Die historische Entwicklung von Beschlußverfahren und Beschlußkontrolle im Gesellschaftsrecht der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des Aktienrechts [1 ed.] 9783428499816, 9783428099818

Die Arbeit ist Bestandteil eines Forschungsvorhabens zur Geschichte des Unternehmensrechts. Emmerich untersucht die Ents

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Die historische Entwicklung von Beschlußverfahren und Beschlußkontrolle im Gesellschaftsrecht der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des Aktienrechts [1 ed.]
 9783428499816, 9783428099818

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Schriften zum Wirtschaftsrecht Band 130

Die historische Entwicklung von Beschlußverfahren und Beschlußkontrolle im Gesellschaftsrecht der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des Aktienrechts Von Markus Emmerich

Duncker & Humblot · Berlin

MARKUS EMMERICH

Die historische Entwicklung von Beschlußverfahren und Beschlußkontrolle im Gesellschaftsrecht der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des Aktienrechts

Schriften zum Wirtschaftsrecht Band 130

Die historische Entwicklung von Beschlußverfahren und Beschlußkontrolle im Gesellschaftsrecht der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des Aktienrechts

Von

Markus Emmerich

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Emmerlch, Markus: Die historische Entwicklung von Beschlußverfahren und Beschlußkontrolle im Gesellschaftsrecht der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung des Aktienrechts I von Markus Emmerich. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Schriften zum Wirtschaftsrecht ; Bd. 130) Zug!.: Hagen, Fernuniv., Diss., 1998/99 ISBN 3-428-09981-8

Alle Rechte vorbehalten Humb1ot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Gennany

© 2000 Duncker &

ISSN 0582-026X ISBN 3-428-09981-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1998 I 99 von der Juristischen Fakultät der FernUniversität/Gesamthochschule Hagen als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur konnten bis Juli 1999 berücksichtigt werden. Mein besonderer Dank gilt Herm Prof. Dr. Ulrich Eisenhardt, an dessen Lehrstuhl ich das von ihm angeregte Thema unter ausgezeichneten Bedingungen bearbeiten konnte, für zahlreiche wertvolle Anregungen sowie die umfassende und effiziente Betreuung. Dank gebührt auch Herm Prof. Dr. em. Peter Raisch für die Übernahme und zeitnahe Erstellung des Zweitgutachtens. Frau Susanne Schulz danke ich für ihre Mithilfe, die mir insbesondere bei der Fertigstellung der Arbeit ein wertvoller Beitrag gewesen ist. In Dankbarkeit widme ich die Arbeit meiner Großmutter A. Rösgen, die mich während meiner gesamten Ausbildung stets nach Kräften unterstützt hat. Bochum, im Januar 2000 Markus Emmerich

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1. Teil

Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861 I. Abschnitt

Das Beschlußverfahren nach der kanonistischen Korporationslehre A. Verfahrensgrundsätze und Einfluß auf das heutige Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

B. Zwischenergebnis . . .. . . . . . . . . . .. . . . . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . .. . . .. . . . .

25

2. Abschnitt

Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jahrhundert A. Quellengrundlagen . .. . . . .. . . . . . . . . . . .. . .. . .. .. . . . . . . . . . . . . . .. . .. . .. . .. .. . .. . . .. . . . .

27

B. Die Personengesellschaften . . . . . . . .. . .. . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . .. .. . . . . . . .. . . .. . . . .

31

I. Die Gesellschafterversammlung und deren Beschlußkompetenzen in den Verträgen der süddeutschen Fernhandelsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31

I. Die Rechnungslegung . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. .. . . . . .. . . .. . . . .

34

2. Die Gewinn- und Verlustverteilung . .. . .. .. .. .. .. .. . .. .. .. . .. .. .. .. . .. .. . . . . .

35

3. Die Auseinandersetzung mit den Erben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

4. Die Geschäftsführungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

36

5. Änderungen des Gesellschaftsvertrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

II. Das Beschlußfassungsverfahren, insbesondere die Geltung des Mehrheitsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

8

Inhaltsverzeichnis III. Die Möglichkeiten und das Verfahren der Beschlußkontrolle in den Gesellschaften .......... . . . . . ........................ . . .. .. . . ................. . . . .. . .... . . .

44

I. Die materiellen Grundlagen ...

44

2. Das Verfahren insbesondere bei Gesellschafterstreitigkeiten

49

3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

C. Die Kapitalgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

I. Metallhandels- und Bergbaugesellschaften des 15. und 16. Jahrhunderts . . . . . . . .

54

I. Die Beschlußkompetenzen der Gesellschafterversammlung .. . .. . . . .... . . . . .

56

a) Geschäftsführung ............... .... . ... .. ......... .

57

b) Sonstige Entscheidungsbefugnisse der Gesellschafterversammlung . . . . . . .

59

aa) Änderungen des Gesellschaftsvertrages

59

bb) Festlegung einer Nachschußpflicht . ....... .. ........ . . . .... .. . . .. .. . .

60

cc) Ausschluß von Gesellschaftern . . . . . . . .

60

2. Das Beschlußfassungsverfahren. insbes.: Die Geltung des Mehrheitsprinzips

61

3. Die Möglichkeiten und das Verfahren der Entscheidungskontrolle in den Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

a) Die materiellen Grundlagen .... . .. . . . .... . ................ . .. . . . .. . .. ... .

64

b) Das Verfahren insbesondere bei Gesellschaftsstreitigkeiten . .... . . ..... . . .

66

4. Zwischenergebnis ...... . .. .. . . .. . ... . . . . . . . .............. . II. Die Gesellschaften vom 17. Jahrhundert bis zum ADHGB ....

68 69

I. Die gesellschaftsrechtliche Entwicklung vor lokrafttreten des ALR . . . . . . . . . .

69

2. Die Organisation der Gesellschaften nach den gesetzlichen Vorschriften seit lokrafttreten des ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

a) Erlaubte Privatgesellschaft und privilegierte Gesellschaft im ALR, insbesondere: Die Aktiengesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

aa) Gesellschafterversammlung und Geschäftsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

78

bb) Die Beschlußfassung und deren Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

b) Das Eisenbahngesetz von 1838 ..... ... . . . ...................... . ...... . . .

81

c) Das preußische Aktiengesetz von 1843 . . . . . ...... .. . .. . . .. .. .. ... .. ... . . .

81

3. Die innere Organisation in den Statuten der Aktiengesellschaften . . . . . . . . . . . .

83

a) Untersuchungsgrundlagen: Die "dreigliedrige" Gesellschaft als Hauptform der AG-Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

84

Inhaltsverzeichnis b) Beschlußverfahren und Kontrollmöglichkeiten

9

86

aa) Direktion . .. . .. . . .. .. . . . . . . . .. . .. .. . .. . . . . .. .. .. . . .. .. .. . .. . . .. .. .. . .

86

bb) Verwaltungsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

cc) Generalversammlung ............... .. .................... . ........ . .

93

(I) Beschlußkompetenzen und Stimmrechtsverteilung . . . . . . . . . . . . . . .

93

(2) Beschlußverfahren und -kontrolle . .... . .......... . .. . ...... . .. .. . 100

4. Zwischenergebnis ............ .. ...... . .. . .................. . . . .. .. . .. . .. . . . . 103 2. Teil

Die Entwicklung der Beschlußkontrolle in der Aktiengesellschaft seit dem ADHGB von 1861 I. Abschnitt

Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

A. Die Entwicklung bis zum ADHGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . 105 I. Die innere Organisation der AG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 I!. Beschlußverfahren und -kontrolle ...... .. . ............ .

107

B. Die Aktienrechtsreform von 1870 und die Gründerjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 C. Die Folgen der Gründerjahre: Die Aktienrechtsnovelle von 1884...... . . . .. . . . . . . . . . 109 I. Aktionärsschutz und Beschlußkontrolle: Die Individual- oder Sonderrechte . . . . 109 I. Die Sonder- und lndi vidualrechte in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110

2. Die Sonderrechte in Rechtsprechung und Praxis .. .. . .. .. .. .. .... .. .. . . .. .. .. 116 a) Die Rechtsprechung............ . .... . . .. ................. .. . ... .. . . .... .. 116 b) Gesellschaftsrechtliche Praxis und Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 aa) Vorschläge zur Beschlußkontrolle im Gutachten des ROHG von 1877

124

(I) Beschlußkontrolle durch den Vorstand ..... .. . .. .. ..... .. .. .. .. .. 125

(2) Beschlußkontrolle im Aufsichtsrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

(3) Beschlußkontrolle in der Generalversammlung: Das Anfechtungsrecht .. .. .. .. . . .. . . . .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . . . . . . . .. . .. .. .. . 126 bb) Die Beratungen des Deutschen Juristentages zum Anfechtungsrecht . . 129

10

Inhaltsverzeichnis II. Die Aktienrechtsrefonn von 1884 .. . . . .. . . .. .. .. .. .. .. . .. . . .. .. . . .. . . .. .. .. . . . . 131 l. Rechtspolitisches Grundkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . .. . . .. . . .. . . . . . . . . 131

2. Beschlußkontrolle, insbesondere: Das Anfechtungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 III. Zwischenergebnis...... . .............. . ...... . ........ . ............. . ...... . .. . 135 D. Exkurs: Das Aktienrecht der südlichen Nachbarländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 I. Deutsch-Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . .. . .. . . .. . . . . . . . . .. . . 136 II. Schweiz . .. . .. . .. . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. . .. . . .. . .. .. .. . . .. . . .. . . . .. . . .. .. . . .. . . 137 III. Italien . . . . .. . . . .. . .. .. . .. .. .. . . .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . . .. . .. .. .. .. . . . .. .. . .. .. 138 IV. Zusammenfassung . . . . . . . . .. . . . .. . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Abschnitt

Die Entwicklung des Anfechtungsrechts bis zum AktG von 1937 A. Das HGB vom 10. 5. 1897 .................... .. .............. . ....... .. ...... .. .. .. 139 B. Die Refonnbestrebungen bis zum Ende der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 C. Der Nationalsozialismus und das AktG von 1937 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

3. Abschnitt Die Neuordnung nach 1945 A. Die Refonn von 1%5................................ . .............. . . .. . . .... . . . .. . 152 B. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

C. Beschlußkontrolle und Minderheitenschutz im geltenden Recht: Ausblick . ..... .. .. . 157

Zusammenfassung .... . ........................... . .... . ................ .. .... . .. .. .. . 161 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . .. . . . .. . . .. . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 164 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

Abkürzungsverzeichnis a.A. a. a. 0. Abs. Abschn. ADHGB a. E. AG AGB AktG allg. ALR Anm. Art(t).

Aufl. BB Bd. Begr. RegE 1965 BGH BGHZ ders. d. h. dies. Diss. DJT DJZ e. g. Ein!. entspr. et al. f. ff. Fn. FS ggü. GK-AG GLA

andere Ansicht am angegebenen Ort Absatz Abschnitt Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch von 1861 amEnde Aktiengesellschaft; zugleich: Die Aktiengesellschaft (Zeitschrift) Allgemeines Gesetzbuch für die preußischen Staaten Aktiengesetz allgemein(e) Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 Anmerkung Artikel Auflage Betriebs-Berater Band Begründung zum Regierungsentwurf des Aktiengesetzes von 1965 Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen derselbe das heißt dieselben Dissertation Deutscher Juristentag Deutsche Juristen-Zeitung exempli gratia (zum Beispiel) Einleitung entsprechende(n) et alii (und andere) folgende (Seite) fortfolgende (Seiten) Fußnote Festschrift gegenüber Großkommentar zum Aktiengesetz Generallandesarchiv Karlsruhe

Abkürzungsverzeichnis

12 HansGeschBl

Hanseatisches Geschichtsblatt

h.M.

herrschende Meinung Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte

HRG Hrsg.

Herausgeber

ibid.

ibidem (ebenda)

i. d. R.

in der Regel

i.E.

im Ergebnis

insbes.

insbesondere

i. S.(d.;e.;v.)

im Sinne (des; einer I eines; von)

i.V.m.

in Verbindung mit

JR

Juristische Rundschau

JuS

Juristische Schulung

JW

Juristische Wochenschrift

JZ

Juristen-Zeitung

KK

Kölner Kommentar zum Aktiengesetz

li.

linke(r; -s)

LZH

Leipziger Zeitschrift für Handelsrecht

M.B. m.E.

Monumenta Boica meines Erachtens

MüKo

Münchener Kommentar zum BOB

m.w.N. Nachw.

mit weiteren Nachweisen

n. F.

neue Fassung\

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Nr.

Nummer Offene Handelsgesellschaft

OHG

Nachweis(e)

p. a.

per annum (pro Jahr)

RGZ

Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen

Rn.

Randnummer

ROHGE

Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts

S.

Seite

s.

siehe

s. a. s. 0.

siehe auch

sog.

sogenannte(r, -s)

Sp. u. a.

Spalte unter anderem

V.

von/vom

Vertr.

Vertrag

siehe oben

vgl.

vergleiche

vo

Verordnung

VSWG

Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Abkürzungsverzeichnis z. B.

zum Beispiel

ZBH

Zentralblatt für Handelsrecht

ZDR

Zeitschrift für Deutsches Recht und Deutsche Rechtswissenschaft

ZHR

Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftrecht

z. T.

zum Teil

zutr.

zutreffend

13

Einleitung Beschlüsse sind als legitime Form und rechtstechnisches Mittel der Willensbildung eine schlechthin gemeinsame Institution der privatrechtliehen Personenverbände1. Sowohl das Beschlußverfahren als auch etwaige Kontrollmechanismen i.S.e. Aufhebung bzw. Korrektur fehlerhafter Beschlüsse sind in den einzelnen Verbandsformen unterschiedlich ausgestaltet. Eine eingehende und systematisch geschlossene Regelung enthalten in dieser Hinsicht jedoch nur die§§ 241 ff. AktG2 • Das Anfechtungsrecht des § 243 AktG ist neben dem Stimmrecht das wirkungsvollste Mittel des Aktionärs zur Sicherung seiner Belange3 . Wahrend das Stimmrecht - gleichsam als Ausgleich für seine ansonsten fehlenden Geschäftsführungsbefugnisse - dem Aktionär eine entscheidende Einflußnahme auf die Verwaltungsgeschäfte und damit auf den rechtlichen und wirtschaftlichen Aufbau der Aktiengesellschaft ermöglicht4 , bezweckt das Anfechtungsrecht nach seiner Ausrichtung die Wahrung der gesetz- und satzungsmäßigen Ordnung der AG im Interesse der Gesellschaft, der Aktionäre und der Öffentlichkeit5 . Besondere Bedeutung kommt ihm dabei im geltenden Recht als Instrument des Minderheitenschutzes zu, denn die Geltung des Mehrheitsprinzips in der Hauptversammlung der AG (§ 133 Abs. 1 AktG) bewirkt den Wegfall der dem Konsensprinzip des Vertragsrechts oder dem Einstimmigkeitsgrundsatz des Personengesellschaftsrechts innewohnenden "Richtigkeitsgewähr", die mit der Zustimmung der Betroffenen verbunden ist. Da das gesetzliche Leitbild - Gleichrichtung der Aktionärsinteressen und ein am Gesellschaftszweck ausgerichtes Handeln der Gesellschafter - häufig nicht verwirklicht wird, sind im Beschlußwege getroffene Regelungen nicht mehr allein durch die ihnen zugrundeliegende Mehrheit gerechtfertigt. Sie müssen vielmehr einer Inhaltskontrolle genügen, die über den Mindeststandard des § 138 Abs. 1 BGB hinausgeht. Das Instrument einer solchen Beschlußkontrolle ist für den Minderheitsaktionär die Anfechtungsklage6 .

I Vgl. Zöllner, Stimmrechtsmacht, S. II; Noack, S. 3; Nitschke, S. 65; Müller, S. I; K. Schmidt, AG 1977, 205. 2 Ebenso Noack, S. 3, 10; K. Schmidt, FS Stimpel, 217 (220). 3 Vgl. bereits Gadow I Heinichen, § 197 Anm. I. 4 Vgl. Golega, S. 2. s Vgl. Staudinger-Coing, Anm. 12 vor§ 32; GK-AG/Schilling, § 243 Anm. 2; s. auch Markou, S 77. 6 Geßler/Hefermehi-Hüffer, § 243 Rnn. 40, 41; vgl. auch Wiedemann, Bd.l, § 811.

16

Einleitung

Der Rechtsnatur und Herkunft nach ist das Anfechtungsrecht ein allgemeines Institut des Korporationsrechts und beruht auf der körperschaftlichen Struktur der AG7 • Seine heutige Ausgestaltung entspricht deren Charakter als einer Vereinigung von Personen, die aufgrunddes Gesetzes und der Satzung zur Verfolgung eines bestimmten Zwecks zusammengeschlossen sind8 . Beim aktienrechtlichen Anfechtungsrecht handelt es sich um ein vergleichsweise junges Rechtsinstitut. Der Gesetzgeber nahm sich seiner normativen Regelung erstmals in Gestalt der Aktienrechtsnovelle von 1884 an. Dies bedeutet jedoch keineswegs, daß damit ein absolutes Novum geschaffen wurde; genauso wenig, wie die Aktiengesellschaft selbst als Organisationsform erst mit ihrer gesetzlichen Ausgestaltung im Code de commerce von 1807 bzw. im deutschen Recht durch das Aktiengesetz von 1843 zur Entstehung gelangte. Die vorliegende Arbeit hat zum Ziel, die Entstehung und Entwicklung des Anfechtungsrechts anhand der Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse in den Aktiengesellschaften - bzw. ihren möglichen historischen Vorläufern hauptsächlich seit dem 15. Jahrhundert - zu untersuchen. Sie darf dabei freilich nicht der bloßen Suche nach dem Begriff der "Anfechtung" im heutigen Sinne verhaftet bleiben, denn jedweder Fachterminus erhält erst durch seinen Entstehungszusammenhang, Gebrauch, Zweck und ein historisch bedingtes Wortverständnis einen spezifischen Inhalt; er wird durch den Kontext determiniert, in dem er gebraucht und für den er verwandt wird9 . Vorschnell wäre es daher auch, die institutionellen Voraussetzungen der Entwicklung des Anfechtungsrechts allein am Charakter von Gesellschaften als "Verein" bzw. "Handels-" oder "Kapitalgesellschaft" festzumachen. Entscheidend ist hierfür vielmehr - das Vorliegen einer Verbandsorganisation, - das Unterworfensein von Mitgliedern unter die Mehrheitsentscheidung eines Organs sowie - das Vorhandensein eines geeigneten Beklagten, wobei allerdings keines der genannten Merkmale begriffsnotwendig für die Herausbildung von Anfechtungsklagen ist 10• Daher werden zunächst die Organisationsstrukturen der vorgenannten Gesellschaften einer Betrachtung im Hinblick auf das etwaige Vorhandensein einer Gesellschafterversammlung als maßgebendes Beschlußfassungsgremium unterzogen, um anschließend anhand der ihr zugeordneten Entscheidungskompetenzen die Ausgestaltung des Beschlußfassungsverfahrens (Stimmrecht etc.) herauszuarbeiten. Dabei gilt das Augenmerk besonders den Mo-

7 So bereits Lehmann, Archiv für bürgerl. Recht 9 (1894), 297 (383); vgl. auch Staudinger-Coing, § 32 Anm. 21. R Markou, S. 75.

Vgl. Kühnreich, S. 35 f. 1o Vgl. K. Schmidt, FS Stimpel, 217 (231 f.).

9

Einleitung

17

dalitäten und Voraussetzungen einer wirksamen Beschlußfassung einschließlich der Mehrheitsverhältnisse, um letztendlich der Frage nach einer Überprütbarkeit der Entscheidungstindung sowohl in materieller als auch in prozessualer Hinsicht nachgehen zu können.

2 Emmerich

1. Teil

Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861 1. Abschnitt

Das Beschlußverfahren nach der kanonistischen Korporationslehre Die Aktiengesellschaft heutigen Typs ist - wie eingangs ausgeführt - den körperschaftlich organisierten Personenverbänden zuzurechnen. Deren Rechtsverhältnisse waren bereits in der kanonistischen Korporationslehre Gegenstand intensiver wissenschaftlicher Erörterungen. Die Anfänge der klassischen kanonistischen Wissenschaft liegen in den Decretales Gratiani (um 1140) 11 • Da das kanonische Recht sehr stark auf dem römischen Recht beruhte, wurde auch dessen Lehre von den Personenverbänden durch die Kanonisten dem kirchlichen Verbandssystem angepaßt. Die Gesamtkirche bildete nach kanonischem Recht einen notwendig einheitlichen Organismus, der in eine Vielzahl unter sich zusammenhängender Glieder, die Einzelkirchen, unterteilt war. Damit erklärten die Kanonisten die Kirche zur universitas im Sinne des römischen Rechts und gelangten so zur Anwendbarkeit der von diesem flir die staatsrechtlichen Verbände entwickelten Grundsätze 12 . Deren wesentliches Substrat bestand darin, daß ein Verband als solcher von der Summe der ihn bildenden Mitglieder unterschieden und als Träger eines einheitlichen und unteilbaren Gesamtwillens angesehen wurde 13 • Konsequent wurde daher alles rechtliche Wollen und Handeln der Verbandsmitglieder streng an verfassungsmäßige Voraussetzungen und Formen gebunden. In der Kirche bestanden demnach alle Akte der Willensbildung in der reinen Ausübung von Jura universitatis, die wegen der Handlungsunfähigkeit der Kirche als Verbandspersönlichkeit von den einzelnen Kirchenmitgliedern umgesetzt werden mußten. Da diese aber nicht für sich selbst, sondern in Vertretung für die Kirche handelten, mußten ihre Willensäußerungen den gesetz- und verfasII Vgl. v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 111, S. 245; Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 130. 12 Zur Herkunft und Verwendung des Begriffes "universitas" vgl. Honsell et al., S. 77 ff. ( § 36); Kaser, § 72; s. ausführ!. auch Heumann I Seckel, S. 60 I f.; ferner v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. lll, S. 66 (Fn. 114). 13 Vgl. v. Gierke, a. a. 0., S. 44.

1. Abschn.: Das Beschlußverfahren nach der kanonistischen Korporationslehre

19

sungsmäßigen Voraussetzungen über Form und Umfang einer derartigen Vertretung genügen 14•

A. Verfahrensgrundsätze und Einfluß auf das heutige Recht Die hier einschlägigen Fragen des Beschlußverfahrens und der Beschlußkontrolle behandelten die Kanonisten vor allem in der Lehre von den kirchlichen Wahlen. Dabei war zunächst zur Erledigung jeder Angelegenheit grundsätzlich ein consensus communis, d. h. ein Versammlungsbeschluß notwendig: .,Videamus igitur que sint illa que sine consensu clericorum fieri non debent" 15 . .,Wir erkennen also, daß es jene Dinge sind, die ohne Übereinkunft der Geistlichen nicht geschehen können" (Es folgt eine Aufzählung einzelner Beschlußgegenstände; der Verf.)

Die Fassung derartiger Beschlüsse war nur in einer Versammlung möglich, die durch formelles Verfahren einberufen werden mußte. Vorgeschrieben war die Einladung aller an der Abstimmung beteiligten Personen 16; beschlußfähig war eine Versammlung bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln der Mitglieder: ,,Et nota, quod quidam legistae dicunt in constitutionem syndici sufficere duas partes praesentium in civitate adesse" 17. ..Und man nehme zur Kenntnis, daß etliche Legisten gesagt haben, für die Wahl des syndici genüge die Anwesenheit von zwei Teilen der in der Gemeinde anwesenden Mitglieder".

Das Stimmrecht unterlag grundsätzlich keinen besonderen Voraussetzungen, lediglich für Zweifelsfälle wurden zusätzliche Erfordernisse diskutiert 18 • Unbedingt notwendig war es dagegen, daß der Beschluß in Anwesenheit aller Abstimmungsberechtigten am Versammlungsangefaßt wurde: .,non valent singulares consensus, licet unanimes sint" 19• .,Die Beschlüsse einzelner haben keine Gültigkeit, mögen sie auch einstimmig sein" .

So v. Gierke, ebenda, S. 312. Da Trani, S. 262 (Ii. Sp., vor Rn. I). 16 Vgl. etwa da Trani, S. 27 (Ii. Sp., Rn. 6): .,Ad electionem vocandi sunt omnes qui debent, volunt et possunt commode interesse et qui in provincia eadem consistunt [ . .. ]"; nahezu identisch auch Durantis, Bd. II, S. 85 (Nr. 2); zu den einzelnen Modalitäten vgl. auch v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 317 (Fn. 217) m. w. N. 17 Durantis, Bd. I, S. 234 (Nr. I); s. a. v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 320 m. w. N. (Fn. 227). 18 Z. B. im Falle der Beteiligung vom Unmündigen, von Frauen oder von Personen jugendlichen Alters (hierzu ablehnend etwa Durantis, Bd. II, S. 85 (Nr. 6)); s. a. v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. Ill, S. 317 (Fn. 218). 19 Henricus de Segusia Hostiensis, zitiert nach v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 313 (Fn. 205); s. auch die Nachw. dort. 14

15

2'

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I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

Die Stimmabgabe durch einen Vertreter war allerdings in einigen Fällen unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen20. Jeder Beschluß sollte demnach als "communis et unicus actus", d. h. zur selben Zeit, arn gleichen Ort und mittels einheitlicher Handlung gefaßt werden21 ; die Willensübereinstimmung sollte "simul et communiter" erfolgen. Die Anforderungen an das Beschlußverfahren reichten im einzelnen so weit, daß die Einhaltung formelhafter Redewendungen und beinahe schematisierter Verhaltensweisen für das Zustandekommen eines gültigen Beschlusses notwendig war. Bei der Stimmabgabe waren Redewendungen wie "consentio in talem", "eligo in talem" oder "nomino talem" gebräuchlich22. Die abschließende Verkündung des Beschlusses (d. h. in diesem Fall des Wahlergebnisses) sollte grundsätzlich gemeinsam erfolgen, aus praktischen Gründen war aber die "pronuntiatio per unum", d. h. die Bekanntgabe durch einen Sprecher zugelassen. Dieser mußte nochmals den übereinstimmenden Willen der Versammelten durch spezielle Formulierungen zum Ausdruck bringen: "ego pro toto capitulo eligo Iaiern et omnes acceptabunt" bzw. "ego pro me et pro illis qui mecum consentiunt eligo talem"23 . ,,Ich wähle den Folgenden für das gesamte Kapitel und alle haben (dies] gebilligt" bzw. ,,Für mich und für jene, die mit mir übereinstimmen, wähle ich den Folgenden".

Zusätzlich zu diesem Verfahren der formellen Beschlußverkündung war die Protokollierung der gesamten Abstimmung und die Beurkundung des Ergebnisses vorgesehen24. Einen Schwerpunkt bei der Erörterung des Beschlußverfahrens bildete die Frage der erforderlichen Mehrheitsverhältnisse. Tatsächlich galt in der kanonischen Korporationslehre der Grundsatz der Mehrheitsentscheidung als ein dem Verbandswesen eigentümliches Prinzip: "Hoc enim generale est in cunctis actibus ecclesiae ut obtineat sententia plurimorum"25. ,,Denn dies ist allen kirchlichen Handlungen gemein, daß die Ansicht der Mehrheit sich durchsetzt".

Unter Mehrheit wurde im allgemeinen die einfache, d. h. absolute Mehrheit (maior pars respectu totius collegii) verstanden. Zusätzlich entwickelte das kanonische Recht eine eigentümliche Besonderheit, indem es nicht nur rein numerische Über2o Das in der Person des Wahlberechtigten auftretende Hindernis mußte z. B. bewiesen werden; im einzelnen s. v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 317 f. (Fn. 221 ) m. w. N. 21 V gl. v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 313. 22 v. Gierke, ebenda.

Vgl. da Trani, S. 26 (re. Sp.). Hierzu v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 111, S. 318. 25 Da Trani, S. 25 (Ii. Sp., Rn. 5); s. a. S. 264: "Generaliter aut praevalet quod a maiori parte capituli fit". Vgl. auch v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 111, S. 322 (Fn. 241 , unter Hinweis auf die venetianische Ausgabe v. 1584) m. w. N. Ähnlich Durantis, Bd. II, S. 93 (Nr. 2). 23

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I. Abschn.: Das Beschlußverfahren nach der kanonistischen Korporationslehre

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legenheit verlangte, sondern zusätzlich voraussetzte, daß auf seiten der Mehrheit ein geistig-moralisches Übergewicht (.,sanitas" bzw. .,sanior pars") vorhanden sei: ,,Maior est pars que numerosior est. Sed sicut in electione non sufficit partem esse maiorem nisi sit sanior" 26 . ,,Der zahlenmäßig größere Teil ist der überwiegende. Gleichwohl reicht es bei der Wahl aber nicht aus, daß ein Teil größer ist, wenn er nicht auch geistig überwiegt."

Dieses Prinzip ennöglichte gleichzeitig eine interessengerechte Auflösung der bei Stimmengleichheit auftretenden Pattsituation, denn hier galt derjenige als gewählt, der das höhere Ansehen genoß: ,.Sed si partes consentiunt sint equales. Et tune etiam eligendus est qui dignior esse videtur"27. ,.Wie aber, wenn die übereinstimmenden Parteien gleich groß sind? Und dann soll auch derjenige gewählt werden, der für würdiger gehalten wird".

