Die Hölle : Zur Geschichte einer Fiktion 3423046791

»Die Hölle hat Generationen von Gläubigen in Angst und Schrecken versetzt. Sie ist einer der ältesten Alpträume der Mens

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German Pages [431] Year 1994

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Die Hölle : Zur Geschichte einer Fiktion
 3423046791

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Georges Minois: Die Hölle Zur Geschichte einer Fiktion

dtv

Die materialisierte Fiktion: Der Höllenschlund im heiligen Wald von Boniarzo des Vicino Orsini Ica. i >70).

Georges Minois

Die Hölle Zur Geschichte einer Fiktion Aus dem Französischen von Sigrid Kester

Deutscher Taschenbuch Verlag

Februar 1996 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München © 1991 Fayard, Paris Titel der französischen Originalausgabe: >Histoire des enfers< © 1994 der deutschsprachigen Ausgabe: Eugen Diederichs Verlag, München (isbn 3-424-01198-3) Umschlaggestaltung: Dieter Brumshagen Umschlagbild: >Das Weltgericht« von Hieronymus Bosch (© Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin) Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck und Bindung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen Printed in Germany • isbn 3-423-04679-1

Inhalt

Einleitung....................................................................................

13

I Der Ursprung der Hölle: die Hölle für alle...............

15

Die Hölle für alle: Mesopotamien .............................. Die sofortige Vergeltung und der Scheol der alten Hebräer............................................................. Vom wedischen Indien zu den Etruskern................... Die finstere Hölle Homers.............................................. Das germanische Totenreich Hel und die Hölle der Schamanen........................................................................ Schwarzafrika und das präkolumbische Amerika . .

17

34 39

II Die ersten Höllen für Verdammte und ihre zeitliche Begrenztheit .....................................................................

43

25 28 29

Die Hölle der Ägypter: Vernichtung der Verdammten

43

Der Iran: die letztendliche Zerstörung der Hölle . . . Indien: die periodische und alternative Hölle .... Griechenland und Rom: Reflexionen über die Hölle . Platon, der Vater der philosophischen Hölle............... Vergil, der Vater der volkstümlichen Hölle...............

50 54 58 63 68

III Die Ungewißheiten der jüdisch-christlichen Hölle bis zum 1. Jahrhundert..................................................

73

Der historische Rückstand der hebräischen Hölle im 6. Jahrhundert v.u.Z.......................................................... Die ersten Betrachtungen über die göttliche Gerechtigkeit: Hiob, Joel..................................................

73 77

INHALT

Der griechische Einfluß: Kohelet und Ecclesiasticus (). Jahrhundert v.u.Z.) .................................................. Daniel und die Apokalypse (2. Jahrhundert v. u. Z.) Fortdauer der herkömmlichen Hölle: die Makkabäer und das Buch der Weisheit (1. Jahrhundert v. u.Z.J Die Ungewißheiten der jüdisch-christlichen Welt (1. Jahrhundert)................................................................. Die Hölle in den Evangelien..........................................

IV Die Hölle im Volksglauben vom 1. bis zum 3. Jahrhundert .................................................

80 82 84 86 91

97

Talmudische und rabbinische Höllen........................... Gnostiker und Manichäer: Das Leben auf Erden ist die Hölle ............................................................................ Die ersten Beschreibungen der christlichen Hölle . . Christi Niederfahrt zur Hölle.......................................... Die Hölle der Apologeten..................................................

102 105 109 116

V Die Systematisierung der Höllendoktrin durch die Kirchenväter (3.-5. Jahrhundert)...............................

123

Die Bedeutung der volkstümlichen Hölle................... Die allegorische und provisorische Hölle: der Origenismus................................................................. Die realistische, ewige Hölle: die rigoristische Strömung............................................................................ Zugeständnisse an die volkstümliche Hölle: Johannes Chrysostomos.................................................. Die augustinische Hölle..................................................

