –, da das Allgemeine hier noch äußerlich mit sich identifiziert ist. Das differente Objekt eröffnet seinerseits die Sphäre des Chemismus. 174 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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1.7.4.2. Der Chemismus Wesentlich am Phänomen des Chemismus ist für Hegel allein die Spontaneität, in der die chemische Reaktion vonstattengeht. Ähnlich wie moderne Theoretiker der Selbstorganisation der Natur sieht Hegel in dieser Spontaneität die Subjektivität des Lebendigen, die aus seiner Sicht in der Zwecksetzung kulminiert, zumindest präfiguriert. Während man in modernen Theorien der Selbstorganisation von einer spontanen Reaktion spricht, wenn ein Ordnungszustand erreicht wird, der »nicht oder nicht wesentlich von außen aufgezwungen« 107 wurde, spricht Hegel vom chemischen Prozess als einem, der »selbstbestimmend anfängt« (LII, 430). Was bedeutet das in diesem Zusammenhang? Während die Objekte sich im Mechanismus gleichgültig gegenüberstehen, hat das chemische Objekt eine immanente Bestimmtheit und ist durch diese hindurch auf ein anderes Objekt – oder besser sein Anderes – bezogen. Weil das chemische Objekt aber an sich der »ganze Begriff« (LII, 429), d. h. die »gesetzte Totalität des Begriffes« (8, 357) ist, hat der Unterschied, der zwischen es selbst und sein anderes Objekt fällt, an sich den Charakter einer Selbstunterscheidung. Damit tritt im Chemismus nun die Grenze in der ihr immanenten Dialektik in Erscheinung, nämlich in dem Sinne, das Andere (d. h. das andere Objekt in der chemischen Reaktion) real zu unterscheiden und ideell miteinzubeziehen. So ist das chemische Objekt der Widerspruch zwischen seiner konkreten Existenzweise und seiner ansichseienden Totalität und daher als ein Streben, sein Dasein dem Begriffe gleich zu machen. Eben dies geschieht aus Hegels Sicht in der chemischen Reaktion: »Die chemisch-differenten Objekte sind das, was sie sind, ausdrücklich nur durch ihre Differenz und sind so der absolute Trieb, sich durch- und aneinander zu integrieren.« (8, 357) Das Resultat des chemischen Prozesses ist das Neutrale, in das sich »die 107 »Selbstorganisierende Prozesse sind solche physikalisch-chemischen Prozesse, die innerhalb eines mehr oder weniger breiten Bereichs von Anfangs- und Randbedingungen einen geordneten Zustand oder eine geordnete Zustandsfolge (Grenzzyklus) einnehmen. Das Erreichen des Ordnungszustandes wird dabei nicht oder nicht wesentlich von außen aufgezwungen, sondern resultiert aus den spezifischen Eigenschaften der an dem Prozess beteiligten Komponenten. Der Ordnungszustand wird spontan erreicht.« Roth, G., Selbstorganisation – Selbsterhaltung – Selbstreferentialität: Prinzipien der Organisation der Lebewesen und ihre Folgen für die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt, in: Selbstorganisation. Die Entstehung von Ordnung in Natur und Gesellschaft, hg. v. A. Dress u. a., München 1986, S. 153 f.

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gespannten Extreme« (8, 358) aufheben. Hegel interpretiert dieses Resultat so, dass in der chemischen Reaktion das konkrete Allgemeine sich durch die Differenz (d. h. die Grenze) der Objekte mit der Einzelheit, dem Produkte, und darin mit sich selbst zusammenschließt. Auch die chemische Reaktion hat also aus Hegels Sicht eine begriffliche Struktur bzw. die Form eines Schlusses, insofern hier Einzelheit und Allgemeinheit miteinander durch die Besonderheit in ihrer Grenze vermittelt werden. Unter diesem Gesichtspunkt wird der Prozess initiiert durch die als Differenz der Objekte gedachte Grenze, die das »begeisternde Prinzip des Prozesses« und als solches das urteilende Prinzip des Prozesses ist. Der chemische Prozess ist nur darum aus Hegels Sicht kein teleologischer Prozess bzw. lebendig, weil er die unmittelbare Selbständigkeit und das darin angelegte Sich-Einander-Äußerlich-Sein der beteiligten Objekte zur Voraussetzung hat. So ist er ein endlicher, bedingter Prozess, der im neutralen Produkt zum Erlöschen kommt. Aber im Übergehen in das Produkt stellt der Prozess zugleich die Negation der vorausgesetzten Unmittelbarkeit der differenten Objekte dar. Durch diese Negation der Äußerlichkeit und der Unmittelbarkeit hindurch wird der Begriff, der in die materielle Welt gleichsam versenkt ist, aus Hegels Sicht freigesetzt – als Zweck. 1.7.4.3. Die Teleologie »Der Zweck ist«, so Hegel, »der in die freie Existenz getretene, fürsich-seiende Begriff«, der vermittelt durch die Negation der unmittelbaren Objektivität gleichsam zu sich kommt. An die Stelle der Grenze als differenzierendes Prinzip der Objekte des Chemismus tritt damit das Urteil als Differenz und Einheit von Subjektivität und Objektivität an ein- und demselben Organismus. Um seinen eigenen Zweckbegriff zu elaborieren, und damit zur Idee des Lebens vorzudringen, unterscheidet Hegel zunächst zwischen äußerer und innerer Zweckmäßigkeit, wobei er – wie zu Anfang bemerkt – hier ausdrücklich Kant würdigt. Äußere Zweckmäßigkeit liegt dort vor, wo die Dinge ihre Bestimmung nicht in sich selbst tragen, und somit bloß Mittel zur Realisierung eines Zweckes sind. Dies ist der Gesichtspunkt der Nützlichkeit. Scharf kritisiert Hegel hier jene Theologen seiner Zeit, die in der äußeren Zweckmäßigkeit der Natur glauben, die Weisheit Gottes aufzeigen zu müssen, so etwa den Gedanken, dass Gott den Rebstock für den Genuss des Weines und den Korkbaum für 176 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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dazugehörigen Korken geschaffen habe. Zwar sei es vernünftig, die endlichen Dinge als ein Nicht-Letztes zu nehmen, das über sich hinausweist; zur Erkenntnis der Negativität des Endlichen müsse man sich aber zunächst auf dessen positive Wirklichkeit einlassen. Irrtümlich hält Hegel von hier aus betrachtet überhaupt die Auffassung, dass Zwecke nur dort realisiert werden, wo der Urheber des Zweckes über Intelligenz und Selbstbewusstsein – menschlich oder göttlich – verfügt. Hier könnte Hegel an den kantschen Begriff des »Naturzwecks« anknüpfen, wenn auch – wie schon bemerkt – Hegel Kants Vorstellung, dass innere Zwecksetzung nur eine regulative Idee ist, entschieden ablehnt. Stehen in der äußeren Zweckmäßigkeit die Mittel dem Zweck gegenüber, so dass die Art und Weise, in welcher der Zweck verfolgt wird, auch noch vom Zweck selbst zu unterschieden ist, so ist das Kriterium der inneren Zweckmäßigkeit nicht die Intelligenz des Urhebers, sondern dass die Prozesse, die zum Zweck führen und der Zweck selbst nicht zu unterscheiden sind. Im Wachstumsprozess einer Pflanze oder eines Tieres vollführt das Tier nur den Zweck, der es im Sinne des aristotelischen Begriffes der Entelechie selbst ist. In diesem Sinne ist die teleologische Betrachtungsweise aus Hegels Sicht der Schluss, in welchem sich der subjektive Zweck (im Falle des Menschen: »der Vorsatz«) mit der ihm äußerlichen Objektivität durch die Mitte zusammenschließt, welche als »zweckmäßige Tätigkeit« die Einheit beider und in diesem Sinne zugleich das Mittel ist. Das Mittel existiert unter dieser Perspektive nur in der Selbstvermittlung des Subjektes – die Begriffe Vermittlung, Mitte und Mittel gehören somit aus Hegels Sicht nicht nur etymologisch, sondern sinngemäß zusammen, insofern sie ihren Bedeutungsgehalt aus der inneren Zweckmäßigkeit des Lebendigen beziehen: Im Kommenden werden wir sehen, wie Plessner in ganz ähnlicher Weise von hier aus den Begriff der »zentrischen Positionalität« entwickelt, der für die Organisationsform des Tieres charakteristisch ist. Um sich einen adäquaten Begriff vom sich-realisierenden Zweck im Sinne der inneren Zweckmäßigkeit des Lebendigen zu machen und damit die Entwicklung des Zwecks zur Idee nachzuverfolgen, gilt es nun aus Hegels Sicht drei Dinge zu unterscheiden: erstens den subjektiven Zweck, zweitens den vollführenden und drittens den vollführten Zweck. 1.) Der subjektive Zweck ist – so Hegel – der Schluss, in welchem sich der allgemeine Begriff durch die Besonderheit mit der Einzelheit so zusammenschließt, dass diese als Selbstbestimmung urteilt. Dadurch 177 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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macht sich das noch unbestimmte Allgemeine zu einem bestimmten Inhalt (Vorsatz) und setzt hinsichtlich dieses Inhalts zugleich einen Gegensatz von Subjektivität und Objektivität. Zugleich bestimmt sich das Allgemeine als Rückkehr in sich, indem es die gegen die Objektivität vorausgesetzte Subjektivität in Vergleichung mit der in sich zusammengeschlossenen Totalität als ein Mangelhaftes oder Negatives bestimmt und sich damit zugleich nach außen kehrt. Somit zeichnet sich die Struktur der selbstbezüglichen Negativität in der Struktur des Begriffs als Zweck im Sinne eines Vorsatzes ab. Hier konkretisiert sich Hegels These, dass »die eigentliche Selbstbewegung, der Trieb überhaupt« nichts anderes ist, »als Etwas in sich selbst und der Mangel, das Negative seiner Selbst, in ein und derselben Rücksicht ist« (LII, 76). 2.) In der nach außen gerichteten Tätigkeit bezieht sich das Subjekt nun auf eine Welt, die der Verwirklichung seiner als Zweck sowohl entgegengesetzt ist, als auch dieser Entgegensetzung entgegengesetzt ist. Mit anderen Worten: In seiner zweckgerichteten Tätigkeit bezieht sich das Subjekt auf Grund der ihm immanenten Allgemeinheit auf eine Welt, die aus Hegels Sicht an sich als Medium seiner Verwirklichung bestimmt ist. So sieht Hegels zumindest im Sinne des alttestamentarischen »füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht« (1, 28) die ganze Natur als solche als ein Medium an, das nicht für sich existiert, sondern für den Menschen bestimmt ist. Es ist in diesem Sinne aus Hegels Sicht die im subjektiven Zweck waltende Allgemeinheit, der allgemeine Begriff, jenes Element, das es dem Subjekt erlaubt, in der ihm gegenüberstehenden Welt unmittelbar mit sich identifiziert zu sein. Der Begriff ist in diesem Sinne »die unmittelbare Macht, weil er die mit sich identische Negativität ist, in welcher das Sein des Objektes durchaus als ein ideelles bestimmt ist« (8, 364). Der allgemeine Begriff, der die Differenz von Subjekt und Welt von jeher übergreift, ist damit dafür verantwortlich, dass das Subjekt sich auf die Welt als die seine beziehen kann. Zugleich aber besteht die endliche Zweckmäßigkeit darin, dass das Objekt, das zum Mittel dient, und die Tätigkeit auseinanderzufallen. Das Subjekt (in seiner Allgemeinheit) ist damit einerseits unmittelbar im Objekt mit sich identifiziert, andererseits ist der Zweck »auch nicht identisch mit dem Objekte; daher muss er auch erst mit demselben vermittelt werden« (8, 365). Hegel 178 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Der Begriff: Die Grenze als Urteil

veranschaulicht diese Dialektik an Hand des Beispiels von Körper und Seele: Das Lebendige hat einen Körper, die Seele (als das Allgemeine) bemächtigt sich demselben und hat sich darin unmittelbar verobjektiviert. Und doch gilt: »Die menschliche Seele hat viel damit zu tun sich ihre Leiblichkeit zu eigen zu machen. Der Mensch muss seinen Körper gleichsam erst in Besitz nehmen, damit er das Instrument der Seele sei.« (8, 209). Verhungert der Mensch etwa, dann fallen aus Hegels Sicht Körper und Seele gleichsam wieder auseinander. Und was für das Verhältnis von Körper und Seele gilt, das gilt – wie schon bemerkt – für das Verhältnis von Subjekt und Welt überhaupt: Obwohl die Vernunft als absolute Zweckmäßigkeit oder absoluter Selbstzweck aus Hegels Sicht an sich in der Welt immer schon verwirklichlicht ist, so verwirklicht sie sich doch in der Sphäre der Endlichkeit nur durch »die vermittelnde Tätigkeit, welche, indem sie die Objekte ihrer eigenen Natur gemäß aufeinander einwirken und sich aneinander abarbeiten lässt, ohne sich unmittelbar in diesem Prozess einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zur Ausführung bringt« (8, 365). In diese vermittelnde Tätigkeit treten nun Mechanismus und Chemismus erneut ein; nun aber in dienender Stellung, deren Wahrheit und freier Begriff der Zweck ist. Hierin besteht aus Hegels Sicht die »List der Vernunft«; nämlich das sie nicht direkt in den Weltlauf eingreift, sondern sich als »die Macht der Prozesse, worin das Objektive sich aneinander abreibt und aufhebt« (8, 365), manifestiert. 3.) Der realisierte Zweck ist die »gesetzte Einheit des Subjektiven und des Objektiven« (8, 365). Dabei gilt, dass der Zweck sich gegen und in dem Objektiven erhält, weil er nicht nur das einseitige Subjektive bzw. Besondere ist, sondern zugleich das konkrete Allgemeine als ansich-seiende Identität des Subjektiven und des Objektiven. Das Allgemeine ist, als einfach in sich reflektiert, der Inhalt; ein Inhalt, dem der Zweck als Formtätigkeit zunächst gegenüberzustehen scheint. In dieser Diskrepanz von Form und Inhalt besteht aus Hegels Sicht der Unterschied zwischen endlicher und unendlicher Zweckmäßigkeit. In der Tat ist aus Hegels Sicht auch der ausgeführte Zweck zunächst ein ebenso in sich Gebrochenes wie es der ausführende Zweck als Vermittlung war. Es ist eine »an dem vorgefundenen Material nur äußerlich gesetzte Form zustande gekommen«. (8, 366) In der endlichen Zwecksetzung existiert daher das Resultat des realisierten Zwecks nicht »um seiner selbst willen«, d. h. als Selbstzweck, sondern wieder179 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

um nur als Mittel oder Material für andere Zwecke, was einen Fortgang ins Unendliche impliziert. Hierin liegt aber zugleich die Dialektik, dass darin, dass auch der ausgeführte Zweck nur als Mittel oder Material bestimmt ist, das Objekt als Resultat der Zwecksetzung unmittelbar als ein nichtiges, ideelles bestimmt ist. Gerade weil endliche Zwecksetzung ein Prozess ad infinitum ist, verweist sie aus Hegels Sicht auf eine unendliche Zweckmäßigkeit, die in ihrer formenden Tätigkeit nur sich zum Inhalt hat. In der endlichen Zwecksetzung, die ad infinitum geht, ist der »Output« (das Objekt) immer wieder unmittelbar als »Input« (d. h. als ideell) für andere endliche Zwecke bestimmt. Die unendliche Zweckmäßigkeit entfaltet sich von hier aus betrachtet aus Hegels Sicht in dem Verhältnis, in dem der Output als unendlich, als Input reflektiert ist – d. h. in einer unendlichen Idealisierung aller realen Inhalte, ganz gleich, durch was für endliche Zwecksetzungen hindurch. Genauer gesagt scheint Hegel zu glauben, dass indem das Resultat jeder einzelnen Zwecksetzung in einem Ende (engl. Zweck = end) kulminiert, das unmittelbar wieder als ein Anfang reflektiert ist, sich der wahre, unendliche Zweck in und als die Verknüpfung aller endlichen Zwecke unter–einander, d. h. als Totalität im Medium der Idealität realisiert. Diese Totalität ist in letzter Instanz der Lauf der Weltgeschichte als solcher (der die Naturgeschichte einschließt). Endliche Subjekte sind unter diesen Gesichtspunkt solche endlichen Zwecke (»ends«), in und durch die hindurch sich das Unendliche als End- und Selbstzweck – als Weltgeschichte – realisiert. Aus der Auffassung, dass sich durch die Endlichkeit menschlicher Zwecksetzungen hindurch durch das Unendliche verwirklicht, leitet sich Hegels Geschichtsoptimismus ab, wie er in dem berühmten Diktum Hegels zum Ausdruck kommt: »Gott lässt die Menschen mit ihren besondere Leidenschaften und Interessen gewähren, und was dadurch zustande kommt, das ist die Vollführung seiner Absichten, welche ein anderes sind als dasjenige, um was es denjenigen, derer er sich dabei bedient, zunächst zu tun war«. (8, 364)

Denn was im Realisieren des Zwecks an sich geschieht, ist, so Hegel, dass »die einseitige Subjektivität und der Schein der gegen sie vorhandenen objektiven Selbständigkeit aufgehoben wird« (8, 366). Endliche Zwecke können aus dieser Sicht überhaupt nur auf Grund eines ursprünglichen Entsprechungsverhältnisses von Begriff und Realität, Subjekt und Welt vollbracht werden. In der Tat ist aus Hegels Sicht »das Objekt an sich der Begriff, und indem derselbe, als Zweck, darin 180 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens

realisiert wird, so ist dies nur die Manifestation seines eigenen Inneren« (8, 367). Die Form (als das Tätige) ist damit als identisch mit sich und hiermit zugleich als Inhalt gesetzt – als Formtätigkeit, die nur sich zum Inhalt hat. Damit ist im teleologischen Prozess erreicht, was im mechanischen und chemischen Prozess noch nicht erreicht war – die an sich seiende Einheit des Subjektiven und des Objektiven nun als für sich seiend: die Idee.

1.8. Die Idee des Lebens Was aber ist die Idee aus Hegels Sicht? Hegel begreift die Idee als das »Wahre an und für sich« (8, 367), worunter er die »absolute Einheit des Begriffes und der Objektivität« (8, 367) versteht. Mit dieser seiner Konzeption der Idee knüpft Hegel kritisch zunächst an Kant und darüber hinaus an Platon an. Kant hatte in der Idee ein Unbedingtes gesehen, einen transzendenten Vernunftbegriff, der alle empirische Realität übersteigt und von dem daher »kein ihm adäquater empirischer Gebrauch gemacht werden könne« (LII, 462). Kant zog hieraus bekanntlich den Schluss, dass den Ideen kein ontologischer Stellenwert zukomme, sondern sie nur regulative Prinzipien für das Denken sind, da ihnen in der Sinnenwelt nichts entspricht. Objektive Realität weist er dem Bereich des Praktischen, des Sittlichen zu. Hier betrachtet er die moralischen Ideen in ausdrücklicher Anlehnung an Platon als Urbilder der praktischen Vernunft. Hegel stimmt mit Kant darin überein, dass in der Idee ein Unbedingtes zu sehen ist, das alle empirische Wirklichkeit übersteigt; jedoch betrachtet er die Unangemessenheit der Idee auf der einen und die der Sinneswelt auf der anderen als eine Eigenschaft der endlichen Dinge: »Das Einzelne für sich entspricht seinen Begriff nicht; diese Beschränktheit seines Daseins macht seine Endlichkeit und seinen Untergang aus.« (8, 368) Denn das einzelne Sein ist nur »irgendeine Seite der Idee, für dieses bedarf es daher noch anderer Wirklichkeiten, die gleichfalls als besonders für sich bestehende erscheinen; in ihnen zusammen und in ihrer Beziehung allein ist der Begriff realisiert«. (8, 368) Die Idee ist in diesem Sinne nicht nur als Einheit des Begriffes und der Objektivität aufzufassen, sondern gleichfalls als deren Unterschied – ein Unterschied, bei dem es sich jedoch um eine Selbstunterscheidung der Idee handelt. In diesem Sinne ist die Nichtentsprechung von Begriff und Realität in Falle des Endlichen eine solche, in der das Endliche durch 181 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

seine Nichtentsprechung hindurch seinem Begriff eben doch entspricht. Obwohl daher Hegel mit Kant darin übereinstimmt, dass die Idee alle sinnliche Wirklichkeit transzendiert, fühlt er sich daher gleichwohl berechtigt, zur platonischen Auffassung der Ideen als Seins- und Erkenntnisgründe zurückzukehren. Unter diesem Gesichtspunkt gilt Hegels Diktum, dass die Vernunft alle Wirklichkeit ist. Die Idee ist die Vernunft als schöpferischer Begriff, der die Wirklichkeit erzeugt und in Übereinstimmung mit sich bringt. Diese Übereinstimmung ist aus Hegels Sicht das »objektive Wahre« oder das »Wahre als solche«: »Wenn irgendetwas Wahrheit hat«, so Hegel, »dann hat es sie durch die Idee, oder etwas hat nur Wahrheit, insofern es die Idee ist.« (LII, 462) Die Wahrheit, welche die Idee verkörpert, ist demnach nicht als Wahrheit in Beziehung auf ein Bewusstsein zu denken, das seinen Gegen-stand zu begreifen trachtet (dies wäre aus Hegels Sicht »Richtigkeit«), sondern als Wahrheit in dem tieferen Sinne, dass sich die Wirklichkeit als insofern Ausdruck der Vernunft begreifen lässt, als dass sie ihrem Begriff entspricht. In diesem Sinne sprechen wir denn auch Hegel zufolge von einem »wahren Staat« oder einem »wahren Kunstwerk«: »Diese Gegenstände sind wahr, wenn sie das sind, was sie sein sollen, d. h. wenn ihre Realität ihrem Begriff entspricht.« (8, 369) Hier manifestiert sich zugleich Hegels absoluter Idealismus, demzufolge auch ein schlechter Staat oder ein schlechter Mensch überhaupt nur »sein« kann, wenn er in irgendeinem Sinne seinem Begriff dennoch entspricht: Selbst »der schlechteste Staat, dessen Realität dem Begriff am wenigsten entspricht, insofern er noch existiert, ist er noch Idee, die Individuen gehorchen noch einem machthabenden Begriffe.« (LII, 466) Oder: »Ein schlechter Mensch ist ein unwahrer Mensch, d. h. ein Mensch, der sich seinem Begriffe oder seiner Bestimmung nicht gemäß verhält. Ganz ohne Identität des Begriffes und der Realität vermag indes nichts zu bestehen.« (8, 369) Die Art und Weise, in der die Idee den endlichen Dingen Bestand verleiht, ist nun jedoch ferner keineswegs in der Art und Weise zu denken, in der in der platonischen Metaphysik die Idee als »Immerseiende« den endlichen Dingen, die »niemals wirklich sind«, qua »Teilhabe« Bestand verleiht. Die Idee – so wie Hegel sie begreift – ist in keinster Weise als etwas Statisches aufzufassen. Hegel kritisiert daher solche Redeweise, wie die von der Einheit des Endlichen und des Unendlichen, oder des Denkens und Seins, denn »die Einheit 182 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens

drückt eine ruhig beharrende Identität« aus. (8, 372) Die Idee ist als solche »wesentlich Prozess, weil ihre Identität nur insofern die absolute freie des Begriffs ist, insofern sie absolute Negativität und daher dialektisch ist«. Die Idee hat daher, »um der Freiheit willen, die der Begriff in ihr erreicht, auch den härtesten Gegensatz in sich; ihre Ruhe besteht in der Sicherheit und Gewissheit, womit sie ihn ewig erzeugt und ewig überwindet und in ihm mit sich selbst zusammengeht.« (LII, 468) Als ein solcher Prozess durchläuft die Idee drei Stufen: Die erste Form der Idee ist die Idee des Lebens, d. h. die Idee in der Form der Unmittelbarkeit. Die zweite Form ist die der Vermittlung oder Differenz und dies ist die Idee des Erkennens. Da der Prozess des Erkennens zu seinem Resultat die Wiederherstellung der durch den Unterschied bereicherten Einheit hat, ergibt sich hiermit die dritte Stufe, die absolute Idee als letzte Stufe des logischen Prozesses. Zunächst weißt Hegel kurz auf den Unterschied der Betrachtung des Lebens in der Logik und in der Naturphilosophie hin. Das »logische Leben« (LII, 470) unterscheidet sich von dem »Naturleben, das in der Naturphilosophie betrachtet wird«, insofern das Naturleben in die »Äußerlichkeit des Bestehens hinausgeworfen ist« und »an der anorganischen Natur seine Bedingung hat«. Die Idee des Lebens hingegen ist ohne solche Voraussetzungen, welche zugleich als Mannigfaltigkeit wirklicher Gestalten sind; ihre Voraussetzung ist allein der Begriff. Das Leben in seiner Idee ist, so Hegel »an und für sich absolute Allgemeinheit; die Objektivität, welche es an ihm hat, ist vom Begriffe schlechthin durchdrungen, sie hat nur ihn zur Substanz«. (LII, 472) Dass Hegel nur die allgemeinsten Züge des Lebens in der Logik in den Blick nimmt, erklärt, weshalb er in der Logik – im Gegensatz zur Naturphilosophie – keine Stufung bzw. Differenzierung zwischen pflanzlichen und tierischen Lebensformen vornimmt. Hegel analysiert das Leben in drei Schritten, wobei der letztere Schritt den Übergang von der Idee des Lebens zu der Idee des Erkennens beinhaltet. Diesem Übergang vom Leben zum Erkennen entspricht naturphilosophisch bzw. anthropologisch betrachtet der Übergang vom Tier zum Menschen, insofern aus Hegels Sicht nur selbstbewussten Wesen Erkenntnisfähigkeit zukommt. Die drei Schritte sind die folgenden: 1.) Das Leben als lebendiges Individuum zu betrachten. 2.) Der Lebensprozess. 3.) Der Prozess der Gattung. 183 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

1.8.1. Das lebendige Individuum Das ursprüngliche Urteil des Lebens, so Hegel, besteht darin, dass das Lebendige sich als individuelles Subjekt gegen das Objektive abscheidet und, indem es sich als negative Einheit des Begriffes konstituiert, die Voraussetzung einer unmittelbaren Objektivität macht. Das Lebendige existiert so als Einzelnes, Vereinzeltes und steht einer unorganischen Natur gegenüber. Hegel betont noch einmal, dass mit dem Urteil des Begriffes die Sterblichkeit des Lebendigen gesetzt ist, demzufolge Leib und Seele trennbar sind. (8, 374) Einzelne Lebewesen sind notwendig unvollkommene Verkörperungen der allgemeinen Idee und müssen daher sterben: »Das Lebendige stirbt, weil es der Widerspruch ist, an sich das Allgemeine, die Gattung zu sein und doch unmittelbar nur als Einzelnes zu existieren. Im Tode erweist sich die Gattung als die Macht über das Einzelne.« (8, 376) Aber Leib und Seele sind auch nur trennbar – betont Hegel – im Falle des Eintretens des Todes; zu Lebzeiten bilden sie eine Einheit. Grundlage dieser Einheit ist der Begriff. Im Lebendigen ist Begriff als die Seele in einem Leibe realisiert, wobei er als das »bewegende Prinzip« aufzufassen ist. Hegel knüpft hier ausdrücklich an Kant an und sagt, dass der dem Lebendigen immanente Begriff als die innere Zweckmäßigkeit des Lebendigen aufzufassen ist; »als bestimmter, von seiner Äußerlichkeit unterschiedener und in seinen Unterscheiden sie durchdringender und mit sich identischer Begriff«. Ebenso wie Kant betont Hegel, dass im Lebendigen als »Organismus« alles wechselseitig Mittel und Zweck ist: »Die Objektivität des Lebendigen ist Organismus; sie ist das Mittel und das Werkzeug des Zwecks; vollkommen zweckmäßig, da der Begriff ihre Substanz ausmacht; aber deswegen ist dies Mittel und Werkzeug selbst der ausgeführte Zweck.« (LII, 476) Hegel exemplifiziert diese innere Zweckmäßigkeit anhand der Struktur des Organismus, wobei er auf Aristoteles verweist: Rein äußerlich betrachtet ist der Organismus ein Vielfaches, dieses Vielfache sind aber nicht Teile, sondern – so Hegel – Glieder, die sind, was sie sind allein durch die Beziehung auf die Einheit des Organismus. Wie schon Aristoteles betont er, dass eine Hand, die vom Organismus abgeschlagen ist, nur noch dem Namen nach – aber nicht der Sache nach – eine Hand ist. Das Lebendige transzendiert folglich Mechanizismus und Chemismus: Während die chemische Reaktion in ihrem Produkt zum Erlöschen kommt, ist das Lebendige der Trieb als reiner Prozess 184 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens

des Sich-Produzierens. Der Begriff, so Hegel, produziert sich so, dass sein Produkt »selbst das Produzierende ist« (LII, 477). Die lebendige Objektivität des Individuums, die vom Begriff beseelt ist, hat nun auch die wesentlichen Unterschiede, d. h. die Momente des Begriffs als der Einzelheit, Allgemeinheit und Besonderheit an ihr: Hegel identifiziert die Allgemeinheit des Begriffes mit der Sensibilität des lebendigen Organismus, die Besonderheit mit der Irritabilität und die Einzelheit mit der Reproduktivität. Mit den Begriffen Sensibilität, Irritabilität und Reproduktivität knüpft Hegel dabei nicht nur an den zu seiner Zeit gängigen Diskurs in den Naturwissenschaften an, sondern hat sich – wie Sell 108 recht betont – hierbei offenbar stark an Schellings Auffassung des Organischen orientiert. Als Allgemeinheit ist das Lebendige Sensibilität – das »Erzittern der Lebendigkeit« (LII, 478) in sich. Die Sensibilität, erläutert Hegel seinen Gedanken, »kann somit als das Dasein der in sich seienden Seele betrachtet werden, da sie alle Äußerlichkeit in sich aufnimmt, dieselbe aber in die vollkommene Einfachheit der sich gleichen Allgemeinheit zurückführt«. (LII, 478) Sensibilität ist somit Allgemeinheit als »unendliche, bestimmbare Rezeptivität, welche die äußerlichen Eindrücke in die Einfachheit des Selbstgefühls zurückführt. Zu Erinnern ist in diesem Zusammenhang daran, dass – wie wir sahen – die Allgemeinheit des Begriffes die Nachfolgebestimmung der passiven Substanz ist, deren Aktivität darin besteht, Einwirkungen zu erleiden. Als Besonderheit ist das Lebendige Irritabilität. Die Irritabilität ist dabei nichts anderes als die in das Urteil transformierte Grenze, d. h. das Moment des »gesetzten Unterschiedes«. Hegel bestimmt die Irritabilität als das Urteil, wonach sich das Lebendige »auf das Äußerliche als auf eine vorausgesetzte Objektivität bezieht und in Wechselwirkung damit ist« (LII, 479). Hier zeigt sich noch einmal, dass die Kategorie der Besonderheit aus der Kritik der Wechselwirkung her108 Vgl. Sell, a. a. O., S. 162: »Wenn nun Hegel in der Logik dem lebendigen Individuum Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion zuschreibt, so ist in erster Linie an Schelling zu denken.« Sell bezieht sich hier insbesondere auf Schellings Schrift Von der Weltseele – Eine Hypothese der höheren Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus von 1798. Schelling selbst bezieht sich in seiner Arbeit direkt auf den Schweizer Naturforscher Albrecht von Haller (1708–1777), sowie auf den Naturforscher Carl Friedrich Kielmeyer (1765–1844). Es ist sehr wahrscheinlich, dass Hegel – der ja den naturwissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit gut kannte – sowohl mit den Ideen von Hallers als auch mit denen Kielmeyers vertraut war.

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vorgegangen ist und diese als aufgehoben in sich enthält. Dementsprechend kann Hegel mit dem Begriff »Wechselwirkung« hier nicht meinen, dass das Lebendige nur mit einer ihm äußerlichen Umwelt »wechselwirkt« – denn dies war ja gerade der Standpunkt, den er dekonstruiert hat. In der Tat versteht Hegel unter Besonderheit bzw. Irritabilität nicht nur eine äußerliche Unterscheidung von Lebendigen und Welt, sondern zugleich eine Selbstunterscheidung des Lebendigen, das in diesem Sinne zu seinem Umfeld in inneren Beziehungen jenseits aller physikalischen Messbarkeit steht: »Als Irritabilität erscheint das Lebendige als in sich dirimiert«. (8, 375) Von hier aus lässt sich verstehen, weshalb Hegel sagt, dass das Lebendige in seiner Irritabilität »Äußerlichkeit seiner gegen sich selbst, gegen die Objektivität ist, welche es als sein Mittel und Werkzeug unmittelbar an ihm hat«. (LII, 478, Hervorh. S. R.) Hier denke man etwa daran, dass ein Tier oder ein Mensch seinen Körper wie jedwedes andere äußerliche Werkzeug handhaben kann: Ein Schlag kann mit einem Stein, einem Hammer oder mit der Faust ausgeführt werden. Diese Deutung der Irritabilität als Ausdruck eines inneren Antagonismus, der den Organismus charakterisiert, lässt sich in engen Zusammenhang mit Plessners Bestimmung von Grenze und Form sehen. Mit der Organisiertheit (d. h. dem Körper als »Mittel seiner selbst«) und einhergehenden Finalität kommt nun die dritte Bestimmung des Lebendigen als Einzelheit ins Spiel – die Reproduktivität. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist zu betonen, dass Hegel unter Reproduktivität die individuelle Reproduktivität versteht – nicht die der Gattung, d. h. den Fortpflanzungszyklus. Die so verstandene individuelle Reproduktivität hebt die Unmittelbarkeit dieser Objektivität auf, so dass das Lebendige als ein teleologischer Prozess zu verstehen ist, in dem es sich »aus dem inneren Unterschied seiner Glieder und Organe« stets wiederherstellt; damit ein »fortwährend erneuernder Prozess innerhalb seiner selbst ist« (8, 37). Während Sensibilität und Irritabilität aus Hegels Sicht für sich genommen nur abstrakte Momente darstellen, ist in der Reproduktion das Leben als Konkretes und in seiner Lebendigkeit gesetzt. Erst in der Reproduktion – als dem Element der Einzelheit – erlangt das Lebendige wirkliche Individualität als ein »sich auf sich beziehendes Fürsichsein« (LII, 480). Als solches ist es aber zugleich reale Beziehung nach außen – »die Reflexion der Besonderheit oder Irritabilität gegen einen Anderes, gegen die objektive Welt« (LII, 480).

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Die Idee des Lebens

1.8.2. Der Lebensprozess Der Prozess des Lebens hebt nun damit an, dass das lebendige Individuum sich daran begibt, dieses Anderssein der vorausgesetzten objektiven Welt aufzuheben. »Das Urteil des Begriffs«, so Hegel, »geht als frei dazu fort, das Objektive als eine selbständige Totalität aus sich zu entlassen, und die negative Beziehung des Lebendigen auf sich macht als unmittelbare Einzelheit die Voraussetzung einer ihm gegenüberseienden unorganischen Natur«. (8,375)

Entscheidend ist, dass insofern das Lebendige zugleich Begriff, d. h. konkretes Allgemeines ist, das Negative zugleich Begriffsmoment des Lebendigen ist, und dass es daher das Anderssein der objektiven äußeren Welt als einen Mangel, den es aufzuheben gilt, empfindet. Mit anderen Worten: Das Lebendige will in der Aufhebung dieses Mangels die Allgemeinheit, die es an sich ist, für sich realisieren. Dabei ist die Aufhebung möglich, denn die Wirklichkeit ist an sich bereits Idee. In seinem Selbstgefühl hat das Lebendige daher die Gewissheit von der an sich seienden Nichtigkeit des ihm gegenüberstehenden Andersseins; sein Trieb ist aus Hegels Sicht das Bedürfnis, sich dieser Wahrheit zu vergewissern. Das Lebendige ist damit der Trieb; »jene ihm andere Welt für sich, sich gleich zu setzen, sie aufzuheben und sich zu verobjektivieren« (LII, 481). So ist das Lebendige aus Hegels Sicht der existierende, der absolute Widerspruch. Der Widerspruch besteht darin, dass der Begriff des Lebendigen einerseits in die absolute Ungleichheit mit sich entzweit ist und er andererseits die absolute Identität dieser Entzweiung ist, so dass »das Lebendige für sich selbst diese Entzweiung ist« (LII, 482). Hieraus resultiert zugleich die Leidensfähigkeit des Lebendigen: »Der Schmerz ist das Vorrecht lebendiger Naturen; weil sie der existierende Begriff sind, sind sie eine Wirklichkeit von der unendlichen Kraft, dass sie in sich die Negativität ihrer selbst sind, und sich in ihrem Anderssein erhalten.« (LII, 481) Vom Schmerz ausgehend, so Hegel, fängt das Bedürfnis und der Trieb an, der das Individuum dazu antreibt, dass es Identität für sich werde – »eine Identität welche nur als Negation der Negation ist« (LII, 482). Das Lebendige unterwirft sich somit die anorganische Natur und erweist sich als übergreifend über sein Anderes, weil die anorganische Natur an sich dasselbe ist, was das Leben für sich ist. So geht das Lebendige in seinem Anderen nur mit sich selbst zusammen; es setzt sich darin für sich identisch mit sich. Dadurch, dass nun das 187 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Lebendige sich in seiner Allgemeinheit realisiert hat, d. h. die Außenwelt sich assimiliert hat, hat es – so Hegel – »seine Besonderheit aufgehoben«, denn diese bestand ja darin, dass das Leben in individuelles Leben und äußerliche Objektivität auseinandertraten. Durch den äußeren Lebensprozess hat es sich damit »als reelles, allgemeines Leben, d. h. als Gattung gesetzt« (LII, 484).

1.8.3. Die Gattung Indem das Individuum seine äußerliche Objektivität assimiliert, setzt es sich als Gattung und hebt damit die Besonderheit im Sinne einer Gabelung des Lebensprozesses in Subjekt und Welt auf. Aber die Idee des Individuums ist wesentlich die Besonderung ihrer selbst. An die Stelle der Gabelung in individuelles Lebens und äußere Objektivität tritt daher Differenzierung innerhalb der Gattung – die Geschlechtsdifferenz. Die Besonderung ist damit »die Beziehung des Subjektes auf ein anderes Subjekt seiner Gattung und das Urteil ist das Verhältnis der Gattung zu diesen so gegeneinander bestimmten Individuen«. (8, 376) Es kommt damit zu einer »Verdoppelung des Individuums – ein Voraussetzen einer Objektivität, welche mit ihm identisch ist, und ein Verhalten des Lebendigen zu sich selbst als einem anderen Individuum« (LII, 484). Weil das einzelne Individuum an sich die Gattung ist, daher ist es somit wieder als Trieb – diesmal aber nicht als der Trieb, das Andere zu assimilieren, sondern sich mit dem Anderen zu vereinigen: »Die Gattung in ihm ist daher als Spannung gegen die Unangemessenheit ihrer einzelnen Wirklichkeit der Trieb, im anderen seiner Gattung sein Selbstgefühl zu erlangen, sich durch Einigung mit ihm zu integrieren und durch diese Vermittlung die Gattung mit sich zusammenzuschließen und zur Existenz zu bringen – die Begattung.« (9, 516)

Hegel betont mehrfach, dass das Geschlechtsverhältnis der höchste Punkt der Natur ist: »Das Geschlechtsverhältnis ist der höchste Punkt der lebenden Natur; auf dieser Stufe ist sie der äußeren Notwendigkeit im vollsten Maße entnommen, da die aufeinander bezogenen unterschiedenen Existenzen nicht mehr einander äußerlich sind, sondern die Empfindung ihrer Einheit haben.« (10, 20)

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Aber auch hier kommt es nur zu einem Empfinden, und nicht einem Bewusstsein der Einheit, weil das Lebendige die Gattung nur an sich, nicht für sich ist: »Dies empfindet nur die Gattung, weiß nicht von ihr; im Tier ist nicht die Seele für die Seele, das Allgemeine als solches für das Allgemeine.« (10, 20) Dennoch stellt in logischer Hinsicht die Begattung den entscheidenden Übergang vom Leben der Natur (bzw. unmittelbaren Leben) zu dem des Geistes dar. Hegel betrachtet den Prozess der Gattung aus zweifacher Perspektive: Einerseits stellt sich das Leben der Gattung als »schlechte Unendlichkeit« (8, 376), nämlich als Fortpflanzung dar. Obwohl die Kette der Generationen sich potenziell ins Unendliche fortschreibt, wird in ihr doch aus Hegels Sicht keine wirkliche Unendlichkeit realisiert. Denn die Gattung wird in der Begattung und Zeugung von neuem Leben doch stets in einzelnen Lebewesen realisiert, die mit demselben Widerspruch behaftet sind, nur an sich der Begriff zu sein, nicht an und für sich. Die Idee fällt somit im Fortpflanzungsprozess stets in die Wirklichkeit der Einzelheit zurück, so dass sie darin nicht aus ihrer Endlichkeit und Unmittelbarkeit herauszutreten vermag: »Das unmittelbar Lebendige vermittelt sich im Prozess der Gattung mit sich selbst und erhebt sich so über seine Unmittelbarkeit, aber nur um wieder zu derselben zurückzusinken.« (8, 377) Der Prozess der Gattung hat aber aus Hegels Sicht noch eine andere Seite: In der Begattung wird – so Hegel – die Besonderheit der getrennt lebenden Geschlechter aufgehoben, so dass die Idee, die als Gattung an sich ist, jetzt für sich wird. Die fürsichseiende Idee aber ist der Geist. So geht der Geist aus der Idee des Lebens hervor. Das erscheint als Zauberei. Wie begründet Hegel das Hervorgehen des Geistes aus dem natürlichen Leben? Entscheidend für Hegels eigenwillige Argumentation ist die Identifikation der Begattung mit dem Tod des Einzelnen. Was den Tod aus Hegels Sicht mit der Begattung verbindet, ist, dass beide eine Rückkehrbewegung des Allgemeinen zu sich implizieren – und zwar in ein- und derselben Hinsicht, nämlich der Aufhebung der unmittelbaren Einzelheit (Tod) bzw. Vereinzelung des Lebendigen (Begattung). In der Naturphilosophie – der wir uns gleich zuwenden werden – weist Hegel so darauf hin, dass zahlreiche niedere Tiere wie z. B. Schmetterlinge direkt nach der Begattung sterben; den höheren Tieren kommt zwar eine größere Selbständigkeit zu, aber auch hier vollstreckt sich – wie wir sehen werden – in Alter und Krankheit die Gattung. Auch die Liebe stellt aus Hegels Sicht eine Realisation des Allgemeinen, Universellen dar, denn »die 189 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Liebe ist die Empfindung, worin die Selbstsucht des Einzelnen und ihr abgesondertes Bestehen negiert wird, die einzelne Gestalt also zugrunde geht und sich nicht erhalten kann.« (9, 520) So tritt durch den Tod, d. h. die Aufhebung des Einzelnen hindurch die Gattung als das Allgemeine in ein Selbstverhältnis zu sich – der Tod als das Aufheben der Einzelheit ist die »mit sich zusammengehende Gattung, die für sich werdende Allgemeinheit der Idee.« Das Selbstbewusstsein, das aus Hegels Sicht den Menschen charakterisiert, ist auf diese Weise eine höhere Synthese zweier Momente, nämlich der Momente der Vereinigung und des Todes. »Der Tod der nur unmittelbaren einzelnen Lebendigkeit«, so Hegel, »ist das Hervorgehen des Geistes.« (8, 377)

1.9. Die absolute Idee Durch die Aufhebung der Unmittelbarkeit – durch den Tod des Lebens – wird die Idee, die in der Natur nur an sich war, für sich: zur Idee, welche sich zu sich als Idee verhält. Als eine solche tritt sie in das Erkennen und das Wollen – in theoretische und praktische Tätigkeit – auseinander; aber nur, um diese beiden Seiten wieder zu Einheit, zur absoluten Idee zu reintegrieren. Der Gang kann hier nicht dargestellt werden, es sollen nur die zentralen Punkte hergestellt werden, insofern die absolute Idee in ihr Gegenteil umschlägt und sich als Natur manifestiert. Das Erkennen bestimmt Hegel »als Idee in der Gestalt der Differenz« (8, 388) und der Prozess, den das Erkennen durchläuft, ist die Überwindung dieser Differenz und die Wiederherstellung der Einheit, welche das natürliche Leben unmittelbar ist. Im Erkennen ist an sich das Allgemeine als Allgemeines, der Begriff als Begriff gegeben; aber diese Identität ist für das Erkennen zunächst noch nicht gegeben. So liegt die Endlichkeit des Erkennens zunächst darin, dass es sich auf eine scheinbar vorgefundene Welt als seine Voraussetzung bezieht: »Das Erkennen weiß sich noch nicht als die Tätigkeit des Begriffs, welche es nur an sich, aber nicht für sich ist.« (8, 379) Im Laufe seiner Entwicklung erfährt das Erkennen aber, dass die scheinbar gegebene Wirklichkeit nicht gegeben, sondern durch eine zugrunde liegende Notwendigkeit gesetzt ist. Die Notwendigkeit als solche ist aber an sich der sich auf sich beziehende Begriff. So erscheint die Welt jetzt dem Subjekt als ein notwendiger Inhalt, der durch die subjektive Tätigkeit des Erkennens bzw. Begreifens vermit190 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die absolute Idee

telt ist. Das Erkennen geht daher dazu über, die Wirklichkeit als Medium des Geistes aufzufassen, was bedeutet, dass es das Allgemeine in seiner Wahrheit als Subjektivität, als sich bewegenden, tätigen und Bestimmungen setzenden Begriff auffasst. In dieser einseitigen Identität manifestiert sich das Erkennen als subjektive Idee. Die subjektive Idee ist aus Hegels Sicht in diesem Sinne die Idee des Guten, welche das Allgemeine verwirklichen will, indem es die Welt nach seinem Zweck umgestaltet. Das Subjekt fasst unter diesem Gesichtspunkt die Welt nicht mehr als etwas Vorgefundenes, sondern als ihm Immanentes auf, und die Idee des Erkennens geht in die des Wollens über: »Während es der Intelligenz nur darum zu tun ist, die Welt so zu nehmen, wie sie ist, so geht hingegen der Wille darauf, die Welt erst zu dem zu machen, das sie sein soll.« (8, 386) Die Welt gilt ihm jetzt nicht als ein Vorgefundenes, sondern ein Nichtiges. Hegel bezieht sich hier erneut kritisch auf Kant: Das Wollen hat einerseits die Nichtigkeit des vorausgesetzten Objektes zu seiner Gewissheit, aber es setzt zugleich den Zweck des Guten als nur subjektive Idee, d. h. als Gesinnung voraus. Wäre das Gute verwirklicht, fiele demnach auch der Wille fort. Der Wille enthält daher den Widerspruch, dass er als guter Wille fordere, dass sein Zweck auch nicht verwirklicht ist. Dieser Widerspruch lässt sich aus Hegels Sicht nur dadurch aufheben, dass sich der Wille mit der Idee des Erkennens aussöhnt. Der Wille muss zur Voraussetzung des Erkennens zurückkehren, und einsehen, dass die Welt selbst die Idee ist, der an und für sich seiende Begriff: »Das unbefriedigte Streben verwindet, wenn wir erkennen, dass der Endzweck der Welt ebenso vollbracht ist, wie er sich ewig vollbringt.« (8, 387) Das Gute ist, indem es sich stets neu hervorbringt. Die Wahrheit des Guten ist damit aus Hegels Sicht mit dieser endgültigen Einsicht erreicht – die objektive Welt ist an und für sich die Idee, wie sie sich als Zweck zugleich ewig hervorbringt. Dies ist die absolute Idee, die Hegel als Einheit der Idee des Lebens und des Erkennens verstanden haben will. Besteht der Mangel des Lebens darin, dass es nur die an sich seiende Idee ist, so ist die absolute Idee als Einheit von Leben und Erkennen (Geist) die an- und fürsich seiende Idee – die sich selbst denkende und erkennende Idee, d. h. »absolute und alle Wahrheit« (8, 388). In dieser Wahrheit, in der die Idee die vollständige Bestimmtheit durch sich selbst erreicht hat, stellt sich nun die Unmittelbarkeit des Seins wieder ein. Aber die Unmittelbarkeit der Idee ist eine andere als die abstrakte Unmittelbarkeit des reinen Seins: Sie ist eine Unmittelbarkeit, 191 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Idee des Lebens in Hegels Wissenschaft der Logik

die alle Vermittlung hinter sich gelassen hat. Als eine solche begreift Hegel sie als Natur: »Wir sind jetzt zum Begriffe der Idee, mit welcher wir angefangen haben, zurückgekehrt. Zugleich ist diese Rückkehr zum Anfang ein Fortgang. Das, womit wir anfingen, war das Sein, das abstrakte Sein; und nunmehr haben wir die Idee als Sein; diese seiende Idee ist die Natur.« (8, 392)

Es ist die Freiheit der Idee, so Hegel, »die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen« (8, 393). Um dieser Freiheit willen »ist die Form ihrer Bestimmtheit ebenso schlechthin frei, – die absolut für sich selbst ohne Subjektivität seiende Äußerlichkeit des Raumes und der Zeit«. (LII, 573) Im abschließenden Teil werden wir diesen Übergang noch einmal genauer betrachten.

192 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

2. Die Stufung des Organischen in Hegels Philosophie der Natur und des Geistes

Das Ende der hegelschen Logik bereitet den Übergang zur Naturphilosophie vor. Wie schon bemerkt verfolgt Hegel in der Naturphilosophie eine andere Herangehensweise an den Gegenstand – die Natur – als in der Logik. Die Logik endet damit, dass sie im Medium des reinen Denkens die Wirklichkeit der Natur logisch herleitet. Die Natur als die »seiende Idee«, die Natur als die Idee, die sich entäußert hat, stellt sich nun umgekehrt in der Naturphilosophie als Idee, sowie sie sich äußerlich ist, dar: »[D]ie Äußerlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist«. (9, 24) Die göttliche Idee – erläutert Hegel dies – »ist eben dies, sich zu entschließen, dieses Andere aus sich herauszusetzen und wieder in sich zurückzunehmen, um Subjektivität und Geist zu sein« (9, 24). Aufgabe der Naturphilosophie ist es nun, diese Rückkehr des Geistes aus der Natur zu sich selbst verständlich zu machen: Die Naturphilosophie ist aus Hegels Sicht selbst Teil der Rückkehr des Geistes zu sich selbst, »denn sie ist es, welche die Trennung der Natur vom Geist aufhebt und dem Geiste die Erkenntnis seines Wesens in der Natur gewährt« (9, 24). Die Naturphilosophie hat in diesem Sinne »begreifende Betrachtung« zu sein; sie betrachtet das Allgemeine der Natur, das von den Naturwissenschaften herausgearbeitet wird, für sich und »betrachtet es in seiner eigenen immanenten Notwendigkeit nach der Selbstbestimmung des Begriffs« (9, 15). Denn einerseits ist, so Hegel, die Natur »der sich entfremdete Geist, der darin nur ausgelassen ist, ein bacchantischer Gott, der sich selbst nicht zügelt und fasst«; andererseits gilt gleichermaßen, dass sich in der Natur die »Einheit des Begriffes« verbirgt (9, 25). Aufgabe der Philosophie ist es, diese Einheit des Begriffes herauszuarbeiten. Dabei hat – wie schon angedeutet – die Philosophie die Ergebnisse der Naturwissenschaften nicht nur zu berücksichtigen, sondern sogar zur Voraussetzung: »Nicht nur muss die Philosophie mit der Naturerfahrung übereinstimmend sein, sondern die Entstehung und Bildung der philosophischen Wissenschaf193 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufung des Organischen bei Hegel

ten hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung.« (9, 15) Aus diesem Postulat erklärt sich, warum Hegels Naturphilosophie, wie schon Taylor zu Recht betont, mehr eine hermeneutische Dialektik ist, als eine strenge logische Herleitung der Erkenntnisse von evidenten Ausgangspunkten aus: In seiner Naturphilosophie geht es Hegels vornehmlich darum, zu zeigen, dass die grundlegenden Strukturen der Natur – sowie sie sich in den Naturwissenschaften seiner Zeit reflektiert – mit den vom ihm in der Logik herausgearbeiteten Strukturen des Begriffs kongruieren, so dass sich die Natur als eine der Erscheinungsformen der Idee deuten lässt. Dementsprechend teilt er die »Idee der Natur« in die drei Bereiche Mechanik, Physik und Organik ein, deren Pendant in der Logik die bereits besprochenen drei Kapitel »Der Mechanismus«, »Der Chemismus« und »Die Teleologie« darstellen. 109 Im Kommenden soll es allein um das Kapitel Organik gehen, insofern die hier herausgearbeitete Stufung das konkrete Pendant zu Plessners Stufen darstellt. Allerdings unterteilt Hegel das Kapitel Organik (anderes als Plessner und dem heutigen Selbstverständnis entsprechend) seinerseits in den geologischen Organismus, den vegetabilischen Organismus, und den animalischen Organismus. Diesen entsprechen das Mineralreich, das Pflanzenreich und das Tierreich. Irritierend hieran ist zweifelsohne, dass Hegel auch die Geologie bzw. das Mineralreich zu den Stufen des Organischen rechnet (zu betonen ist, dass dabei auch das Meer zum Mineralreich gehört).