Um einem mehrheitlich gefaßten Beschluß Geltung als "actus universitatis" d. h. als im oben angeführten Sinne einheitlich gefaßtem Beschluß - zu verschaffen, bediente das kanonische Recht sich einer Fiktion, indem der Wille der Mehrheit mit demjenigen aller Verbandsmitglieder gleichgesetzt wurde: ,.Quod maior pars capituli facit, totum capitulum facere videtur". 28 ,.Was die Mehrheit des Kapitels tut, wird als Handlung des gesamten Kapitels angesehen."

Bei allen oben genannten Punkten waren die Kanonisten um die Feststellung bemüht, ob es sich um ein wesentliches (.,de substantia") oder ein Erfordernis von eher untergeordneter Bedeutung (.,de iustitia") handelte29. Entsprechend dieser Unterscheidung waren die Rechtsfolgen materieller oder fonneUer Beschlußmängel und die damit zusammenhängenden Möglichkeiten der Beschlußkontrolle bestimmt: ,.Ubi ergo fit contra forrnas electio est ipso iure nulla"30. ,.Wo also eine Wahl unter Verletzung von Formvorschriften abgehalten wird, ist diese ipso iure nichtig."

Verstöße gegen formelle Beschlußkriterien führten nach dem eben genannten Quellentext also grundsätzlich zur Nichtigkeit des gesamten Beschlusses. Ein Beispiel hierfür bietet etwa der Fall, daß bei der Verkündung eines Beschlusses eine andere als die oben angeführte Wortwahl benutzt wurde (etwa nur .,eligo")31 • 26 Da Trani, S. 264 (Ii. Sp., Rn. I); vgl. auch den Wortlaut der späteren Ausgabe bei v. Gierke, Genossenschaftsrecht, S. 326 (Fn. 249). Auch Durantis nimmt hierauf wiederholt Bezug. s. etwa Bd. 2. S. 86 (Nr. 13), S. 89 (Nr. 37). 27 Da Trani, S. 26 (Ii. Sp., Rn. 5). 28 v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 323 (Fn. 244). 29 Vgl. v. Gierke, ibid., S. 319m. w. N. (Fn. 224). 30 Da Trani, S. 25 (Li. Sp., Rn. 5).

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I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

Auch die Frage der Wirksamkeit eines im übrigen fehlerhaften Beschlusses bleibt in diesem Zusammenhang nicht unbeantwortet: "congregatio [ ... ) autem contra ea que non sunt de formis fit tune electio non est ipso iure nulla sed est annullanda per exceptionem"32 . "Wenn aber eine Versammlung unter Verstoß gegen solche Vorschriften abgehalten wird, die nicht die Form betreffen, alsdann ist eine Wahl nicht ipso iure nichtig, sondern kann mittels Einrede zunichte gemacht werden."

Im Gegenschluß folgte mithin aus dem Grundsatz der Nichtigkeit formell rechtswidriger Beschlüsse, daß diese Rechtsfolge dann nicht zwingend eintrat, wenn es sich eben nicht um Formfehler handelte. Gegen derlei Beschlüsse konnte von den Versammlungsbeteiligten Einspruch erhoben werden. Ob es sich dabei - wie v. Gierke es formuliert 33 - um ein "Anfechtungsrecht" des Einzelnen handelte, kann hier dahinstehen. Ein häufig diskutierter Fall fehlerhafter, aber dennoch zunächst wirksamer Beschlußfassung waren Fehler im Einberufungsverfahren einer Versammlung: ,,Et est ratio ne iura illa que dicunt electionem non esse ipso iure nullam sed anullandam propter contemptum" 34. "Und es ist auch vorteilhaft, daß jene Rechtssätze nicht aussagen, eine Wahl sei wegen eines Übergangenen nichtig, sondern sie für angreifbar erklären."

Die "contempti", d. h. die nicht gehörig geladenen Mitglieder, konnten demnach die Beschlüsse einer nicht vollzähligen Versammlung angreifen 35 . Ferner konnte eine Wahl von der unterlegenen Seite mit der Behauptung angegriffen werden, dem Gewählten fehle es an Würde, d. h. die Mehrheit sei in diesem Falle nicht der "sanior pars". Da diesbezüglich eine rechtliche Vermutung für die Mehrheit sprach36, mußte jedoch ein förmlicher Gegenbeweis erbracht werden: "Sed et si unus habeat justarn contradicendi rationem, auditur, si hoc probaverit coram superiore"37. ,,Aber wenn auch einer einen triftigen Grund zum Widerspruch hat, wird er [nur] gehört, wenn er diesen vor höherer Stelle persönlich beweist."

31 v. Gierke, ibid., S. 315 (Fn. 212). 32 Da Trani, S. 25 (Ii. Sp., Rn. 5). 33 Genossenschaftsrecht, Bd. 111, S. 319 (Fn. 225). 34 Da Trani, S. 25 (Ii. Sp., Rn. 5). 3S Vgl. hierzu Durantis, Bd. li, S. 91 f. (Nr. 60, 61); vgl. auch die Nachw. bei v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 111, S. 319 (Fn. 224). 36 Vgl. etwa Durantis, Bd. li, S. 87: "[ ... ) praeterea ubi maior est numerus, melior praesumitur esse zelus [ ... ]"; s. ferner v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 327m. w. N. (Fn. 253). 37 v. Gierke, ibid., Fn. 254; vgl. auch dort die Formulierung "nisi minor pars rationabilern causam sui dissensus ostendat".

I. Abschn.: Das Beschlußverfahren nach der kanonistischen Korporationslehre

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Ein solchermaßen begründeter Widerspruch konnte im Ergebnis dazu führen, daß selbst ein Einzelner einen Beschluß zunichte machen konnte: "Unus ergo potest contradicere toti universitati, si habet rationabilern causam"38 • ,,Ein einzelner kann also widersprechen, sofern er nur einen vernünftigen Grund hat".

Über die Stichhaltigkeit der vorgelegten Beweise und damit über die letztendliche Gültigkeit des angegriffenen Beschlusses hatte in diesen Fällen der "superior", d. h. das jeweilige Kirchenoberhaupt, zu entscheiden. In einigen Fällen der anfänglichen Nichtigkeit wegen Formfehlern war die Aufrechterhaltung dieser Rechtsfolge nicht zwingend vorgesehen: ,,Narn alienatio que de iure non valet convalescit post consensum sequentem"39 .

"Denn eine Veräußerung, die von Rechts wegen ungültig ist, wird durch nachfolgenden Beschluß geheilt."

Durch nochmalige inhaltliche Einigung bestand hier demnach die Möglichkeit der Heilung eines nichtigen Beschlusses. In den übrigen Fällen wurde über den Widerspruch gegen Beschlüsse in einem förmlichen Prozeß40 durch richterliches Urteil entschieden. Da Beschlüsse wie gezeigt sowohl einer Rechtmäßigkeits- (Formfehler) als auch einer Zweckmäßigkeitskontrolle (sanitas maiori partis) zugänglich waren, wurde dem richterlichen Ermessen- wie v. Gierlee zu Recht bemerkt41 -ein weiter Spielraum eröffnet. Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß das Verfahren der Beschlußfassung und dessen Kontrolle im Korporationsrecht der Kanonisten bereits eine bis hin zu Detailfragen reichende rechtliche Ausgestaltung erfahren hat. Es drängt sich damit auch die Frage auf, ob und wie weit diese Rechtssätze ihren Niederschlag gerade im Gesellschaftsrecht gefunden haben. Im Grundsatz darf heutzutage der Einfluß des kanonischen Rechts auf die gesamte europäische Rechtskultur als unbestritten gelten42 • Vor allem in der Phase der Vollrezeption ab der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts waren kanonisches Recht und kirchliche Gerichte die "Brücke, über die auch das römische Recht in Deutschland einziehen konnte"43 • Dabei waren keineswegs nur kirchenrechtliche Angelegenheiten von Belang. Neben weitreichenden Umgestaltungen des Zivilund Strafprozesses wurde auch das materielle Straf- und Zivilrecht in erheblichem Maße beeinflußt44 • v. Gierke, ibid. Da Trani, S. 262 (Ii. Sp., Rn. 2) 40 Vgl. hierzu etwa Da Trani, S. 113 ff. ("de officio iudicis"). 41 Genossenschaftsrecht, Bd. lll, S. 328. 42 Vgl. hierzu Landau, S. 39 ff.; Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 137 ff. 43 Kroeschell, Rechtsgeschichte, Bd. li, S. 45; ebenso Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 141. 44 Näher Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 135 f. 38

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I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

Bezüglich des Handelsrechts ist diese These gerade für den deutschrechtlichen Raum nicht in gleichem Maße anerkannt. Bis in jüngerer Zeit halten einige Stimmen in der Literatur an der Behauptung fest, gerade im Handelsrecht hätten sich in nicht unerheblichem Umfang deutschrechtliche Elemente als Partikularrecht unbeeinflußt von der Rezeption des römischen und kanonischen Rechts entwickelt bzw. erhalten45 • Wenngleich einige neuere Untersuchungen46 belegt haben, daß diese These uneingeschränkt kaum aufrecht zu erhalten ist, so kann doch festgestellt werden, daß die Grundlagen des profanen Handelsrechts weniger ausgeprägt vom kanonischen Recht beeinflußt wurden. Benvenuto Stracca als typischer Vertreter der neuzeitlichen profanen Handelsrechtswissenschaft behandelte in seinem Elementarwerk .De mercatura seu mercatore tractatus" kaum gesellschaftsrechtliche Fragen, und Sigismondo Scaccia wertete in seinem "tractatus de commerciis et cambio" in erster Linie das moraltheologische Schrifttum aus. Auch das 1662 erschienene "Tractatus politico-iuridicus de iure mercatorum et commerciorum singulari" des Johannes Marquard, das als eine der wichtigsten Gesamtdarstellungen des Handelsrechts gelten darf, bezieht sich weniger auf die Kanonisten und Moraltheologen als vielmehr auf das Corpus Juris, die Kommentatoren und die Vertreter des Mos Gallicus47 • Bezüglich der oben untersuchten Grundsätze ist schließlich zu bemerken, daß es sich hierbei um eine dem Gesellschaftsrecht äußerlich zwar ähnliche, nach den rechtlichen Grundlagen jedoch völlig verschiedene Materie handelte. Daher wäre etwa die Annahme absolut verfehlt, die im kanonischen Recht für die Beschlußfassung geltenden Regeln ließen sich ohne weiteres auf das Recht der Handelsgesellschaften übertragen. Denn während es sich hier um privatrechtliche Personenvereinigungen handelt, galten dort - wie eingangs erwähnt - die Grundsätze der dem öffentlichen Recht zuzuordnenden universitas. Einen derartigen Verbandsbegriff zu entwickeln war das römische Privatrecht aber bereits nach seiner vom individualistischen Personenbegriff geprägten Grundauffassung nicht fähig48 . Jede privatrechtliche Gemeinschaft wurde auf die Rechte und Pflichten einer Mehrheit von Subjekten reduziert, wobei die Mehrheit selbst jedoch stets nur als die Summe der einzelnen Individuen, nicht aber als subjektives Ganzes betrachtet wurde49 . Alle privatrechtliche Gesellschaftsbildung erschöpfte sich daher in der Fortn der societas, die als rein obligatorisches Vertragsverhältnis die rechtliche Selbständigkeit ihrer Mitglieder unberührt ließ und daher nicht fähig war, aus sich heraus zu einer eigenständigen Verbandspersönlichkeit verdichtet zu werden 5°.

Hierzu kritisch Eisenhardt, FS Raisch, S. 52 f. m. w. N. V gl. nur Schimke, Die historische Entwicklung der Unterbeteiligungsgesellschaft in der Neuzeit; s. auch Eisenhardt, FS Raisch, S. 51 (63 f.) m. w. N. 47 Zu alledem Eisenhardt, FS Raisch, S. 51 (57 f.). 48 Vgl. v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 38 f. m. w. N. 49 v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. III, S. 38 f. m. w. N. 4S

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so So zutreffend v. Gierke, ebenda, S. 41; vgl. hierzu auch Conradi, S. 71 ff.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 25

B. Zwischenergebnis Die vorstehenden Ausführungen zeigen, daß die Rückführung von Beschlußkontrollrechten vom profanen Handelsrecht auf die Kanonistik nicht mit der notwendigen Sicherheit möglich ist. Neben den bereits geäußerten Bedenken ist zusätzlich fraglich, ob der streng formalisierte Ablauf des kirchlichen Wahlverfahrens überhaupt geeignet gewesen wäre, auch nur in Teilen auf das von Sachnähe und größtmöglicher Effizienz geprägte Beschluß- und Entscheidungsverfahren in den Handelsgesellschaften übertragen zu werden.

2. Abschnitt

Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jahrhundert Als weiterer Untersuchungsansatz kommt schließlich die mit der Herkunft des Aktiengesellschaftswesens verknüpfte Frage nach der Entwicklung der Beschlußkontrolle in dieser Gesellschaftsform und damit letztlich des Anfechtungsrechts in Betracht. Zur Entstehung der AG existieren im wesentlichen zwei Auffassungen, von denen die eine die commenda bzw. die montes, die Staatsgläubigergemeinschaften des römischen Rechts, als ihre Vorläufer ansieht. Als älteste Form der Kapitalassoziation, die bereits Grundprinzipien einer Aktiengesellschaft enthielt, wird von den Vertretern dieser Ansicht die im 15. Jahrhundert gegründete St. GiorgioBank in Genua genannt51 . Gegen diesen lange Zeit unangefochtenen Standpunkt richtete erst Ende des 19. Jahrhunderts Lehmann den Einwand, die - möglicherweise einzigartige - Konsolidierung von Gläubigergruppen und die unter dem Druck finanzieller Not vorgenommene Ersetzung des Zinses durch Dividenden könne nicht unreflektiert als Geburtsstunde der AG betrachtet werden52. Lehmann setzte daher mit seinen Untersuchungen zwei Jahrhunderte später an und gelangte zu der Auffassung, daß erst mit dem Aufkommen der großen kolonialen Seehandelsgesellschaften des späten 17. Jahrhunderts ein Entwicklungsprozeß einsetzte, der lückenlos bis hin zur AG heutiger Prägung verfolgt werden kann 53 , obwohl er die Meinung vertrat, die St. Giorgio-Bank sei seit 1419 eine Aktiengesellschaft gewesen54. 51 Vgl. v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd.l, S. 991 ; Fick, ZHR 5 [1861], S. 1 (43); Vgl. hierzu auch Renaud, 2. Auf!., S. 21 m. w. N.; Brondics, S. 24; zur commenda ausführlich Weber, S. 15 ff. 52 Lehmann, geschichtliche Entwicklung, S. 7. 53 Lehmann, geschichtliche Entwicklung, S. 7 ff.; s. auch Renaud, 2. Auf!., S. 22; Brondics, S. 24. 54 Lehmann, geschichtliche Entwicklung, S. 6; a.A. Sieveking, Genueser Finanzwesen II, VorwortS. VI.

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I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

Für die vorliegende Untersuchung erübrigt sich indes eine Stellungnahme zu diesen divergierenden Ansichten. Denn untersucht man die Statuten der St. Giorgio-Bank auf Individual- bzw. Beschlußkontrollrechte der ,,Aktionäre", so stellt man fest, daß zwar die Bildung einer Art Hauptversammlung ("gran consiglio") vorgesehen ist, deren Befugnisse auch eingehend geregelt sind 55 . Allerdings hatte das gran consiglio seiner organisatorischen Struktur und seiner Funktion nach eher Ähnlichkeit mit dem Vorstand der heutigen AG als mit der Versammlung der Gesellschafter. Auch war nicht jeder Teilhaber automatisch zur Teilnahme an Zusammenkünften des gran consiglio berechtigt, vielmehr wurde dessen Zusammensetzung u. a. durch ein Wahlverfahren bestimmt56• Was schließlich das gran consiglio mit einer Mehrheit von 2/3 der Stimmberechtigten beschloß, erlangte bindende Geltungswirkung für alle Gesellschafter57 . Nicht ersichtlich ist dagegen, ob und welche Rechtsbehelfe den Mitgliedern der Gesellschaft gegen diese Beschlüsse zustanden. Die innere Organisation der später gebildeten Aktiengesellschaften, die Schaffung von Gesellschaftsorganen, die Vorschriften über Dividendenzahlungen, Rechnungslegung sowie die Rechte der Aktionäre fanden ihr Vorbild daher jedenfalls nicht in den Statuten der St. Giorgio-Bank zu Genua58 . Daraus zog Lehmtmn den Schluß, daß die Genese der heutigen AG erst in der Gründung der kolonialen Seehandelsgesellschaften des 17. Jahrhunderts (Niederländisch-Ostindische Kompanie, Dänisch-Ostindische Kompanie etc.) ihren Anfang nahm. Als gemeinsames Grundcharakteristikum der neuen Vergesellschaftungsform dieser Zeit sah Lehmann vor allem das spekulative Element an59• Abgesehen davon, daß diese Betrachtungsweise der Realität jedoch nicht ganz gerecht wurde, weil bereits in den Anfcingen des Aktienwesens der Handel mit Gesellschaftsanteilen z. T. nachweisbar spekulativen Charakter hatte und keinesfalls nur der Kapitalanlage oder der Behebung finanzieller Not diente60, wurde später von Strieder zum einen der insofern zutreffende Einwand erhoben, daß es sich bei den Aktiengesellschaften des 17. Jahrhunderts auch nicht um ein gänzlich neues Rechtsinstitut handelte. Zwar wird der Ausdruck "Aktie", aus dem Holländischen stammend, tatsächlich erst ab dem oben genannten Zeitpunkt im heutigen Sinne gebraucht. Dies bedeutet allerdings nicht, daß es sich dabei um einen gänzlich neuen Begriff handelte, vielmehr wurden hierdurch nur ältere Bezeichnungen für dasselbe Institut ersetzt61 • 55 Lehmann, geschichtliche Entwicklung, S. 62 (Fn. 4); s. auch Sieveking, Genueser Finanzwesen, S. 177. 56 Hierzu im einzelnen Sieveking, Genueser Finanzwesen, S. 176 f.\ 57 Vgl. Sieveking, ebenda, S. 177. 58 Vgl. Lehmann, geschichtliche Entwicklung, S. 8 (Fn. 1). 59 Lehmann, geschichtliche Entwicklung, S. 24 f. 60 Vgl. z. B. die Darstellung bei Sieveking, Genueser Finanzwesen, S. 30 f. 61 Vgl. Strieder, S. 112.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh.

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Zum anderen gelang Strieder der Nachweis, daß bereits vor dem 17. Jahrhundert Organisationsformen der Kapitalassioziation existierten, die zumindest als Vorläufer der AG bezeichnet werden können. Gleichwohl können sie nicht als eigenständige Gesellschaftsformen aufgefaSt werden, sondern sind vielmehr in ihrer Entstehung eng mit der Entwicklung handelsrechtlicher Institute und Regeln schlechthin verknüpft. Die vorliegende Untersuchung muß aus diesem Grunde bei ehendiesen Organisationsformen einsetzen, d. h. zu dem Zeitpunkt, in dem aufgrund von kaufmännischen Zusammenschlüssen, die auf Erwerbszwecke ausgerichtet waren, von einer beginnenden Entwicklung des Gesellschafts-, insbesondere des Handelsgesellschaftswesens die Rede sein kann62 •

A. Quellengrundlagen Die Schwierigkeiten, die sich bei der Sichtung speziell älterer Textquellen auf gesellschaftsrechtliche Regelungen hin ergeben, wurden bereits von anderen Autoren geschildert63 . Zwar sind Handelsgesellschaften in einer dem heutigen Recht ähnlichen Form bereits ab dem Mittelalter nachweisbar64 ; die als mögliche UntersuchungsgrundJage heranzuziehenden Stadt- bzw. Landrechte, königliche und landesherrliche Privilegien und Weistümer erweisen sich jedoch in bezug auf gesellschaftsrechtliche Kodifikationen als wenig ergiebig. Die Gründe für diesen Mangel liegen darin, daß die frühe Gesellschaftsrechtsgebung der Städte zwar einige Bestimmungen zu Gesellschaften enthielt; diese liefen jedoch entweder auf ein - für bestimmte Geschäftszweige häufiges - Verbot65 einer Gesellschaftsbildung hinaus oder reglementierten die Handelstätigkeit66 der Gesellschaften. Kennzeichnend für die von staatlicher Seite noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts den Handelsgesellschaften entgegengebrachte, ablehnende Haltung, sind Aussagen wie diejenige der ,,Reforrnatio Sigismundi" von 1439, ein Traktat, in dem Kaiser Sigmund sich für die Abschaffung von Zünften und Handelsgesellschaften einsetzte: "Von den geselschaften in den stetten. Item es sind groß geselschaften aufgestanden, die zusamen spannent und treibent groß kaufmannschatz67 , es ge in wol oder übel. Sy schy62 Zur Entwicklung des Handelsrechts in Europa und der Bildung deutschrechtlicher Schwerpunkte Eisenhardt, FS Raisch, S. 51 (53 f.). 63 Schimke, S. 38 ff. 64 Schmidt, Stadtrechtsquellen, S. I; vgl. auch Schimke, S. 41. 65 In Nümberg war z. B. die Bildung von Gesellschaften im Viehhandel verboten; s. Schultheiß, Satzungsbücher, S. 39 f., 89, 143. Ferner galt in Nürnberg und Ulm das Verbot der Gesellschaftsbildung mit Stadtfremden; vgl. Schultheiß, Satzungsbücher, S. 143; Mollwo, S. 23, Nr. 8; ders., S. 26, Fn. I; vgl. auch die weiteren Beispiele bei v. Inama-Sternegg, Bd. 3, 2. Teil, S. 269 (Fn. 2m. w. N.). 66 Vgl. nur den Nachweis zum Nördlinger Stadtrecht bei Lutz, S. 64 (Fn. 219). 67 D. h. Handel treiben.

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bent es ye darnach, das sy nit verliern. Das kompt auch aller gemain in den stetten und auf dem land übel. Man so! dawider sein, daß solch puntnuß abgestellet werd und nyndert mer gefunden, weder von edlen noch von burgern"68

Spätere Regelungen z. T. gesellschaftsrechtlichen Inhaltes wie Stadtrechtsreformationen oder Privilegien behandelten entweder einzelne Problemkreise - wie etwa das Privileg Friederichs Ill. für die Stadt Nümberg69 vom 23. 6. 1464, das neben einer Appellations- und einer Vormundschaftsfrage Bestimmungen zur Haftung für die Schulden von Handelsgesellschaften enthält - oder formulierten "Rahrnenvorschriften", die anderweitige Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag ausdrücklich zuließen. So bestimmt z. B. die Nürnberger Stadtrechtsreformation von 1479 I 84 für den Verteilungsschlüssel von Gewinn und Verlust: "So in dem geding70 einer gesellschaft nit abgeredt ist die anzal des gewynns oder des verlusts nemlich oder sunderlich, so so! die nach markzal oder anzal eins yeden dargelegter Summpercento oder nach dem hundert verstanden und aufgenomen werden"71 .

Die Frankfurter Stadtrechtsreformation von 1578 enthält im 23. Titel eine immerhin 14 Paragraphen umfassende Regelung gesellschaftsrechtlicher Grundfragen. Auch hier erlangten die gesetzlichen Bestimmungen jedoch nur vorbehaltlich des FehJens anderweitiger Vereinbarungen im Gesellschaftsvertrag Gültigkeit72 • Auch die Wormser Stadtrechtsreformation von 1498 regelt lediglich Auseinandersetzungs- und Ersatzansprüche der Gesellschafter gegeneinander und ist damit auf die Behandlung von Einzelfragen gesellschaftsrechtlicher Natur beschränke 3 . Allen genannten Rechtsquellen ist gemeinsam, daß normative "Eingriffe" in die gesellschaftliche Rechtssphäre weder die rechtliche Struktur der Gesellschaften betrafen noch auf Fragen der inneren Organisation eingingen. Die Gründe für diese nur ansatzweise vorgenommene Normierung der gesellschaftsrechtlichen Materie wurden bereits durch andere Untersuchungen belege4 , so daß sich weitergehende Ausführungen an dieser Stelle erübrigen. 68 Vgl. den Reformationstext bei Boehm, S. 159- 252, Teil VI., Kap. 7: s. auch Möncke, S. 300. 69 Text abgedruckt bei Bauer, Unternehmung, S. 127 ff. 70 Daß hierunter der Gesellschaftsvertrag zu verstehen ist, gilt als unstreitig; vgl. Hagemann in HRG I, Sp. 1428 f.; ebenso Lutz, S. 77. 71 Vgl. Faksimiledruck bei Köhler, XXX, 2; s. auch Beyerle et al., Quellen, S. 74. Auch das zehnte Gesetz des 30. Titels erlaubte abweichende Regelungen im Gesellschaftsvertrag hier handelt es sich um die Bestimmung der Dauer einer Rechnungsperiode. n Als Beispiel sei auch hier auf die Vorschriften zur Rechnungsperiode verwiesen: "Were dann der Hauptrechnung halben, wann die solt geschehen nichts außtrücklichs versehen, so soll dieselbig jedes Jars [ ... ] geschehen"; vgl. Lutz, S. 303 (Fn. 239). 73 s. Beyerle u. a .• Quellen, S. I 04. Zur Situation in anderen Städten vgl. nur Lutz, S. 134 ff. 74 Vgl. Bauer, Unternehmung, S. 76 ff.: Lutz, S. 77 ff., 134 ff.: Schimke, S. 39 ff.; s. a. v. Inama-Sternegg, Bd. 3, 2. Teil, S. 269. 75 Dazu im einzelnen unten B. I. 4.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 29

Die vorliegende Abhandlung muß sich daher zunächst auf die in den Urkundenbüchern insbesondere des 15.- 17. Jahrhunderts zahlreich erhaltenen und überlieferten Verträge der Gesellschaften stützen und aus deren Organisationsstrukturen die eingangs genannten, für die gesellschaftsinterne Willensbildung und die Überprüfbarkeil von Entscheidungen maßgeblichen Kriterien herausarbeiten. Hierbei sind unter den gesellschaftlich organisierten Unternehmungsformen des 15. - 17. Jahrhunderts drei für die vorliegende Untersuchung von vorrangigem Interesse. Es sind dies zum einen die vor allem in Süddeutschland aus den Familienwirtschaften hervorgegangenen Fernhandelsgesellschaften, die in erster Linie durch die persönliche Mitarbeit der Gesellschafter gekennzeichnet sind75 , sodann die besonders im thüringischen und Oberösterreichischen Raum angesiedelten Gesellschaften des Bergbaus und Metallhandels, bei denen aufgrundder kostenintensiven Vereinigung von Produktion und Vertriebsorganisation innerhalb eines Unternehmens die Kapitalbeschaffung im Vordergrund stand und bei denen eine Tendenz zur Trennung von Kapitaleinlage und persönlicher Mitarbeit zu erkennen ist (sie sollen aus diesem Grunde als "Kapital"gesellschaften bezeichnet werden)76 . Ebenfalls in diese Kategorie gehören die bereits angesprochenen Seehandels- und Kolonialgesellschaften. Auch sie waren auf die Beiträge vieler Anleger ausgerichtet, korporativ organisiert und ihre Anteile waren übertragbar77 . Wegen dieser organisatorischen Verwandtschaft zur AG werden auch sie in die vorliegende Untersuchung mit einbezogen. Mit der Schaffung des preußischen Aktiengesetzes von 1843 - in Frankreich bereits durch den Code de commerce von 1807 - wurde schließlich das Recht der Aktiengesellschaft erstmals auf eine spezialgesetzliche Grundlage gestellt, so daß hier auch die bis dahin eigenständige Entwicklung der genannten Gesellschaftsformen zu einem vorläufigen Ende gelangt bzw. eine Spezifizierung in Richtung der Genossenschaft oder der späteren KG bzw. KGaA erfährt. Die vorliegenden Ausführungen werden sich daher ab diesem Zeitpunkt auf die AG beschränken. Keiner näheren Betrachtung unterzogen werden sollen trotz ihrer gewichtigen Rolle im norddeutschen Handelsleben die Hansegesellschaften 78 • Ihnen fehlte zum einen zumeist ein einheitlicher Unternehmensgegenstand, denn i.d.R. schlossen sich die hansischen Kaufleute nicht nur zu einer Unternehmung zusammen, sondern investierten ihr Kapital in mehrere, verschiedenartige Handelsgesellschaften79. Zum anderen waren die Hansegesellschaften ausgesprochene Gelegenheitsgesellschaften ohne eine auf Dauer angelegte, festen Regeln unterworfene innere Organisation80 . Zunächst war das Rechts- und Pflichtenverhältnis der Gesellschaf-

Vgl. hierzu unten C. I. s. hierzu Coing, Privatrecht,§ 107. 78 Zu deren Herkunft und Aufbau vgl. Sprandel, S. I ff. 79 Strieder, S. 98. 80 Vgl. hierzu lsenmann, S. 364 f.; Strieder, S. 98; oft betrugen die Abrechnungsperioden bis zu einem Jahrzehnt. 76 77

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ter untereinander nicht einmal durch einen Gesellschaftsvertrag bestimmt. Vielmehr wurden lediglich die Namen der Gesellschafter, die Summe des in die Gesellschaft eingebrachten Geldes und der ihnen zustehende Anteil am Gewinn in ein Verzeichnis des Stadtbuches eingetragen, welches die Bildungen von "societates" festhielt 81 • Im Laufe der Zeit gewannen die Eintragungen einen zunehmend vertragsähnlichen Charakter, ohne daß jedoch über die Benennung der Geschäftsführer nebst deren Rechten und Pflichten auf die Gesellschaftsorganisation im einzelnen eingegangen wurde82. Gegen die Einstufung der Hansegesellschaften als Gelegenheitsgesellschaft spricht daher auch nicht die These Keutgens, der die Schwelle zur Dauergesellschaft zu demjenigen Zeitpunkt überschritten sehen will, in dem die Verträge nicht mehr für einzelne Seereisen, sondern auf gewisse Zeit abgeschlossen wurden83 . Denn auch wenn eine Unternehmung die Durchführung wiederkehrender Geschäfte zum Zweck hat, die Dauer der Unternehmung also auf eine gewisse Zeit angelegt ist, kann es sich um eine Gelegenheilsgesellschaft handeln84 • Eine sinnvolle Abgrenzung zur Dauergesellschaft kann daher entgegen Heße 85 nicht allein anband der Zeitspanne getroffen werden, für die eine gesellschaftsrechtliche Verbindung eingegangen wurde. Entscheidend ist vielmehr auf den Unternehmensgegenstand bzw. den gemeinsamen Zweck86 (Wahrnehmung einer Gelegenheit oder Zusammenarbeit auf Dauer) abzustellen 87, sowie auf die Frage, ob dessen Förderung Gegenstand verbindlich bedungener Rechtspflichten ist88 • Eine feste und dauerhafte Zusammenarbeit als Unternehmenszweck scheidet indes bei den Hansegesellschaften allein schon deshalb aus, weil diese aufgrund der Vielzahl von Beteiligungen, die - wie oben angeführt - bei den Hansekaufleuten die Regel darstellte 89, in einem Unternehmen kaum praktikabel gewesen sein dürfte. Noch wesentlicher ist allerdings der Umstand, daß in den Hansegesellschaften zumeist keine im einzelnen ausgeformte Gesellschaftsorganisation in Form ei81 Vgl. Pauli, Bd. I, S. 139 ff.; s. auch dort die Einträge im Lübecker Niederstadtbuch, abgedruckt im Urkundenband S. 225-234 (Nr. 102a-114). 82 Zu alledem Pauli, Bd. III, S. 35, s. hierzu auch die Urkunden Nr. 95- 119 im Urkundenband, ebenda, S. 163-178. 83 Keutgen, VSWG 1906, S. 509 ff.; ebenso Heße, S. 50 f.; vgl. auch Mickwitz, HansGeschbl 1937, S. 34. 84 Maiberg, Gesellschaftsrecht, Rn. 20; MüKo-Ulmer, vor § 705, Rn. 57; i. E. auch K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 58 III 6. 85 S. 51. 86 Auf die ebenso unfruchtbare wie umstrittene Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen soll an dieser Stelle verzichtet werden; s. hierzu nur K. Schmidt. Gesellschaftsrecht. § 4 II 3m.w.N. K7 MüKo-Uimer, vor§ 705, Rn. 55. RR So K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 58 111 6. R9 Vgl. das vielfach bemühte Beispiel des Hermann Mornewech. der in zwölf Jahren an 18 Gesellschaften beteiligt war; statt aller s. nur Strieder, S. 98.