98

123

126 135

139 143

VI Die Hölle im Zeitalter der Barbaren (6.-10. Jahrhundert) ......................................................

151

Die »barbarische« Hölle.................................................. Inflation der Höllenvisionen: Beda Venerabilis . . .

153 156

INHALT

Die Hölle als Mittel der Politik...................................... Die hohe Zeit der volkstümlichen Hölle....................... Die gregorianische Hölle: ein Kanon........................... Das Anwachsen der Angst vor der Hölle...................

164 168 170 176

VII Eine Spielart der volkstümlichen Hölle: die Hölle des Islam............................................................................

183

Stärke und Schwäche der islamischen Hölle............... Die Prüfung der Gräber.................................................. Das Jüngste Gericht: Sündenregister, Waage und Brücke........................................................................ Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Allahs................... Die Qualen der Hölle ..................................................... Eine unvollständige Hölle.............................................. VIII Die Hölle wird zur Selbstverständlichkeit (11.-13. Jahrhundert).....................................................

Die Skepsis ist nicht ausgemerzt.................................. Die Prediger der Angst und die Selbstverständlichkeit der Hölle............................................................................ Banalisierung der Hölle durch Visionen...................... Die Vision des Tungdal und das Fegefeuer des heiligen Patrick................................................................. Die Vision Dantes: eine Synthese aus volkstümlicher und theologischer Hölle.................................................. Die angepaßten Qualen bei Dante............................... Die Verdammten: symbolische Figuren....................... Die neue Sündeneinstufung Dantes...............................

183 185

187 190 192 195

197

197 200 205 207 211 215 219 221

IX Theologie und Doktrin der scholastischen Hölle (11.-13. Jahrhundert).....................................................

225

Weltliche und göttliche Rechtsprechung....................... Die Sünden, die zur Hölle führen..................................

225 229

INHALT

Entstehung des Fegefeuers und Einbeziehung des Jenseits in den kommerziellen Kreislauf....................... Die Diskussion über den Ort der Hölle....................... Die theologische Hölle: Albertus Magnus................... Thomas von Aquin: die rationale Hölle....................... Strenge und Einfachheit der dogmatischen Hölle . .

232 237 241 243 251

X Die Hölle greift auf die Erde über (14.-16. Jahrhundert)......................................................

255

Höllische Zeiten................................................. Gewöhnung und Abwertung.......................................... Die Impertinenzen der literarischen Hölle................... Die Hölle der Künstler: vom Stereotypen zur Verklärung................................................................. Die undurchsichtige Hölle der Mystiker....................... Der Gedanke von der Hölle als geistliche Übung: Ignatius von Loyola, Franz von Sales, Theresa von Avila.............................................................

255 260 262

267 275

278

XI Die ins Jenseits zunickgedrängte Hölle: das logische Schreckgespenst im Dienste der kirchlichen Reformen (17.-18. Jahrhundert)...................................................... 285

Die neue Hölle..................................................................... Eine bekannte und definierte Welt: die Hölle als logische Notwendigkeit.................................................. Die Hölle als praktische Notwendigkeit ....................... Eine auf jedes Publikum zugeschnittene Angst . . . Die Bedeutung..................................................................... Die Instrumentalisierung der Hölle durch die innere Mission................................................................................ Die klassische und aristokratische Hölle....................... Protestantische Höllen.....................................................

285

288 289 295 298

300 304 310

INHALT

XII Die Hölle als Straflager der Christenheit: die übervölkerte Hölle vom 16. bis zum 18. Jahrhundert .............................................................

317 318 323 328

Die großen Entdeckungen: Die Hölle wird größer . Die übervölkerte Hölle .................................................. Die kleine Zahl der Erwählten...................................... Gericht und Hölle als zunehmend juristische Kategorien ........................................................................ Die Angst nimmt ab.........................................................

333 339

XIII Infragestellung und Niedergang der Hölle (17.-18. Jahrhundert).....................................................