2.1. Das Mineralreich Verantwortlich dafür ist erstens, dass Hegel das Leben als eine fundamentale Manifestation der Idee interpretiert, sowie zweitens spezifische – zu Hegels Zeit gängige – Vorstellungen, denen zufolge es Phänomene gibt, die gleichsam zwischen dem Chemismus und der Spontaneität des Lebendigen angesiedelt sind. In Bezug auf das erstere ist festzuhalten, dass die Lebendigkeit bzw. teleologische Verfassung der Idee darin besteht, sich ein Anderes bzw. eine Objektivität vorauszusetzen, um dieses Andere aufzuheben und sich darin zu verobjektivieren. In diesem Sinne ist schon die geologische Natur Leben, 109 »War der erste Teil der Naturphilosophie Mechanismus, das Zweite in seiner Spitze Chemismus, so ist dies Dritte Teleologie.« (9, 339)

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Die Pflanze

nämlich Leben, das »als das Andere seiner sich voraussetzt«, wenn es auch als solches, d. h. als unendliche Fruchtbarkeit »nur Grund und Boden des Lebens« ist. (9, 340) Während das Leben aus Hegels Sicht wesentlich »mit sich vermittelnde Tätigkeit« (9, 342) ist, ist die geologische Natur nur an sich – nicht für sich – lebendig, denn es fehlt ihr das Moment der Rückkehr zu sich. Die Erde als Ganzes ist unter diesem Gesichtspunkt ein »System des Lebens, aber als Kristall wie ein Knochengerüst, das als tot angesehen werden kann, weil seine Glieder noch formal für sich zu bestehen scheinen und sein Prozess außer ihnen fällt« (9, 340). Als Beispiele solcher nur an sich – nicht für sich – existierenden Lebendigkeit nennt Hegel nun etwa den »meteorologischen Prozess« (9, 362) durch den die Erde belebt wird; eine Belebung, welche »die reale Möglichkeit ist, dass die Subjektivität an ihr als Lebendiges hervorgehe« (9, 362). Aber auch die Erde selbst oder insbesondere das Meer müssen als reale Möglichkeit des Lebens betrachtet werden – sie schlagen selbst unendlich in »punktuelle und vorübergehende Lebendigkeit« aus. (9, 360) So ist das Meer etwa aus Hegels Sicht »mit unendlich viel vegetabilischen Punkten, Fäden, Flächenartigem erfüllt; es ist eine Tendenz zum Ausschlagen ins Vegetabilische«. (9, 364) »Erhöhter erregt«, so Hegel, »schlägt das Meer auf ungeheureren Strecken in phosphoreszierendes Licht aus, – ein oberflächliches Leben, das sich in die einfache Einheit zusammennimmt, aber ebenso in vollkommen in sich reflektierte Einheit«. (9, 364) Und so eigenwillig Hegels Überlegungen und die seiner Zeitgenossen wie Jules Michelet 110 aus heutiger Sicht auch klingen mögen – sie enthalten doch den modernen Gedanken, dass auch die anorganische Natur, die Meere und das Weltklima als Teil des Ökosystems der Erde, d. h. der Grundlagen des Lebendigen zu betrachten sind; mit Plessner gesprochen damit Teil des »Lebenskreises« des Organischen darstellen.

2.2. Die Pflanze Die erste – nicht nur an sich, sondern für sich seiende – Erscheinungsweise bzw. Stufe des Lebens ist die Pflanze, die jedoch aus He110 Wohl nach wie vor die beeindruckendste Naturstudie zum Meer als Schoß des Lebens: Michelet, Jules, La Mer (1861), deutsch: Das Meer; übers. und komment. v. Rolf Wintermeyer, Frankfurt am Main 2006.

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Die Stufung des Organischen bei Hegel

gels Sicht nur formelle (d. h. nicht individuelle) Subjektivität ist; die zweite ist als individuelle Subjektivität das Tier. (Vgl. Enz. II, 371) Entscheidendes Kennzeichen für die fürsichseiende Lebendigkeit – die nun auch schon der Pflanze zukommt – ist dabei aus Hegels Sicht, dass das Individuum an ihm selbst seine Tätigkeit, sein Lebensprozess ist, während im Falle des »geologischen Organismus« sein Prozess außer ihm fällt. Die Pflanze ist aus Hegels Sicht dem kindlichen Leben vergleichbar; sie ist das erste fürsichseiende Subjekt aber als ein solches, das »in ihm selbst noch nicht zum Unterschiede aufgegangen ist« (9, 372). In der Pflanze, der nur erst unmittelbaren subjektiven Lebendigkeit, ist der objektive Organismus (die Besonderheit) und die Subjektivität desselben (die Allgemeinheit) noch unmittelbar identisch. Während beim Tier die Partikularität eine solche ist, gegen welche die Seele auch ein Allgemeines ist, ist bei der Pflanze das Partikulare ganz unmittelbar identisch mit ihrer Lebendigkeit. Eine Folge hiervon ist aus Hegels Sicht, dass der gegliederte Leib bei der Pflanze noch nicht die Objektivität der Seele ist; die Pflanze ist, so Hegel, »sich noch nicht selbst objektiv« (9, 374). Die Einheit ist vielmehr ein Äußeres für die Pflanze, ihr fehlt – im Gegensatz zum Tiere – die unendliche Rückkehr zu sich, aus der das konkrete Selbstgefühl resultiert. Weil der Pflanze das Element der Rückkehr zu sich fehlt, ist ihr Wachstumsprozess zugleich ein »Außersichkommen« und ein »Zerfallen in mehrere Individuen«, für die das ganze Individuum mehr nur der Boden als subjektive Einheit von Gliedern ist. Die Pflanze ist, als Selbsterhaltung, so Hegel, »Vervielfältigung ihrer Selbst«, denn die Teile der Pflanze sind keine Glieder im eigentlichen Sinne (wie im Falle des Tieres bzw. Menschen), sondern jeder Teil verkörpert aus Hegels Sicht auch die ganze Pflanze – eine tiefe Einsicht, mit der sich Hegel heutzutage auch auf die Entwicklungsbiologie berufen könnte, der zufolge die Pflanze – im Vergleich zu Mensch und Tier – über eine äußerst niedrige Zelldifferenzierung verfügt. »Das im Vegetabilischen herrschende Wachstum«, so Hegel, »ist daher Vermehrung seiner selbst, als Veränderung der Form, während das animalische Wachstum nur Veränderung der Größe ist, aber zugleich eine Gestalt bleibt, weil die Totalität der Glieder in die Subjektivität aufgenommen ist«. (9, 373) Mit der Homogenität der Teile ist somit aus Hegels Sicht das Auseinanderfallen der Pflanze verbunden, während beim Tier die Teile zu Organen, zu »Eingeweiden« systematisiert, spezifiziert und innerlich eingelagert sind. Weil die Pflanze noch sich selbst äußerlich ist bzw. über eine nur schwach ent196 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Pflanze

wickelte Innerlichkeit verfügt, daher existiert aus Hegels Sicht das Selbst der Pflanze nur auf sinnliche Art und Weise. Die Pflanze existiert zwar nicht als materielle Menge, aber doch als nur »sinnliche Einheit des Materiellen« (9, 375). Auf Grund dieser Bindung an das Sinnliche, bzw. weil ihr Selbst noch nicht als schlechthin Unsinnliches existiert, bleibt die Pflanze aus Hegels Sicht dem Raum verhaftet: Während das Tier als existierende Idee seinen Ort vernichten und einen anderen an seine Stelle setzen kann, bleibt die Pflanze an einen bestimmten Ort gebunden. In ähnlicher Weise treten der Ernährungsprozess der Pflanze und der des Tieres auseinander. Während das Tier, so Hegel, »durch Vernichtung« des ihm »gegenüberstehenden Anderen die ursprüngliche einfache Beziehung auf sich« ist (10, 20), ist der Wachstumsprozess der Pflanze ein Assimilieren im Sinne eines Angleichen des Anderen zu sich. Im Angleichen gleicht sich die Pflanze aber auch dem Anderen an, so ist diese »Assimilation« ebenfalls ein Außersichkommen. Da die Einheit der Pflanze ein Äußeres ist für dieselbe, tritt die Pflanze im Licht aus Hegels Sicht ihrem Selbst entgegen: »Die Einheit ist mithin ein Äußeres für die Pflanze […] und dieses äußere physikalische Selbst der Pflanze ist das Licht, dem sie entgegenstrebt, wie der Mensch den Menschen sucht.« (9, 374) Die Pflanze hat, so Hegel, »ein wesentliches, unendliches Verhältnis zum Lichte«; weshalb Hegel Schelling zustimmt, dass die Pflanze, wenn sie Bewusstsein hätte, Licht als ihren Gott verehren würde. Aber sie ist auch in diesem Verhältnis nur ein Suchen ihres Selbst, das sie nicht zum freien Fürsichsein kommt. Auch hier gilt: »Der Selbsterhaltungsprozess ist, das Selbst zu gewinnen, sich zu sättigen, zum Selbstgefühl zu kommen; weil aber das Selbst außer der Pflanze ist, so ist ihr Streben nach dem Selbst vielmehr Außer-sich-gerissen-Werden; also ihre Rückkehr-in-sich immer Hinausgehen und umgekehrt«. (9, 374)

Der höchste Punkt des pflanzlichen Daseins ist aus Hegels Sicht das Hervorbringen der Blüte, »wodurch die Pflanze sich objektiv macht, sich das Licht assimiliert und dies Äußerliche als ihr Eigenes produziert« (9, 420). Die Blüte, so Hegel, ist ein »an der Pflanze selbst erzeugtes Bild des Selbst, das sich zum Selbst verhält« (9, 419). In ihr kommt in gewisser Weise ansatzweise ein Moment der Rückkehr-zusich, des In-sich-Reflektiert-Seins zum Ausdruck; daher hemmt sie aus Hegels Sicht auch das Wachstum der Pflanze. Aber die Rückkehr zu sich, welche die Blüte als »höchste Subjektivität der Pflanze« 197 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufung des Organischen bei Hegel

(9, 420) zum Ausdruck bringt, ist aus Hegels Sicht eben nur ansatzweise bzw. andeutungsweise als »Bild« vorhanden, weil die Blüte an der Pflanze als eigenständiges Individuum auftritt, d. h. weil »diese Entfaltung des Blütenstandes selbst wieder eine Sukzession ist« (9, 420). Ausgehend von seiner These, dass die Pflanze dem kindlichen Leben vergleichbar ist, das sich noch zum Unterschiede aufgegangen ist, deutet Hegels nun auch sie »berühmte Streitfrage in der Botanik, ob wirklich bei der Pflanze erstens Sexualunterschied, zweitens Befruchtung wie bei den Tieren vorhanden sei«. (9, 421) In Bezug auf Ersteres ist zunächst festzuhalten, dass Hegel den Unterschied des Weiblichen und des Männlichen anscheinend reflexionslogisch deutet: Das Weibliche bringt die Identität des Einzelnen und des Allgemeinen, bzw. deren Gleichheit (das Indifferente); das Männliche deren Nicht-Identität bzw. Ungleichheit (das Entzweite, den Gegensatz) zum Ausdruck. (Vgl. 9, 518) Bei der Pflanze liegt aus dieser Perspektive aus Hegels Sicht nur »ein Analogon des Geschlechtsverhältnisses« (9, 421) vor; was sich darin erweist, dass zahlreiche Pflanzen (d. h. die sog. Monözisten) zweigeschlechtlich sind und selbst bei denen, bei denen eine Geschlechtsverteilung vorliegt (den sog. Diözisten) sich das Geschlecht ändern kann. Hegel resümiert: »Die verschiedenen Individuen können also nicht als verschiedene Geschlechter angesehen werden, weil sie nicht in das Prinzip ihrer Entgegensetzung ganz getaucht sind – weil es sie nicht ganz durchdringt, nicht allgemeines Moment des ganzen Individuums, sondern abgeschiedener Teil desselben ist und beide nur nach diesem Teile sich aufeinander beziehen. Das eigentliche Geschlechterverhältnis muss zu seinen entgegengesetzten Momenten ganze Individuen haben«. (9, 421)

Hegel zieht daraus den Schluss, dass die Pflanze – selbst im Falle der Diözisten – geschlechtslos ist, obwohl eine Geschlechtsdifferenz zugegeben werden muss, »weil die Geschlechtsteile, außer ihrer Individualität, einen abgeschlossenen besonderen Kreis bilden« (9, 422). Dass es im Falle der Pflanzen zu wirklicher Befruchtung kommt, dies will Hegel freilich nicht leugnen. Nur handelt es sich hier aus Hegels Sicht um keinen notwendigen Vorgang: »[B]ei der Pflanze ist das Hervorgehen eines neuen Individuums aus der vermittelnden Synthese beider Geschlechter – die Zeugung – ein Spiel, ein Luxus, etwas Überflüssiges« (9, 423). Denn nicht nur können sich zahlreiche Pflanzen ebenso gut durch Stecklinge und Ableger fortpflanzen, sondern – 198 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Der tierische Organismus

so Hegels eigenwillige These – »die Erhaltung der Pflanze ist selbst nur Vervielfältigung ihrer selbst«: Im Falle der Pflanze fallen aus Hegels Sicht damit Verdauungs- und Fortpflanzungsprozess zusammen, da die Pflanze im Angleichen und Assimilieren des Anderen zu sich (»Verdauen«) sich immer wieder als Ganze hervorbringt. So liegt der Gattungsprozess als solcher bei der Pflanze aus seiner Sicht nur formell vor – erst im Animalischen habe er seinen wahrhaften Sinn. Hegel kommt am Ende seiner Überlegungen zur Pflanze zu dem Schluss, dass die Pflanze »ein untergeordneter Organismus« ist, »dessen Bestimmung ist, sich dem höheren Organismus darzubieten, um von ihm genossen zu werden« (9, 429).

2.3. Der tierische Organismus Hegel unterteilt sein Kapitel über den »tierischen Organismus« in der Naturphilosophie analog zu der Einteilung im letzten Teil der Logik, die der Idee des Lebens gewidmet ist. Der tierische Organismus ist zunächst im Allgemeinen zu betrachten und dann des Näheren 1.) als individuelle Idee, die in ihrem Prozess sich nur auf sich selbst bezieht und innerhalb ihrer selbst sich mit sich zusammenschließt – die Gestalt 2.) als Idee, die sich zu ihrem Anderen, ihrer unorganischen Natur verhält und sie ideell in sich setzt – die Assimilation 3.) als die Idee, die sich im Anderen zu sich selbst verhält – der Gattungsprozess Dabei diskutiert er aber im Gegensatz zur Logik zugleich eine ungeheure Menge an Material der Naturwissenschaft seiner Zeit; eine Diskussion, die hier in dieser Breite nicht wiedergegeben werden kann. Entscheidend für das Verhältnis zu Plessner ist, wie Hegel Tier und Pflanze wesensmäßig unterscheidet und schließlich die tierische und die geistige Existenzweise des Menschen voneinander abgrenzt. Während die Pflanze unendlich nach dem Licht als ihrem äußerlichen Selbst strebt, hat, so Hegel, »im Tiere das Licht sich selbst gefunden«. 111 Anders als die Pflanze, die sich noch nicht zum Unterschiede aufgegangen ist, ist das Tier »das Selbst, das für das Selbst ist – die 111 Bekanntlich deutet Hegel das Licht als das »existierende Selbst der Materie«, das nur darum nicht »Ich« ist, »weil es sich nicht in sich selbst bricht und trübt« (9, 111, 113).

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Die Stufung des Organischen bei Hegel

existierende Einheit Unterschiedener, welche durch beide hindurchgeht« (9,430). Das Tier verfügt damit über ein »in sich reflektiertes Selbst«, dessen Einheit »in sich seiende subjektive Allgemeinheit« (9, 430) ist, während, wie schon bemerkt, die Pflanze zur Rückkehr-zusich, zum Fürsichsein, nicht in der Lage ist. Daher kann Hegel auch sagen: »Indem die Pflanze zum Fürsichsein fortgehen will, sind es zwei Individuen, Pflanze und Knospe, die nicht als ideell sind; dies beides in eins gesetzt, ist das Animalische.« (9, 430) Während bei der Pflanze das Selbst noch sinnlich ist – als existierende Einheit ihrer Mannigfaltigkeit –, verfügt das Tier über ein ideelles, übersinnliches Zentrum, dass Hegel auch Seele nennt. Das Leben des Tieres ist aus dieser Perspektive der »höchste Punkt der Natur«, ihr »absoluter Idealismus« (9, 430); »der tierische Organismus ist der Mikrokosmos, das für sich gewordene Zentrum der Natur, worin sich die ganze unorganische Natur zusammengefasst und idealisiert hat«. (9, 435) So hat das »Auseinanderbestehen der Räumlichkeit« für die Tierseele keine Wahrheit mehr: »Man hat sich Mühe gegeben, die Seele zu finden; aber dies ist ein Widerspruch. Es sind Millionen Punkte, in denen die Seele gegenwärtig ist; aber sie ist doch nicht an einem Punkt, weil das Auseinander des Raumes keine Wahrheit für sie hat.« (9, 431) Aus dieser Idealität des Selbst des Tieres leitet Hegel dann auch dessen Fähigkeit zu Selbstbewegung ab: Während die Pflanze ihr Anderes sich assimiliert und angleicht in einer Weise, dass sie damit außer-sich-gerissen wird, vermag das Tier als »in sich zurückkehrende Einzelheit« seinen Ort selbst zu setzen. (9, 433) Der metaphysische Grund für die Fähigkeit zur Ortsbewegung liegt aus Hegels Sicht also darin, dass das Tier die Negativität seiner selbst ist und es daher vermag, sein Anderssein, d. h. seine unorganische Natur in der Rückkehr zu sich kontinuierlich zur Aufhebung zu bringen. Hegel geht überhaupt davon aus, dass das Individuum »seine anorganische Natur noch an ihm selbst« hat und sich selbst ernährt, »indem es sich selbst, als seine eigene Anorganizität aufzehrt« (9, 368). Eben dazu ist aber die Pflanze im Gegensatz zum Tier nicht vollkommen in der Lage. »Die Pflanze lässt ihr Holz, ihre Rinde tot werden und die Blätter abfallen; das Tier aber ist diese Negativität selbst. Jene weiß sich gegen ihr Anderswerden nicht anders zu retten, als es gleichgültig liegen zu lassen.« (9, 437) Die Pflanze vermag eben noch nicht sich als das Andere-ihrer-selbst zu begreifen und sich darin in ein Verhältnis zu sich selbst zu setzen und ihr Anderssein aufzuheben – daher hat sie keine Bewegung vom Platze. 200 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Der tierische Organismus

Mit der Fähigkeit, sich selbst vollkommen innezuwohnen und darin der Äußerlichkeit und abstrakten Idealität von Raum und Zeit enthoben zu sein, sieht Hegel ferner in paradigmatischer Weise die »animalische Wärme« und das Phänomen der Stimmbegabung des Tieres verbunden. Die animalische Wärme des Tieres resultiert aus seiner Sicht aus der fortdauernden Kohäsion und des selbstständigen Bestehens der Teile des Organismus in der Erhaltung der Gestalt. Damit, so Hegel, »gliedert es sich in sich selbst, d. h. es dirimiert seine Allgemeinheit [d. h. Gestaltidee, Anm. S. R.] in seine Unterschiede, dies ist der Verlauf des Prozesses in ihm selbst«. (9, 368) In der Stimme wiederum verleiht das Tier dieser inneren Prozessualität, d. h. dieser inneren Selbstbewegung Ausdruck: »Dass das Tier in sich selbst für sich selbst ist, stellt es dar und diese Darstellung ist die Stimme. Nur das Empfindende kann darstellen, dass es empfindend ist. Der Vogel in der Luft und andere Tiere geben eine Stimme von sich aus Schmerz, Bedürfnis, Hunger, Sattheit, Lust, Freudigkeit, Brunst: Das Pferd wiehert, wenn es zur Schlacht geht, Insekten summen, Katzen, wenn es ihnen wohl geht, schnurren.« (9, 433)

Hegel geht demnach davon aus, dass das Tier über einen inneren Reichtum an Empfinden, über Selbstgefühl verfügt. In dieser Begabung des Selbstgefühls sieht Hegel die »differentia specifica, das absolut Auszeichnende des Tieres« – gerade im Gegensatz zur Pflanze. (9,432) Denn hier, im Empfinden, offenbart sich der höchste Reichtum der Natur. Dabei deutet Hegel die Empfindung als Selbst-Findung im Anderen: Das Tier ist als empfindend »sich in sich selbst findend« (9, 432). Freude und Schmerz haben so aus Hegels Sicht zwar körperliche Pendants; entscheidend ist aber, dass sie im Empfinden in die einfache Einheit des Selbst zurückgenommen sind: »Ich bin beim Sehen, Hören, einfach bei mir selbst, und es ist nur eine Form der reinen Durchsichtigkeit und Klarheit in mir selbst.« (9, 432) Damit spricht Hegel des Weiteren dem Tier im Gegensatz zur Pflanze ein theoretisches Verhältnis zum Anderem zu. Die Pflanze steht dem Anderen entweder gleichgültig gegenüber oder sie verhält sich praktisch zu ihm, indem sie es assimiliert. Das Tier hat hingegen aber auch ein Verhältnis zu dem Anderen, in dem das Andere als »freigelassen« für sich bestehen bleibt, ohne dem Subjekt dadurch gleichgültig zu werden. Hegel geht nun im Rahmen seiner bereits eben erwähnten Dreiteilung (Gestalt, Assimilation, Gattungsprozess), in

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Die Stufung des Organischen bei Hegel

der sich die Idee des Lebens logisch manifestiert, zu einer genaueren, detaillierteren Analyse des Tieres über: In der individuellen Gestalt des Tieres als sich prozessual nur auf sich beziehende Idee manifestiert sich der Begriff in seinen drei Momenten, d. h. der Allgemeinheit als Sensibilität, der Besonderheit als Irritabilität und der Einzelheit als Reproduktivität. Die Darstellung dieser Momente wird aber nun bei Hegel äußerst verworren, da Hegel davon ausgeht, dass jedes einzelne dieser drei Momente die Totalität des Begriffes als solche zur Darstellung bringt. D. h. die Sensibilität verhält sich erstens zu sich selbst; bestimmt sich aber zweitens ebenso als Irritabilität und drittens als Reproduktivität – und für die Irritabilität und Reproduktivität gilt das Gleiche: So kommt man auf 33 Momente, d. h. einen neunfachen Strukturzusammenhang, der die Gestalt des Organismus charakterisieren soll; einen Strukturzusammenhang, den Hegel nun seinerseits den Ergebnissen der Naturwissenschaft »überstülpt«: Hier liegt zweifelsohne eine Argumentation vor, in der Hegel seinen Hang zur Systematisierung entschieden zu weit treibt. 112 Festzuhalten ist vielleicht aus heutiger Sicht und gerade in Bezug auf Plessner, dass Hegel die Sensibilität mit dem Nervensystem, die Irritabilität mit dem »Blutsystem« und die individuelle Reproduktion mit dem Verdauungssystem identifiziert. Diese Identifikation ist zweifelsohne auch aus heutiger Sicht sinnvoll, zumal Hegel (aus Gründen, die allerdings heute schwer nachvollziehbar sind) das Blutsystem mit dem Muskelgewebe identifiziert, einem Gewebe, das im Herzen – dem Zentralmuskel – kulminiert: »Indem die Sensibilität als Nervensystem, die Irritabilität als Blutsystem, die Reproduktion als Verdauungssystem auch für sich existieren, so lässt sich der Körper aller Tiere in drei verschiedene Bestandteile zerlegen, woraus alle Organe zusammengesetzt sind: in Zellgewebe, Muskelfasern und Nervenmark – die einfachen abstrakten Elemente der drei Systeme.« (9, 440)

Modern formuliert stellt Hegel also einen Zusammenhang zwischen den drei zentralen Momenten des Begriffes auf der einen und dem sensomotorischen Apparat und dem Verdauungstrakt des Tieres auf der anderen Seite her. Auf einen ähnlichen Zusammenhang, der die Ergebnisse der neuzeitlichen Naturwissenschaft überzeugender mit-

112 So deutet Hegel etwa das Knochensystem als abstrakte Beziehung der Sensibilität auf sich usw. (9, 439 ff.).

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Der tierische Organismus

einbezieht, werden wir im Kommenden bei Plessner stoßen. Damit kommen wir zur Assimilation. Unter Assimilation versteht Hegel die Idee, die sich zu ihrem Anderen, ihrer unorganischen Natur verhält und sie ideell in sich setzt. Unter Assimilation versteht Hegel im Grunde genommen nichts anderes als den Ernährungsprozess. Dieser aber muss unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass er eine Befriedigung herbeiführt, die »vernünftig« ist: Immerhin führt die Ernährung des Tieres zu einer Selbstidentifikation des Organismus, in der dieser sichmit-sich zusammenschließt, d. h. zu einem Schluss, in dem das Tier sich als Selbstzweck (Idee) realisiert. Den Ernährungsprozess selbst charakterisiert Hegel wie folgt: »Das Organische ist mit der unorganischen Natur gespannt, negiert sie und setzt sie identisch mit sich. In diesem unmittelbaren Verhältnis des Organischen zum Unorganischen ist das Organische gleichsam das unmittelbare Schmelzen des Unorganischen zur organischen Flüssigkeit. Der Grund dieser Beziehung aller beider aufeinander ist eben diese absolute Einheit der Substanz, wodurch das Unorganische für das Organische schlechthin durchsichtig, ideell und ungegenständlich ist. Der Ernährungsprozess ist nur diese Verwandlung der unorganischen Natur in eine Leiblichkeit, die dem Subjekt angehört; nur dass er dann auch als ein durch viele Momente hindurch gehender Prozess erscheint, der nicht mehr unmittelbare Verwandlung ist, sondern Mittel zu gebrauchen scheint.« (9, 483)

Hegel verbleibt aber nicht im Medium des Abstrakten, sondern wird ganz ungewöhnlich konkret und plastisch: »Das begehrende Organische, das sich in Einheit seiner und des Gegenständlichen weiß und so das Dasein des Anderen durchschaut, ist die nach außen gekehrte, bewaffnete Gestalt, deren Knochen zu Zähnen und deren Haut zu Klauen sich gemacht haben. Der Prozess mit den Klauen und den Zähnen ist mechanisch; der Speichel macht aber schon diesen Prozess zu einem organischen.« (9, 479)

In der Tat vertritt Hegel nun die These, dass die »Verwandlung« des Unorganischen und Organischen ein Vorgang ist, »woran alle Chemie und Mechanik scheitert und ihre Grenze findet« (9, 484). Es gibt aus Hegels Sicht damit nicht so etwas wie eine Biochemie. Worauf er vielmehr hinaus will, ist, dass das Organische die Macht besitzt, das Unorganische unmittelbar zu idealisieren, d. h. zu einem Teil des eignen Selbst zu machen: Es ist in diesem Zusammenhang durchaus bezeichnend, dass es aus Hegels Sicht keine heterotrophe Assimilation

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Die Stufung des Organischen bei Hegel

gibt. Denn in dem Moment, wo das Organische selbst als Nahrung dient, wird es aus seiner Sicht auf die Stufe des Unorganischen herabgesetzt: »Die Tiere und Pflanzen, die das Tier verzehrt, sind zwar schon Organisierte, aber für dieses Tier sind sie relativ sein Unorganisches.« (9, 484) Unter dieser Perspektive ist denn auch die Vermittlung des Verdauungsvorganges unwesentlich – es gibt Hegel zufolge sogar auch unmittelbare Verdauung: »Es ist eine bekannte Erfahrung beim Drosseln – und Krammetsvögelfang, dass, wenn sie ganz mager sind, sie nach einem nebligen Morgen in der Zeit von einigen Stunden ganz fett werden; das ist eine unmittelbare Verwandlung dieser Feuchtigkeit in animalischen Stoff, die ohne weitere Abscheidung und Durchgang durch die vereinzelten Momente des Assimilationsprozesses geschieht.« (9, 486)

Selbst der Mensch, meint Hegel, könne unmittelbar verdauen, wie die Geschichte von jenen englischen Seeleuten belege, die in einer verzweifelten Lage ihren Durst dadurch stillten, dass sie im Meer gebadet haben und die Haut das Wasser ohne Salz unmittelbar aufgenommen habe. Noch deutlicher als bei der Verdauung zeigt sich aus Hegels Sicht schließlich im Leben der Insekten die Fähigkeit des Organischen zur »totalen Verwandlung« des Unorganischen: »Wo die Metamorphose nur partiell ist, unterscheidet sich die Larve von der Puppe und diese von dem vollkommenen Insekt größtenteils nur in der geringeren Anzahl oder in der geringeren Ausbildung ihrer Organe. Hingegen bei der totalen Verwandlung ist in dem vollkommenen Insekt keine Spur mehr von dem übrig, was das Tier in seinem Larvenzustand war.« (9, 497)

Hegel beendet nun seine Analyse des Assimilationsprozesses mit Überlegungen, die analog zu denen der Logik sind: Indem das Individuum die äußere Welt sich assimiliert, ist der Begriff mit sich zusammengegangen – das Individuum ist damit bestimmt als »konkretes Allgemeines, Gattung, die in einen Prozess mit der Einzelheit, der Subjektivität tritt«. (9, 497) Hegel stellt dabei noch einmal explizit die geistige Grundlage des Ernährungsprozesses heraus: Die gesättigte Begierde hat hier nicht die Bedeutung des sich als dieses Einzelne hervorbringenden Individuums, sondern als Allgemeinheit der Gattung, als Grund der Individualität, an dem sie nur Form ist. Die befriedigte Begierde ist daher das »zu sich zurückgekehrte Allgemeine, das unmittelbar die Individualität an ihm hat« (9, 497 ff.). Dieses in-

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Der tierische Organismus

sich-zurückgekehrte allgemeine Individuum existiert nun – wie wir sahen – als Gattung. Damit geht Hegel zur Analyse des Gattungsprozesses über, der sich in der Naturphilosophie – anderes als in der Logik – als ein dreifach aufgefächerter, d. h. in drei Weisen, zeigt. All diese drei Weisen sind Formen, in denen sich die Unangemessenheit das einzelnen Individuums und der Gattung, die es verkörpert, manifestiert. Das Geschlechtsverhältnis bzw. der Fortpflanzungszyklus erscheint hier nur als eine, wenn auch zentrale Weise, in der sich diese Unangemessenheit manifestiert. Zunächst konstatiert Hegel, dass das Reich der Tiere in eine Vielzahl von Arten und Unterarten auseinanderfällt. Hegel sieht in dieser Mannigfaltigkeit nicht etwa wie Bergson, Whitehead oder Popper einen schöpferischen Reichtum der Natur, sondern eine gewisse Form des Ungenügens derselben: »Es ist die Ohnmacht der Natur, die Strenge des Begriffes nicht festhalten und darstellen zu können, und in diese Mannigfaltigkeit sich zu verlaufen.« (LII, 282) Der Grund dafür liegt darin, dass aus seiner Sicht allein der Geist es vermag, den Gegensatz bzw. Widerspruch des Einzelnen und des Allgemeinen völlig zur Auflösung zu bringen; die Natur als das »Außersichsein des Begriffes« (LII, 282) zerbricht gleichsam unter der Last der Gattung – und das Resultat dieses Zerbrechens sind die zahllosen Arten und Unterarten. Die Gattungen und Arten in ihrer Besonderheit resultieren daraus, dass in der Natur also solcher eine Selbstunterscheidung des Allgemeinen zum Tragen kommt, welche das Tier als zugleich für sich seiende, d. h. in sich reflektierte Einzelheit noch nicht aufzuheben vermag. Und da nun der Unterschied – als Reflexionsbestimmung – aus Hegels Sicht nichts anderes ist als die Form, tritt das Tier nun einerseits in zahlreichen Formen auf, die allerdings alle Ausformungen ein- und desselben Typus, d. h. des Tieres sind. Man wird allerdings Hegel darin Recht geben müssen, dass der Humanität nicht so etwas wie die eine »Animalität« gegenübersteht. Denn das natürliche Individuum vermag in seiner Einzelheit und daher in seiner Spezies nicht, das Wesen des Tieres in seiner Universalität ganz zu verkörpern – nur darum tritt es überhaupt als besondere Spezies auf. Während die Würde des Menschen eben darum unantastbar ist, weil jeder Mensch (gleich welcher Rasse, Herkunft, Geschlechts etc.) als Teil der Menschheit zugleich die Menschheit als Ganze verkörpert (und damit den Gegensatz Teil/Ganzes zur Auflösung bringt), hat das Reich der Tiere daher aus Hegels Sicht echte Teile und lässt sich in Gattungen und Unterarten unterteilen. Das 205 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufung des Organischen bei Hegel

Tier in seiner spezifischen Art und Gattung verkörpert damit nur ein relativ Allgemeines, während dem Menschen als geistigem Wesen in seiner Individualität eine absolute Universalität zuzusprechen ist: »Im Tiere existiert die Gattung aber nicht, sondern ist nur an sich; erst im Geiste ist sie an und für sich in seiner Ewigkeit.« (9, 520) Des Weiteren charakterisiert nun Hegel das Reich der Tiere als antagonistische Totalität von Wesenheiten, die sich gegenüberstehen: »Zur Einzelheit fortgebildet ist die Art des Tieres an sich und durch sich selbst von den anderen unterscheidend und durch die Negation derselben für sich.« (9, 500) Die Tiere unterschiedlicher Arten treten sich daher aus Hegels Sicht notwendig feindlich gegenüber, und sind – mit Waffen und Angriffswerkzeugen versehen – darauf aus, das andere zur »unorganischen Natur« (9, 500) herabzusetzen. So ist, »der gewaltsame Tod« (9, 500) das natürliche Schicksal der Individuen. In der Bestimmung des Tieres als relativ in-sich-reflektiertes Allgemeines liegt aber nun nicht nur die Bestimmung, sich von Andern zu unterscheiden und es auszuschließen, sondern auch »ebenso wesentlich die affirmative Beziehung der Einzelheit auf sich in ihr« (d. h. in der Allgemeinheit der Gattung, vgl. 9, 516). Hier rückt nun wieder das Geschlechtsverhältnis in den Vordergrund. Indem das Individuum als Gattungswesen ausschließend ist, ist es zugleich »sich in diesem anderen kontinuierend und in diesem anderen empfindend.« (9, 516) Weil es in seiner Einzelheit sich als mangelhaft und unzureichend empfindet, strebt es in der Begattung danach, diesen Mangel zu beheben und das Allgemeine herzustellen. Im Folgenden versucht Hegel dann seine These, dass das Weibliche das Indifferente, das Männliche das Differente ist, an Hand einer konkreten Analyse der Geschlechtsorgane zu belegen. Dann erneuert er den hier zentralen Gedanken eines Zusammenhangs von Reproduktivität in der Fortpflanzung, dem Tod des Individuums und dem Hervorgehen des Geistes, wir er bereits in der Logik vorliegt. Neben dem gewaltsamen Tod und dem Tod durch Reproduktivität kennt Hegel schließlich noch den Tod durch Krankheit und Alter. Beide sind aus seiner Sicht keine zufälligen Prozesse, sondern wurzeln mit Notwendigkeit in der Mangelhaftigkeit des Einzelnen: »Seine Unangemessenheit zur Allgemeinheit ist seine ursprüngliche Krankheit und der angeborene Keim des Todes. Das Aufheben dieser Unangemessenheit ist selbst das Vollstrecken dieses Schicksals« (9, 535). Sowie Hegel den Schmerz als Vorrecht des Lebendigen deutet, so ist für ihn hier entscheidend, dass der einzelne Organismus 206 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Der tierische Organismus

überhaupt des Todes fähig ist. Die Fähigkeit des Todes resultiert aus seiner Sicht daraus, dass der Organismus beständig in einen Kampf mit der unorganischen Natur, die er zugleich an sich ist, verwickelt ist; er also ständig das Negative seiner selbst zu übergreifen hat: Der Stein kann nicht krank werden, da er in unbescheidener Einheit mit seiner organischen Grundlage existiert, während das Leben sich als Spannungszustand zwischen den Extremen stets zu erneuern hat. Krankheit deutet Hegel von hieraus als »Disproportion des Selbst« (9, 521), womit er ausdrücklich an die Humoralpathologie anknüpft. 113 Zur Disproportion kommt es, wenn eines der besonderen Systeme oder Organe des Organismus sich in einen Konflikt mit einer unorganischen Potenz »verwickelt« und darin sich vom Ganzen des Organismus absondert, der auf diese Weise seine Einheit und Ausgeglichenheit verliert. Die unorganischen Potenzen sind als elementarische Mächte »sozusagen fortfahrend auf dem Sprunge, ihren Prozess im organischen Leben zu beginnen und das Leben ist der beständige Kampf dagegen« (8, 376). In diesem Kampf unterliegt das Leben des einzelnen Individuums aus Hegels Sicht mit Notwendigkeit. Denn das einzelne Individuum strebt nach Hegel dazu, seine Unangemessenheit zur Idee (d. h. seine ursprüngliche Krankheit) dadurch aufzuheben, dass es das Allgemeine unmittelbar in sich hineinbildet, weshalb es aber nur eine abstrakte Objektivität erreicht, »worin seine Tätigkeit sich abgestumpft hat, verknöchert und das Leben zur prozesslosen Gewohnheit geworden ist, so dass es sich so aus sich selbst tötet« (9, 535). Dies ist der Alterungsprozess, in dem sich die Spannung zwischen dem Organischen auf der einen Seite und dem Anorganischen auf der anderen Seite – und damit das Leben selbst – auflöst. Hegel interpretiert nun als diese drei Weisen des Todes in der Natur als »Tod der Natur« und aus diesem Tod der Natur geht aus seiner Sicht eine »schönere Natur«, nämlich der Geist hervor. (9, 536) Denn in allen drei Weisen des Todes wird aus Hegels Sicht das Einzelne in seiner Unmittelbarkeit aufgehoben; durch das aufgezeigte Aufheben der Unmittelbarkeit geht die Subjektivität, die sich in der Idee des Lebens manifestiert, mit sich selbst zusammen, womit der an sich seiende Begriff für sich geworden ist. Dies ist der Übergang des

Zur Krankheit bei Hegel vgl.: Von Düffel, Gudrun, Die Krankheit des Individuums, in: Hegel-Jahrbuch, 2006, S. 234–239.

113

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Die Stufung des Organischen bei Hegel

Natürlichen in den Geist. Der Geist ist, so Hegel, der Zweck der Natur; er ist vor ihr und nach ihr: »Es ist die Macht des freien Geistes, dass er diese Negativität aufhebt; er ist ebenso vor als nach der Natur, nicht bloß die metaphysische Idee derselben. Als Zweck der Natur ist eben darum vor ihr, sie ist aus ihm hervorgegangen, jedoch nicht empirisch, sondern so, dass er in ihr, die er sich voraussetzt, immer schon enthalten ist.« (9,539)

»Das Ziel der Natur ist«, so schließt Hegel, »sich selbst zu töten und ihre Rinde des Unmittelbaren, Sinnlichen zu durchbrechen, sich als Phönix zu verbrennen, um aus dieser Äußerlichkeit verjüngt als Geist hervorzutreten.« (9, 538) Damit kommen wir zur Philosophie des Geistes, d. h. zum Menschen.

2.4. Anthropologie – der Schlaf des Geistes Hegel beginnt seine Philosophie des Geistes – von der, wie bemerkt, die Anthropologie nur einen Teil darstellt – damit, dass er einerseits schon zu Beginn die entscheidenden Unterschiede des pflanzlichen und tierischen Lebens und des humanen Lebens hervorhebt. Andererseits ist er bestrebt, das geistige Dasein des Menschen als Produkt eines Entwicklungsprozesses auszuweisen, den jeder einzelne Mensch im Laufe seines Daseins je für sich zu absolvieren hat, und der beim naturhaften Sein des Menschen anhebt. Hegels Darstellung des Zu-sich-Kommen des Geistes im Menschen als Naturwesen wird so zu einer Gratwanderung, da er einerseits auf jeder Stufte der Entwicklung einen Unterschied von Tier und Mensch geltend machen will, und dennoch nicht unmittelbares, geistiges Sein des Menschen behaupten will. Der Mensch ist dadurch »wesentlich von der Natur unterschieden«, dass er der »denkende Geist« ist (10, 25). Dies markiert aus Hegels Sicht auch den Unterschied zum Tier. Das Tier ist die vollendete Form der Verinnerlichung der Natur, doch es kommt nicht zum Bewusstsein; sein Dasein stellt nur »die geistlose Dialektik des Übergehens von einer einzelnen, seine ganze Seele ausfüllenden Empfindung zu einer anderen, ebenso ausschließlich in ihm herrschenden einzelnen Empfindung dar« (19,25). Daher ist aus Hegels Sicht die Tierseele nicht frei; denn »sie erscheint immer als eins mit der Bestimmtheit oder Erregung als an eine Bestimmtheit gebunden« 208 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Anthropologie – der Schlaf des Geistes

(10, 20). Nur der Mensch kommt aus Hegels Sicht dazu, sich über die Einzelheit der Empfindung zur Allgemeinheit des Gedankens zu erheben, so dass er damit zum Wissen von sich selbst und dem Erfassen seiner Subjektivität und seines Ich gelangen kann. Was Tier und Mensch miteinander verbindet, ist, dass sie beide empfindende Wesen sind und so in Hegels Terminologie zunächst seelisch bestimmt sind. Aber die menschliche und die tierische Seele unterscheiden sich aus Hegels Sicht dadurch, dass die menschliche Seele bereits an sich Geist ist, so dass ihre Bestimmung darin besteht, dass das, was sie an sich ist, für sie wird. Während das Tier so in seiner unentwickelten Einheit mit seiner unmittelbaren, leiblichen Natur verbleibt, hat aus Hegels Sicht die menschliche Seele sich von ihrer naturhaften Grundlage, d. h. von ihren Leib zu befreien, um diesen erst eigens in Besitz zu nehmen: »Was wir bis zur Erreichung dieses Ziels zu betrachten haben, das ist der Befreiungskampf, welchen die Seele gegen die Unmittelbarkeit ihres substanziellen Inhalts durchzufechten hat, um ihrer selbst vollkommen mächtig zu werden, – um sich zu dem zu machen, was sie an sich oder ihrem Begriffe nach ist, nämlich zu der im Ich existierenden sich auf sich beziehenden einfachen Subjektivität«. (10, 121)

Hegel betrachtet daher in seiner Anthropologie zunächst Phänomene, in denen sich die Seele in unmittelbarer Einheit mit ihrer Natürlichkeit entfaltet; in diesem Sinne spricht er von der »natürlichen Seele«. Hierzu gehören aus Hegels Sicht die Unterschiede des Temperaments und des Charakters zwischen den einzelnen Rassen, die Hegel als »besondere Naturgeister« auffasst (10, 57), schließlich insbesondere die Lebensalter des Menschen (Kindheit, Jugend, Adoleszenz, Alter), 114 dann die Geschlechtsunterschiede und schließlich das Schlafen und Wachen. Letztgenannte Phänomene bilden dann Übergang zu Phänomenen, die Hegels als »Empfindung« charakterisiert, insofern der Wachzustand – im Gegensatz zum Schlaf – eine gesteigerte Form des Fürsichseins darstellt. Während der Schlaf das Eingehen der Seele in ihre unterschiedslose Einheit darstellt, ist das Erwachen eine erste Form des Urteils; ein »Unterscheiden der Individualität als für sich seiender gegen sich als nur seiender« (10, 87). Als fürsichseiende wirkliche Einzelheit schreitet dann die Seele zu dem Empfinden fort. Hegel deutet dabei die Empfindung passivisch: Die wache Seele findet 114 Zu Hegels Interpretation der Lebensalter vgl.: Rohmer, Stascha, Liebe – Zukunft einer Emotion, a. a. O., S. 210 ff.

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Die Stufung des Organischen bei Hegel

zunächst die Inhaltsbestimmungen ihrer schlafenden Natur in sich vor. Die Empfindung ist in diesem Sinne »die Form des dumpfen Webens des Geistes in seiner bewusst- und verstandeslosen Individualität, in der alle Bestimmtheit noch unmittelbar ist« (10, 97). Im Gegensatz zu diesem passivischen, unmittelbaren Charakter, das Hegel dem Empfinden zuspricht, kommt nun die fühlende Seele zu einen Selbstgefühl. Ein entscheidender Unterschied zwischen dem Selbstgefühl des Tieres, das in seinen partikulären Trieben und Strebungen völlig aufgeht, ist, dass Hegel das Selbstgefühl des Menschen als Resultat einer Selbstintegration interpretiert, die als solche auch scheitern kann. Hegel zeigt dies am Beispiel der Verrücktheit auf, die er nicht als völligen Verlust der Vernunft, sondern als Widerspruch innerhalb der Vernunft verstanden haben will. Schon die Seele des Menschen ist, wie der Geist (sie ist ja an sich Geist) in sich konkretes Allgemeines. Die Seele ist also ihrem inneren Wesen nach »reines Ich« (Selbst), d. h. Allgemeinheit, zugleich aber individuelles, besonderes, naturbestimmtes Dasein. In der Verrücktheit – die Hegels als eine extreme Möglichkeit denkt, die den Menschen als solchen auszeichnet – treten nun Allgemeinheit und Besonderheit, geistiges Prinzip und Leiblichkeit in Widerspruch zueinander: Um dies zu verdeutlichen, muss Hegel bereits an dieser Stelle die Wirklichkeit des Ich antizipieren. Der Verrückte bleibt an eine bestimmte, besondere Vorstellung gefesselt und gebannt, auch wenn diese nicht mit seinem objektiven Bewusstsein, seinem Weltbild als Ganzem vereinbar ist; der Wahnsinnige leidet aus Hegels Sicht an einem leiblich seiend gewordenen Gefühl, dass sich gegen die Totalität der Vermittlungen, welche das Bewusstsein auszeichnet, gleichsam auflehnt. Der Geist überhaupt »als nur seiend bestimmt, insofern ein solches Sein aufgelöst in seinem Bewusstsein ist, ist krank« (10, 162). In der Tat vertritt Hegel nun in Bezug auf die Verrücktheit den Standpunkt, dass, wenn der Mensch bestimmte Eindrücke und Erlebnisse nicht verarbeitet, diese zu einer Konfusion der Verhältnisse von leiblichseelisch bestimmter Innenwelt und objektiv geistig bestimmter Außenwelt führt. »Wenn ich mich zum vernünftigen Denken erhoben habe«, so Hegel, »bin ich nicht nur für mich, mir gegenständlich, also eine subjektive Identität des Subjektiven und Objektiven, sondern habe zweitens diese Identität von mir abgeschieden, als eine wirklich objektive mir gegenübergestellt. Um zu dieser vollkommenen Trennung zu gelangen, muss die fühlende Seele ihre Unmittelbarkeit, ihre Natürlichkeit, ihre Leiblichkeit überwin-

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Anthropologie – der Schlaf des Geistes

den, ideell setzen, sich zu eigen machen, dadurch in eine objektive Einheit des Subjektiven und des Objektiven umbilden und damit sowohl ihr Anderes aus dessen unmittelbarer Identität mit ihr entlassen, als zugleich sich selber von diesem Anderen befreien.« (10, 164)

Eben zu einer solchen Befreiung bzw. »Umbildung« ist aber der Verrückte in Bezug auf eine bestimmte Vorstellung (oder Gefühlsregung) nicht in der Lage. Das führt dann aus Hegels Sicht zu einer Persönlichkeitsspaltung, in der sich die bewussten, geistigen Anteile der Person und die an das partikuläre, leibliche Sein des Menschen gefesselten Anteile gegenüberstehen: »Im Zustande der eigentlichen Verrücktheit sind nämlich beide Weisen des endlichen Geistes – einerseits das in sich entwickelte, vernünftige Bewusstsein mit seiner objektiven Welt, andererseits das an sich festhaltende, in sich selbst seine Objektivität habende innere Empfinden – jede für sich zur Totalität, zu einer Persönlichkeit ausgebildet«. (10, 165)

Der Zerrissenheit des Selbst in der Verrücktheit stellt Hegel nun das »Beisichselbersein« gegenüber, das er »Gewohnheit« nennt. Den Zusammenhang stellt Hegel selbst so her: Während in der Verrücktheit der Mensch von einer bestimmten – z. B. schockierenden – und in diesem Sinne ungewohnten Vorstellung gleichsam verhext und aus dem inneren Mittelpunkt seiner seelischen Wirksamkeit herausgehoben wird, stellt sich in der Gewohnheit das Umgekehrte ein: Während sich im Ungewohnten die Seele an einen spezifischen Inhalt verliert, verhält sich der Mensch in der Gewohnheit »nicht zu einer zufälligen einzelnen Empfindung, Vorstellung, Begierde usf., sondern zu sich selbst, zu einer seine Individualität ausmachenden, durch ihn selber gesetzten und ihm eigen gewordenen allgemeinen Weise des Tuns und erscheint deshalb als frei« (10, 188). Das Allgemeine, auf welches sich die Seele in der Gewohnheit bezieht, ist zwar noch kein gedachtes Allgemeines, sondern nur ein durch die Wiederholung vieler Einzelheiten durch Reflexion hervorgebrachtes abstraktes Allgemeines; gleichwohl ist die Gewohnheit die erste Form, in der aus Hegels Sicht das Allgemeine für das Allgemeine ist. Als sich auf sich beziehende Idealität hat nun auf diese Weise die Seele die Leiblichkeit, die vorher unmittelbar mit ihr identisch war, von sich abgeschieden und ist zugleich so an dem zur Unmittelbarkeit entlassenen Leiblichen die »Kraft ihrer Idealität« aus. Dies ist aus Hegels Sicht als Unterwerfung des Leiblichen unter die Herrschaft der Seele zu betrachten; eine Unterwerfung, die ebenfalls dem Men211 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufung des Organischen bei Hegel

schen vom Tier unterscheidet und bei der es sich im Falle des Menschen zugleich um eine Überlebensnotwendigkeit handelt. »Während beim Tiere«, so Hegel, »der Leib, ihrem Instinkte gehorchend, alles durch die Idee des Tieres Nötigwerdende unmittelbar vollbringt, hat dagegen der Mensch sich durch seine eigene Tätigkeit zum Herrn seines Leibes erst zu machen.« Hierzu bedarf es der »wiederholten Übung«. Das Resultat einer solchen Übung ist aus Hegels Sicht, dass sich die Seele ihren Körper mehr und mehr zu eigen macht, der Körper mehr und mehr zum Instrument der Seele wird. Der Leib wird auf diese Weise zum »Zeichen«, zum »Kunstwerk der Seele« (10, 192), die an ihm ihre freie Gestalt hat und ihm pathonomischen und physiognomischen Ausdruck verleiht. Entscheidend ist hierbei, dass der Leib aus Hegels Sicht nicht als principium individuationis begriffen wird, sondern als Entäußerung der Seele. Auf diese Weise besitzt der menschliche Leib aus Hegels Sicht ein so »eigentümliches geistiges Gepräge«. (10,193) Hier tritt erneut der Unterschied zum Tier in aller Schärfe zu Tage. »Nach seiner rein leiblichen Seite ist der Mensch nicht sehr vom Affen unterschieden; aber durch das geistdurchdrungene Ansehen seines Leibes unterscheidet er sich von jenem Tiere dermaßen, dass zwischen dessen Erscheinung und der eines Vogels eine geringere Verschiedenheit herrscht als zwischen dem Leib des Menschen und dem des Affen.« (10, 193)

Insofern die menschliche Seele in ihrem Körper sich selbst eine sichtbare Wirklichkeit und Wirksamkeit verleiht, sich »in ihrer Leiblichkeit verwirklicht« hat, spricht Hegel auf dieser Stufe auch von der »wirklichen Seele«. Die wirkliche Seele, die ihren Leib sich unterworfen hat, ist der höchste Punkt ihrer Entwicklung und zugleich aus Hegels Sicht der Moment der Aufhebung der Naturseele im Geist. »Die Seele ist in ihrer durchgebildeten und sich zu eigen gemachten Leiblichkeit als einzelnes Subjekt für sich, und die Leiblichkeit ist so die Äußerlichkeit als Prädikat, in welchem das Subjekt sich nur auf sich bezieht.« (10, 192) In dieser Äußerlichkeit, d. h. Leibgebundenheit der Seele, liegt aus Hegels Sicht der Mangel der Naturseele im Sinne eines Mangels an reiner Geistigkeit. Um der Selbstoffenbarung des Geistes willen hat daher in der Naturseele nun erneut ein Erwachen stattzufinden; »Erwachen höherer Art als das auf das bloße Empfinden des Einzelnen beschränkte natürliche Erwachen«; nämlich das Sich-Erfassen des Ichs und damit die Bewusstwerdung des Menschen. »Das Ich ist der durch die Naturseele schlagende und ihre 212 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Selbstbewusstsein

Natürlichkeit verzehrende Blitz; im Ich wird daher die Idealität der Natürlichkeit, also das Wesen der Seele, für die Seele«. (10, 198) Eben dies bezeichnet die Bewusstwerdung der Seele.