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nes Gesellschaftsvertrages vorhanden war. Denn ohne eine solche fehlt es am auf einen dauerhaften, gemeinsamen Geschäftsbetrieb ausgerichteten Bindungswillen der Gesellschafter und damit an einer rechtsverbindlichen Absprache im o.g. Si!Ule.

B. Die Personengesellschaften Eine führende Position unter den Großunternehmen90 etwa ab Mitte des 15. Jahrhunderts91 nahmen vor allem die großen Fernhandelsgesellschaften des süddeutschen Raumes ein. In Handelsmetropolen wie Augsburg, Nürnberg, Ulm und Frankfurt waren die Familien der Fugger, Manlich, Herwart, Baumgartner, Imhoff, Weiser und Neidhart die größten und bedeutendsten solcher Handelsgesellschaften. Durch eine Fülle an überliefertem Urkundenmaterial über ihre Organisation und ihre Geschäftstätigkeiten wird ein umfassender Einblick in ihre rechtliche Struktur und damit in das Gesellschaftswesen der damaligen Zeit möglich. Freilich soll und darf hier die Tatsache nicht unerwähnt bleiben, daß es sich bei den genannten Unternehmen keinesfalls um Kapital- oder gar Aktiengesellschaften im gegenwärtigen Rechtssinne, sondern um Personengesellschaften handelte, die nach Ihrer rechtlichen Struktur am ehesten der heutigen OHG nahekommen92 . Dennoch stellen sie jedenfalls eine Stufe desjenigen Entwicklungsprozesses dar, der später mit der Bildung der Bergbau- und Metallhandelsgesellschaften einen Fortschritt in Richtung der Kapitalgesellschaft nahm 93 . Soweit es dem Gegenstand der vorliegenden Untersuchung dienlich ist, werden daher auch sie im folgenden einer dahingehenden Betrachtung unterworfen.

I. Die Gesellschafterversammlung und deren Beschlußkompetenzen in den Verträgen der süddeutschen Fernhandelsgesellschaften

Eine grundlegende Bedeutung bei der Willensbildung in einer Gesellschaft kommt der Gesellschafterversammlung zu. Sie bietet den einzelnen Gesellschaftern als eigentlichen "Trägern" des Unternehmens eine wesentliche Gelegenheit zur Manifestation ihres Willens und kann daher gleichsam als "Forum der Willens90 Die Gesellschaften entsprechen dem Grundtypus des privaten. gewinnbringenden Gewerbebetriebes; gegen Ihre Bezeichnung als •• Unternehmen" bestehen insofern keine grundsätzlichen Bedenken. Vgl. zu Herkunft und Entwicklung des Unternehmensbegriffs Raisch, Geschichtliche Voraussetzungen, S. 121 ff. ~~ Diese Zeit wird verbreitet als "Frühkapitalismus" bezeichnet, ohne daß dieser Begriff bisher eingehend präzisiert worden wäre; vgl. die Bemühungen von Bauer, Unternehmung, S. 7; s. auch Lutz. S. 20 (Fn. 82 m. w. N.). 92 Strieder, S. 95 f., vgl. auch Lutz, S. 9 ff. 93 Vgl. Lutz, S. 14.

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bildung" bezeichnet werden. Hinsichtlich der Beschlußfassung kann dabei zwischen einer formell- und einer materiellrechtlichen Seite unterschieden werden. Wahrend es bei letzterer um den Beschluß selbst sowie um seine Wirkung geht, betrifft die formelle Seite die Herbeiführung, d. h. das Zustandekommen des Beschlusses und damit regelmäßig die Gesellschafterversammlung selbst94. Für die Frage nach den Willensbildungsprozessen in den hier untersuchten Gesellschaften ist daher zunächst grundlegend zu klären, ob sich aus deren Verträgen Anhaltspunkte über eine Gesellschafterversammlung oder ähnliche Institution ergeben, in deren Rahmen eine Beschlußfassung in Gesellschaftsangelegenheiten durch die Gesamtheit der Gesellschafter vorgenommen wurde. Einen gewissen Aufschluß bietet dabei ein von der Nürnberger Weiser-Gesellschaft gefertigtes Dokument. Es handelt sich um das vollständig erhaltene Register aller in der Gesellschafterversammlung zwischen 1529 und 1551 gefaßten Beschlüsse95. Wenngleich das 31 Blätter umfassende Verzeichnis im Verhältnis zum dadurch dokumentierten Zeitraum nicht eben umfangreich ist, so erlaubt es doch einen detaillierten und umfassenden Einblick in diejenigen Angelegenheiten, die von der Versammlung der Weiser-Gesellschafter entschieden wurden und ermöglicht dadurch Rückschlüsse auf die Kompetenzen dieses Gremiums auch in anderen Handelsgesellschaften. Zwar ergibt eine Durchsicht der Gesellschaftsverträge, daß eine "Haupt-" "General-" oder "Gesellschafter-" "Versammlung" als fester Terminus hierin noch nicht existiert. Zumindest war aber der Abschluß einer Rechnungsperiode derjenige Zeitpunkt, zu dem in der Regel ein vollzähliges Erscheinen entweder der Gesellschafter selbst oder wenigstens ihrer Bevollmächtigten96 vorgesehen war. Die Gesellschaftsverträge sprechen insofern - dabei mehr oder weniger mit der heutigen Terminologie übereinstimmend - von "raitum" ("Beratung")97 , "haup(b)t-", "general-" oder "ennt rechnung" 98, zumeist ist jedoch schlicht die Rede von der "rechnung"99. Daß die Rechnungslegung i.d.R. in Anwesenheit aller Gesellschafter erfolgen sollte, ergibt sich zum einen bereits aus den gesetzlichen Regelungen. Die Nürnberger Reformation von 1479/84 bestimmt im 10. Gesetz des 30. Titels: "Wie die geselschaffter sich mit gemeiner und ir yedes der geselschaffter rechnung verpinden die nach anzal der zeyt zethun, dem sollen sie also nachkomen" 100

Vgl. Vogel, S. 9. Abgedruckt bei Weiser, S. 23-60. % Vgl. hierzu den Passus im Tichtel-Ebner-Vertrag bei Lutz, Urkunden, S. 74, Rn. 79-81 . 97 So der Dürnstetter-Vertrag bei Möncke, S. 215. 9R s. folgende Verträge bei Lutz, Urkunden: Rietwieser-Pruner, S. 51, Rn. 81, 82; HaugLinck, S. 129, Rnn. 189, 214; Fugger vom 20. II. 1591 , S. 162, Rn. 480. w E.g. im Meutingvertrag, s. Lutz, a. a. 0., S. 2, Rn. 52. wo Köbler, XXX, I 0. 94

9S

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Die überarbeitete Fassung von 1564 enthielt dann eine Haftungsfreizeichnung dergestalt, daß die Anwesenden - vorbehaltlich eines wichtigen Grundes für das Nichterscheinen des Abwesenden - Schäden nicht zu ersetzen hatten, die durch dessen Fernbleiben entstanden waren. Im Ergebnis lief dies auf eine Ersatzpflicht des Abwesenden hinaus. Dem oben zitierten Passus ist die zusätzliche Formulierung angefügt: "Wo aber kein zeit der rechnung abgeredt oder bestimpt wäre, so sollen sie alle jar unverhindert rechter eehaft ain hauptrechnung thun und halten allerley irrung und weiterung zu verhüten. Und so an ir ainem ausserhalb eehafter ursach mange! erschine So sollen ime die andern der darnach zufallenden seheden halben rechnung und erstattung zuthon nit schuldig sein" 101 .

Entsprechende Formulierungen 102 enthält die Frankfurter Reformation von

1578. Obwohl die genannten Rechtsgrundsätze ihrem Wortlaut nach als Sollvorschriften ausgestaltet sind, dürfte die Sanktion des Nichterscheinens durch eine Schadensersatzpflicht faktisch auf die Normierung einer Teilnahmeverpflichtung der Gesellschafter hinausgelaufen sein. Trotz der subsidiären Geltung 103 der erwähnten Normen wurde zum anderen die Anwesenheit aller Gesellschafter bei der Rechnungslegung teilweise ausdrücklich vertraglich abbedungen 104 ; z. T. ergibt sich diese Forderung auch aus den Vertragsformulierungen, wenn etwa von "gemain(e)r" (=gemeinsamer) "gesellschaft rechnung"105 die Rede ist. Bezüglich der Dauer einer Rechnungsperiode ergibt sich aus den oben genannten Kodifikationen, daß sie grundsätzlich ein Jahr betragen sollte. Allerdings war auch diese Bestimmung dispositiv ausgestaltet, so daß sich die Gesellschaftsverträge hierzu recht uneinheitlich verhalten. Z. T. wurde der Zeitraum zwischen zwei Rechnungslegungen kürzer 106 gestaltet, als die gesetzliche Regelung es vorsah, teilweise aber auch verlängert 107 . Letztlich sind auch Vertragsklauseln anzutreffen, 101 Vgl. den Reformationstext bei Lutz, S. 302 (Fn. 237); bei Gesellschaften, deren Beteiligte aus weit voneinander entfernten Städten stammten. vereinbarte man z. T. die Übergabe der Rechnungsunterlagen an einem zentralen Ort, um mühselige (und gefährliche) Reisen zu vermeiden, vgl. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 214, S. 350. 102 Mit leichten Modifikationen bezüglich der Definition des Schadens; s. Frankfurter Reformation, S. 324 f. (V.); ebenso Lutz, S. 303 (Fn. 239). 103 Zum Verhältnis der Reformationsvorschriften und den vertraglichen Abreden eingehend Lutz, S. 156 ff., insbes. Fn. 608. 104 Vgl. etwa den Höchstetter-Vertrag bei Lutz, S. 41, Rn. 69-71. lOS Meuting-Vertrag, s. Lutz, Urkunden, S. 2, Rn. 51; Weißhaupt-Schreiber-Vertrag, ebenda, S. II, Rn. 75; Rietwieser-Pruner-Vertrag, a. a. 0., S. 50, Rn. 49. 106 Vgl. Dürnstetter-Vertrag v. 29. 9. 1360 bei Möncke, S. 215 (Zwei Abrechnungen p. a.). 107 Rietwieser-Pruner-Vertrag, vgl. Lutz, S. SI, Rn. 80; Imhoff-Vertrag, ebenda, S. 61, Rn. 47; Beheim-Scheurl-Vertrag, a. a. 0., S. 119, Rn. 107/108; Oesterreicher-Vertrag, a. a. 0., S. 142, Rn. 85. Die größte Abweichung enthält der Fugger-Vertrag, ebenda, S. 162, Rn. 479, in dem eine Rechnungsperiode von "5 oder 6 jar" vereinbart wurde.

3 Emmerich

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welche die Einberufung der Gesellschafter zur Rechnungslegung nach dem Dafürhalten der Gesellschafter 108 oder eine bestimmte Anzahl von Versammlungen innerhalb der Dauer des Vertragsverhältnisses 109 vorsahen. Auch die Institution der "außerordentlichen" Gesellschafterversammlung findet sich in einem Teil der Vertragstexte. So ist im Meutingvertrag 110 zusätzlich zu der zwei- bis dreijährigen Frist bestimmt, daß eine Abrechnung auch dann gehalten werden sollte, "wenne es gemain gesellschaft oder den merren tayl beduncket notdurft wesen." Voraussetzung war also stets ein einstimmiger bzw. ein Beschluß der Mehrheit der Gesellschafter. Die Möglichkeit zur Einberufung einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung durch eine Minderheit der Gesellschafter bestand nach diesen Bestimmungen nicht. Außerordentliche Versammlungen waren ferner vereinzelt bei einer kritischen Ertragslage der Gesellschaft vorgesehen: ,,Zum viertten wo sich auch Inn Zeit der Jar begebe, das dieser vnnser Hanndel zu aynem solliehen abfall käme das der Im Jar nit vber vier gulden auffs hundert ertragen wurde, oder vnns andere nuzlichere kewff fürfieln So sollen wir alle so lnn diesem Hanndel gellt haben, [ ... ] zusarnen komen vnnd deshalben, vnnsers versteens das pest vnnd getrewist ratschlagen vnnd hanndeln" 111 •

1. Die Rechnungslegung

Die Frage nach den Zuständigkeiten der Gesellschafterversammlung zeigt, daß sich die Beratungen schwerpunktmäßig mit den Vorgängen des Rechnungsabschlusses beschäftigten 112 . Detaillierte Vorschriften über das Verfahren im einzelnen -etwa über die Art der vorzulegenden Unterlagen (Geschäftsbücher, Quittungen, Schuldurkunden etc.)- finden sich aber nur sehr vereinzelt. Zu den Aufgaben der versammelten Gesellschafter im Rahmen der Rechnungslegung gehörte u. a. die Bewertung des Gesellschaftsvermögens, wie es im Höchstetter-Vertrag vom I. I. 1524 vorgesehen ist: "[ ... ] unnd also pruederliche unnd aufrechte rechnung zu machen doch die guetter anzuschlagen [ ... ]" 113 .

108 Höchstetter-Vertrag, s. Lutz, a. a. 0., S. 41, Rn. 74: "Ungefarliche allen dreie jar ein generall rechnung zu machen, wann es fug unnd statt haben mag". 109 Weißhaupt-Schreiber-Vertrag, s. Lutz, Urkunden, S. II, Rn. 74/75. 110 Lutz, Urkunden, S. 3, Rn. 60/61. 111 lichtei-Ebner-Vertrag, s. Lutz, Urkunden, S. 74, Rnn. 74-83. 112 Die - soweit ersichtlich - einzige Ausnahme ist die Gesellschaft zwischen Vater und Sohn Hans Bromrn aus dem Jahre 1502, wo die Ausfertigung einer Rechnung dem Handelsdiener und Haushofmeister Friederich Heyde übertragen wurde; s. den Vertragstext bei Kriegk, S. 446 ff. (448). 113 Lutz, Urkunden, S. 61; allgemeiner der lmhoffvertrag (26. 7. 1527): Berechnung von "einnemens und ausgebens", a. a. 0., S. 61, Rn. 49; s. auch Fuggervertrag (14. 9. 1532), a. a. 0., S. 96, Rn. 395-399.

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AusfUhrliehe Bestimmungen in dieser Hinsicht enthält der Rietwieser-Pruner-Vertrag (30. 12. 1525), der von den Gesellschaftern zur Abschlußrechnung einen umfassenden Rechenschaftsbericht verlangt ,,Nach besluß gemeiner rechung so! ainer dem anderen eierlieh anzeygen, wo unser gutt, schuldt und pfennbertt sein, nemlich am welchem ortt, in waß stadt, auch waß landt sie verbanden sein, auff das man erfaren mach waß frumen ader nutzs geschafft sie" 114. Aus dem angeführten Vertragspassus ergibt sich dabei, daß die Feststellung des Jahresabschlusses jedenfalls im Beschlußwege zu erfolgen hatte. Gegen Mißwirtschaft suchte man sich von Seiten der Gesellschaft durch eine mit Umsicht und Akribie geführte Organisation der Geschäftsstellen sowie eine sorgfaltige Auswahl der entsandten Personen abzusichern. Zu stützen ist dieser Befund auch durch das Beschlußregister der Nürnberger Weiser-Gesellschaft, in dem die Entscheidungen zu den Vorgängen in den geschäftlichen Zweigstellen den weitaus größten Raum einnehmen 115 •

2. Die Gewinn- und Verlustverteilung Zu den Aufgaben der versammelten Gesellschafter gehörte auch die Beschlußfassung über die Verteilung von Gewinn und Verlust 116• Als Verteilungsschlüssel war durchgehend das Verhältnis der Kapitalanteile maßgebend, was sich sowohl in den Gesellschaftsverträgen 117 als auch in den Bestimmungen der einzelnen Stadtrechsreformationen 118 ausdrücklich geregelt findet. Das römisch-rechtliche Prinzip der Gewinnverteilung nach Köpfen war weder in den Stadtrechtsreformationen noch in den Verträgen verankert 119. 3. Die Auseinandersetzung mit den Erben

Der Aufgabenbereich der Gesellschafterversammlung umfaßte weiterhin Beschlüsse zur rechnerischen Auseinandersetzung mit den Erben eines verstorbenen Lutz, Urkunden, S. 52, Rn. 85 - 89. s. hierzu auch unten 4. 116 Vgl. die Nachweise bei Lutz, S. 398. 117 Vgl. die entsprechenden Vertragsformulierungen bei Lutz, Urkunden: S. 3, Rn. 69 (Meuting-Vertrag v. 4. 10. 1436); S. 41, Rn. 79 (Höchstetter v. I. I. 1524); S. 62, Rn. 59-62 (lmhoff v. 26. 7. 1527); S. 74, Rn. 71 (Tichtel-Ebner v. 24. I. 1531); S. 119, Rn. 1121113 (Beheim-Scheurl v. I. 9. 1540); S. 143, Rn. 88 I 89 (Daniei-Oesterreicher-Steiner v. I. 12. 1590); Kohler, S. 5. 11s Hierzu Köhler, XXX, 2; vgl. ferner für die Frankfurter und Nürnberger Reformation von 1564 den Quellentext bei Lutz, S. 397 (Fn. 56). 119 Ebenso Honsell et al., S. 333 (§ 122), mit dem einschränkenden Hinweis, daß abweichende Vereinbarungen mit Rücksicht auf Höhe oder Wert der Beteiligung zulässig waren; s. ferner Lutz, S. 398. 114

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Gesellschafters. Erwähnenswert erscheint dabei, daß die Verträge der süddeutschen Handelsgesellschaften entgegen den Regelungen der Nümberger 120 und Frankfurter121 Reformation weitestgehend abweichende Vereinbarungen enthielten, welche die Fortsetzung der Gesellschaft auch nach dem Ableben eines Gesellschafters vorsahen122. Entgegen Lutz 123 kann dies nicht ohnen weiteres als Widerspruch zu römisch-rechtlichen Grundsätzen gewertet werden, denn eine im voraus getroffene Vereinbarung, daß die Gesellschaft unter den Überlebenden fortgesetzt wird, war auch nach römischem Recht zulässig 124 .

4. Die Geschäftsführungsbefugnisse Zu untersuchen ist letztlich auch, inwieweit zu den Aufgaben der Gesellschafterversammlung die Beschlußfassung in Angelegenheiten der Geschäftsführung gehörte. Unter "Geschäftsführung" wird heute die auf die Verfolgung des Gesellschaftszweckes gerichtete Tätigkeit der Gesellschafter in Form von rechtsgeschäftliehen oder tatsächlichen Handlungen verstanden 125 • In dieser Bedeutung war der Begriff zwar in der Rechtssprache der damaligen Zeit nicht bekannt 126, die Gesellschaftsverträge enthalten jedoch im Zusammenhang mit der Zuweisung von Rechten und Pflichten an die Gesellschafter Formulierungen, die im Ergebnis auf eine Verteilung der Geschäftsführungsangelegenheiten hinauslaufen, wie etwa "unnser gemain und gesellschaft hanndthierung" 127 , "gemayner geschellschafft zw gutt und zu nutz" oder "in handell unsserer gesellschafft betreffendt" 128 . Im folgenden soll dieser Terminus daher als Oberbegriff für die im Beschlußwege von der Gesellschafterversammlung getroffenen Unternehmerischen Entscheidungen im weiteren Sinne beibehalten werden 129 • Von 1479, vgl. Köbler, XXX, 4. Von 1578, 23. Titel,§ 14 (S. 327). 122 Vgl. nur Lutz, Urkunden, S. 5, Rn. 14-19; S. 15, Rn. 204-215; S. 24, Rn. 89-94; S. 41, Rn. 54-63; S. 50, Rn. 29-33; S. 83, Rn. 212-222; S. 97 ff.; S. 112, Rn. 263-273; S. 117, Rn. 35-43; S. 126 f.; Möncke, S. 215 (Fn. 5); diese Rechtslage entspricht der heute durch § 138 HGB eröffneten Gestaltungsmöglichkeil. m S. 414. 124 Honsell et al., S. 334, Fn. 25 (§ 122) m. w. N. 125 Vgl. Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, Rn. 28. 126 Er wird frühestens 1790 erstmals genannt, vgl. die Nachweise im deutschen Rechtswörterbuch, Sp. 425; sowie den Nachw. bei Lutz, S. 322 (Fn. 310). m Weißhaupt-Schreiber-Vertr., Lutz. Urkunden, S. 12. Rn. 103/104. m Koler-Kreß-Vertr., a. a. 0 ., S. 22, Rn. 43/44 und S. 23, Rn. 51. 129 Nach den obigen Ausführungen liegt auf der Hand, daß eine Unterscheidung zwischen Geschäftsführungs- und Vertretungsbefugnis in den Verträgen grundsätzlich nicht vorgenommen wurde, wobei mangels der Publizität dieser Vereinbarungen in einem Handels- oder ähnlichen Register deren Wirksamkeit ggü. Dritten ohnehin fraglich erschiene. Vgl. hierzu auch Lutz, S. 329 ff. 120

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Bei der Suche nach solchen Geschäftsführungsangelegenheiten, in denen die Gesellschafterversammlung durch Beschluß zu entscheiden hatte, zeigt sich, daß die Geschäftsführungsbefugnisse in den Gesellschaften in der Regel kollegial ausgestaltet waren, d. h. mehrere Gesellschafter sollten gemeinsam geschäftsführungsbefugt sein. De facto pflegte zwar die tatsächliche Leitung der Gesellschaft vom erfahrensten und tüchtigsten Gesellschafter übernommen zu werden und die formale Gleichstellung war in der Praxis oft nicht vorhanden 130 , dennoch geht die Mehrzahl der Vertragsgestaltungen bei den süddeutschen Handelsgesellschaften von einer gleichberechtigten Leitung des Handelsunternehmens durch alle Gesellschafter aus 131 . Allerdings durften Entscheidungen in wichtigen Angelegenheiten der Geschäftsführung auch in denjenigen Fällen, in denen jeder Gesellschafter allein entscheidungsbefugt war, z. T. nur vorbehaltlich der Zustimmung der oder des übrigen Gesellschafter(s) getroffen werden. Anschaulich formuliert diesbezüglich der Beheim-Scheuri-Vertrag (1. 9. 1540): "[ ... ] und al wichtig sach, daran gelegen ist, mitainander underreden, beratschlagen und beschliessen wollen, ( ... ]'' 132 .

Insgesamt ist festzuhalten, daß diejenigen Fälle, in denen eine Beschlußfassung in Geschäftsführungsangelegenheiten durch die Gesellschafterversammlung, d. h. im Wege gemeinsamer Beratung und Abstimmung erfolgt, jedenfalls nach den Gesellschaftsverträgen nicht die Regel darstellen. Originäre Zuständigkeiten dieses Gremiums finden sich nur wenige, etwa die Einberufung außerordentlicher Gesellschafterversammlungen 133 , die Anordnung von Handelsreisen der Gesellschafter134, sowie Entscheidungen in nicht näher zu differenzierenden "wichtigen Gesellschaftsangelegenheiten" 135 • Auch aus dem Beschlußregister der Nürnberger Weiser-Gesellschaft wird ersichtlich, daß grundsätzliche geschäftliche Entscheidungen nur selten Gegenstand der Beratungen der Gesellschafterversammlung waren 136• Denn der weitaus größte Teil der Beschlüsse befaßt sich mit der personellen Organisation der auswärtigen no Lutz, S. 350 f. Lutz, S. 347, s. nur die entsprechenden Vertragsklauseln im Urkundenband, S. 12, Rn. 97 -109; S. 44, Rn. 153 -164; S. 61, Rn. 28-40; S. 125, Rn. 65 -70; S. 131, Rn. 4954; S. 140, Rn. 15-23; s. auch den Fuggervertrag von 1494 bei Möncke, S. 381 [3]. 132 Lutz, a. a. 0., S. 118, Rn. 72/73. Weitere Beispiele finden sich bei Rietwieser-Pruner, a. a. 0., S. 51, Rn. 66- 72; vgl. auch den Irnhoff-Vertr., ebenda, S. 61, Rn. 28-32 ("sachen do vil angelegen ist"), ferner den Haug-Linck-Vertrag, a. a. 0., S. 125, Rn. 70-73. 133 Vgl. die Nachw. unter I. 134 Vgl. Lutz, Urkunden, S. 61, Rn. 29; S. 63, Rn. 113; S. 77, Rn. 49-52. m s.o. B. 4.; Lutz, a. a. 0., S. 118, Rn. 72/73. Weitere Beispiele finden sich bei Rietwieser-Pruner, a. a. 0., S. 51, Rn. 66-72; vgl. auch den Imhoff-Vertr., ebenda, S. 61, Rn. 28-32 ("sachen do vil angelegen ist"), ferner den Haug-Linck-Vertrag, a. a. 0., S. 125, Rn. 70-73. Hierzu könnten z. B. auch Änderungen des Gesellschaftsvertrages gehört haben (s. dazu unten 5.), oder eine Änderung des Namen der Gesellschaft, s. Weiser, S. 38. 136 So auch Weiser, S. 12. 131

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Niederlassungen 137 • Daneben wurde - allerdings weit weniger häufig - über Inhalt und Umfang von finanziellen Transaktionen der Gesellschaft (Beteiligungen, Investitionen etc.) entschieden. In den übrigen Fällen, in denen jeder Gesellschafter gleichberechtigterweise oder einer von ihnen alleine geschäftsführungsbefugt war, liegt keine echte Entscheidungsbefugnis der Gesellschafterversammlung vor.