345

Die Ewigkeit der Strafe und die kleine Zahl der Erwählten in der Kritik des 17. Jahrhunderts .... Die Angriffe Bayles......................................................... Leibniz verteidigt die Hölle.............................................. Die Philosophen und die Hölle...................................... Die Hölle des Jean-Jacques Rousseau........................... Der Tod der intellektuellen Hölle.................................. Das Weiterbestehen der herkömmlichen Hölle als Garant der gesellschaftlichen Ordnung.......................

346 350 353 357 361 365 367

. .

373

Der Pfarrer von Ars: ein »höllischer« Heiliger . . . . Eine Flut von Höllentraktaten...................................... Die neuen Höllen in Dichtung, Kunst und Philosophie........................................................................

374 376

XV Das Jahrhundert der Höllen..........................................

389

Rückzugsgefechte............................................................. Die Verschwörung des Schweigens............................... Die theologische Hölle im Wiederaufbau...................

389 393 396

XIV Rückzugsgefechte der Hölle im 19. Jahrhundert

579

INHALT

Der Zusammenbruch des Glaubens an die christliche Hölle................................................................. Die heutigen Höllen......................................................... Die alltägliche Hölle......................................................... Paradies und Hölle: eine Einheit?..................................

398 403 410 412

Zusammenfassung.....................................................................

415

Personenregister.........................................................................

424

Bildnachweis.........................................................

429

Für Jean-Pierre.

Und wär ich etwas anders als ich bin, So wünscht ich, er zu sein. Shakespeare, Coriolan, I,i.

[...] Wer trüge Lasten, Und stöhnt' und schwitzte unter Lebensmüh'? Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod Das unentdeckte Land, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt - den Willen irrt, Daß wir die Übel, die wir haben, lieber Ertragen, als zu unbekannten fliehn. Shakespeare, Hamlet, III,i.

Einleitung

Die Hölle hat Generationen von Gläubigen in Angst und Schrecken versetzt. Sie ist einer der ältesten Alpträume der Menschheit, bedingt durch die Furcht vor dem Unbekannten, das uns am Ende unseres Lebens erwartet, »... die Furcht vor etwas nach dem Tod das unentdeckte Land, von des Bezirk kein Wandrer wiederkehrt, ... daß wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen als zu unbekann­ ten fliehn«, wie Shakespeare in seinem berühmten Hamlet-Mono­ log schreibt. Die Idee von der Hölle ist weitaus älter als das Christentum und hat auch dessen Niedergang überlebt, denn der Glaube an eine Hölle ist allgemeinmenschlich. Er ist unzerstörbar, hat, wie die lernäische Hydra, gewissermaßen mehrere Köpfe und ersteht im­ mer wieder aufs neue. Vom Gilgamesch-Epos der Sumerer bis hin zu Jean-Paul Sartres Huis dos (»Die Hölle, das sind die anderen«) hat der Mensch unablässig versucht, sich diesen Ort der Schrecken und die Qualen vorzustellen, die man dort erdulden muß. Helden, Dichter, visionäre Mönche sind immer wieder in die Hölle hinabge­ stiegen und haben von dort grauenhafte Schilderungen mitge­ bracht, die sich jedoch voneinander unterscheiden, denn sie spie­ geln jeweils die für die einzelnen Epochen typischen Ängste und Wahnvorstellungen sowie die herrschende Auffassung vom Bösen wider. Die Hölle existiert in allen Zivilisationen, aber sie entwickelt sich auch mit jeder einzelnen von ihnen weiter. Die Geschichte dieser so entstandenen Variationen wollen wir hier nachzeichnen und zei­ gen, daß sie die kollektiven Ängste innerhalb der einzelnen Gesell­ schaften widerspiegeln, da sie immer versuchen, auf das Grundpro­ blem des moralisch Bösen eine Antwort zu finden. Die christliche Hölle nimmt dabei eine zentrale Stellung ein, denn sie war das dauerhafteste, am besten durchdachte und vollständigste System von allen, der Höhepunkt einer Idee, die viel älter ist als das Christentum selbst und die sich auch in unserer säkularisierten Welt weiterentwickeln wird. Dieses Buch wäre undenkbar ohne den Rückgriff auf die bemer­ 13