2.5. Selbstbewusstsein In Zentrum von Hegels Philosophie des Geistes steht seine Deutung des Selbstbewusstseins. Der Geist erscheint zunächst als Bewusstsein, dem eine scheinbar ihm fremde Welt als Material der Erkenntnis gegenübersteht; in dem Maße jedoch, in dem der Geist erkennt, dass diese Welt selbst durch den Geist gesetzt wurde, erkennt er sich selbst in der ihn umgebenden Welt. Diesen Prozess der Selbsterkenntnis des Geistes beschreibt die Phänomenologie, die beim sinnlichen Bewusstsein ihren Ausgang nimmt, um über die Wahrnehmung und die Kraft des Verstandes im Selbstbewusstsein zu kulminieren: »Die Wahrheit des Bewusstseins ist das Selbstbewusstsein und dieses der Grund von jenem, so dass in der Existenz alles Bewusstsein eines anderen Gegenstandes Selbstbewusstsein ist; ich weiß von dem Gegenstand als dem meinigen (er ist meine Vorstellung), ich weiß daher darin von mir.« (10, 213)

Es kann keinen Zweifel daran geben, dass das Selbstbewusstsein für Hegel schlechterdings der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Existenz ist; weshalb auch hier der entscheidende Unterschied zum Tier und zur natürlichen Existenz des Menschen zu suchen ist. Das Tier verfügt – wie wir sahen – zwar über ein theoretisches Weltverhältnis, wird aber darin nicht sich selbst gegenständlich. Die Grenze des Tieres liegt aus hegelscher Sicht darin, dass das Tier in seinem Anderen nicht sich selbst als solchem gegenübertreten und darin sich objektiv werden kann. Eben dies geschieht im Falle des Selbstbewusstseins, das Hegel als durch und durch soziales Phänomen charakterisiert. Das Tier ist seinen Anderen – in paradigmatischer Weise im Jäger-Beute-Verhältnis – auf einfache Weise entgegengesetzt: Es ist »durch die Vernichtung des ihm gegenüberstehenden Anderen die ursprüngliche, einfache Beziehung auf sich.« (10, 20) Der Mensch hingegen potenziert diese Entgegensetzung, so dass er einerseits seinem Anderen als Anderen entgegengesetzt ist und an diesem Anderen seinen Widerstand erfährt; andererseits aber auch dieser Entgegensetzung entgegengesetzt ist und sich auf diese Weise in seinem Anderen wiederfindet. 213 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufung des Organischen bei Hegel

Das Selbstbewusstsein charakterisiert Hegel zunächst als Begierde: Indem der Mensch erfahren hat, dass der Geist als sein eigenes Selbstbewusstsein hinter der Erscheinung der Dinge steht, verwirklicht er diese Erfahrung und versucht sich als Herr der Welt zu erweisen. Der Zustand der Begierde ist dabei gewissermaßen das Pendant zum animalischen Sein – nur auf der Ebene des Bewusstseins. Im Zustand der Begierde ist der Mensch der Trieb, die Selbständigkeit der ihm gegenüberstehenden Gegenstände aufzuheben und an deren Stelle die Identität mit sich zu setzen. Der Mensch ist Bewusstsein (des Gegenstandes) und Selbstbewusstsein, und sein Trieb geht daraufhin beides als identisch zu setzen. Der Mensch »verzehrt« daher die Gegenstände um ihn herum; sein Tun ist zunächst ebenso selbstsüchtig, wie zerstörerisch. Das Problem der Begierde ist dabei, dass ihre Befriedigung nur am unmittelbar Einzelnen erfolgen kann. Der Mensch wird sich daher in der Begierde und ihrer Befriedigung nicht als Mensch in seiner Universalität objektiv, sondern taumelt nur von einer flüchtigen Befriedigung zur nächsten, So bleibt er in der aus ihrer Objektivierung immer wieder in sich zurückfallenden Subjektivität befangen: »Wie der Gegenstand der Begierde und diese selber, so ist aber notwendigerweise auch die Befriedigung der Begierde etwas Einzelnes, Vorübergehendes, der immer von neuen erwachenden Begierde weichendes, eine mit der Allgemeinheit des Subjektes beständig in Widerspruch bleibende und gleichwohl durch den gefühlten Mangel der unmittelbaren Subjektivität immer wieder angeregte Objektivierung, die niemals ihr Ziel absolut erreicht, sondern nur den Prozess ins Unendliche herbeiführt.« (10, 218)

Die Schwierigkeit der Begierde resultiert also daraus, dass der Mensch als Naturwesen als unmittelbar verleiblichte Einzelheit existiert; als geistiges Wesen verfügt er aber aus Hegels Sicht über ein allgemeines, ewiges Selbstbewusstsein, das der Grund seiner Freiheit ist, und er will sich als diese geistige Wesen nicht nur für sich, sondern an sich gewiss sein. Das geht aber aus Hegels Sicht nur durch die Vereinigung des einen Menschen mit dem anderen Menschen: »Das Selbstbewusstsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewusstsein.« (3, 144) Hegel entwickelt hier seine berühmten Thesen zur Rolle der gegenseitigen Anerkennung für das Zusammenleben des Menschen, für die Entstehung des Staates und in eins für die Konstitution des Selbstbewusstseins: »Das Selbstbewusstsein«, so Hegel, »ist an und für sich, indem und dadurch, dass es für ein Ande214 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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res an und für sich ist, d. h. es ist nur als ein Anerkanntes.« (3, 145) Den Prozess der gegenseitigen Anerkennung des Menschen konzipiert Hegel dabei als historischen Vorgang, der in der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft seinen Ausgang nimmt: Weit davon entfernt, von harmonischem Zusammenleben seinen Ausgang zu nehmen, nimmt das Selbstbewusstsein in einem »Kampf auf Leben und Tod« seinen Ursprung und muss erst Phasen des einseitigen, ungleichen und in dem Sinne unvollkommenen Anerkennens durchleben, um zu sich zu kommen. Eben hierin besteht die problematische Einheit von »Tod und Vereinigung«, die Hegel als Wurzel des Selbstbewusstseins annimmt. Um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Plessners Position und insbesondere zu Plessners Annahme einer »exzentrischen Positionalität« als Charakteristikum der condito humana herausarbeiten zu können, wird man sein Augenmerk hier insbesondere auf zweierlei richten müssen: Erstens auf die Annahme, dass der Mensch Natur vollkommen überwinden muss, um als selbstbewusstes Wesen, als allgemeines Selbstbewusstsein zu sich zu kommen, und zweitens die hegelsche Annahme, dass der Mensch in der gegenseitigen Anerkennung dazu gelangen kann, »sich selbst im Anderen« zu gewahren: Die Menschen müssen sich, so Hegel, »ineinander wieder finden wollen« (3, 220). Es ist die Realisation der Freiheit, die es nach Hegel zunächst erforderlich macht, dass das selbstbewusste Subjekt »weder seine eigene Natürlichkeit bestehen lasse, noch die Natürlichkeit anderer dulde, sondern vielmehr, gleichgültig gegen das Dasein, in einzelnen unmittelbaren Händen das eigene und das fremde Leben für die Erringung der Freiheit auf das Spiel setze«. (3, 220)

Mit anderen Worten: Es ist der Tod der Natürlichkeit des Menschen dafür erforderlich, dass die Menschen im allgemeinen Selbstbewusstsein zusammenfinden können. Verantwortlich für diese eigenartige Annahme Hegels ist seine Auffassung, dass die Menschen als Naturwesen verleiblicht und als verleiblichte Wesen sich isoliert und partikularisiert gegenüberstehen; dass die Natur in diesem Sinne eine trennende Rolle im sozialen Umfeld des Menschen spielt, die es zu überwinden gilt. Während das Ich in seiner Allgemeinheit aus Hegels Sicht das »allen Menschen gemeinsame Wesen«, das »absolut durchgängige, durch keine Grenze Unterbrochene« ist, so dass zwei aufeinander beziehende Selbst eine Identität, »sozusagen ein Licht« ausmachen, stehen aus seiner Sicht die Menschen sich als Naturwesen in 215 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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»vollkommener Starrheit und Sprödigkeit gegeneinander« (10, 219). Hier übersieht Hegel, dass die physische Vereinigung mit dem anderen Menschen in erotischer Hinsicht vielleicht diejenige Erfahrung ist, die – wenn sie nicht abgekoppelt ist von Liebe – in ihrer Intimität und Einzigartigkeit wohl am eindringlichsten die Erfahrung der Einheit mit einen anderen Menschen zu vermitteln vermag; und zwar in einer Weise, die alles andere als rein geistig ist, insofern sie sich zugleich auf sinnlicher, d. h. natürlicher Ebene abspielt. Zugleich verwickelt sich Hegel hier in einen Widerspruch mit einer eigenen These, dass das »Geschlechtsverhältnis der höchste Punkt der Natur ist«, da es hier zu einem »Empfinden der Einheit« komme, in der die Äußerlichkeit des Verhältnisses überwunden werde (vgl. 10, 20): also genau zu dem Gegenteil jener naturgegebenen »Sprödigkeit gegeneinander«, die Hegel in Bezug auf die Genese des Selbstbewusstseins geltend macht. Aber Hegel vertritt den Standpunkt, dass die Natürlichkeit des Menschen völlig überwunden werden muss, damit er sich seiner im Anderen bewusstwerden kann. Hieraus resultiert ein Kampf zwischen Herr und Knecht, die um gegenseitige Anerkennung kämpfen, indem zunächst der eine bestrebt ist, den anderen zu einem untergeordneten, unselbständigen Element seines eigenen Selbst zu machen. In diesem Kampf beweist sich aus Hegels Sicht die Freiheit; und zwar insofern, als dass die Kämpfenden darin, dass sie ihr eigenes natürliches Sein auf’s Spiel setzen und dieses darin als ein Nichtiges erweisen: »Durch den Tod«, so Hegel, »aber wird die Natürlichkeit tatsächlich negiert und dadurch zugleich deren Widerspruch mit dem Geistigen, dem Ich, aufgelöst.« (10, 221) Entscheidend ist dabei nicht der tatsächliche Tod eines der Kontrahenten. Sondern die Auflösung des Widerspruches der Natur und des Geistes resultiert aus Hegels Sicht aus dem bloßen Faktum, dass die Kontrahenten ihr Leben auf das Spiel setzen. Das Resultat des Kampfes ist nun aus Hegels Sicht das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft; ein Verhältnis der Ungleichheit, in das »der eine der Kämpfenden das Leben vorzieht, sich als einzelnes Selbstbewusstsein erhält, sein Anerkanntsein jedoch aufgibt, das andere aber an seiner Beziehung auf sich selbst festhält und vom ersten als dem Unterworfenen anerkannt wird« (10, 223). Es entsteht damit ein unvollkommenes Anerkennungsverhältnis, indem »die gesetzte Identität des Selbstbewusstsein der aufeinander bezogenen Subjekte nur auf einseitige Weise zustande kommt« (10, 221). Denn die Anerkennung des Herrn in seiner Freiheit bleibt 216 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Selbstbewusstsein

formell, da sie von dem unfreien Bewusstsein des Knechtes ihren Ausgang nimmt. Zu einem wirklichen Anerkennungsverhältnis kommt es erst durch die Emanzipation des Knechtes. Dieser realisiert seine Freiheit (d. h. Allgemeinheit), indem er einerseits lernt von seiner Unmittelbarkeit, seiner Selbstsucht und seinem Eigenwillen zu abstrahieren, indem er seinen Willen dem Herrn unterordnet; vor allem aber, indem er im Gegenstand seiner Arbeit zu einer »Anschauung des selbständigen Seins als seiner selbst« gelangt (3, 225). Die Emanzipation des Knechtes, die Hegel als einen historischen Prozess verstanden haben will, führt dann das allgemeine Selbstbewusstsein herbei. Erst durch das Freiwerden des Knechtes wird dann der Herr auch vollkommen frei. Als »allgemeines Selbstbewusstsein« wissen die Individuen, die sich als Herr und Knecht feindlich gegenüberstanden, voneinander als »Freie« und so sich selbst als im anderen als frei. Die Bewegung des Anerkennens denkt Hegel dabei als doppelsinnige Rückkehr aus der Entäußerung an das Andere. Zunächst gilt: »Es ist für das Selbstbewusstsein ein anderes Selbstbewusstsein; es ist außer sich gekommen. Das hat die gedoppelte Bedeutung: erstlich, es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das Andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Anderen.« (3, 146)

Im Akt des Anerkennens entlässt nun jedes der beiden Selbstbewusstseine das Andere seiner Selbst in die Freiheit und hebt darin dessen Selbstentfremdung auf (denn es war sich im Anderen); andererseits heben beide sich gegenseitig Anerkennenden ihr eigenes Anderssein auf und kehren darin zu sich selbst zurück. Die Dialektik des Selbstbewusstseins vermag daher zu leisten, was aus Hegels Sicht das Tier nicht vermag: den Gegensatz von Einzelheit und Allgemeinheit in sich völlig zur Auflösung zu bringen und eine Vereinigung von Einzelheit und Allgemeinheit zu vollbringen. Als solches ist das allgemeine Selbstbewusstsein aus Hegels Sicht Grundlage aller Geistigkeit und führt den Begriff des Geistes selbst herbei: »Was für das Bewusstsein weiter wird, ist die Erfahrung, was der Geist ist, diese absolute Substanz, welche in der vollkommenen Freiheit und Selbständigkeit ihres Gegensatzes, nämlich verschiedener für sich seiender Selbstbewusstseine, die Einheit derselben ist; Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist.« (3,145)

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Die Stufung des Organischen bei Hegel

Als allgemeines Selbstbewusstsein ist dasselbige aus Hegels Sicht nicht mehr zureichend als Selbstbewusstsein aufzufassen, denn dies zeichnet sich gerade durch das Festhalten am eigenen Selbst aus. Das allgemeine Selbstbewusstsein muss vielmehr als Vernunft und die Vernunft als Geist aufgefasst werden. »Damit, dass das Selbstbewusstsein Vernunft ist, schlägt sein negatives Verhältnis zu dem Anderssein in ein positives um.« (PdG, 178) Die Vernunft ist nichts anderes, »als die Gewissheit des Bewusstseins, alle Realität zu sein« (PhG, 179). Als diese Gewissheit ist die Vernunft der Geist – »die schlechthin allgemeine, durchaus gegensatzlose Gewissheit seiner selbst« (10, 230). Der Geist ist damit aus Hegels Sicht die absolute und einzige Substanz als sich wissende Wahrheit. Das geistige Sein des Menschen ist aus dieser Perspektive Resultat eines gegenseitigen Kampfes um Anerkennung, der eine vollkommene Negation der Natur des Menschen darstellt. In diesem Sinne kann man mit Holz sagen, dass »Hegel die Konstitution des Menschen als soziales Wesen unter Preisgabe seiner Natürlichkeit« 115 auffasst. Man muss sich allerdings fragen, ob Hegels Gedanke, dass die Dialektik des Anerkennens durch den Gegensatz von Herrschaft und Knechtschaft hindurch muss, überhaupt zwingend aus seiner Auffassung des Menschen hervorgeht. Immerhin traut Hegel – wie schon bemerkt – auch der Liebe eine Überwindung der unmittelbaren Einzelheit und darin eine Verwirklichung des Allgemeinen zu: Denn »die Liebe ist die Empfindung, worin die Selbstsucht des Einzelnen und ihr abgesondertes Bestehen negiert wird, die einzelne Gestalt also zugrunde geht und sich nicht erhalten kann« (9, 520); die Liebe, so Hegel in der Rechtsphilosophie, ist das Bewusstsein, dass »ich mein Selbstbewusstsein nur durch die Aufhebung meines Fürsichseins gewinne« (7, 307). So geht der Geist bei Hegel auch in der Naturphilosophie und Logik aus der Dialektik von Begattung und Tod, Liebe und Tod hervor. Aus dieser Perspektive wäre es eigentlich wohl naheliegender, das Liebesverhältnis als dasjenige Verhältnis zu denken, in dem Menschen einander anerkennen – wie es Hegels Gedanken zur Liebe in den Frühschriften auch nahegelegt hätten. Die Frage ist, warum Hegel diese Lösung nicht ergreift. Hier spielen offenbar zwei Dinge eine Rolle: Erstens sucht Hegel offenkundig einen Grund für den das real-geschichtliche Leben des Menschen durchherrschenden 115 Holz, Hans Heinz, Mensch – Natur. Helmuth Plessner und das Konzept einer dialektischen Anthropologie, Bielefeld 2003, S. 55.

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Selbstbewusstsein

Antagonismus von Herrschaft und Knechtschaft; ein Problem, das er mit den Konstitutionsbedingungen von Selbstbewusstsein schlechthin verknüpft. 116 Kein anderer als Marx hat hieraus nicht ganz zu Unrecht den Schluss gezogen, dass Hegel auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie stehe, da er das Wesen des Menschen als Arbeit deutete. 117 Aber gehört der Standpunkt der Nationalökonomie systematisch betrachtet überhaupt hierher? Es ist keineswegs gesagt, dass es immer und für alle Zeiten selbstverständlich sein muss, dass der Mensch sich seine Anerkennung als Mensch durch seine Mitmenschen immer erst erarbeiten muss. Der PrometheusMythos und die Genesis lehrt, dass Arbeiten an sich schon eine Strafe ist, welche die Götter über den Menschen verhängten. Jedenfalls spricht einiges dafür, dass Hegel hier zwei Dinge miteinander identifiziert, die nicht notwendig unmittelbar zusammengehören. Zweitens scheint des Weiteren alles dafür zu sprechen, dass Hegel die Überwindung, die Aufhebung von Natur durch vornehmlich geistige Arbeit geradezu als Ziel der Weltgeschichte angesehen hat. Unter diesem Gesichtspunkt musste ihm selbst die Liebe suspekt werden, da sie mit Empfindung, d. h. Natürlichkeit, einhergeht – worin Hegel eine Bedrohung der Autonomie der Vernunft sah. 118 Lässt man diesen sinnes- und naturfeindlichen Standpunkt Hegels fallen, spricht nichts dagegen, dass Anerkennungsverhältnis als eines zu denken, wo sich der Mensch – in paradigmatischer Form in Freundschaft und Liebe – nicht nur in seiner Natürlichkeit transparent wird, sondern darüber hinaus letztendlich Natur als solche sich selbst transparent wird. Denn zwar tritt der Mensch als geistiges Wesen in Gegensatz zu seiner Unmittelbarkeit, d. h. Natürlichkeit. Aber Hegel selbst will ja diesen Gegensatz in seiner Potenzierung so verstanden haben, dass er seiner Selbstaufhebung entgegentreibt. Daher wäre es auch konsequenter, die im Anerkennen wiedergewon116 Schon seinerzeit musste sich Hegel mit dem berechtigten Vorwurf herumschlagen, ob sich denn nicht der Kampf um Leben und Tod der Selbstbewusstseine um die Vorherrschaft in jeder Generation zu wiederholen habe. Hegel weicht diesem Vorwurf aus, indem er sagt, dass der Kampf ja nur im »Naturzustand« stattfinden würde; in der bürgerlichen Gesellschaft sei aber das Anerkanntsein bereits vorhanden. Damit ist die Frage, wie es in jeder Generation zum Sich-Anerkennen kommt, aber eigentlich nicht beantwortet. (Vgl. 10, 432) 117 Marx, Karl, Nationalökonomie und Philosophie, in: MEW I, S. 329. 118 In dieser Hinsicht werden Hegel auch die Frauen suspekt – da sie aus seiner Sicht in erster Linie empfindende Wesen sind: »Stehen Frauen an der Spitze der Regierung, ist der Staat in Gefahr«. (7, 320)

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Die Stufung des Organischen bei Hegel

nene vermittelte Unmittelbarkeit mit einer widergewonnenen Natürlichkeit zu identifizieren. Letztendlich kann Hegel auch nur so seine These rechtfertigen, dass der Geist das Innere der Natur, d. h. ein »Erinnern« der Natur (9, 37) – also die Erinnerung der Natur – ist. Auf dieses Problem werden wir im letzten Kapitel dieses Buches noch einmal zu sprechen kommen. Zunächst soll aber anhand einer Interpretation von Plessners Anthropologie – die zahlreiche Motive von Hegels Denken aufnimmt – dargestellt werden, dass es Sinn macht, von einer Natur des Menschen zu sprechen, die dem Menschen auch gerade als geistigem Wesen zukommt.

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3. Die Stufen des Organischen und der Mensch in Plessners Naturphilosophie und Anthropologie

3.1. Einführung Wie Hans Peter Krüger zu Recht betont, stellt Plessners Hauptwerk Die Stufen des Organischen und der Mensch seine intensivste Auseinandersetzung mit Hegels Philosophie des absoluten Geistes dar: In seinen wichtigsten Werk, so Krüger, »markiert Helmuth Plessner seine Bewunderung für und seine Differenz gegenüber Hegels Geistphilosophie, aber auch seinen Anspruch, Hegels Geistkonzeption in seiner philosophischen Anthropologie der exzentrischen Positionalität naturphilosophisch transformieren zu können«. 119

Dieses ambivalente Verhältnis zu Hegel teilt Plessner mit Dilthey, an den er mit seinen Forschungen in vielerlei Hinsicht anschließt. So stellt sich Hegels Philosophie des absoluten Geistes aus Plessners Perspektive zunächst zweifelsohne als ein absoluter Spiritualismus dar, dessen Einseitigkeit wider Willen den Fortbestand der cartesischen dualistischen Substanzmetaphysik bestätigt und damit aus Plessners Sicht die neuzeitliche Metaphysik der Subjektivität zum Scheitern verurteilt. Denn indem Hegel in seiner Konzeption des Menschen die Natur des Menschen herausabstrahiert, gelingt ihm es ihm aus Plessners Sicht nicht, zu einer adäquaten Interpretation der menschlichen Erfahrung und damit zur menschlichen Grundsituation durchzudringen. »Materialismus, Naturalismus, Empirismus, und Spiritualismus; Idealismus, Apriorismus scheitern notwendig, weil sie vor der doppelten Wahrheit des Bewusstseinsaspektes und des Körperaspektes der Welt irgendwie halt machen müssen«. (Stu, 48) Und noch deutlicher sagt Plessner schon in seiner Jugendschrift Grenzen der Gemeinschaft mit kritischen Verweis auf »die Überdehnung des Ver119

Krüger, a. a. O., S. 293.

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Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

nunftglaubens«: »Am Fragmentcharakter des Daseins, an der undurchdringlichen Zweideutigkeit der Situationen scheitert der Geist, der immer organisch, systematisch und eindeutig ist.« (5, 56) Plessners Einwände gegen Hegel erinnern hier an den späten Dilthey, demzufolge die Grundlagen seiner Philosophie im 20. Jahrhundert nicht mehr überzeugen können: »Die heutige Analyse der menschlichen Existenz erfüllt uns alle mit dem Gefühl der Gebrechlichkeit, der Macht des dunklen Triebes, des Leidens an den Dunkelheiten und den Illusionen, der Endlichkeit in allem, was Leben ist, auch wo die höchsten Gebilde des Gemeinschaftslebens aus ihm entstehen.« (7, 150)

Schon in Plessners frühem Werk kommt damit im Grunde genommen Plessners zentrale Kritik an Hegels zum Ausdruck, wie er sie in den Stufen und in der Nachfolgeschrift Macht und menschliche Natur (1931) äußert, nämlich der Hegel ein begriffliches System schaffe, in dem alles Andere, Fremde, Heterogene, d. h. dem Wesen der Vernunft Fremde, a priori aufgehoben ist. In diesem Sinne spricht Plessner auch von einem »dialektischen Monismus« (Stu, 208), der den »hiatus irrationalis« zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich, der Vernunft und dem ihr Fremden zur Aufhebung bringt, indem er ihn gewissermaßen zum »Prinzip der Konstitution jeder Bestimmung« macht: »Der dialektische Umschlag bei Hegel hat in sich das rationale Moment der wesensmäßigen Implikation der Kehrseite (dessen, was die Sache dadurch, dass sie so ist, nicht ist) und das irrationale Moment völliger Wesensdiskrepanz aufgehoben. Die Folge davon ist, dass ein Medium der Vermittlung alles und jedes Heterogenen bleiben konnte, für welches Ausdrücke wie Substanz-Subjekt, Geist, Begriff nicht einmal so entscheidend sind wie jene ganze große Grundkonzeption einer durchgängigen Homogenität und gediegenen Vermitteltheit aller Kontraste, Widersprüche, Gegensätze dieser Welt. Für Hegel ist wohl das Negative, der Mangel, der Schmerz, die Zerstörung eine dem Positiven gleichwertige Macht, aber an ihrer Weltgeborgenheit, Geistnatur rüttelt er nicht. Es gibt bei ihm keine Intermundien, es gibt nicht wie etwa für Leibniz echte Risse, von keiner Welt überbrückte hiatus irrationalis.« (Stu, 208)

Das zeigt sich aus Plessners Sicht auch gerade in Hegels Behandlung der Weltgeschichte. So schreibt er in Macht und menschliche Natur, einem Werk, das den Untertitel Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht trägt:

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Einführung

»Für Hegel zeigt sich das Eine stets als das Andere in einem sie gemeinsam durchdringenden Medium des Geistes oder der Vernunft. Jede Setzung und Perspektive hat an ihr notwendig, d. h. aus der Wesensnatur des Mediums oder Kontinuums des Geistes bereits garantiert, ihr Gegenteil und führt deshalb von selbst zum Umschlag in ihr Gegenteil. Deshalb kann die Politik auch nur darin bestehen, die je faktisch vorhandene Situation sich selber und ihrer natürlichen Reifung in’s Gegenteil, ihrer natürlichen Entwicklung zu überlassen, weil ihr die Vernünftigkeit mit der Selbstbeweglichkeit bereits gesichert ist. Der Weltgeist als das durchdringende und selbst– mächtige Medium sorgt schon von sich aus und gebraucht die Individuen mit ihren subjektiven Perspektiven als die List, der Idee in einem den Perspektiven überraschenden und für sie u. U. ungewollten Sinne Realität zu geben.« (5, 223)

Plessner sieht sich daher offenkundig in seiner Transformation der hegelschen Geistphilosophie vor die Aufgabe gestellt, einerseits die allumfassende Herrschaft der Vernunft in diesem Denken aufzubrechen und darin das aus seiner Sicht der Vernunft Fremde, Heterogene gleichsam freizusetzen und dabei und dadurch andererseits die menschlichen Natur – so wie sie sich in der Erfahrung präsentiert – wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Dabei will er zugleich – auch hier an Dilthey anknüpfend – den hegelschen Eurozentrismus und damit einhergehend den Gedanken eines planvoll durch den Weltgeist vorherbestimmten Ablaufs der Weltgeschichte überwinden. Gegen den hegelschen Gedanken einer durchgängigen Bestimmtheit der Weltgeschichte und damit einhergehend eines Endes der Geschichte bestimmt Plessner daher den Menschen als »offene Frage«. Entscheidend ist dabei für Plessner, dass der Mensch auch als geschichtliches und kulturelles Wesen noch Naturwesen bleibt. Sowohl in seiner Einzelheit und Individualität, als auch als Angehöriger einer spezifischen Kultur bleibt er daher etwas Unvordenkliches und in dieser naturgegebenen Unvordenklichkeit zugleich etwas unaufhebbar Partikuläres. Auch noch gegen Heideggers Existenzialanalytik macht Plessner geltend, dass ein vollkommenes Verstehen, eine vollkommene Selbsttransparenz dem Menschen nicht vergönnt ist. Heidegger richtet die Frage nach dem Sinn des Seins so, dass diese sich auf den Fragenden zurückwendet: »Dieses Seiende, das wir selbst sind und das unter anderem die Seinsmöglichkeit des Fragens hat, fassen wir terminologisch als Dasein. Die ausdrückliche und durchgängige Fragestellung nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins.« (Stu, 7)

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Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

Damit bleibt Heidegger aus Plessners Sicht der subjektivistisch-idealistischen Tradition verhaftet, die dem Subjekt eine ontologisch-gnoseologische Vorrangstellung einräumt, insofern sie davon ausgeht, dass »der philosophisch Fragende sich selbst existenziell der Nächste und darum der sich im Blick auf das Erfragte Liegende ist.« (Stu, 12) Plessner hingegen geht davon aus, dass der Mensch »sich weder der Nächste noch der Fernste« ist; er findet sich in einem »Meer des Seins« zusammen in einer Reihe »mit allen Dingen dieser Welt« vor (Stu, 12). In dieser exzentrischen Stellung, in der der Mensch sich in die Welt im allgemeinen und in die Gesamtheit der Lebensformen der Natur insbesondere eingeordnet sieht – und diese Ordnung als geistiges Wesen zugleich transzendiert –, entspringt der Sinn und die Legitimation des naturphilosophischen Ansatzes in Plessners philosophischer Anthropologie. Das Selbstbewusstsein darf demnach aus Plessners Sicht nicht als Grundlage der Erfahrung, sondern nur als deren höchste Organisationsweise verstanden werden: »Den Menschen trägt die lebendige Natur, ihr bleibt er bei aller Vergeistigung verfallen, aus ihr zieht er die Kräfte und Stoffe für jegliche Sublimierung« (Stu, 123). Die Natur, so Plessner, ist die »volle Wirklichkeit, die dem Menschen zum Erlebnis wird und ihn als Fundament und Rahmen seiner Existenz von der Geburt zum Tode führt« (Stu, 65). Eine Wissenschaft, welche die Erfahrung des Menschen, wie er lebt und sein geschichtliches Leben de facto führt, erfassen will, darf sich daher nicht auf die Person als rein vergeistigtes Dasein, als Subjekt geistigen Schaffens, moralischer Verantwortung, religiöser Hingegebenheit beschränken. Denn das »Erleben ist weiter als das Bewusstsein. Das Bewusstsein ist bloß ein Ausschnitt. Das Bewusstsein reicht nicht ganz in die Tiefe des Erlebens hinein. Wir kennen alle unbewusstes Erleben«. (EM, 85) Eine solche Wissenschaft muss daher »den ganzen Umkreis der Existenz und der mit dem persönlichen Leben in selber Höhe liegenden, zu ihm in Wesenskorrelation stehenden Natur miteinbegreifen« (Stu, 65). Die Entwicklung einer philosophischen Anthropologie ist für Plessner seinerseits eine historische Notwendigkeit. Sie richtet sich auf den Menschen, »wie er seiner eigenen durch die Fortschritte der Wissenschaft und Technik riesenhaft gewachsenen Verfügungsgewalt sich selbst an Messer liefert«. (7, 50) Wollte Kant im Rahmen der Vernunftkritik Platz schaffen für den Glauben, so möchte Plessner in seiner Anthropologie »dem Können des Menschen, sein Schicksal zu spielen, eine Schranke setzen«, um für den »Glauben an 224 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einführung

den Menschen wieder Platz zu bekommen«. Denn »der Mensch ist durch sein Können eine Bedrohung seiner Zukunft geworden, weil er sein Können nur durch Mehrkönnen überwinden wird, aber keine Gewähr dafür besteht, dass nicht die Menschheit unterdessen auf der Strecke bleibt«. (7, 51) Da aber der Zusammenhang der Natur, in den das Subjekt durch den und als Lebensprozess eingebettet ist, aus Plessners Sicht ursprünglicher ist als das begriffliche Denken bzw. das Selbstbewusstsein; da also der Zusammenhang des Lebens für Plessner wie für Dilthey ursprünglicher ist als der Denkzusammenhang, ist für Plessner philosophische Anthropologie nur als philosophische Biologie möglich. Denn nicht der Geist ermöglicht aus seiner Sicht das Leben und Erleben – wie dies bei Hegel der Fall ist –, sondern das Leben ermöglicht das geistige Sein und damit Weltverstehen des Menschen. Daher ist aus Plessners Sicht »erst einmal Klarheit darüber zu gewinnen, was als lebendig bezeichnet werden darf, bevor weitere Schritte zur Theorie der Lebenserfahrung in ihrer höchsten menschlichen Schicht unternommen werden« (Stu, 76). Keine Philosophie ist aus seiner Sicht möglich, ohne eine sie fundierende Philosophie der Natur. Was erforderlich ist, ist eine »Neuschöpfung der Philosophie unter den Aspekt einer Begründung der Lebenserfahrung in Kulturwissenschaft und Weltgeschichte«. Die Etappen auf diesem Weg bestimmt Plessner dabei folgendermaßen: »Grundlegung der Geisteswissenschaften durch Hermeneutik, Konstituierung der Hermeneutik als philosophische Anthropologie, Durchführung der Anthropologie auf Grund einer Philosophie des lebendigen Daseins und seiner natürlichen Horizonte; und ein wesentliches Mittel (nicht das einzige), auf ihm weiterzukommen, ist die phänomenologische Deskription.« (Stu, 69)

Anderes als für Dilthey ist dabei für Plessner Hermeneutik nicht nur eine Funktion der Theorie der Geisteswissenschaften, deren Gegenstand die geistig-geschichtliche Welt ist, sondern zugleich Naturphilosophie. Denn die Grundlegung einer geisteswissenschaftlichen Erfahrung ist aus seiner Sicht mit der Aufrollung von Problemen verbunden, die »vor der leibhaften Sphäre des Lebens nicht haltmachen können«: »Mit einer puren, um nicht zu sagen: purifizierten Existenz, die den Menschen doch wieder auf seinen Binnenaspekt zurückwirft, demgegenüber seine faktische Figur und Biologie zur gleichgültigen Äußerlichkeit wird, ist

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Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

nichts gewonnen. Hermeneutik fordert eine Lehre vom Menschen mit Haut und Haaren, eine Theorie seiner Natur, deren Konstanten allerdings keinen Ewigkeitsanspruch gegenüber der geschichtlichen Variabilität erheben, sondern sich selbst zu ihr offen halten, indem sie ihre Offenheit selber gewährleisten.« (8, 158)

In Bezug auf Diltheys Diktum, dass wir die Natur erklären und das Seelenleben verstehen, würde man mit Plessner Dilthey wohl entgegenhalten können, das wir auch die Natur in gewisser Hinsicht verstehen können. Die Natur zu verstehen, dies bedeutet für Plessner allerdings nicht die Entwicklung eines pan-psychistischen Systems und Weltbild (wie etwa bei Alfred North Whitehead) oder einen introspektiven Zugang zu ihr zu suchen (wie bei Bergson durch die Intuition), sondern konkret, sie »als das System der den Menschen in seinen spezifischen Leistungen ermöglichenden Bedingungen erweisen«. (9, 72) Die Natur, als solch ein System betrachtet, erscheint nun Plessner zufolge als ein System von Stufen – konkret Pflanze, Tier, Mensch –, von denen eine jede eine notwendige Vorstufe ihrer nachfolgenden ist. Mit der Einsicht in die Rationalität dieser Stufenfolge ist damit aus Plessners Sicht die Möglichkeit gegeben, »das Wesen des Menschen am Leitfaden einer regionalen Ontologie des Organischen als einer Kategorienlehre der Biologie und ihrer Phänomene zu entwickeln«. (5, 227) Als Mittel kann dabei die Phänomenologie dienen. Diese ist für Plessner vor allem eine Methode der Aufweisung, mehr als der Beschreibung, denn sie macht sichtbar, was den Tatsachen zugrunde liegt und was über sie hinausgeht. In diesem Sinne betreibt Plessner Phänomenologie – ähnlich wie seine Zeitgenossen Whitehead, Ortega y Gasset oder Heidegger – nicht als Transzendentalphilosophie, sondern als Methode der Ontologie. Entscheidend ist für Plessner, dass Husserl mit der Phänomenologie eine Philosophie »aus einer radikal verstandenen Erfahrung entwickelt, die nicht in den Alternativen naturwissenschaftlicher oder geisteswissenschaftlicher Begriffsbildung, überhaupt nicht im Umkreis wissenschaftlichen Begreifens gefangen bleibt, sondern weiter zurückgreift, um an den Wurzeln alles unmittelbaren Erlebens anzusetzen«. (9, 130)

Dabei zeigt sich, dass auch schon der Bereich der unmittelbaren, alltäglichen Erfahrung von einer virtuellen Sinnstruktur durchzogen ist, die jedweder Theoriebildung vorausgeht. Diese Sinnstruktur, die Plessner im Rahmen einer regionalen Ontologie des Organischen he226 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einführung

rausarbeitet, erscheint aus dieser Perspektive als Grundlage dafür, dass wir auch im alltäglichen Leben intuitiv scharf zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen unterscheiden. Kritisch wendet aber Plessner gegen Husserl ein, dass dieser »das Wesen des Bewusstseins in der Intentionalität« setze, womit der Versuch scheitere »die Gefühlsregungen in dem Bewusstsein unterzubringen« (EM, 81). Durch die Einengung der phänomenologischen Methode auf das reine Bewusstsein wird wieder ein Primat des Geistigen über das Körperliche geschaffen. Ziel von Plessners naturphilosophisch fundierter Anthropologie ist es, die »fraktionierende Betrachtungsweise des Menschen in Philosophie, Biologie, Psychologie, Medizin und Soziologie […], für die Descartes das Stichwort gab« (Stu, 77) zu überwinden; die »verhängnisvolle Aufspaltung des menschlichen Seins in eine körperliche und eine nichtkörperliche Region« (Stu, 24) muss vermieden werden. Wie Olivia Mitscherlich-Schönherr in ihrer gleichnamigen Studie herausgestellt hat, geht es dabei Plessner insbesondere auch darum, den Gegensatz von Natur und Geschichte zu überwinden: Wie Mitscherlich betonnt, handelt es sich bei Plessners Natur- und Geschichtsphilosophie »um nur einen philosophischen Ansatz«. 120 Philosophie, d. h. Natur- und Geschichtsphilosophie unter dem Gesichtspunkt ihrer inneren Einheit, ist demnach für Plessner ebenso wie für Hegel oder für seinen Zeitgenossen Whitehead, Kritik der Abstraktionen: »Will man den Menschen, so wie er lebt und sich versteht, als sinnlichsittliches Wesen in einer, d. h. den Menschen entsprechenden Erfahrungsstellung, welche ›Natur‹ und ›Geist‹ umspannt, begreifen, so muss man auch die Mittel dazu schaffen. Diese Mittel können jedoch nicht dem traditionellen Begriffsschatz der Einzelwissenschaften entnommen werden, da jede Einzelwissenschaft, sei es Natur-, sei es Geisteswissenschaft, eine besondere Reduktion an den Dingen vornimmt, ohne die sie die Grenzen ihres Gebietes sofort verlässt, eine Reduktion, die sich natürlich an ihren Begriffen zeigt.« (Stu, 62)

In der Naturphilosophie bzw. philosophischen Anthropologie geht es also nicht darum von den Ergebnissen der Einzelwissenschaften, von 120 Mitscherlich, Olivia, Natur und Geschichte. Hellmuth Plessners in sich gebrochene Lebensphilosophie, Berlin 2007, S. 16. Eine Übersicht über die gegenwärtigen Richtungen der Plessner-Forschung in Deutschland findet sich bei Mitscherlich auf den S. 13 ff.

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Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

Natur- und Geisteswissenschaften schlechterdings zu abstrahieren, sondern dasjenige in den Blick zu nehmen, was jene auf Grund ihr methodologischen Einschränkungen notwendig ausblenden; und dies in einer Art und Weise, dass durch die Einnahme eines den Gegensatz der Einzelwissenschaften transzendieren Standpunktes ein kohärenteres Wissen und ein adäquateres, unfragmentiertes Verstehen des Konkreten in seiner Konkretheit geleistet wird. Hier besteht aus Plessners Sicht »die große, systematische Aufgabe der Philosophie« (Stu, 62). Diese Aufgabe kann die Naturphilosophie natürlich nur leisten, wenn die Ergebnisse der Naturwissenschaften im Rahmen ihre begrifflichen Schemas interpretierbar sind: So kann es keinen Zweifel daran geben, dass der Philosoph Plessner in seinem Schema die Erfahrungen des Zoologen Plessners interpretiert.

3.1.1. Noch einmal: Der Standpunkt des Urteils Interessanterweise spricht Plessner nun in Bezug auf dieses Unterfangen, den Menschen als Ganzen, als Körper und Geist, aus einer Erfahrungsstellung heraus begreifen zu können, in seinem Hauptwerk an einer Stelle nun Hegel besondere Bedeutung zu. Plessner verweist hier auf eine »großartige Tendenz« von Kant bis Hegel, »aus einer zu der Ebene der Einteilung in die beiden Substanzen gleichsam senkrecht stehenden Dimension transzendentaler Gesetzlichkeit das Prinzip zu objektivieren und damit von ihrer prinzipiierenden Wirkung die Philosophie zu befreien, – eine Tendenz, die nur bei Hegel stark genug war, zum wirklichen Siege zu führen. Dieses Niveau konnte die Folgezeit nicht halten. Hegels Bestimmung des Substanz-Subjektes als Geist bot den Kleinmeistern der Philosophie vollkommene Handhabe, die res cogitans und damit den unvergessenen Cartesianismus zu rehabilitieren«. (IV, 394)

Das Prinzip, mittels dessen Hegel den Dualismus der zwei Substanzen unterläuft, ist nun – wie wir sahen – kein anderes als dasjenige, als das, welches Hegel den Standpunkt des Urteils nennt »Der Standpunkt des Urteils ist die Endlichkeit, und die Endlichkeit der Dinge besteht auf demselben darin, dass sie ein Urteil sind, dass ihr Dasein und ihre allgemeine Natur (ihr Leib und ihre Seele) zwar vereinigt sind, sonst wären die Dinge nichts, aber dass diese ihre Momente sowohl bereits verschieden als überhaupt trennbar sind.« (8, 319)

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Einführung

Hegel konzipierte – wie wir sahen – Leib und Seele, Einzelnes und Allgemeines als zwei Elemente des Begriffes als objektiver Totalität, die im Urteil, d. h. im Begriff in seiner Besonderheit zugleich unendlich miteinander vermittelt sind. Eben hier tritt dann die teleologische Fassung von Hegels Begriff bzw. seiner Konzeption der Organismen als »existierende Begriffe«, die Hegel in ausdrücklicher Anlehnung an Aristoteles und Kant entwickelt: »der Begriff, der unterschieden von seiner Objektivität einfach in sich seine Objektivität durchdringt und als Selbstzweck an ihr sein Mittel hat und sie als sein Mittel setzt, aber in diesem Mittel immanent und darin der realisierte mit sich identische Zweck ist«. (LII, 468)

Entscheidend für das Verhältnis von Hegel zu Plessner ist nun, dass Hegel das Urteil des Begriffes nicht nur als eines denkt, in dem Körper und Geist einerseits unterschieden und andererseits miteinander vermittelt werden, sondern er aus derselben Perspektive auch – wie sich zeigte – den Unterschied den von Subjekt und Welt, Organismus und Umwelt dialektisch herleitet; eine Dialektik, an der Plessner entschieden festhält. Das Lebendige ist an sich Allgemeinheit, Gattung existiert aber unmittelbar als Einzelheit. Daher unterscheidet es eine Außenwelt von sich, zu der es im Gegensatz steht. Um seinen Körper in Besitz zu nehmen und sich als immanenten Zweck zu reproduzieren, muss aus Hegels Sicht das Lebendige diesen Gegensatz von Selbst und Welt, von Organismus und Umwelt aufheben, damit die Allgemeinheit, die es an sich ist, für es wird. Der Assimilationsprozess der Umwelt durch die Pflanze, die Vernichtung des Anderen im Falle des Jäger-Beute-Verhältnisses des Tieres, das Geschlechtsverhältnis und die Fortpflanzung, schließlich die Dialektik des Selbstbewusstseins im Falle des Menschen erschienen hier alle als Strategien, in dem das Lebendige bzw. der Mensch den Widerspruch zwischen Einzelheit und Allgemeinheit und darin sein eigenes Anderssein (Sich-Äußerlich-Sein) aufhebt. Weil Hegel im Rahmen seines absoluten Idealismus allerdings Organismen als existierende Begriffe bzw. als Systeme von Schlüssen denkt, weil er davon ausgeht, dass der Begriff an sich den Gegensatz von Ich und Welt immer schon übergreift, erscheint die Aufhebung des Gegensatzes von Subjekt und Welt (bzw. von Seele und Leib) hier als ein logisch notwendiges Geschehen, indem sich zwingend die Selbstzweckgebung der Vernunft in Natur und Geschichte verwirklicht. Wenn Plessner nun den Prozess des Lebens des Lebendigen als 229 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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ursprünglicher ausweisen will als den Prozess der Erkenntnis und des Erweisens ihrer Wahrheit, wenn also Plessner die Vorzeichen zwischen Vernunft und Leben pragmatisch umkehren will und das Leben gegenüber dem Geist als das Fundierende ausweisen will, aber zugleich an jener bei Hegel wirksamen Tendenz festhalten will, die aus seiner Sicht aus dem cartesischen Substanzendualismus herausführt, dann wird er zu einer anderen Interpretation dessen kommen müssen, was Hegel den Standpunkt des Urteils nennt. Plessner leistet dies, indem er Lebewesen – einschließlich des Menschen – als grenzrealisierende Wesen interpretiert, und die Realisation der Grenze zugleich als einen realen vitalen Vorgang begreift, der in der Selbstorganisation des Lebendigen einen funktionalen Stellenwert einnimmt: Die Organismen sind hier also nicht – wie bei Hegel – geurteilt, insofern sie in ihrer unmittelbaren Einzelheit einen Begriff verkörpern, sondern sie sind es gemäß ihres Strukturprinzips selbst, die sich in ihren aktiven Grenzleistungen auf ihre Umwelt und darin auf sich selbst beziehen. Zugleich aber hält Plessner in seiner Theorie der Selbstorganisation des Lebendigen (bzw. der realisierten Grenze) an dem hegelschen Gedanken fest, dass sich Organismen in Interaktion mit ihrer Umwelt (»dem Anderen«) konstituieren und dass sich in dieser Interaktion Organismus und Umwelt, Körper und Seele in einer Weise ineinander verschränken, dass der Organismus als ursprüngliche Ganzheit immer schon über den vermeintlichen Substanzendualismus hinaus ist. In dieser Konzeption führt Plessner auch insofern ein dialektisches Motiv fort, insofern ja schon Hegel in seiner Kritik der Wechselwirkung die Grenze zu einem immanenten Moment des Begriffes gemacht hat, welchen die Organismen verkörpern. Aber die Selbstbezüglichkeit, die der Organismus in Plessners Naturphilosophie und Anthropologie zu sich und seiner Umwelt aufbaut, ist zugleich von ganz anderer Art, wie die Selbstbeziehung, die Hegel im Begriff aufweist. Plessner bezeichnet die Art und Weise, in der ein Organismus sich durch seine eigenen Grenzleistungen hindurch gemäß seiner Organisationsform in seiner Umwelt situiert, als Positionalität: »Hierunter sei derjenige Grundzug seines Wesens verstanden, welcher einen Körper in seinem Sein zu einem Gesetzten macht.« (Stu, 184) Schon durch diesen Begriff wird im Grunde genommen angedeutet, dass der Organismus aus Plessners Sicht als etwas unaufhebbar Partikuläres in der Natur, im Strom des Lebens verbleibt. »Positional sind also Dinge«, so Fischer, »die in und gegen 230 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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ein Umgebungsfeld gesetzt sind, in eine Lage gestellt, zu der sie eine präreflexive Stellung einnehmen müssen.« 121 Hierin liegt zugleich – so Fischer – die lebensphilosophische Relevanz dieses Begriffes, im Gegensatz zu dem »setzenden Ich« der idealistischen Philosophie: »Zweifellos gibt Plessner hier an dieser Stelle dem Wahrheitsmoment der Lebensphilosophie nach, das Phänomen ›Leben‹ sei das Phänomen von dynamischem Getragensein, von nicht selbst gesetzten Impulsen und Rhythmen.« (Ebd.) Durch eine naturphilosophische Unterscheidung von unterschiedlichen, aufeinander aufbauenden Positionsformen versucht Plessner von hier ausgehend, die Möglichkeitsbedingungen von Natur und Selbstbewusstsein – und damit einhergehend den Mensch als Kulturwesen – schon in der vormenschlichen Natur aufzuweisen. Wegeleitend ist dabei der Gedanke, dass der Organismus bzw. der Mensch in seiner Positionalität korrelativ durch bestimmte Modi der Interaktion auf seine Umwelt bezogen ist. So stehen die Pflanze, das Tier und der Mensch in einem je eigentümlichen Verhältnis zu ihrem Umfeld. Die Steigerung und Höherentwicklung in den Stufen der Natur interpretiert Plessner dabei nicht wie Hegel als Verwirklichung der Vernunft schlechthin, sondern als Prozess innerhalb der Natur, in dem geistbegabte Wesen aus der Natur hervorgehen; Wesen, die in ihrer geschichtlichen und kulturellen Existenz zugleich aber als Naturwesen auch in der Natur verbleiben. Indem Plessner die SubjektObjekt-Spaltung als Resultat eines natürlichen Prozesses in der Natur aufweist, und in diesem Sinne »Geist im Leben« aufbaut, kann man mit Krüger in der Tat sagen, dass Plessner eine naturphilosophische Alternative zum Vermittlungsproblem der KdU formuliert, auf das Hegel mit seiner Philosophie des absoluten Geistes reagiert.

3.1.2. Ausgangspunkt der Betrachtung: Doppelaspektivität des Lebendigen Plessners Standpunkt, der die vermeintlichen Gegensätze von Natur und Geist, von res cogitans und res extensa überwinden soll, ist nicht der Standpunkt des Urteils des Begriffes, d. h. der als absolut gedachten Vernunft, sondern der Standpunkt des Lebens. Anders als in irrationalistischen Varianten der Lebensphilosophie versteht Plessner 121

Fischer, Joachim, Exzentrische Positionalität, a. a. O., S. 274.

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unter dem Leben nicht einen ungebrochenen Strom, der jedweden Gegensatz von Innen und Außen übergreift, sondern er begreift das Leben als dynamische Einheit von Gegensätzen. Dies gilt insbesondere für den Gegensatz des physischen Seins auf der einen und des psychischen und geistigen Seins auf der anderen Seite. Im bewussten Erleben kommt es zu einer Doppelansicht, zu einem Bruch des Subjektes, das sich als Innen- und Außenwelt, als Seele und als Bestandteil der Körperwelt erfährt: »Ich gehe mit meinem Bewusstsein spazieren, der Leib ist sein Träger, von dessen jeweiligem Standort der Ausschnitt und die Perspektive des Bewusstseins abhängen; und ich gehe in meinem Bewusstsein spazieren, und der eigene Leib mit seinen Standortveränderungen erscheint als Inhalt seiner Sphäre.« (7, 240)

Zugleich aber transzendiert das Leben diesen Gegensatz, der innerhalb seiner zweifelsohne gegeben ist. Hier nimmt Plessner zugleich eine Einsicht des amerikanischen Pragmatismus mit auf: »Wir können sagen, dass das Erleben wie das Handeln zeigt, dass wir von vorherein in einem Gesichtspunkt darinstehen, dass wir in einer Betrachtungsart der Welt und unserer selbst stehen, die nicht bloß körperlich oder bloß seelisch oder bloß bewusstseinsmäßig oder geistig ist, die also nicht gebunden ist an eine dieser Sphären, sondern von vorneherein diese Sphären umgreift.« (EM, 87)

In der erlebten Einheit der Handlung greifen Körper und Geist immer schon ineinander. Plessner bestreitet also nicht, dass es Körper und Geister, Physisches und Geistiges gibt: »Niemand bezweifelt die außerordentliche Zweckmäßigkeit und Anschaulichkeit der Unterscheidung von physisch und psychisch«. (Stu, 79) Um aber eine fraktionierende Betrachtungsweise des Menschen zu überwinden, die seine Freiheit bedroht und seine Würde verletzt, darf sie nicht als Fundament der Erfahrung verstanden werden. Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie ist also eine gedoppelte, nämlich einerseits einen Begriff des Menschen zu finden, der ihn aus einer Erfahrungsstellung heraus begreift – so wie er selbst im Vollzug seines Lebens gegeben ist – und darin andererseits die Doppelung seiner Selbstbeschreibung einer Erklärung zuzuführen; eine Doppelung, die so etwas wie die Bedingung der Möglichkeit der cartesischen Spaltung ist. Wenn nun die Verbindung des Inneren und des Äußeren in ausgezeichneter Weise im Vollzug des Lebens bzw. im Handeln gegeben sein sollte, dann ist die Vermutung nur naheliegend, dass die cartesi232 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einführung

sche Spaltung durch eine Klärung des Wesensmerkmale des Lebendigen überwunden und im Rahmen dieser Überwindung rekonstruiert werden kann. Es ist nun bezeichnend für den naturphilosophischen Ansatz der philosophischen Anthropologie am »Objektpol« 122, dass Plessner die Frage »Was ist Leben?« nicht aus der subjektiven Binnenperspektive heraus zu beantworten versucht, sondern an den objektiv existierenden Lebensformen ansetzt, so wie sie in der Wahrnehmung gegeben sind. Kritisch wendet sich hier Plessner gegen Bergson, der versuche, die »Phänomene des Lebens von einer introspektiven Anschauung her zu deuten« (Stu, 290). Zweifelsohne in der spezifischen Form der Entwicklung dieser Frage von seinem Lehrer, dem Biologen und Naturphilosophen Hans Driesch beeinflusst, richtet Plessner seine Frage dahingehend, was lebendige Körper von unbelebten Dingen in der Anschauung objektiv unterscheidet. Methodisch betrachtet wendet sich dabei Plessner zunächst der Frage zu, wie Dinge in der Wahrnehmung überhaupt erscheinen und darin von sich kundtun. Was macht die Erfahrung eines spezifischen Dinges in der Wahrnehmung als einem aus? Ein Baum z. B., so wie er sich in der Wahrnehmung präsentiert, ist stets mehr als die Summe von Sinnesdaten, wie Farben, Tast- und Geruchsdaten. An dem Baum hängen vielmehr die Eigenschaften, »in denen er sich selbst manifestiert« (Stu, 129). Als Gegenständlich vermögen wir das Ding insofern also nur wahrzunehmen, insofern wir als den sinnlich wahrnehmbaren »Kranz seiner Eigenschaften« auf einen substanziellen Kern beziehen, der Träger dieser Eigenschafen ist. Dieser Kern erscheint als solcher aber nicht. Um es paradox ausdrücken: Das Ding erscheint nur als Bestimmtes, als eines, wenn das, was das Ding bedingt und das seine Einheit verbürgt, seinerseits nicht erscheint. Positiv verweist Plessner hier auf Hegels Begriff der Wahrnehmung in der Phänomenologie des Geistes, insofern dieser gezeigt habe, dass dem Bewusstsein an einem spezifischen Punkt seiner Entwicklung keine Möglichkeit mehr gelassen ist, den Kerngehalt eines Dinges räumlich zu interpretieren und das Substanzielle des Wirklichen noch als seine Mitte anzusehen. Das Bewusstsein sieht sich vielmehr genötigt, die Substanz des Dinges als Kraft zu interpretieren. In durchaus vergleichbarem Sinne spricht Plessner von einem substanziellen Kern. »Das reelle (belegbare) Phänomen weist auf dieses Ganze von sich

122

Vgl. Fischer, Anthropologie, a. a. O., S. 514.