5. Änderungen des Gesellschaftsvertrages Obwohl die Gesellschaftsverträge in keinem Fall Auskunft darüber geben, besteht zumindest Anlaß für die Vermutung, daß die Gesellschafterversammlung auch über Abänderungen des Gesellschaftsvertrages zu beschließen hatte. Angesichts der Tatsache, daß die Verträge der hier in Rede stehenden Handelsgesellschaften von allen Beteiligten unterzeichnet wurden, erschien das Recht eben dieser Personen, den Vertrag nötigenfalls auch ändern zu dürfen, möglicherweise so selbstverständlich, daß sich eine ausdrückliche vertragliche Regelung dieser Frage erübrigte. Allein im Beschlußverzeichnis der Nürnberger Weiser-Gesellschaft findet sich folgender Eintrag: "bey der Jenerall Rechnong soll achtt gehaptt werden auff den 13 artyckell vonn dess Ietztten nuy gemachtten artyckell. Es soll auch auff den 18 artyckell gesechen werden. Derr letztt artyckell Jst derr 25. soll auf Kynftyge Rechnong auch gedacht! vnnd nach gelegenhaytt gebesert werden" 138

Die ordnungsgemäße Durchführung des Beschlusses findet sich in einem später eingefügten Zusatz bestätigt: ,,Dyss 3 artyckell sennd besychtygtt vnd fynden sych Recht [ ... ]" 139.

Daß eine entsprechende Vorgehensweise auch in anderen Gesellschaften zur Tagesordnung gehörte, liegt nahe, kann aber jedenfalls anband der hier zur Verfügung stehenden Verträge nicht eindeutig nachgewiesen werden.

137 Weiser, S. 13 f. Vgl. etwa das Beschlußregister, S. 30: ,,Augspurg. Iorg Koeler bleybt wie vorr buchalter. Mathys Remen soen anemen/ Jn Jn eyn Jar versuchen/vnd so er dienn geschykt Jst Mag Mann sych weyter myt Jm vergleychenn vnd Jn wa nuzt vnsers handls forter brauchen." 138 Vgl. Weiser, S. 25. 139 Vgl. Weiser, S. 26.

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II. Das Beschlußfassungsverfahren, insbesondere die Geltung des Mehrheitsprinzips

Für die vorliegende Untersuchung ist die Frage nach dem Verfahren der Beschlußfassung als eigentlichem "Kern" des Willensbildungsprozesses in den Gesellschaften von vorrangiger Bedeutung. Besonderes Augenmerk muß dabei zum einen der Frage nach Existenz und Verteilung des Stimmrechtes in der Gesellschafterversammlung geschenkt werden. Denn das Stimmrecht gewährt jedem Gesellschafter die Möglichkeit, in Gesellschaftsangelegenheiten unmittelbaren Einfluß auszuüben 140 und dient damit der gesetz- und vertragsmäßigen Verwaltung des Gesellschaftsvermögens auf positive Weise. Will man aus der Mitgliedschaft ferner ein dahingehendes Recht des einzelnen Gesellschafters herleiten, so dienen Kontrollrechte -gleichsam als dessen Kehrseite -der Sicherung dieses mitgliedschaftliehen Anspruches auf negative Weise. Zwischen Stimm- und Beschlußkontrollrecht besteht insofern ein funktionaler Zusammenhang 141 • Zum anderen ist die Geltung des Prinzips der Mehrheitsentscheidung in den süddeutschen Handelsgesellschaften näher zu erörtern. Insbesondere ergibt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach den Rechten überstimmter, d. h. Minderheitsgesellschafter, denn hierdurch wird die Feststellung ermöglicht, ob und inwieweit möglicherweise der Gedanke eines effizienten Schutzes dieser Minderheit vor einem Machtmißbrauch durch die Gesellschaftermehrheit - der bei der späteren Kodifikation von Minderheitenrechten im Aktiengesetz von 1884 eine vorrangige Motivation des Gesetzgebers war 142 - bereits in den Verträgen der hier untersuchten Gesellschaften eine Rolle spielte und sich insofern eine Kontinuität oder Parallelen nachweisen lassen. Letztlich wäre ohnehin die Einrichtung von Beschlußkontrollrechten des Einzelnen dort entbehrlich, wo die Beschlußfassung nach dem Prinzip der Einstimmigkeit erfolgt. Bezüglich der Verteilung des Stimmrechts ist der bereits von Lutz 143 getroffenen Feststellung beizupflichten, daß eine ausdrückliche Zuweisung eines Stimmrechts an die Gesellschafter nur in einem Fall erfolgt. Der Imhoff-Vertrag vom 26. 7. 1524 enthält dazu folgende Abrede: "Ittem erstlieh das wir obgenant all geshelschaffter sein und stim haben" 144.

Allerdings findet das Stimmrecht der Gesellschafter auch in anderen Verträgen zumindest im Kontext Erwähnung 145 , so daß folglich angenommen werden kann,

Zutr. Vogel, S. 35. Alexander, S. 37; Markou, S. 90. 142 Vgl. Alexander, S. 57, 182; i. E. Fischer, NJW 1954,777 (779); Hueck, FS-RG, S. 167 (182), Markou, S. 97. 143 S. 357. 140 141

144 Lutz, Urkunden, S. 60, Rn. 13/14; vgl. auch die übrigen Vertragspassagen ebenda, Rnn. 32, 130.

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daß man allgemein von einem Stimmrecht der Hauptgesellschafter 146 ausging. U. a. findet sich dies auch in den Vertragsvereinbarungen bezüglich der Beschlußfassung bei der Rechnungslegung bestätigt. Kein Stimmrecht besaßen dagegen diejenigen Gesellschaftsmitglieder, die lediglich mit einem Kapitalanteil auf Gewinn und Verlust beteiligt waren und denen daher der Status eines Hauptgesellschafters nicht zukam 147• Im Ergebnis sind daher mit den vorgenannten Hauptgesellschaftern und den Teilhabern zwei Arten von Gesellschaftern zu unterscheiden 148• Ohne daß sich dies anhand der Gesellschaftsverträge im einzelnen belegen ließe, kann davon ausgegangen werden, daß die Verteilung der Stimmen pro Kopf vorgenommen wurde. Ein nach Anteilen bemessenes Stimmrecht kommt schon deshalb nicht infrage, da die Gesellschaften nicht von einem in verhältnismäßige Anteile aufzuteilenden Gesellschaftsvermögen ausgingen. Dies wird vor allem aus dem oben angesprochenen Verfahren der Gewinn- und Verlustverteilung deutlich, bei dem die absolute Summe des konkret eingelegten Anteils maßgeblich war, ohne daß dessen betragsmäßiger Wert zur Gesamtsumme der Einlagen in Relation gesetzt wurde 149 • Unsicher ist, ob die Ausübung des Stimmrechts durch Bevollmächtigte zulässig war. Hierzu findet sich zwar folgende Aussage im Tichtei-Ebner-Vertrag (24. I. 1531): "[ ... ) So sollen wir alle, so Inn diesem Hanndel gellt haben, Inn aigner person, Oder aber so ayner oder mer aus ynds durch ehafft not verhynndert wurd, durch seinen volmechtigen Anwald zusamen komen [ . .. ]" 150,

es handelt sich hierbei jedoch um die einzige Klausel dieser Art. Verläßliche Aussagen in dieser Hinsicht sind folglich nicht möglich 151 • Teilnahme- und stimmberechtigt in der Gesellschafterversammlung waren also zunächst nur die Hauptgesellschafter, d. h. gewöhnlich die Unterzeichner des Gesellschaftsvertrages. Seltener erreichten andere Personen - zumeist enge Verwand145 Vgl. die entsprechenden Formulierungen bei Lutz, Urkunden, S. 3, Rn. 61; S. 41, Rn. 77. 146 Zu diesem Begriff ausführlich Lutz, S. 242 ff. 147 Mehrere Untersuchungen haben zu Recht die Frage verneint, ob es sich bei dieser Form der Gesellschaftszugehörigkeit um eine Unterbeteiligung handelt, vgl. insbesondere Schimke, S. 47 ff.; ferner Lutz, S. 260 f., 265; Bauer, Unternehmung, S. 159. Auch die Einordnung als "stille Gesellschafter" stößt angesichts der Beteiligung auf Gewinn und Verlust zumindest auf Bedenken. 148 Vgl. Bauer. Unternehmung, S. 66, Lutz, S. 242 f.; Schimke, S. 47. 149 Vgl. Lutz, S. 352. 150 Lutz, Urkunden, S. 74, Rn. 78-81. 151 Wohl zu weitgehend sind daher die von Lutz, S. 363 gezogenen Schlüsse; unklar ist auch, warum zwischen den übrigen Gesellschaften und derjenigen von Tichtel-Ebner unterschieden werden soll, da auch letztgenannte eine reine Handelsgesellschaft war.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 41

te der Hauptgesellschafter - die Aufnahme als Gesellschafter und damit em Stimmrecht in der Gesellschafterversammlung 152 • Aussagekräftige Feststellungen über die Handhabung des Stimmrechts bei der Entscheidung unternehmenscher Fragen in der Gesellschafterversammlung können anband der Gesellschaftsverträge nur in eingeschränktem Umfang getroffen werden. Insbesondere ist keine einheitliche Linie in bezug auf die Mehrheitsverhältnisse festzustellen, die für die Beschlußfassung entscheidend waren. Allerdings erübrigt sich diese Frage ohnehin in denjenigen Fällen, in denen nur zwei Gesellschafter beteiligt sind, oder in denen eine Entscheidungsbefugnis jedes einzelnen Gesellschafters in Gesellschaftsangelegenheiten vorgesehen ist. Ausdrückliche Vereinbarungen über Mehrheitserfordernisse im Beschlußfassungsverfahren sind in nur wenigen Gesellschaftsverträgen enthalten. Dabei wird in der Regel von den "merre(re)n der Gesellschafter" oder "des merers tails aus vnns" gesprochen. Der Tichtel-Ebner-Vertrag (24. 1. 1531) sieht z. B. in Geschäftsführungsangelegenheiten grundsätzlich eine Mehrheitsentscheidung vor: .,Vnnd was alsdann vnnd sunst allwegs lnn des Hanndels Sachen vnnd notdorfft lnn Zeit der dreyer Jar der merer tail aus vnns beschliessen, dabey sollen die andern zu pleyben auch verpunden sein" 153 .

Entsprechend sollte in derselben Gesellschaft bei der Gewinn- und Verlustverteilung verfahren werden: ,,Zum anndern sollen wir [ ... ] dieser vnnser Gesellschafft vnnd Hanndlung ain lautere Rechnung thun vnnd halten, vnnd [ ... ] nach dieser Rechnung aynem yeden sein angepuerende gewynnung, [ . . . ] entrichten. Wo sich aber, das Gott genediglich verhueten woll, schaden erfunnde, So soll es nach rate vnnd gutbeduncken des merers tails aus vnns geendert vnnd gepessert werden" 154

Im übrigen wurden vor allem Beschlüsse zu Unternehmerischen Fragen einer Entscheidung der Gesellschaftermehrheit überantwortet. Beispielsweise gehörte hierzu im Meuting-Vertrag (4. 10. 1436) die Einberufung einer außerordentlichen Versammlung der Gesellschafter:

.,[ .. . ] so sullen allwegen in zwey oder dry jaren rechnung beschehen oder wenne es gemain gesellschafft oder den merren tayl beduncket notdurft wesen und mit iren stymmen erkennet daz es fuglich sey ( ... ]" 155 .

Nach den Bestimmungen des Imhoff-Vertrages vom 26. 7. 1527 sollten ferner neben den Terminen der Rechnungslegung und wichtigen Gesellschaftsangelegenheiten die Handelsreisen der Vertragspartner mehrheitlich beschlossen werden:

152 153

154 155

Zu den damit verbundenen Schwierigkeiten Lutz, S. 359 f. Lutz, Urkunden, S. 74, Rn. 83-86. A.a. 0., S. 73, Rn. 35-38. Vgl. den Meuting-Venrag bei Lutz, Urkunden, S. 2 f., Rn. 59-62.

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I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861 .,IItern was für die geschelschafft notorfft eraischt es sey mit ausschiecken, rechnung für zu nemen, oder anderen treffenliehen sachen do vil angelegen ist, soll albegen geschechen durch die merreren alhie und zu Augspurg die in der geschelschafft stim haben, [ .. . ]" 156.

Es zeigt sich also, daß nur in insgesamt drei der hier untersuchten Gesellschaften in den verschiedensten Angelegenheiten die Geltung des Mehrheitsprinzips ausdrücklich vereinbart wurde. Lutz 157 will daraus ohne nähere Verweise auf die Vertragsbestimmungen im Gegenschluß ableiten, daß man für gewöhnlich vom Grundsatz der Einstimmigkeit ausging. Eine ersichtliche Stütze findet diese Auffassung allerdings nur im Haug-Linck-Vertrag, wo zur Anordnung einer Handelsreise ausdrücklich ein einstimmiger Beschluß der Gesellschafter vorgesehen ist: .,unnd weß von unnß ainhölligklich erkent unnd für genomen wyrtt ainig raiß zu thon, [ ... ] solle durch unnß [ ... ] geschehen" 158 .

Der ähnlich lautende Passus 159 im Fugger-Vertrag vom 20. 2. 1614 ist ausdrücklich auf die Zeit vor der Unterzeichnung des Gesellschaftsvertrages beschränkt 160 und kann daher nicht zur Beurteilung des Beschlußfassungsverfahrens im übrigen herangezogen werden. Allerdings läßt sich auch aus den übrigen Verträgen, wo diesbezügliche Absprachen fehlen, im Wege der Auslegung derjenigen Vertragsklauseln, die das Verfahren der Beschlußfassung regeln, nichts Gegenteiliges ermitteln. Vielmehr deuten die u. a. im Zusammenhang mit der Rechnungslegung häufig verwendeten Formulierungen in den Verträgen ("besluß gemeiner [=gemeinsamer, Anm. d. Verf.] rechnung" 161 ) darauf hin, daß nicht nur von einer bloßen Anwesenheit aller Gesellschafter ausgegangen wurde, sondern auch davon, daß das Rechnungsergebnis mit den Stimmen aller Beteiligten gebilligt würde. Dafür spricht auch die z. T. namentliche Nennung der an der Abrechnung Beteiligten: ,Jtm so söllenn unnd wöllenn wyr [ ... ] ain volkomen general rechnung thunn zu beschluss der selbenn [ ... ] allain durch unnß Haugen Lynncken Langnawer beschlossen werden [ ... ]" 162.

156 Lutz, Urkunden, S. 61, Rn. 28-32, S. 63, Rn. 113-115, vgl. ferner die übrigen Gesellschaftsangelegenheiten, in denen eine Mehrheitsentscheidung vorgesehen war: a. a. 0., S. 60, Rn. 15-23 (Öffnung des ansonsten versiegelten Geheimbuches der Gesellschaft); S. 64, Rn. 122- 132 (Zuwendungen aus dem Gesellschaftsvermögen an vielreisende Gesellschafter); S. 66, Rn. 187-192 (Kostenverteilung bei zu hohen Spesen); S. 68, Rn. 251-253 (Ausnahmen vom Wettbewerbsverbot).

157

S. 365.

158

161

Lutz, Urkunden, S. 77, Rn. 48-52. Lutz, ebenda, S. 173, Rn. 48. Vgl. dort Rn. 42 f. Lutz, a. a. 0., S. 52, Rn. 94.

162

Lutz, ebenda, S. 82, Rn. 198-202.

159 160

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Letztlich bieten auch die in vielen Verträgen enthaltenen Zustimmungsvorbehalte bzw. Befugnisbeschränkungen Anhaltspunkte dafür, daß eine Beschlußfassung nach dem Willen der Gesellschafter in der Regel einstimmig erfolgen sollte. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn vorgesehen ist, daß einzelne Gesellschaftsmitglieder nicht allein "beschlußfähig" sein sollen. Dahingehende Anordnungen trifft z. B. der Haug-Linck-Vertrag: "Doch soll hierinnen khain wichtige handJung [ .. . ] onne vorwisen und willen des anderen nicht beschlossen noch zugesagt werden ( ... )" 163 .

Insgesamt zeigt die Auslegung der Gesellschaftsverträge damit, daß man in der Mehrzahl der süddeutschen Handelsgesellschaften von einer einstimmigen Beschlußfassung ausging, wie dies auch im heutigen Recht durch § 119 HGB geregelt ist. Soweit hiervon abweichend eine mehrheitliche Beschlußfassung vorgesehen war, fallt auf, daß dies nur bei denjenigen Gesellschaften der Fall ist, an denen 6 oder mehr Gesellschafter beteiligt waren 164 . Hierin dürfte gleichzeitig ein möglicher Erklärungsansatz zu finden sein, denn die heute gültige Erkenntnis, daß eine allzu strikte Handhabung des Prinzips der Einstimmigkeit in Personenverbänden zu einem zunehmend unflexibleren und langsameren Prozeß der Entscheidungstindung führt, je mehr Personen hieran beteiligt sind 165 , erscheintangesichtsder ähnlichen Organisationsstrukturen durchaus auf die damaligen Gesellschaften übertragbar. Dies mußte um so mehr in denjenigen Gesellschaften gelten, in denen die Gesellschafter aus verschiedenen, möglicherweise weit entfernten Städten kamen oder dort eine ständige Niederlassung unterhielten. Starre Zustimmungsvorbehalte oder weitgehende Kompetenzbeschränkungen hätten hier unweigerlich zu Nachteilen und Behinderungen im Handelsverkehr und damit zu einer Beeinträchtigung der Unternehmensfunktionen insgesamt geführt. Die Vereinbarung von Mehrheitsentscheidungen dürfte daher in erster Linie aus Gründen der Praktikabilität und Wirtschaftlichkeit vorgenommen worden sein. Angesichts der Gesellschaftsstruktur insgesamt, besonders der im übrigen starken Betonung personaler Elemente, kann allerdings nicht von der Entwicklung oder gar Geltung eines Prinzips der Mehrheitsentscheidung gesprochen werden. Die Gesellschafterversammlung in Fonn der regelmäßigen gemeinsamen Rechnungslegung zwischen allen beteiligten Gesellschaftern ist nach alledem in den hier untersuchten Handelsgesellschaften Kennzeichen einer planmäßigen Wirtschaftsführung der Gesellschaft vor allem durch eine in ihrem Rahmen vorgenommene periodische Überprüfung des Wirtschaftsergebnisses, der Bewertung des Ge163 Lutz, Urkunden, S. 125, Rn. 70-73, vgl. auch die entsprechenden Direktiven im Beheim-Scheurl-Vertag, a. a. 0., S. 118, Rn. 74-76; Oesterreicher-Staininger-Vertrag, a. a. 0., S. 143, Rn. 99-104; i. E. auch Manlich-Vertrag, ebenda, S. 135, Rn. 140- 142. 164 Zum Einfluß der Gesellschafteranzahl auf die unterschiedlichen Vertagsgestaltungen auch Lutz, S. 244. 165 So zu Recht Heid, S. 106; vgl. auch Flume, Personengesellschaft, § 14 I; Schneider, ZGR 1972, 358 (360), Fischer, ZGR 1979,251 (262).

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Seilschaftsvermögens und der Gewinn- und Verlustverteilung. Die von Bauer in diesem Zusammenhang zur Hauptversammlung der AG gezogene Parallele erscheint m. E. allerdings recht zweifelhaft 166 . Als notwendiges Instrument für die Realisierung von Kompetenzen, die den versammelten Gesellschaftern zugewiesen waren, entwickelte sich das Stimmrecht. Nur mit größeren Einschränkungen kann der These Bauers zugestimmt werden, als Riebtnorm für dessen Handhabung gelte das Prinzip der Mehrheitsentscheidung167. Die Anhaltspunkte, die für eine derart weitgehende Verselbständigung dieses an sich für körperschaftlich organisierte Personenverbände typischen Institutes sprechen, sind zu vereinzelt und rechtfertigen sich - wie gezeigt - eher aus Gesichtspunkten der Praktikabilität als aus einer Annäherung der Gesellschaftsform und -Organisation an die Rechtsfigur der juristischen Person. Zu weitgehend wäre es daher auch, angesichts der umfangreichen Kompetenzen der Gesellschafterversammlung bereits auf die Bildung eines Gesellschaftsorgans schließen zu wollen 168, denn es fehlt eindeutig an der hierfür notwendigen Verselbständigung der Gesellschaft gegenüber ihren Mitgliedern: Die bei der Hauptrechnungslegung anwesenden Personen waren die Gesellschaft 169. Verdeutlicht wird diese fehlende Trennung auch daran, daß sich in der Gesellschafterversammlung die mitgliedschaftliehen Rechte der Beteiligten nicht - wie heutzutage der gesetzlichen Regel zufolge in Kapitalgesellschaften üblich - auf die Mitwirkung bei der Willensbildung beschränken, sondern sich auch auf die Geschäftsführung erstrekken, die in den Kapitalgesellschaften durch eigenständige Organe ausgeübt wird.

01. Die Möglichkeiten und das Verfahren der Beschlußkontrolle in den Gesellschaften

1. Die materiellen Grundlagen

Ein grundsätzlich statuiertes Recht des einzelnen Gesellschafters, die gesellschaftsinterne Entscheidungsfindung einer - notfalls gerichtlichen - Inhaltskontrolle unterziehen zu lassen, findet weder in den Bestimmungen der Nürnberger Reformation von 1479/84 noch in denjenigen der entsprechenden Frankfurter Kodifikation von 1578 eine gesetzliche Ausformung. Lediglich das letztgenannte Regelungswerk sieht für den Fall, daß den Erben eines verstorbenen Gesellschafters die (ausnahmsweise mögliche) Nachfolge in die Gesellschafterposition aus wichtigen Gründen verwehrt wird, eine Überprüfung derselben durch "der Scheffen Rath" vor, also i.d.R. durch ein mit Schöffenkollegien besetztes Stadtgericht oder 166

Unternehmung, S. 73. Kritisch hierzu auch Lutz, S. 363.

167 Bauer, a. a. 0., S. 74. 168 So Bauer, ebenda, S. 73. 169 Vgl. Lutz, S. 364.

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einen Schöffenstuhl 170, zu deren Kompetenzen schwerpunktmäßig Entscheidungen in Familien- und Erbschaftssachen gehörten 171 • Die Suche in den Gesellschaftsverträgen nach Anhaltspunkten für Kontrollrechte, mittels derer die Beschlußfassung in den Gesellschaften überprüft werden konnte, zeigt jedoch, daß der Terminus der "Anfechtung" in der Rechtssprache bereits durchaus geläufig war. In den Gesellschaftsverträgen finden sich hierzu Begriffe wie "widerred(e)" 172, "einredt" 173 oder allgemeiner gehaltene Formulierungen wie "rechtliche behelft" 174 bzw. die Vereinbarung, daß Beschlüsse "nit angefachten"175 werden sollten. Daneben ergeben sich z. T. aus den Verträgen für die Gesellschafter andere Rechte, die, ohne im obigen Sinn näher bezeichnet zu werden, eine Gelegenheit zur internen Einflußnahme auf das Verfahren der Beschlußfassung bzw. deren Kontrolle bereits im Vorfeld eröffneten. Hierzu gehört etwa die Möglichkeit, von den geschäftsführenden Gesellschaftern auch außerhalb der periodischen Abrechnung einen ausführlichen Rechenschaftsbericht zu verlangen 176. Bemerkenswert weitgehend sind in dieser Beziehung die Bestimmungen im Vertrag der Imhoff-Gesellschaft, wo zwei Personen zur Kontrolle der jeweiligen Abrechnung bestimmt werden. Auf der Grundlage ihres Berichtes sollte dann im Falle von Unregelmäßigkeiten für jeden Gesellschafter ein Recht zur Beanstandung des Rechnungsergebnisses bestehen: "Ittem so sollen alle mol zu den rechnungen zwin verordent werden die mit einander alle rechnung von wanen die kumen mit fleis uber sehen, und ein auszug der zerung und unkost darvon machen, nochmols die rechnung sampt dem auszug allen [ . . . ] zu schiecken, siech darinnen zu ersehen, und woe geferlichkait und ubermessige zerung oder ander unkost gefunden wurdt, so! ein jtlicher geschelschaffter schuldig sein, das selbig muntlieh oder schrifftlich gegen den andern zu andten und zu ermanen, [ ... ]" 177•

Im Zusammenhang mit der Statuierung von Kontrollrechten im o.g. Sinne fallt besonders ins Auge, daß im weitaus überwiegenden Teil des hier untersuchten Urkundenmaterials der Begriff der Anfechtung in Form der oben genannten Terminologie ausschließlich im Zusammenhang mit den Beschlüssen zur Rechnungslegung oder Erbauseinandersetzung verwendet wird. Dies bestätigt zunächst den - aller170 Vgl. hierzu Conrad, Rechtsgeschichte, Bd. I, S. 382 f.; Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 155. 171 Vgl. die Bestimmungen der Frankfurter Reformation, I. Titel,§ 5-23 (S. 3 f.). 172 Lutz, Urkunden, S. 3, Rn. 71; s. a. S. 43, Rn. 114; S. 73, Rn. 51; S. 83, Rn. 211. 173 A.a. 0., S. 35, Rn. 185/186, S. 63, Rn. I 02. 174 A.a. 0 ., S. 53, Rn. 124. 175 Ebenda, S. 46, Rn. 210. 176 Wie im Weißhaupt-Schreiber-, Haug-Linck- und Manlich-Vertrag vereinbart, s. Lutz, Urkunden, S. 12, Rn. I09- 113 sowie S. 125, Rn. 79-85 und S. 133, Rn. 55-58. 177 s. Lutz, Urkunden, S. 65 f., Rn. 176-185.

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dings naheliegenden - Schluß, daß es sich bei diesen Angelegenheiten um eine besonders regelungsbedürftige (weil streitträchtige) Materie in den Gesellschaften handelte. Zu belegen ist dies in der Tat anhand zeitgenössischer Quellen, von denen eine besonders einprägsam formuliert: "Anno 1519 da was die Stadt hie unter den Burgern und Kaufkutten in grossem Aufnehmen und grossem Reichtumb, als kein Stadt in hochen teutschen Landen was. Es waren viel reicher Burger, die Kaufleut waren. Die betten gross gesellschatten mit ainander und waren reich. Aber etlich waren unter ainander untreu, sie beschissen! ainander umb vil tausend guldin. Darumb so wurden die Öhresten in den gesellschaften, die die rechnong machten fast reich, weder die andern, die nicht bei der rechnung waren. Die also reich wurden, die hiess man geschicktleut. Man sagt nit, daz sy so gross dieb wären. Und wan sy sich zusamen verbunden in ain gesellschaft, so machten sy verschreibung. Wann die Öbresten, die gesellschafter waren, rechnung machten, da sollen sich die diener und die andren, den Ir gelt auch zuo gwin und verlust lag, an sollieber rechnung lassen beniegen und solten Iren schlechten worten darumb gelauben. [ ... ] Es machten zu zeiten die geselschafter etlich aus ainer geselschaft rechnung mit ainander, dz sy nicht all bey ainander waren, die dann auch darbey sollten gewesen seyn, laut Irer Verschreibung. So betten es, die nicht darbey waren, grossen nachtail, als man sagt 3 in 4 in 5 Tausend Gulden. Wollten sy dan mit Friden seyn, so muosten sy nemen, was man Inen gab; dann die andren betten das Ire in handen" 178. In größerem Umfang überliefert sind auch die Aufzeichnungen der Augsburger Kaufleute Lucas und Bartholomäus Rem, die als Kapitaleinleger mit einigen der größeren Handelsgesellschaften dieser Zeit Streitigkeiten wegen angeblich unlauterer Abrechnungsmethoden hatten. Die Konflikte entstanden dabei hauptsächlich aus unterschiedlichen Ansichten über die Bewertung des Gesellschaftsvermögens und die daraus entstehenden Abweichungen bei der Gewinn- und Verlustverteilung. Lucas Rem beklagt sich in einer Tagebuchnotiz über ein derartiges Vorgehen der Weisergesellschaft ,,Erfand, daz Antonio Weiser und geselschaft Ir Generalrechnong 8 tag darvor beschlossen, tag, fi1 von der nacht gesessen, onmas fast geeilt betten, untriulich, gefarlich und unerber, al dingring angeschlagen, um dz Sial gelt mit I I 3 abkünden [ ... ]" 179 . Um ständige Streitereien in Abrechnungsangelegenheiten zu vermeiden, mußte hiernach ein besonderes Interesse der Hauptgesellschafter vor allem daran bestehen, die jeweiligen Beschlüsse gegen eine etwaige - gerichtliche wie außergerichtliche - Inhaltskontrolle abzusichern. Dies liefert auch eine Erklärung für die Tatsache, daß dahingehende Rechte der Gesellschafter stets lediglich als Negativformulierung wie der oben angeführten 180, d. h. als Ausschluß der "Anfechtbar-

I7H Ain Chronica Newer Geschichten, anfachend Anno Domini 1512- 1526; auszugsweise abgedruckt bei Greiff, S. 99 f. t79 Greiff, S. 18 f. ISO Vgl. Fn. 153.