EINLEITUNG

kenswerten Forschungsarbeiten, die in letzter Zeit zum Thema »Jenseitsvorstellungen« veröffentlicht worden sind. Besonders er­ wähnt sei hier La face cachée du temps. L'imaginaire de l'au-delà von Michel Hulin (Fayard 1985), ein Werk von großem Quellen­ reichtum und außerordentlich tiefgreifenden Erkenntnissen. Jacques Le Goff ist in seinem aufsehenerregenden Buch Die Geburt des Fegefeuers (dtv Klett-Cotta 1990) der Entstehung des Purgatoriums nachgegangen und Jean Delumeau hat sich im Anschluß an seine umfangreiche Untersuchung über die Angst vor der Hölle Le péché et la peur (Fayard 1983) an die Erforschung der Geschichte des Paradieses gemacht. Die Dantes unserer Zeit haben nicht mehr Vergil zum Führer, es sind akademisch geschulte, gewissenhafte Besucher, die sich von Klio leiten lassen. Und so steigen auch wir hinab in die Hölle, um die Geschichte dieses Orts des Schreckens mit seinen vielen Facet­ ten zu erforschen. Wir erleben, wie er vor fünftausend Jahren als böser Traum im Kollektivbewußtsein auftauchte, allmählich festere Konturen gewann und in den einzelnen Religionen verschiedene Gestalten annahm. Heute erscheint er wieder, heimtückisch, auf der Erde, wo er sich im zeitgenössischen Denken zur Realität ver­ dichtet. Die Hölle ist der Spiegel unseres schlechten Gewissens, unserer Schuldgefühle, des Bösen in seiner Allgegenwart. Die Hölle läßt uns nicht los, sie haftet uns an wie eine Chamäleonhaut, deren Farbe sich den Ängsten der Zeit jeweils anpaßt.

I

Der Ursprung der Hölle: die Hölle für alle Die Entstehung der Hölle läßt sich nicht festlegen, sie ist gewisser­ maßen so alt wie die Welt selbst oder - besser gesagt - so alt wie das Böse. Denn nachdem der Mensch lange Zeit seine Erfahrungen mit dem Bösen gemacht hat, erfindet oder entdeckt er - je nachdem, wie man es sehen will -, daß die moralische Verfehlung geahndet werden muß. In ihrer weitesten Bedeutung ist die Hölle ein Zustand der Qual, den ein Wesen erdulden muß als Folge einer moralischen Verfeh­ lung, deren es sich schuldig gemacht hat. Diese Ahndung unter­ scheidet sich von den Strafarten, welche die menschliche Rechtspre­ chung vorsieht. Sie wird von übernatürlichen Mächten vorgenom­ men oder vom vergeltenden Geschick. Meistens erfährt der Mensch die Strafe nach dem Tod, und ihre Dauer ist immer beträchtlich, manchmal sogar ewig. Die Vorstellung von einer Hölle dürfte nicht sehr früh aufge­ kommen sein, weil sie schon recht ausgeklügelte Begriffe erfordert: die Unsterblichkeit der Seele oder das Fortleben eines Doppelgän­ gers einerseits und zumindest die Ansätze eines Sittenkodexes andererseits oder wenigstens das Bestehen von Verboten, deren Überschreitung eine Verdammung rechtfertigen könnte. Die vor­ geschichtliche Zeit hat diesbezüglich kaum Hinweise hinterlassen. Es darf als bestätigt gelten, daß es um 50000 v. u. Z. schon üblich war, die Toten zu begraben, dafür gibt es Beweise an zahlreichen Orten. Aber welche Riten und welcher Glaube gehörten dazu? Wenn es ein Weiterleben gibt - und dies wahrscheinlich in Gestalt eines materiellen Doppelgängers -, wo findet dieses statt? Über ein mögliches prähistorisches Jenseits gibt es nur sehr unsichere Hypothesen. Manche vertreten die Ansicht, daß für den Cro-Magnon-Menschen die geheimnisvollen, dunklen Höhlen so etwas wie eine Hölle waren. Wie dem auch sei, sicher machte man an diesen Aufenthaltsorten der Toten, die möglicherweise einer 15