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aus hin, es überschreitet gewissermaßen seinen eigenen Rahmen, indem es als Durchbruch, Aspekt, Er-Scheinung, Manifestation des Dinges selbst sich darbietet.« (Stu, 130) Diesen empirisch nicht belegbaren Durchbruch des reellen Phänomens zum Dingganzen bezeichnet Plessner als »Transgredienz«. Die Transgredienz hat zwei Richtungen: eine vom »Phänomen« in das Ding hinein und eine um das Ding herum: Die erste zielt auf den substanziellen Kern des Dinges, die zweite zielt auf die möglichen anderen Dingseiten. Zur Wahrnehmung des Dinges als einem gehört damit eine »doppelte Blickführung«, in der das Ding als »kernhaft geordnete Einheit von Seiten« und eben damit überhaupt als Ding erscheint. Hierin, dass die Zusammengehörigkeit beider Aspekte konstitutiv ist für das Wahrnehmungsding, liegt mit Plessner gesprochen die Doppelaspektivität des Wahrnehmungsdinges begründet. »Der Doppelaspekt«, so Plessner, »konstituiert das Anschauungsgebilde des Dingkörpers«, wenn er sich auch als echte Bedingung im Bedingten verliere. Es ist Aufgabe der philosophischen Analyse, die Komplexität und die Voraussetzung des Wahrnehmungsdinges herauszuarbeiten und zu erhellen.

3.1.3. Grenze und Medium Damit kommen wir zum zentralen Begriff von Plessners Philosophie des Organischen: dem Begriff der Grenze. Plessners zentrale Frage lautet: Wie ist Doppelaspektivität möglich? In der Beantwortung dieser Frage wendet sich Plessner nun auch der Unterscheidung von belebten und unbelebten Dingen zu. Zunächst verwirft er zwei zu seiner Zeit gängige Theorien zur Erklärung des besonderen Status organischer Dinge, nämlich die Gestalttheorie Wolfgang Köhlers und die neovitalistische Deutung seines Lehrers Hans Driesch. Die gestaltheoretische Deutung Köhlers erscheint ihm, wie Fischer sagt, »unterkomplex«, insofern sie in einer mechanistischen Einebnung des Lebendigen den Körper als nur graduell – durch die Art der Anordnung seiner Teile gegenüber anderen Körpern – verschiedene Gestalt denkt; die Deutung Hans Drieschs, die im Ausgang von Aristoteles einen Entelechiefaktor im Organismus ansetzt, der für die automorphe, autonome Gestaltbildung und darin für die Ganzheitlichkeit des Körpers verantwortlich ist, erscheint ihm als »überkomplex«, als zu metaphysisch, zumal sie aus seiner Sicht zugleich in der Abhängigkeit der gestalttheoretischen Deutung verbleibt, da sie dem Mecha234 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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nismus nur ein anderes Prinzip entgegensetzt. 123 Plessner gibt Driesch darin Recht, dass sich das Wesen des Organischen nicht aus äußeren Kausalverhältnissen heraus, nicht im Sinne einer Maschine zureichend begreifen lasse. Der lebendige Körper stellt insofern eine Ganzheit dar, insofern er spontan aus einer inneren Dynamik hervorgeht. Der organische Dingkörper muss daher aus Plessners Sicht – gerade insofern er eine Ganzheit ist – in der Tat als eine Form von Phänomenen betrachtet werden, die eine echte Innen/Außen–Differenz aufweisen – d. h. eine Doppelaspektivität. Um diesem Element der Innerlichkeit – in dem die Lebendigkeit des Körpers gründet – gerecht zu werden, schlägt Plessner aber nun anstelle der bloßen Postulierung eines Entelechiefaktors, der als solcher nie nachweisbar ist, eine grenztheoretische Deutung des Organismus vor. Lebendige Dinge sind »diejenigen körperlichen Dinge der Anschauung, an welchen eine prinzipiell divergente Innen–Außenbeziehung als zu ihrem Sein gehörig gegenständlich auftritt.« (Stu, 148) Lebendige Dinge müssen demnach als »grenzrealisierende Körper« betrachtet werden, denn – so Plessners These – die Eigenschaft der Grenzrealisation führe allein zu einer echten Aspektdivergenz des Inneren und des Äußeren. Diese ihre Eigenschaft – im Gegensatz zur Annahme eines Entelechiefaktors – bestimme zugleich »die Grenze des Lebendigen gegen das Unbelebte in anderer und das Gestaltmoment miteinschließender Weise« (Stu, 148). Was versteht Plessner nun unter Grenzrealisation? Plessner leitet den Begriff der Grenze zunächst aus dem der Doppelaspektivität ab: In dem Ding – so, wie es sich in der Wahrnehmung zeigt – gibt es eine Richtung nach innen, nämlich vom Kranz der Eigenschaften hin zum Kern, und eine Richtung nach außen, in der diese Eigenschaften sich als Äußerung eines Inneren kundtun. An einem Ding kann aber, so Plessner, nur eine Richtung nach Innen und eine Richtung nach Außen aufgewiesen werden, wenn an ihm etwas ist, das gegen den Richtungsgegensatz neutral ist. In dieser »neutralen Zone« stoßen beide Richtungen gegeneinander und gehen von ihm aus. Durch sie hindurch gelangt man von einem Gebiet ins andere. Dabei ist einsichtig, dass die richtungsneutrale Zone selbst kein Gebiet einnehmen darf, denn sonst würde sie sich zwischen das Äußere und das Innere einschieben. Folglich handelt es sich um die Grenze. Plessner unterscheidet nun im Folgenden – mit einem Ver123 Vgl. Fischer, Exzentrische Positionalität, a. a. O., S. 272; Mischerlich, a. a. O., S. 61 ff.

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Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

weis auf Hegel (EM, 107) – zwei mögliche, grundsätzlich unterschiedliche Formen der Abgegrenztheit von Körpern: Die Grenze als bloße Begrenzung oder als »Rand« des Körpers und schließlich die echte Grenze, die dann zu Tage tritt, wenn »ein Körper außer seiner Begrenzung den Grenzübergang selbst als Eigenschaft hat« (Stu, 154) – die von ihm selbst realisierte Grenze. Aus Plessners Sicht unterscheiden sich nun lebendige von unbelebten Körpern genau durch diesen feinsinnigen Unterschied von bloßer Begrenzung und realisierter Grenze: »Auf das Verhältnis des begrenzten Körpers zu seiner Grenze kommt es also an.« (Stu, 154) Das kann man auch so formulieren: Im lebendigen Körper ist die Doppelaspektivität selbst zu einer Eigenschaft geworden; der lebendige Körper erscheint – durch die Realisation der Grenze – im Doppelaspekt ineinander nicht überführbarer Richtungsgegensätze. Plessner veranschaulicht den zugrunde liegenden Sachverhalt auch durch folgende, einfache Graphik: K

M

Figur I

K

M

Figur II

Dabei steht K für den Körper, M das angrenzende Medium. Im Fall I handelt es sich nun aus Sicht Plessners um einen unbelebten, im Fall II um einen lebendigen Körper. Worin besteht konkret der Unterschied zwischen beiden Fällen? Im Falle I, so Plessner, ist die Grenze nur das »virtuelle Zwischen dem Körper und dem anstoßenden Medium« (Stu, 154). Die Virtualität dieses Zwischen wird darin ersichtlich, dass es prinzipiell nicht möglich ist, die Grenze eindeutig dem Körper oder dem Medium zuzuordnen: Die Grenze fällt hier zwischen zwei Dinge, zwischen den Körper und sein Medium; sie gehört beiden und insofern weder K noch M an. Sie erscheint als ein reiner, richtungsneutraler Übergang des Einen zum Anderen, insofern die Grenze im ersteren Fall dasjenige Element ist, wo das Zu-Ende-Sein des einen Körpers das Anfangen des Anderen impliziert. Als Übergang des Einem zum Anderen und umgekehrt – vom Anderen zum Einen –, ist die Grenze hier nur als das »Insofern eben dieser wechselseitigen Bestimmtheit«. Auf Grund dieser Wechselseitigkeit kann man nicht sagen, wer bzw. was das Begrenzende ist: »Grenzende und Begrenzer sind korrelativ zugeordnet«. (EM, 108) Im Fall II, im Falle 236 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einführung

des Lebendigen, hingegen gehört die Grenze reell dem Körper selbst an; das Grenzende des einen – z. B. die Haut – ist hier eben nicht identisch mit dem Anfangen eines Anderen bzw. des Mediums. Im Falle des Lebendigen gewährleistet daher die Grenze nicht nur den Übergang zum Anderen, sondern der Körper in seiner Begrenzung vollzieht den Übergang und ist dieser Übergang selbst. Damit gewinnt die Grenze als solche ein Sein; sie ist jetzt nicht mehr der selbst nichts für sich bedeutende Übergang, das Insofern der wechselseitigen Bestimmtheit, sondern sie unterscheidet von sich aus das durch sie begrenzte Gebilde »von dem Anderem als Anderem« (Stu, 154) prinzipiell – d h. erst durch die Grenze tritt ein wirkliches Anderssein zu Tage. Der Körper fängt daher nicht dort an, wo das Medium, an das er grenzt, aufhört (und umgekehrt), sondern er ist dieses Anfangen und Aufhören an ihm selbst; unabhängig – wenn auch nicht in Ablösung – von anderen Seienden. Daher fällt im Falle der Figur II, so Plessner, »das leere Zwischen fort, da die Grenze dem begrenzten Körper selbst angehört« (Stu, 155). Der wechselseitigen Begrenzung von K und M im Falle I steht damit die »absolute« Begrenzung im Falle II gegenüber. Das erklärt aus Plessners Sicht, warum Lebewesen nicht nur wie Wahrnehmungsdinge überhaupt Kraft des Doppelaspektes, sondern im Doppelaspekt erscheinen, denn der Doppelaspekt tritt hier als Eigenschaft in Wesensverknüpfung mit der Gestalt selbst hervor. Damit ändert sich nicht zwingend der Erscheinungsgehalt, wohl aber die Erscheinungsweise des Gegenstandes. Hierfür ist aus Plessners Sicht der Begriff der Gestalt nicht ausreichend. Insbesondere abstrahiert dieser nämlich davon, worauf es Plessner mit seiner Deutung der Grenze wesentlich ankommt– von der Interaktion des Organismus mit seinem Medium. Plessner gibt nun selbst zu bedenken, dass der im Fall II beschriebene Sachverhalt eine »Wesensmöglichkeit der Anschauung« darstellt, deren direkter erfahrungsmäßiger Nachweis allerdings nicht möglich ist. Der Unterschied zwischen belebten und toten Körpern, so wie Plessner ihn postuliert, ist daher unmittelbar kein für sich erfahrbarer Unterschied. Es wäre aber verfehlt zu glauben, dass es darin rein hypothetischen Charakter habe. Der Unterschied ist aus Plessners Sicht insofern ein »in seinen Konsequenzen oder seiner Erscheinung erfahrbarer Unterschied« (Stu, 158), insofern es gelingt, die für alles Leben charakteristischen Funktionen aus ihm abzuleiten: »Gelingt die Entwicklung dieser für alles Leben charakteristischen Funktionen, so erweist sich dadurch der in Fall II dargelegte Sachver237 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

halt als Fundament und Prinzip der konstitutiven Merkmale der organischen Natur.« (Stu, 158) Eben dies leistet Plessner im weiteren Fortgang seiner Naturphilosophie, die insofern kein Panlogismus ist, insofern es in ihr darum geht, »das Leben in seinen wesentlichen Erscheinungen als die Reihe der Bedingungen nachzuweisen, unter welchen alleine eine Gestalt Ganzheit ist.« (Stu, 176) Eine derartige Deduktion der Kategorien unter dem Gesichtspunkt der (als solcher nie direkt erfahrbaren) Grenzrealisierung, bildet aus Plessners Sicht nun den Zentralteil seiner Philosophie des Lebens. Wie aber verhält sich das bisher Gesagte nun zu Hegels Bestimmung der Grenze in der Logik? Offenbar lässt sich dies an dieser Stelle – an der wir noch nicht die Konsequenzen von Plessners »kategorialen Griff« (Fischer) betrachtet haben – noch gar nicht beantworten. Einige Dinge lassen sich nichtsdestotrotz schon an dieser Stelle anmerken. Zweifelsohne hätte Hegel der Gedanke, dass man lebendige Dinge von toten durch die Art und Weise ihrer Abgegrenztheit differenzieren könnte, eher ferngestanden – trotz des bedeutenden Stellenwertes, den Hegel der Grenze in seinen Schriften eingeräumt hat. Dies gründet nicht nur im Unterschied von Hegels spekulativer Methode im Gegensatz zu Plessners hermeneutischer Phänomenologie, die beim Unmittelbaren der Anschauung ansetzt. Vielmehr steht Hegel erstens, wie wir sahen, explizit in einer Tradition von Aristoteles bis Kant, welche die Idee des Lebens mit der Naturteleologie, d. h. der (inneren) Zweckmäßigkeit, verknüpft – ein Gedanke den er, wie wir sahen, in der Logik spekulativ entwickelte und den er in der Naturphilosophie erweisen wollte. Diese Zweckmäßigkeit stellt demnach die Grundkategorie des Organischen in Ablösung vom Chemismus dar. Und zweitens gibt es gute Gründe für die Annahme, dass Hegel – auf Grund seiner systematischen Voraussetzungen – die Eigenschaft der Doppelaspektivität, die aus Plessners Sicht charakteristisch ist für das Organische, auch schon der unbelebten Natur zugesprochen hätte. 124 Trotzdem kann man sich aber schon an dieser Stelle fragen, warum Plessner sich in seiner Metaphysik-Vorlesung 124 Schon z. B. ein Stein verfügt aus Hegels Sicht über eine Grenze bzw. Schranke, insofern »seine Bestimmung oder sein Ansichsein und sein Dasein unterschieden« sind. Daher muss auch der Stein aus Hegels Sicht »über sich hinausgehen«, denn »der Begriff, der er an sich ist, enthält die Identität mit seinem Andern« (LI, 146). Allerdings gibt Hegel zu bedenken, dass der Stein den Begriff nur als abstraktes Ansichsein enthalte; erst das Lebendige vollbringt es von sich aus, »über die Schranke hinaus zu sein und hinauszugehen« (LI, 146).

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Einführung

von 1931/32 bei seiner Unterscheidung von »bloßer Begrenztheit« und »Grenzrealisation« auf Hegel beruft; nämlich wenn er schreibt, dass im Falle unbelebter Körper die Grenze »das leere Zwischen im Sinne Hegels« sei (EM, 107). In der Tat haben wir es nämlich offenbar im Falle von Plessners Unterscheidung zweier unterschiedlichen Formen der Begrenztheit mit einer grundlegenden Transformation der hegelschen Unterscheidung von quantitativer und qualitativer Begrenztheit zu tun: Plessner scheint die quantitative Grenze – von Hegel auch als »Grenze, die keine ist« bezeichnet – in die bloß passive Begrenztheit der unorganischen Körper zu transformieren, während er spezifische Charakteristika der qualitativen Grenze Hegels mit der spezifischen Begrenzung des Lebendigen durch sich selbst in Beziehung setzt: Entscheidend ist hier, dass die quantitative Grenze dem Körper äußerlich ist, während die qualitative Grenze Hegels – ebenso wie die Grenze des Lebendigen Plessners – dem Etwas bzw. dem Lebendigen immanent ist. Die Grenze als »leeres Zwischen« im Falle der toten Dinge – von der Plessner unter Berufung auf Hegel spricht – hat demnach hier ihre Entsprechung in der Auffassung Hegels der quantitativen Grenze als einer »bloß äußerlichen Bestimmung des Daseins« (8, 197), während auch schon Hegel im Falle der qualitativen Grenze, der Grenze, die dem Etwas immanent ist, betont, dass das »Etwas selbst die Negation, das Aufhören eines Anderen an ihm ist«, und dass es somit »als sich negativ dagegen verhaltend und sich damit erhaltend gesetzt« ist. (LI, 135) Hier, in dieser Immanenz-Auffassung der Grenze, liegt eindeutig eine Parallele zu Plessner vor, wenn dieser sagt, dass im Falle des lebendigen Körpers »sein Anfangen und Aufhören unabhängig von außer ihm Seienden« ist (Stu, 155). Allerdings scheint Plessner nun die Verhältnisse bzw. logische Abhängigkeit von quantitativer und qualitativer Grenze im Vergleich zu Hegel in spezifischer Weise umgekehrt zu haben. Denn aus Hegels Sicht ist – wie wir sahen – die qualitative, immanente Grenze ursprünglicher als die äußerliche, quantitative; ontologisch betrachtet hat die quantitative Grenze (als Grenze von etwas) aus Hegels Sicht die qualitative zur Voraussetzung. Das Umgekehrte liegt bei Plessner vor: Hier scheint ontologisch die bloße Begrenztheit der unorganischen Dinge im Sinne einer Stufung ursprünglicher zu sein als die realisierte Grenze des Lebendigen. Des Weiteren geht es Hegel nun bei seiner Definition der Grenze – wie schon bemerkt – nicht darum, die Spezifika des Lebendigen im Sinne Plessners herauszuarbeiten, sondern der abstrahierenden Macht des Verstandes etwas entgegen239 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

zusetzen, insofern dieser das Etwas und sein Anderes beziehungslos gegenüberstellt. Indem Hegel aber in diesem Zusammenhang die Grenze als konkrete »Vermittlung« zwischen dem Etwas und seinem Anderen denkt, trifft sich sein Anliegen der Verstandeskritik bzw. sein absoluter Idealismus hier in einem Punkt mit einem kritischen Anliegen Plessners: Ebenso wie Hegel die Verdinglichung und Isolation des Etwas im Verstandesdenken aufheben will, so will Plessner – wie wir im Kommenden sehen werden – mit seiner Grenzanalyse einer verdinglichenden Auffassung, einer positivistischen Einebnung des Lebendigen entgegenwirken; eine Verdinglichung, die er insbesondere im Lamarckismus und im Darwinismus als Lehren aktiver oder passiver Anpassung walten sah. In dieser Hinsicht konvergiert Plessners Kritik an den Abstraktionsbedingungen der neuzeitlichen Naturwissenschaft zugleich in entscheidender Hinsicht mit der Kritik, die Alfred North Whitehead im Rahmen seiner »organischen Philosophie« unter dem Begriff »simple location« 125 entwickelt hat: Organismen sind aus Whiteheads und ebenso aus Plessners Sicht, nicht einfach in ihr Umfeld wie andere Dinge oder Gegenstände »hineingestellt«, sondern stehen in inneren Beziehungen zu ihrem Umfeld, welche jenseits aller physikalischen Messbarkeit liegen. Eben diese inneren Bezüge werden aus Plessners Sicht durch die Spezifika der organischen Grenzleistungen konstituiert, welche den Organismus gegenüber seinem Umfeld zugleich aufschließen. Gegen die Vorstellung einer einfachen Lokalisiertheit im Raum macht Plessner von hier aus den »positionalen Charakter« organischer Körper im Gegensatz zum anorganischen Körper geltend, die in einer Lehre der spezifischen Eigenräumlichkeit und Eigenzeitlichkeit organischer Körper kulminiert. Hier knüpft Plessner positiv an Aristoteles’ Lehre vom »natürlichen Ort« der Dinge an, der zufolge jedes Ding im Raum einen Ort einnimmt, der seinem inneren Wesen entspricht. Während aber Aristoteles die Lehre vom »natürlichen Ort« gerade auch auf die unbelebte physische Natur bezog, macht Plessner hier geltend, dass sich diese Lehre »nur für die lebendigen Dinge bestätigen lässt« (Stu, 245). Im positionalen Charakter lebendigen Seins wird zugleich die Parallelität von Hegels Analysen der qualitativen Grenze und Plessners Analyse der Grenzfunktionen des Lebendigen noch deutlicher.

125 Vgl. Whitehead, Alfred North, Wissenschaft und moderne Welt, aus dem Englischen übers. v. Hans Günter Holl, Frankfurt am Main 1984, 169 ff.

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3.1.4. Positionalität Plessner gewinnt den für sein System fundamentalen Begriff der Positionalität aus einer weiterführenden Analyse der Grenzleistungen des Lebendigen. Im Falle der unbelebten Körper zeigte sich die Grenze als das leere Zwischen (Z) zwischen dem Körper und dem Medium: K ← Z → M. Die Grenze ist zwischen dem Körper und dem Medium. Im Falle der Organismen hingegen fällt dieses »Zwischen« weg: K ← K → M. Die Grenze gehört hier dem Körper selbst an; der Körper ist, so Plessner, »die Grenze seiner selbst und des Anderen und insofern sowohl ihm als dem Anderen entgegen« (Stu, 181). Plessners in Bezug auf die Wirklichkeit des Lebendigen schlechterdings fundamentale These lautet nun, das ein Körper, der sich gemäß der Formel K ← K → M zu seinen Grenzen verhält, von seinen Grenzen nicht nur eingeschlossen, sondern gegenüber dem Medium aufgeschlossen, mit ihm in Verbindung gesetzt wird. Hieraus folgt, ganz allgemein, dass der Körper »über ihm hinaus« liegt: Der Körper kann nur an ihm selbst die Grenze als Element des Übergehens in Anderes haben, wenn er als dieser Hinausgehen ist: »Das Reellsein der Grenze an einer der einander begrenzenden Größen drückt sich für diese aus als die Weise des Über ihr hinaus Seins«. (Stu, 182) Ein Körper, der sich gemäß der Formel K ← K → M verhält und der über ihm (sich) hinaus ist, ist nun des Weiteren aus Plessners Sicht in seinem Übersich-Hinaussein zugleich ihm entgegen. Aber was soll das heißen, fragt Plessner selber, dass »ein Körper, der messbar dort und dort zu Ende ist«, »ihm entgegen« ist, »wenn er nachweisbar bis zu seinen Grenzkonturen bis an den Rand vor gediegenem Sein strotzt«? Das »Über ihn Hinaus und ihm Entgegen« sein ist, so Plessner, nichts anderes als die anschauliche Präzisierung der Doppelaspektivität. Als Körperding steht das Lebewesen im Doppelaspekt nicht überführbarer Richtungsgegensätze nach Innen (substanzieller Kern) und nach Außen (Mantel der eigenschaftstragenden Seiten). Als Lebewesen tritt das gleiche Körperding mit dem Doppelaspekt als Eigenschaft auf. Diese Eigenschaft besteht darin, dass der Doppelaspekt das phänomenale Ding »in doppelter Richtung transzendiert«, d. h. »es einerseits über es hinaussetzt (streng genommen: außerhalb seiner setzt), anderseits in es hineinversetzt (in ihm setzt)« (Stu, 183). Das »In-es-Hinein-Gesetzt« sein ist die konkrete Form, in der phänomenal das »Ihm-Entgegensein« auftritt. Plessner warnt nun davor, dass Gesetztsein – so wie er es meint – mit einer Setzung des Bewusstseins 241 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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im Sinne Fichtes zu verstehen. Plessner Begriff der Positionalität muss als Vitalkategorie und nicht als Kategorie des Denkens, als Denkakt verstanden werden. Dadurch, dass die Grenze dem Körper angehört, wird das Seiende in doppelter Richtung zu einem Übergehenden. Es wird in diesem Sinne in seinem Sein »Angehoben«; aber so, dass dieses Angehobensein als Bedingung der Möglichkeit erscheint, dass es in es selbst gesetzt werden kann. Hieraus leitet Plessner eine weitere Definition des Lebendigen ab: »In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich also der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter. Hierunter sei derjenige Grundzug seines Wesens verstanden, welcher einen Körper in seinem Sein zu einem gesetzten macht«. Verantwortlich für den positionalen Charakter ist die dem Körper immanente Grenze; das Sein des belebten Körpers wird im Grenzübergang angehoben und damit setzbar. Der Körper ist damit strenggenommen »außerhalb und innerhalb seiner« (Stu, 184). Von dieser Komplikation sind unbelebte Körper aus Plessner Sicht frei: Sie gehen nicht über sich hinaus, transzendieren nicht ihren Ort, sondern sind, soweit sie reichen. Da im Falle der unorganischen Körper dem System selbst seine Grenze nicht zu eigen ist, verfügen sie nicht über jene »doppelte Transzendenz«, kraft derer es allein zu einer »doppelsinnigen Rückbeziehung« auf das System, d. h. zu einer Selbstbeziehung, kommen kann. (Stu, 184) Im lebendigen Dinge tritt diese Selbstbeziehung darin zum Ausdruck, dass der Kern als Träger der Eigenschaften im Charakter des Gesetztsein erscheint; das Sein des Kerns als »hindurchgegangen« erscheint, während im Falle der nicht lebendig erscheinenden Dinge der Kern lediglich als X, als Richtpunkt der Prädikate erschiene: »Dieses Für sich Sein oder Für ihn Sein – so genau unterscheidet die gewöhnliche Anschauung nicht – bildet gewissermaßen den unsichtbaren Rahmen, in welchem das Ding sich gegen seine Umwelt mit jener besonderen Schärfe der Begrenzung abhebt.« (Stu, 185) Hieraus resultiert aus Plessners Sicht die spezifische Räumlichkeit lebendiger Körper im Gegensatz zu unbelebten. Unbelebte Körper sind bloß »raumerfüllend«, während belebte Körper »raumbehauptet« sind. (Stu, 186) Alle Körper – gleichgültig ab lebendig oder tot – sind an einer Stelle im Raum. Aber ein lebendiges, raumbehauptendes Gebilde ist durch seine doppelte Transzendenz, dadurch, dass es über sich hinaus in es hinein gesetzt ist, zur Stelle »seines« Seins in Beziehung gesetzt. Es ist »außer seiner Räumlichkeit in den Raum hinein oder raumhaft und hat insofern seinen natürlichen Ort«. (Stu, 187) Das gilt aus Plessners Sicht 242 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einführung

nicht nur für Menschen und Tiere, sondern auch schon für Pflanzen, die bewegungslos an einem Ort verharren. Plessner unterscheidet nun im Folgenden drei grundlegende Formen positionalen Seins, in denen sich das Lebendige selbst organisiert; Organisationsformen, die allesamt auf dem besonderen Verhältnis des Organismus zu seiner Grenze und der daraus resultierenden Interaktion mit der Umwelt beruhen: die offene Form der Pflanze, die geschlossene Form des Tieres und schließlich die exzentrische Form des Menschen. Entscheidend bei all diesen drei Formen der Positionalität ist, dass Plessner einerseits an der hegelschen Einsicht einer unlösbaren Zusammengehörigkeit von Subjekt und Welt, von Organismus und Umwelt festhält; er aber andererseits diese Zusammengehörigkeit lebensphilosophisch im Sinne eines dynamischen Prozesses denkt, während Hegel bestrebt ist, die Differenz von Subjekt und Welt im Rahmen seiner Dialektik – durch seine Lehre des Übergreifen des Begriffes – zur Auflösung zu bringen. Indem Plessner nun die unterschiedlichen Entwicklungsstufen des Geistes in unterschiedliche Formen von Positionalität transformiert, wird damit – wie Krüger sagt – »die Identität der Identität und Differenz zugunsten einer abschließbaren Differenz durchbrochen«. 126 Diese abschließbare Differenz ermöglicht es, den Prozess des Lebendigen als Lebensprozess im Gegensatz zu einem logischen Prozess im Sinne des »Urteils des Begriffes« bzw. des »logischen Lebens Hegels« zu denken. Nähe und Ferne von Plessners Ansatz zu dem Hegels zeigen sich gerade in Plessners Begriff der doppelten Transzendenz, welcher die Dynamik des Lebendigen charakterisieren soll und aus dem der Begriff der Positionalität als Gesetztsein des lebendigen Körpers seinen Sinn bezieht. Offenkundig hat Plessners Begriff der doppelten Transzendenz bzw. doppelsinnigen Rückbeziehung strukturell viel gemeinsam mit Hegels begrifflicher Fassung eines qualitativ bestimmten Etwas, das insofern als Etwas bestimmt und darin Ansich ist, insofern es aus der vermittelten Rückkehr aus der Andersheit zu sich zurückgekehrt ist. Wie schon bemerkt: »An sich ist Etwas«, Hegel zufolge, »insofern es aus seinem Sein-für-Anderes heraus, in sich zurückgekehrt ist.« (LI, 129) Insbesondere ist Hegel und Plessner die Annahme gemeinsam, dass Etwas durch seine immanente Grenze über sich hinausgetrieben bzw. hinausgesetzt wird, was Bedingung

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der Möglichkeit dafür ist, dass es Rückkehr zu sich (Hegel) bzw. Rückbeziehung auf sich (Plessner) sein kann; wenn auch Plessner dieses »Über-sich-Hinaussein« nicht logisch aus dem Begriff der Grenze, sondern phänomenologisch herleitet. Gemeinsam ist beiden schließlich auch der Gedanke, dass Etwas »in« bzw. »durch« seine Grenze mit seinem Anderen (bzw. dem Medium) in Beziehung gesetzt ist; dass die Grenzen das Etwas also nicht abschließen, sondern gegenüber seinem Anderen auch »aufschließen«. Im Unterschied zu Plessner denkt Hegel diese Dialektik allerdings nun so, dass sich das Etwas in seiner Grenze in einer Weise als seine Grenze vollzieht, dass darin nicht nur seine eigene Endlichkeit, sondern zugleich alles Anderssein aufgehoben ist. Eben hieraus resultiert die affirmative Unendlichkeit (die »gute« kreishafte Unendlichkeit mit Plessners Worten), die Plessner in einem der letzten Sätze der Stufen scharf kritisiert. Plessners Begriff der Positionalität bezieht seinen Sinn hingegen gerade daraus, dass ein Lebewesen in seiner doppelten Transzendenz zugleich etwas unaufhebbar Partikuläres bleibt, das eben darum eine je individuelle Position in der raumzeitlichen Welt einnimmt. Hegels Konzeption der Organismen als existierende Begriffe ist hingegen notwendig mit einem Monismus verknüpft, demzufolge es in letzter Konsequenz nur eine absolute Substanz gibt – den Geist, das Absolute. Um der Partikularität des Lebendigen gerecht zu werden, muss Plessner folglich nun einen anderen Begriff von Entwicklung als Hegel erarbeiten, denn Entwicklung kommt nach Hegel ausdrücklich dem Begriff zu, den das Organische verkörpert – nicht den Einzeldingen: »Die Bewegung des Begriffes ist dagegen Entwicklung, durch welche nur dasjenige gesetzt wird, was an sich schon vorhanden ist.« (8, 308 ff.) In der Annahme, dass das Endliche sich negativ auf sich bezieht, ist aus Hegels Sicht selbst der Tod ein dem Lebensvollzug immanentes Element, insofern sich das Einzelne in einer kontinuierlichen Antizipation des Todes zur Entwicklung bringt. Ja, in letzter Konsequenz ist es der Tod (im Sinne einer kontinuierlichen Antizipation), welcher es überhaupt möglich macht, dass das Einzelne aus seiner Sicht zugleich die Verkörperung eines Allgemeinen, bzw. dass das Allgemeine vereinzelt ist. Eben dies, dass der Identität und Differenz des Einzelnen und des Allgemeinen durch den Tod gestiftet ist, ist der »Standpunkt des Urteils« (8, 319). Das Einzelne ist gerade durch seine immanente Sterblichkeit hindurch von begrifflicher Natur. Eben hier macht Plessner seine Kritik geltend: Der Tod ist aus 244 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einführung

seiner Sicht dem Leben äußerlich und wesensfremd, und nur mittelbar unbedingtes Schicksal; Einzelnes und Allgemeines, Formidee und Individuum, Ausprägung und Satzung bleiben zugleich absolut voneinander getrennt. Gegenüber einem als substanziell gedachten Allgemeinen macht Plessner von hier aus in einem ersten Schritt die Prozesshaftigkeit lebendigen Seins geltend, um in einem zweiten Schritt seine statischen Eigenschaften daraus abzuleiten.

3.1.5. Prozesscharakter und Entwicklung organischen Seins Plessner stimmt mit Hegel darin überein, dass die Grenzverwirklichung des Lebendigen im Sinne der immanenten Grenze einen »ontischen Antagonismus« (Stu, 193) impliziert; der zunächst bedeutet, dass das Lebendige als Grenzrealisierendes notwendig prozessual verfasst ist. »Ein Ding positionalen Charakters kann nur sein, indem es wird: der Prozess ist die Weise seines Seins.« (Stu, 187) Um Prozess zu sein, muss das Ding in seinem Sein gelockert sein, d. h. von sich Abstand nehmen können, denn in dieser Lockerung besteht die einzige Möglichkeit, die Grenze als Übergehen real an sich zu haben. Das »Sein« des Dinges muss als Übergehen aufgefasst werden. Plessner wirft die Frage auf, wie ein solches Übergehen gedacht werden kann, ohne dass das Ding dabei seine Identität verliert. Aus Plessners Sicht liegt dies in der dialektischen Natur des grenzrealisierenden Werdens: »Zum Sein der Grenze gehört außer dem Moment des Übergehens das Moment des Stehens, das unbedingte Halt. Beide Momente bestimmen das Wesen der Grenze als das, was in das Andere führt und zugleich gegen es abschließt.« (Stu, 188) In der Grenze liegt nicht nur der Übergang, sondern in ihr manifestiert sich auch eine Macht des Beharrens. Übergang liegt nur dort vor, wo etwas zugleich bleibt was es ist: »Bleiben, was es ist, und Übergehen sowohl in das, was es nicht ist (über ihm hinaus) als auch in das, was es ist (in ihm hinein), müssen in einem vollzogen werden, um die Art zu ergeben, wie das Organische ist.« (Stu, 189) Daraus ergibt die dialektische Einheit des Werdens und Beharrens: Es gibt einerseits das Werden eines Beharrens, und andererseits das Beharren eines Werdens. Pietrowicz interpretiert diese Einheit folgendermaßen: »In dieser dialektischen Einheit von dynamischem Moment als dem Übergehen des Beharrenden in etwas, was es noch nicht ist, und statischem Mo-

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ment als dem Beharrenden, in dem das Werden wieder zu einen ›Etwas wird‹, liegt der Prozesscharakter des Organischen.« 127

In der Tat scheint Pietrowicz damit den Sinn des folgenden Satzes zu treffen: »Das Werden bestimmt sich als Werden eines Etwas (des Beharrenden) in dem Modus, dass das Beharren das Werden ›trägt‹, oder das Beharren bestimmt sich als das Etwas eines Werdens, wobei das Werden das Beharren trägt. Jede Bestimmungsform ist ein Moment dessen, was Prozess heißt.« (Stu, 189)

Wesentlich ist für Plessner einerseits, dass im Prozess sich etwas verändert und dem permanenten Wandel unterworfen ist, und andererseits dieses Etwas doch bei allem seinem Wandel die Identität bewahrt: Die »Dieselbigkeit des Dinges« im Werden, das »Es des Werdens«, muss gewahrt bleiben. Diese sich durch alle Veränderung durchhaltende Konstante bestimmt Plessner als den Typus oder die Gestaltidee des grenzrealisierenden Dinges. Der Typus – als Garant der Selbstidentität des Dinges – ist die dynamische Form, in der das Ding seine Grenze realisiert. Die dynamische Form ist nicht dasselbe wie die Grenze, sondern als dasjenige, worin das Lebendige seine Grenze realisiert, zugleich dasjenige, worin das Lebendige sich individualisiert, indem die Form all seine einzelnen Grenzsetzungen in ihrer Einzelheit transzendiert. Die dynamische Form ist Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sich etwas in der Grenzziehung kontinuierlich als Etwas bestimmt. So verweist der Gedanke der Positionalität aus Plessners Sicht notwendig nicht nur auf eine Stufung der organischen Welt – zu der wir im Folgenden kommen werden –, sondern auch auf die »Typizität« der organischen Welt, der zufolge das Einzelding, falls es lebt, »Ausprägung einer Formidee« ist und darin zugleich den »Charakter der Individualität« hat (Stu, 193). Worin Form und Prozess miteinander vereinigt sind, dies ist aus Plessners Sicht der Entwicklungszusammenhang der Lebendigen. Das Übergehen des Lebendigen in der Grenzrealisation ist dialektisch verfasst. 1.) Es führt in das, was das Ding nicht ist. 2.) Es führt zurück, in das, was das Ding selbst ist. Folglich muss der Prozess des Lebendigen in sich gegenläufig sein, ohne ein rein kreishaft insich geschlossener Prozess zu sein. Die Gegenläufigkeit muss den spezifischen 127 Pietrowicz, Stephan: Helmuth Plessner. Genese und System seines philosophischanthropologischen Denkens, Freiburg/München 1992, S. 374.

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Einführung

Sinn haben, synthetisch die Bestimmung des »von ihm fort« mit der des »gegen ihn« zu einem neuen Sinn zu vereinigen. Hegel, der auf die Identität der Identität und der Differenz abzielte, bestimmte die logische Entwicklung und damit zugleich auch die der Idee des Lebens im Sinne eines »Kreis von Kreisen« (8, 60). Das Bild wahrhafter Entwicklung ist aus Plessners Sicht hingegen nicht die »kreishafte Unendlichkeit«, sondern die »Schraubenlinie« (Stu, 205), in der sich die Linie geraden Fortschritts mit der Selbstbezüglichkeit des Kreises vereinigen. Das ist nur möglich, wenn das Ding im Prozess nicht nur aus ihm herausgehoben wird, sondern der Körper auch in dem Prozess beständig in ihn hineinversetzt wird: »Das Ausgangsetwas wird das Endetwas; der Körper, im Prozess begriffen, hat ›sich‹ zum Resultat.« (Stu, 196) Die Formidee des Dinges muss daher den Charakter der Zweckursache annehmen; diese ist das Ideal des Prozesses. Als solches ist sie das Ding, wie es sich im Prozess vorweg ist; und gerade durch dieses Sich-Vorwegsein sich in eine ausgezeichnete Beziehung zu sich setzen kann. Entwicklung (Evolution) erscheint auf diese Weise als »notwendige Seinsweise des in der Sukzession des Prozesses ihm selber vorwegseienden Körpers« (Stu, 201). Schließlich impliziert aus Plessners Sicht das dem lebendigen Körper wesenseigene Moment der Entwicklung auch Alter und Tod. Der Entwicklungsprozess des Lebendigen impliziert Alterung, da er in sich selbst gegenläufig ist: »Entwicklung antizipiert ja das Ende, kommt unter Hinfälligkeit, reift der Vernichtung entgegen« (Stu, 206). Anders als Hegel denkt Plessner aber als Resultat dieser Gegenläufigkeit den Tod nicht als »Zusammengehen-mit-sich«, sondern das Lebendige geht »von Altersstufe zu Altersstufe dem Sterben, dem Tod, entgegen« (Stu, 205); es »wächst« dem Tode als seiner »unbedingten Vernichtung zu und fällt ihm schließlich zum Opfer« (ebd.). Zwischen Leben und Tod herrscht aus Plessners Sicht ein Hiatus, den Hegel mit der homogenisierenden Vermittlung überdecke. Aus Plessners Sicht ist der Tod dem Leben unmittelbar äußerlich und unwesentlich, »wird jedoch durch das lebensweltliche Schicksal der Entwicklung mittelbar zum unbedingten Schicksal des Lebendigen« (Stu, 205). Gerade der »unnatürliche Tod« offenbare denselben »als vom Leben Geschiedene, seinsmäßig wesenhaft geschiedene Gewalt« (Stu, 207). Lebewesen sterben in diesem Sinne nicht »von sich aus«, insofern sie ein Allgemeines verkörpern, zudem sie sich zugleich in ihrer Einzelheit im Widerspruch befinden, sondern das Individuum in seiner Entwicklung schafft hier nur die Bedingungen, unter denen Jugend, Reife, Alter und schließlich auch 247 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Tod als »notwendige Möglichkeiten« (Stu, 209) eintreten können. Diesen Bedingungen liegt aus Plessners Sicht letztendlich die Positionalität des Lebendigen zugrunde. Der lebendige Körper kann sterben, da ihm die Grenze angehört. Leben erscheint als fortfahrender Prozess der Selbstdistanzierung, als »Konstitution einer Ferne« (Stu, 211) bis es schließlich durch die Gewalt des Todes »aus ihm selber faktisch hinausgehoben« (Stu, 207) wird. Grene weist in ihrem Aufsatz Positionality in the Philosophy of Helmuth Plessner 128 zu Recht darauf hin, dass Plessners Argumentation hinsichtlich des Todes als relativ »dunkel« erscheint und hinterfragt, ob Plessner den Tod wirklich logisch herleiten kann. In der Tat scheint diese Dunkelheit aber genau das zu sein, auf das Plessner im Gegensatz zu Hegel hinaus will: Die Erweisung des Todes des Endlichen als rational nachvollziehbare logische Notwendigkeit ist genau der Standpunkt, die den Hegelianismus als solchen zentral prägt. 129 Aus Plessners Sicht kann man aber nur begreifen, dass das Leben die strukturellen Bedingungen aufweist, aus denen heraus es den Tod empfangen kann. Aber, so Plessner, »unbegreiflich bleibt, wie das jeweilige Schicksal sich vollziehen kann, es sei denn, man versucht zu Unrecht die beiden schicksalhaften Komponenten, die Formidee bzw. den Tod einerseits, das Leben andererseits miteinander zu vermitteln, d. h. auf dasselbe Niveau des Seins zu bringen«. (Stu, 209)

Plessner macht damit die Unbegreiflichkeit des Todes gegen Hegels absoluten Idealismus geltend, insofern er auf die Kluft hinausweist, die aus seiner Sicht phänomenologisch zwischen Formidee (Begriff) und Einzelding, zwischen Einzelheit und Allgemeinheit liegt: Bei Hegel werden – wie wir sahen – Einzelheit und Allgemeinheit miteinander vermittelt, indem Hegel davon ausgeht, dass das Einzelne seinem Begriff nicht entspricht und daher den Tod in sich trägt; stirbt es aber bzw. vollzieht es sich in einer kontinuierlichen Antizipation des Todes, dann ist diese Nicht-Entsprechung die Weise, in der es in seinem »Nicht-Sein« seinem Begriff eben doch entspricht: Plessner geht hin128 Grene, Majorie, Positionality in the Philosophy of Helmuth Plessner, in: Review of Metaphysics. A Philosophical Quarterly, Volume XX, Nr. 1, Issue Nr. 78 (1966), S. 253. Grene führt diese Dunkelheit zu Recht darauf zurück, dass sich Plessner hier mit dem Denken des deutschen Idealismus auseinandersetzt. 129 Vgl. Theunissen, a. a. O., S. 267, dem zufolge es sich bei der Herleitung des Todes des Endlichen als logische Notwendigkeit um einen »Grundgedanken« Hegels handelt.

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Einführung

gegen davon aus, dass Ausprägung und Formidee »absolut voneinander getrennt« bleiben (Stu, 208). Gleichwohl stimmt Plessner mit Hegel darin überein, dass die Form als Gesetz der Erscheinung des Einzeldings, als Prinzip seiner Individuation zu begreifen ist; auch stimmt er mit Hegel darin überein, dass die dynamische Form die Vermittlung des Inneren und des Äußeren übergreift. Aber die Entwicklung des Lebendigen ist nicht so zu denken, dass sich das Lebendige, das Endliche als seine begriffliche, unendliche Form vollzieht; in dem Sinne, in dem Hegel sagt, der Begriff sei die Formtätigkeit, die nur sich zum Inhalt hat. Das Lebendige aktualisiert vielmehr seine Form nur, die durch diese Aktualisierung mittelbar anschaulich wird. Eine wesensmäßige Differenz zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, dem aktualen und dem potentiellen Sein bleibt damit bestehen.

3.1.6. Die statischen Wesensmerkmale des Lebendigen Zum Wesen der Grenze gehört es des Weiteren, den Körper nicht nur unendlich über ihn hinauszusetzen und ihn in gegensinnige Verbindung mit dem Medium zu bringen, sondern zur Grenze gehört auch das Moment des Trennens, das den Körper – sowie er in seine Grenze gesetzt ist – zu einer für sich seienden Totalität, zu einer lebendigen Ganzheit macht. Obwohl – oder besser – gerade weil die Grenze Bedingung der Möglichkeit der gegensinnigen Verbindung mit dem Medium ist, muss doch, so Plessner, zugleich hervorgehoben werden, dass ein Begrenztes nicht »in der Grenze, sondern sinngemäß vor ihr Halt« (Stu, 214) macht. »Nur in dieser vollkommenen Hemmung äußert sich die abschließende Funktion, die man nicht einfach der Funktion des Aufschließens bzw. des Überleitens subordinieren darf. Es fehlte ja sonst zur oben näher gegebenen Bestimmung des absoluten Richtungswechsels im Grenzübergang die Voraussetzung«. (Stu, 214)

Plessner kommt der Sache nach hier mit Hegel darin überein, dass die Verwirklichung einer solchen Ganzheit, in der die »abschließende Funktion der Grenze« zu Tage tritt, nicht nur die Grenzrealisierung, sondern zugleich deren Gegenteil, die Aufhebung, die »Irrealisierung der Grenze« (Stu, 216) impliziert. Für Hegel ist, wir sahen, diese Irrealisierung ein logischer Prozess, der – auf der Grundlage der dia249 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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lektischen Denkfigur der doppelten Negation, – mit dem Aufweis der immanenten Unendlichkeit des Etwas, d. h. dem Fürsich-Sein anhebt. Das Fürsichsein bestand darin, »über die Schranke, über sein Anderssein so hinausgegangen zu sein, dass es als diese Negation die unendliche Rückkehr in sich ist« (LI, 175). Dabei trat aber als Problem auf, dass das Fürsichsein zugleich Fürseiendes und als solches die ganze abstrakte Grenze seiner selbst ist. So interpretiert Hegel das Fürsichseiende als das Eins und löst den Widerspruch, der in dem Ausdruck »Grenze seiner selbst« angelegt ist, in der Dialektik des Einen und Vielen. Plessners Lösungsweg der Problematik, wie etwas durch sich selbst hindurch begrenzt und in Abhebung von seiner Umwelt »Für sich« durch seine eigene Grenze existieren kann, ist nun sowohl in inhaltlicher als auch methodologischer Hinsicht ein gänzlich anderer, und führt auch zu gänzlich anderen Resultaten – nämlich dem Systemcharakter des lebendigen Einzeldinges. Trotzdem gibt es im Ausgang der Dialektik von Grenzrealisierung und deren Aufhebung (Grenzirrealisierung im Sinne Plessners) so etwas wie ein gemeinsames Grundproblem, das Hegel und Plessner bearbeiten und dessen Lösung bei beiden im Aufweis der Idealität besteht. Aus Plessners Sicht besteht das Problem darin, dass dem Körper die Grenze nicht äußerlich sein darf und sie ihn gleichwohl in irgendeinem Sinne zum Abschluss bringen muss. Die Grenze, so Plessner, ist »keine zusätzliche Bestimmung eines Seienden, die als Teil gelten kann«, weshalb es verfehlt wäre, sie als eine Art »Haut« zu denken, in die der Körper gleichsam eingepfercht ist. Denn das würde dem lebendigen Körper die Eigenschaft, ein »raumbehauptendes Gebilde« zu sein, nehmen. Um die Grenze in ihrer abschließenden Funktion zu denken, muss der Körper vielmehr frei von allen räumlichen Anschauungsbindungen betrachtet werden: »[O]bwohl der Körper bis in seine Grenze reicht (denn die Grenze gehört ihm real an), muss er doch vor der Grenze (als einer Grenze) anhalten und sie außer ihm, d. h. irreal lassen. Realisierung der Grenze heißt dann: Irrealisierung der Grenze« (Stu, 216).

Die Herausforderung besteht von hier aus betrachtet darin, die Realisierung der Grenze mit derer Irrealisierung zusammenzudenken. Das ist nach Plessner nur möglich, wenn man dem Körper eine Selbstbezüglichkeit, ein »Selbst« unterstellt, durch das hindurch er »in ihm (gesetzt)« ist. Das Selbst des Körpers – als Resultat seiner 250 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einführung

doppelten Transzendenz – muss als unräumlicher Zentralpunkt des Körpers gedacht werden. Indem der Körper auf diese Weise in ihm selber ist und von hier aus gleichsam in den Raum ausstrahlt, wird der Körper als Ganzes in Beziehung zu seiner Räumlichkeit gebracht. Die einheitliche Beziehung auf den Zentralpunkt, der als Zentrum des umgrenzten Körpergebietes fungiert, macht dasselbe zu einem System. Ist der Körper in ihm gesetzt, dann erstreckt sich diese systematische Beziehung auf alle den Körper aufbauenden Elemente (Teile) und den Körper als Ganzen. Die Umgangssprache trägt diesem Systemcharakter organischen Daseins aus Plessners Sicht Rechnung indem sie sagt, dass der Körper Teile hat oder dass das Lebewesen als Ganzes einen Körper hat: »Die Weise des Körpers, vor seiner ihm angehörenden Grenze zu Ende zu sein, sie als reale außer dem Gebiet seiner begrenzten Wirklichkeit zu halten, ist das In ihm sein oder das zu ihm, dem Körper, in Beziehung sein, für welche Art von Beziehung die Sprache nur das Wort Haben zur Verfügung stellt. So ist der lebendige Körper ein Selbst oder das in der Einheit aller seiner Teile nicht allein aufgehende, sondern ebenso in den Einheitspunkt (der zu jeder Einheit gehört) als einen von der Einheit des Ganzen abgelösten Punkt gesetzte Sein.« (Stu, 217)

Im lebendigen Körper kommt es – mit anderen Worten – zu einer »Verdoppelung des synthetischen Zentrums« (Stu, 218) und damit zu einer Selbstidentifikation des Kerns, die seine Grenzen sowohl konstituiert als auch transzendiert: Als Subjekt des Habens ist der Körper zugleich über sich hinaus – auch wenn die Eigenschaften oder Teile, die er hat, einen spezifischen, klar abgegrenzten Raum einnehmen. Diese Selbstidentifikation verfehlt die gestalttheoretische Interpretation des Lebendigen. »Lebendige Körper«, so Plessner, »sind aber Ganze in einem mit Gestalthaftigkeit nicht mehr zu deckenden Sinne, weil die zentrale Verknüpfung (bei den übrigen Einheiten bzw. Gestalten einfach Bedingung der Einheit in der Mannigfaltigkeit) selbstständig neben die Mannigfaltigkeitseinheit tritt«. (Stu, 218)

Sie stehen daher nicht nur im Aspekt eines Kerns, der die Einheit des Dinges als einem solchen garantiert – wie alle Dinge –, sondern sind selbst »kernig, kernhaltig« (Stu, 219). Der Kern hat das Ding mit all seinen Eigenschaften in ihrer Wirkeinheit, »er hat die Gestalt mit ihren Eigenschaften, denn er ist« (Stu, 219). Plessner fragt nun nach, wie der Kern des lebendigen Dinges beschaffen ist. Im Raum selbst angesiedelt sein kann er nicht, denn sonst würde er selbst zu einer 251 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Eigenschaft des Dinges hergesetzt werden. Der Kern entfaltet seine Einheitsfunktion vielmehr nur als nur als »imaginäre« oder »ideelle« Mitte (Stu, 220) des vom Körper eingenommenen Raumes. Obwohl selbst nicht räumlich, manifestiert er sich doch in allen Elementen des Raumdinges »in den Raum hinein« (Stu, 220). Die Seinsweise des Kernes muss daher Plessner zufolge als »Sich-zur-Entfaltung-bringen« gedacht werden; denn Entfaltung ist in seinen Augen »jener Modus, nach welchem ein Unräumliches trotzdem als extensive Mannigfaltigkeit existiert« (Stu, 221). Daher muss der Kern bzw. das Subjekt des Habens der Eigenschaften des Körpers als wirkliche Möglichkeit oder als sein Vermögen (Potenz) des Körpers betrachtet werden. Von hier aus greift Plessner auf ein Konzept von Driesch zurück: Durch das Vermögen der Einheit wird der Körper zu einem »harmonisch äquipotentiellen System« (Stu, 221). Driesch zielte mit diesem Begriff auf ein holistisches Verständnis der Teil-Ganzes-Beziehung im Organismus ab, demzufolge sich der Organismus nicht aus seinen Teilen als Ganzheit zusammensetzt, sondern das Ganze zugleich der Möglichkeit nach in all seinen Teilen vertreten ist. In analogen Sinne sagt Plessner: »Indem in jedem Element des lebendigen Raumdinges und zugleich gegenüber jedem Element die Einheit als Vermögen vertreten ist, sind die Elemente äquipotentiell und bilden als Insgesamt ein harmonisch äquipotentielles System«. (Stu, 221) Plessner verweist hier in Anlehnung an Driesch auf die Regenerations- und Restitutionsfähigkeit des lebendigen Körper, der es nicht nur vermag, verletztes Gewebe und verletzte Organe zu regenerieren, sondern sogar ggf. Organe und Körperteile als Ganze nachzubilden vermag – so etwa eine Eidechse, die ihren Schwanz verliert und denselben nachbildet. Aber er hätte sich auch auf Kant berufen können, der – wie wir sahen – ebenfalls die Regenerationsfähigkeit zu einem entscheidenden Kennzeichen des Lebendigen erklärte. In der Regenerations- und Restitutionsfähigkeit des Organismus erweist sich aus Plessners Sicht (ebenso wie aus der Kants), dass der Organismus aus seinen Teilen nicht nur äußerlich zusammengesetzt ist – wie etwa ein Haus aus seinen Stockwerken oder eine Uhr aus ihren Teilen –, sondern dass die Teile in einer inneren Beziehung zum Organismus als Einheit stehen: »[S]ie beziehen sich überdies auf ihn als Einheit, vermitteln seine Einheit in ihm selber und konstituieren damit eben jenes Ganze, von welchem sie als ›Teile‹ loslösbar, dem sie ›eigentlich‹ entbehrlich sind« (Stu, 225). Hierin, einerseits Teile des Ganzen zu sein und andererseits das Ganze, von dem sie Teile, erst zur Einheit zu vermitteln 252 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Einführung

und damit zur Ganzheit zu machen, besteht der »Doppelsinn der Organe« (ebd. Dieser Doppelsinn unterscheidet die Organe von den Teilen eines Ganzen, wie es z. B. eine Uhr oder ein Haus darstellt, die aus ihren Teilen nur zusammengesetzt sind. (Vgl. Stu, 255 ff.) Das Ganze des Organismus muss demnach so gedacht werden, dass es dem Organismus – betrachtet als Mannigfaltigkeit von Teilen – sowohl voraus als auch zugrunde liegt; aber gleichwohl nicht völlig unabhängig von seinen Teilen (Organen) existiert. Auf der einen Seite steht fest, dass die wirkliche Unabhängigkeit des Organismus als Einheit von seinen Organen oft als überraschend weit erscheint, so dass sogar »der Gedanke nicht ganz sinnlos ist, dass man einem Lebewesen sämtliche Organe entfernt, und dabei glauben kann, es selbst trotzdem noch am Leben zu erhalten« (Stu, 226). Auf der anderen Seite ist offenkundig, dass der Organismus dennoch nur durch seine Organe hindurch existiert. Die Frage ist, wie dies beides zugleich möglich ist. Plessner gibt nun auf diese Frage eine Antwort, die ganz eindeutig die bereits erwähnte tiefe Gebundenheit des anthropologischen Denkens des 20. Jahrhunderts an den deutschen Idealismus belegt. Während Driesch die Regenerations- und Restitutionsfähigkeit des Lebendigen durch das Ansetzen des bereits erwähnten Entelechiefaktors zu erklären suchte, greift Plessner hier die hegelsche Idee einer »vermittelten Unmittelbarkeit des Ganzen« (Stu, 252) auf, die er in der Tradition Kants und Hegels einerseits als dialektische Beziehung von Mittel und Zweck in der Organisationsweise des Organismus und schließlich in einer naturphilosophischen Transformation Hegels auf das dialektische Verhältnis von Organismus und Umwelt bezieht. Ausgangspunkt der Betrachtung ist dabei wieder das Verhältnis des lebendigen Körpers zu seiner Grenze: die Positionalität oder das Gesetztsein.