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keit" bzw. Vereinbarung einer Gehorsamsverpflichtung gegenüber der Mehrheit 181 erwähnt wird. Stellvenretend für die meisten Gesellschaftsverträge seien hier die Vertragsvereinbarungen der Imhoff-Gesellschaft genannt: "[ ... ] und so einer oder mer der nicht alhie sonder von der geschelschafft wegen oder seinen geschefften formunt oder erben abgestorben eines geschelschaffter und zu solcher rechnungen geforden wurd und nit kumen wolt, nichtz dester minder mochten die andern solche rechnungen darnoch thun und zu end pringen, und was siech also in rechnungen erfinden wurd es wer gewin, oder do got vor sein woll verlust, das soll einem jtlichen [ ... ] Zu oder abgeschrieben werden, und was also einem jtlichen zu oder abgeschrieben wurd dar an soll ein jtlicher fur siech auch sein erben und nochkumen ein ganz entlieh benungen an alle widerredt haben, [ ... ]" 182•

Nach dieser Formulierung bestand folglich ein explizit vertraglich vereinbartes Verbot der Überprüfung von Beschlüssen der Gesellschaft. Darüber hinaus sollte der Feststellungsbeschluß zur Rechnungslegung nach dem oben zitierten Vertrag nicht nur für die anwesenden, sondern auch für diejenigen Gesellschafter Bindungswirkung entfalten, die wegen Abwesenheit ihre Stimme nicht abgeben konnten. Die Verzichtserklärungen wurden z. T. durch die Vereinbarung einer Vertragsstrafe abgesichert, welche den Versuch einer klageweisen Durchsetzung von Gewinnansprüchen durch hohe Geldstrafen sanktionierte 183 . Weitergehend erstreckt sich die Wirkung der Beschlußfassung nach dem oben zitierten Passus nicht nur auf die Gesellschafter selbst, sondern mit der Vertragsunterzeichnung auch auf dessen Erben 184• Hieraus wird ein weiteres Grundcharakteristikum der Möglichkeiten einer Überprüfung von Gesellschafterbeschlüssen ersichtlich: Die schwache Stellung der Erben gegenüber den Gesellschafterentscheidungen. Verzichtsklauseln wie die oben genannte wurden in die Gesellschaftsverträge nicht nur im Zusammenhang mit den Beschlüssen zur Jahresrechnung eingefügt, sondern finden sich vor allem in denjenigen Gesellschaften, in deren Verträgen keine Nachfolgeklausel enthalten war, d. h. eine Fortsetzung der Gesellschaft mit den Erben nicht automatisch stattfinden sollte 185 • In diesem Fall war in den Gesellschaften eine Abrechnung vorgesehen, durch die der Anteil der Erben am Gesell-

181 Entgegen Lutz, der in diesem Zusammenhang von "weniger eindeutigen Bestimmungen" spricht (S. 350). 182 Lutz, Urkunden, S. 61 f., Rn. 53-65; identisch oder ähnlich auch die Verträge a. a. 0., S. 2, Rn. 52-57 (Meuting); S. 42, Rn. II 0- 116 (Höchstetter); S. 53, Rn. 117- 125 (Rietwieser-Pruner) S. 73, Rn. 43-52 (Tichtei-Ebner); S. 89, Rn. 177-182 (Fugger). 183 Vgl. die Bestimmungen im Sta1burg-Bromm-Vertrag bei Kriegk, S. 438. 184 Ähnlich der Meuting-Vertrag, Lutz, a. a. 0., S. 2, Rn. 52-57; S. 35, Rn. 182-188 (Grander-Rehlinger-Hano1t); S. 45, Rn. 190-195 (Höchstetter). 185 Was nach dem oben B. I. 3.) Gesagten die Regel darstellte.

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schaftsvermögen ermittelt und auf der Grundlage des hierzu ergehenden Beschlusses ausgezahlt werden sollte 186• Dieser Rechnungsbeschluß erlangte in allen Gesellschaften gegenüber den Erben unabänderliche Bestandskraft Dabei war den Erben zum einen versagt, von der Gesellschaft eine erneute Rechnung zu verlangen: "[ ... ] was sie ine [ . . . ] für hauptguet Gewyn und verlust geben Das sollen sie [ . .. ] an nehmen und zu kainer verrer rechnung noch unterrichtigung solieher hanndtirung und geselschaft halben dringen [ ... ]" 187•

Zum anderen wurde z. T. zusätzlich auch die Möglichkeit ausgeschlossen, gegen das Rechnungsergebnis Widerspruch einzulegen oder die Gerichte in Anspruch zu nehmen: "Wär auch ob ainer von tod abgienge [ ... ] waz denne wir gemainlich oder unser der merer Tayle under uns darum mit unsern stimmen erkennen und zeraut werden nach gelegenhait der sach waz man ains abgegangen erben zu seinem tayl nach rechter rechnung an heptgut an gewinnung an verlust an kauffmanschafft an schulden oder in ander wege erkennet zegeben git oder zufuget, daran sullen si one widerred benugig sein und da wider nicht tun mit dhainerlay gericht noch sachen gaistlich noch weltlich an dhainen stetten noch in kain wege sundern daby beliben getrewlich und on als gefarde" 188 .

Eine Klage sowohl bei den weltlichen als auch geistlichen Gerichten war den Erben damit vertraglich untersagt. Die Einbeziehung der geistlichen Gerichte in die Ausschlußklausel rechtfertigte sich dabei aus der Tatsache, daß seit dem späten Mittelalter die kirchlichen Gerichte, zu denen u. a. die Offizialate gehörten, in immer stärkerem Maße dazu übergingen, neben kirchlichen Prozessen auch weltliche Streitigkeiten zu entscheiden 189. Die dadurch bewirkte weite Kompetenz der kirchlichen Gerichte hatte zur Folge, daß "praktisch jede Figur des Privatrechts vor das kirchliche Forum kommen und nach kirchlichen Maßstäben beurteilt werden konnte" 190• Keine Verbindlichkeit besaßen Vereinbarungen wie die oben genannten vermutlich gegenüber den bloßen Kapitaleinlegem. Für sie bestand die Möglichkeit, unrichtige Rechnungsabschlüsse zu beanstanden und ihre Ansprüche ggf. gerichtlich zu verfolgen, wie sich aus den Vorgängen des Streites von Bartholomäus Rem mit Zum näheren Verfahren s.o. B. I. 3.) sowie Lutz, S. 427 ff. Im hoff v. 21. 12. 1490, s. Lutz, Urkunden, S. 7 Rn. 30-36; vgl. auch S. 42, Rn. 80-88 (Höchstetter v. I. I. 1524); S. 63, Rn. 102/103 (lmhoffv. 26. 7. 1527); S. 158, Rn. 330-332 (Fugger v. 20. II. 1591). 188 Vgl. den Meutingvertrag bei Lutz, ebenda, S. 3, Rn. 65-75; ferner S. 6, Rn. 32-36 (lmhoff v. 20. 12. 1481); S. 8, Rn. 30-34 (lmhoff v. 21. 12. 1490); S. 35, Rn. 182-188 (Grander-Rehlinger-Hanolt v. 24. 7. 1511); S. 63, Rn. 96-103; S. 96, Rn. 400-403 (Fugger v. 14. 9. 1532); S. 135, Rn. 127-139 (Manlich); S. 157, Rn. 313-317 (Fugger v. 20. II. 1591). IK9 Vgl. Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 136. 186 187

190

So Coing, Quellen, Bd. I, S. 365; zustimmend Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 136.

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der Höchstettergesellschaft ergibt. Nach der Auszahlung eines seiner Ansicht nach zu niedrigen Gewinnanteils ging Rem gerichtlich gegen die Abrechnung vor: "[ ... ] soliehe summa geltz hat Bartholome Rem nit wellen annemen und hat in (Ambrosius Höchstetter) vor demkaiserund den fürsten des reichs verclagt, [ . .. ]" 191 .

Da es sich hier jedoch lediglich um einen vereinzelt überlieferten Rechtsstreit handelt, sind verläßliche Schlüsse nicht möglich. Im Ergebnis kann damit festgehalten werden, daß die Möglichkeit einer materiellen Überprüfung der Beschlüsse einer Gesellschaft infolge der vertraglichen Vereinbarungen jedenfalls in Angelegenheiten der Rechnungslegung und der Erbauseinandersetzung sowohl den Hauptgesellschaftern als auch deren Erben versperrt war. Dieser Befund rechtfertigt angesichts der übrigen Gesellschaftsangelegenheiten, in denen Gesellschafterbeschlüsse vorgesehen waren, allerdings nicht ohne weiteres den Schluß, daß im übrigen für die Beteiligten kein ,,Anfechtungsrecht" i.S.e. Möglichkeit vorhanden war, die gesellschaftsinterne Entscheidungstindung auf dem Rechtswege anzugreifen. Denn die meisten Verträge enthalten prozessuale Regelungen, die sich auf sonstige gesellschaftsinterne Streitigkeiten beziehen, ohne daß die diesem Verfahren zugrundeliegenden Rechtsbehelfe näher bezeichnet werden. Daß dies allerdings nur in denjenigen Gesellschaften der Fall war, in denen die Geltung des Mehrheitsprinzips vereinbart war bzw. die Beschlußfassung einem einzelnen Gesellschafter oblag, liegt auf der Hand. Materiell berechtigt iSd. Ausübung eines solchen (Kontroll-)rechtes waren nach den obigen Ausführungen allerdings nur die Hauptgesellschafter, da sowohl die Kapitaleinleger als auch die Erben kein Stimmrecht hatten und insofern nicht an der Entscheidungstindung beteiligt waren.

2. Das Verfahren insbesondere bei Gesellschafterstreitigkeiten

Die Quellenlage, aus der sich Erkenntnisse über die prozessuale Seite der Inhaltskontrolle speziell von Abrechnungs- oder Auseinandersetzungsbeschlüssen in den Gesellschaften ziehen ließe, muß als dürftig bezeichnet werden. Ein sehr frühes Beispiel für einen gerichtlich ausgetragenen, innergesellschaftlichen Konflikt bietet der von Fichard überlieferte 192 Streit zwischen B. Blum, W. Blum, L. Jostenhöfer und P. Adler, die um 1490 in Frankfurt eine Handelsgesellschaft betrieben. Der gemeinsam mit W. Blum mit der Abrechnung beauftragte Jostenhöfer kam dieser Aufgabe in Abwesenheit des ersteren nach, worauf dieser die Anerkennung der Rechnung verweigerte und verlangte, "das Loy obgenant widherumb von newen zu rechnen und eyn aufrichtig rechnung zu thun schuldig und pflichtig ist aus oberzealten ursachen nach außweys und vermog der gemeynen 191

192

Vgl. den Auszug aus der Chronik Clemens Senders bei Lutz, S. 343 f. Quellennachweis bei Lutz, S. 304 (Fn. 242).

4 Emmerich

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recht daruff sich der Anwalt zeucht" 193 . Das Angebot Loy Jostenhöfers, die Bücher mit "erbem" und "verstendigen" Männern zu prüfen, wurde schließlich angenommen und eine Buchprüfung durch P. Adler durchgeführt 194. Insgesamt geben Gerichtsakten jedoch nur in wenigen Fällen Auskunft über Streitigkeiten in Gesellschaftsangelegenheiten 195 . Die Ursachen hierfür zeigen sich bei einem Blick in die Gesellschaftsverträge : ,,Zum sibenten, woferr über khurz oder lanng ainicher mißverstand! und spaltung [ ... ] entstehen wurde so solle solches nit anderstwo, als vor der herrn Rathpflegern und Gehaimen diser stat Augspurg für, und angebracht werden, und was sie hierüber auf baider seits eingenommen, summarischen bericht erkhennen, darbey sollen es unsere erben und nachkhommen, one widerred und apellation bleiben lassen, damit alle rechtfertigung, weitläufigkheit und unwillen zwischen unnsern erben, vermiteist götlichen segens verhüetet, und alle ding disen handeil belangend!, sovil müglich inn gehaimb bleiben und gehalten werden"l96.

Das hierin zum Ausdruck kommende Bestreben, gesellschaftsinterne Streitigkeiten so weit wie möglich geheim zu halten, findet sich im gleichen oder ähnlichen Wortlaut als häufiger Bestandteil der Gesellschaftsverträge 197 und schlägt sich regelmäßig in der damit zusammenhängenden Formulierung von Schiedsgerichtsvereinbarungen nieder. Die Motivation für ein derartiges Vorgehen mag ihren Ursprung in verschiedenen Tatsachen gehabt haben. Zum einen bestand angesichts des oben erwähnten ohnehin schlechten Ansehens der Handelsgesellschaften ein verständliches Interesse an der Vermeidung weiterer, möglicherweise negativer, Publizität. Zum anderen entsprach das Schiedsverfahren unter Verwandten - und damit zumindest in denjenigen Gesellschaften, an denen überwiegend Mitglieder einer Familie beteiligt waren- einer häufig geübten Praxis 198 . Das den Gerichten entgegengebrachte Mißtrauen wurde ferner durch die These erklärt, daß jedenfalls gelehrte Richter versucht hätten, Streitigkeiten unter Heranziehung des der Handelspraxis nicht entsprechenden römischen Rechts zu entscheiden199. Ob dieser Begründungsansatz hinreichend ist, darf schon angesichts Lutz, S. 305 f., m. w. N. Zu alledem Lutz, S. 305 f. 19S Ein sehr frühes Beispiel liefert die Aufzeichnung einer gesellschaftsrechtlichen Streitigkeit aus dem Jahre 1350 im Urkundenbuch von Regensburg, M.B. Bd. 53, S. 697 (Nr. 1288) sowie Bd. 54, S. 24 (Nr. 61); vgl. auch den bereits erwähnten Remstreit 196 Fugger-Vertrag vom 20. II. 1591, s. Lutz, Urkunden, S. 163, Rn. 488-501. 197 So im Meuting-Vertrag bei Lutz, Urkunden, S. 4, Rn. 106-110; ferner WeißhauptSchreiber, a. a. 0., S. 18, Rn. 286-295; Höchstetter, a. a. 0., S. 45, Rn. 200 - 207; Rietwieser-Pruner, ebenda, S. 57, Rn. 238- 249; Fugger v. I. 8. 1548, a. a. 0., S. 135, Rn. 143-151. 198 Vgl. Kobler, S. 28 m. w. N., ob jedoch angesichts der wenigen Nachweise von Gewohnheitsrecht gesprochen werden kann, mag hier dahingestellt bleiben. 199 Lutz, S. 475 (Fn. 160). 193

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einer in vielen Städten im Entstehen begriffenen Handelsgerichtsbarkeit200 bezweifelt werden. Die daraus sprechende Befürchtung dürfte auf der Tatsache gründen, daß seit dem 12. und 13. Jahrhundert deutsche Juristen an ausländischen Universitäten das gelehrte Recht studierten und nach der Rückkehr ihre Kenntnisse im römischen und kanonischen Recht in Verwaltung und Rechtspflege einbrachten und dort anwandten. Da sie auch in den Dienst der Städte traten, wurden immer mehr Richterstellen mit römisch-rechtlich vorgebildeten Richtern besetzt201 . Praktisch war die Befürchtung jedenfalls unbegründet, denn die in Handelssachen zuständigen Gerichte waren zumeist mit Kaufleuten als Laienrichtern besetzt202 , weil man erkannt hatte: "daß nyemannd geschickter ist zuentschaiden die obgemelten geprechen der kaufflewt und kauffmanshenndl dann die verstendigen kaufflewt [ ... ], der beder sachen halb ain gross menig antzall personen teglich bey dem augenschein der gepew und henndl mag erfunden werden" 203 .

Dennoch zeigen die Gesellschaftsverträge eindeutig, daß man Juristen für eine Streitentscheidung generell nicht geeignet hielt: "Were auch sach, [ ... ] das wir obgenantte verwantten [ ... ], ader vnser erben [ ... ] ditz vnsers handels zwietrechlich ader vnainig wurden [ ... ) alß dan sol yde partie auß den vier stellen [ ... ] zwen erber mannen kauffleudt, nil doctores noch procuralores, die sich mit solchen zwietrechtigen hendlenn neren, auff ire seytten nemen [ ... )''204 .

Für die Durchführung von Schiedsverfahren in Handelssachen waren in den meisten Handelsstädten bereits Gerichte vorhanden. Für Nürnberg bestimmte das Privileg Kaiser Maximilians I. schon 1508, daß .,hinfüro ewiglich in Sachen der Kaufleut Händel vor den Gerichten zu Nürnberg mit dem kürzesten und summarie soll procedirt und gehanndelt" werden205 . Diese Aufgabe übernahm zunächst eine Standesvertretung unter Leitung der ältesten ortsansässigen Kaufleute, die Streitigkeiten in Handelssachen sofort durch Schiedsspruch schlichteten 206. Seit 1566 traten an deren Stelle fünf Handelsleute als Marktvorsteher, bis 1621 das Bancoamt gegründet wurde, an das perRatserlaß vom 31. 3. 1624 alle streitigen Kaufmannssachen verwiesen wurden 207 . In Augsburg und Frankfurt ersetzte die Gerichtsbarkeit des Bürgermeisters die Bildung separater Schiedsgerichte208 .

Zur Entstehung der Handelsgerichtsbarkeit in Nürnberg s. Rehm, S. 1-16. Vgl. zu alledem Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 142 ff. m. w. N. 2o2 Vgl. Rehm, S. 2, 13. 203 So das Privileg Maximilians I. vom 14. 3. 1508; vgl. Eisenhardt, Privilegia, S. 284. 204 Rietwieser-Pruner-Vertrag bei Lutz, Urkunden, S. 57, Rn. 238-248; s. auch ders., S. 471 (Fn. 140). 20s Vgl. Silberschmidt, Sondergerichtsbarkeit, S. 6.; vgl. auch Eisenhardt, Privilegia, S. 284. 206 Vgl. Rehm, S. 2 f. 201 s. hierzu Rehm, S. 3 ff.; Eisenhardt, FS Raisch, S. 5 I (61). 200

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Das Verfahren vor den Schiedsgerichten war ein summarisches, d. h. es wurde mündlich und ohne die sonst verbindlichen Verfahrensregelungen wie Zeugenvernehmungen und schriftliche Beweiserhebungen verhandelt209 . Dieses Vorgehen stand im Interesse einer gegenüber dem ansonsten langwierigen und umständlichen Verfahren schnelleren Prozeßabwicklung: ..[ ... ] und wiewol auch nach unnser und der reichs satzungen und beschriben rechten sich gepur, alle geprechen, so erwachssen aus der kaufflewt henndl im kauffen, verkauffen, rechnungen und gesellschafften mit allen iren anhenngen und umbstenden, mit dem kurtzisten sumrnarie und allain aus den geschiechten zuentschaiden, die seheden zuverhueten, so aus den Ienngrungen und vertzugen gewondlichen erwachssen" 210 Rechtsmittel gegen die Schiedssprüche waren bis ins 15. Jahrhundert nicht vorgesehen211. Erst später wurde eine Appellation an den Rat bzw. das Kammergericht zugelassen 212 • Häufig verlieh der Kaiser oder König allerdings sog. privilegia de non appellando, die den an einem Rechtsstreit Beteiligten künftig verwehrten, sich mit einem gegen das Urteil eines landesherrlichen Gerichts gerichteten Rechtsmittel (seit ca. der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts i.d.R. die Appellation) an Gerichte zu wenden, die nicht solche des Landesherrn waren. Von den Gerichten des mit einem entsprechenden Privileg versehenen Landesherrn war die Appellation an das Reichshofgericht und das Kammergericht (später an das Reichskammergericht und den Reichshofrat) versperrt213 • Entsprechende Bestimmungen enthält auch das mehrfach erwähnte Privileg Maximilians 1.: "Und was also durch dieselben burgermaister und rate oder ire verordenten in solhen sachen zu recht erkannt und gesprochen wirdet, daß dasselb krefftig und mechtig sein und dabey on alle waygrung, appellacion, suplication, anbringen der nullitet oder anndern schein beleiben sol"214 . Obwohl mit dem Verfahren vor den Handelsgerichten die Möglichkeit einer sach- und interessengerechten Streitbeilegung gegeben war, zeigt sich anband der auffallend seltenen Verhandlungen in typisch kaufmännischen Streitigkeiten215 vor den genannten Gerichten, daß die Handelsgesellschaften eine gesellschaftsinterne Schlichtung vorzogen. Dem entsprechen auch die Schiedsklauseln der Gesellschaftsverträge, denn die Bestimmung eigener Schiedsleute ist hier die Regel. Silberschmidt, a. a. 0. S. 45. Vgl. Rehm, S. 6. 210 Privileg Maximilians I.; vgl. Eisenhardt, Privilegia, S. 283. m Vgl. etwa M. B. 4, S. 367 (Nr. 49); 53, S. 66 (Nr. 128); s. auch den Vertragstext oben Fn. 109; zur Ausbildung von Rechtsmitteln und Instanzen Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 156 ff. m. w. N. 212 Zu alledem ausführlich Silberschmidt, Sondergerichtsbarkeit, S. 24; für Bayern Kobler, S. 91 ff. 213 Vgl. Eisenhardt, Privilegia, S. 12 f. 214 Ebenda, S. 285; vgl. auch den Beginn der Urkunde, a. a. 0., S. 282. m Vgl. hierzu Kobler, S. 35m. w. N. 2os 209

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Diese Aufgabe wurde dabei teilweise einem oder mehreren der Gesellschafter selber216, vereinzelt aber auch Dritten 217 übertragen. Bei diesen handelte es sich bevorzugt um Bürgermeister, Ratsmitglieder oder andere Amtsträge~ 18 . Als Qualifikation der Schiedsleute wird in den meisten Verträgen mindestens kaufmännischer Sachverstand vorausgesetzt219. Für die Schlichtung war ein mündliches220 Verfahren vorgesehen, in dem zunächst die Anhörung jeder Partei erfolgen sollte221 . Sofern die Schiedsrichter zu einem Beschluß gelangten, erging sofort im Anschluß der Schiedsspruch. Für den Fall, daß auch unter den Schiedsleuten keine Einigung zu erzielen war, wurde z. T. eine Art zweiter Instanz zur endgültigen Entscheidung bestimmt 222 . Welche Mehrheitsverhältnisse für den Schiedsspruch entscheidend waren, ist überwiegend nicht festgelegt 223 . Eindeutige Bestimmungen enthalten die Gesellschaftsverträge wiederum im Hinblick auf Rechtsbehelfe gegen die Schiedssprüche: Eine Anfechtung derselben wird ausdrücklich ausgeschlossen. Besonders deutlich sagt diesbezüglich der Meutingvertrag aus: "War auch sache ob sich nit furo under uns dhainerlay zwayung und irrung ufferstunden in der benanten zeit dirre verbuntnuss wie oder wör umb daz wer oder wie sich das fugte daz so! allzeit beliben und bestan by uns gemainer gesellschafft und unserm ußspruch und entschaiden und waz auch von uns gemainlich oder mit dem merren tayl allzeit gesprochen wirt daz zehalten und zebliben on alles verwaigern und widersprechen allen geeichte geistlichen und weltlichen in allwege getrewlich on als gefard, [ ... f 24 .

Als Grundlage dieser Vereinbarungen dürfte das Bestreben gedient haben, allzu große Beeinträchtigungen des Geschäftsbetriebes durch unnötigen Zeit- und Kostenaufwand zu vermeiden.

216 Folgende Gesellschaftsverträge bei Lutz, ebenda: Meuting, S. 4, Rn. 115 f.; Höchstetter, S. 45 f., Rn. 204-207. 217 Der Manliehvertrag spricht von "erbarn" (ehrbaren) Männern, vgl. Lutz, Urkunden, S. 136, Rn. 149, s. auch die weiteren Nachweise bei Lutz, S. 470 und 472 (Fn. 146 f.). 218 So Kobler, S. 53. 219 Vgl. hierzu nur Lutz, S. 470 mit entspr. Nachw. 22o Eine Ausnahme stellt die Vereinbarung eines schriftlichen Verfahrens im Zwischenvertrag der Fugger vom 20. 2. 1614 dar, bei dem es allerdings nicht um die Schlichtung gesellschaftsintemer Streitigkeiten geht, sondern um eine Einigung über die Bestandteile des künftig zu errichtenden Gesellschaftsvertrages. Vgl. Lutz, Urkunden, S. 171, Rn. 29-34. 221 Vgl. die Vertragsformulierungen bei Lutz, Urkunden, S. 18, Rn. 295-297 (WeißhauptSchreiber); S. 46, Rn. 206 (Höchstetter); S. 57, Rn. 248 f. (Rietwieser-Pruner); S. 163, Rn. 493f. (Fugger v. 20. II. 1591); S. 170, Rn. 28-34 (Fugger v. 20. 2. 1614). 222 Vgl. etwa. die Abreden der Weißhaupt-Schreiber-Gesellschaft bei Lutz, Urkunden, S. 18, Rn. 302-312. 223 Anders nur im Meuting-Vertrag, wo die Entscheidung auch mit Stimmenmehrheit getroffen werden konnte, vgl. Lutz, Urkunden, S. 4, Rn. 110 f. 224 Lutz, Urkunden, S. 4, Rn. 106-114.

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3. Zwischenergebnis

Die rechtstatsächlichen Befunde zeigen nach alledem, daß in den Handelsgesellschaften des 14., 15. und 16. Jahrhunderts Kontrollrechte einzelner oder mehrerer Gesellschafter zur Überprüfung von Beschlüssen jedenfalls bekannt waren. Allerdings fehlt es insoweit sowohl an einer Individualisierung, d. h. der Herausbildung eines Rechtes des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft (was freilich vor allem von der personalistischen Struktur der süddeutschen Handelsgesellschaften herrührt), als auch an der gerichtlichen Durchsetzbarkeil solcher Rechte. Dem einzelnen Gesellschafter war zwar materiellrechtlich die Möglichkeit eröffnet, gegen die Beschlußfassung in der Gesellschaft vorzugehen; dies ergibt sich aus den Verträgen eindeutig jedoch nur für die gegenüber den Abrechnungsbeschlüssen ausdrücklich ausgeschlossene "Anfechtung". Aus dem Zusammenhang mit den Schiedsvereinbarungen, die das generelle Verfahren bei gesellschaftsinternen Streitigkeiten regeln, kann auch geschlossen werden, daß auch die Entscheidungstindung in anderen Gesellschaftsangelegenheiten einer Überprüfung zugänglich gewesen sein könnte; nicht ersichtlich ist dagegen, welche Rechte die Beteiligten diesbezüglich geltend machen konnten, bzw. ob die bereits als Terminus existierende ,,Anfechtung" auch in anderen Fällen Platz greifen konnte. Andererseits war- zumindest vom Standpunkt des einzelnen Gesellschafters betrachtet - die Einrichtung eines Anfechtungs- i.S.e. eigenständigen Individualrechts jedenfalls unter dem Gesichtspunkt des Minderheitenschutzes nicht unbedingt nötig. Die zumeist unmittelbar und persönlich gegebenen Einflußmöglichkeiten auf die Geschäftsführungsangelegenheiten und die damit erreichte, größtmögliche Transparenz in Gesellschaftsangelegenheiten sowie die z. T. gesondert vereinbarten Kontrollrechte (Rechenschaftsberichte, Überprüfung und Beanstandung der Abrechnung) machten die Einrichtung zusätzlicher Schutzmechanismen in den untersuchten Gesellschaften noch entbehrlich. Ob und inwieweit dies auch mit zunehmender Veränderung der Gesellschaftsstrukturen gelten darf, zeigt der folgende Abschnitt.

C. Die Kapitalgesellschaften I. Metallhandels- und Bergbaugesellschaften des 15. und 16. Jahrhunderts

Neben der im 15. und 16. Jahrhundert herrschenden Hochkonjunktur des Fernhandels entwickelten sich zu dieser Zeit vor allem die Bergbau- und Metallhandelsgesellschaften zu einem gewichtigen Faktor im europäischen Wirtschaftsgefüge. Bereits im 14. Jahrhundert entfaltete sich im oberpfälzischen Raum der Handel

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mit Kupfer und Zinn225 bzw. deren Verarbeitung; und besonders die Fugger hatten seit 1494 nicht unbedeutende Summen ihres Gesellschaftskapitals in den ungarischen Kupferbergbau investiert226. Mit der zunehmenden Ausweitung des Fernhandels im 15. Jahrhundert eröffneten sich neue Märkte auch auf dem Exportsekto~27, und neben einem steigenden Bedarf an gemünztem Gold und Silber entstanden außerordentlich gewinnträchtige Investitionsmöglichkeiten im Metall- und Erzhandef 28 • Positiv auf diese günstigen Entwicklungsbedingungen wirkte sich auch die Erfindung des Saigerverfahrens (Trennung von Silber und Rohkupfer mittels Bleizusatz)229 um 1450 aus, so daß es in der Folgezeit zu zahlreichen Unternehmensgründungen namentlich in den genannten Bereichen kam. Besonders begünstigt von dieser Entwicklung waren vor allem die im Kurfürstentum Sachsen gelegene Grafschaft Mansfeld und die pfalzischen bzw. Oberpfalzischen Reviere, die sich durch reiche Erzvorkommen auszeichneten. Der rasche wirtschaftliche Aufschwung in diesen Regionen wird durch die zahlreich erhaltenen Gesellschaftsverträge aus diesem Wirtschaftszweig dokumentiert. Die wirtschaftliche Seite dieser Gesellschaften war in erster Linie von stetig steigenden Abbau- und Produktionskosten und einem erhöhten Kapitalbedarf der Bergwerks- bzw. Regalherren bedingt230. Die Folge waren gesellschaftliche Zusammenschlüsse kapitalkräftiger Bergbauunternehmer, den sog. Gewerken, in die vor allem die adeligen Gebiets- und Lehnsherren z. T. erhebliche Summen investierten231. Die Aufteilung dieser Gewerkschaften unter den Eignern bzw. Kapitalgebern erfolgte in Berganteile, auch Lehen, Stämme oder Kuxe genanne32• In diese Unternehmungen wurde gegen Ende des 15. Jahrhunderts das Element des Handels in Form des Verlagswesens einbezogen, was später über den Kuxbesitz der Händler zur großbetriebliehen Organisation führte 233 . Die hierdurch entstehende Personalunion zwischen Bergbauunternehmung und Handelsgesellschaft war gekennzeichnet durch einen hohen Anteil an Fremdkapital und der damit zusammenhängenden fortschreitenden Trennung von Kapitalanteil und persönlicher Mitarbeit, d. h. von Mitgliedschaft und Unternehmensleitung234. In besonderem Maße Vgl. hierzu Breyer, S. I ff.; zur Nürnberger Zinnblechindustrie: Hesse), S. 24 ff. Vgl. Bauer, Unternehmung, S. 93 ff.; 227 Hier war es vor allem die Ausfuhr von Quecksilber nach Amerika, wo die Silberproduktion im Wege des Amalgamierungsverfahrens betrieben wurde, s. Bauer, Unternehmung, S. 8. 228 Ebenso Schirnke, S. 44. 229 Näher hierzu Möllenberg, Eroberung, S. 5. 230 Dazu Reich, S. 240; ausführlich auch Breyer, S. 6 ff.. 231 Vgl. diesbezüglich die Bezifferung der Kapitalanteile in den Gesellschaftsverträgen bei Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 3, S. 3 f.; Nr. 22, S. 25; Nr. 109, S. 195; Nr. 238, S. 381 ; s. a. Obenaus, S. 12. 232 Zur Geschichte und Entwicklung dieses Verteilungsverfahrens Breyer, S. 33 ff. 233 Zu alledem Schimke, S. 44 f. m. w. N.; s. auch Strieder, Studien, S46 f. 234 Vgl. auch Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, Rn. 189. 22s

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vereinigen sich diese Merkmale in den verfahrensbedingt sehr kostenintensiven Saigergesellschaften, die sich insofern von den zuvor untersuchten Familienunternehmen abzeichnen und in ihrer Struktur eine gewisse Annäherung an die Organisation einer Kapitalgesellschaft erfahren. Der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ermöglicht in dieser Hinsicht eine Einbeziehung der Bergbau- und insbesondere der Saigerhandelsgesellschaften in die folgenden Erörterungen.Vorrangig gilt hierbei das Augenmerk wiederum der inneren Organisation dieser Gesellschaften sowie dem Verfahren der Beschlußfassung und -kontrolle.