DER URSPRUNG DER HÖLLE

Wiedergeburt vorangingen, keinen Unterschied zwischen Guten und Schlechten.1 Bei moralischen Verfehlungen konnte es sich in dieser Zeit kaum um etwas anderes handeln als um Nichtbeachtung bestimmter Bräuche und Tabus oder um verbotene Handlungen. Daß das Begehen dieser »Sünden« einen zweiten Tod oder eine Bestrafung nach dem Tod zur Folge gehabt haben soll, ist recht unwahrscheinlich. Die ersten Höllenvorstellungen, von denen wir wissen, sind auch tatsächlich bar jeglicher Idee von Vergeltung oder Strafe. Überall ist die Hölle nur der Aufenthaltsort der Toten - aller Toten - ohne jede Ausnahme. Wenn sie auch nicht überall gleich gestaltet ist, so herrscht doch immer eine beängstigende Atmosphäre, denn der Mensch fürchtet das Jenseits instinktiv. So stellt er sich also zu­ nächst eine Hölle und nicht etwa ein Paradies vor. Sie ist ein Abbild seines Erdenlebens, eine Art Traum, bei dem alles fehlt, was das Leben schön macht, ein Schattenreich, in dem Phantome freudlos umherirren. Es wird niemand gequält, und doch sind diese Orte unheilvoll. Es ist nur natürlich, daß die Neugierde den Menschen schon früh dazu treibt, seinen künftigen Aufenthaltsort zu besuchen. Schon unter den ältesten religiösen Texten der Welt befinden sich »Höllen­ fahrten«, die sich im Laufe der Zeit zu einem der beliebtesten Themen entwickeln sollten. Dieser Ort, von dem noch keiner zu­ rückgekehrt ist, wird zum Gegenstand zahlreicher detaillierter Be­ schreibungen, die Zeugnis von der Urangst geben, die der Mensch vor dem Unbekannten im Jenseits empfindet. Im Laufe der Jahrhun­ derte werden unzählige Besucher der Hölle - Götter, Helden, Sagen­ gestalten oder einfache Sterbliche, die wissen wollen, welches Ge­ schick die Bösen ereilt, wie Gilgamesch, Odysseus, Vergil, Dante und viele andere - den Inhalt ihrer Träume von der Hölle erzählen und dabei die Phantasie der Menschen mit oft grauenhaften Vorstellun­ gen nähren, die aber immer noch der unerträglichen Ungewißheit vorzuziehen sind. Es ist so gut wie unmöglich, die ersten Höllenfahrten, die in den verschiedenen Zivilisationen auftauchen, sobald sie auf dem Gebieti i Vgl. Jakob Ozols, »Über die Jenseitsvorstellungen des vorgeschichtlichen Men­ schen«, in: Hans-Joachim Klimkeit (Hrsg.), Tod und Jenseits im Glauben der Völker, Wiesbaden (Harrassowitz) 1978, S. 14-39.

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MESOPOTAMIEN

Löwenhänptitfe Dämonen greifen einen Todgeweihten an ¡Mesopotamien).

der Moral oder bezüglich des Glaubens an ein Weiterleben der Seele oder des Doppelgängers eine gewisse Reife erreicht haben, zeitlich einzuordnen. Die verschiedenen Höllen, die die einzelnen Reisen offenbaren, spiegeln die Kultur der Lebenden wider und weisen zum Teil recht eigenwillige Züge auf. Frappierender jedoch als diese Besonderheiten sind wohl die Ähnlichkeiten, die man dabei ent­ deckt und die es ermöglichen, die urzeitliche Vorstellung von der Hölle annähernd darzustellen.