3.1.7. Naturteleologie Während unbelebte Körper über ein unmittelbares Dasein verfügen, ist der lebendige Körper ein »In ihm gesetzt Sein« durch die Verdoppelung, die Selbstidentifikation seines Zentrums. Die Seinsweise des lebendigen Körpers – so Plessner auch – ist ein »Durch ihn hindurch Sein«: »Er vermittelt sein Dasein selbst« (Stu, 230). Daher ist die Inihm-Gesetztheit des organischen Körpers vermittelte Unmittelbarkeit. Ebenso wie Hegel (im Ausgang von Kant) geht nun Plessner davon aus, dass da, wo Vermittlung existiert, es auch Mittel gibt – 253 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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und Zwecke. Die Mittel (oder Werkzeuge im Sinne Kants) der Vermittlung sind nichts anderes als die Organe des Organismus: »[I]m Organ hat das Lebewesen sein Mittel: zum Leben«. (Stu, 229) Demgegenüber ist der Körper als Ganzer »in jeder seiner faktisch erreichten Phasen in ihm selbst Zweck« (Stu, 229). Was aber unterscheidet den unmittelbar seienden Körper von seiner Vermittlung, mit der er zugleich auch zusammenfällt? Plessner führt hier den Begriff der Differenzierung und der Organisation ein. Zu sagen, der Organismus ist ein äquipotenzielles System ist nur die halbe Wahrheit. Harmonische Äquipotenzialität des Organismus hat neben der ungeteilten und nicht zerstörbaren Gegenwart der Einheit als solcher in jedem der Teile die qualitative Differenzierung des Organismus zur Voraussetzung. Die Redeweise vom harmonischen Zusammenspiel macht ohne den Begriff der Differenz keinen Sinn. Das Ganze des lebendigen Körpers ist in diesem Sinne unmittelbar selbst potenziell in all seinen Teilen vorhanden. Das Ganze ist jedoch selbst auch aktuell vermittelt in seinen Teilen vorhanden. Diese Form der Vertretung des Ganzen in seinen Teil liegt vor in der »harmonischen Divergenz spezialisierter Organe« (Stu, 228). Auf Grund dieser Divergenz seiner Organe vermag sich das Ganze (in noch näher zu bestimmendem Sinne) zum Ganzen zu vermitteln. Ontologisch liegt also ein Dreifaches vor: Die Organe des Körpers sind in Bezug auf seine Gesamtheit einfache Teile. In Bezug auf das kernhaltige Selbst des Körpers sind diese Teile aber zugleich Glieder, die der Körper hat, d. h. besitzt. Damit tritt aber das Problem auf, dass der Organismus als Ganzer nicht nur Habender, sondern zugleich Gehabter ist, d. h. der Baum hat seine Blätter, das Tier hat seine Glieder auch noch in anderer Weise als ein Mensch z. B. ein Auto oder einen Füllfederhalter hat – nämlich als Gehabtes: Als Subjekt ist er zugleich das Objekt des Habens. Die Frage ist daher, wie man in theoretischer Hinsicht vom Subjekt des Habens zum Objekt des Habens in ein- und derselben Hinsicht kommt – der Baum der seine Blätter und darin »sich« selbst hat. Eben hier kommt nun aus Plessners Sicht die teleologische Verfassung des Organischen ins Spiel: Das Organ muss als Mittel der Selbstaneignung des Organismus, als »Mittel des Habens« (Stu, 227) gedacht werden: »Ohne Zweifel ist die richtige Vorstellung doch die, dass der Organismus Zweck seiner selbst ist und seine Organe als Mittel für diesen Zweck besitzt und gebraucht, ohne einfach in ihnen substanziell als der Besitzer und Gebraucher aufzugehen«. (Stu, 247) Die Organe müssen in diesem Sinne dem Ganzen dienen. In seiner dienenden Funktion, 254 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Organisationsweisen des Lebendigen

bzw. Dienststellung zum Ganzen konstituiert jedes Teil, jedes Organ zugleich das habende Ganze, das es wiederum selbst trägt und hervorbringt. In diesem Sinne ist auch aus Plessners Sicht im lebendigen Organismus alles wechselseitig Zweck und Mittel im Sinne Kants. Die »innere Teleologie« bestimmt ihrerseits die Organisationsweise des Organismus: »Organisation ist die Daseinsweise des lebendigen Körpers, der sich differenzieren muss und in und mit der Differenzierung jene Teleologie herausbringt, nach der er zugleich geformt und funktionierend erscheint.« (Stu, 229) Um die Organisiertheit des Lebendigen zu verstehen, ist es aus Plessners Sicht nicht erforderlich, »köpertranszendente Idee« oder die »baumeisterliche Phantasie Gottes« zu berufen. Organisation versteht sich vielmehr – so Plessner– wie das Leben aus ihm selbst heraus. Unter »Organisation versteht man die Selbstvermittlung der Einheit des belebten Körpers durch ihre Teile« (Stu, 246).

3.2. Organisationsweisen des Lebendigen Damit stellt sich an dieser Stelle aber nun die Frage: Wie ist es dem physischen Organismus möglich, ein Mittel seiner selbst zu sein, ohne damit seine immanente teleologische Selbstgenügsamkeit aufzugeben? Offenkundig kann der Organismus nicht in demselben Sinne »Mittel« seiner selbst sein, wie er als Ganzer »Zweck seiner selbst« ist. Wenn die Organe der Selbstaneignung des Organismus dienen, dann können sie in dieser Dienststellung offenkundig nicht unmittelbar Selbstzwecke sein: »Der lebendige Körper«, so Plessner, »kann unmöglich in demselben Sinne Zweck und Mittel seiner selbst sein«. (Stu, 247) Hier macht sich nun Plessner eine Einsicht von Kant und Hegel zu eigen, nämlich dass im Selbstzweck die Beziehung auf das Universelle, den Begriff, die Idee angelegt ist, während das Mittel den Charakter der Einzelheit hat. Der Zweck transzendiert seine Mittel in ihrer Einzelheit als die seinen und gerade durch diese Transzendenz werden diese zum Selbstzweck im Sinne eines »Zusammenschließens-mit-sich« vermittelt. Dabei gibt allerdings Plessner der Problematik eine ganz eigenständige Form, in dem er den Zweck-MittelGegensatz biophilosophisch auflöst. Plessner fragt daher zunächst: Wofür ist das Organ Mittel? Und die Antwort lautet offenkundig: Für das Leben. Leben ist die Fundamentaleigenschaft derjenigen Körper, deren Grenzen Begrenzungen sind, und äußert sich in einer 255 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Mannigfaltigkeit von Prozessen, die alle und jeder für sich als Lebensfunktionen analysieren lassen: »Essen, Kämpfen, Laufen oder Anlockung von Insekten, Fortpflanzung, Stoffwechsel – die speziellsten und die fundamentalsten Lebensprozesse sind an Organe gebunden, finden in Organen ihre Vermittlung«. (Stu, 251) Und doch ist jeder einzelne dieser Prozesse nicht das Leben in seiner Universalität, sondern bekundet es nur darin, dass er ihm dient. Das Leben ist also zugleich mehr als jede Einzelne seiner Funktionen – und das nicht nur, insofern es als Inbegriff, als Organisierung all seiner zusammenwirkenden Einzelprozesse betrachtet werden muss. Dieses »Mehr« darf aber aus Plessners Sicht nicht so verstanden werden, als ob das Leben nicht an den Körper und seine Funktionen gebunden wäre: Mag auch das ein- oder andere Organ entbehrlich sein, insofern seine Funktion durch die harmonische Äquipotentialität ersetzt wird: Ohne Organe gibt es gar kein Leben, denn Leben, so Plessner, heißt »in der Vermittlung sein« (Stu, 252): »So wenig es also selbst mehr in seinen Mitteln, den Apparaten seiner Existenz ist, so absolut ist es ihnen verfallen. Denn das Leben schwebt ja nicht wie ein feiner Hauch über dem Körper oder zieht sich durch seine Poren, sondern es ist ganz an den Körper gebunden und kraft seiner ontischen Struktur seine Eigenschaft, nichts weiter.« (Stu, 251)

3.2.1. Organismus und Lebenskreis Nun stellt Plessner die These auf, dass es dem physischen Organismus möglich wird, ein Mittel seiner Selbst zu sein, ohne damit die Selbstgenügsamkeit seiner inneren Teleologie aufzugeben, wenn er als das Lebendige, als Mittel zum Leben, »die Unterscheidung zwischen ihm, dem Lebendigen, und dem Leben an ihm selbst physisch durchführt« (Stu, 252). Damit ist gemeint, dass das »Leben vom Lebendigen abgehoben und durch die Abhebung hindurch mit ihm vereinigt werden« (ebd.) soll. Möglich wird diese Abhebung nun durch die Annahme (die einmal mehr die Nähe Plessners zu Hegel bekundet), dass der Organismus als Ganzer »nur die Hälfte seines Lebens« (Stu, 255) ist. Die andere Hälfte seines Lebens bildet sein »Medium« (wie Plessner in Anlehnung an Driesch 130 sagt) bzw. sein »Positions130 Vgl. Driesch, Hans, Der Begriff der organischen Form, in: Abhandlungen zur theoretischen Biologie, Heft 3 (1919), S. 18: »Der personale Organismus […] ist nicht

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feld«. Der Organismus ist damit »Glied eines Ganzen, das über ihm hinausliegt« (Stu, 257). Dieses Ganze des Lebens nennt Plessner den »Lebenskreis« oder den »Kreis des Lebens«, dessen zwei entgegengesetzte Pole der Organismus und sein Positionsfeld bilden. Physischer Träger der Vermittlung ist dabei das Organ. Hier nimmt Plessner Uexkülls Begriff des Funktionskreises auf: Im Kreis des Lebens bilden Organismus und Positionsfeld, Organe und Positionsfeld einen Funktionskreis. (Stu, 315) Das heißt: »In seinen Organen geht der lebendige Körper aus ihm heraus und zu ihm zurück, insofern die Organe offen sind und einen Funktionskreis mit dem bilden, dem sie sich öffnen. Offen sind die Organe gegenüber dem Positionsfeld.« (Stu, 253) Die Differenz von Organismus und Positionsfeld muss demnach als eine Selbstunterscheidung des Lebens interpretiert werden, auf dessen einer Seite das »Lebendige« als Einzelheit und »Mittel des Lebens« und auf dessen anderer Seite das Positionsfeld als »andere Hälfte des Lebens«, d. h. das Leben in seiner Universalität, steht und den Organismus – gerade in seiner Funktion ein Mittel zu sein – über ihn hinaussetzt und transzendiert. Es wäre dabei im Rahmen der hier entwickelten Sicht völlig verfehlt, wie Hauke meint, zu glauben, dass Plessner hier eine Lösung entwickelt, die nicht überzeugt. Hauke vertritt die These, dass Plessner die die Mittel–Zweck–Antinomie, die im Verhältnis Organ–Organismus als Ganzer angelegt ist, durch die Einbindung des Organismus in den Lebenskreis (als Einheit von Organismus und Positionsfeld) nur im Sinne einer »Staffelung von Bezugssystemen« verschiebt: »Die Antinomie kehrt«, so Hauke, »bei der Betrachtung des Lebenskreises unweigerlich wieder. Dieser ist nämlich zwar Selbstzweck, wird aber zugleich nur aufgrund von Mitteln zusammengehalten und ist daher in Wahrheit nicht minder das Mittel seiner selbst«. 131 Hauke verkennt hier das Problem, um das es Plessner und um das es im Übrigen auch in sachhaltiger Hinsicht geht. Kritisch anzumerken ist zunächst, dass weder Kant noch Plessner von einer echten Antinomie des Zweck-Mittel-Verhältnisses sprechen. Das Problem ist ferner weder aus Plessners, noch aus Kants Sicht, dass der lebendige Organismus, der mehr ist als die Summe seiner Teile, Mittel und (Selbst-)Zweck ist. Wenn Kant sagt, dass ein organisiertes allein auf der Welt. Wir nennen alles Empirische außer ihm, das in irgendwelche Wechselbeziehungen zu ihm treten kann, sein Medium«. 131 Haucke, Kai: Plessner zur Einführung; Hamburg 2000, S. 85.

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Produkt der Natur ein solches ist, in »welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist« (KdU), dann verbirgt sich aus Plessners Sicht das Problem nicht in dem schon von Kant postulierten einheitlichen Zusammenspiel von Zwecken und Mitteln im Organismus; ein Zusammenspiel, das Kant ja sogar schon für den kategorischen Imperativ in Anspruch nahm, demzufolge der eine seinen Anderen nie als bloßes Mittel, sondern zugleich als Zweck behandeln solle: Man könnte es von hier aus gerade als Kants bahnbrechende Einsicht formulieren, dass die Funktion, ein Mittel zu sein, nicht ausschließt, zugleich ein Zweck zu sein. Das Problem, dass Plessner aufwirft und das zugleich auch über Kant und Hegel hinausführt, besteht vielmehr darin, wie die durch Organe vermittelte Unmittelbarkeit des Ganzen in Zusammenhang gebracht werden kann; erstens mit der Wechselwirkfunktion der Organe untereinander und zweites mit deren Zusammenhang mit dem Ganzen des Lebenskreises. Denn wenn die Organe als Mittel, durch die hindurch der Organismus sich selbst aneignet, unmittelbar mit demjenigen Zweck gleichgesetzt werden, der die Einheit des Organismus als System garantiert, dann macht es keinen Sinn mehr, von einer wechselseitigen Zweck-Mittel-Beziehung im Verhältnis Organismus-Organ bzw. der Organe untereinander zu sprechen: Zweck und Mittel fallen einfach zusammen. Ebenso wenig kann aber – wie schon bemerkt – der Organismus als Ganzer in völliger Isolation von seinen Organen begriffen werden, denn damit gäbe er seine vermittelte Unmittelbarkeit auf. Schließlich und endlich ist es ein empirischer Tatbestand, dass die Organe den Organismus nicht in ihrem Zusammenspiel untereinander, sondern primär in Wechselwirkung mit der Umwelt zur Einheit vermitteln: Die Lunge stehen in erster Linie in Wechselwirkung mit der Luft; die Verdauungsorgane mit der Nahrung. Stehen z. B. die Verdauungs- oder Atmungsorgane nicht in Wechselwirkung mit der Nahrung oder der Luft, welche die Umwelt bereit stellt, dann verlieren sie auch ihrem systematischen Zusammenhang im systematischen Ganzen des Organismus, der daraufhin als Ganzer kollabiert (d. h. erstickt, verhungert, verdurstet etc.). Hier zeigt sich Plessner als subtiler Kritiker von Kant: Kant betrachtet ganz ausdrücklich Organismen in Analogie zu Kunstwerken. Daher geht es ihm in seiner Betrachtung in erster Linie um das harmonische Zusammenspiel der Organe untereinander: die innere Vollkommenheit. Er übersieht aber dabei, dass die Organe nicht in erster Linie untereinander oder darin mit dem Organismus als Ganzem in Beziehung stehen, sondern mit der Außenwelt – dem 258 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Positionsfeld mit Plessners Worten. Im Gegensatz zu Kant zieht Plessner zur Lösung des Problems des Verhältnisses Organismus – Organ (bzw. Zweck und Mittel) daher hingegen gerade die Einbindung des Organismus in den ihn transzendieren und zugleich zugehörigen Lebenskreis heran: Mittel seiner selbst und Zweck, Organ und Ganzheit, kann der Organismus nur in der vermittelten Rückkehr aus der »Andersheit« sein. »Der Organismus ist Einheit nur als durch Anderes, als er selbst ist, in ihm vermittelter Körper; Glied eines Ganzen, das über ihm hinausliegt.« (Stu, 257) Die Organe vermitteln den Körper also zur Einheit seiner selbst, aber nur durch den »Kontakt, mit dem, was er nicht ist« (Stu, 255): mit dem Feld seiner Position. Aber das, was der Organismus nicht ist, ist gleichwohl Bestandteil seines Lebens; als Selbständiger ist der Organismus »eingeschaltet in den Lebenskreis einer Gesamtfunktion zwischen ihm und dem Medium, die das Leben selbst durch ihn hindurchleitet« (Stu, 255). Mittel seiner selbst und Zweck seiner selbst ist daher, so Plessner, nur das Leben als ein »Hinaussein des Organismus als des Lebens über ihn« oder »als eine Abhebung, durch welches er wieder zu ihm zurückgeleitet wird, in welchem er sich zur Einheit des Ganzen vermittelt« (Stu, 253). Entscheidend ist sich hier das Moment der Abhebung, der Selbstdistanzierung. Der Kerngedanke von Plessners Hauptschrift besteht gerade darin, dass das Lebendige im Gegensatz zum Toten die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung besitzt; eine Selbstdistanzierung, durch die hindurch es – nach Maßgabe seiner Organisiertheit – Selbstbezüglichkeit aufbauen kann. Dies gilt für Pflanzen, für Tiere und – wie wir sehen werden – in gesteigertem Maße für Menschen. Vielleicht mag hier folgendes Beispiel hilfreich sein: Ein Hammer, mittels dessen ein Nagel in, die Wand geschlagen wird, bezweckt darin nicht sich selbst. Er ist ein Mittel, zu einem Zweck, der außerhalb seiner liegt. Eben darum ist der Hammer nicht lebendig: Er verobjektiviert nicht sich selbst im Hämmern. Der Magen hingegen, der die Nahrung verdaut, der Magen als Organon, als Werkzeug der Verdauung (»Mittel des Habens«), bezweckt darin den Organismus als Ganzen (und darin auch sich selbst); aber nicht in dem Sinne, als das er sich unmittelbar selbst verdauen würde und in diesem Sinne als Mittel unmittelbar Zweck bzw. Objekt wäre. Im Gegenteil: Um das Zusammenfallen von Mittel und Zweck in demselben Sinne zu verhindern (das zu einem Magengeschwür und damit zur Selbstzerstörung des Organs führen würde), baut der Magen sogar eine Schutz259 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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schicht (d. h. die Magenschleimhaut) auf, die seinen unmittelbaren Zweck von ihm selbst abhält – er geht auf Distanz zu sich. Das bedeutet aber nicht, dass der Organismus sich von seiner Nahrung abschottet. In der Nahrungsaufnahme geht der Organismus, dessen Grenzen ihn eben darum gegenüber dem Medium aufschließen, aus Plessners Sicht vielmehr über sich selbst hinaus (d. h. seine Grenze), gibt seine unmittelbare Einheit mit sich auf, begibt sich in das Andere (in diesem Falle die Nahrung), aber zielgerichtet, so dass er in diesem Anderen – der anderen Hälfte seines Lebens – immer schon in Beziehung zur Rückkehr zu sich steht. Rein biologisch betrachtet scheint es sich dabei um einen einfachen Tatbestand zu handeln: Der Magen verdaut die Nahrung und leitet sie daraufhin an den Darm weiter, der der Nahrung die lebensnotwendigen Nährstoffe entzieht. Biophilosophisch ist aber relevant, dass die Organe der Nahrung die Nährstoffe entziehen müssen, damit der Organismus sich zur Einheit mit sich zusammenschließen und darin zu reproduzieren vermag: Im Sinne der vermittelten Unmittelbarkeit liegt die Einheit des lebendigen Organismus mit sich als Zweckursache der Nahrungsaufnahme sowohl voraus, wie zugrunde; aber nicht so, dass der Organismus auch ohne Nahrungsaufnahme überleben könnte. Die Überwindung des Gegensatzes von »Mittel seiner selbst« und »Zweck seiner selbst« wird aus Plessners Sicht dadurch erreicht, dass der Organismus sich im Anderen seiner selbst (Medium/Positionsfeld) zu sich verhält; so dass der Organismus aus dem Anderen seiner selbst je zu sich zurückkehren und darin sich zur Einheit des Ganzen zusammenschließen kann. Die Organe dienen dem Organismus dazu, sich im Anderen seiner selbst zu sich zu verhalten: indem sie den Organismus dem Positionsfeld gegenüber öffnen, so dass der Organismus über sich hinaus und darin zu sich zurückgehen kann. Im Zusammengehen mit sich verwirklicht sich aber dann der Organismus als Ganzer als Zweck bzw. vermittelt sich zu der Unmittelbarkeit des Ganzen, die er als Selbstzweck an sich ist. Das Zusammengehen des Organismus mit sich ist dabei nicht unmittelbar identisch mit der vermittelten Tätigkeit der Organe, insofern diese das Leben des Lebendigen (als transzendentes Phänomen), notwendig durch das Andere, das Medium »hindurchzuleiten« (vgl. Stu, 255) haben. Die Organe dienen in diesem Sinne der Überwindung des Gegensatzes des Organismus und seines Positionsfeldes im Sinne einer Einbindung des Organismus in den Lebenskreis und in dieser Überwindung macht sich die teleologische Selbstgenügsamkeit des Lebens geltend. 260 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Die Differenz zwischen »Mittel seiner Selbst« und »Zweck seiner selbst« sein kommt somit aus Plessners Sicht konkret in der absoluten Bedürftigkeit des Organismus zum Tragen. Wäre der Organismus in demselben Sinne Mittel seiner selbst, wie er Zweck seiner selbst ist, dann könnte der Magen sich in der Tat durch Selbstverdauung am Leben erhalten und eine Einbindung des Organismus in den Lebenskreis als Ganzem wäre überflüssig. Was erforderlich ist, ist aber vielmehr, dass der Organismus sich entäußert, darin in eine mannigfaltige Beziehung zu Anderen seiner Selbst (Medium/Positionsfeld) tritt, und sich aus dieser Entäußerung zurückgewinnt. Auf diese Weise kommt im Umweltkontakt, in der Interaktion des Organismus mit seiner Umwelt, die Selbstbezüglichkeit des Organismus ausdrücklich ins Spiel. Ausdrücklich meint: Der Organismus steht auf Grund seiner Aufgeschlossenheit, die zum Wesen seiner Grenze gehört, in inneren Beziehungen zu seiner äußeren Umwelt; er verinnerlicht dieses Äußere und konstituiert darin – in einer Rückwendung auf sich – sich als Einheit. Eben hierin, in der Überwindung des Gegensatzes von Organismus und Positionsfeld, manifestiert sich die Idealität des Lebens, welche das Lebendige in seiner Einzelheit oder als Mittel seiner selbst von ihm abhebt und transzendiert. Diese Idealität des Lebens ist von der Bedürftigkeit des lebendigen Einzelnen nicht zu lösen; nicht zu lösen davon, dass der »Organismus als Ganzer nur die Hälfte seines Lebens ist« (Stu, 255). Auch ein Auto z. B. ist, um zu fahren, auf Treibstoff angewiesen. Und auch ein Auto besitzt Werkzeuge, um den Treibstoff zu verarbeiten. Aber das Auto ist, um seine funktionale Einheit zu wahren, des Treibstoffes nicht bedürftig. Der Grund dafür liegt darin, dass das Auto nicht darin und dadurch, dass es den Treibstoff in sich aufnimmt, mit sich zur »Einheit des Ganzen« vermittelt wird. Natürlich ist das Auto ist keine übersummenhafte Ganzheit, seiner funktionalen Einheiten sind daher auch keine Organe. Aber dies gründet nicht zuletzt darin, dass das Auto und sein Medium, d. h. sein Treibstoff, in diesem Sinne keinen Lebenskreis bilden, durch den das Leben hindurchgeleitet werden könnte. Das Auto hat kein Leben, weil es sich in der vermittelten Rückkehr aus der Andersheit nicht auf sich rückbeziehen kann. Das Auto ist in diesem Sinne ein Ding, dessen Grenzen es gegenüber seinem Umfeld abschließen. Und was für das Auto als Ganzes gilt, das gilt auch für seine einzelnen funktionalen Einheiten: Sie stehen einander äußerlich als Einzelteile gegenüber, wenn sie auch funktional ineinandergreifen. Die Organe des Organismus stehen hingegen in 261 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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einem inneren Zusammenhang, insofern sie alle die Einheit des Organismus in ihm selber vermitteln. In dieser Vermittlung heben sie zugleich ihren Charakter als Einzelteile auf, indem sie die Selbstintegration des Organismus in den Lebenskreis ermöglichen. Gleichwohl verfügt gerade der entwickelte Organismus über einen hohes Maß an Organ- bzw. Zelldifferenzierung im Sinn einer Arbeitsteiligkeit. Eine zentrale Einsicht von Plessners Stufen – die sich aus dem bisher dargelegten ableiten lässt – besteht darin, dass sich diese Form der Organdifferenzierung oder Arbeitsteilung nicht ablösen lässt von der Differenz, in der der Organismus zu seinem Positionsfeld steht. Plessner erinnert in diesem Zusammenhang an eine These des deutschen Biologen Wilhelm Roux 132, der von einem Kampf der Teile des Organismus sprach. So bilden auch aus Plessners Sicht die Organe des Organismus in erster Linie ein Gegeneinander, einen »Zerfall in eine Fülle einzelner Organe« (Stu, 257). »Aber«, so Plessner, »der Organismus ist dabei nicht einfach der im Kampf um ihn entrückte ›unbewegte Beweger‹, sondern die Einheit des Kampfes, wie sie durch das Gegeneinander der Organe durch die zentrale Einheit vermittelt wird«: »Kämpfen die Teile im Organismus,« so Plessner gegenüber Roux, »dann kämpfen sie in Wahrheit um ihn«. (Stu, 257) Und weil diese Vermittlung durch die Organe und durch jedes Organ stattfindet, so ist »die Einheit mit in das Gegeneinander einbezogen, ja sie ist geradezu dieses Gegeneinander, der Zerfall in eine Fülle einzelner Organe« (Stu, 257). Im Zerfall des Organismus wenden sich die Organe gegen die unmittelbar bestehende Einheit desselben: »[S]ie öffnen den Organismus, ketten ihn an das Medium und nehmen, indem sie vermitteln, nicht nur ihm als der unmittelbaren zentralen Einheit des Ganzen, sondern dem ganzen Organismus und damit natürlich sich selbst die Selbstmacht des eigenen Lebens. Sie machen das Ganze zum Mittel des Lebens, zum Zwischenglied eines Kreises, der nun in Wahrheit sich allein genügt.« (Stu, 256)

Der Organismus konstituiert sich somit dadurch als Einheit, dass er sich zunächst in der Fülle seiner Organfunktionen an das Andere seiner selbst (d. h. sein Medium) verliert, sich entäußert, und sich aus dieser Entäußerung heraus wieder als Zweck aufbaut. Hieraus folgt, dass erstens der Gegensatz von Organismus und Umwelt, zweitens der Gegensatz des Organismus als unmittelbarer Ganzheit und sei132 Roux, Wilhelm, Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmäßigkeitslehre, Leipzig 1881.

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nen Organen, und drittens schließlich der Gegensatz von Mittel und Zweck, alles Seiten ein- und desselben Gegensatzes sind, der durch die Einbindung des Organismus in den Lebenskreis seine Auflösung erfährt. Gerade auch das harmonische Zusammenspiel der Organe ist aus dieser Sicht nur möglich, indem die Organe den Organismus in Kontakt zu dem setzen, dass er nicht ist; damit eine Negation, ein Gegeneinander konstituieren, dass die Bedingung der Möglichkeit eines Miteinanders, eines Einklangs ist: Der Einklang der Organe miteinander ist der Puls eines Lebens, das gerade darin seine Lebendigkeit manifestiert, dass es auch dem Anderen seiner selbst je zu sich zurückschwingt. So wird »Leben vom Lebendigen abgehoben und durch die Abhebung hindurch mit ihm vereinigt«. (Stu, 257) Plessner resümiert: »Der Lebenskreis, dem der Organismus sich eingegliedert, ist die Möglichkeit und Wahrheit dessen, das er Zweck und Mittel seiner selbst heißen darf. Einheit des Lebenskreises und ihr Verlust im Aufstand der Organe gegen die unmittelbare Einheit des Organismus bestimmen ein und denselben Sachverhalt.« (Stu, 257)

Wie aber verhält sich nun dieser von Plessner thematisierte Sachverhalt mit der teleologischen Deutung des Lebendigen durch Kant und Hegel? Wie schon bemerkt, orientiert sich Hegel in seiner Deutung der inneren Zweckmäßigkeit des Lebendigen ausdrücklich an Kant »Die Objektivität des Lebendigen ist Organismus; sie ist das Mittel und das Werkzeug des Zwecks; vollkommen zweckmäßig, da der Begriff ihre Substanz ausmacht; aber deswegen ist dies Mittel und Werkzeug selbst der ausgeführte Zweck, in welchem der subjektive Zweck unmittelbar mit sich zusammengeschlossen ist.« (LII, 476)

In Bezug auf die Annahme solch einer inneren Zweckmäßigkeit des Lebendigen scheinen Kant, Hegel und Plessner – bei allen Differenzen – grundsätzlich übereinzustimmen. Mit Hegel geht Plessner insofern über Kant hinaus, als dass er die Allgemeinheit und Idealität, die bei Kant im Zweckbegriff (im Sinne eines Noumenon) angelegt ist, auf die konkrete Beziehung von Organismus und Umwelt, Ich und Welt erweitert. Wie schon bemerkt: In seiner Einzelheit ist der Organismus nur die Hälfte seines Lebens; ebenso gehören aus Hegels Sicht Subjekt und Welt untrennbar zusammen. In diesem Sinne stimmen Hegel und Plessner darin überein, dass das Lebendige als unmittelbare Einzelheit einen Mangel verkörpert, dem das Bedürfnis entspringt, den Gegensatz von selbst und Welt, Organismus und 263 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Positionsfeld zu überwinden: »Nur das Lebendige fühlt den Mangel«, sagt Hegel, »denn nur es ist in der Natur der Begriff, der die Einheit seiner selbst und seines bestimmten Entgegengesetzten ist« (9, 469) und Plessner betont, dass der Organismus als Hälfte seines Lebens das »absolut Bedürftige geworden ist, das nach Ergänzung verlangt, ohne die er zugrunde geht« (Stu, 255). Während Hegel allerdings jenen Unterschied von Subjekt und Welt – wie sich zeigte – als eine Selbstunterscheidung des Geistes deutet und die Mangelhaftigkeit, die nicht nur dem lebendigen Organismus in seiner Einzelheit, sondern aus seiner Sicht dem Leben der Natur überhaupt zukommt, als einen Mangel an reiner Geistigkeit deutet, interpretiert Plessner die Differenz von Organismus und Positionsfeld im »Lebenskreis« und die daraus resultierende Bedürftigkeit biophilosophisch und strukturfunktional – als eine Selbstunterscheidung des Lebens, d. h. der Natur und nicht des Geistes. Hieraus wird zum einen ersichtlich, warum überhaupt Plessner das Verhältnis von Organdifferenzierung auf der einen und der Differenz von Organismus und Umwelt auf der anderen Seite als zentrales Problem aufwirft; ein Problem, dass bei Kant gar nicht thematisiert wird und bei Hegel allenfalls anklingt. Und hieraus wird zu anderen ersichtlich, warum Plessner im Kommenden die dialektische Figur der vermittelten Rückkehr aus der Andersheit in einen kohärenten Zusammenhang bringen kann mit dem Stoffwechselkreislauf des Lebendigen, während Hegel im Rahmen seines absoluten Idealismus an der These festhält, dass selbst die Ernährung des Lebendigen der Idealisierung, d. h. der Verwirklichung des Begriffes als Einheit seiner selbst und seines Gegenteiles dient. Hier betritt Plessner in theoretischer Hinsicht völliges Neuland; aber in einer Weise, die sich zugleich als schöpferische Weiterentwicklung der Gedanken Kants und Hegels begreifen lässt.

3.2.2. Assimilation und Dissimilation Körperliches Sein ist aus Plessners Sicht begrenzt und hängt im Ort seiner individuellen Existenz mit anderem körperlichen Sein zusammen. Die Grenze der unbelebten Dinge im Sinne einer Isolierung bietet zugleich die Gewähr für seine Eingliederung in den allgemeinen Wirkzusammenhang der Natur. Die Dinge leisten nach Maßgabe ihrer Festigkeit einander Widerstand und leiten Wirkung und Gegenwirkung von einem zum anderen Gebilde. Im Falle des lebendigen 264 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Körpers ist dieses Verhältnis nun aus Plessners Sicht wesentlich komplizierter. Insofern die Grenze im Falle unbelebter Dinge nur ein virtuelles Zwischen bildet, das weder dem einen noch dem anderen Körper angehört, gibt es aus Plessners Sicht auch nur ein relatives »Gegeneinander« von Wirkung und Gegenwirkung, deren Transformierbarkeit ineinander das Raum-Zeit-Kontinuum gewährt. Die Relativität des Gegeneinanders leitet sich daraus ab, dass – wie wir sahen – die Grenze im Falle der unbelebten Dinge einen richtungsneutralen Übergang des einen Dinges zum anderen impliziert. Daher lassen sich dynamische Verhältnisse zwischen unbelebten Dingen nicht mit den Begriffen von Aktion und Reaktion interpretieren: Wenn eine Reihe von Billardkugeln angestoßen wird, pflanzt sich die Wirkung von der einen zur anderen gleichsam ungebrochen fort. Daher kann man nicht sagen, eine angestoßene Kugel würde auf dem Anstoß einer anderen Re-agieren. Denn die Reaktion würde einen gegensinniges Verhältnis, eine echtes Sich-der-Wirkung-Entgegensetzen implizieren. Die Reaktion des lebendigen Organismus ist, so Plessner, »nicht nur eine am Organismus zutage tretende Fortwirkung gegebener Einwirkungen, sondern zugleich eine sie beantwortende, d. h. eine ihnen gegensinnig zugeordnete Wirkung der Reizursache« (Stu, 262 ff.). Wie bereits Hegel andeutete, durchbricht der lebende Organismus die Konstanz der Ursache in ihren Wirkungen. Im Falle der lebendigen Körper kommt es daher aus Plessners Sicht zu einem absoluten »Gegeneinander der Eigenzone des lebendigen Körpers und der Fremdzone des angrenzenden Mediums« (Stu, 258). Dieses absolute Gegeneinander ist aber aus Plessners Sicht streng dialektisch strukturiert: Dem lebendigen Körper gehört die Grenze selbst an. Sie hat darin eine Doppelfunktion, nämlich einerseits die Eigenzone des Körpers von der Fremdzone zu trennen und andererseits beide Zonen miteinander zu verbinden: Die Grenze ist zugleich »Zwischen« und die »Überbrückung dieses Zwischen«. Die Frage ist, wie das möglich ist. Plessner stellt hier folgende These auf: Die Eigenzone, ungeachtet ihrer Entgegengestelltheit gegen die Fremdzone, »zerfällt in ihr selbst, um dadurch die Verbindung mit der Fremdzone herzustellen« (Stu, 258). Wäre die Grenze eine »real gesetzte Zäsur zwischen beiden Zonen« (Stu, 259), dann wäre damit körperliches Leben unmöglich, denn dieses erfordert eine Brückenfunktion der Grenze, die Körper und Medium zugleich miteinander in Verbindung setzt. Mittels des Spaltung der Eigenzone stellt der Körper demnach durch »Selbstzerfall« und »Selbstaufbau« die Bezie265 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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hung mit dem Medium im Sinne einer kontinuierlichen Wechselbeziehung her, ohne die absolute Gegensinnigkeit mit ihr zu relativieren. Auf Grund seiner Positionalität, welche den Organismus »über ihn hinaus« und »in ihn hinein versetzt« und der teleologischen Selbstgenügsamkeit des Organismus, die sich aus Plessners Sicht aus dieser Positionalität und dem widersprüchlichen Charakter der Zweck-Mittel-Relation ableitet, zerfällt der Organismus damit in »zwei gegensinnige Prozesse«, und gliedert sich auf die Weise in den Lebenskreis ein. Bei diesen zwei Prozessen handelt es sich aus Plessners Sicht um nichts anderes als den Prozess der Assimilation und Dissimilation – Energieabgabe und Selbstzerfall auf der einen Seite und Energieaufnahme und Selbstaufbau auf der anderen Seite. Bedingung der Möglichkeit dieser Gegensinnigkeit ist dabei – wie schon bemerkt – der »Selbstzerfall« des Lebendigen: »Ist ein lebendiger Körper in den allgemeinen Kreislauf der Stoffe und Energien eingeschaltet, so muss er mit sich selbst zerfallen, um den Kreislauf durch ihn hindurch zu leiten, sich selbst zur Aufnahme wie zur Abgabe von Stoffen zu befähigen«. (Stu, 258) Plessner knüpft hier nicht nur an Driesch und Roux an, denen zufolge assimilatorische und dissimilatorische Prozesse notwendig das Wesen des Lebendigen kennzeichnen, sondern auch an den österreichischen Physiologen Armin Tschermak, demzufolge sich das Leben durch einen »Doppelsinnigkeit der autonomen Selbstveränderung« 133, durch Selbstabbau und Selbstnachbau auszeichnet: »Würde sich die lebendige Substanz nicht auf der einen Seite nachbauen und selbst ergänzen, so würde sie durch Abbau und Zerfall sich selbst verzehren und dem Tode anheimfallen.« 134 Plessner sieht in dieser These eine Bestätigung seiner Ausgangsthese im Sinne einer antagonistischen Struktur und einer Positionalität des lebendigen Körpers liegen. Assimilation und Dissimilation bestimmen damit die konkrete Form des Prozesses, durch die hindurch sich ein Organismus als dialektischer Selbstzweck in den Lebenskreis einordnet: »Auf diese Weise ist Selbsterhaltung notwendig mit Selbstpreisgabe und -zerstörung gekoppelt, weil nur unter der Voraussetzung einer inneren 133 Vgl. Tschermark, Armin, Allgemeine Physiologie. Eine systematische Darstellung der Grundlagen sowie der allgemeinen Ergebnisse und Probleme der Lehre vom tierischen und pflanzlichen Leben, Bd. 1: Grundlagen der allgemeinen Physiologie, Berlin 1924. 134 Ebd., S. 3.

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Organisationsweisen des Lebendigen

Entgegensetzung und durchgehenden Zerspaltung die Zone des lebendigen Körpers mit der Fremdzone der ihn umgebenden Natur in kontinuierlichen Kontakt kommt«. (Stu, 261)

Hierin liegt, so Plessner, das, was man das »labile Gleichgewicht« (Stu, 261) der lebendigen Substanz nennt, beschlossen. Die Selbsterhaltung des Individuums richtet sich auf diese Weise nicht gegen den Tod oder von außen kommende Bedrohungen, sondern die Labilität ermöglicht das Lebendige geradezu als solches. Assimilation und Dissimilation, Erhaltung und Zerstörung des Selbst konstituieren beide in gleicher Weise das lebendige Ding als wirkendes und zurückwirkendes Ding im allgemeinen Energiekreislauf der Natur. Zugleich ermöglicht gerade die gegensinnige Einordnung in den Lebenskreis das Lebendige dazu, Einwirkungen der Außenwelt an sich herankommen zu lassen und auf sie zu reagieren. Durch seine Offenheit bzw. seinen Selbstzerfall stellt sich der lebendige Organismus auf diese Weise gleichsam in jedem Augenblick hinsichtlich seiner Existenz und seines So-Seins selbst in Frage; ein In-Frage-Gestelltsein, das erst so etwas wie eine beantwortende Reaktion auf seine Umwelt ermöglicht. Auf diese Weise existiert der Organismus in seinem Gegenfeld mit ihm: »[E]r ist mit ihm und gegen es«. (Stu, 263) Der Organismus verfügt damit über einen gewissen Spielraum gegenüber seinem Umfeld, der es ihm ermöglicht, sich auf dasselbe einzustellen. Das Eingestelltsein des Organismus auf seine Umwelt darf aber auf Grund der Brückenfunktion der Grenze und der Zugehörigkeit des Positionsfeldes zum Lebenskreis des Organismus nicht als passive Angepasstheit im Sinne Darwins verstanden werden. Die primäre Wahrheit ist vielmehr aus Plessners Sicht die, dass das Lebendige aus seinem inneren Wesen heraus mit dem Positionsfeld in Einklang steht.

3.2.3. Angepasstheit und Anpassung Plessner entwickelt aus seiner Lehre der grenzrealisierenden Natur eine scharfe Kritik des Darwinismus und des Lamarckismus. Der Naturwissenschaft seiner Zeit wirft er überhaupt vor, dass sie, geschult an der Physik, »die Doppelsinnigkeit des Verhältnisses von Organismus und Umwelt« (Stu, 262) übersehe. Eben diese belegt sich in paradigmatischer Weise im Darwinismus und im Lamarckismus. Beide Theorien, welche die Anpassung bzw. Angepasstheit des Organismus 267 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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an sein Umfeld erklären wollen, machen aus Plessners Sicht den Fehler, dass »sie nämlich Umwelt, Milieu und Organismus von vornehinein zunächst einmal als getrenntes Ganzes behandeln und nun erklären müssen, wie es denn kommt, dass entweder der Organismus von sich aus hin zur Umwelt findet oder umgekehrt, die Umwelt von sich aus zum Organismus findet« (Stu, 117).

Plessner vertritt demgegenüber die These, dass es durch die Brückenfunktion der Grenze zu einer Selbstintegration des Organismus in sein Umfeld im Sinne einer »Vorbemächtigung« (Stu, 274) des Positionsfeldes kommt, durch die hindurch der Organismus schon von vornherein seine Umwelt »in einem eigentümlichen Verhältnis antizipiert« (EM, 117). Plessner charakterisiert die Lehre Lamarcks als Lehre aktiver Anpassung, die Darwins hingegen als Lehre passiver Anpassung. Lamarck hatte die These vertreten, dass die Entstehung und Ausbildung umgebungsentsprechender Organe und Funktionen auf das Streben des Organismus zurückzuführen sind, sich in veränderte Umweltbedingungen einzufügen. Die Zurückbildung der Extremitäten bei Schlangen, die Verkümmerung der Augen beim Maulwurf, oder – um ein berühmtes Beispiel zu verwenden – die Herausbildung des langen Halses bei der Giraffe, wären dementsprechend auf Nichtgebrauch bzw. (im Falle der Giraffe) auf eine fortfahrende Anstrengung, auch höherliegende Blätter erreichen zu können, zurückzuführen. Diese somatischen Modifikationen werden dann von Generation zu Generation vererbt. Wird der Anpassungsvorgang funktional interpretiert im Sinne einer Anpassung der »Funktion für die Funktion«, lässt er sich in Analogie zum Sport als Resultat eines fortwährenden Trainings der Organfunktion interpretieren. (EM, 122) Das ist aus Plessners Sicht der Standpunkt des Psycholamarckismus, wie er etwa von dem deutschen Zoologen August Pauly vertreten wurde. Ein Problem des Psycholamarckismus ist, dass auch er um einen »Vorgriff« im Anpassungsverhältnis nicht herumkommt: So muss die Giraffe die Erfahrung, dass sich in höhergelegenen Regionen Blätter befinden immer schon gemacht haben, um ein Streben nach eben diesen Blättern und die daraus resultierende Verlängerung des Halses zu erklären; oder, um ein »einleuchtenderes« Beispiel Plessners zu wählen: So setzt die Entstehung lichtempfindlicher Organe eine gewisse rudimentäre Lichtempfindlichkeit immer schon voraus: »Vor 268 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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der Entstehung des Organs gibt es für den Organismus kein Licht – also auch kein Bedürfnis nach Licht«. (Stu, 273) Plessner verwirft also den Psycholamarckismus nicht schlechthin, sondern hält ihn als Theorie der funktionellen Anpassung nur für zu einfach. Härter geht Plessner schon mit dem Darwinismus ins Gericht. Seine Kritik deckt sich hier in vielerlei Hinsicht mit der, die Whitehead und in seinem Gefolge auch Popper am Darwinismus übten. »Im Darwinismus«, so Plessner, »wird das Leben eigentlich um seine Lebendigkeit gebracht, es wird zu sehr mechanisch vorgestellt«. (EM, 113) Im Darwinismus als Lehre passiver Anpassung arbeitet die Natur aus Plessners Sicht »automatisch, sie wirkt unwillkürlich züchtend« (EM, 112 ff.). Auf diese Weise tritt durch die Natur eine »gewaltsame Auswahl« (EM, 112) ein. Die Natur verändert sich fortfahrend und nur die Überlebenstüchtigen überleben diese Veränderung. Das Überlebenstüchtigere, das Stärkere ist eo ipso das Anpassungsfähigere – also das »Labilere« (EM, 112). Woran der Darwinismus aus Plessners Sicht scheitert, ist die unendliche Kreativität der Natur, die im Voranschreiten in ein- und demselben Milieu Tausende von Formen erschafft, die alle vollkommen in Einklang mit dem Milieu leben. Eine Theorie der fortfahrenden passiven Selektion im Sinne der »natürlichen Auslese« ließe hingegen eher erwarten, dass am vorläufigen Ende der Entwicklung einige wenige »bestangepasste« Generationen von Arten als Resultat der Auslese existieren, während der große Rest ausgemerzt worden ist. Ein weiteres Problem des Darwinismus besteht aus Plessners Sicht darin, dass auch die primitiven Formen, die am Anfang der biologischen Entwicklung standen, noch heute leben: Das Primitivere müsste aus Sicht des Darwinismus weniger angepasst sein, als das Spätere und daher aussterben. »Dieses Problem der primitiveren Entwicklungsstufen bis auf den heutigen Tag, wo wir ganz späte Stadien an der Herrschaft sehen, kann der Darwinismus nicht erklären. Er kann nicht erklären, wieso in ein- und demselben Milieu eine unendliche Fülle von Organisationstypen existiert. Es müsste nach Darwin so sein, dass das Primitivere dann auch wirklich ausgestorben ist.« (EM, 113)

Die richtige Deutung des Verhältnisses von Organismus und Umwelt muss demgegenüber zunächst davon ausgehen, dass Organismus und Umwelt gar nicht voneinander zu trennen sind. Das organische Leben stellte eine Form der Selbstorganisation des Lebens dar, in der Orga269 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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nismus und Milieu immer schon miteinander verflochten sind; in dem der Organismus »in eigenartigem Sinn durch das Milieu hindurchgreift und umgekehrt« (EM, 119). Der Organismus ist damit aus Plessners Sicht qua Selbstintegration in dem Lebenskreis, dem Positionsfeld, sowohl immanent, wie transzendent; aber auf eine Weise, dass er durch seine Grenze hindurch beide Extreme miteinander verbindet. Wäre der Organismus identisch mit seinem Positionsfeld, dann wäre er vollkommen in dasselbe einpasst, so wie die leibnizsche Monade in ihrer Welt, mit der sie harmoniert. Im Falle der absoluten Immanenz des Positionsfeldes gäbe es nur eine absolute Angepasstheit des Organismus an sein Positionsfeld – keine aktive Anpassung. Wäre hingegen das Positionsgeld die absolute Gegensphäre zum natürlichen Ort des Organismus, ohne ihn zugleich mitzuenthalten, »gewissermaßen nur das Drüben, aus dem ihm Gegenwirkungen treffen und auf das er mit Gegenwirkungen zurücktrifft, so könnte jede Anpassung nur das Ergebnis von Zufällen und Probierversuchen sein. Der Organismus befände sich in seinem Positionsfeld als eine Zone vollkommener Fremdheit, Unvorhersehbarkeit und Unabhängigkeit gegenüber: isoliert und zugleich preisgegeben an eine absolute Transzendenz«. (Stu, 267)

Der wahre Standpunkt ist aber aus Plessners Sicht der, dass der Organismus in seinem Anderen (d. h. dem Medium) sich zu sich verhält und sich mit sich vermittelt. Der Organismus ist »in einem eigentümlichen Sinne eingezwungen in die Umwelt, er ist nicht einfach äußerlich in diese Umwelt beziehungslos hineingesetzt« (EM, 118, Hervorh. S. R.). Daher ist »jedes Objekt, jedes Moment der Umwelt, an das sich der Organismus anpasst und für das er angepasst ist, zugleich eine Art und Weise, wie der Organismus selbst existiert«. (EM, 118) Eben darum macht es Sinn, von einer Selbstintegration des Organismus in seinem Medium zu sprechen. Im Sinne einer solchen Selbstintegration ist der Organismus »exzentrischer Mittelpunkt« (Stu, 265) seines Feldes, Mitte und Peripherie in einem. Als Peripherie (Im-Anderen-Sein) gehört er mit zum Feld, woraus seine Angepasstheit resultiert; als Mitte (In-ihm-Gesetzt-sein) ist er dem Feld gegenüber und damit zu aktiver Anpassung in der Lage. Das Verhältnis ist ein »der Form nach im seinem Gelingen vorgegebenes« (d. h. in Bezug auf den Lebenskreis als Ganzem); »dem Inhalt nach ein gelingendes oder misslingendes«. (Stu, 270): »In dem Feld, dass seinen natürlichen Ort enthält, mit ihm und gegen es gestellt, muss der le270 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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bendige Körper existieren – zwischen Frieden und Kampf, auf Leben und Tod. Deshalb heißt Leben in Gefahr Sein, heißt Existenz Wagnis.« (Stu, 270) Denn die Geborgenheit des Organismus in seinem Umfeld ist auf Grund der Brückenfunktion seiner Grenze und seinem »In-Ihm-Gesetztsein« (im Sinne einer vermittelten Unmittelbarkeit) stets eine solche, die durch eine Selbstgefährdung und Selbstpreisgabe erkauft ist. Auf diese Weise ist der Organismus gleichsinnig und gegensinnig in sein Positionsfeld gestellt, so dass er mit seinem Medium »in gewissen Grenzen harmoniert, ohne durch diese Harmonie eine absolute Bindung einzugehen« (Stu, 268). »Gleichsinnig zum Positionsfeld ist der Organismus Körper und damit den Einwirkungen anderer Körper preisgegeben; gegensinnig zum Positionsfeld ist der Organismus geschlossenes Lebenssystem, eingebettet in ein zu ihm wesensrelatives Umfeld, immanent geborgen.« (Ebd.)

Worauf es Plessner in einer Deutung dieses Zusammenhangs nun wesentlich ankommt, ist »die synthetische Vereinigung gleichsinniger und gegensinniger Stellung im Positionsfeld« (Stu, 268): »Man begreift, wie falsch die Auffassung ist, den Reiz einfach als auslösenden Vorgang zu definieren, dem die Erregung und schließlich die Reaktion als pure Wirkungen folgen«. (Stu, 268) Hier teilt Plessner eine entscheidende Einsicht Hegels, die dieser in der Kritik der Wechselwirkung erarbeitete, welche – wie wir sahen – den Übergang von mechanischen zu organischen Wirkungsweisen konstituierte. Die Beziehung des Lebewesen zu den Objekten seines Positionsfeldes und den von diesen ausgehenden Wirkungen kann nicht mechanisch im Sine des Aufeinanderwirkens zweier Fremdkörper bzw. Zonen (»Aneinanderstoßen«) bzw. zweier Substanzen (aktive und passive Substanz im Sinne Hegels), die sich bloß äußerlich gegenüberstehen, gedacht werden. Auch Plessner vertritt hier die These, dass das Lebendige im gleichsinnigen Kontakt zur Fremdzone, immer schon unmittelbar in gegensinniger Beziehung zu sich als solchem steht: Eben das ist gemeint, wenn Plessner sagt, dass »jedes Objekt, jedes Moment der Umwelt, an das sich der Organismus anpasst und für das er angepasst ist«, zugleich eine »Art und Weise ist, wie der Organismus selbst existiert« (EM, 118). Im Sinne der Dialektik, die dem deutschen Wort »Leiden« (Erleiden/Mögen) innewohnt, erleidet der Organismus damit eine Umwelt, mit der er zugleich in seiner Grenze innerlich harmoniert und korreliert ist. Plessner beruft sich in Bezug auf diesen Tatbestand allerdings nicht auf Hegel, sondern auf Goethe: 271 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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»Aus ungebildeten Organen hat sich das Auge am Lichte fürs Licht gebildet.« Und ein wenig weiter folgt das berühmte Zitat: »Wäre das Auge nicht sonnenhaft, wie könnt es dann das Licht erblicken.« 135 Plessner möchte allerdings (im Gegensatz zu Goethe) diesen Tatbestand nicht so verstanden haben, als ob hier zwei verschiedene Komponenten (bei Goethe »inneres Licht« und »äußeres Licht«, vgl. F 119) zusammenfinden, sondern ihn aus dem Charakter der Positionalität ableiten. Lebendiges Dasein ist sich selbst vorweg, es ist in Bezug auf sein Positionsfeld mit ihm gegen es. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Umwelt ein »Bestandteil des Organismus selbst, eine Organisationskomponente selbst«. (EM, 118) Daher gibt es »von vorneherein« eine Entsprechung von Organismus und Umwelt (z. B. Auge und Licht): Da der Organismus über sich hinaus–in sich hineingesetzt ist, bildet er sich im Anderen für das Andere heran, sowie das Auge am Licht fürs Licht.