1. Die Beschlußkompetenzen der Gesellschafterversammlung

Hinsichtlich des Vorhandenseins einer Gesellschafterversammlung bzw. der hierfür verwendeten Begriffe unterscheidet sich die Terminologie in den Gesellschaftsverträgen der Saigerhandelsgesellschaften nicht von derjenigen in den Fernhandelsgesellschaften, wie sie bereits oben235 erwähnt wurde. Die Versammlung der Gesellschafter existiert auch hier in Form der regelmäßigen Hauptrechnungslegung, die zum Abschluß der jeweiligen Rechnungsperiode vorgesehen war. Deren Dauer beträgt im Gegensatz zu den Abrechnungen in den Familienhandelsgesellschaften- die wie oben gezeigt eher unregelmäßig stattfanden- in allen Fällen ein Jahr236 und stimmt darin mit der gesetzlichen Regelung der Nürnberger bzw. Frankfurter Reformationen überein. Eine Sonderstellung nehmen in dieser Hinsicht die Gesellschaften des Oberpfälzer Bergbaus ein, bei denen die Gewerkenversammlung viermal im Jahr zur Beratung des Grubenhaushaltes zusammentrat237 . Für die Teilnahme an der Rechnungslegung ist in den Gesellschaftsverträgen der Saigerhandelsgesellschaften keine bindende Verpflichtung formuliert, die Anwesenheit aller Gesellschafter stellte aber auch hier die Regel dar. Stellvertretend sei hier nur der Vertrag der Leutenherger Saigerhütte zitiert: "[ ... ] auf welchen haubtrechnungstag allweg und yedesmals ain yeglicher aus uns allen mergemelten gesellschaflern in aigner personerscheinen [ ... )"238 .

Nachdem sich folglich in puncto Gesellschafterversammlung organisatorische Gemeinsamkeiten zwischen den Familienhandels- und Saigergesellschaften ergeben, hat das Augenmerk im folgenden wiederum den Kompetenzverteilungen in den s.o. B. I. Vgl. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 3, S. 4; Nr. II, S. 10; Nr. 22, S. 27; Nr. 109, S. 195; Nr. 110, S. 202; Nr. 214, S. 350; Nr. 238, S. 383; s. ferner Strieder, Studien, S. 419; für die Eisenhandelskompagnie zu Steyr ders., S. 399. 237 Breyer, S. 43 (Fn. 40) m. w. N. aus den Kurpfalzischen bzw. Zweibrücker Bergordnungen von 1511, 1517 und 1551 bzw. 1514; ferner S. 60 ff. 238 Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 22, S. 28; vgl. auch die Verträge a. a. 0., Nr. 3, S. 4; Nr. 109, S. 195; Nr. 238, S. 383. 235

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Gesellschaftsverträgen zu gelten. Daß hierbei weitere Überschneidungen auftreten, liegt angesichts der strukturellen Verwandtschaft beider Gesellschaftstypen auf der Hand. So bestehen etwa hinsichtlich der Beschlußfassung zur Rechnungslegung im wesentlichen keine Unterschiede zu den Familienhandelsgesellschaften. Gewisse Abweichungen ergeben sich aufgrund der personellen Struktur der Saigergesellschaften allein in der Organisation der Buchhaltung. Diese ist ein Bereich, in dem sich die bereits oben angesprochene, gerade diesen Gesellschaften eigentümliche Trennung von Kapitaleinlage und persönlicher Mitarbeit der Gesellschafter zeigt. Während in den Familienhandelsgesellschaften die Buchführungspflicht für die Hauptgesellschafter zumeist ausdrücklich geregelter Bestandteil der Verträge war, ging man in den Saiger- und Bergbaugesellschaften dazu über, diese Aufgabe arbeitsteilig zu organisieren und sie entweder einem oder mehreren Gesellschaftern239 oder zu diesem Zweck angestellten Buchhaltern oder Schreibern zu überantworten. Auch die Erbauseinandersetzung gehörte in den Bergbau-, Saiger- und Metallhandelsgesellschaften zu den gängigen Regelungsinhalten. War es bei ersteren jedoch Aufgabe der Gesellschafterversamrnlung, Inhalt und Umfang etwaiger Ansprüche der Erben gegen die Gesellschaft per Beschluß festzulegen und war der rechtliche Einfluß der Erben in Gesellschaftsdingen auf ein Minimum reduziert, so ist in Jetzteren die Beschlußkompetenz in Erbangelegenheiten der Gesellschafterversammlung zugunsten von Nachfolgeklauseln weitgehend entzogen. Die rechtliche Position der Erben gegenüber der Gesellschaft erfuhr hier insofern eine deutliche Stärkung, als nunmehr ihr Nachrücken in die Gesellschafterposition unabhängig von einem Beschluß der übrigen Gesellschafter vorgesehen wa140 . Über die genannten Regelungsbereiche hinaus erfuhren einige Beschlußkompetenzen jedoch gegenüber den Familienhandelsgesellschaften auch inhaltliche Veränderungen oder eine Neuordnung, auf die im Folgenden kurz eingegangen wird.

a) Geschäftsführung Die gleichberechtigte, gemeinschaftliche Geschäftsführung, wie sie in den zuvor beschriebenen Familienhandelsgesellschaften gewöhnlich vorhanden war, ist in 239 So im Gesellschaftsvertrag von Heinrich Scher! et al.: "Und Heinrich Scher! soll die vorwaltunge , das oberste geselschaftbuch und die heuptrechnunge des ganzen handels, darnach sie alle und igliche unsere diener, factor, buttenschreiher und alle andere rechnunge richten, referirn und ziehen mussen [ ... ]"; s. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 110, S. 200 f.; s. auch Nr. 22, S. 27. 240 Vgl. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 109, S. 196: "Ab eyner aus den benenten hendelern und geselschaftern todes halbir abgehen wurde, so sollen doch desselbigen erben beym handel bleyben"; s. auch die entsprechenden Klauseln ebenda, Nr. 3, S. 5; Nr. II, S. 10; Nr. 22, S. 31; Nr. 110, S. 203; Nr. 238, S. 382; vgl. ferner Strieder, Studien, S. 400 f.

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den Gesellschaften des Bergbaus und Metallhandels nicht die Regel. Wahrend in ersteren die Unternehmensleitung zumeist gleichberechtigt von allen Hauptgesellschaftern, d. h. den Unterzeichnern des Gesellschaftsvertrages, durchgeführt wurde, findet sich in den letztgenannten Gesellschaften gerade in denjenigen Fällen eine abweichende organisatorische Gestaltung, in denen adelige Geldgeber als Gesellschafter beteiligt waren241 . Es handelt sich nach dieser Vertragsgestaltung zum einen also um einen weiteren Bereich der gesellschaftlichen Organisation, in dem bei einem Teil der Gesellschafter eine Trennung zwischen Kapitaleinlage und persönlicher Mitarbeit in der Unternehmensleitung ersichtlich wird; zum anderen beinhaltet der zitierte Passus eine Ermächtigung der "gemein gesellschafter" zur Bestellung von Geschäftsführern242. Nach der üblichen Bedeutung dieser Formulierung in der hier geläufigen Vertragssprache bedeutet dies, daß diese Aufgabe möglicherweise durch Beschluß der versammelten Gesellschafter, jedenfalls aber der übrigen Hauptgesellschaftern wahrgenommen werden sollte. Deutlicher wird diese Kompetenzzuweisung in den Verträgen der Bergbau- und Metallhandelsgesellschaften des Oberpfalzer Raumes vorgenommen. Aus der Ordnung des Zinnblechhandels zu Amberg von 1534 ergibt sich, daß von den Gewerken, d. h. den Gesellschaftern perBeschluß diejenigen Personen zu bestimmen waren, welche die Leitung der Gesellschaft in kaufmännischen und Verwaltungsangelegenheiten übernehmen sollten: ,,Zum vierdtten sollen mit allerseits der gewergkhen vorwissen zwen oder mer ditz handls zu ausrichtern und factoren umb zirnblich belonung die auch mit einlegung irs gellts dem handl verwanth sein und daneben ein Rath, in antzal etlicher personen Rechnung aufzunemen, und die gemainen täglichen fürfallenden hendl abzurichten fürgenomen werden, die auch mit ckauffen und verkauffen der plech, zines und ander notturfft nach irem guetbedungkhen handln mögen [ ... ]"243 .

Im Ergebnis war damit die Beschlußfassung in Geschäftsführungsangelegenheiten in den hier untersuchten Gesellschaften der Gesellschafterversammlung weitestgehend entzogen; allerdings tritt an deren Stelle die Kompetenz zur Bestellung der geschäftsführenden Personen.

241 Vgl. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 238, S. 383: ,,Zum funften. So wollen wir obbemelte beide graven (Anm.: Die Grafen Hans Georg und Hans Albrecht von Mansfeld, d. Verf.) oder unser erben fur unsere person mit ainicher verwaltung des handels gar nicht zu thun haben, sondern denselben durch die personen, so die gemein gesellschafter darzu luglieh achten und jeder zeit darzu verordnen werden, verwalten und treiben lassen auf ihre bestendige und clare rechnung, wie solchs der ganzen gesellschaft zum besten vor ratsam, nutz und gut zu jeder zeit kan bedacht und vorgenommen werden". 242 Vgl. diesbezüglich auch die Verträge a. a. 0., Nr. 22, S. 27; Nr. 109, S. 194, 243 Staatsarchiv Amberg, Urkunde Nr. 122; s. auch den Auszug bei Strieder, Studien, S. 154 (Fn. 2). Praktisch identisch sind die Geschäftsführungsangelegenheiten in der Steyrer Eisenhandelskompagnie organisiert, vgl. den entspr. Vertragspassus ebenda, S. 393.

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Auch bei den Saigergesellschaften finden sich damit eher ausnahmsweise Vertragsklauseln, mit denen der Gesellschafterversammlung bezüglich der Geschäftsführung Entscheidungsgewalt zugebilligt wurde. Meist handelt es sich hierbei wie bei den Personenhandelsgesellschaften um besondere Geschäfte 244 bzw. um organisatorische Einzelfragen 245 , die unter den Vorbehalt der Zustimmung der Gesellschafterversammlung gestellt und z. T. durch eine Schadensersatzpflicht sanktioniert werden246 • b) Sonstige Entscheidungsbefugnisse der Gesellschafterversammlung Neben den zuvor dargestellten Zuständigkeitskatalog der Gesellschafterversammlung treten in den Verträgen der Saigergesellschaften Zuständigkeitsregelungen, die eine gesonderte Betrachtung verdienen, weil sie z. T. gegenüber den Personengesellschaften ein Novum darstellen und es sich nicht nur um Sonderregelungen der jeweiligen Gesellschaft handelt. aa) Änderungen des Gesellschaftsvertrages Soweit ersichtlich, wurde in den Verträgen der Saigergesellschaften der Gesellschafterversammlung erstmals ausdrücklich das Recht eingeräumt, per Beschluß eine Abänderung des Gesellschaftsvertrages vorzunehmen. Nach den einschlägigen Vertragsbestimmungen war vorgesehen, zum Zeitpunkt der Rechnungslegung den Gesellschaftsvertrag zu verlesen und je nach Notwendigkeit Veränderungen oder Ergänzungen zu beschließen. Ein gesonderter Antrag oder das Vorliegen eines wichtigen Grundes waren für dieses Verfahren nicht erforderlich: ,,Zum neunten sollen und wollen wir zu einer ywden general- und hauptrechnung diser unser gesellschaft verschreibung fur uns nemen, verlesen und mit vleis bewegen, ob ainicher darin gesetzter artickel durch verendrung der zeit und leuft beswerlich und mit nutz zu endern sein wolt, alsdann in dergleichen hendlen im anfange vil furnemens ersprieslich sein mag, das sich doch uber etlich zeit dermas nit mer will erleiden"247 .

Aus der Sicht der Gesellschafter rechtfertigten sich derartige Klauseln allein schon daraus, daß in den Verschreibungen der Saigerhandelsgesellschaften im Ge244 s. folgende Verträge bei Möllenberg, Urkundenbuch: Nr. II, S. II (Verkauf eines Gesellschaftsanteils); Nr. llO, S. 205 (Vergabe von Darlehen oder Übernahme von Bürgschaften). 245 lbid., Nr. II, S. 10 (Besoldung der Handelsdiener); Nr. 8, S. 5 (Aufnahme neuer Gesellschafter) Nr. 238, S. 383 (Verringerung der Einlage eines Gesellschafters um mehr als 2000 Gulden p. a.). 246 So im Vertrag von Heinrich Scher!, Hieronymus Lotteret al., s. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 110, S. 205. 247 Vgl. die fast identischen Formulierungen bei Möllenberg, ebenda, Nr. 22, S. 29, sowie Nr. 238, S. 384. S. ferner Strieder, Studien, S. 403.

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gensatz zu den süddeutschen Handelsgesellschaften keine Vertragsdauer bestimmt war bzw. diese auf zehn oder zwanzig Jahre festgeschrieben wurde248. Im Verlauf einer solchen Zeitspanne mußte vor allem auch den Anforderungen des Wettbewerbs durch personelle oder organisatorische Veränderungen in der Gesellschaft begegnet werden können. bb) Festlegung einer Nachschußpflicht Desweiteren gehörte es zu den vertraglich ausgewiesenen Rechten der Gesellschafterversammlung, über Veränderungen des Gesellschaftskapitals zu beschließen249. Sofern es die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft erforderte, sollten die Gesellschafter per Beschluß zu einer Erhöhung ihrer vertraglich festgesetzten Beiträge angehalten werden können: "Und ap durch verenderunge derzeit und leufte nach gelegenheil des handels die notturft erfordert, unser dargelegte heuptguter zu myndern, ader ap der handel mer gelts bedurfen wurd, sall ein yeder sein tail nach anzal seynes heuptgeldes erlegen; [ . . . ]" 250.

Im Gegensatz zu einer Kapitalerhöhung im Wege der Ausgabe neuer Gesellschaftsanteile und einer damit verbundenen Veränderung des im Gesellschaftsvertrag festgelegten Grundkapitals251 , handelt es sich hier um die Vereinbarung einer Nachschußpflicht in Form einer Nachzahlung auf im Gesellschaftsvertrag bereits festgesetzte Beträge wie sie heute den Regelungen etwa der§§ 26, 27 GmbHG entspricht252. Die Yennehrung des Gesellschaftskapitals konnte nach dem oben angeführten Passus somit nur im Wege einer effektiven Kapitalerhöhung253 durch Nachzahlung aus Gesellschaftermitteln bewerkstelligt werden 254. Dabei richtete sich der zu erbringende Betrag anteilig nach der Höhe der Einlagebeteiligung.

cc) Ausschluß von Gesellschaftern Eine weitere Neuordnung ihrer Kompetenzen erfährt die Gesellschafterversammlung in den Saigerhandelsgesellschaften in Gestalt derjenigen Vertragsbe248 In folgenden Verträgen bei Möllenberg, a. a. 0 .: Nr. 3, S. 5; Nr. 22, S. 32; Nr. 109, S. 194; Nr. 110. S. 199. 249 So auch Bauer, Unternehmung, S. 74. 250 Möllenberg, a. a. 0., Nr. 11, S. 10; ferner Nr. 22, S. 26; Nr. 110, S. 202. 251 Vgl. im heutigen Recht §§ 182 ff. AktG ; zum Verfahren der Kapitalerhöhung Eisenhardt, GesellschaftsrechI, Rn. 177 ff. 252 Zur Nachschußpflicht im GmbH-Recht Eisenhardt, a. a. 0 ., Rn. 253. 253 V gl. hierzu Eisenhardt, ebenda. 254 Im Gegensatz hierzu war im Vertrag der Eisenhandelskompagnie zu Steyr auch die Ausgabe von Schuldverschreibungen bzw. die Aufnahme von Darlehen zur Kapitalerhöhung vorgesehen, s. Strieder, Studien, S. 394.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 61

Stimmungen, die den vorzeitigen Ausschluß von Gesellschaftern ermöglichen. Hierin findet sich - gleichsam als Konsequenz der bereits oben angesprochenen starken Betonung einer gesellschaftlichen Treuebindung -die Sanktion eines Verstoßes gegen dieselbe: ,,Zum zwolften, ob einicher aus uns in zeit diser unser werenden gesellschaft gegen den andern gesellschaflern in gemein oder sunders oder gegen uns im handel sich so unschicklieh, irrig oder in ander ungeburlich weise dermass wurd halten, das dem andern durch das merer nit fuglich were, den !enger bey inen in disem handel zu haben, so sollen sy die gesellschaft recht und gute macht haben, ainem yeden solchen zu zeit der generalrechnung dise gesellschaft und sein haubtgut muntlich, oder ob er zur selben rechnung nit personlieh entgegen were, schriftlich aufzusagen und abzukunden und sollen alsdann im sein hauptgut, so vil er des zu solcher zeit in dem handel hell; in dem nachvolgenden Leipziger markt nach gehaltner rechnung [ ... ] entricht werden, im auch die gewynnung, die er auf zeit solch abkundens in der gesellschaft hell. bezalen [ ... ]"255

Es handelte sich hier mithin um ein einseitiges, durch Beschluß wahrzunehmendes Gestaltungsrecht der Gesellschafterversammlung. Gesetzliche Vorschriften wurden hierdurch weder ersetzt noch modifiziert (denn ein solches Ausschlußverfahren ist in keiner der Reformationsbestimmungen vorgesehen), vielmehr dienten diese Maßnahmen der Aufrechterhaltung der gesellschaftsinternen Ordnung.

2. Das Beschlußfassungsverfahren, insbes.: Die Geltung des Mehrheitsprinzips

Bei der Untersuchung des Zustandekoromens von Gesellschafterbeschlüssen soll wie bereits im vorangegangenen Abschnitt der Stimmrechtsfrage ein besonderes Augenmerk geschenkt werden. Besonderheiten ergeben sich hierbei insofern, als verbreitet eine Beteiligung von Gesellschaftern vorgesehen war, deren Mitwirkung in Gesellschaftsangelegenheiten ausdrücklich darauf beschränkt war, Kapital zur Verfügung zu stellen 256. Wegen dieses Auseinanderfallens von Kapitalanteil und Geschäftsführungstätigkeit konnte das Stimmrecht des einzelnen Gesellschafters und die Teilnahme an der Gesellschafterversammlung keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Dennoch zeigen die Gesellschaftsverträge, daß man auch in den Bergbauund Metallhandelsgesellschaften das Problem der Stimmberechtigung offensichtlich nicht für gesondert regelungsbedürftig hielt. Lediglich in zwei Fällen geben Möllenberg, a. a. 0 . Nr. 22. S. 30; ebenso Nr. II. S. II. Diese vertragliche Konstruktion entspricht der heute gängigen Form der stillen Gesellschaft, bei der ein Gesellschafter mit einer Kapitaleinlage beteiligt ist, ohne notwendigerweise an der Geschäftsführung beteiligt zu sein, wobei ihm auch nur eingeschränkte Kontrollrechte zur Verfügung stehen (vgl. § 233 HGB). S. hierzu Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, Rn. !58 ff.; in den hier untersuchten Gesellschaften war in den Fällen einer bloßen Kapitaleinlage eine Beteiligung zu Gewinn und Verlust vorgesehen. 255

256

I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

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die Vertragsurkunden über eine Verteilung des Stimmrechts in den Gesellschaften Auskunft: ,,Aber dieweil wir geselschafter alle gleiche stymme und gerechtigkeit haben, [ ... ]" 257 . ,,Zum sibenten ist zwischen uns abgeredt und beschlossen, das ein yeder aus uns allen obgedachten gesellschaflern in allem und yeden, das dieser unser gesellschaft und handels noturft hinfuro zu yeder zeit wurd erfordern, ain gleichgeltende stym haben und keins stym mer soll sein, dann des andern"258 .

Für den übrigen Teil der Verträge läßt sich -wie schon bei den Familienhandelsgesellschaften - insbesondere aus denjenigen Vertragspassagen, die sich auf die Jahresrechnung beziehen, die Erkenntnis gewinnen, daß die am Unternehmen Beteiligten ohne weiteres stimmberechtigt sein sollten: "So aber wir alle in der rechnung ye zutzeiten semptlich eynigk undratswurden ( . . . ]"259

Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, daß sich in einigen Verträgen bereits Vereinbarungen finden, die die Wahrnehmung des Stimmrechts in der Gesellschafterversammlung durch bevollmächtigte Vertreter vorsehen: "[ ... ] auf welchen haubtrechnungstagt allweg und yedesmals ain yeglicher aus uns allen mergemelten gesellschaflern in aigner person erscheinen oder, ob er ursach halb selbs nit kommen kont, ainen andem redlichen man an sein stat mit volmechtigen schriftlichen gewalt schicken, welche der ausbleybende anwalt und gesanten in allem dem, das zu der rechnung, dabey sy sein werden, gehandelt und beschlossen wirt, stym haben sollen" 260

Diese Regelung fand allerdings ihre Motivation wohl kaum in der Tatsache, daß mit steigender Anzahl von Gesellschaftern eine jeweils persönliche Wahrnehmung des Stimmrechts schwerlich durchführbar ist261 . Ausschlaggebend dürfte vielmehr gewesen sein, daß ein rechtzeitiges Erscheinen der Gesellschafter bei den seinerzeit gegebenen Unwägbarkeilen des Transport- und Verkehrswesens nicht immer zu gewährleisten war. Auch wenn mit der beschriebenen Übertragbarkeit der an sich mit dem Gesellschafterstatus verknüpften Rechte auf Dritte annäherungsweise eine Verselbständigung der Gesellschafterstellung gegenüber der Gesellschaft einherging, wäre es doch zu weitgehend, von einer endgültigen Loslösung beider Positionen zu sprechen. Zu Recht betont deshalb Bauer; daß das Stimmrecht, soweit es in den Gesellschaften als übliche Funktion und Institution erscheint, zur Verstärkung des personalen Elementes in der Gesellschaft diente. Gleichzeitig bezweckte es die Sicherung der Mitbestimmungsrechte der Hauptgesellschafter ohne Rücksicht auf die

m Möllenberg, Urkundenbuch, N r. 110, S. 20 I. 258

Möllenberg, ebenda, Nr. 22, S. 28.

m Möllenberg, a. a. 0., Nr. 3, S. 5; entsprechend auch Nr. 238, S. 383. 260

261

Möllenberg, ibid., Nr. 22, S. 28; dementsprechend auch Nr. 8, S. 4; Nr. 238, S. 383. Vgl. hierzu auch Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, Rn. 198.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 63

Höhe ihrer Beteiligung und die entsprechenden Vermögensrechte gegenüber der Gesellschaft262 . Hinsichtlich der Ausgestaltung von Mehrheitsverhältnissen im Beschlußfassungsverfahren wurde bereits aufgezeigt, daß die Vereinbarung von Mehrheitsentscheidungen in den Familienhandelsgesellschaften in erster Linie durch organisatorische Notwendigkeiten und Praktikabilitätsüberlegungen bedingt war263 . Angesichts dessen läßt die Struktur der Bergbau- und Metallhandelsgesellschaften erwarten, daß in deren Verträgen solcherlei Absprachen um so häufiger anzutreffen sind. Denn die auf eine breite Basis von Kapitaleinlegern ausgerichtete Produktions- und Vertriebsorganisation bedingte eine Zunahme der am Geschäftsbetrieb beteiligten Personen und damit erhebliche Veränderungen in der Entscheidungsstruktur der Gesellschaft. Diese Tatsache legt die Vermutung nahe, daß sich auch eine Anpassung des Beschlußverfahrens in Form einer verstärkten Hinwendung zur Mehrheitsentscheidung feststellen ließe. Im Falle der Saigergesellschaften findet sich diese Annahme allerdings nur in einem Teil der Gesellschaftsverträge bestätigt. Hier sind es wiederum die größeren Gesellschaften mit acht und mehr Mitgliedern, bei denen Entscheidungen in Gesellschaftsangelegenheiten von einer Mehrheit der Gesellschafter getroffen wird: "Und was also yeglichs mals in der gesellschaft sachen durch das merer von uns fur gut angesehen und beschlossen wurd, darin dann ein yeder bey seinem gewissen [ ... ] getreulich raten und helfen [ ... ]"264 .

Neben dieser generellen Vereinbarung des Mehrheitsprinzips finden sich zum Teil auch Bestimmungen, die besondere Geschäfte an einen Zustimmungsvorbehalt der Gesellschaftermehrheit knüpfen: "Und ob sich begebe, daß wir noch mere gelts zu diesem unserm handel notturftig wurden, das sol furgenomen werden nach der geselschafter und der merer teil erkentnus und gutduncken [ ... ]"2M.

Aus diesem Befund den Schluß ziehen zu wollen, daß sich das Mehrheitsprinzip in den Saigergesellschaften generell durchgesetzt habe, wäre auch hier zu weitgehend. Andererseits handelt es sich bei denjenigen Gesellschaften, in denen der Grundsatz der einstimmigen Beschlußfassung vereinbart ist, um solche, in denen der Kreis der Gesellschafter mit bis zu vier Teilhabern überschaubar ist bzw. die Geschäftsführung in der Hand eines Gesellschafters liegt266 . Die Struktur dieser

262

Vgl. auch Bauer, Unternehmung, S. 85 f.

263

s.o. B. II.

Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 22, S. 28; ähnlich auch Nr. II, S. 11 . Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 11, S. 10; vgl. dort auch die Ausf. zur Besoldung von Handelsdienern, sowie die bereits oben erläuterte Möglichkeit der "Hinauskündigung" von Gesellschaftern, a. a. 0 . S. 11. 266 Vgl. die Verträge bei Möllenberg a. a. 0., Nr. 110, S. 201; Nr. 3, S. 4. 264

265

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Gesellschaften machte die Entscheidungsfindung nach dem Mehrheitsprinzip wiederum entbehrlich. Anders gestaltet sich das Bild in den Gesellschaften des Oberpfälzer Bergbaus. Hier war die Mehrheitsentscheidung der Gewerken für die Beschlußfassung maßgeblich und in der Regel ausdrücklich durch die Bergordnungen vorgesehen267: ,,Es soll auch kayn vorsteer oder gewerckh, taglaistung oder zerung thun, on wiln und wissen des merernthayll der gewercken [ ... ]"268 . ,,Auch also das in dem vnd so eyn gemeyn versameJung deß bergkwercks ist. Was dan der mererail raitslegt dem soll nachkorneo vnd (*) ob (*) gehalten werden"269 (* =nicht lesbar)

Die Urkunden geben allerdings weder bei den Saiger- noch bei den Bergbaugesellschaften Aufschluß über die genauen Mehrheitsverhältnisse, die für eine Beschlußfassung ausschlaggebend waren270• Breyer hält für die Bergbaugesellschaften eine Abstimmung nach Anzahl der Gesellschaftsanteile für wahrscheinlich271 ; anhand der Verträge der Saigergesellschaften ist diese These nicht zu verifizieren.