Die Hölle für alle: Mesopotamien Die ersten bekannten Höllenfahrten stammen aus dem Vorderen Orient um das Jahr 2000 v. u. Z.. Die berühmteste Reise, die des Enkidu, stammt aus den akkadischen Mythen und hat in den sume­ rischen Mythen viele Entsprechungen. Fragmente davon wurden auch in den hittitischen Städten Kleinasiens aufgefunden und stam-

V

DER URSPRUNG DER HOLLE

men aus der Mitte des 2. Jahrtausends, was die Verbreitung und Beliebtheit dieser Erzählung beweist. Nach dem Tod Enkidus, Freund und Diener Gilgameschs, läßt der Held ein Loch in die Erde graben, damit der Geist Enkidus herauf­ steigen kann. Gilgamesch fragt ihn, was er unter der Erde, in der Hölle gesehen hat. Es ist ein ergreifender Dialog, archaisch und nüchtern, bei dem Enkidu sich sehr zurückhaltend zeigt. Sichtlich ist das, was er gesehen hat, wenig erfreulich, und er zögert, dem Freund davon zu berichten: Sage mir, mein Freund, sage mir, mein Freund, Sage mir die Ordnung (unter) der Erde, die du schautest! Ich sag sie dir nicht, mein Freund, ich sag sie dir nicht! Sag ich dir die Ordnung der Erde, die ich schaute - Du müßtest dich setzen und weinen! So will ich mich setzen und weinen! Freund, meinen Leib, den du frohen Herzens berührtest, frißt Ungeziefer wie ein altes Gewand! [...] Ist wie eine Erdspalte voll Erdstaub.

Gilgamesch erkundigt sich nun nach dem Geschick bestimmter Personen. Trotz der vielen Lücken, die der Text aufweist, kommt das Wesentliche der Antworten klar zum Ausdruck:

Der durch einen Schiffspfahl erschlagen wurde, sahst du ihn? - Ja, ich sah: Kaum daß er nach seiner Mutter rief, durch Herausziehen des Pflocks... Der einen sehr frühen Tod starb, sahst du ihn? - Ja, ich sah: An nächtlicher Schlafstatt ruht er, reines Wasser trinkend. - Der getötet ist in der Schlacht, sahst du den ? Ja, ich sah: Sein Vater und seine Mutter halten sein Haupt, sein Weib weint über ihn. Dessen Leichnam man in die Steppe warf, sahst du den? Ja, ich sah: Sein Geist ist ruhelos auf der Erde. - Dessen Geist keinen Pfleger hat, sahst du den?