3.3. Die Stufung des Organischen: Pflanze und Tier Im vorangegangenen Kapitel hat Plessner den unendlichen Formenreichtum der Natur gegenüber Darwins Theorie der »natürlichen Auslese« stark gemacht. Nun macht er demgegenüber eine entscheidende Einschränkung geltend: Ungeachtet alles Formenreichtums, ist die Form »stets eine bestimmte und lässt sich in jedem Fall dem pflanzlichen der dem tierischen Organismustypus zurechnen« (Stu, 284) – eine Ausnahme bilden allein einzellige Organismen, für die dieser Gegensatz nicht besteht. Sobald aber der Schritt zur Mehrzelligkeit getan ist, scheint eine Art »Zwang zur Entscheidung im Sinne im Sinne der Pflanze oder des Tieres gegeben« (Stu, 282). Plessner vertritt die Hypothese, dass sich damit ein Wesensgesetz des Lebens manifestiert. Dieses Lebensgesetz entspringt der dialektischen Natur der Grenze. Noch 1964 in seinem Aufsatz Ein Newton des Grashalms? unterstreicht Plessner dieses dialektischen Zug seiner Phi135 J. W. v. Goethe, Zur Farbenlehre. Didaktischer Teil. Entwurf einer Farbenlehre, Einleitung (1810), in: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe) Band XIII, hg. v. D. Kuhn u. R. Wankmüller, 7. überarbeitete Aufl., München 1975, S. 323: »Aus gleichgültigen tierischen Hülfsorganen ruft sich das Licht ein Organ hervor, das seinesgleichen werde, und so bildet sich das Auge am Lichte fürs Licht, damit das innere Licht dem äußeren entgegentrete.« S. 324: »Wär nicht das Auge sonnenhaft, wie könnten wir das Licht erblicken?«

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Die Stufung des Organischen: Pflanze und Tier

losophie und daraus resultierende Differenzierung von Pflanze, Tier und Mensch: Man könnte ihn durchaus auch »einen dialektischen Materialisten« nennen, sagt Plessner, »weil die Analyse des Grenzphänomens eine strenge Folge von Widersprüchen zeigt, deren Auflösung jeweils mit dem Erreichen eines neuen Niveaus des Organismus verbunden ist« (8, 260). Wie schon bemerkt: Plessner charakterisiert seine Philosophie eher als eine Form von Dialektik, denn als eine Phänomenologie: »Eine derart apriorische Theorie des Organischen hat, so scheint es, mehr Verwandtschaft mit einer Dialektik als mit einer Phänomenologie. Sie geht von einem Grundsachverhalt, dessen Realität sie durchaus hypothetisch behandelt, aus und gelangt Schritt für Schritt von einer Wesensbestimmung zur anderen. Die Wesensbestimmungen ergeben sich auseinander, ordnen sich in Stufen, offenbaren sich als ein großer Zusammenhang, der damit wiederum als Manifestation des Grundsachverhalts begriffen wird.« (Stu, 167)

Was ist aber nun dieser Grundsachverhalt bzw. Grundwiderspruch? »Für das lebendige Ding«, so Plessner, »besteht ein radikaler Konflikt zwischen dem Zwang zur Abgeschlossenheit als physischer Körper und dem Zwang zur Aufgeschlossenheit als Organismus« (Stu, 283). Bei Einzellern tritt dieser Konflikt zwischen Körperlichkeit (Abgeschlossenheit) und Organisation (Aufgeschlossenheit) nicht als solcher zu Tage, weil es zu keiner Spezifizierung der Zellen und Gewebe kommt – eine Spezifizierung die – wie wir sahen – mit der Notwendigkeit des Sich-Eingliederns in einen Lebenskreis in engen Zusammenhang steht. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Einzeller sich nicht in eine Umwelt eingliedert. Wohl aber scheint Plessner die Auffassung zu vertreten, dass beim Einzeller Selbstsein und Grenze-Sein schlechterdings zusammenfallen. Hierfür spricht auch der Zusammenfall von Tod und Fortpflanzung in der Zellteilung: In Eins mit der aus der Teilung resultierenden neuen Grenzsetzung entstehen zugleich zwei neue Organismen (vgl. Stu, 282, EM, 120). Im analogen Sinne scheint auch Körperlichkeit und Organisiertheit, Ab- und Aufgeschlossenheit für die Umwelt, beim Einzeller in eigentümlichem Sinne »ineins« gesetzt. Wählt aber das Leben einmal den Weg zur Mehrzelligkeit und Spezifizierung, so wählt das Leben den Konflikt zwischen Organisation und Körperlichkeit. Dieser Konflikt muss in der Form im Sinne der Organisationsidee des lebendigen Körpers ausgeglichen werden,

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welche die »dingliche Selbständigkeit« des lebendigen Körpers mit seiner »vitalen Unselbständigkeit« (Stu, 283) vereinigt. Ein solcher Ausgleich ist nun aus Plessners Sicht in zweierlei Form möglich, nämlich »in offener und geschlossener Form«: »Findet der Ausgleich in offener Form statt, so handelt es sich um eine Pflanze, findet der Ausgleich in geschlossener Form statt, so zeigt das lebendige Ding Merkmale des Tieres.« (Stu, 283) Die spezifische menschliche Lebensform und Positionalität leitet sich von hier aus aus der geschlossenen Form des Tieres ab. Plessner betont dabei den ideellen Charakter der Unterscheidung von Pflanze und Tier, die in vielen Eigenschaften nicht voneinander abzuweichen brauchen und in manchen auch übereinstimmen können: »Eine rein empirische Unterscheidung von Pflanze und Tier wird daher stets auf große Schwierigkeiten stoßen, weil sie an der Existenz von Übergansformen nicht vorübergehen kann«. (Stu, 284)

3.3.1. Die offene Form der Pflanze Was versteht Plessner nun unter offener und geschlossener Form? Plessner veranschaulicht die offene Form der Pflanze und die geschlossene Form des Tieres zunächst mit folgender Graphik: P P K

K

Figur I

Figur II

Im Falle der Figur I handelt es sich um die offene Form der Pflanze; im Falle der Figur II um die geschlossene Form des Tieres. Dabei steht K für den lebendigen Körper, P bezeichnet das Positionsfeld und die Kreislinie um die K- und P-Zone den Lebenskreis. Um Plessners Graphik zu deuten, muss man nun seine Definition der offenen bzw. geschlossenen Form hinzunehmen: »Offen ist diejenige Form, welche den Organismus in all seinen Lebensäußerungen unmittelbar seiner Umwelt eingliedert und ihn zum unselbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht«. (Stu, 284) Als geschlossen hat demgegenüber diejenige Form zu gelten, »welche den Organismus in 274 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufung des Organischen: Pflanze und Tier

all seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umwelt eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht« (Stu, 284). Grob gesagt handelte es sich beim Unterschied zwischen Pflanze und Tier also um einen Gegensatz von Unmittelbarkeit und Unselbständigkeit auf Seiten der Pflanze und von Vermitteltheit und Selbständigkeit auf Seiten des Tieres. Eben dies sollen die Graphiken veranschaulichen: In Figur I (d. h. im Falle der Pflanze) wird die Eingliederung des Körpers in den Lebenskreis durch die beide Zonen gleichsinnig verbindende Pfeilrichtung symbolisiert, wobei die Gleichsinnigkeit der Richtungen die Offenheit der Form zum Ausdruck bringt. Offenheit bedeutet, dass der Organismus sich mit allen seinen Funktionsträgern unmittelbar in die Umgebung eingliedert. Was Plessner hier mit unmittelbar meint, wird deutlich, wenn man das pflanzliche Sein mit dem tierischen vergleicht: Das Tier lebt als sich mit seiner Umwelt und darin mit sich selbst vermittelndes Sein in einem von ihm abgehobenen Umfeld, d. h. in der »Relation des Gegenüber« (Stu, 306). Als ein solches seinem Umfeld »Gegenübergestellt-Sein« nimmt das Tier die Position der »Frontalität« (Stu, 308) gegenüber seiner Umwelt ein. Die Frontalität des Tieres ist dabei nicht zu verwechseln mit der Geschlossenheit, die alle physischen Dinge an den Tag legen. Sie ist vielmehr als eine Leistung im Selbstvollzug bzw. der Selbstvermittlung des Tieres innerhalb seines Lebenskreises zu verstehen, dass in diesem Lebenskreis Selbständigkeit gewinnt. Diese Selbstständigkeit soll Figur zwei veranschaulichen, in der der Körper dem Lebenskreis nicht nur gleichsinnig eingebunden ist, sondern sich entgegenstellt. Die Pflanze hingegen steht ihrem Lebenskreis nicht gegenüber. Sie ist daher mit dem allgemeinen Leben, dem Treiben, der Dynamik ihres Lebenskreises unmittelbar eins. Plessner bestimmt sie daher auch als »Übergangswesen« (Stu, 287), das an den Funktionskreis des Gattungslebens hingegeben ist, sich in ihm verliert und in ihm aufgeht. Wenn es das Kennzeichen des Lebendigen ist, die Unterscheidung zwischen ihm, dem Lebendigen, und dem Leben an ihm selbst durchzuführen, so dass das Leben vom Lebendigen abgehoben und durch die Abhebung mit ihm vereinigt ist, dann gilt das gleichwohl auch für die Pflanze. Plessner betont, dass sich »die Pflanze ja doch sehr wesentlich von dem Anorganischen unterscheidet« (EM, 172). Hier liegt, wie Plessner selbst betont, »eine große Schwierigkeit« (ebd.). Auch die Pflanze besitzt aus Plessners Sicht die Fähigkeit zur Selbstdistanzierung – dem Hinausgehen-über-sich. Aber die Pflanze hat diese Distanz bloß 275 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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äußerlich an ihr, ist diese Distanz nur »an sich«: »[D]ie Distanz ist noch nicht für sich geworden«. (EM, 172) Daher ist die Pflanze kein rückbezügliches Sein, das für sie gegeben wäre – kein Selbst, das für sie wäre. Um ein rückbezügliches Sein für sich zu entwickeln, müsste aus Plessners Sicht die Pflanze die Unterscheidung zwischen ihr und ihrem Positionsfeld (im Sinne der anderen Hälfte des Lebens) als einen Antagonismus reflektieren und diesen zugleich überlagern. Dies aber ist aus Plessners Sicht dem Tier – und dem Menschen vorbehalten. Daher ist die Pflanze ein unmittelbares Leben, gänzlich und auf unselbständige Weise eingeschaltet in ihren ihrem Lebenskreis: »Bei offener Form ist die Selbständigkeit an den ganzen Lebenskreis übergegangen, das pflanzliche Individuum ist nur ein Durchgang«. (Stu, 299) Morphologisch betrachtet drückt sich diese unmittelbare Eingliederung so aus, dass, während das Tier seine Organe nach »Innen« im Sinne von »Eingeweiden« verlagert, es zum Wesen der offenen Form gehört, »dem Organismus mit allen seinen an die Umgebung angrenzenden Flächen Funktionsträger sein zu lassen« (Stu, 292). Hieraus resultiert aus Plessners Sicht eine Tendenz zur Herausbildung einer Vielzahl, der Umgebung direkt zugewandten Fläche, die – wie wir im Kommenden sehen werden – »wesensmäßig mit der Unnötigkeit einer Bildung irgendwelcher Zentren zusammenhängt« (Stu, 284). Die der Festigkeit, der Ernährung und der Reizleitung dienenden Gewebe werden nicht von besonderen Organen anatomisch oder funktionell gesammelt, sondern durchziehen den ganzen Organismus. Auf Grund die Fehlens von Zentralorganen, »in denen der ganze Körper gebunden oder repräsentiert wäre«, so Plessner, »tritt die Individualität des pflanzlichen Individuums nicht selbst als konstitutives, sondern nur als äußeres, der Einzelheit der physischen Gestalt anhängendes Moment seiner Form in Erscheinung« (Stu, 284). De facto belegt die Möglichkeit der Vermehrung durch Pfropfung oder Stecklinge, dass die Selbständigkeit der Teile gegeneinander in hohem Maße gewahrt bleibt. Die Pflanze ist daher aus Plessners Sicht sogar besser als ein »Dividuum«, denn als ein Individuum zu verstehen. Ontogenetisch zeigt sich aus Plessners Sicht diese Dividualität an der Erhaltung der Phasen im Aufbau des Individuums. Hier rekurriert Plessner auf seinen Lehrer Driesch: Schon dieser hatte der Pflanze eine offene Form zugesprochen und dies nicht allein »weil bei Pflanzen fast alle Bildung von Oberflächen nach außen hin verläuft«, sondern weil die 276 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufung des Organischen: Pflanze und Tier

Pflanze im wahrsten Sinne des Wortes ein Gewächs ist, das – anderes als das Tier, in gewissen Sinne niemals ausgewachsen ist. Beim Tier hingegen gibt es einen definitiven Endpunkt der Entwicklung: »Tiere erreichen einen Punkt, auf dem sie fertig sind, Pflanzen sind, wenigstens in sehr vielen Fällen, niemals fertig.« 136 Zugleich verläuft die Entwicklung an sich bei Pflanzen ganz andersartig, als beim Tier: »Wenn ein tierischer Keim in seiner Entwicklung von Stadium D zum Stadium G fortschreitet und dabei die Stadien E und F passiert, so können wir sagen, dass das Ganze von D zu dem Ganzen von G geworden ist, aber wir können nicht sagen, dass es einen gewissen Teil von G gibt, welcher D ist; wir können nicht sagen, dass G = D + a ist. Aber bei Pflanzen können wir das: bei pflanzlichen Organismen ist das Stadium G in der Tat = A + B + C + D + E + F + a; alle früheren Stadien sind hier tatsächlich sichtbar als Teile des letzten.« 137

In Bezug auf diese »Dividualität« und Unabgeschlossenheit des pflanzlichen Seins hätte sich Plessner aber auch auf Hegel berufen können, der – wie wir sahen – in Bezug auf das Wachstum der Pflanze die These vertrat, dass das im Vegetabilischen herrschende Wachstum »Vermehrung seiner selbst« ist, als »Veränderung der Form«, während »das animalische Wachstum nur Veränderung der Größe ist, aber zugleich eine Gestalt bleibt, weil die Totalität der Glieder in die Subjektivität aufgenommen ist« (9, 373). Hegel berief sich seinerseits schon bei dieser Beobachtung auf den Berliner Arzt und Botaniker Carl Heinrich Schulz, der schon 1823 die These vertrat, »dass das Wachstum der Pflanze ein ewiges Hinzubilden neuer, nicht vorhandener Teile« 138 ist. In Bezug auf die Dividualität der Pflanze und deren Unabgeschlossenheit weist Plessner ferner auf die geringe Zelldifferenzierung der Pflanze hin: »Immer bleibt so ein ungestaltet gestaltbares Material, dem Keim vergleichbar, als Zone des differenzierten Organismus erhalten, der an ihr unmittelbar eine Reserve zu eigentlichen Formbildung hat.« (Stu, 286) Ein weiteres, entscheidendes Charakteristikum der offenen Form, in welchem die unmittelbare Eingliederung in den Lebenskreis Driesch, Hans, Philosophie des Organischen. Gifford-Vorlesungen, gehalten an der Universität Aberdeen in den Jahren 1907–1908, zweite verbesserte und teilweise umgearbeitete Auflage mit 14 Figuren im Text, Leipzig 1921, 39 f. 137 Ebd. 138 Schulz, Carl Heinrich; Die Natur der lebendigen Pflanzen. Erweiterung und Bereicherung der Entdeckungen des Kreislaufes im Zusammenhange mit dem ganzen Pflanzenleben, Berlin 1823, Bd. 1, S. 617. 136

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anschaulich wird, ist aus Plessners Sicht der Mangel der Ortsbewegung: »Weitaus die meisten Pflanzen leben festsitzend, wie es dem maximalen Eingebautsein ins umgebende Medium entspricht.« (Stu, 288) Allerdings gibt es auch festsitzende Lebensweise bei Tieren. Entscheidend ist aus Plessners Sicht, dass die Pflanze keine willkürlichen – instinktiven, triebhaften oder willentlichen Bewegungen – vollführt. Alle ihren Bewegungen unterliegen den Bedingungen und der Dynamik des Mediums (Tag und Nacht, Helligkeit und Dunkelheit, Wärme und Kälte), von dem die Pflanze selbst einen unselbständigen Abschnitt bildet. Positiv bezieht sich Plessner hier auf die deutsche Philosophin Hedwig Konrad-Martius, die die These vertrat: »[A]lle Bewegungen gehen an der Pflanze vor sich, nie von der Pflanze aus« (Stu, 288). Entscheidend ist für Plessner, dass die Pflanze auf Grund ihrer offenen Form kein Zentrum – im Sinne eines zentralen Nervensystems hat – von dem ausgehend Bewegungsimpulse und damit Spontanbewegung möglich wären. »Eine Pflanze«, so Plessner, »merkt und wirkt daher nicht« (EM, 129), denn sie steht mit ihrem Umfeld in einer »ungetrennten Verbindung« (EM, 128). Hier berührt Plessner ein auch heute noch viel diskutiertes, erforschtes und zugleich rätselhaftes Feld, nämlich die Frage, ob und in welchem Sinne Pflanzen Empfindungsvermögen besitzen. Wenn Plessner sagt: »Empfindung und Handlung, d. h. durch Assoziationen modifizierte, zentral vermittelte Bewegungen widersprechen dem Wesen der offenen Form« (Stu, 290), dann wird man dies aus Sicht der heutigen Schulbiologie bzw. Pflanzenphysiologie wohl nur für die Handlungen und den von Plessner in Anspruch genommenen (und gleichzeitig in Abrede gestellten) Zusammenhang von Empfindungen und Handlungen behaupten können. Die Frage ist dabei letztendlich, was man unter »Empfindungen« versteht. Jedenfalls kann es aus heutiger Sicht keinen Zweifel daran geben, dass die Pflanze Reize aus ihrer Umwelt erfährt und diese Reize beantwortet. Pflanzen reagieren auf eine große Zahl externer und interner Reize empfindlich, und jeder dieser Reize löst einen spezifischen Signalübertragungsweg aus. Die Signalübertragung (durch Hormone oder sekundäre Botenstoffe) verbindet so innere und äußere Reize mit zellulären Antworten. Pflanzen können z. B. nicht nur das Vorhandensein von Licht messen, sondern auch Richtung, Intensität und Wellenlänge bestimmen. Dies ermöglicht ihnen ihrerseits, die Tageszeit und die Jahreszeit zu messen und sich auf diese für sie zentralen Umweltfaktoren anzupassen. Im analogen Sinne sprechen sie auf die Schwerkraft an. Ein weiterer 278 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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interessanter Punkt ist die Empfindlichkeit der Pflanze auf mechanischen Stress und die dadurch ausgelösten Thigmomorphosen (von griechisch thigma = Berührung). Während Tiere sich zielgerichtet auf ihre Umwelt in Verhaltensänderungen einstellen, aber innerhalb einer Art eine konstante Form an den Tag legen, ist der Entwicklungsprozess der Pflanze sehr plastisch. Ein Eichenbaum, der an einem Hang starken Wind ausgesetzt ist, wird einen kürzeren und breiteren, d. h. stämmigeren Stamm entwickeln, so dass er auch kräftigen Windböen widerstehen kann, als ein Eichenbaum, der an einem geschützten Ort wächst. Aber auch geringfügigere Reize können starke Veränderungen hervorrufen: Wenn man die Sprossachse einer jungen Pflanze – z. B. zweimal am Tag – reibt, bleibt sie deutlich kleiner als »unbelästigte« Kontrollen. Pflanzen besitzen weder Nervenzellen noch Synapsen oder Schmerzrezeptoren. Trotzdem konnten in zahlreichen Pflanzen elektrische Aktionspotenziale nachgewiesen werden. Diese sind allerdings um den Faktor 1000 langsamer als bei Tieren. Bei der Mimose, die bei Berührung ihre Blätter zusammenfaltet, so dass ihre Dornen hervortreten, bewegt sich das Signal z. B. von Ort der Stimulierung aus mit einer Geschwindigkeit von ca. einem Zentimeter die Sekunde den Spross entlang. Die Venusfliegenfalle klappt ihre Blattfalle nur zu, wenn ihre feine Härchen die Bewegung registrieren und zweimal im Laufe von 40 Sekunden ein elektrisches Signal senden, dass mit einer Geschwindigkeit von 10 Zentimetern die Sekunde die Blattmittelrippe entlangläuft, und am Ende eine Klappmotor in Gang aktiviert, der die Blattfalle in Gang setzt. Die Liste solcher Leistungen ließe sich ewig fortsetzen. Noch erstaunlicher erscheinen die Fähigkeiten der Pflanzen, mittels Botenstoffen mit der Umwelt und untereinander Kontakt aufzunehmen. Wenn eine Maispflanze oder die Limabohne von Raupen befallen wird, setzt sie Lockstoffe (Alarmone) frei, welche Schlupfwespen anlocken, die ihrerseits Eier in den Raupen ablegen, deren Larven die Raupe von innen aufzehren und damit töten. Diese Stoffe werden auch von den Nachbarpflanzen in der Umgebung aufgenommen, die ihrerseits chemische Reaktionen in Gang setzen. Angesichts der zahlreichen Belege dafür, dass Pflanzen auf Umweltreize in irgendeinem Sinne »reagieren«, erstaunt es denn kaum, dass sich aus der Botanik 2005 das interdisziplinäre Forschungsfeld der Pflanzenneurologie 139 entwickelt hat. 139 2005 gründeten Mancuso und Frantisek Baluska von der Universität Bonn die Gesellschaft für Pflanzenneurobiologie.

279 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

Die Pflanzenneurobiologie konstatiert, dass Pflanzen zumindest viele der Komponenten besitzen, die sich auch in tierischen Nervensystemen finden und greift in dieser Konsequenz sogar auch die Frage nach einer »plant intelligence« 140 auf. Sie bezieht sich dabei auch z. B. auf den indischen Naturwissenschaftler Jagadish Chandra Bose (1858– 1937), der aus der Beobachtung elektrischer Signale zwischen Pflanzenzellen als Reaktion auf Umwelteinflüsse schloss, dass diese über ein Nervensystem, eine Form von Intelligenz sowie über Erinnerungs- und Lernvermögen verfügen müssten. Auch die »rootbrain«-Hypothese von Charles und Francis Darwin, wonach Wurzelspitzen von Pflanzen wie Gehirne niederer Tiere agieren 141, erlebt in der Pflanzenneurologie nach 125 Jahren eine Art »Revival« 142. Ist die Pflanze ein Tier, das gleichsam mit dem Kopf im Boden steckt? Allerdings ist – insofern Pflanzen keine Neuronen besitzen – schon allein der Begriff Pflanzenneurologie in der Fachwelt sehr umstritten und ein erbitterter Streit über den »intellektuellen Status« der Pflanze (wenn solch ein Ausdruck überhaupt erlaubt ist) entbrannt. Den Verfechtern der Pflanzenneurologie wird insbesondere die unzulässige Übertragung von Gemeinsamkeiten zwischen tierischen und pflanzlichen Zellen auf molekularer Ebene (wie dem Vorhandensein von Aktionspotentialen oder neurotransmitterartiger Substanzen) auf höhere funktionale Ebenen (wie Gewebe oder Organe) vorgehalten. Wegen der bei Pflanzen häufigen zellulären Verbindungen entsprächen Transport und Funktionsweise neurotransmitterähnlicher Stoffe – deren Vorhandensein auch in Pflanzen nachgewiesen wurde – nicht den Verhältnissen bei tierischen Zellen. 143 Eine adäquate Wiedergabe der Diskussion der Standpunkte der Pflanzenneurologie und deren heftige Ablehnung durch weite Teile der Fachwelt kann hier nicht ansatzweise geleistet werden. Es scheint allerdings klar ersichtlich zu sein, dass Plessner – auch wenn er auf dem heutigem Forschungsstand wäre – eine Annäherung von Pflanze und Tier auf »neurologischer« bzw. »neurophilosophi140

Anthony Trewavas, Aspects of plant intelligence, Annals of Botany 92, 2003, S. 1–

20. 141 Charles Darwin: The Power of Movements in Plants, John Murry, London 1880, S. 573. 142 Baluška, František/Mancuso, Stefano u. a., The ›root-brain‹ hypothesis of Charles and Francis Darwin. Plant Signaling & Behavior, 4 (12), 2009, S. 1121–1127. 143 Alpi, Amedeo/Amrhein, Nikolaus u. a., Plant neurobiology: no brain, no gain?, Trends in Plant Science, 12 (4), 2007, S. 135–136.

280 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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scher Ebene« aus rein philosophischen Gründen angelehnt hätte; und zwar genau auf Grund seiner konzeptuellen Unterscheidung von »offener« und »geschlossener« Form. Die Gleichsetzung von Reizleitungsprozessen bei Pflanzen mit nervösen Prozessen bei Tieren und Menschen hält Plessner für »haltlos« (vgl. Stu, 289). Der Grund dafür liegt darin, dass Plessner – wie wir im Kommenden sehen werden – die Hervorbringung eines nervösen Systems als eine Leistung des Tieres bzw. der geschlossen Form erachtet, die in sich in einen Antagonismus von Eigenzone und Fremdzone auseinandertritt, und diesen Antagonismus in sich durch die Hervorbringung einer koordinierenden Instanz, die den Körper als Einheit noch einmal in ihm selbst repräsentiert, überlagert. Denn gewisse Teile des Körpers haben nun eben diese Aufgabe, den Körper in ihm selbst zu repräsentieren und »und dies sind die sogenannten Nervenzellen« (EM, 126). Eine logische Folge dieser Annahme ist, dass ein Lebewesen, das nervöses Gewebe besitzt, eine spezifische Distanz zu seinen Körper besitzt, die es ihm nicht nur ermöglicht einen Körper zu haben (wie die Pflanze, d. h. der Baum, der einen Stamm hat; die Blume, die ein Blüte hat etc.), sondern seinen Körper zugleich zu handhaben. Diese Möglichkeit, seinen eigenen Körper zu beherrschen, ist nun genau das, was der Pflanze fehlt. So vertritt Plessner etwa in Bezug auf die Venusfliegenfalle die These, dass selbst fleischfressende Pflanzen keine Angreifer sind, wie dies Tiere sind: das Verschlingen der Beute ist »ein bestimmter und besonders spezialisierter Ausdruck der Verbundenheit der Pflanze mit dem Milieu, mit dem Medium« (EM, 128). Wäre das »Zuschnappen« der Klappfalle ein aktiver Angriff auf die Umwelt, d. h. wäre die Fliege ein »Gegenüber« (im Sinne der Frontalität), dann könnte die Pflanze sich nach derselben Logik auch aktiv gegen störende Umwelteinflüsse verteidigen. Das ist ihr aber offenbar nicht möglich; und zwar aus dem Grunde, weil die Pflanze gar nicht wirklich vom dem Milieu abgesetzt ist, in dem sie heran und aus dem sie nie herauswächst: Die Pflanze bildet nach den Gesetzen des Wachstums spezifische Schutzmechanismen heran, kann diese gedacht nicht im Sinne von Verteidigungswerkzeugen aktiv gegen die Umwelt zum Einsatz bringen. Ob diese Argumente Plessners hinreichend sind, um der Pflanze alle empfindungsmäßigen Prozesse abzusprechen, ist zumindest allerdings fraglich. Plessner geht davon aus, dass Empfindungsvermögen an zentral vermittelte Prozesse und damit letztendlich an rudimentäre Formen von Bewusstsein gebunden ist. Die Frage ist allerdings, ob nicht auch andere, rudimentärere Formen fühlender 281 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Erfassung der Umwelt möglich sind. Auf diese Frage wollen wir am Ende dieses Kapitels noch einmal kurz zu sprechen kommen. Zunächst ist festzuhalten: Die synthetische Verbindung, welche die Pflanze als offene Form mit ihrem Milieu eingeht, zeigt sich aus Plessners Sicht nicht zuletzt an der die Pflanze schlechterdings auszeichnenden Fähigkeit, mit Hilfe des Chlorophylls aus anorganischen Stoffen (Wasser, Erde, Luft) unter Einfluss des Sonnenlichts hochkomplexe organische Verbindungen herstellen zu können: Von dieser Fähigkeit der Pflanze zur Photosynthese, d. h. der Gewinnung chemischer Energie aus Sonnenlicht, hängt, wie wir heute wissen, die gesamte Welt des Lebendigen ab. Für Plessner ist entscheidend, dass diese autotrophe (oder besser: photo-autotrophe) Ernährungsweise wesensmäßig mit der offenen Form zusammengehört – gleichsam sinngemäß mit ihr korreliert ist –, insofern mit ihr einhergeht, dass die formbildenden Flächen der Pflanze ausnahmslos am Stoffwechsel beteiligt sind. Auf Grund des damit gegebenen direkten, unmittelbaren Kontaktes des Körpers mit dem Medium erübrigt sich zugleich jede Differenzierung desselben in Fress-, Verdauungs- und Exkretionsorgane, wie sie die geschlossene Form charakterisieren: »Die ganze Pflanze ist am Stoffwechsel beteiligt, sie kann den Verdauungsprozess nicht lokalisieren an bestimmte Organpartien, an bestimmte Teile.« (EM, 121) Auch hierin ist, wie Plessner mit Goethe sagt, die Pflanze »weder Kern noch Schale, alles ist sie mit einem Male«. Der Pflanze fehlt unter diesem Gesichtspunkt überhaupt die Intimität, die für das höhere Leben kennzeichnend ist: Selbst die Befruchtungsvorgänge spielen sich bei der Pflanze nicht nur öffentlich ab, sondern sind im Wesentlichen vermittelt durch das Medium, in dem die Pflanze lebt, d. h. Wind, Wasser oder Insekten, mit denen die Pflanze in einem offenen Austausch steht. Das unterstreicht aus Plessners Sicht einmal mehr die Unselbständigkeit, mit der die Pflanze in ihren Lebenskreis eingeschaltet, eingebaut ist; d. h. den »Durchgangssinn« des pflanzlichen Lebens, welche den Fluss des Lebens durch sich hindurchleitet, ohne denselben gleichsam in sich zu brechen, oder – wie Plessner im Kommenden sagt – »hemmen« zu können. Plessners Überlegungen zur Pflanze haben unter diesem Gesichtspunkt viel gemeinsam mit Hegels Deutung der Pflanze als »kindliches Lebens«, d. h. mit Hegels These, dass die Pflanze ein Leben ist, dass »aus der Unmittelbarkeit noch nicht herkommt«; ein Leben, dass »in ihm selbst noch nicht zum Unterschiede aufgegangen ist« (9, 372). Das zeigt sich insbesondere, wenn man, wie 282 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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wir im Kommenden sehen werden, Plessners Deutung der PflanzeTier-Differenz mit der Hegels vergleicht: Beide Denker stimmen in dieser Hinsicht darin überein, dass sich das Tier von der Pflanze durch das Vorhandensein einer solchen Selbstunterscheidung unterscheidet. Zugleich ist allerdings offenkundig, dass Plessners Deutung der Pflanze als offener Form gegenüber der hegelschen in vielerlei Hinsicht einen Erkenntnisfortschritt darstellt, da Plessner es vermag, zahlreiche Aspekte des pflanzlichen Daseins, die bei Hegel eher aufgelistet sind, hier einer kohärenten Deutung zuzuführen. Natürlich konnte Plessner dabei auf den Erkenntnisfortschritt der Naturwissenschaften seiner Zeit gegenüber der Hegels zurückgreifen. Dies gilt insbesondere für Plessners Deutung der Photosynthese und des Gesamtstoffwechsels der Pflanze. Hegels These, dass die Pflanze sich im Angleichen an ihre Umwelt und insbesondere im Angleichen an das Licht verwirklicht, ist aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht sicherlich nicht haltbar. Denn die Pflanze gleicht sich ihrem unorganischen Umfeld nicht an, sondern baut daraus komplexere organische Stoffe auf – sie hebt sich damit auf ein höheres Energieniveau. Hier müsste man allerdings aus heutiger Sicht fragen, ob der Pflanze – damit sie eine solche Leistung erbringen kann – eben nicht doch ein rudimentäres Empfindungsvermögen zugesprochen werden müsste. Plessner wendet sich am Ende des Kapitels über die Pflanze in den Stufen kritisch gegen Bergson und hier insbesondere gegen sein Ausspruch: »La plante est un animal endormi.« Das ist, so Plessner, »das Bekenntnis aller Romantiker«: »Weil sie von einer introspektiven Anschauung her die Phänomene des Lebens deuten wollen, suchen sie unwillkürlich in ihnen das Einfühlbare. Einfühlen kann man sich nur in eine Innerlichkeit, in Strebung, Intention, Haltung, in eine Sphäre zentral geschlossener Lebendigkeit, wie sie der Pflanze wesensmäßig fehlt. Also muss sie ›eingeschlafen‹ sein, träumen und sich vom Tier nur durch das Fehlen wachen Bewusstseins unterscheiden.« (Stu, 290)

So stellt sich die Frage, warum die Pflanze nicht einfach aufwacht, wenn sie denn ein schlafendes Tier ist? Möglicherweise weist diese Frage aber vielmehr genau in die umgekehrte Richtung, wie die Forschungen der Pflanzenneurologie, die die Pflanze dem Tier annähern. Die Frage ist: Wieviel an Komplexität ist eigentlich nötig, damit eine basales Empfinden gegeben ist? Mit dieser Frage wird die Abgren283 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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zung vom Unorganischen zum Problem, damit das Verhältnis von Energie, »Materie« und emotionaler Intensität. Auch Plessner kommt nicht umhin, der Pflanze »Streben« zuzusprechen: »Auch die Pflanze kann streben.« (EM, 130) Ferner gehört zum Wesen der Pflanze aus seiner Sicht, ein »primäre Bedürftigkeit« (ebd.): »Das gehört zu jedem Leben, diese Tragödie des Sich-ernähren-Müssens. Da hat das Lebewesen die Möglichkeit, einen Frieden mit der Umwelt zu schließen.« (Ebd.) Nun scheint der Begriff des »Strebens« – der die Pflanze als Lebewesen vom Unorganischen abhebt – keinen Sinn zu ergeben, wenn man nicht davon ausgeht, dass die Pflanze die Befriedigung ihrer Bedürfnisse, bzw. einen Mangel auch empfindet – denn die Pflanze strebt ja z. B. nach Licht, weil sie darin Bedürfnisbefriedigung anstrebt. Anzumerken ist des Weiteren auch, dass Pflanzen als mehrzellige Lebewesen – im Vergleich zum Anorganischen – »spezialisierte Gesellschaften« (Zellverbände) im Sinne Whiteheads darstellen, die an eine spezifische Umwelt, die ihre ökologische Nische darstellt, angepasst sind. So kann ein Farn nicht in der Wüste überleben und eine Palme nicht in Norwegen oder Schweden, wohingegen es für einen Granitblock relativ gleichgültig ist, ob er sich am Nordpol, in der Wüste oder im schattigen Schwarzwald befindet. Es ist unmöglich, an dem Begriff der Lebendigkeit der Pflanze festzuhalten, wenn man diese Anpassungsleistung der Pflanze an ihre spezifischen Umweltbedingungen rein passiv, d. h. mechanistisch, durch bloß physische Vererbung kausal herleitet. Denn wenn das Wesen der Pflanze nichts anderes ist als das Resultat spezifischer, von außen aufgeprägter Bedingungen, dann hat sie kein »Wesen«, dann bleibt für Lebendigkeit und Streben kein Raum mehr. Auch Plessner selbst sagt: »Für das Leben ist Selektion ein apriorischer Modus seines realen Stattfindens in körperlicher Wirklichkeit.« (Stu, 280) Wie auch Popper später dargelegt hat, muss dann aber dem passiven Selektionsdruck im Sinne Darwins, der von außen wirkt, ein aktiver Selektionsdruck des Lebendigen gegenübergestellt werden, der der Lebendigkeit und darin dem Strebecharakter des Lebendigen Rechnung trägt. 144 Während der passive Selektionsdruck durch die Eliminierung inferiorer Mutationen in einer feindlichen Umwelt wirkt, verdankt sich der aktive aus Sicht Poppers dem Drang alles Lebendigen als »die Suche 144 Plessner spricht hier vom »formgewordenen Organismus, der trotz seiner notwendigen Einmaligkeit und Einseitigkeit die ganze Fülle an Möglichkeiten in sich trägt, wie sie der Spielraum seiner Formidee eröffnet«. (Stu, 281)

284 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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nach besseren Umgebungen, nach besseren ökologischen Nischen, nach einer besseren Welt.« 145 Auch der Pflanze muss damit (wenn man an ihrer Lebendigkeit festhält) – in sei es auch noch so rudimentärer Form – zugesprochen werden, dass sie das »Subjekt« ihrer eigenen Entwicklung ist, und sich in diesem Sinne selektiv gegenüber spezifischen Möglichkeiten der Verwirklichung ihrer selbst in einem Umfeld erhält. Es stimmt zwar auch aus Sicht der heutigen Schulbiologie, dass, im Gegensatz zur zielgerichteten Handlung des Tieres, die Pflanze auf Umweltreize vorwiegend durch Anpassung in ihrem Wachstum und ihrer Entwicklung reagiert; d. h., dass stets die Pflanze als Ganze an der Reaktion beteiligt ist – wie dies auch schon Plessner unterstreicht. Aber damit ist nicht ausgeschlossen, dass die Pflanze als Ganze spezifische elementare Verhaltensmöglichkeiten in ihrem Umfeld im Sinne von Elementaralternativen »entscheidet«: Der Eichenbaum hat zahllose Möglichkeiten, seine individuelle Form zu verwirklichen, und wenn er in diesen Möglichkeiten sich zur Entfaltung bringen sollte, dann kann die Realisation einer Möglichkeit nicht allein dem äußeren Druck (etwa der Bewegung des Windes) entspringen, sondern sie stellt eine lebendige Reaktion auf seine Umwelt dar. Damit tritt das Problem der Urteilskraft wieder in Erscheinung. Zumindest wird man dem Strebecharakter der Pflanze wohl nur dann gerecht, wenn man ihr ein basales sympathetisches (oder antipathetisches) »Empfinden« konform (oder nonkonform) mit ihrem Milieu zugesteht. Aber auch schon ein Einzeller – wie ein Pantoffeltier – vermag Hindernisse zu empfinden und zu umschwimmen, obwohl es kein zentrales Nervensystem hat: Trifft ein Pantoffeltierchen auf ein Hindernis, schwimmt es durch Umkehrung des Wimpernschlages ein Stück zurück und vollführt eine leichte Drehung. Wenn man an die höchst sensiblen Reaktionen zahlreicher Pflanzen auf Berührungsreize denkt, scheint gerade auch Plessners Begriff der »offenen Form« solch ein basales (Mit-)Empfinden der Pflanze mit ihrem Milieu nahezulegen. Und wenn für solch ein basales Empfinden kein zentrales Nervensystem erforderlich ist, wie sich dies bei Pantoffeltier zeigt – tritt damit überhaupt die Frage auf, ob nicht eine bioenergetische Betrachtungsweise der Materie erforderlich ist, um die Leistungen des Lebendigen zu verstehen: »Schließlich sind«, wie schon ein so renommierter Zoologe wie Bernard Rensch betont, »auch alle Moleküle des Gehirns aus den gleichen 145

Popper, Karl R., Auf der Suche nach einer besseren Welt, München 1984, S. 26.

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Atomen zusammengesetzt, die auch andere Stoffe bilden«. 146 Daraus folgt unmittelbar, dass die Existenz eines zentralen Nervensystems allein keineswegs erklärt, wieso sich im Laufe der Evolution fühlende und denkende Lebewesen entwickeln konnten; wie also rein toter Stoff organische Strukturen aus sich heraus bilden konnte. Denn es ist, so Rensch, »höchst unwahrscheinlich, dass es zwei prinzipiell verschiedene Materiearten gibt, normale, allenthalben verbreitete und psychophysische«. 147 Die Verknüpfung von materiellen Hirnabläufen mit Phänomenen muss daher Rensch zufolge auf anderen Zusammenhängen beruhen, nämlich darauf, dass die Materie über protopsychische Eigenschaften verfügt. Was darunter aber konkret zu verstehen sein könnte, kann hier nicht mehr diskutiert werden. In Hegels und Plessners Deutung der Pflanze wird zumindest zugleich anschaulich, wie schwierig es ist, die Pflanze einerseits vom unorganischen Sein abzuheben und andererseits vom animalischen zu unterscheiden. 148

3.3.2. Die geschlossene Form des Tieres Die offene Form der Pflanze zeichnete sich durch unmittelbare Eingliederung in ihren Lebenskreis aus, von dem Sie einen unselbständigen Anschnitt bildet. Die geschlossene Form des Tieres ist hingegen eine solche, »welche den Organismus in all seinen Lebensäußerungen mittelbar seiner Umwelt eingliedert und ihn zum selbständigen Abschnitt des ihm entsprechenden Lebenskreises macht« (Stu, 284). Während im Falle der Pflanze all ihre äußeren Flächen, mit denen sie an die Umwelt angrenzt, Funktionsträger sind, äußert sich die geschlossene Form in einer starken »Abkammerung« des Lebewesens gegenüber seiner Umwelt. Die Abkammerung hat dabei den Sinn der »mittelbaren Eingliederung in das Medium«: »Auf Grund des vermittelnden Kontaktes bleibt dem Organismus nicht nur eine größere Geschlossenheit als dem pflanzlichen Lebewesen gewahrt,

146 Rensch, Bernard, Neue Probleme der Abstammungslehre. Die transspezifische Evolution, Stuttgart 1972, S. 413. 147 A. a. O., S. 416. 148 Sehr kritisch setzt sich auch Mitscherlich mit Plessners Deutung der Pflanze auseinander. Sie vertritt die These, dass Plessner die Individualität der Pflanze unterbestimmt. Vgl. a. a. O. S. 153 ff.

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sondern er erhält echte Selbständigkeit, d. h. Gestelltheit auf ihm selber, die zugleich eine neue Existenzbasis bedeutet.« (Stu, 292)

Wie aber bringt der Organismus dies fertig, Distanz zum Lebenskreis zu gewinnen, ohne sich gegen denselben abzuschließen, insofern er auf die Vermittlung seiner mit dem Medium lebensnotwendig angewiesen ist. Von einer mittelbaren Eingliederung in den Lebenskreis wird man aus Plessners Sicht nur sprechen dürfen, wenn es dem Organismus gelingt, Zwischenglieder zwischen sich und dem Medium einzuschalten, die für ihn den unmittelbaren Kontakt mit dem Medium übernehmen: Die Organe. Um Organe als Werkzeuge des vermittelten Umweltkontaktes haben zu können – etwas, was die Pflanze, wie wir sahen, noch nicht vermag – muss aber der Organismus zunächst auf ein »anderes Seinsniveau« (Stu, 292) gelangen. Wie ist dies konkret zu denken? Wenn der Körper des Organismus geschlossen sein soll, dann muss der Organismus die Fähigkeit haben, sich von seiner Umwelt abzugrenzen. Das besagt dann aber, dass der Körper die »Grenze in ihm selber haben muss«, d. h. er muss in ihm selbst in einen Antagonismus zerfallen. Dabei muss es aus Plessners Sicht eine höchste, den Antagonismus überlagernde und ausgleichende Zusammenfassung innerhalb des Organismus geben, welche die Einheit des Organismus verbürgt und zugleich das Gegeneinander technisch aufrechterhält. Diese Einheit, die Plessner auch das Zentrum des Organismus nennt, bedeutet konkret das höhere Seinsniveau, auf das der Organismus im Falle des Tieres gelangt. Der Antagonismus, welchen das Tier verkörpert, wird aus Plessners Sicht darin anschaulich, dass das Tier – im Gegensatz zur Pflanze – in zwei Organzonen auseinanderfällt; wobei beide Sphären von einer dritten – nämlich dem Nervensystem – überbrückt und miteinander vermittelt werden. Bei diesen beiden Organzonen handelt es sich um den »sensomotorischen Funktionskreis« (vgl. Stu, 293; EM, 125), wie Plessner in ausdrücklicher Anlehnung an Uexküll sagt, bei dem sich stets eine sensorische und eine motorische Phase voneinander unterscheiden lassen; aber ebenso sich die Einheit beider Phasen im nervösen System nachweisen lässt. Der Unterschied von sensorischen und motorischen Funktionskreis entspringt aus Plessners Sicht zwei grundlegenden Arten von Beziehungen, die der Organismus zum Medium einnehmen kann: die passiv hinnehmende und die aktiv gestaltende Beziehung. »Einmal nimmt der Organismus das Medium hin, das Medium gestaltet, dann wieder 287 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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gestaltet der Organismus des Medium, und das Medium nimmt hin.« (Stu, 295) Hier liegt eindeutig in inhaltlicher Hinsicht eine interessante Parallele zu Hegels Kritik der Wechselwirkung vor: Auch Hegel übersetzte – wie wir sahen –, um zum Begriff und damit zur Wirklichkeit des Lebendigen vorzudringen, Aktivität und Passivität in die spezifische Kausalität des Lebendigen. Hegel deutete – wie wir sahen – die passive Substanz der Wechselwirkung, welche Wirkungen erleidet, als Allgemeinheit und diese als Sensibilität; während er die aktive Substanz als Einzelheit und diese als individuelle Reproduktivität deutete. Unter Reproduktivität verstand Hegel dabei ausdrücklich das Fürsichsein als »reelle Beziehung nach außen, die Reflexion der Besonderheit oder Irritabilität gegen ein Anderes, gegen die objektive Welt« (LII, 480). Hegels und Plessners Deutungen berühren sich damit gerade in dem Punkt, an dem die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Entstehung von Bewusstsein relevant wird, &d. h. der Verknüpfung und der Koordination sensorischer und motorischer Impulse – aber damit greifen wir schon vor. Die aktive Beziehung des Organismus auf seine Umwelt belegt Plessner auch mit Wort »Wirken«, die passive mit dem Wort »Merken«. Die Merkwelt und die Wirkwelt des Tieres, deren Auseinandertreten zugleich einen inneren Antagonismus des Organismus im Sinne des Zerfalls in zwei Organzonen impliziert, wird nun im nervösen Zentrum des Tieres miteinander vermittelt; eine Leistung, welche zugleich die Einheit des ganzen Organismus gegenüber den in zwei Organzonen zerfallenen Organismus repräsentiert. Hindurch entsteht aus Plessners Sicht zunächst etwas sehr merkwürdiges, nämlich eine Verdoppelung des Körpers; eine Verdopplung, für die aus seiner Sicht die deutsche Sprache das Wort »Leib« bereitstellt: »Die Tiere als Wesen, die nach dem Typus der geschlossenen Form orientiert sind, sind diejenige Wesen, die einen Leib haben, d. h. es ist derjenige Körper, die in ihm selbst noch einmal repräsentiert ist.« (EM, 126 ff.) Eine Pflanze, so Plessner, hat keinen Leib. Von einem Leib der Pflanze könne man nur sprechen, wenn die Pflanze irgendwelche Zentren nervöser Art hätte, in denen der Körper noch einmal präsent ist, »in dem alle Organe noch einmal zusammengefasst sind« (EM, 127). Das ist aber – wie bereits erwähnt – soweit man weiß, nicht der Fall. Zugleich gewinnt nun aus Plessners Sicht der Organismus, der jetzt eine eigenständige (d. h. den Antagonismus überlagernde) Realität im Repräsentationsorgan gewonnen hat, Distanz zu seiner Umwelt. Da der Organismus jetzt nicht mehr unmittelbar die in ihm 288 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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selbst vermittelte Einheit seiner Organe ist (wie im Falle der Pflanze), sondern nur auf dem Wege über das Zentrum, steht nun der Körper als »Zwischenschicht« (Stu, 296) zwischen dem Lebewesen und dem Medium. Der lebendige Organismus steht als Ganzer nicht mehr direkt mit dem Medium oder mit den Dingen um ihn herum in Kontakt, sondern nur mittels seines Körpers. Hierin liegt aus Plessners Sicht die Lösung des oben erwähnten Problems: »[D]as Lebewesen grenzt mit seinem Körper an das Medium, hat eine Realität im Körper, hinter dem Körper gewonnen und kommt deshalb nicht mehr mit dem Medium unmittelbar in Kontakt.« (EM, 296) Diese Realität im Körper hinter dem Körper, in einer Weise, das das Lebewesen in gewisser Weise in dem Körper »steckt«, ohne mit ihm schlechterdings unmittelbar identisch zu sein, ist das höhere Seinsniveau, auf dem das Tier im Gegensatz zur Pflanze angelangt ist. Dieses höhere Seinsniveau besagt aber nicht nur, dass das Tier im Sinne einer mittelbaren Eingliederung in den Lebenskreis Distanz zum Medium gewinnt, sondern auch zu seinem eigenen Körper. Um es mit Pietrowicz zu sagen: »Auf Grund der Repräsentation der Glieder und Organe im Zentralorgan gewinnt das Tier Distanz zu seinem eigenen Körper, und zwar, weil es einmal dieser Körper ist, zum anderen aber auch diesen Körper als seinen Leib auf Grund des Zentralorgans hat.« 149 Hier tritt eben wider der Unterschied zur Pflanze zu Tage: »Auch die Pflanze hat Stängel, Blätter, Blüten und Früchte, aber weder ihr Selbst noch sein Haben treten zu ihrem Körper als einen Leib in wirklichen Gegensatz. Das Selbst ist nur ein Charakter ihrer lebendigen Ganzheit, doch positional vom Körper nicht abhebbar.« (Stu, 298)

Der Zusammenhang ist dabei streng dialektisch, denn die Verdoppelung des eigenen Körpers (bzw. seine Distanz zu sich) »ist nur auf Grund des völligen Einsseins mit ihm allein möglich« (Stu, 303). Eben diese Distanz – bei gleichzeitigen Einssein – ermöglicht, den eigenen Körper zu instrumentalisieren: Mit seinem Leib, d. h. dem Körper, den es handhaben kann, existiert das Lebewesen so als mit einem Mittel, »einer zugleich verbindenden und trennenden, öffnenden und verdeckenden, preisgegebenen und schützenden Zwischenschicht, die in seinen Besitz gegeben ist« (Stu, 297). Das Zentralorgan beherrscht dabei seinen Körper nach dem Prinzip »Teile und Herr149

A. a. O., S. 425

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sche«: »Arbeitsteiligkeit wächst mit Ausbildung zentraler Zusammenfassung, beide verlangen sich gegenseitig, wie eine jede von der Stärke der anderen zugleich Vorteil hat.« (Stu, 300) So erklärt sich die ausgeprägte Differenzierung der Ernährungs-, Atmungs- und Fortpflanzungs- und Reizleitungssysteme (etc.) des Tieres im Gegensatz zur Pflanze. Denn Repräsentation setzt die Gliederung des zu Repräsentierenden voraus. Der Preis, den das Tier für seine Selbständigkeit bzw. seine mittelbare Eingliederung in den Lebenskreis bezahlen muss, liegt aus Plessners Sicht in der primären Unerfülltheit des Tieres. Die Geschlossenheit seiner Form bedingt eine Dynamik der »rastlosen Getriebenheit«, der »Friedlosigkeit«, »des Kämpfen-Müssens«: »Tier sein« heißt »Kämpfer sein«. (Stu, 299) Das Tier bewegt sich in einem »offenen Positionsfeld«, es verfügt über die Fähigkeit zur Ortsbewegung von Platz zu Platz; sein Leben ist bestimmt von der Suche nach »Nahrung, Beute, Begattung«, in Angriff und Verteidigung. Fundamentalen Ausdruck findet aus Plessners Sicht diese primäre Bedürftigkeit bzw. mittelbare Eingliederung des Tieres in den Lebenskreis darin seinen Ausdruck, dass kein Tier dazu in der Lage ist, aus anorganischen Verbindungen Eiweiße, Kohlehydrate und Fette aufzubauen. Das Tier ist auf organische Nahrung angewiesen; es ist in weitestem Sinne »ein Parasit« (Stu, 301), denn es lebt vom Leben her und kann nicht einfach wie die Pflanze in ihrer Verwurzelung, an die schon gegebene Substanz unmittelbar angeschlossen werden. »Geschlossene Form ist Steigerung«, mutmaßt Plessner, »denn sie hebt den lebendigen Körper auf ein höheres Existenzniveau: Also wird sie schon Leben brauchen, um selbst Leben zu können […]. Für die Pflanze ist der Parasitismus noch eine Möglichkeit, von der ihre hochspezialisierten Formen keinen Gebrauch machen. Das Tier dagegen muss vom Lebendigen leben.« (Stu, 300)