3. Die Möglichkeiten und das Verfahren der Entscheidungskontrolle in den Gesellschaften

a) Die materiellen Grundlagen In weit geringerem Umfang als in den Verträgen der Gesellschaften des süddeutschen Fernhandels finden sich bei den Saiger-, Metallhandels- und Bergbaugesellschaften vertragliche Regelungen, die sich auf Möglichkeiten einer Inhaltskontrolle von Gesellschafterbeschlüssen beziehen. Obwohl die Stimmenbasis der Beschlußfassung durch die zahlenmäßige Mehrbeteiligung von Gesellschaftsmitgliedern erheblich verbreitert wurde und damit die Wahrscheinlichkeit eines etwaigen Widerspruches stieg272 , ist insoweit bei den Saigergesellschaften lediglich der Leutenherger Vertrag vom 18. 3. 1524 aussagekräftig:

267 Die Wiedergabe der folgenden Textstellen bei Breyer, S. 43 (Fn. 42) entspricht nicht dem genauen Wortlaut der Urkunden, sie sollen daher nochmals angeführt werden. Vgl. aber den weiteren Nachweis a. a. 0. 268 Kurpfälzische Bergordnung für die Grafschaft Falkenstein von 1524; GLA Karlsruhe. Pfalz. Kopialbuch Nr. 835. 269 Kurpfälz. Bergordnung Philipps des Aufrichtigen für den Rheingrafenstein von 1483. GLA Karlsruhe, Abt. 77. Fase. 634. 210 So auch Breyer, S. 43. 211 Ebenda, m. w. N.

272

Vgl. hierzu Heid, S. 105.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 65 "Und was einem yeden in den generalrechnungen gewins oderschadensauf sein haubtgut gegeben und angezaigt wurd, des soll er sich entlieh settigen lassen, dawider kain ainred haben, noch die gesellschaften deshalb darober weder mit oder one gericht weiter anlangen"273

Deutlicher ist hierzu an anderer Stelle ausgeführt: "[ ... ) und der, dem also abgekundt oder aufgesagt wirt, soll sich also, wie vorstet, gutlieh abweisen lassen, dawider [ ... ] weder in oder ausserrecht [ ... ) zuwider oder beswerlich nichts unpilligs furnemen [ ... ] und seins hauptguts auf obberurte fristen angewartung [ ... ) sich on allewiderredeund ferrer anfechtung settigen lassen274.

Der Vertrag der Steyrer Eisenhandelskompagnie enthält folgende Vereinbarung: "Und was nun sie die ersten 8 oder sie alle 12 Personen solcher Raittung halber handlenn und schliessen [ ... ) darbei soll es mit unnserm wissen allerdings verbleiben und hierüber der gantzen Gesellschaft oder etlichen aus inen khain andere Relation beschehen, sondern sich ain jeder hieran benügen lassen und verrer die wenigsten Ein- oder Widerredt zu thun befugt sein"275.

Bereits aus diesen Vertragspassi wird ersichtlich, daß gegen die Beschlußfassung der Gesellschafterversammlung gerichtete Widerspruchs- und Kontrollrechte bzw. die Rechtsfigur der "Anfechtung" auch in den Saigergesellschaften bekannt waren. In terminologischer Hinsicht ergeben sich folglich keine Unterschiede zu den Fernhandelsgesellschaften. Ebenso wie dort waren diese Rechte offensichtlich in erster Linie gegen die Beschlüsse zur Jahresrechnung sowie zur Auseinandersetzung beim Ausscheiden von Gesellschaftern bzw. bei der Auflösung der Gesellschaft gerichtet. Allerdings ist auch hier darauf hinzuweisen, daß der Begriff der "Anfechtung" im untechnischen Sinne gebraucht wurde, d. h. zur Umschreibung aller rechtlich denkbaren Möglichkeiten, gegen die Beschlußfassung ein Schieds- oder sonstiges Gericht um Rechtsschutz zu ersuchen. Die Ausübung dieser Rechte mußte letztendlich jedoch auf dieselben Hindernisse stoßen, die schon in den Verträgen der Fernhandelsgesellschaften festzustellen waren. Aus den oben angeführten Vertragspassagen sowie den häufig anzutreffenden Geheimhaltungsklauseln276 wird deutlich, daß man auch in den Bergbau- und Metallhandelsgesellschaften in Gesellschaftsdingen auf eine sorgfältige Vermeidung allzu weitreichender Öffentlichkeit bedacht war. Nicht zuletzt deshalb läßt die Fassung der meisten Gesellschaftsverträge einer Ausübung von Kontrollrechten, die gegen die Beschlüsse der Gesellschafterversammlung gerichtet sind, praktisch keinen Raum. Obwohl Rechtsbehelfe wie die "Ein-" oder "Widerrede" nur vereinzelt erwähnt werden, enthalten die Verträge der Saigerhandelsgesellschaften recht ausführliche Möllenberg. Urkundenbuch, Nr. 22, S. 29. 274 A. a. 0 .. S. 31. 275 Strieder, Organisationsformen, S. 399. 276 Statt vieler vgl. nur Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 214, S. 350: .,das alles vermittelst eydespflichten verschwigen gehalten wird."; zur Bedeutung dieser Klauseln Lutz, S. 342 ff.; s. a. Schimke, S. 93 f. 273

5 Emmerich

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Vereinbarungen zum Verfahren bei Streitigkeiten unter den Gesellschaftern. Hieraus läßt sich schließen, daß weniger das materiellrechtlich wohl grundsätzlich anerkannte Widerspruchsrecht des einzelnen Gesellschafters gegen Beschlüsse als regelungsbedürftig angesehen wurde, sondern vielmehr das weitere Vorgehen im Falle von Uneinigkeit über die gefaßten Beschlüsse. Die gesetzliche und vertragliche Ausformung dieses Verfahrens soll im folgenden erörtert werden.

b) Das Verfahren insbesondere bei Gesellschaftsstreitigkeiten Zu den ausführlich und nahezu durchgängig geregelten Fragen der gesellschaftsinternen Organisation gehörte in den Verträgen der Mansfeldischen Saigergesellschaften die Beilegung von Unstimmigkeiten zwischen den Gesellschaftern. Auseinandersetzungen um Beschlüsse der Gesellschafterversammlung finden als Streitgegenstand zwar keine ausdrückliche Erwähnung277 , es darf jedoch angenommen werden, daß sie als konfliktträchtige Materie 278 jedenfalls vom Regelungsgehalt der betreffenden Vertragsvereinbarungen erfaßt waren. Bereits in den frühen Gesellschaften des Saigerhandels war ähnlich wie in den Fernhandelsgesellschaften die Bildung von Schiedsgerichten vertraglich vereinbart: ,,Mere ist beredt, ob in der zeyt solieher unser vertragk weret, zwuschen uns partheyen obgemelt irrung, spenne oder zwitracht wurden, das wolle gott nach dem !engsten aufhalten, sollen von den partheyen, die zwispeltig weren, nemlich von uns graven unsere rete und von uns den andern abgenant unsere frunde dartzu gegeben werden, nemlich igliche parthey zwen irer rete oder frunde, als obgemelt ist, dieselben sollen macht haben nach verhorung der dinge, uns partheyen, die irrig weren, gutlieh mit wissen zu entscheiden. So sie aber des also zwuschen uns nit finden mochten, so sollen die parthey schulde und antwort nach notturft verschreiben lassen und die gein Meydeburg schicken, mit begerung, die sach daruff zu entscheiden; wie es dann daselbst entscheiden und ausgesprochen wirdet, dabey soll es pleyben, ongeverde" 279.

Von jeder Streitpartei sollten also zunächst - in der Regel zwei 280 - Schiedsleute bestimmt werden, welche die strittigen Punkte zu klären hatten. Zum Teil wurden Gesellschaftsmitglieder als Schiedsleute eingesetzt 281 , meistenteils oblag die

277 Die Verträge sprechen insoweit von "irrung, spenne oder zwitracht" (Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 3, S. 6; s. auch Nr. II, S. II; Nr. 109, S. 196; Nr. 110, S. 203; Nr. 238, S. 385) oder "unainigkeit" (a. a. 0., Nr. 22, S. 30). 278 s. o. B. Ill. 279

Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 3, S. 6 (Nr. 1472); nahezu identisch Nr. 22, S. 30.

Insgesamt zwei Schiedsrichter sind lediglich im Leuteoberger Vertrag und in den Mansfelder Verträgen von Heinrich Scher! et al. vorgesehen, vgl. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 22, S. 30; Nr. I 09, S. 196 und Nr. 110, S. 203. 281 So im Leuteoberger Vertrag (Fn. 219). 280

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 67 Streitentscheidung jedoch "redlichen" und "verstendigen" Dritten282 ; ausnahmsweise gelangte der Konflikt direkt vor den Stadtrat283 oder den Fürsten284 • Das Verfahren bei Uneinigkeit der Schiedsrichter unterscheidet sich nicht von demjenigen in den Femhandelsgesellschaften; hier ist grundsätzlich als zweite und letzte Instanz der Spruch eines Obmannes285 vorgesehen. Rechtsmittel gegen die Entscheidung der Obleute waren in keinem Fall vorgesehen. Stellvertretend für alle Verträge sei hier nur der Leutenherger Vertrag genannt: "[ ... ] und derseih spruchund entscheid (des Obmannes; d. Verf.), wie der eroffnet wird, von beden teiln entlieh und ungewaigert on alles appelirn, supplicirn, reducirn und alles anders, das dawider furgenommen werden mocht, bleiben und getreulich gehalten werden"286. Die Praxis der gütlichen Streitbeilegung in den Saigergesellschaften weist demnach weitgehende Parallelen zur Organisation der Fernhandelsgesellschaften auf. Sie wurde 1653 für das Kurfürstentum Sachsen, d. h. auch für das mansfeldische Gebiet, durch die "Process- und Gerichtsordnung" des Herzogs Johann Georg v. Sachsen auf eine gesetzliche Grundlage gestellt: "§ II: Und weil zum Eylfften vermöge Unserer Gerichts-Ordnung die Sachen nicht leichtlich und ohne Unterscheid! zum Proceß zu weisen I sondern so viel immer möglich zuvor ob die Partbeyen auff billiche Masse verglichen werden könten I so sollen hinführo in allen Sachen I so vor Unsern Apellation-Gericht in prima lnstantia anhängig gemacht werden I Unsere Canzler und Räthe collegialiter, oder von denenseihen gewisse Deputirte gütliche Handlung pflegen I die Partbeyen aber der gestaldt vorladen I daß sie auf einen gewissen Tag erscheinen I solcher Handlung gewarten I oder im Fall selbige entstünde/ gefast seyn sollen/nachfolgende Tage/vermöge dieser Ordnung/ihre Nothdurfft von Munde aus in die Feder einzubringen /und zum rechtlichen Erkäntnüß zu beschliessen" 287.

Im Gegensatz zu den Handelsgesellschaften hatte der historische Bergbau seine eigene Gerichtsbarkeit, die allein in bergrechtliehen Angelegenheiten Recht zu sprechen hatte. Für das Gebiet der Oberpfalz bestimmte die Daimbacher Bergordnung bereits 1460: "es solle kein unser amtmann lantschreiber, hünerfant, schultheiß, gebüdel oder ander untertane uber die bergkwerke oder kaufleute, diener, froner, arbeiter und hantreicher mit gebot oder verbot of dem bergkwerkh [ ... ] nichts zu tun noch zu schicken haben"288 282 Vertrag der Hütten Schwarza und Mansfeld, s. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 3, S. 6; ferner Nr. II 0, S. 203 (Scher! et. al.); Nr. 238, S. 385 (Hütten Steinach, Eisfeld, Arnstadt). 283 Vgl. etwa den Vertrag der Arnstädter Hütte bei Möllenberg, Urkundenbuch, a. a. 0., Nr. II, S. II (Ratsmitglieder aus Nürnberg). 284 Gesellschaftsverschreibung der Hütten Mansfeld und Schwarza, s. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 3, S. 6. 285 Vgl. Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 22, S. 30; Nr. 109, S. 196; Nr. 110, S. 203; Nr. 238, S. 385. 286 Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. 22, S. 30. 287 Johann Georg v. Sachsen, Erledigung, S. 43.

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Die eigene Berggerichtsbarkeit war Ausdruck des Grundsatzes der Bergbaufreiheit, die allen am Bergbau Beteiligten eine aus der allgemeinen Rechts- und Sozialordnung herausgehobene Stellung gewährte289 . Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts existierten für den Bergbau der Oberpfalz zwei Gerichtsbarkeiten, diejenige der Gewerkschaften selber sowie die regalherrlichen Gerichte. Der Rechtsweg zu den gewerkschaftlichen Gerichten war lediglich den Bergwerksverwandten eröffnet, es handelte sich also um eine personenbezogene Gerichtsbarkeit290. Im Verfahren war zunächst eine gütliche Einigung vorgesehen; erst nach deren Scheitern war ein durch Mehrheitsentscheidung zu fällender Richterspruch vorgesehen: "Und ob die gütlichkeit nit folge gewinne, magk danach sie durch ire gemeynden oder mererteyl sprüch zu entscheiden [ ... ] seyen"291 .

Gegen die Entscheidungen der gewerkschaftlichen Gerichte war die Apellation an den Regalherren zulässig; dessen Urteil erlangte endgültige Rechtskraft292 . Mit bergrechtliehen Streitigkeiten im materiellen Sinne, d. h. unter Umständen auch bei nicht dem Bergbau angehörenden Parteien, waren die regalherrlichen Gerichte befaßt. Sie bestanden aus einem Bergrichter (auch Bergvogt oder -meister genannt) und vom Regalherren eingesetzten Schöffen. Die Rechtsprechung der regalherrlichen Gerichte erfolgte in der Fonn von Weistümern, d. h. durch eine Klärung der Rechtsverhältnisse durch das Gericht auf Anfragen der am Streit Beteiligten293. Eine Apellation an das Hofgericht war zulässig; gegen dessen Entscheidungen konnte letztinstanzlieh nur noch an den Landesherrn selbst apelliert werden294 .

4. Zwischenergebnis Ein abschließender Vergleich der Entscheidungskompetenzen, des Verfahrens der Entscheidungstindung sowie der materiellen und prozessualen Möglichkeiten, gegen Gesellschafterbeschlüsse vorzugehen, zeigt, daß in den zuletzt untersuchten Gesellschaften insgesamt zwar eine Veränderung und Anpassung der Gesellschaftsstruktur an die veränderten wirtschaftlichen Anforderungen (Kapitalbeschaffung auf breiter Basis, Loslösung von Gesellschaftsanteil und Verpflichtung zur persönlichen Mitarbeit, Vereinigung von Produktion und Vertrieb in einer Ge288 Kurpfalzische Bergordnung Friederichs I. für das Bergwerk zu Daimbach von 1460, GLA Karlsruhe, Abt. 77, Fase. 640. 289 Zu alledem Breyer, S. 155.

290

So auch Breyer. S. 155.

291

Bergordnung für den Rheingrafenstein von 1483, GLA Karlsruhe, Abt. 77 Fase. 634. Vgl. Breyer, S. 156m. w. N.

292 293 294

Bühler, S. 142; s. auch Eisenhardt, Rechtsgeschichte,§ 10 (Rn. 58 ff.) Breyer, S. 160, 162m. w. N.

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sellschaft) stattgefunden hat. Demgegenüber blieb jedoch der Bereich der Mitgliedschafts- und Verwaltungsrechte trotz der Einbeziehung einer Vielzahl von Personen in die gesellschaftsinternen Entscheidungsprozesse nahezu unverändert. Insbesondere wird keine Tendenz zu einer "Organ"bildung i.S.e. arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaftsverwaltung ersichtlich; letztere war noch immer stark personenbezogen ausgestaltet, der Gesellschafterversammlung standen nach wie vor weitreichende Kompetenzen zu. Ebensowenig ist eine Trennung zwischen dem Unternehmen einerseits und seinen Mitgliedern andererseits zu erkennen. Auch der einzelne Gesellschafter erhielt abgesehen von seinen Vermögens- und den mit der Teilnahme an der Gesellschafterversammlung verbundenen Verwaltungsrechten keine individuelle und fest umrissene Rechtsposition innerhalb des Unternehmens. Soweit in den Verträgen zur Rationalisierung von Entscheidungsprozessen Mehrheitsentscheidungen festgeschrieben wurden, steht die Verfolgung von unternehmensbezogenen Interessen bzw. des Gesellschaftszweckes im Vordergrund, deren Durchsetzung geschah ohne Rücksicht auf den Standpunkt der Minderheit: ,.[ ... ] was der merer teyl der geselschafter fur nucz und fur das peste dem bandet zu gut erkennen oder furnemen, dobey so! es pleyben, unangesehen des myndern teyls" 295 .

II. Die Gesellschaften vom 17. Jahrhundert bis zum ADHGB

1. Die gesellschaftsrechtliche Entwicklung vor lnkrafttreten des ALR

Die wirtschaftlichen Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts standen in erster Linie unter dem Einfluß des maßgeblich vorn französischen Finanzminister Colbert geprägten Merkantilismus. Dessen Grundidee, durch staatliche Kontrolle der Nationalwirtschaft eine dauerhaft aktive Handelsbilanz zu erzielen und durch den erreichten finanziellen Wohlstand letztlich den Absolutismus zu stärken, bedeutete für das europäische Handelswesen einen entscheidenden Aufschwung, da zu seiner Förderung neben der Abschaffung von Binnenzöllen und der Subvention gewerblicher Manufakturen auch die Bildung staatlicher Monopole und Handelsgesellschaften unterstützt wurde. Ein entsprechender Wandel vollzog sich durch die merkantile Wirtschaftspolitik Friedrich Wilhelms I. auch in Preußen. Insbesondere zur Ausweitung des überseeischen Handels und zur Durchführung der (arn holländischen Vorbild orientierten) Kolonialpläne bediente man sich hier der Handelsgesellschaften296. Für den Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist dabei wiederum von Interesse, ob sich aus der inneren Organisation dieser Handelsgesellschaften Erkenntnisse in bezug auf das Beschlußfassungsverfahren und etwaige diesbezügliche Kontrollrechte gewinnen lassen.

295 296

Möllenberg, Urkundenbuch, Nr. II, S. II . Vgl. hierzu Coing, Quellen, Bd. 3/111, S. 2969.

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Ihre rechtliche Existenz verdankten die genannten Gesellschaften dem staatlichen Privileg (auch Octroi oder Charter), eine "über die Genehmigung einer privilegierten Handelsgesellschaft ausgestellte obrigkeitliche Urkunde, durch welche alle den Beteiligten und deren Rechtsnachfolgern verwilligten Ausnahmen von der Anwendung des allgemeinen Rechts fixiert" waren 297 • Das Privileg enthielt i.d.R. die Übertragung einer Reihe von Hoheitsrechten, daneben konnten aber auch Monopolstellungen verliehen oder Ausnahmen von den staatlichen Zollbestimmungen gewährt werden298 . Auf der Grundlage dieses Privilegs, das einer bereits bestehenden oder gleichzeitig gegründeten Gesellschaft verliehen wurde, erließen die Gesellschaften ihre Statuten, welche die Grundzüge der inneren Organisation festlegten, d. h. die Rechte und Pflichten der Gesellschafter, die Dauer der Gesellschaft, ihr Verhältnis zum Staat etc. 299 Neben der Tatsache, daß bereits das Privileg von staatlicher Seite verliehen wurde, spiegelten dabei die gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse deutlich den Umstand wider, daß es sich bei den privilegierten Gesellschaften um ein Instrumentarium handelte, dessen sich die merkantilistische Wirtschaftspolitik zur Erreichung ihrer Ziele bediente. Der staatliche Einfluß auf die innere Organisation der Gesellschaften war z. T. so erheblich, daß sie mitunter als Teil der Staatsverwaltung angesehen wurden 300. Zeitgenössische handels- und gesellschaftsrechtliche Darstellungen ordnen sie folgerichtig größtenteils nicht dem Recht der privaten Handelsgesellschaften zu; Marquard bezeichnet sie in Anlehnung an Bodinus als "collegium" (licitum) 301 . Auch Hobbes spricht in Abgrenzung zu den "private bodies" von "Body politiqe" (Person in law) 302 . Bei den privilegierten Gesellschaften unterschied Lehmann anband ihrer inneren Organisation einen "Verbands-" und einen "Korporationstypus". Ersterer war dadurch gekennzeichnet, daß die Geschäftsführungskompetenzen in den Händen der Hauptanteilseigner lag, während den mit kleineren Einlagesummen beteiligten Kapitalanlegern allenfalls ein geringes Mitspracherecht in Gesellschaftsangelegenheiten gewährt wurde. Im Korporationstypus wurden dagegen die geschäftsführenden Direktoren von den Hauptanteilseignern gestellt und bildeten dann die "Hauptversammlung" als Geschäftsführungs-, Verwaltungs- und Beschlußfassungskörper303 . Baums, Aktiengesellschaften, S. 13m. w. N. Vgl. Coing, Privatrecht, § 107 IV. 2.; Baums, Aktiengesellschaften, S. 13; Lehmann, geschichtliche Entwicklung, S. 83. 299 Coing, Privatrecht, § 107 IV. 2; s. auch Baums, Aktiengesellschaften, S. 13; Bösselmann, S. 61. 300 Vgl. v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. I, S. 1022; Gmür, S. 186; ähnlich Baums, Aktiengesellschaften, S. 14; s. auch unten II. 1.) 301 Lib. 3, cap. I Rn. 9 f.; Bodinus, Lib. 3 cap. 7: [ .. . ] omnium fami1iarum, collegiorum et corporum eiusdem oppidi iuris communione sociata multitudo."; zitiert nach Baums, Aktiengesellschaften, S. 14 (Fn. 13), weitere Nachw. s. dort; vgl. auch V. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. I, S. 1006. 302 Leviathan, chapter 22; zitiert nach Baums, Aktiengesellschaften, S. 15 (Fn. 14). 303 Vgl. Lehmann, Geschichtliche Entwicklung, § 5 (S. 57 ff.). 297 298

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Da die Ernennung der Direktoren vom Staat vorgenommen wurde, gelten die oben getroffenen Feststellungen hinsichtlich des obrigkeitlichen Einflusses aber für beide Organisationsformen. Anband des Unternehmensgegenstandes können die privilegierten Gesellschaften in zwei Gruppen unterteilt werden. Zum einen existierten Vereinigungen, die lediglich den organisatorischen (bzw. militärischen oder diplomatischen) Rahmen für die Handelsfahrten einzelner Gruppen der Gesellschaftsmitglieder bildeten. Zu diesem Gesellschaftstyp gehörten die 1600 bzw. 1602 gegründete Englische und Holländische Ostindische Kompanie, welche gleichzeitig die ersten privilegierten Gesellschaften waren, die eine gewisse Bedeutung erlangten. Da die Handelsfahrten als eigentlicher Unternehmensgegenstand sowohl finanziell als auch organisatorisch von den o.g. Gruppen selbst getragen wurden 304 und es sich damit bei diesen Gesellschaften im Ergebnis um den Zusammenschluß von Einzelgesellschaften handelte 305 , soll ihre innere Organisation hier nicht weiter untersucht werden 306. Demgegenüber ist flir die vorliegende Untersuchung diejenige Gruppe dieser Gesellschaften von Interesse, die selbst den Seehandel betrieb und das hierzu notwendige Kapital bildete. Es handelt sich dabei um eine jüngere Form der privilegierten Gesellschaften, die in England als "joint stock companies" bezeichnet wurden307 • In Brandenburg-Preußen wurden die ersten privilegierten Gesellschaften in der Form der "Aktienkompagnie" bereits Anfang des 17. Jahrhunderts gegründet. Allerdings waren diese Gesellschaften zu Beginn der Arbeiten am Allgemeinen Gesetzbuch für die Preußischen Staaten308 (AGB) im Jahre 1780 ausnahmslos bereits wieder aufgelöst oder wurden nicht weiter betrieben309. Auf ihre innere Organisation soll daher nur kurz eingegangen werden. Zur Verbesserung der Außenhandelsbeziehungen wurde 1682 das "Edict wegen Octrojirung der aufzurichtenden Handels-Kompagnie auf denen Küsten von Guinea"310 (auch: Brandenburgisch-Afrikanische Compagnie) erlassen. Hauptsächlich wurden durch das Octroi neben der Kapitalausstattung der Gesellschaft die Rechte der Gesellschafterversammlung geregelt, wobei sich sowohl Inhalt als auch Umfang der Mitgliedschafts- und Verwaltungsrechte nach dem Nennwert des Aktienbesitzes richteten 31 1. Kleinaktionären war der Einfluß auf die Verwaltung genom-

304 305

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Coing, Privatrecht, § 107 IV. 3. V gl. auch Lehmann, geschichtliche Entwicklung, S. 31. Ausführlich hierzu Lehmann, ebenda, S. 29 ff. sowie § 5. Coing, Privatrecht,§ 107 IV. 3.

308 Zur Redaktionsgeschichte des AGB und der späteren Entwicklung zum ALR ausfiihrlich Hattenhauer, ALR, S. 19 ff. 309 So Baums, Aktiengesellschaften, S. 12. 310 Text bei Mylius, Bd. VI, I, S. 155.

311

Zu alledem vgl. Coing, Quellen, Bd. 11/1 S. 670.

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men (Art. 2), teilnahmeberechtigt an der Gesellschafterversammlung waren ausschließlich Großaktionäre. Die Beschlußkompetenzen der Gesellschafterversammlung umfaßten die Wahl von Prüfern vor der Ausfahrt von Schiffen (Art. 3) sowie die Beratung über den Warenverkauf nach deren Rückkehr (Art. 4). Die Verwaltung und Geschäftsführung wurde durch vier Direktoren besorgt (Art. 6). Der Staat sicherte sich dadurch einen gewissen Einfluß, daß die Gesellschafterversammlung von einem königlichen Minister präsidiert wurde (Art. 4) 312. Ähnliche Regelungen finden sich im Octroi der 1769 gegründeten Emdener Heringskompagnie313. Hier waren die geschäftsführenden Direktoren von der Gesellschafterversammlung zu wählen (Art. 4), die im übrigen sowohl ergänzende Verwaltungsvorschriften zum Octroi erlassen (Art. 8) als auch die Kompagnie bei Nichterreichung des Gesellschaftszweckes auflösen durfte (Art. 19). Eine nähere Ausgestaltung des Beschlußfassungsverfahrens und Vorschriften zur Beschlußkontrolle fehlen aber jeweils. Festzuhalten ist, daß sich mit der zunehmend verbandsähnlichen Ausgestaltung der Gesellschaften die Bedeutung des Gesellschaftsvertrags erstmals insofern änderte, als zum einen nicht mehr der einzelne Gesellschafter im Vordergrund der vertraglichen Regelungen stand, sondern vielmehr auch die Ausgestaltung der inneren Organisation der Gesellschaften eine Umstrukturierung dahingehend erfuhr, daß die gesellschaftsinternen Arbeits- und Entscheidungsprozesse auf organähnliche Gremien delegiert wurden. Letztlich trat damit auch die Unternehmereigenschaft des einzelnen Gesellschafters praktisch vollständig hinter den Gesellschaftszweck als übergeordnetes Bindeglied zurück. Die Trennung zwischen Mitgliedschaft und persönlicher Mitarbeit in der Gesellschaft wurde spätestens hierdurch endgültig vollzogen. Auf diese Weise wurde auch die nunmehr ausdrücklich als solche bezeichnete Gesellschafterversammlung zum festen Bestandteil der Gesellschaftsstruktur, wenngleich der Umfang ihrer Rechte und Pflichten noch nicht eindeutig und abschließend zu bestimmen ist. Obwohl damit faktisch zwar eine Ausweitung ihrer Rechte verbunden war, wurden dem einzelnen Gesellschafter hierdurch keine weitergehenden Einflußmöglichkeiten zuteil. Im Gegenteil wurde nunmehr sogar eine Unterscheidung zwischen den Gesellschaftern anhand der Höhe der Beteiligung getroffen. So wurden aus der Anzahl der Meistbeteiligten die "Bewindhebber" (Direktoren) und die "Hauptpartizipanten" (eine Art Aufsichtsrat) gewählt, welche die maßgeblichen Befugnisse in der Gesellschaft unter sich aufteilten314.