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MESOPOTAMIEN

- Ja, ich sah: Ausgewischtes aus dem Topf, auf die Straße gewor­ fene Bissen muß er essen.2 Alle diese Toten, deren Ergehen im Jenseits wenig beneidenswert ist, hatten kein glückliches Los auf Erden, sie wurden nicht beerdigt, keiner gedenkt ihrer. Alles in allem sind die Umstände im Jenseits an das Geschick des Körpers auf Erden gebunden, die Bindung aber hat nichts mit Moral zu tun. Diese glücklosen Geister, diese Ausge­ stoßenen, Edimmus genannt, sie sind der Prototyp des Verdamm­ ten und haben schon auf Erden gelitten. Es sind Verunglückte, Ertrunkene, im Kindbett gestorbene Frauen, heiratsfähige Mäd­ chen, die als Jungfrau, als Prostituierte, an Krankheit gestorben sind, Menschen, die keine Nachkommen haben, die sich um ihr Grab kümmern könnten. Nach ihrem Tod müssen sie ihren Gram immer neu erfahren. Durch ihr Geschick verbittert und frustriert, werden sie bösartig und beginnen, ihre Gefährten zu quälen, aber auch die Lebenden, denen sie das Leben durch ständige Besuche verleiden.3 Gilgamesch selbst wird eines Tages von einer Gruppe von Edimmus angegriffen und kann sich ihnen nur durch Flucht entziehen. Das Leben in der Hölle ist einfach nur die Fortsetzung des Erden­ lebens, eine Kompensation ist nicht vorgesehen, und es sind immer die gleichen, die leiden. Andererseits rächen sie sich an den ande­ ren, deren Los auch nicht beneidenswert ist: Sie irren in Finsternis und Staub umher. Quälgeister gibt es nicht. Die verschiedenen Höllen wachen zwar darüber, daß keiner entrinnt, aber Qualen zu erfinden, ist nicht notwendig, denn diese »Verdammten« werden von ihren Ressentiments zerfressen und zerfetzen sich gegenseitig, sie sind ihre eigenen Folterknechte. Das Böse und das Leiden gehören jedoch zusammen, so ist es auf Erden. Die Welt der Babylonier, Erben von Sumer und Akkad, kennt schon gehobene moralische Anforderungen, wie die Gesetz­ bücher zeigen, die während der ersten Jahrhunderte des zweiten Jahrtausends ausgearbeitet wurden und zu denen auch die berühm­ ten Gesetze des Hamurabi gehören (um 1750 v. u.Z.). Diese Ge­

2 Das Gilgamesch-Epos, Zwölfte Tafel, 87-96 u. 144-154. ) P. Dhorme, >Le séjour des morts chez les Babyloniens et les Hébreux«, in: Revue biblique, 1907, S. 59-78.

19

DER URSPRUNG DER HOLLE

setze, die die bestehende Sozialordnung regeln, sehen für jedes Delikt eine ganz bestimmte Strafe vor, die streng und der Schwere des Vergehens angemessen ist. Es wird darin der Wille kundgetan, »im Lande Recht walten zu lassen, den Bösen und Abartigen zu vernichten und zu verhindern, daß der Starke den Schwachen unterdrückt«.4 Recht und Moral sind eng verbunden, da die Götter darüber wachen, daß die Zuwiderhandelnden ihre Strafe erhalten. Die moralischen Anforderungen entsprechen den sozialen Ver­ pflichtungen, die sie widerspiegeln. Sie setzen voraus, daß die Götter, wie es der König tut, die Schuldigen bestrafen. Und wie bei der königlichen Rechtsprechung erfolgt die Bestrafung sofort und hier auf Erden. Sie wird ersichtlich in verschiedenen Arten von Heimsuchungen wie Unfälle, Krankheiten, Armut und Unfrucht­ barkeit. Es ist eine sofort greifende Gerechtigkeit, deren Auswir­ kungen bis ins Jenseits zu spüren sind, da sich die Unbilden dieses Lebens nach dem Tod fortsetzen. Durch aufgefundene magische Täfelchen wissen wir, daß die Menschen, die dieses oder jenes Unglück befallen hatte, zu den Priestern gingen, um den Grund ihrer Strafe zu erfahren und davon befreit zu werden. Der Priester befragte den »bußfertigen Sünder« im Rahmen einer regelrechten Beichte: »Hat er den Sohn vom Vater getrennt? Hat er den Vater vom Sohn getrennt? Hat er die Tochter von der Mutter getrennt? Hat er die Mutter von der Tochter getrennt? Hat er die Schwieger­ tochter von der Schwiegermutter getrennt? Hat er die Schwieger­ mutter von der Schwiegertochter getrennt? Hat er den Bruder vom Bruder getrennt? Hat er den Freund vom Freunde getrennt? Hat er den Gefährten vom Gefährten getrennt?« Und für die Unterlassungssünden: »Hat er verabsäumt, den Gefangenen zu befreien, den zu entbinden, der gebunden ist? Hat er bezüglich des Gefangenen gesagt: >Greift ihn!< Bezüglich des Ge­ bundenen: »Fesselt ihn!