3.3.3. Die Positionalität der geschlossenen Form: Zentralität und Frontalität Indem das Tier mit der Geschlossenheit seiner Form an Selbstständigkeit gewinnt, nimmt es – wie bereits bemerkt – die Stellung der Frontalität gegenüber seinem Umfeld ein. Die Position der Frontalität resultiert daraus, dass jedes Tier der Möglichkeit nach ein Zentrum ist, das sich in einem von ihm abgehobenen Umfeld bewegt und sich 290 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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auf diese Weise in der Position des Gegenübers befindet. Das Zentrum des Tieres ist die raumhafte Mitte, der Kern, d. h. das Subjekt, das seinen Leib hat, oder das Selbst. In seiner Abgehobenheit vom Körper, der gleichsam ein »Ding unter Dingen« (Stu, 367) ist, bildet das Zentrum die Mitte, um welche herum der Körper geschlossen ist und gegen welche der Körper und das ihn umgebende Positionsfeld total konvergieren. Obwohl das »Selbst« des Tieres in keinem Sinne lokalisierbar ist, ist es doch nicht ohne Beziehung zum Räumlichen: Raumhaft bedeutet es ein nicht relativierbares »Hier«, gegen welches alle anderen Punkt den Charakter des Dort haben. Das ortlose Selbst bildet damit den absoluten Bezugspunkt für Positionsfeld und Körper; es ist »ihnen eingelagert und von ihnen abgehoben« (Stu, 304). Als ein solcher Punkt ist es reine Vermittlung des »der Köper selber Sein« und dem »in dem Körper Seins« im reinen, nicht relativierbaren Hier: »Als Subjekt des Habens fällt es doch, obzwar von ihm unterscheidbar, dem Sachverhalt nach mit dem Objekt des Habens, dem Körper, zusammen. Als Einheit von Subjekt und Objekt lässt das Selbst zugleich das Subjekt vom Objekt geschieden, indem es zwischen ihnen im reinen Hier vermittelt.« (Stu, 304)

Hierdurch und hierin wird das Tier in Beziehung zu sich selbst gesetzt; es bildet ein »rückbezügliches Selbst« oder sein »sich« aus (Stu, 304). Dieses rückbezügliche »Selbst-Sein« oder »Sich-Sein« des Tieres ist jedoch – wie Plessner betont – keineswegs mit dem Ich-Sein des Menschen zu verwechseln: Das Tier erlebt sich – im Gegensatz zum Menschen – nicht als solches, d. h. als »Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit«. Denn die Schranke des Tieres liegt aus Plessners Sicht darin, dass alles, was dem Tier gegeben ist, in Beziehung zum HierJetzt steht: »Insoweit es selbst ist, geht es im Hier-Jetzt auf. Dies wird ihm nicht gegenständlich, hebt sich nicht von ihm ab. Es bleibt vermittelndes Hindurch konkret lebendigen Vollzuges, es wird dargelebt, hineingelebt.« (Stu, 305) Das Tier ist insofern bewusst, als es ihm Entgegenstehendes merkt und aus dem Zentrum heraus reagiert, d. h. – so Plessner – spontan handelt. Spontaneität gehört aus Plessners Sicht wesentlich mit der Positionalität der geschlossenen Form zusammen. Sie ist Wesensausdruck eines »aus der Mitte heraus Seins« (Stu, 306); eines echten Beginnens, Anfangens, Urhebens. In dieser Spontaneität manifestiert sich das Leben des Tieres im Hier und Jetzt: Im unmittelbaren Beginnen lebt das Tier »wesenhaft im291 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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pulsiv, spontan bewegt es seine Glieder, agiert es und reagiert es« (Stu, 307). Dabei ist der Unterschied von Eigenem und Fremden zonenmäßig klar gegeben. Vom Fremden trennt es die Kluft, kraft derer es das außer dem Leibe Gegebene merkt. Im Eigenen existiert es, insofern es seinen Körper beherrscht. Aber, dass es seinen Körper von einem Zentrum aus beherrschen kann, d. h. das Zentrum als solches, dies ist dem Tier wiederum nicht gegeben. Denn »der Gesamtkörper ist noch nicht total reflexiv geworden« (Stu, 306). Gegenüber einer fremden Zone, die ihm als Ganzheit zugleich undurchdringlich und undurchsichtig bleibt, und »auf die es zwar antworten, mit der es aber nie fertig werden kann« (Stu, 308), lebt das Tier, in sich selber gestellt, in ihm selbst aufgehend, geborgen und gefährdet zugleich. Es gibt nun aus Plessners Sicht zwei Wege, in denen der tierische Organismus mit der Position der Frontalität als gegen das Umfeld fremder Gegebenheit gerichteter Existenz fertigwerden kann. 1.) Die Möglichkeit, die Frontalität dezentralistisch zu verwirklichen. 2.) Die Möglichkeit, die Frontalität zentralistisch zu verwirklichen. Im Sinne einer groben Einteilung entspricht der erste Typus dem Gebiet der wirbellosen Tiere, der zweite dem Typus der Wirbeltiere. (Vgl. EM, 131) Im Fall der wirbellosen Tiere bzw. der dezentralistischen Organisationsform bildet der Organismus einzelne Zentren aus, die im losen Verband miteinander stehen und verzichtet auf eine zentrale Zusammenfassung. Dadurch wird die Frontalität, in welcher der Organismus mit seinem Umfeld konfrontiert ist, gewissermaßen depotenziert: Indem der Organismus – im wahrsten Sinne des Wortes – darauf verzichtet, sich seinem Umfeld gegenüber zu behaupten, auch »kein Rückgrat an den Tag legt« (das dieses, sein Haupt tragen könnte); geht er »den Weg möglichster Deckung gegen das Feld durch Umgehung des Bewusstseins« (Stu, 308): Der Organismus versteckt sich gleichsam in sich selbst. Im Falle der Wirbeltiere bzw. zentralistischen Form hingegen fasst sich der Organismus streng zentralistisch unter der Herrschaft eines Zentralnervensystems zusammen und versucht, den Vollzug der einzelnen Funktionen unter seine Kontrolle zu bringen. Dies ist der Weg möglichsten Eindringens in das Feld durch Einschalten des Bewusstseins. Beide Varianten stellen gegensätzliche Möglichkeiten dar, die geschlossene Form zu verwirklichen, insofern diese nur mit der Verwirklichung von nervösen Zentren überhaupt einhergeht. Zwischen beiden Formen kann es dabei die mannigfaltigsten Übergänge geben. 292 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufung des Organischen: Pflanze und Tier

3.3.4. Die dezentralistische Organisationsform Sowohl bei der zentralistischen wie bei der dezentralistischen Organisationweise des Bewusstseins geht es darum, dass der Organismus auf das, was er merkt, eine entsprechende Reaktion geben kann. Zwischen dem Merken und dem Wirken, als Ausdruck des Antagonismus, den der zentral gesteuerte Organismus überlagert, spannt sich die Sphäre des Bewusstseins auf, im Rahmen derer der Übergang von Merken und Wirken erfolgt. Sie ist »die raumhaft innere Grenze, die zeithafte Pause zwischen dem von außen Kommenden und dem nach außen Gehenden, der Hiatus, die Leere, die binnenhafte Kluft, durch die hindurch auf den Reiz die Reaktion erfolgt« (Stu, 313). Hier ergeben sich aber nun zwei Möglichkeiten. Dezentral organisierte wirbellose Tiere tendieren aus Plessners Sicht dazu, die sensorischen hinter den motorischen Apparaturen stark zurücktreten zu lassen: »Die Sinnesorgane haben in demselben Maße Reize aufzunehmen wie abzublenden. Sie sind Augen und Scheuklappen in einem.« (Stu, 313) Die Einengung der eingehenden Reize beugt der Gefahr der Verwirrung vor: Der Spielraum zwischen Reiz und Reaktion wird verengt und auf diese Weise die Chance einer richtigen (= lebenserhaltenden) Antwort auf den Reiz erhöht. Die Reaktion als Antwort auf einen eingehenden Umweltreiz wird von den Zentren reflektorisch besorgt. Möglich ist dies aber nur, weil der Bauplan des Organismus als Ganzer hier die Kluft zwischen der »Merkwelt« und der »Wirkwelt« überbrückt, und auf diese Weise beide unmittelbar aufeinander bezieht: In gewisser Weise tritt hier der Körper an die Stelle des Bewusstseins. Niedere Tiere haben aus diesem Grunde ein einfaches Weltverhältnis, mit einen stark eingeschränkten Set an Verhaltensmöglichkeiten. »Es herrscht ein ganz primitives Primat des Praktischen, der die Merksphäre inhaltlich und formal nach den Kategorien des Motorischen gestaltet, indem er sie einfach in den Dienst der Nahrungssuche, der Verteidigung, der Begattung, der Eiablage usw. stellt.« (Stu, 314)

Zwei Merkwürdigkeiten, die aus dieser Annahme resultieren, sind, dass erstens die Umwelt dezentral organisierter Tiere nur aus Signalen, nicht aus Objekten besteht: Während höhere Tiere offensichtlich wissen, dass Objekte als Wirkungsträger (d. h. als Objekte, die Angriffsflächen darbieten) auch wiederum Merkmalsträger (reizaussendend) sind, und daher überhaupt von Objekten, als ein Etwas, das 293 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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sich ihnen entgegenstellt, wissen, besteht die Umwelt der niederen Tier aus einer Kombination von Reizen. Zweitens ist ferner davon auszugehen, dass das Tier nicht weiß, was es tut, d. h. nicht um sich selbst weiß. Denn das Tier hat keine Nachricht, keine Kunde davon, was seine Organe ausüben; alle Bewegungen liegen außerhalb der Empfindungskontrolle. Plessner zieht hier Uexkülls Ausdruck der »Reflex-Republik« heran: »Wohl gibt es die zentral gelegenen Reservoire, die den allgemeinen Erregungsdruck regulieren, aber die einzelnen Reflexe laufen durchaus selbständig ab. Nicht bloß jedes Organ, sondern jeder Muskelstrang handelt völlig eigenmächtig. Dass dabei doch etwas Vernünftiges herauskommt, ist nur das Verdienst des Planes … Wenn der Hund läuft, so bewegt das Tier die Beine – wenn der Seeigel läuft, so bewegen die Beine das Tier.« 150

Bei dezentralistisch organisierten Tieren ist in diesem Sinne der eigene Körper »abgeblendet«, das Tier erlebt seinen eigenen Körper nicht. Der Leib, der als solcher da ist, ist daher nicht für das Tier dar; das Tier »lebt als Leib nicht nochmal zwischen dem Tier und der Umwelt« (EM, 135). Der evolutionäre Sinn der Umgehung des Bewusstseins besteht aus Plessners Sicht darin, die Spontaneität der Reaktion zu erhalten. Es gibt aus Plessners Sicht einen »Antagonismus von Bewusstsein und Handlung« (Stu, 318). Die Kontrolle der Handlung durch das Bewusstsein wirkt hemmend: »Die Aufmerksamkeit wird von dem Objekt der Bewegung auf die Bewegung als Objekt herübergezogen. Zersplitterung ist die unvermeidliche Folge: Die Unbefangenheit ist dahin, der sichere Ausgang der Handlung, welche volle Hingabe ans Objekt erfordert, in Frage gestellt.« (Stu, 318)

Plessner erzählt in diesem Zusammenhang die Geschichte von dem Tausendfüßler, der, als er gefragt wird, wie er es nur schaffe, seine tausend Füße alle richtig zu gebrauchen, in tiefes Nachdenken verfällt, und darüber die Fähigkeit verliert, seine Füße zu bewegen. Auf dem Stand der heutigen Forschung an wirbellosen Tieren hätte sich Plessner aber auch auf die Kakerlake berufen können – mit einer Laufzeit von 5,4 km/h das schnellste, krabbelnde Insekt der Welt: Von dieser weiß man heute, dass sie bis zu neun Tage in einem kopflosen Zustand überleben, noch laufen, sich häuten und sogar fortpflanzen können. Diese erstaunliche »Robustheit« sowie ihre herausragende Laufzeit verdankt das Insekt eben seiner dezentralen Körperorganisa150

Uexküll, Jakob von, Umwelt und Innenwelt der Tiere, Berlin 1921, S. 95.

294 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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tion: Es besitzt ein Strickleiternervensystem, das in jedem Körpersegment einen Nervenknoten, ein sogenanntes Ganglienpaar aufweist. Diese »kleinen Gehirne« steuern im Brustbereich die Bewegung von Beinen und Flügeln und im Hinterleib die Verdauung. Dabei sind sie relativ unabhängig vom Oberschlundganglion, dem eigentlichen Gehirn; die lebenswichtigen Funktionen arbeiten von ihm unabhängig. Das wichtigste, was mit einem abgetrennten Kopf verloren geht, ist daher der Mund: Da das Tier nichts mehr zu sich nehmen kann, verhungert und verdurstet es nach der Enthauptung.

3.3.5. Die zentralistische Organisationsform Gleicht die dezentrale Organisationsform der wirbellosen Tiere eher einem lockeren, republikanischen Zusammenschluss, so handelt es sich bei der zentralistischen eher »um eine monarchische Zusammenfassung aller nervösen Zellen in einem übergeordneten Zellsystem«. (EM, 137). Solch eine Organisation, d. h. ein zentrales Nervensystems, findet sich aus Plessners Sicht bei allen Wirbeltieren. Der Zusammenhang zwischen der Existenz einer Wirbelsäule und der zentralistischen Organisationsform ist dabei keineswegs ein zufälliger: »Es ist ganz offensichtlich, der innere Sinn der Organisation der Wirbeltiere, dass dieses Zentralnervensystem gegen äußeren Einfluss ganz besonders isoliert wird.« (EM, 137) Aus diesem Grunde muss eine knöcherne Kapsel (d. h. die Schädeldecke) entstehen, welche das Zentralorgan von den anderen Organen isoliert. Eben dies macht das System von Gehirn und Rückenmark aus, in dem es zu einer sehr scharfen Zusammenfassung aller Organe kommt. Während es im dezentralen Typus (vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet) zu einem Auseinanderfallen von Merk- und Wirksphäre kommt, decken sich diese im Falle des Tieres. Mit dieser Deckung wird die Idee der geschlossenen Form völlig verwirklicht und der Unterschied zur offenen Form des pflanzlichen Seins tritt klar zu Tage. Wie aber wird diese Deckung erreicht? Indem die Effektoren an die Sensoren angeschlossen werden. Unter Effektoren versteht Plessner dabei alle Organe, die in irgendeinem Sinne etwas ausführen, d. h. Bewegungs-, Verteidigungs-, Verdauungsorgane, Fresswerkzeuge etc. Das Resultat dieses »Ringschlusses« (EM, 136) ist, dass das Tier von seinem eigenen Körper Empfindungen bekommt. Das Tier erringt damit eine Leiblichkeit im Sinne einer Totalrepräsentation des Körpers im Kör295 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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per, die der Pflanze gerade verwehrt ist. Damit, dass die eigenen Handlungen unter die Kontrolle der Empfindungen geraten, ist die höchste Stufe tierischen Seins erreicht. Dies gilt auch in Bezug auf die Position der Frontalität: Indem das Tier seinen Leib und die von ihm eingenommene Zone merkt, rückt auch das Umfeld mit eigener Gestalt von ihm ab und bekommt Struktur. Das abgerückte Umfeld, dass Handlungsspielräume offeriert, welche in der offenen und dezentralen Form gerade nicht gegeben sind, muss nun von Sinnesorganen kontrolliert werden, die dem Tier die Situation anzeigen, in der es sich befindet, und in der es sich für die ein- oder andere Aktionsmöglichkeit zu entscheiden hat: »Wählt das Leben für die individuelle Zuordnung von Reiz und Reaktion den Weg über das Bewusstsein und damit über das Subjekt, durch den Hiatus, die innere mittlere Leere, den Sprung der Impulsivität raumhaft-zeithaft mitten hindurch, so müssen die Aktionen auf Grund der Empfindungen erfolgen.« (Stu, 318)

Bewusstsein darf aus Plessners Sicht nicht mit Selbstbewusstsein verwechselt werden, das eine hochentwickelte Spezialform von Bewusstsein darstellt, die dem Menschen vorbehalten ist: »Bewusstsein ist nicht notwendig die in der Identifikation des Ichs mit sich selbst gestiftete Bezugsform des Subjekts zur Gegenwelt, wie sie dem Menschen wesentlich ist. Bewusstsein braucht nicht Selbstbewusstsein zu sein.« (Stu, 112) Plessner definiert Bewusstsein als »Grundform und Grundbedingung des Verhaltens eines Lebewesens in Selbststellung zur Umwelt«. (Stu, 112) Es ist überall dort geben, wo ein rezeptivmotorisches Verhalten des Organismus gegenüber seinem Umfeld stattfindet. Insofern sich der Gegensatz des Sensorischen und Motorischen aus einem inneren Antagonismus, den der Organismus verkörpert, im Sinne eines Zonenzerfalls (Sein-für-sich/Sein-für-Andere) ableitet, und dieser Zerfall sich auch so ausdrücken lässt, der Organismus die »Grenze in ihm selber« hat (Stu, 293), ist das Wesen des Bewusstseins als »sphärische Einheit von Subjekt und Gegenwelt« (Stu, 112) bei Plessner offenkundig auf’s Engste mit der dialektischen Natur der Grenze verknüpft: Bewusstsein ist in gewisser Weise selbst Grenze. Denn im Zwischen-»Raum«, zwischen Merken als gehemmter und Wirken als enthemmter Erregung spannt sich die Sphäre des Bewusstseins auf. Das Aufkommen des Bewusstseins bedeutet zugleich ein Zurücktreten des Primats des Motorischen – welches bei niederen Tieren vorherrschend ist – zugunsten des Primats 296 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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des Sensorischen. Die aus der zunehmenden Breite der Anschauung resultierende Unsicherheit muss das Tier nun einerseits durch ererbte Instinkte und andererseits durch das Lernen aus gemachten Erfahrungen kompensieren. Während das Umfeld der wirbellosen Tiere aus Reizen und Signalen besteht, die reflektorisch beantwortet werden, hat das Primat des Sensorischen zur Folge, dass Wirbeltiere in einem dinglich gegliederten Umfeld leben. Auch hier ist der Ringschluss, das Zusammenfallen von Merkmal und Wirkmal, entscheidend: Denn als »Aktionssphäre«, d. h. als Raum, in dem sich die eigenen Wirkungen hinein entfalten, bietet »der Inhalt der Merksphäre harrende Bewegungschancen gegenständlich dar«. (Stu, 321) Das Tier lernt die Dinge in seinem Umfeld als solche kennen, indem es mit ihnen umgeht: »In dieser merkbaren Griffigkeit, in diesem Mit-dem-Umfeld-umgehenKönnen (als einer an der Merksphäre selbst gegebenen Eigenschaft) liegt die Konstanz und Haltbarkeit anschaulicher Dinge.« (Stu, 321) Allerdings sind die Dinge, die das Tier wahrnimmt, aus Plessners Sicht keine autonomen »Gegenstände« oder selbständige Objekte (wie im Falle des Menschen), sondern nur Korrelate des sensomotorischen Funktionskreises. »Das Tier nimmt Dinge wahr, deren Kernstruktur motorische Bedeutung hat und in dem Verhältnis zu seinen Aktionen ihre Deckung, ihren Sinn findet. Es ist noch nicht zum Sachcharakter des Gegenstandes erwacht.« (Stu, 342) Hier entwickelt Plessner – auch in Auseinandersetzung mit den Versuchen mit Menschenaffen von Köhler – seine Kernthese in Bezug auf die tierische Intelligenz: »Dem intelligentesten Lebewesen in der Tierreihe, dem menschähnlichsten, fehlt der Sinn fürs Negative«. (Stu, 340) Das geht aus seiner Sicht eindeutig aus den berühmten Experimenten Köhlers hervor, in denen Tiere Aufgaben nur zu lösen wussten durch die positive Verwendung (Einfügung) bereits vorhandener Dinge (Kiste, Stuhl, Leiter) in die positive Feldstruktur, aber vollkommen versagten, wenn ein Ziel nur auf negativem Wege, d. h. durch die Beseitigung von etwas Gegebenen erreicht werden konnte. Es ist eben dieser fehlende Sinn für das Negative, der einen sachlichen Bezug zu den Dingen der Außenwelt verhindert. Die Dinge, die der Mensch wahrnimmt, zeichnen sich hingegen im Anschauungsbild »durch ein Plus und zwar ein Plus an Unsichtbarkeit gegenüber dem reell anschaulichen Tatbestand aus, ein Plus an Negativität also« (Stu, 341). So erwartet man von einem Ding z. B., dass es eine Rückseite

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hat – die ihrerseits nicht anschaulich geben ist, wenn man die Vorderseite betrachtet. »Positiv«, meint Plessner, »ist ein Ding nur dann konkret anwesend, wenn das anschaulich Präsente einer festen Ordnung von Nichtpräsentem eingelagert bzw. fest mit ihr verknüpft erscheint. Diese feste Ordnung, […] Gerüst aus raumzeithaftem Kern und Mantel, stellt für den Maßstab der sinnlichen Erfindung geradezu das Abwesende selbst dar, wie die phänomenologische Analyse erwiesen hat. Auf ihr beruht die Gegenständlichkeit oder Echtheit der Dinge.« (Stu, 41)

Der fehlende Sinn für das Negative, – sei es Abwesenheit, Mangel oder Leere – verhindert es aus Plessners Sicht zugleich, dass es beim Tier zu Ideation des Gegebenen und damit zur Begriffsbildung kommt. Nichtsdestotrotz spricht Plessner dem Tier ein gewisses Denkvermögen zu: »Natürlich können Tiere denken.« (EM, 154) Entgegen der Auffassung, dass dem Tier jegliches Abstraktionsvermögen fehle und es nur vage Eindrücke und flutende Empfindungen, welche von Assoziationsgesetzen beherrscht sind, kenne – wie sie auch von Hegel verteidigt wird –, vertritt er die These, dass die Wirbeltiere jenseits des Gegensatzes des Einzelnen und des Allgemeinen, abstrakter Allgemeinheit und konkreter Individualität leben: »Wenn ein Wesen nicht die Fähigkeit hat, auf das Allgemeine zu kommen, dann hat es selbstverständlich auch nicht die Fähigkeit, das Individuelle des Individuellen zu erfassen!« Trotzdem – oder besser deswegen – bleibt die tierische Intelligenz damit der Äußerlichkeit verhaftet: In ihr dominieren Komplex- und Gestaltwahrnehmung; das Tier kennt allein »Feldverhalte« – wie Plessner sagt – aber keine »Sachverhalte«. Es hat Einblick in die bestimmte Struktur oder die Situation des gegebenen Feldes, das als solches jedoch stets das haltbare Korrelat seiner Motorik für es bedeutet. Einen abstrakten Sachverhalt, d. h. einen Sachverhalt als solchen in völliger Ablösung von aller Sinnlichkeit und Anschaulichkeit vermag das Tier allerdings nicht zu erfassen: So führt Plessner hier etwa einen Versuch von Buytendijk und Révesz an, bei dem sie versuchten, Affen auf eine gewisse Reihenfolge zu dressieren, indem sie ein Reihe von Schachteln vor sie legten und in jede zweite oder jede dritte ein Stück Banane oder Schokolade legten. Die Affen versagten hier vollkommen und waren nicht in der Lage, einen Sachverhalt wie »jede zweite« oder »jede dritte Schachtel« zu erfassen. Sehr junge Kinder hatten hingegen die Sache sehr schnell heraus. Die Fähigkeit des Menschen, »von allem Abstand zu nehmen und gerade darum zu allem eine sachliche, eine hingebende 298 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Stellung zu finden« (VIII, 60), ist es denn auch, die die »Sonderstellung des Menschen« begründet, die – wie sich im kommenden erweisen wird – aus Plessners Sicht nicht nur einen graduellen, sondern wesensmäßigen Unterschied zwischen Mensch und Tier impliziert.

1.3.6. Die exzentrische Form der Positionalität Beim Tier ist die positionale Mitte das Zentrum, durch das hindurch ihm sein eigener Körper (als Leib) und sein Medium gegeben ist. Die Schranke des tierischen Organismus liegt darin, »dass dem Individuum sein selber Sein verborgen ist, weil es nicht in Beziehung zur positionalen Mitte steht« (Stu, 360). Das Tier lebt im »Hier« und »Jetzt«, welches ihm als solches nicht gegenständlich wird. »Das Tier«, so Plessner plastisch, »lebt aus seiner Mitte heraus in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über den eignen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf sich selbst rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich«. (Stu, 360)

Die volle Reflexivität – als Fähigkeit zur Rückwendung auf sich –, wie sie für den Menschen typisch ist, ist ihm damit verwehrt. Nun ist aber aus Plessners Sicht noch eine Steigerung denkbar, die das lebendige »Körperding« auf eine positional höhere Stufe hebt und auf diese Weise zum menschlichen Seins hinführt. Aus Plessners Sicht ergibt sich die Möglichkeit diese Steigerung folgerichtig aus der Dialektik der bisherigen Abfolge: »Wie die offene Form pflanzlicher Organisation die positionalen Charaktere zeigt, ohne dass das Ding zu seiner Positionalität in Beziehung ›gesetzt‹ ist, und diese Möglichkeit in der geschlossenen Form tierischer Organisation zur Verwirklichung kommt, so offenbart auch die Wesensform des Tieres eine Möglichkeit, die nur durch Anderes realisiert werden kann.« (Stu, 361)

Das In-Ihm-Gesetztsein – das Leben aus der Mitte – bildet zwar den Halt der Existenz des Tieres, steht aber selbst nicht in Beziehung zu ihm, ist ihm nicht gegeben. Dem Menschen hingegen ist seine Rückbindung an ein Zentrum, »der rückbezügliche Charakter des zentral repräsentierten Körpers« selbst noch einmal gegeben. Die Frage ist, wie das möglich ist, ohne das Subjekt zu verdoppeln und gewissermaßen ein zweites Subjekt einzuführen, das gleichsam als distanzierter 299 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Beobachter des ersten Subjektes fungiert und demselben gegenübertritt. Plessner gibt an dieser Stelle zu bedenken, dass es eine positionale Mitte nur im Vollzug gibt und warnt davor, das Subjekt als »eine fix und fertig vorhandene Größe« zu denken (Stu, 362). Dann nämlich käme man an der »Vermannigfachung und allen damit verbundenen Unmöglichkeiten nicht vorbei« (Stu, 362). Das Tier ist seine eigene Mitte gesetzt und ist darin ein selbstbezügliches Sein, in dem (d. h. in dessen Vollzug) ihm jedoch diese Selbstbezüglichkeit als solche nicht gegeben ist. Dem Menschen hingegen ist in seinem Selbstvollzug dieser Vollzug des Selbst als solcher nochmal gegeben. Um es mit Mitscherlich zu sagen: »In diesem Selbstbezug auf die individuell vollzogene Selbstbezüglichkeit hat der Mensch Selbstbewusstsein.« 151. Plessner drückt dies in einer etwas dunklen Formulierung auch so aus, dass in diesem Fall das Individuum »in das in seine eigene Mitte Gesetztsein gesetzt« ist, oder aber auch kürzer und prägnanter: »Es steht im Zentrum seines Stehens«. (Stu, 362) Das heißt: Auch der Mensch lebt damit – wie das Tier – im Hier und Jetzt; aber ihm ist sein individueller Standpunkt – im Sinne eines seine Subjektivität fundierenden Moments in seinem Selbstvollzug – als solcher nochmal gegeben. Entscheidet ist hier aus Plessners Sicht die darin aufgebaute Distanz zu sich: Der Mensch hat die Möglichkeit sich von sich zu distanzieren, und »zwischen sich und seine Erlebnisse eine Kluft zu setzen« (Stu, 363). Das Resultat ist das Folgende: Das menschliche Individuum »hat sich selbst, es weiß um sich, es ist sich selber bemerkbar und darin ist es Ich, der ›hinter sich‹ liegende Fluchtpunkt der eigenen Innerlichkeit, der jedem möglichen Vollzug des Lebens aus der eigenen Mitte entzogen den Zuschauer gegenüber dem Szenario dieses Innenfeldes bildet, der nicht mehr objektivierbare, nicht mehr in Gegenstandstellung zu rückende Subjektpol.« (Stu, 363)

Das lebendige Ding ist jetzt wirklich – so Plessner in Anlehnung an eine deutsche Redeweise – »hinter sich gekommen«. (Stu, 362) Insofern der Mensch das Tier ist, das sich gleichsam auf die Schliche, das hinter sich (selbst) gekommen ist, ist er nun der Mensch in seinem In die Mitte gesetzt sein zugleich auch über sich als diese Mitte hinaus. Dieses Über-sich-Hinaussein, auf Grund dessen die ei151

A. a. O., S. 190.

300 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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gene Mitte sich noch selbst im Vollzug als Mitte gegeben ist, bezeichnet Plessner nun als ex-zentrische Positionalität. Wesentlich hierbei ist, dass sich der Mensch als exzentrische Positionalität auch nur in Abhebung oder gleichsam im Abstoß von der zentrischen Positionalität gegeben ist, die das Dasein des Tieres charakterisiert: »Ist das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne diese Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus exzentrisch. Exzentrizität ist die für den Menschen charakteristische Form seiner frontalen Gestelltheit gegen das Umfeld.« (Stu, 364)

In seiner Exzentrizität steht der Mensch nun nicht mehr – wie das Tier – im Hier und Jetzt, sondern »hinter ihm«, hinter sich selbst: »[O]rtlos, im Nichts, geht er im Nichts auf, im raum–zeithaften Nirgendwo-Nirgendwann«. (Stu, 364) In einer Weise, die an Hegels Kant-Kritik erinnert, aber doch auf einer anderen ontologischen Ebene angesiedelt ist, führt Plessner dies auch so aus: »Er ist in seine Grenze gesetzt, und deshalb über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt.« (Stu, 364) Um diesen Satz zu interpretieren, macht es Sinn, noch einmal zu hinterfragen, wo denn eigentlich die Grenze im tierischen Körper angesiedelt ist, den Plessner als geschlossene Form (im Gegensatz zur offenen Form der Pflanze) interpretiert. Heißt es doch schon von der geschlossenen Form, dass diese nur möglich ist, wenn der Organismus »die Grenze in ihm selber hat«, d. h. »in ihm selber in einen Antagonismus zerfallen ist« (Stu, 293). Offenbar müssen hier zwei Dinge voneinander unterschieden werden, die zugleich miteinander zusammenhängen: Erstens der notwendige Zonenzerfall des Organismus und zweitens die Selbstorganisation desselben. In Bezug auf ersteres zeigte sich, dass Plessner davon ausging, dass der Organismus die geschlossene Form bei gleichzeitiger Aufgeschlossenheit dem Lebenskreis gegenüber nur realisieren kann, wenn er in sich ein Zentrum hervorbringt, dass den Gegensatz von Merken und Wirken, von sensorischem und motorischem Funktionskreis, überlagert. Die Grenze als Bedingung der Möglichkeit des Zonenzerfalls bzw. des Antagonismus ist aber offensichtlich nicht gemeint, wenn Plessner in Bezug auf den Menschen sagt, dass er in seine Grenze gesetzt ist. Der Zonenzerfall und dessen Überlagerung in einem Zentrum muss vielmehr als Bedingung der Möglichkeit der dynamischen Selbstorganisation des Lebendigen als Lebendigen verstanden werden. In der zentrischen Form des Tieres vollzieht sich dieses – wie 301 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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wir sahen – als dynamische Einheit von Körper und Leib. Als den Körper organisierende Instanz steht der Leib als »Subjekt des Habens« dem Körper als »Objekt des Habens« gegenüber und fällt zugleich auch mit ihm zusammen. Hieraus resultiert der Lebensprozess als Vermittlung von Subjektivität und Objektivität: »Als Einheit von Subjekt und Objekt lässt das Selbst zugleich das Subjekt vom Objekt geschieden, indem es zwischen ihnen im reinen Hier vermittelt.« (Stu, 304) Als Ort der Vermittlung von Subjektivität und Objektivität, von »Insein« (Leib) und Außensein (Körper) ist nun die Grenze zu denken, so dass sich das Dasein des Lebendigen als Oszillation von Insichsein und Außensein darstellt: »In jener unaufhebbaren Oszillation von Insichsein und Außensein, die auf dem Untergrund des schlichten der-Körper-selbst-Seins die Positionalität des geschlossenen Organismus kennzeichnet, liegt die Grenze für die Rückbezogenheit des Dinges auf es selber.« (Stu, 304)

Es ist offenkundig diese Grenze zwischen Subjekt (Leib) und Objekt (Körper), in die der Mensch noch einmal gesetzt ist, die Plessner meint, wenn er von der exzentrischen Positionalität des Menschen spricht. Der Mensch vollzieht nun nicht (nur) – wie das Tier – die Einheit von Leib und Körper spontan, sondern in der Differenz derselben ist er sich als das zwischen ihnen vermittelnde Selbst noch einmal gegeben – ohne dass man hier von zwei Selbst sprechen müsste. So lebt und erlebt er nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben. Das gefühlte Erlebte ist ihm damit sowohl unmittelbar (wie dem Tier), als auch als vermittelter (potenzieller) Gegenstand der Reflexion, d. h. als vermittelte Unmittelbarkeit gegeben. Dass er sich als Etwas erlebt, das selbst nicht mehr erlebt werden kann, als reines, allgemeines Ich (im Unterschied zum empirischen, bzw. psychologisch-physiologisch individuellen) resultiert somit aus Plessners Sicht in der besonderen »Grenzgesetztheit« des Menschen; ja, bringt sie unmittelbar zum Ausdruck. Durch diese Grenzgesetztheit, als Ich, das sich in voller Rückwendung erfasst, und auch seinem Denken, Wollen, Fühlen, Zusehen zuzusehen vermag, kann er nun die Relativität seines eigenen Standpunkts durchschauen, in dem er an das Hier-Jetzt gebunden bleibt, »im Zentrum totaler Konvergenz des Umfeldes und des eigenen Leibes« (Stu, 365). Mit dieser Fähigkeit der Relativierung des eigenen Standpunkts in der exzentrischen Positionalität ist aber bei Plessner kein Absolutes als Ort des bewussten Daseins des Menschen in Anspruch genom302 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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men: Eben hierauf zielt die Redeweise des »Stehens im Nichts« ab. Das Ich, das sich erfasst, bleibt aus Plessners Sicht etwas unaufhebbar partikuläres, wenn auch die Perspektive, aus der heraus es sich in seiner Individualität erfasst, es in seiner Einzelheit transzendiert. Eine Folge der Grenzgesetztheit des Menschen bzw. seiner exzentrischen Positionalität ist nun, dass dem Menschen die Differenz von Körper und Leib, von Insichsein und Außensein als solche zu Bewusstsein tritt: Der plessnersche Standpunkt der exzentrischen Positionalität ist gewissermaßen in eins eine Rekonstruktion der Möglichkeitsbedingungen einer cartesischen Spaltung der Erfahrung als auch der Versuch einer Überwindung dieser Spaltung. Für den Menschen ist, so Plessner, »der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des eigenen Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt, ein wirklicher Bruch der Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und Körper und als die psycho-physisch neutrale Einheit dieser Sphären. Die Einheit überdeckt jedoch nicht den Doppelaspekt, sie lässt ihn nicht aus sich hervorgehen, sie ist nicht das den Gegensatz versöhnende Dritte, das in die entgegengesetzten Sphären überleitet, sie bildet keine selbständige Sphäre. Sie ist der Bruch, der Hiatus, das leere Hindurch der Vermittlung, die für den Lebendigen selber dem absoluten Doppelcharakter und Doppelaspekt von Körperleib und Seele gleichkommt, in der er ihn erlebt.« (Stu, 365)

Positional liegt damit aus Plessners Sicht ein Dreifaches vor: »[D]as Lebendige ist Körper, im Körper (als Innenleben oder Seele) und außer dem Körper als Blickpunkt, von dem aus es beides ist«. (Stu, 365) Ein solch dreifacher Selbst- und Weltbezug – resultierend aus der Grenzgesetztheit des Menschen – charakterisiert aus Plessners Sicht die menschliche Person. Als Person ist der Mensch Glied dreier Welten, welche jedoch alle nur Aspekte einer Welt sind: Außenwelt (als Körper), Innenwelt (im Körper) und Mitwelt (außer dem Körper). Dabei ist – wie sich im Kommenden erweisen wird – insbesondere Plessners Konzeption der Mitwelt ein Bestandteil seiner Philosophie, der an Hegel erinnert.

3.3.7. Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt Plessner bemerkt zunächst, dass Menschsein an keine spezifische Gestalt gebunden ist und möglicherweise auch unter mancherlei Gestalt, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt, stattfinden könnte. 303 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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Einzig und allein die zentrische Organisationsform, welche die Basis seiner Existenz abgibt, erscheint als notwendige Voraussetzung des Menschseins. In »doppelter Distanz« (Stu, 366) zum eigenen Körper, – d. h. nicht nur als Leib vom Körper, sondern auch noch vom Leibzentrum abgehoben – befindet sich der Mensch nun in einer Welt, die in drei Sphären auseinanderfällt: Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt. Die Außenwelt erscheint als ein »Kontinuum der Leere« bzw. der »räumlich-zeitlichen Ausdehnung« (Stu, 366). Insofern die Gegenstände in ihren Grenzen Seiendes manifestieren, manifestieren die Leerformen Raum und Zeit Nichts. Dinge in einer homogenen Raum-Zeit-Ordnung, wie sie das richtungsrelative Raum-Zeitganze bedeutet, bestimmen damit eine Situation, die der Positionalität des exzentrischen Organismus bzw. des Menschen streng entspricht: Ist dieser außerhalb des natürlichen Ortes, außer sich, ins »Nichts seiner Grenze« gestellt, so steht er auch als Körperding der Umwelt »in« der »Leere« relativer Örter und Zeiten. Ebenso wie der Gegenstand ist auch der Organismus in seiner Exzentrizität an einer bestimmten Stelle in der Raum-Zeit, die mit jeder anderen Stelle dieses Kontinuums der Leere vertauscht werden kann. Zugleich macht sich aber in Bezug auf seine Lage in Raum und Zeit die Doppelaspektivität seines Seins geltend: So wie Körper und Leib voneinander unterschieden und doch identisch sind, so ist die Außenwelt stets zugleich auch als konkrete Umwelt auf das leibliche Sein bezogen: Der Mensch existiert damit »als Ding unter Dingen an beliebigen Stellen des Einen Raum-Zeit-Kontinuums und als um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossenes System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen«. (Stu, 367). Während der mathematisch-physikalischen Auffassung erstere Perspektive zugrunde liegt, so der organologischen letztere. Beide Aspekte, Außenwelt und Umwelt, bestehen nebeneinander und lassen sich zugleich im Punkt der Exzentrizität des Ich miteinander vermitteln. Ebenso wie dieser als das »unverobjektivierbare Ich« hinter dem empirischen Ich angesiedelt ist und den Fluchtpunkt des eigenen Selbstseins ausmacht, »die Grenze, an welche nur eine asymptotische Annäherung möglich ist« (Stu, 368), so zeigen sich die Gegenstände – wie bereits zu Beginn herausgestellt – als Erscheinungen, welche auf einen Substanzkern verweisen, der jedoch also solcher nicht erscheint. Im »Erscheinungscharakter« hängen somit empirisches Ich und seine Gegenstände miteinander zusammen, verbunden durch die Negativität des Selbstbewusstseins, das – im Gegensatz zu tierischem Bewusstsein – auch um die »feh304 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufung des Organischen: Pflanze und Tier

lenden Seite« der Gegenstände und darin um sich weiß. Indem Plessner den Erscheinungscharakter der Gegenstände mit dem Charakter des Ich, das ebenfalls niemals »an sich« erfassbar wird, identifiziert, scheint er – wie auch Pietrowicz zu Recht betont 152 – in gewisser Weise an Kant anzuknüpfen, der ebenfalls betont, dass mir die »Erkenntnis« meiner selbst, »wie ich bin« verborgen bleibt; dass ich mich nicht erkennen kann, wie ich »an sich« bin, sondern »bloß, wie ich mir erscheine« (WW 3; B 158). Ebenso wie in der Doppelaspektivität von Außenwelt und Umwelt zeigt sich auch in Bezug auf die Innenwelt des Menschen das Gesetz der Exzentrizität: Für den Menschen gilt, dass er eine Seele hat und eine Seele ist, während man von den Tieren nur sagen kann, dass sie Seele sind, nicht aber dieselbe haben. (Vgl. EM, 190 ff.) Wirkliche Innenwelt ist auf Grund dieser ursprünglichen, unhintergehbaren Zweideutigkeit, die das menschliche Sein charakterisiert, für Plessner »Zerfallenheit mit sich selbst, aus der es keinen Ausweg, für die es keinen Ausgleich gibt« (Stu, 372). Plessner unterscheidet hier – »in Bezug auf die dialektische Struktur, die im Wesen der Exzentrizität liegt« (Stu, 372) – zwischen Seele und Erlebnis. Der Mensch ist – wie das Tier – das aktive Zentrum seines Lebens, aber bewusst erleben und durchleben kann er sein Leben nur in Akten der Reflexion, in denen er zugleich auf Distanz zu sich geht. Diese Distanz ermöglicht – wie Plessner in Anlehnung bzw. Anspielung an Dilthey sagt –, dass der Mensch seinen seelischen Zuständen als solchen »Innewerden« kann, während das Tier einfach in seinen Stimmungen, von denen es hin- und hergerissen wird, aufgeht. Damit gilt aber, dass sogar im Vollzug des Gedankens, des Gefühls, des Willens der Mensch außerhalb seiner steht. Als »gebrochene Ursprünglichkeit, die nicht über sich selbst verfügt« (7, 416), ist das Sein des Menschen von einer keimhaften Spaltung durchzogen, »so dass niemand von sich selber weiß, ob er es noch ist, der weint und lacht, denkt und Entschlüsse fasst, oder dieses von ihm schon abgespaltene Selbst, der Andere in ihm, sein Gegenbild und vielleicht sein Gegenpol« (Stu, 372). Hierin liegt die Möglichkeit des Schauspielers, des »Sich in Etwas Hineinsteigerns« (Stu, 371), so wie etwa der Schauspieler, der leidenschaftlich vorgibt, eine Person (ein Objekt) zu sein, mit dem er sowohl unterschieden, als auch identisch ist. Plessner stellt sich mit dieser dialektischen Konzeption der Innenwelt kritisch jener Tradi152

A. a. O., S. 431.

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tion gegenüber, die bei Descartes anfängt und bis in den Neukantianismus hineinreicht, der zufolge seelische Phänomene ausschließlich Gegenstand der Selbstbesinnung sind und damit wie Bewusstseinsinhalte behandelt werden. Seelische Zustände sind beim Menschen weder allein in »Selbststellung« (wie bei Tier, das in seine Mitte gestellt ist und in dieser aufgeht), noch in bloßer »Gegenstandsstellung« (wie im Cartesianismus) gegeben. Es gilt vielmehr: »In Selbststellung wie in Gegenstandsstellung, als durchzumachende wie als beobachtbare Wirklichkeit, erscheine ich mir, indem ich selbst die Wirklichkeit bin.« (Stu, 371) Die Exzentrizität, aus der heraus der Mensch sein Leben bzw. sich erlebt und seine »Selbststellung« transzendiert, führt dazu, dass die Person an sich individuelles Selbst und allgemeines Selbst unterscheiden muss. Allerdings tritt ihm dieser Tatbestand, so Plessner, gewöhnlich nie in der abstrakten Form, sondern nur in der Gemeinschaft mit andern Wesen vor Augen. »Der Mensch sagt zu sich und anderen Du, Er, Wir – nicht etwas darum, weil er erst auf Grund von Analogieschlüssen oder einfühlenden Akten in Wesen, die ihm am konformsten erscheinen, Personen annehmen müsste, sondern kraft der Struktur der eigenen Daseinsweise.« (Stu, 373)

Hier kommt nun die »Mitwelt« ins Spiel, die Plessner in ausdrücklicher Anlehnung an Hegel und in Anspielung auf Hegels Schilderung der Dialektik des Selbstbewusstseins in der Phänomenologie des Geistes konzipiert. 153 Ebenso wie Hegel den Geist als Einheit des Gegensatzes verschiedener für sich seiender Selbstbewusstseine, als das »Ich, das Wir, und das Wir, das Ich ist«, charakterisierte, so begründet aus Plessners Sicht die exzentrische Positionalität den »geistigen Charakter der Person« als die »Wir-Form des eigenen Ich« (Stu, 377). Scharf kritisiert Plessner all jene Theorien, die glauben, der Mensch verfalle auf die Idee einer Mitwelt durch Lernen und intellektuelle Konstruktion: Gerade bei Kindern, aber auch bei primitiven Völkern beobachte man einen durchgehenden Hang zur Anthropomorphisierung und Personifizierung selbst der toten Dinge, die als solche erst in einem »Ernüchterungsprozess« im Rahmen einer »Verstandeskultur« ins Bewusstsein treten.

153 Krüger spricht in diesem Zusammenhang m. E. zu Recht von einer von Plessner »selbst-verständlich unterstellte[n] Korrelation seines Textes mit Hegels Kotext« (d. h. mit der Phänomenologie des Geistes), a. a. O., S. 301.

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Der Mensch erfährt sich demnach in einer Gemeinschaft anderer Wesen, nicht weil er die eigene Lebensform nach außen projiziert, sondern weil dies zu den »Vorbedingungen der Sphäre menschlicher Existenz« gehört. »Real ist die Mitwelt, wenn auch nur eine Person existiert, weil sie die mit der exzentrischen Positionsform gewährleistete Sphäre darstellt, die jeder Aussonderung in der ersten, zweiten, dritten Person Singularis und Pluralis zugrunde liegt.« (Stu, 377) Der Mensch erfährt die Welt damit. von einem Standpunkt aus, der potenziell auch von seinesgleichen, d. h. vom anderen Subjekt, eingenommen werden könnte: »Als Glied der Mitwelt steht jeder da, wo der andere steht.« (Stu, 378) »View from Nowhere« hat der amerikanische Philosoph Thomas Nagel 154 jenen Standpunkt des Bewusstseins genannt, in dem der Mensch seine eigene Position wie aus einem virtuellen Außenraum heraus erfasst. Plessner deutet diesem Raum, den der Mensch in seiner Exzentrizität gleichsam außerhalb seines Leibes einnimmt, insbesondere in seinen späteren Schriften als den sozialen Raum, in dem der Mensch mit seinesgleichen verkehrt; ein sozialer Raum, der den physischen Raum immer schon voraussetzt. In den Stufen spricht er – ähnlich wie Nagel – auch von einer »Ort-Zeitlosigkeit der eigenen Stellung«, kraft derer er Mensch ist; eine Stellung, der er »für sich selber und für jedes andere Wesen in Anspruch nehmen kann« (Stu, 374). Denn von der Mitwelt gilt weder (wie von der außermenschlichen Natur), dass sie den Menschen umgibt noch, dass die Person von ihr erfüllt ist, sondern die »Mitwelt trägt die Person, indem sie zugleich von ihr getragen und gebildet wird: Zwischen mir und mir, mir und ihm liegt die Sphäre dieser Welt des Geistes.« (Stu, 376) Das »Zwischen« im intersubjektiven Sinne (mir und ihm) ist ebenso innerhalb des erfahrenden Subjektes angesiedelt und begründet als solches die exzentrische Position des Subjektes, aus der heraus es sich und die es umgebenden Dinge als solche erleben kann. Die Exzentrizität versetzt das Subjekt in einen Standpunkt unvordenklicher Allgemeinheit; die bestimmt, »dass die individuelle Person an sich selbst individuelles und ›allgemeines‹ Ich unterscheiden muss«. (Stu, 373) »Verglichen mit anderen zur Selbstbewegung fähigen Wesen«, so Gerhardt, »gelangt der Mensch so zu einer umfassenderen Form der Organisation, weil er seine Vollzüge nicht mehr aus der Grenzerfahrung seiner unmittelbaren Um154

Nagel, Thomas, The View from Nowhere, New York 1986.

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gebung reguliert, sondern von einer Position ›mit Überblick‹, gleichsam von außen steuert.« 155 Diese Distanz, aus der heraus das Subjekt sich und seine Welt erlebt, dieses allgemeine Ich, begründet die Objektivität des Selbstbewusstseins, die Plessner in ausdrücklicher Anlehnung an Hegel geltend macht – ohne allerdings damit (wie im Folgenden näher zu betrachten sein wird) – den Standpunkt des Absoluten bzw. des absoluten Geistes im humanen Selbstbewusstsein ansiedeln zu wollen: »Ohne Rücksicht auf das vom Geist Getragene, als Geist sich Aussprechende lässt sich die Sphäre des Geistes nur als subjektiv-objektiv neutral, d. h. als gegen die Unterscheidung von Subjekt und Objekt indifferent bestimmen. Das Prädikat der Absolutheit hat für diese Schicht aber noch keine Berechtigung gewonnen.« (Stu, 379)

Im Gegensatz zu Hegel insistiert Plessner darauf, dass die Perspektive des Menschen auf seine Welt, so wie sie sich aus der exzentrischen Positionalität ergibt, eine menschliche bleibt, in der »alle menschlichen Dinge« sich begegnen. Oder, mit anderen Worten: »In der Mitwelt gibt es nur Einen Menschen, die Mitwelt gibt es nur als Einen Menschen.« (Stu, 378) Plessner scheint mit dieser Deutung darauf abzuzielen, die Möglichkeitsbedingungen dessen ableiten zu wollen, was Kant in seinem kategorischen Imperativ immer schon voraussetzt, ohne es theoretisch wirklich einholen zu können: Nämlich den anderen Menschen, der sich offenkundig als solcher kundtut, auch unbezweifelbar als Menschen erkennen zu können. Hier geht es ihm – der als Halbjude und zudem durch eine körperliche Behinderung am rechten Arm doppelt von Ausgrenzung bedroht war – offenkundig weniger um die Anerkennung der Freiheit und Autonomie des Einzelnen, sondern um die Anerkennung des faktischen Menschseins als solchen. Auch Thomas Bek kommt zu dem Schluss: »Die eigene körperliche Einschränkung und die Erfahrungen mit der geschichtlichen Situation ermöglichen ihm eine besondere Sensibilität in der Reflexion über den Menschen und der harten Erprobung der Haltbarkeit des eigenen Entwurfs an der Realität.« 156 In der Tat scheint 155 Gerhardt, Volker, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 204. 156 Bek, Thomas, Helmuth Plessners geläuterte Anthropologie. Natur und Geschichte: Zwei Wege einer Grundlegung Philosophischer Anthropologie verleiblichter Zweideutigkeit, Würzburg 2011, S. 435. Bek verweist hier auf eine Anekdote, die Plessners Frau Monika Plessner aufgezeichnet hat, der zufolge Plessner seine Moti-

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hier, auf dem Gebiet des Ethischen, der wahre Grund für Plessners emphatische Betonung der Offenheit zu liegen, in der der Mensch seinesgleichen als seinesgleichen in seinem Leben gegenübertritt. So schließt Plessner sein Kapitel über die Mitwelt auch mit folgenden emphatisch geladenen Sätzen ab: »Die Sphäre, in der wahrhaft Du und Ich zur Einheit des Lebens verknüpft sind und einer dem anderen ins aufgedeckte Antlitz blickt, ist dem Menschen vorbehalten, die Mitwelt, in der nicht nur Mietverhältnisse herrschen, sondern das Mitverhältnis zur Konstitutionsform einer wirklichen Welt des ausdrücklichen Ich und Du verschmelzenden Wir geworden ist.« (Stu, 382)

In Plessners Analyse und Interpretation der Mitwelt, in der nicht nur Mitverhältnisse (»intersubjektive Verhältnisse«) herrschen, sondern das Mitverhältnis zur Konstitutionsform einer eigenen Form von Weltlichkeit und sozialer Wirklichkeit geworden ist, kommt damit jene Dialektik der Grenze, der zufolge sie in ihrer trennenden Funktion zugleich verbindend und vermittelnd wirkt, vollends zur Geltung. Zugleich kann Plessner hier seine These endgültig erhärten, dass die Grenze im Falle des Lebendigen nicht nur das »virtuelle Zwischen« dem einen und dem anderen, sondern selbst eine Realität – nämlich die des sozialen Lebens – darstellt. Letzteres gilt vollkommen allerdings auch nur für den Menschen: Das Tier hat aus Plessners Sicht zwar Sozialverhalten, vom tierischen Umfeld kann man allerdings nicht als von einem »Mitfeld« sprechen. Die Artgenossen des Tieres, die »Mittiere«, bilden für das Tier keine eigene und ausgezeichnete Umgebung (so, wie für den Menschen die Mitmenschen), sondern »sind mit dem Umfeld als Ganzem verschmolzen und werden daher in ihm sinnentsprechend behandelt« (Stu, 381).

vation, Philosophie zu betreiben, einmal nicht mit einer tiefsinnigen Rede begründet haben soll, sondern mit einem Verweis auf seine Behinderung: »Er hob den rechten mit dem linken Arm auf den Tisch: Deshalb!«, s. Plessner, Monika, Die Argonauten auf Long Island. Begegnungen mit Hannah Arendt, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und anderen, Berlin 1925, S. 25.

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3.4. Schlussbetrachtung So sehr sich Plessner in seiner Deutung des Geistes als »Wir-Form des eigenen Ich« Hegel offenkundig in inhaltlicher und terminologischer Hinsicht annähert, so sehr unterscheidet er sich doch zugleich von Hegel durch seine Deutung der Conditio humana als exzentrische Positionalität. Bei allen Berührungspunkten tritt die Differenz, ja Gegensätzlichkeit, von Plessners natur- und lebensphilosophisch fundierter Anthropologie und Hegels Philosophie des absoluten Geistes in den sogenannten drei anthropologischen Grundgesetzen zutage, die Plessner am Ende seines Kapitels über den Menschen aufstellt und die sich den drei Sphären der menschlichen Existenz – Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt – zuordnen lassen. Plessner will mit diesen Gesetzen aufzeigen, wie der Mensch seine exzentrische Positionalität durchführt und welche Grundmerkmale seine Existenz besitzt. Eine genauere Analyse dieser Kapitel kann hier nicht mehr geleistet werden; es sollen nur einige Punkte aufgezeigt werden, die für den Vergleich mit Hegel als besonders relevant erscheinen. Im Gesetz der »natürlichen Künstlichkeit« versucht Plessner den Ursprung von Technik und Kultur aus der exzentrischen Positionalität abzuleiten. Hier steht das Verhältnis Mensch – Natur (Außenwelt) im Vordergrund. Sein entscheidendes Argument ist, dass, während das Tier aus der Mitte hinaus in dieselbe hinein lebt und in diesem Sinne in seinem Zentrum unmittelbar »aufgeht«, dem Mensch es aufgegeben ist, das Sein, was er ist, immer erst herstellen zu müssen: »Ortlos, zeitlos ins Nichts gestellt, schafft sich die exzentrische Lebensform ihren Boden. Nur sofern sie ihn schafft, hat sie ihn […] Der Mensch lebt also nur, wenn er ein Leben führt.« (Stu, 391) Weil der Mensch das Sein, das er ist, erst im Vollzug dieses Seins verwirklichen kann, »braucht er ein Komplement nichtnatürlicher, nichtgewachsener Art. Darum ist er von Natur, aus Gründen seiner Exzentrizitätsform, künstlich.« (Stu, 384 f.) So wird dem Menschen die künstlich geschaffene Sphäre der Kultur zur zweiten Kultur: »Existenziell bedürftig hälftenhaft, nackt ist dem Menschen die Künstlichkeit wesensentsprechender Ausdruck seiner Natur.« (Stu, 391) Im Gesetz der »vermittelten Unmittelbarkeit – Immanenz und Ausdruck« knüpft Plessner von hier ausgehend an Dilthey und Hegel an: Als exzentrisch organisiertes Wesen, das hinter und über sich steht, lebt der Mensch in »Abhebung von allem, was er ist, und was um ihn ist« (Stu, 404). Gerade durch die Distanz, die er zu sich selbst 310 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Schlussbetrachtung

im Erkennen von etwas als etwas innehat, steht er aber aus Plessners Sicht zu den Dingen zugleich in einem direkten Realkontakt. Denn er selbst vollzieht sich in der Vermittlung von Subjekt und Objekt als diese Vermittlung, so dass die Vermittlung ihn als das vermittelnde Subjekt im Vollzug »tilgt«. Die unbestreitbare Immanenzsituation des Bewusstseins ist daher für Plessner kein Argument gegen die Realität der Außenwelt – im Gegenteil. Der Bezug zur Außenwelt wird nach Plessner gerade in den Ausdrucksleistungen, d. h. dem Streben des Menschen, sich auszudrücken, deutlich: Ausdruck ist eine »das Innere wirklich nach außen bringende Lebensregung« (Stu, 410), die ihren Sinn aus dem Realkontakt des Bewusstseins mit der Außenwelt bezieht. Im Ausgang seiner Lehre der vermittelten Unmittelbarkeit knüpft Plessner von hier aus an Dilthey an, der die These vertrat, dass dem Menschen ein Verstehen seines eigenen Wesens nur im Umweg über die Reflexion seiner Geschichtlichkeit seines Daseins – wie sie sich im menschlichen Ausdruck manifestiert – gegeben ist. Auch Plessner sagt: »Es ist Gesetz, dass im letzten die Menschen nicht wissen, was sie tun, sondern es erst durch die Geschichte hindurch erfahren.« (Stu, 419). Geschichte ist aber von hier aus bei Dilthey wie bei Plessner nicht mehr – wie bei Hegel – als Medium der Selbstverwirklichung der Vernunft, als zu-sich-Kommen des Geistes zu denken. In seiner späteren Schrift fasst Plessner seinen schon in den Stufen angedachten Standpunkt dahingehend zusammen, dass das Wesen des Menschen vielmehr »unergründlich« sei; der Mensch sei als potenziell unerschöpfliche, schöpferische Kraft, als »Könnenzu« und darin zugleich als »offene Frage« zu verstehen. Das menschliche Leben stehe zu sich in einer »Unbestimmtheitsrelation«: »In dieser Relation der Unbestimmtheit zu sich fasst sich der Mensch als Macht und entdeckt für sich sein Leben, theoretisch und praktisch, als offene Frage.« (5, 188) Die Unergründlichkeit des Menschen steht auch im letzten Gesetz der Stufen, im »Gesetz des utopischen Standorts: Nichtigkeit und Transzendenz« im Vordergrund, welches in eine Hegel direkt entgegengesetzte Richtung weist. Denn weit davon entfernt, sich in seiner individuellen Wirklichkeit zugleich als absoluter Geist zu wissen, kennzeichnet aus Plessners Sicht eine »konstitutive Wurzellosigkeit« (Stu, 419), ein »Stehen im Nirgendwo« (Stu, 424) die Lage des Menschen: Als exzentrisches Wesen ist er stets im Ungleichgewicht, konstitutiv heimatlos und darin gefährdet. »Zwischen Natur und Gott, zwischen dem, was kein Selbst ist und dem, was ganz selbst ist, steht 311 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

der Mensch, der sein Selbst sich präsentiert. […] Er ist gebrochene Ursprünglichkeit, die nicht über sich selbst verfügt.« (VII, 416) Plessner glaubt hieraus – ganz im Gegensatz zu Hegel – »eine absolute Feindschaft« zwischen Religion und Kultur ableiten zu können: »Zwischen ihr und der Kultur besteht daher trotz aller geschichtlichen Friedensschlüsse […] eine absolute Feindschaft. Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Geborgenheit, muss sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück. […] Ein Weltall lässt sich nur glauben.« (Stu, 420)

Hier wird man Plessner wohl den Vorwurf machen dürfen, dass er seinen Naturalismus zu weit treibt, indem er Entfremdung als »gebrochene Ursprünglichkeit« zum Naturzustand erklärt. Ein Weltall lässt sich nicht nur glauben, insofern die Einheit des Universums sich in der Immanenz der Vergangenheit im Gegenwärtigen manifestiert: Ohne diese Immanenz, die einen Urtatbestand unserer Erfahrung darstellt, gäbe es auch keine Geschichtlichkeit und kein Verstehen des eigenen biographisch beschreibbaren Lebens bzw. der Geschichte der Menschheit als Ganzer, die eben anders verlaufen wäre, wenn Hitler den Zweiten Weltkrieg gewonnen und Caesar den Rubikon nicht überschritten hätte. Durch eben dieselbe Immanenz des Vergangenen im Zukünftigen ist ferner auch ein spezifisches Vertrauensverhältnis zu den uns umgebenden Dingen und Personen gegeben, insofern diese erfahrungsgemäß etwas Bleibendes darstellen – es sei denn, wir werden aus unserer Heimat verbannt. Wenn es gar keine Heimat für den Mensch gäbe, dann gäbe es auch kein Exil, kein Asyl, keine Zwangsumsiedlung und keine Flüchtlingskrise. Die Auffassung, dass der Mensch schlechterdings wurzellos ist, wie sie für nahezu die gesamte Generation zwischen den Weltkriegen, ebenso für Heidegger wie für Ortega typisch war, ist überzogen und verweist vielmehr unfreiwillig sehr wohl auf einen Ort, an dem so etwas wie die Heimat des Mensch eben doch gegeben ist. Dieser Ort lässt sich im Ausgang von Hegel auch genauer bestimmen: Es ist die Wahrheit, in der sich Menschen als Menschen gegenseitig respektieren und anerkennen – und dementsprechend handeln. Gerade Plessners eigene Konzeption der Mitweltlichkeit als Grundlage des Geistes legt es nahe, diese Wahrheit als Heimat des Menschen als eines geistigen Wesens aufzufassen. Dann aber wird man zugleich auch Hegel darin recht geben müssen, dass im humanen Selbstbewusstsein nicht nur die Beziehung auf ein in-sich-kon312 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Schlussbetrachtung

kretes Allgemeines, sondern damit zugleich auf ein Absolutes angelegt ist. Insofern schon Hegel ein »allgemeines Ich« postuliert, das im Sich-Gegenübersein zweier Subjekte zu sich kommt, kann er des Weiteren zumindest als Vordenker einer exzentrischen Positionalität des Menschen gelten, zumal er – wie schon bemerkt – davon ausgeht, dass der eine Mensch in seinem Anderen sich selbst sieht: das Bewusstsein »sieht sich selbst im Anderen« (3, 146). Gelungenes Selbstsein ist aus Hegels Sicht nur dort gegeben, wo es dem Subjekt gelingt, die damit gegebene Selbstentfremdung aufzuheben, so dass das Subjekt im Anderen bei sich selbst ist. Dieser Bewegung entspricht – wie gezeigt wurde – eine Rückkehr aus der Entäußerung zurück in das eigene Selbst. Das könnte man in der Terminologie Plessners auch so formulieren, dass in der Rückkehr der Gegensatz von Exzentrizität und Innenwelt aufgehoben wird; ein Gegensatz, an dem Plessner aber festzuhalten scheint. Dadurch begibt er sich unfreiwillig in die Nähe zu einem Existenzialismus wie dem Sartres, demzufolge der Mensch in seinem Fürsichsein stets von dem, was er an sich ist, getrennt bleibt. Hier tut sich die Frage auf, ob Plessner am Ende der Stufen nicht seinen eigenen Ansatz untergräbt, der damit ansetzte, die cartesische Spaltung in einer Theorie der Grenze zu unterlaufen. Denn Plessner macht am Ende seiner Schrift die vor allem Differenz – und nicht die Einheit – von Innenwelt, Natur und Mitwelt stark. Vor diesem Hintergrund ist auch Plessners These zu hinterfragen, der gemäß Kultur und Technik die »Hälftenhaftigkeit« des Menschen in dem Sinne insofern kompensieren, insofern der »exzentrischen Positionalität« notwendig eine »Ergänzungsbedürftigkeit« des Menschen entspringe (Stu, 385). Platon glaubte bekanntlich, dass Mann und Frau einmal ein kugelförmiges Wesen gewesen sind, das eifersüchtige Götter in zwei Hälften auseinandergeschnitten haben. Auch in zahlreichen Sprachen ist mit der sprichwörtlichen »anderen Hälfte« des Menschen der andere Mensch – in diesem Fall der Beziehungspartner gemeint. Plessner scheint aber die andere Hälfte des Menschen nicht als den Mitmenschen, als »Du«, sondern als außermenschliche Natur zu denken, und in diesem Sinne bleibt seine Deutung des Ursprungs von Technik und Kultur einer vorwiegend naturalistischen Sichtweise auf den Menschen verhaftet. Plessners großes Verdienst, Geist und Natur in einer genialen Stufenfolge in Zusammenhang gesetzt zu haben, soll mit diesen kritischen Anmerkungen nicht in Abrede gestellt werden. Nur bleibt der Geist und mit ihm der Begriff der Integrität bzw. Wahrheit in seinem System unterbestimmt. 313 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Die Stufen des Organischen und der Mensch bei Plessner

Umgekehrt wird man Hegel heute nicht darin folgen können, dass das Absolute als absolutes Wissen-von-sich und als Aufhebung aller Natur im humanen Selbstbewusstsein existiert. Der Punkt ist nicht nur, dass es offenkundig zur Natur des Wissens gehört, nicht absolut zu sein. 157 Sondern vielmehr scheint heute auch alles dafür zu sprechen, dass der Ort, wo der eine Mensch auf dem Grunde seines Wesen den anderen Menschen findet und bei dem es sich in diesem Sinne um den gemeinsamen Ursprung aller Menschen handelt, zugleich in der Natur angesiedelt ist. Außenwelt und Mitwelt, Natur und Mensch, mögen sich zwar in der bloßen Theorie auseinanderhalten lassen. In einer von Gewalt und Zerstörung geprägten Praxis sind sie aber dennoch miteinander identifiziert, wie gerade die gegenwärtige Wirklichkeit belegt. Es ist heutzutage überhaupt nicht mehr möglich, die soziale und die ökologische Frage getrennt voneinander zu behandeln. Zu diesem Schluss kamen die Vereinten Nationen bereits 1992: »Frieden, Entwicklung und Umweltschutz bedingen einander und sind unteilbar.« 158 Rein empirisch betrachtet spricht damit alles dafür, dass das Spannungsverhältnis von Konflikt und Harmonie, in dem der eine Mensch zum anderen Menschen steht, sich nicht von dem Verhältnis abkoppeln lässt, in dem der Mensch zur sogenannten außermenschlichen Natur steht. Dies lässt die abendländische Trennung von Mensch und Natur aber als Ganze fragwürdig erscheinen: Von einer »Unteilbarkeit« der Mensch-Natur-Beziehung will die abendländische Philosophie von ihren Anfängen an nichts wissen, insofern sie – wie gerade Adorno und Horkheimer darlegten – auf Überwindung der Natur abzielt. Auch noch Hegel glaubte, wie gezeigt wurde, dass der Geist die Natur – selbst die Liebe – völlig überwinden muss, um zu sich zu kommen. Um zu einem tieferen Verständnis der Identifikation von Natur und Mensch zu gelangen, wird man daher m. E. ein wesentlich metaphysischeres Verständnis des Verhältnisses von 157 Vgl. hierzu: Theunissen, Michael, Begriff und Realität. Hegels Aufhebung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs, in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hg. v. Rolf-Peter Horstmann, Frankfurt am Main 1978, S. 324–359. 158 Vereinte Nationen, Rio-Erklärung über Umwelt und Entwicklung, 1992, Grundsatz 25. Vgl. a. Grundsatz 24: »Kriegshandlungen haben ihrer Natur nach zerstörerische Auswirkungen auf die nachhaltige Entwicklung. Aus diesem Grund haben die Staaten die völkerrechtlichen Bestimmungen über den Schutz der Umwelt in Zeiten bewaffneter Auseinandersetzungen zu achten und soweit erforderlich zusammen weiterzuentwickeln.«

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Schlussbetrachtung

Natur und Mensch entwickeln müssen, als dies bei Hegel oder Plessner der Fall ist. In diesem Zusammenhang ist es angezeigt, auch einmal zumindest darauf hinzuweisen, dass sich – christlich betrachtet – die Idee des Lebens ja noch gar nicht vollkommen verwirklicht hat: Ein harmonisches Zusammenleben von Mensch und Natur war immer schon eine Utopie. Zumindest Hegel – insofern er mit seiner Philosophie beansprucht, die Selbstdeutung des Christentums zu leisten – wird man hier vorhalten müssen, in seiner Philosophie beharrlich zu ignorieren, dass das Christentum eine Erlösungsreligion darstellt, die dem Menschen – wenn diese Welt schlechterdings am Ende ist – nicht nur Versöhnung, sondern einen »neuen Himmel und eine neue Erde« (Offb., 21, 1) verheißt; eine Welt, in der er selbst und alle Kreaturen »vollkommen anders« werden und doch darin wohl gerade das sein werden, was ihnen von jeher zu sein bestimmt war. 159 Christlich betrachtet ist Satan der Fürst dieser Welt. (LK, 4,6; MT, 4,6) Hegels Vergottung des Staates als Ziel- und Endpunkt der Weltgeschichte – wie sie sein späteres Werk charakterisiert – ist gerade vor diesem Hintergrund kaum als christlich zu bezeichnen.

159

Theunissen, Negative Theologie der Zeit, a. a. O., S. 315.

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4. Ausblick

Wenn die soziale Praxis als realisierte Form der Harmonie (oder Disharmonie) zwischen den Menschen zugleich die Beziehungen des Menschen zur außermenschlichen Natur regulieren sollte, dann legt dies den Gedanken nahe, dass auf dem Grunde des Seins eine Harmoniebeziehung angesiedelt ist – ein Gedanke, der in Europa ursprünglich von Leibniz stammt. Wie nun aber Hegel in seiner Kritik an Leibnizens Prinzip der universellen Harmonie zu Recht aufgezeigt hat, muss es sich bei dieser Form der Harmonie um eine Form von innerer Harmonie, d. h. um eine Selbstintegration handeln, die als Zusammengehen mit sich und als Im-Andern-bei-sich-selbst-Sein (Freiheit) zugleich die Form einer Selbstentsprechung, d. h. einer Wahrheit hat: Das Subjekt muss in der universellen Harmonie als diese Harmonie mit sich zusammengehen. Dies impliziert ein zugleich geistiges Dasein, in dem das Allgemeine für das Allgemeine, d. h. als Begriff für den Begriff, gegeben ist. Nur so macht es Sinn, das Allgemeine, wie Hegel, als »freie Liebe« zu bestimmen. Entscheidend ist hier erstens Hegels Einsicht, dass das Allgemeine für das Allgemeine, d. h. das Absolute als vollendete Einheit, nur durch die Entgegensetzung von Realität und Idealität hindurch gegeben ist, und dass zweitens nur der Mensch in seiner Universalität bzw. als selbstbewusstes Wesen in der Lage ist, den Gegensatz von Idealität und Realität im Sich-miteinander-Auseinandersetzen, im gegenseitigen Anerkennen, aufzulösen. Zumindest diese beiden sich implizierenden Ansicht bzw. Entdeckungen Hegels wird man zweifelsohne als das »Erbe Hegels« bezeichnen können. Und nur vor dem Hintergrund dieses Erbes, demzufolge Ich und Du ihre Grenze im gemeinsamen »Wir« transzendieren, macht es auch Sinn, den Ursprung des Selbstbewusstseins wie bei Plessner im dialektischen Wesen der Grenze zu suchen, die alle Dinge – und insbesondere den Menschen – in der Trennung zugleich aufeinander bezieht. Ein zentrales Problem von Hegels Philosophie stellt allerdings – 316 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

Ausblick

gerade auch unter dieser Perspektive – die Abwertung der Natur im Allgemeinen und der Anthropologie im Besonderen dar. In Bezug auf die außermenschliche Natur ist zunächst herauszustellen, dass Hegel für das Naturschöne, für die Harmonie der Natur, völlig unempfänglich war, wofür wohl nicht unwesentlich sein Protestantismus und dessen Sinnesfeindlichkeit, aber auch eine persönliche Disposition 160 verantwortlich war: »Man hat«, so Hegel, »den unendlichen Reichtum und die Mannigfaltigkeit der Formen der Natur ganz unvernünftiger Weise die Zufälligkeit, die in die äußerliche Anordnung der Naturgebilde sich einmischt, als die hohe Freiheit der Natur, auch als die Göttlichkeit derselben oder wenigstens als die Göttlichkeit in derselben gerühmt. Es ist der sinnlichen Vorstellungsweise zuzurechnen, Zufälligkeit, Willkür, Ordnungslosigkeit für Freiheit und Vernünftigkeit zu halten«. (9, 34 ff.)

Heute wissen wir, dass Hegel in dieser Hinsicht grundlegend falsch lag. Die Natur ist ein unendlich komplexes Ordnungsgefüge, in der eine unüberschaubare Zahl von Lebensformen eben nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich aufeinander bezogen sind. Organismus und Umwelt lassen sich daher gar nicht wirklich voneinander trennen und jeder Organismus ist wiederum Umwelt für andere Organismen. Gerade Whitehead hat in seiner »organical philosophy« von hier ausgehend das Prinzip der ausbalancierten Komplexität als Grundzug lebendiger Systeme, als Grundzug des Lebens betont. Ähnlich wie Bergson hat Whitehead dabei zugleich die ungeheure Kreativität der Natur herausgestellt. Hier stehen beide in der Tradition Leibnizens, welcher der Natur unterstellte, dass sie danach trachte, größtmögliche Mannigfaltigkeit mit größtmöglicher Ordnung zu verbinden. Und in der Tat erscheint es gerade nach heutigem Wissensstand erstaunlich, wie die Natur gleichsam schlafwandlerisch ihre Balance im unentwegten Schöpfen und Erschaffen von Milliarden von Lebensformen im Laufe der Evolution erhalten hat. 160 Im Sommer 1796 als Hauslehrer in Bern unternimmt Hegel mit knapp 26 Jahren mit drei anderen Hauslehrern eine vierzehntägige Wanderung durch die Berner Ostalpen. Für seine Begleiter ist dieser Marsch Erholung; Hegel indes muss sich offenbar zwingen mitzulaufen. In sein Reisetagebuch notiert er: »Die Vernunft findet in dem Gedanken der Dauer dieser Berge oder in der Art von Erhabenheit, die man ihnen zuschreibt, nichts, das ihr Staunen und Bewunderung abnötigte. Der Anblick dieser ewig toten Massen gab mir nichts als die einförmige Vorstellung: es ist so.« Zitiert nach Böhmer, Otto A., Friedrich Hegel: Genius c. t., ZEIT Campus Nr. 6/2008, ZeitOnline.

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Hier ist nun ein weiterer Zug der Natur hervorzuheben, der bei Hegel unbeachtet bleibt: Die Natur ist erfinderisch. Zwar kommt auch Hegel nicht umhin einen Zusammenhang, zumindest eine Analogie, zwischen Natur und Phantasie, Natur und Imaginationsvermögen (Vorstellen) zu diagnostizieren; er sieht in der Natur aber fälschlicherweise nur ungeordnete, »willkürliche Einfälle des Geistes« (LII, 181). Wenn aber die Natur auch in irgendeinem Sinne geistig sein sollte – was ihre unerschöpfliche Kreativität gerade insofern nahelegt, als sie darin einen komplexen Ordnungszustand aufrechterhält –, dann kann man die gängige Redeweise vom Erfindungsreichtum der Natur auch einmal wörtlich nehmen und auf die Natur als Ganze übertragen. Die Frage lautet dann: Wie kann etwas, das wie die Natur seinem inneren Wesen nach unendlich ist, sich selbst erfinden und als konkrete Wirklichkeit selbst erschaffen? Man wird sagen, dass das Sich-selbst-Erfinden und Sich-selbst-Erschaffen ein Paradox darstelle, da das Subjekt, das sich da erfindet, doch immer schon objektive Realität gehabt haben muss, um sich zu erfinden. Das Leben scheint unmöglich zu sein, da es sich selbst schon immer irgendwie voraussetzt. Der Gedanke der Selbstschöpfung der Natur scheint in diesem Zusammenhang die Ordnung der Zeit – so wie sie unserer Erfahrung gegeben ist – zu verletzen. Nun schafft das Leben, wie gerade Whitehead gezeigt hat, sich seine Zeiten und Räume selbst – Lebensraum und Lebenszeit. Aber auch schon bei Aristoteles und Platon ist das Leben gegenüber der Zeit als das Fundierende aufzufassen: »Für Aristoteles, wie für Platon ist es«, wie Böhme zu Recht betont, »das Leben, das seine Zeit sich schafft.« 161 Und möglicherweise ist nun die Raumzeit genau so beschaffen, dass sie solch einen Vorgang möglich macht. Interessant ist vielmehr die Frage nach dem Wesen der Schöpfung an Hegel zu stellen: Hegel hat – wie wir sahen – die natürliche Evolution als Entfaltung einer Wahrheit interpretiert: »Die Natur«, so Hegel, »ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der andern notwendig hervorgeht und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher sie resultiert«. (9, 37) Dabei stellt sich aber gerade bei Hegel die Frage, ob in seinem System ein diese Wahrheit verstehender Geist und damit das humane Selbstbewusstsein uranfänglich vorausgesetzt ist. So behauptet Hegel: »Die Idee, welche für sich ist, nach dieser Einheit mit sich betrachtet, ist sie Anschauen, und die 161

Böhme, a. a. O., S. 81.

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anschauende Idee Natur«. (8, 393) Aber wer kann die Natur denn anschauen, wenn Mensch und Tier erst aus ihr hervorgehen? Hegel kann hier nicht einfach auf Gott als Motor der Entwicklung des Begriffes bzw. als Anschauenden zurückgreifen, denn er selbst sagt in Anlehnung an Göschel: »Gott ist Gott nur, insofern er sich selber weiß; sein Sich-Wissen ist ferner sein Selbstbewusstsein im Menschen und das Wissen des Menschen von Gott, das fortgeht zum Sich-Wissen in Gott« (10, 374). Zweifelsohne betrifft die Frage nach dem Wesen der Schöpfung bzw. nach dem Verhältnis von Geist (Idealität) und Natur (Realität) ein zentrales Problem des hegelschen Denkens, nämlich die Frage, wie die Entäußerung der Idee in und als die Natur zu denken ist. Wie Vittorio Hösle und Dietmar Wandschneider betonen, handelt es sich dabei um eine Thematik, die »bei Hegel selbst mit geradezu lakonischer Knappheit abgehandelt und auch in der Hegelauslegung kaum thematisiert und interpretiert worden ist.« 162 Hegel zufolge ist »Erschaffen […] die Tätigkeit der absoluten Idee; die Idee der Natur ist, wie die Idee als solche, ewig.« (9, 26) Nun ist die Feststellung, dass die Idee ewig ist, tautologisch und banal; die Frage ist, wie die Idee sich erschafft – d. h, der Sprung in die Zeitlichkeit. Wie rechtfertigt Hegel den Übergang von der Idee als Wissenschaft »nur des göttlichen Begriffes« (LII, 572) zur Natur? Wie wir gesehen haben, ist Hegels entscheidendes Argument in Bezug auf die Entäußerung der Idee als der Natur, dass sich am Ende der logischen Entwicklung der Idee die Unmittelbarkeit des reinen Seins wiederherstellt. Offenkundig impliziert aus Hegels Sicht diese Wiederherstellung ein Umschlagen der absoluten Idee in das Sein der Natur. Denn das Sein, das sich am Ende der Logik in seiner Unmittelbarkeit wiederherstellt, ist nicht mehr das abstrakte Sein des Anfangs, sondern das unendlich vermittelte, aber seine Vermittlung aufgehoben habende unmittelbare Sein: »Das, womit wir anfingen, war das Sein, das abstrakte Sein, nunmehr haben wir die Idee als Sein; diese seiende Idee aber ist Natur.« (8, 393) Vittorio Hösle und Dietmar Wandschneider interpretieren diese Sätze folgendermaßen: »Die Idee als Totalität ist nicht mehr diskursive Vermittlung, sondern, in ihrer Vollendung, wieder Unmittelbarkeit; nicht mehr Denkvollzug, sondern ›Anschauen; und die anschauende Idee Natur‹ (Enz. 5, 244): ein seien162 Hösle, Vittorio/Wandschneider, Dietmar, Die Entäußerung der Idee zur Natur und ihre zeitliche Entfaltung als Geist bei Hegel, in: Hegel-Studien, Bd. 18 (1983), S. 175. Weitere Literatur zu dieser Thematik dort S. 175, Anm. 5.

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des Totum, das als solches aus dem logischen Vermittlungszusammenhang gleichsam entlassen, freigelassen ist.« 163

Diese Deutung ist zweifelsohne zutreffend. Drei weitere Punkte könnten noch angeführt werden: Erstens ist es für Hegel nicht nur so, dass alles Wirkliche bestimmt ist; sondern auch umkehrt, dass das, was völlig selbstbestimmt ist, aus sich selbst heraus seine Verwirklichung anstrebt bzw. sich in dieser vollendet, da Unbestimmtheit ein Charakteristikum nur des möglichen Seins ist. In diesem Sinne heißt es: »Die reine Idee, in welche die Bestimmtheit oder Realität des Begriffes selbst zum Begriffe erhoben ist, ist vielmehr absolute Befreiung, für welche keine unmittelbare Bestimmung mehr ist, die nicht ebenso sehr gesetzt und der Begriff ist« (LII, 573, Hervorh. S. R.).

Hier ist Selbstbestimmtheit offenkundig identisch mit Realität. Bestimmtheit setzt aber bei Hegel ein Anderssein der Dinge gegeneinander voraus – eine Äußerlichkeit, die aus Hegels Sicht ein räumliches und zeitliches Sein impliziert. Damit ist das Sein der Natur bzw. das Anderssein der Idee als Natur gesetzt, denn Äußerlichkeit bzw. Außersichsein ist aus Hegels Sicht das entscheidende Charakteristikum der Natur im Gegensatz zur Innerlichkeit des Geistes. Schließlich gibt Hegel zu bedenken, dass die Idee in der Logik noch »in den reinen Gedanken eingeschlossen ist« (LII, 572); und somit in der Subjektivität gefangen bleibt, die sie gedanklich bereits überwunden hat – die Idee ist somit der Trieb, diese aufzuheben – ebenso wie der subjektive Begriff sich im Schluss im objektiven aufhebt. Trotzdem ist es befremdend, dass Hegel in Bezug auf dieses zentrale Problem seines Systems so eigenartig wortkarg ist. Hegel konzipiert – wie schon bemerkt – die Natur als seiende Idee nun so, dass sie als die vom Geist selbst gesetzte Voraussetzung konkreter Subjektivität und Geistigkeit ist. Die Natur ist das Ansichsein des Geistes (»ist an sich in der Idee göttlich«, 8, 27 f.), aber so, dass sie das, was sie ansich ist, nicht für sich ist. Eben daher ist sie »sich entfremdeter Geist« (8,25) und damit sich selbst äußerlich. Die Überwindung dieses Widerspruches erscheint als Rückkehr des Geistes aus der Natur und Hegels insistiert darauf, dass der Geist nur als ein »Zurückkommen aus der Natur Geist« (10, 17) sein kann: Weil er sich eine Objektivität

163

Ebd., S. 179.

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voraussetzt, auf die das konkrete Subjekt stets bezogen ist und auf die es im Begreifen übergreift, um sich als Totalität zu konstituieren. Ohne Hegels methodische Vorgehensweise auf logischem Gebiet eine Stringenz absprechen zu wollen, hat sie doch eine ganz entscheidende Schwäche, die sowohl in der Logik, als auch in der Realphilosophie zum Tragen kommt: Die Wahrheit, dass das Allgemeine in-sichkonkret ist, ist in der Logik immer schon vorausgesetzt und Hegel holt diese Wahrheit in der Form eines logischen Beweises, d. h. in der Form einer Schlussfolgerung, ein, so dass am Ende auch seine Prämissen als begründet erscheinen. (Vgl. LII, 572) Hegel charakterisiert seine eigene Methode somit einerseits als »Fortgang im Weiterbestimmen« des Absoluten und andererseits als »das rückwärtsgehende Begründen des Anfangs«. (LII, 570) Eben darum versteht er bekanntlich die Logik als ein Kreis von Kreisen, insofern der Anfang mit dem Ende verschlungen ist. Aber auch schon in der Phänomenologie heißt es: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt, oder sich selbst Werden, zu sein.« (3, 24)

Widersprüchlich wird Hegels Methode, das Absolute als Resultat seiner eigenen, inneren Bewegtheit im Sinne einer Schlussfolgerung zu denken, wenn man versucht, sie als ontologische Theorie und somit als theoretische Grundlegung des geschichtlichen – d. h. des naturund geistesgeschichtlichen Lebens – zu begreifen. Was eine theoretische Konstruktion von der geschichtlichen Wirklichkeit unterscheidet, ist, dass es in der Geschichte kein rückwärtsgehendes Begründen des Anfangs gibt: In der Logik können die Ausgangsprämissen einer logischen Konstruktion nachträglich einer Begründung zugeführt werden, in der geschichtlichen Wirklichkeit ist damit das Prinzip der Folgerichtigkeit außer Kraft gesetzt. In der Tat scheint Hegel aber solch ein rückwärtsgehendes Begründen des Anfangs in seiner Realphilosophie und hier insbesondere in seiner Naturphilosophie in Anspruch zu nehmen, nämlich dort, wo er das Hervorgehen des Menschen aus der Natur als Resultat einer logischen Entwicklung deuten will. Wie bereits zu Beginn herausgestellt, lehnt Hegel den Gedanken einer natürlichen Evolution schroff ab: Es handele sich um eine 321 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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»nebulose« Vorstellung. Entwicklung kommt als »Metamorphose« nur »dem Begriff zu, dessen Veränderung allein Entwicklung ist« (9, 31 f.). Wie aber soll der Begriff in der Natur sich entwickeln, wenn die Natur (zumindest zu Beginn der Schöpfung) über keine Subjektivität, kein Fürsichsein verfügt; wenn, wie Sell zu Recht betont, »der Begriff nicht als solcher, sondern nur abstrakt in der Natur vorhanden ist«; ja wenn Hegel sogar stellenweise »eindeutig gegen den Begriff in der Natur Stellung [bezieht]?« 164 Hegel verwickelt sich hier in den harten Widerspruch, dass er den Begriff der Natur sowohl zu- als auch absprechen muss, insofern die Natur einerseits als das Andere des Geistes kein Fürsichsein haben soll, als Vehikel des Geistes aber eines haben muss – sollen Leben der Natur und der lebendige Begriff nicht gänzlich auseinanderfallen. Aus diesem Widerspruch resultieren so eigenartige Sätze in der Naturphilosophie wie diese, dass »die Steine schreien und sich zum Geiste [aufheben]« oder Hegels Deutung des Klanges »als Klage des Ideellen in dieser Gewalt des Anderen« (9, 174). Der Begriff »will die Rinde der Äußerlichkeit in der Natur zersprengen und für sich werden« – aber der »Wille des Begriffes« ist offenbar nicht identisch mit dem Willen, der der Natur als solcher innewohnt: So hat der Begriff aus Hegels Sicht sogar »eine höhere Lebendigkeit« (9, 29) als diejenige, die in der Natur zu verorten ist. Sell zieht aus diesem Widerspruch den Schluss, dass »der Abgrund zwischen Geist und Natur oder denkendem Subjekt und natürlichen Leben auch bei Hegel nicht überwunden wird«, gibt aber zu Recht zu bedenken, dass Hegel »doch ein Denkmodell zur Verfügung« stelle, »mit dem das Leben begrifflich erfasst werden kann«. 165 So kann Hegel die Trennung von Geist und Natur in der Naturphilosophie gar nicht wirklich durchhalten, was systematisch betrachtet eine Schwäche, aber naturphilosophisch betrachtet eine Stärke darstellt. 166 Sowohl das Auseinanderklaffen von Geist und Natur, als auch Sell, a. a. O., S. 236. Ebd. 166 Vgl. ebd.:»Wohingegen zunächst der Begriff in der Natur nicht oder nur abstrakt vorhanden sein soll, ist er bereits in der lebendigen Natur zu einem inneren bzw. allgemeinen geworden. Während das einzelne Leben am Ende der Naturphilosophie aus sich selbst herausstirbt, hat es durch den Gattungsprozess zugleich schon eine Allgemeinheit und somit – indem es reflektiert wird – die Subjektivität des Begriffs erreicht. So scheint sich am Ende der Naturphilosophie natürliches und begriffliches Leben zu vermischen und eine eindeutige Bestimmung dessen, was natürliches Leben ist, nicht denkbar zu sein.« 164 165

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deren begrifflicher Zusammenhang ergibt sich bei Hegel daraus, dass Natur und Geist ein gemeinsames Strukturelement aufweisen, nämlich eine teleologische Struktur. Aber Hegel spricht es der Natur ab, auch eigene Zwecksetzungen verfolgen zu können. Denn das Ziel der Natur ist es ja, sich selbst zu töten, damit aus ihr die schönere Natur, der Geist hervorgeht – was man kaum als Realisation eines Eigenwerts interpretieren kann. Der Geist ist als »Zweck der Natur« (9, 539) vor, in und nach der Natur. Die Natur hat demnach »Umihrer-selbst-Willen« in ihrer Selbstentfaltung aus Hegels Sicht gar keinen Wert; ein Tatbestand, aus dem Hegel in der Rechtsphilosophie ein »absolutes Zueignungsrecht des Menschen auf alle Sachen« 167 ableitet. Wert kommt der Natur in dieser Konzeption nur als bloßes Mittel zur Verwirklichung des Geistes zu. Von hier aus wird zugleich ersichtlich, warum Hegel keine Konzeption des Naturschönen gelten lässt: Als Realisation von Schönheit wäre die Natur eine Form von Wertrealisierung, von Selbstoffenbarung des Geistes, in der sie ihre buchstäbliche »Mittelmäßigkeit« transzendieren würde. Wenn Hegels Überlegungen zur Natur auch aus heutiger Sicht paradox wirken mögen, so hat Hegel allerdings wohl in einem Punkt Recht: Wenn man die Teleologie als Einheitsprinzip des Universums in Anspruch nimmt, dann kann es – wie schon Kant vor Hegel dargelegt hat – nur einen Endzweck des Universums geben, dem alles andere teleologisch untergeordnet ist. Ansonsten hätte man zwei Universen – z. B. ein natürliches und ein geistiges. Und wenn man das Gute im ethischen Sinne wie Platon, Aristoteles, Leibniz, Kant und Hegel als Endzweck des Universums begreift, dann macht es auch Sinn, die Natur in ihrer Zweckmäßigkeit als eine zu denken, die teleologisch auf die Hervorbringung vernunftbegabter Lebewesen »hingeordnet« ist. Schon Kant spricht in diesem Sinne vom Menschen (als moralischem Wesen) als »Zweck der Schöpfung« (KdU, § 86). Worin allerdings Hegel fehlgeht, ist die Auffassung, dass die ureigene Zweck- und Werthaftigkeit der Natur der Selbstverwirklichung der Vernunft absolut im Wege steht. Irritierend ist an Hegels Auffassung zumal, dass es in seinem eigenen Werk genügend Ansätze gibt, die systematisch betrachtet eine weniger paradoxe Stellung der Natur nahelegen würden. Interessant ist in diesem Zusammen167 Vgl. § 44 (7, 106). Hegel vertritt hier ausdrücklich die These, dass Tiere keinen »Selbstzweck« haben, und daher als Sachen aufzufassen sind, die der freie Wille sich aneignen kann.

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hang nicht nur die von Hegel selbst herausgestellte partielle, strukturelle Isomorphie von Begriff und Leben, sondern der Gedanke Hegels, dass der Entwicklung der Natur eine Erinnerung, ein »Erinnern« (9, 37) zugrunde liegt, nämlich eine Erinnerung des Begriffes, »dass er es auch sei«, der im Äußeren der Natur existiert: Hegel spricht hier von dem Begriff als einem »Insichgehen« (9, 37) ins Zentrum der Natur. Hier ist eine echte Verbindung von Geist und Natur angedacht, insofern der Geist nicht als das »Andere«, sondern als das »Innere« der Natur konzipiert wird – offenkundig zwei gegensätzliche Betrachtungsweisen der Natur, die Hegel aber miteinander vermischt: Um sich schließlich für den Begriff als das Andere der Natur zu entscheiden. In diesem Sinne ist die Bedeutung des Leben unterbestimmt in Hegels System, insofern er mit dieser Entscheidung gegen ein Fürsichsein der Natur das reine, subjektlose Denken zum Demiurgen der Wirklichkeit erklärt. Das hat schon Marx klar gesehen und zu Recht kritisiert. Wenn man den Menschen aber nun als das Wesen denkt, das in der Harmonie alles Seienden als diese Harmonie (»Entsprechen«) mit sich zusammengeht, so dass ihm das Allgemeine als Allgemeines begrifflich gegeben ist, dann kann man den Menschen ausgehend von Hegel in der Tat als Erinnerung der Natur bzw. ihrer Harmonie denken – d. h. als deren Wahrheit. Hegel selbst fasst diese Wahrheit bzw. Erinnerung im Wesentlichen human-geschichtlich. Aber es gibt keinen Grund die Natur auszuklammern. Das Verhältnis von Wahrheit und Natur wäre demnach als ein Verhältnis von Wahrheit und Harmonie – von Wahrheit und Schönheit – zu denken. Entscheidend ist hier nicht allein, dass Wahrheit und Schönheit beide Selbstzwecke darstellen. Der springende Punkt ist, dass Harmonie bzw. Schönheit und Wahrheit ein wechselseitiges Implikationsverhältnis begründen, so dass hier teleologisch betrachtet keine zwei unvereinbaren Zielsetzungen vorliegen. So kann man Schönheit als eine Qualität realer Dinge interpretieren, die an einer Gemeinsamkeit der Form teilhaben; eine Form, welche die in der Schönheit einer Komposition verbundenen Dinge in ihrer sinnlichen Einzelheit bzw. Individualität transzendiert. In dieser Gemeinsamkeit der Form ist aus dieser Perspektive der Wert realisiert, der den Grund der Schönheit bildet. Entscheidend ist, dass die gemeinsam realisierte Form als das universelle Element in der Erfahrung der Schönheit von der Individualität der einzelnen Momente, die in das als schön empfundene Ganze eingehen, nicht ablösbar ist: Wenn man z. B., wie Whitehead einmal beton324 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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te, in einem Gemälde einen Fleck anders einfärbt – ein spezifisches Blau gegen ein spezifisches Rot umtauscht –, dann ist vielleicht gerade ein Meisterwerk zerstört worden; und wenn man in einer Freundschaft einen der Freude gegen einen anderen austauscht, dann ist doch diese spezifische Freundschaft (die vorlag) zerstört, insofern sie vom individuellen Charakter der Freunde abhing. Die Erfahrung des Schönen basiert in diesem Sinn auf der Erfahrung des Ganzen; ein Ganzes, das von jedem der realen Dinge, die als Elemente in das Ganze eingehen, verkörpert wird. In dieser inneren Harmonie – als Beziehung von Individualität und Universalität – kommt die Beziehung zugleich auf Wahrheit zum Tragen, die von der Erfahrung von Schönheit nicht ablösbar ist. 168 Aus dieser Perspektive ist es keineswegs sinnlos, das Ganze der Natur bzw. das Universum wie Leibniz als Kunstwerk oder Whitehead als ästhetischen Erfahrungszusammenhang zu begreifen, dem ein Streben nach Intensität der Erfahrung, d. h. nach Schönheit und Wahrheit innewohnt. Was das Universum mit einen Kunstwerk, dem eine Wahrheit innewohnt, gemeinsam hat, ist, dass es Eines und Vieles und zwar Eines und Vieles in einer Einheit ist. Diese Einheit des Universums muss auch in jedem einzelnen Ding präsent sein, wenn es eine Konkretion des gesamten Universums darstellt und die Möglichkeitsbedingungen seines Soseins aus dem Sein aller anderen Dinge bezieht. Gerade wenn man die Dinge wie Leibniz und Whitehead (und in gewisser Weise auch Hegel) als perspektivische Erfassungen ein- und derselben Universums denkt, muss es aber demnach eine Perspektive gegeben, in der alle Perspektiven aufeinander abgestimmt, koordiniert sind, – sonst ginge die Einheit des Universums und damit die Immanenz der Vergangenheit verloren. Wie nun Hegel zu Recht herausgearbeitet hat, kann die Art und Weise, wie die Einheit in jedem Einzelding des Universums – selbst im letzten Staubkorn präsent ist – nicht anders denn als Geist aufgefasst werden. Denn es handelt sich bei der Einheitsbildung nicht um ein Verhältnis äußerer Anpassung, sondern um ein Entsprechen, durch das hindurch das Ganze in allem Einzelnen in Einheit mit seinem Begriff

168 Zum Verhältnis von Wahrheit und Schönheit: Whitehead, Alfred North, Denkweisen, übers. und eingel. v. Stascha Rohmer (Hg.), Frankfurt am Main 2001, Kap. 1.3.; Whitehead, Alfred North, Abenteuer der Ideen, eingel. v. Reiner Wiehl, übers. von Eberhard Bubser, Frankfurt am Main 1971, Teil IV.

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und auf Grund seines Begriffes »gegeben« ist. Wenn man nun das raumzeitliche Kontinuum als einen geometrischen Ort für die Verwirklichung relationaler Möglichkeiten denkt, die aus einer allgemeinen Sphäre systematischer Beziehungen ausgewählt werden, dann sind doch auf Grund des Tatbestandes, dass das Universum eines ist, dem etwas abstrakt bzw. rein theoretisch möglich ist, spezifische Begrenzungen auferlegt, die durch reale Ereignisse in diesem Universum eingeführt werden bzw. einmal eingeführt worden sind. In diesem Sinne grenzt auch Hegel die reale Möglichkeit einer Sache von der formellen Möglichkeit ab, und Whitehead spricht von einem Gegensatz von realer und abstrakter Potenzialität. Die reale Möglichkeit ist, so Hegel, nichts anderes als »die daseiende Mannigfaltigkeit von Umständen, die sich auf sie beziehen« (LII, 209); eine Definition, die man auch Whiteheads realer Potentialität zugrunde legen könnte. Der springende Punkt ist nun, dass die Dinge sich wechselseitig bedingen, darin einander (als Reflexion-in-anderes und Reflexion-insich) sich begründen, und gerade in diesem Sich-einander-begründen, ein Unbedingtes – nämlich das Universum als Endursache begründen. Das Universum als Endursache muss dann aber in jedem Ereignis des Universums präsent sein, d. h. auch in denen, die sich über weite Entfernungen hinweg in einem raumartigen Abstand zueinander befinden, insofern sich gleichzeitig ereignen (d. h. im Sinne der Relativitätstheorie weder im Vergangenheitslichtkegel, noch im Zukunftslichtkegel eines spezifischen Ereignisses liegen, so dass sie physisch unmittelbar aufeinander einwirken könnten). Denn insofern die Einheit des Universums auf inneren Relationen beruht, kann sie nicht so gedacht werden, dass sie äußerlich – durch aufeinander wirken – von Geschehnissen gleichsam nachträglich durch wechselseitige Anpassung zustande kommt. Aber auch Leibniz führte schon Gott als prästabilierende Harmonie, d. h. als Endursache, die in jeder Monade präsent ist, in seine Kosmologie ein. Und er scheint dafür aus heutiger Sicht gute Gründe gehabt zu haben: Während Einstein noch an der Lokalisierbarkeit der Materie festhielt und der Überzeugung war, die Lichtgeschwindigkeit stelle eine überwindliche Grenze dar, ist heute die »Nichttrennbarkeit von Systemen« ein experimentell erwiesener Tatbestand. 169

169 D’Espagnat, Bernard, QuantumLogic and Non-seperability, in: The Physicist’s Conception of Nature, Dortrecht 1973, S. 734.

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Ersetzt man nun erstens, wie Hegel, diesen Gott Leibnizens als prästabilierende Instanz dadurch, dass man die Dinge wie Hegel direkt in Beziehung zueinander setzt; und geht dann zweitens davon aus, dass in dieser Beziehung der Gegensatz von Realität (Vielheit) und Idealität (Einheit) durch die Entgegensetzung von Realität und Idealität aufgehoben wird; eine Aufhebung, zu der drittens wiederum nur vernunftbegabte Geschöpfe mit Erkenntnisvermögen in der gegenseitigen Anerkennung in der Lage sind, dann steht man allerdings vor einen großem Problem: Wenn die Einheit des Universums als Sich-einander-Entsprechen aller Dinge und darin als Sich-Begründen nur als Resultat der Aufhebung der Entgegensetzung von Realität und Idealität zustande kommt und wenn zu dieser Aufhebung nur vernunftbegabte Subjekte in der Lage sind, dann gibt es in zweifacher Hinsicht kein schlechterdings menschenunabhängiges Sein der Natur: Denn wenn der Geist nur als das entwickelte Selbstbewusstsein existiert, dann fehlt erstens ohne vernunftbegabte Geschöpfe der Geist als koordinierende Instanz in der Natur, in dem ein Sich-einander-Entsprechen der Wirklichkeiten gegeben ist. Daraus kann zweitens der Schluss gezogen werden, dass ein Universum ohne Geist, d. h. ohne selbstbewusste Geschöpfe gar nicht sein könnte, weil es schlechterdings grundlos wäre. Denn eine Endursache als Grund des Ganzen, d. h als die Ursache, die sich selbst als Ursache gegeben ist, liegt ja – zumindest aus Hegels Sicht – nur im Geist vor. Hierin scheint zunächst ein Argument gegen die Evolutionstheorie zu liegen – wie es Hegel in gewisser Weise stark zu machen versucht. Die Sache wird aber noch paradoxer, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch aus Hegels Sicht nur verkörperte bzw. lebendige Subjekte dazu in der Lage sind, sich miteinander auseinander zu setzten: Denn ohne Verkörperung, d. h. ohne organisches Leben, gibt es keinen realen Gegensatz zwischen den Subjekten, d. h. keine unmittelbare Wirklichkeit, die aufgehoben werden könnte. Und gerade Plessner hat gezeigt, dass selbstbewusstes Leben als höchste, bekannte Organisationsform des Lebens sich offenbar frühere, einfachere Stufen des Lebens im Sinne einer ideellen Stufung voraussetzt. Hegel wird man aus dieser Perspektive vorwerfen müssen, dass er in der Logik die Subjektivität, die er begrifflich herleiten will, immer schon stillschweigend antizipieren muss, da sie gleichsam das Zugpferd der logischen Entwicklung darstellt. Es wird aber eben nicht klar, wodurch diese Voraussetzung eingeholt werden soll; insbesondere dann, wenn dieser Konzeption zugemutet wird, reale Geschichtlichkeit zu 327 https://doi.org/10.5771/9783495817681 .

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begründen. 170 Natürlich hätte Hegel auch bestritten, dass es schlechterdings menschunabhängiges Sein der Natur gibt; aber er hätte dies zweifelsohne mit dem Argument getan, dass der Geist im Selbstbewusstsein in den Grund zurückgeht, aus dem er je schon herrührt. Nur belegen seine eigenen Schriften, dass der Gedanke eines solchen Rückgangs keine reale Entwicklung in und aus der Natur begründen kann. Das Paradox besteht aus dieser Perspektive darin, dass Geist und Leben, Leben und Erkenntnis sich gegenseitig voraussetzten, und zwar so, dass es weder in ontologischer noch in gnoseologischer Hinsicht denkbar ist, einem von beidem der Vorzug zu gewähren. Der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis gehören einerseits zusammen, scheinen nur ein Baum, d. h. ein Ursprung, zu sein. Und doch scheinen sie andererseits gar nicht zusammenkommen zu können, da das eine immer schon die Existenz des anderen voraussetzt. Dieses Verhältnis aber ist im Grunde genommen auch nicht paradoxer als die Frage nach dem Wesen der Schöpfung überhaupt: Besteht das Paradox der Schöpfung darin, dass das, was sich selbst erschafft, in irgendeinem Sinne immer schon dagewesen sein muss, um sich zu erschaffen, dann kulminert die Schwierigkeit darin, dass einerseits eine Menschheit in ihrer Universalität und Wahrheit immer schon irgendwie vorausgesetzt ist, andererseits aber erfahrungsgemäß bzw. empirisch betrachtet aus der Natur hervorgeht. Dieses Paradox betrifft – wie schon bemerkt – auch die Frage nach der Natur der Wahrheit. Wenn sich die Natur in einer Wahrheit gründet, eine Wahrheit die Hegel Idee nannte, und wenn diese Wahrheit ewig ist, dann stellt sich auch aus dieser Perspektive die Frage, wie ein zeitliches Entstehen der Welt und darin ein zeitloses Verstehen von Wahrheit möglich ist. Hier hat Heidegger ganz Recht, wenn er der überkommenen Metaphysik vorwirft, dass sie nicht nach der Wahrheit des Seins fragt, d. h. nicht erörtert, »in welcher Weise das Wesen des Menschen zur

Das zeigt sich nicht nur an der widersprüchlichen Stellung, die der Begriff in der Naturphilosophie einnimmt, sondern auch darin, dass sich das Modell des Gegensatzes bzw. des aufgelösten Widerspruches nicht unmittelbar auf das Modell der gegenseitigen Anerkennung in der Phänomenologie übertragen werden kann: Denn das Wesen verfügt noch über kein Fürsichsein; und doch ist solch ein Fürsichsein vorausgesetzt, wenn dieses Modell denn Sinn machen soll, dass im Widerspruch eine Entgegensetzung reflektiert sein soll, die sich als Entgegensetzung in der Auseinandersetzung ausschließt. 170

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Wahrheit des Seins gehört«. 171 Aber wenn der Mensch der »Hirt des Seins« 172 ist und somit »Beziehung von Sein und Menschenwesen alles trägt« 173, dann müsste gerade auch Heidegger sich fragen, wie ein Hervorgehen des Menschen aus der Natur möglich ist. Dieser Frage weicht Heidegger aber geflissentlich aus, indem er den Status des Menschen als Naturwesen bestreitet. 174 Hier stellt Plessners Denken zweifelsohne ein wichtiges Korrektiv dar, insofern er betont, dass der Mensch als geistiges Wesens zwar aus der Natur durch seine exzentrische Positionalität herausgehoben ist, aber ihr dennoch auch in dieser gleichsam abgehobenen Stellung verbunden bleibt. Die eigentliche Frage, in welchem Verhältnis die innere Natur des Menschen zur äußeren Natur steht, ist gleichwohl damit nicht beantwortet und heute offener denn je. Gerade die durchgängige Technisierung aller Bereiche der Lebenswelt lässt es zunehmend als fragwürdig erscheinen, ob es überhaupt ein unmittelbares Mensch-Natur-Verhältnis gibt bzw. jemals gegeben hat. Je offenkundiger aber die Kluft und damit auch der Konflikt zwischen dem Menschen und der Natur wird; einer Natur, aus der der Mensch als leibliches Wesen hervorgegangen ist und von der man doch meinen müsste, dass er in ihr beheimatet ist, desto drängender wird die Frage nach dem Ursprung des Risses zwischen Mensch und Natur.

Heidegger, Martin, Über den Humanismus, Frankfurt am Main 2000, S. 14. Ebd. 173 Heidegger, Martin, Was heißt denken?, GA VIII, Frankfurt am Main 2002, S. 102 f. 174 Heidegger bestimmt die Natur in SuZ als »ein Seiendes, das innerhalb der Welt begegnet« und darin »auf verschiedenen Wegen und Stufen entdeckbar wird« (SuZ, S. 63). Vgl. hierzu: Wiehl, Reiner, Heideggers Verfehlung des Themas »Metaphysik und Erfahrung«, in: Metaphysik und Erfahrung, Frankfurt am Main 1996, S. 155– 202. 171 172

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Literaturverzeichnis

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II. Plessner; Helmuth Die Werke von Helmuth Plessner wurden nach der von Günther Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker editierten Ausgabe »Gesammelte Schriften in 10 Bänden«, Frankfurt am Main 1983–89, zitiert. Stu = Die Stufen des Organischen und der Mensch, Gesammelte Schriften, Bd. IV. Eine Ausnahme stellen die in den Gesammelten Schriften nicht enthaltenen Texte dar: EM = Elemente der Metaphysik. Eine Vorlesung aus dem Wintersemester 1931/ 32, hg. v. Hans-Ulrich Lessing, Berlin 2002. Josef König – Helmuth Plessner: Briefwechsel 1923–1933, hg. v. Hans-Ulrich Lessing u. Almut Mutzenbecher, Freiburg/München 1994.

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