312 Noch gravierender waren die staatlichen Einflußmöglichkeiten in der Seehandelsgesellschaft von 1772 (Text im Novum corpus constitutionum, V., S. 513), denn gemäß Art. 5 des Octrois wurden 7/8 der Aktien vom König gehalten und das geschäftsführende Direktorium wurde vom Staat eingesetzt (Art. 12). 313 Text im Novumcorpus constitutionum, IV., S. 6199. 314 Vgl Bösselmann, S. 58 f.;. s. a. Lehmann, Aktiengesellschaften, Bd. II, S. 336 ff.; ebenso Passow, Aktiengesellschaft, S. 389 f.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 73

Den Hauptpartizipanten stand die Kontrolle über die Geschäftsführung und Rechnungslegung sowie das Mitspracherecht bei der Beschlußfassung über wichtige Angelegenheiten zu. Die gemeinen Partizipanten waren dagegen darauf beschränkt, die Rechnungslegung mit anzuhören und gegenüber den Hauptpartizipanten etwaige Bedenken vorzubringen 315 . Im Ergebnis war damit Kapitaleignern mit geringer Beteiligung der Zugang zum Stimmrecht und damit zur Mitwirkung in Gesellschaftsangelegenheiten generell unmöglich gemacht. Hinzu kam der oben skizzierte, in allen Belangen weitreichende staatliche Einfluß auf die gesellschaftsinternen Entscheidungsprozesse, der den Gesellschaften eher den Charakter einer "obrigkeitlich geleiteten Anstalt" 316 verlieh als einem vom Mehrheitswillen seiner Mitglieder getragenen Unternehmen. Die Materie der Sonder- bzw. Individualrechte war aus diesem Grunde völlig unausgebildet. Staatliche Bevormundung ersetzte Rechtsnormen zum Schutze des einzelnen Gesellschaftsmitgliedes 317 . Allgemein kann festgestellt werden, daß mit der Umfunktionierung der Handelsgesellschaften zum Instrument staatlicher Wirtschaftspolitik eine Verlagerung der Beschlußkontrolle von innen nach außen, d. h. auf den Staat, erfolgte. Insgesamt läßt sich in den oktroyierten Gesellschaften in bezug auf die Beschlußkontrollrechte der Gesellschafter daher eine vergleichsweise rückläufige Entwicklung beobachten. Wirtschaftlich war den oben genannten Handelsgesellschaften nur ein mäßiger Erfolg beschieden. Wiederholte geschäftliche Fehlschläge, Mißstände bei der Verwaltung der Kompagnien und ihre häufige Monopolstellung machten sie zur Zielscheibe vehementer Kritik318 • Auch die zu dieser Zeit mit der Arbeit am AGB beschäftigten Reformer um den preußischen Großkanzler v. Carmer brachten ihre Mißbilligung zum Ausdruck, da die Verleihung von Handlungsprivilegien nicht mehr der unter dem Einfluß der Aufklärung gewandelten Wirtschaftspolitik entsprach. Ausgehend vom Grundsatz der natürlichen und staatsbürgerlichen Gleichheit aller, sollte nunmehr die Verleihung von Privilegien unter dem Vorbehalt einer besonderen Rechtfertigung stehen, soweit durch sie in die Rechte anderer eingegriffen oder vom eben genannten Grundsatz abgewichen würde; anderenfalls widerspräche sie den Grundforderungen des Vernunftrechtszeitalters 319. Insbesondere war es v. Carmer gelungen, mit Kar! Gottlieb Svarez einen bedeutenden und vom Geist der Aufklärung durchdrungenen Juristen zur Mitarbeit zu gewinnen, der die Reformbemühungen unterstützte und erklärte, daß "der Souverän ( ... ) nicht ohne Not [ ... ) der Industrie und Gewerbsamkeil der Untertanen Fesseln anlegen, durch übertriebene Begünstigung einiger weniger mit ausschließender Beilegung lukratiBösselmann, S. 58 f. m. w. N. So Lehmann, Entwicklung, S. 58; s. auch v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. I, S. 1002; Lauenstein, S. 4. 317 Zutr. Lehmann, Entwicklung, S. 63. 318 Vgl. hierzu Baums, Aktiengesellschaften, S. 17 f.; Reich, S. 240, beide mit Hinweis auf die besonders von A. Smith geäußerten Vorwürfe; s. auch Mohnhaupt, Untersuchungen, S. 93 m. w. N. 319 Mohnhaupt, Untersuchungen, S. 98 ff.; vgl. auch Baums, Aktiengesellschaften, S. 20. 315

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ver Monopolien die übrigen Klassen seiner Untertanen nicht drücken und ihnen die Wege zur Verbesserung ihrer Glücksumstände nicht versperren müsse" 320• Ihren Niederschlag fanden diese Gedanken auch im Gutachten Büschs, das auf Anforderung von v. Carmer im Jahre 1786 zum handelsrechtliehen Abschnitt des AGB erstellt wurde321 . Dieser sollte dann auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen ausgearbeitet werden. Auf den Fehlschlag dieser Bemühungen wird im folgenden einzugehen sein.

2. Die Organisation der Gesellschaften nach den gesetzlichen Vorschriften seit lnkrafttreten des ALR a) Erlaubte Privatgesellschaft und privilegierte Gesellschaft im ALR, insbesondere: Die Aktiengesellschaft Nach dem Scheitern des Allgemeinen Gesetzbuches unter der Regentschaft des reformunwilligen Friedrich Wilhelm II. im Jahre 1792 wurde ein großer Teil derjenigen Vorschriften des AGB, über die das Gedankengut der Aufklärung in das Rechtssystem und Justizwesen Preußens einfließen sollte, umgeschrieben oder ganz gestrichen. Trotz einiger bemerkenswerter Neuerungen vor allem auf verfassungsrechtlichem Gebiet, in denen das rechtsstaatliche Programm der Reformer seinen Niederschlag gefunden hatte322, war daher das ihnen vorgegebene Sozialmodell des späteren Allgemeinen Landrechtes für die preußischen Staaten dasjenige des alten Ständestaates323 . Dessen durch das Prinzip der Autorität geprägte hierarchische Ordnung wurde insbesondere im li. Teil des ALR zum Grundcharakteristikum der gesetzlichen Systematik. So ist es nicht verwunderlich, daß der Gesetzgeber sich auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechtes nicht zur gänzlichen Abschaffung des umstrittenen Privilegiensystems entschließen konnte. Statt dessen unterscheidet das ALR im zweiten Teil, sechster Titel, zwischen ,.erlaubten Privatgesellschaften"(§§ 11 ff.), ,.privilegirten Gesellschaften" (§§ 22- 24) und ,.Corporationen und Gemeinen" (§§ 25 ff.). Diese gesellschaftsrechtlichen Vorschriften zeigen schnell, daß den im Hinblick auf Aktiengesellschaften gestellten wirtschaftlichen Anforderungen nicht durch die Schaffung einer adäquaten Organisationsform Rechnung getragen wurde. So kannte das Allgemeine Landrecht zwar das Rechtsinstitut der Aktie (vgl. etwa§§ 12 I 2, 793 I 11, 415 I 12 ALR), nicht aber dasjenige der Aktiengesellschaft 324• Wenngleich sich das ALR insgesamt durch sprachliche Vollkommenheit und eine große Klarheit der Regelungen auszeichnete 325 , so war doch unter dem 320 32t 322 323 324

Mohnhaupt, Untersuchungen, S. 93 (Fn. 108). Ygl. Büsch, S. 605 ff. Ygl. hierzu Conrad, Das Allgemeine Landrecht, S. 6 ff. Ygl. Hattenhauer, ALR, S. 30 ff.; Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 298 ff. Landwehr, S. 4 m. w. N.

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gleichberechtigten Einfluß von römischem und einheimischem Recht sowie der Naturrechtslehre entstammenden Rechtsgedanken 326 eine eigentümliche Systematik entstanden, welche die Anwendung der gesellschaftsrechtlichen Vorschriften auf Aktiengesellschaften zumindest erschwerte. Danach war zwischen der in §§ 169 ff. I 17 ALR normierten, durch Vertrag entstehenden und materiellen Zwecken dienenden Gütergemeinschaft (societas bonorum) und den immateriell orientierten Personenverbänden (societates personarum) zu unterscheiden, zu denen die oben genannten Gesellschaften gehörten. Die Rechtsbeziehungen der erlaubten Privatgesellschaften, bei denen es sich nach dem Entwurf für ein allgemeines Gesetzbuch für die preußischen Staaten von 1784 um "staatlich geduldete" Vereinigungen 327 handelte, richtete sich entweder nach den allgemeinen Regeln für Personengesellschaften (§§ 12, 13 II 6; 169 ff., 183 ff. II 17 ALR) oder Handelsgesellschaften(§§ 16 II 6; 614 ff. II 8; 169 ff., 183 ff. II 17 ALR), sofern ein Handelsgewerbe betrieben wurde328 . Solchen erlaubten Privatgesellschaften untersagte allerdings § 13 II 6 ALR den Erwerb sowohl von Grundstücken als auch von beweglichem Vermögen in eigenem Namen. Als weitaus größeres Hemmnis stellte sich jedoch die Tatsache dar, daß die Beschränkung der Haftung für Verbindlichkeiten einer Gesellschaft auf deren Vermögen durch§ 91 II 6 ALR nur den "Corporationen" zugestanden wurde. Damit wird deutlich, daß die erlaubte Privatgesellschaft jedenfalls für einen solchen Kreis von Kapitalanlegern ungeeignet war, welche die Gründung von größeren Handelsgesellschaften mit wechselnder Beteiligung und einem beschränkten Verlustrisiko beabsichtigten329. Zwar existierten in Preußen -neben den bestätigten - sogar in der Rechtsform der AG solche Gesellschaften, denen mangels Gemeinnützigkeit kein Privileg verliehen wurde; zu den bereits genannten Problemen traten hier jedoch zusätzliche Schwierigkeiten bei der Ausgestaltung der inneren Organisation, denn weder war in den §§ 633 f. II 8 ALR die Bestellung von Geschäftsführern per Mehrheitsbeschluß in der Generalversammlung vorgesehen, noch war es wegen des häufigen Mitgliederwechsels praktisch möglich, daß ein etwaiges Direktorium die zum Nachweis seiner Geschäftsführungsbefugnis gemäß § 210 I 17 i.V.m. §§ 98 ff. I 13 ALR notwendige, von allen gegenwärtigen Gesellschaftsmitgliedern unterzeichnete Vollmacht hätte beibringen können 330. Für den Betrieb größerer Unternehmen war die nicht bestätigte AG daher ungeeignet. Im übrigen verweist § 614 II 8 ALR die dort geregelten Handelsgesellschaften ausdrücklich auf das Recht der Gütergemeinschaft. Zudem finden nach § 16 II 6 325

Vgl. Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 303m. w. N.

Vgl. Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 294; kritisch Schumacher, S. 5; zur Naturrechtslehre, insbes. zu S. Pufendorf neuerdings Schroeder, JuS 1995, 959 ff. 327 Baums, Aktiengesellschaften, S. 16. 328 Vgl. Landwehr, S. 7. 329 s. hierzu auch Baums, Aktiengesellschaften, S. 17; Obenaus, S. 21 f. 330 So zu Recht Schumacher, S. 31; vgl. auch die übrigen Ausführungen a. a. 0., S. 30 ff. 326

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ALR die Vorschriften des 6. Titels (und damit die für Corporationen geltenden §§ 25 ff. II 6 ALR) auf Handelsgesellschaften keine Anwendung, so daß für den Staat nach dem Wortlaut des ALR keine Möglichkeit bestand, einer Erwerbsgesellschaft die Rechte einer Corporation zu verleihen 331 . Dennoch erwiesen sich die Bedürfnisse des Wirtschaftslebens nach Aktiengesellschaften, die mit Korporationsrechten ausgestattet waren, als so stark, daß der Staat sich schließlich gezwungen sah, in Ausnahmefällen auch an Handelsgesellschaften per Einzelprivileg die Rechte der Korporationen und Gemeinen zu verleihen 332. Dies kam jedoch entsprechend § 25 II 6 ALR lediglich dann infrage, wenn die Gesellschaften der Verfolgung eines fortdauernden gemeinnützigen Zweckes dienten 333 . Sofern es an diesem Erfordernis fehlte, entstand mit der Genehmigung der Gesellschaft und der Bestätigung ihrer Statuten zwar eine "genehmigte" bzw. "privilegierte" Gesellschaft, die jedoch keine Korporationsrechte besaß(§§ 22, 25 ll 6 ALR)334. Durch das Privileg, d. h. die Verleihung von Korporationsrechten, erhielten die Gesellschaften u. a. die Rechte einer "moralischen Person" (s. a. § 81 II 6 ALR). Dieser ebenfalls der Naturrechtslehre entstammende Begriff diente zur Hervorhebung des Merkmals der sozialvertraglichen Begründung, auf der alle im Staate bestehenden personalen Verbindungen nach dieser Lehre beruhten 335 • Dabei war die moralische Person gerade keine- von der Gesamtheit der Mitglieder zu unterscheidende- juristische Person336, sondern lediglich eine Bezeichnung für die Gesamtheit der Gesellschafter hinsichtlich ihres Auftretens im Rechtsverkehr. Das Privileg bewirkte daher keine Zuordnung von Rechten und Pflichten zu einem anderen Rechtssubjekt, sondern lediglich die Anwendbarkeit einiger spezieller Vorschriften, die das Auftreten im Rechtsverkehr und im Prozeß erleichterten337 .

Gierke erblickte in den gesellschaftsrechtlichen Vorschriften des ALR einen "nicht nur äußerst wirren, sondern unheilbar widerspruchsvollen" Rechtszustand338, welcher der Entwicklung speziell des Aktiengesellschaftsrechts eine besondere Prägung verlieh. Denn unter den oben geschilderten Voraussetzungen erlangte zunächst nur ein kleiner Teil der Aktiengesellschaften die Rechte einer Korporation.

Schumacher, S. 8; vgl. auch Baums, Aktiengesellschaften, S. 17; Obenaus, S. 21 f. Schumacher, ebenda; Baums, Aktiengesellschaften, S. 20. 333 § 25 li 6 ALR: "Die Rechte der Corporationen und Gemeinen kommen nur solchen vom Staate genehmigten Gesellschaften zu, die sich zu einem fortdauernden gemeinnützigen Zwecke verbunden haben."; s. hierzu Schumacher, S. 8 f.; Baums, Aktiengesellschaften, S. 26 f.; Reich, S. 246. 334 Landwehr, S. 6. 335 s. Pufendorf, Bd. I, I, S. 12; vgl. auch Flume, juristische Person. § I; Baums, Aktiengesellschaften, S. 20 f. Zu Pufendorfs Vertragsrechtslehre vgl. ferner Lipp. S. 141 ff. 336 Unrichtig daher Obenaus, S. 22; ebenso Lauenstein, S. 8. 337 Baums, a. a. 0 .. S. 21 f. 338 v. Gierke, Genossenschaftstheorie, S. 105. 331

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Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die besondere Situation, die sich in aktienrechtlicher Hinsicht ergab, als das Rheinland im Jahre 1815 an Preußen fiel. Trotz einiger Bemühungen, das ALR auch in den neuerworbenen Provinzen einzuführen, blieben dort zunächst mit dem französischen Handelsrecht auch die Bestimmungen des Code de commerce von 1807 in Kraft339• Wie eingangs angedeutet, wurde durch dieses Gesetz erstmalig die Aktiengesellschaft als Rechtsinstitut einer fest umrissenen - wenn auch mit I 2 Artikeln nicht ins einzelne gehenden Regelung unterworfen 340, wodurch eine Abgrenzung zu den bisherigen Kapitalvereinigungen (Reederei, Genossenschaft, Gewerkschaft etc.) überhaupt erst möglich wurde. Eine weitere entscheidende Errungenschaft dieses Regelungswerkes besteht in der Einführung der auf den Betrag der Vermögenseinlage beschränkten Haftung der Gesellschaftsmitglieder341 • Das Erfordernis staatlicher Genehmigung, das auch in Frankreich der in der Vergangenheit geübten Rechtspraxis entsprach, wurde vom Code de commerce in Gestalt des Art. 37 übernommen. Im übrigen ließen die rudimentären Regelungen in jeder denkbaren Hinsicht weitgehende Gestaltungsfreiheit für die rechtliche Ausgestaltung einer AG. Da dies auch für den Geltungsbereich des ALR zutraf342 , bestanden in der inneren Organisation zwischen den dort gegründeten Aktiengesellschaften und denen der Rheinprovinz praktisch keine Unterschiede 343 • Im Gegenteil verdrängte der französische Typus der AG zunehmend die alten staatlichen Kompagnien, die schon kurz nach Beginn des 19. Jahrhunderts die Organisation der später gegründeten Gesellschaften nicht mehr beeinflußten 344 . Bei den folgenden Ausführungen soll daher nicht zwischen den Gesellschaften der unterschiedlichen gesetzlichen Geltungsbereiche unterschieden werden, zumal ohnehin mit dem Inkrafttreten des Aktiengesetzes von I 843 dessen Bestimmungen an die Stelle des Code de commerce traten. Die Entwicklung der inneren Organisation hat sich vor allem in den vom Staate bestätigten Aktiengesellschaften vollzogen, da für deren rechtliche Ausgestaltung keine gesetzlichen Beschränkungen existierten und sie demzufolge ihre Rechtsverhältnisse den praktischen Bedürfnissen anpassen konnten345 . Sie dürfen somit als

Ausführlich Bösselmann, S. 63. Zu Recht betont Bösseimann an dieser Stelle, daß der Code die AG nicht neu geschaffen, sondern nur den gesetzlichen Rahmen für ein rechtstatsächlich bereits bestehendes Institut vorgegeben hat. S. hierzu auch Lehmann, geschichtliche Entwicklung, S. I f. 341 In Art. 33 des Code heißt es für die ..societe anonyme": ..Die Gesellschafter können dabey nicht mehr einbüßen, als den Betrag ihres Anteils an der Societät". Text nach einer Übersetzung von 1808; vgl. Bösselmann, S. 203 (Anlage 4). 342 s. hierzu unten c). 343 Im einzelnen war sowohl der Aufbau der Gesellschaften als auch die Bezeichnungen für deren Organe weitgehend identisch, vgl. hierzu Sehrt, S. 54. 344 Vgl. Bösselmann, S. 60. 345 Schumacher, S. 9; Coing, Quellen, Bd. 3/111, S. 2980 f.; Lauenstein, S. 9; Landwehr, S. 21. 339 340

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eigentliche Vorläufer der heutigen AG gelten; die Suche nach den Möglichkeiten der Kontrolle von Gesellschafterbeschlüssen hat sich aus diesem Grund an den gesetzlichen Bestimmungen des ALR und den Statuten dieser Gesellschaften zu orientieren. aa) Gesellschafterversammlung und Geschäftsführung Sofern einer Gesellschaft die Rechte einer Korporation verliehen wurden, richtete sich ihre innere Organisation gemäß § 26 II 6 ALR "hauptsächlich nach den bey ihrer Errichtung geschlossenen Verträgen, oder ergangenen Stiftungsbriefen; nach den vom Staate erhaltenen Privilegien und Concessionen; und nach den auch in der Folge unter Genehmigung des Staats abgefaSten Schlüssen". Maßgeblich war demnach u. a. die unter staatlicher Kontrolle durchgeführte Beschlußfassung in Gesellschaftsangelegenheiten. Die §§ 42 ff. II 6 ALR enthalten zahlreiche Vorschriften zu den "inneren Rechten" einer Korporation. Hierbei fallt zunächst auf, daß sich im ALR keine Regelung findet, welche die Einrichtung einer Gesellschafterversammlung oder ihr verwandten, in Gesellschaftsangelegenheiten entscheidungsbefugten Institution ausdrücklich vorschreibt. Aus den §§ 51 ff. II 6 ALR können diesbezüglich jedoch im Wege der Auslegung einige Anhaltspunkte gewonnen werden. So bestimmt § 52 II 6 ALR, daß über "gewöhnliche Vorfälle" ein Beschluß der "in dieser Versammlung gegenwärtigen Mitglieder" zu entscheiden habe. Für "außerordentliche Vorfälle" sieht § 53 II 6 i.V.m. § 54 II 6 ALR den Entscheid "sämmtlicher Mitglieder" in der Versammlung vor. Dem Sinnzusammenhang dieser Vorschriften 346 ist folglich zu entnehmen, daß der Gesetzgeber grundsätzlich von einer Beschlußfassung in der Gesellschafterversammlung ausging347 • Ausdrückliche Kompetenzzuweisungen an das Gesellschafterplenum finden sich im 6. Titel des II. Abschnittes ALR trotzdem nur vereinzelt. Neben dem oben zitierten Grundsatz des § 26 II 6 ALR sind ergänzend folgende allgemeine Vorschriften heranzuziehen: "§ 51. Die innern Angelegenheiten einer Corporation werden durch Berathschlagungen und Schlüsse der Mitglieder angeordnet." "§ 86. Die Ausübung der äußern Gesellschaftsrechte wird durch Schlüsse der Corporation angeordnet."

Im übrigen finden sich weder Vorschriften darüber, wie häufig eine Gesellschafterversammlung stattzufinden habe, noch werden weitere hiermit zusammenhängende Fragen wie Zugangsberechtigung, Stimmrechtsverteilung, organisatorischer Ablauf etc. normiert. Zu dieser Auslegungsmethode s. Larenz, Methodenlehre, li. 4, 2. b). Das Vorhandensein einer Gesellschafterversammlung ergibt sich ferner aus folgenden Vorschriften des II. Abschn., 6. Titel ALR: §§ 115; 136; 140; 142; 168. 346 347

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 79 Im Ergebnis war es den Gesellschaften damit weitestgehend freigestellt, durch die Statuten sowohl einen Katalog von Entscheidungskompetenzen für die Gesellschafterversammlung als auch die jeweiligen verfahrensmäßigen Inhalte festzulegen. Lediglich in Einzelfragen der gesellschaftlichen Ordnung war eine Entscheidung der Gesellschafterversammlung zwingend vorgesehen: §§ 64 ff. (Kapitalerhöhung), § 70 (Verwaltung und Nutzung des Gesellschaftsvermögens), § 115 (Bestellung von Repräsentanten),§ 136 (Bevollmächtigung der Repräsentanten),§ 140 (Wahl der Vorsteher),§ 167 (Wahl der Beamten). Aus dem Gegenschluß zu§ 180 II 6 ALR ergibt sich ferner, daß die Auflösung der Gesellschaft nur mit Zustimmung aller Gesellschafter (vorbehaltlich der staatlichen Genehmigung) betrieben werden konnte. Die Verteilung der Geschäftsführungsbefugnisse in den Gesellschaften des preußischen Allgemeinen Landrechts findet sich in den Vorschriften des sechsten Titels, zweiter Teil ALR nicht ausdrücklich geregelt. Dies überrascht jedoch insofern nicht, als nach der oben erläuterten Konzeption des ALR eine Verleihung von Korporationsrechten an Handelsgesellschaften nicht vorgesehen war. Für die Schaffung einer Möglichkeit, im Namen der Gesellschaft Handelsgeschäfte zu tätigen, bestand daher bei den Korporationen keine Notwendigkeit. Dementsprechend finden sich Vorschriften zu Fragen der Geschäftsführung lediglich im achten Titel des zweiten Teils des ALR, der "von Handlungsgesellschaften" spricht. § 633 II 8 ALR geht dabei grundsätzlich von der alleinigen Geschäftsführungsbefugnis jedes Gesellschafters aus. Für die Korporationen sieht das ALR die "Ausübung der äußern Gesellschaftsrechte" durch die Beschlüsse der Gesellschaft vor (§ 86 II 6 ALR), d. h. das Auftreten der Gesellschaft im Rechtsverkehr wurde grundsätzlich durch die Gesellschafterversammlung bestimmt. Für das nähere Verfahren bestimmte § 87 II 6 ALR die Anwendung der Vorschriften über die "innern Angelegenheiten", d. h. wiederum die §§ 51 ff. II 6 ALR. Fakultativ konnten gemäߧ§ 114 ff. II 6 ALR sog. Repräsentanten von der Gesellschafterversammlung gewählt werden. Diese erhielten durch entsprechende Bevollmächtigung (§ 136 II 6 ALR) einen Vertreterstatus, der sie zur Wahrnehmung der "äußern Rechte der Gesellschaft" sowie der "Besorgung der Geschäfte derselben" berechtigte (§ 117 II 6 ALR). Die Funktion einer Art Aufsichtsrat nahmen der gesetzlichen Regelung zufolge die Vorsteher wahr (§§ 137 ff. II 6). Die Bestellung zumindest eines Vorstehers war gemäß § 137 II 6 ALR in jeder Gesellschaft zwingend. Zur Hauptaufgabe dieser Personen gehörte es neben der Wahrung der "guten Ordnung in den Geschäften und Verhandlungen" (§ 141 II 6 ALR), darauf zu achten, daß "nichts wider die Stiftungsgesetze, und wider die Rechte des Staats vorgenommen und beschlossen werde" (§ 143 II 6 ALR). Letztlich wurden ihnen mit der Durchführung von Gesellschafterversammlungen (Abfassung von Tagesordnungspunkten, Protokollierung von Beschlüssen etc.) auch organisatorische Aufgaben übertragen (§ 143 II 6 ALR).

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Für die Verwaltung des Gesellschaftsvennögens sahen die §§ 147 ff. II 6 ALR schließlich die Möglichkeit der Bestellung von Beamten vor. Nach der Konzeption des ALR bestand damit die Möglichkeit, Leitung und Verwaltung in den Korporationen in einen vierteiligen Aufbau der Gesellschaftsorganisation -Gesellschafterversammlung, Vorsteher, Repräsentanten und Beamte - zu integrieren. Daß mit dieser Verteilung auch eine Umgestaltung einiger gesellschaftsinterner Entscheidungsfindungsprozesse verbunden war, liegt auf der Hand und wird durch die folgenden Ausführungen verdeutlicht. bb) Die Beschlußfassung und deren Kontrolle Für "Berathschlagungen und Schlüsse" nonnierten §§ 51 ff. II 6 ALR die wesentlichen fonnellen Anforderungen. Bemerkenswert scheint hierbei die Tatsache, daß sich zur Frage der Stimmrechtsverteilung keinerlei Regelungen finden. § 52 II 6 ALR, der vom "Schluß der in dieser Versammlung gegenwärtigen Mitglieder" ausgeht, könnte daher so interpretiert werden, daß jedes Gesellschaftsmitglied, unabhängig von der Höhe der erbrachten Einlage, eine Stimme besaß. Die tatsächlich geübte Gesellschaftspraxis wich jedoch in erheblichem Umfang von diesem Verteilungsschlüssel ab 348 . Die Wahrnehmung des Stimmrechts durch Bevollmächtigte war gemäß § 60 li 6 ALR ausdrücklich zulässig. Für die Wirksamkeit der von der Gesellschafterversammlung gefaßten Beschlüsse mußten je nach Gewicht der zu entscheidenden Angelegenheit unterschiedliche Voraussetzungen etfüllt sein. "Gewöhnliche Vorfalle" wurden nach der (einfachen) Mehrheit der in der Versammlung anwesenden Gesellschafter entschieden (§§ 52, 62 II 6 ALR). Hiervon ausgenommen war der Beschluß einer Kapitalerhöhung, der gemäß § 64 li 6 ALR von allen Gesellschaftern einstimmig zu fassen war. Für außerordentliche Vorfälle, "deren Verhandlungen in den Stiftungsgesetzen den ordinairen Versammlungen nicht beygelegt ist", sah § 53 li 6 ALR die ausdrückliche Einladung sämtlicher Gesellschafter vor, wobei gleichzeitig mit der Einladung der Gegenstand der Beschlußfassung angezeigt werden konnte. War dies der Fall, so war die Gesellschafterversammlung ohne Rücksicht auf die tatsächlich erschienene Anzahl der Teilnehmer beschlußfähig (§ 54 II 6 ALR). Diejenigen Angelegenheiten, welche nur Gegenstand einer außerordentlichen Beschlußfassung sein konnten, wurden im ALR ausdrücklich bezeichnet349 . Sofern eine Bekanntmachung des Beschlußgegenstandes bei der Einladung nicht vorgenommen wurde, verlangte § 55 II 6 ALR für gültige Beschlüsse die Anwesenheit von mindestens 2/ 3 der Gesellschafter. Sowohl Verstöße gegen die Einladungspflicht als

Vgl. dazu unten cc). Vgl. bereits oben: §§ 115 (Bestellung von Repräsentanten), 136 (deren Bevollmächtigung), 140 (Wahl der Vorsteher), 168 (Wahl der Beamten). 34M

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auch eine Beschlußfassung unter Nichtbeachtung der erforderlichen Mehrheitsverhältnisse im o.g. Fall sanktioniert § 56 II 6 ALR mit der Nichtigkeit des jeweiligen Beschlusses. In welchem Umfang die Beschlüsse der Gesellschafterversammlung materiellen Anforderungen zu genügen hatten, wird durch die §§ 51 ff. II 6 ALR ebensowenig geregelt wie die Frage nach den Möglichkeiten und dem Verfahren einer Inhaltskontrolle. Daß eine solche jedoch wohl nicht in der Hand der Gesellschafter selbst lag, ergibt sich zum einen daraus, daß zur Überwachung der Rechtmäßigkeit von Beschlüssen gemäߧ 143 II 6 ALR die Vorsteher verpflichtet waren; zum anderen sicherte sich der Staat in § 26 II 6 ALR mittels eines Genehmigungsvorbehalts eine generelle Einflußmöglichkeit auf die gesellschaftsinterne Entscheidungsfindung, die im einzelnen auch in anderen Vorschriften ausgeformt war (vgl. §§ 44, 63, 66, 97, 163 II 6 ALR). Angesichts dieser weitreichenden staatlichen Kontrolle erübrigte sich aus damaliger Sicht letztlich auch eine Einrichtung von gesellschaftsinternen Kontroll- bzw. Minderheitsrechten.

b) Das Eisenbahngesetz von 1838 Mit der beginnenden Industrialisierung und dem Aufkommen des kapitalträchtigen Verkehrswesens 350 spätestens seit dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts wurden die Femhandelsgesellschaften, insbesondere die Kolonialgesellschaften zunehmend durch die Eisenbahngesellschaften verdrängt351 • Mit Inkrafttreten des "Gesetzes über die Eisenbahnuntemehmungen" vom 3. 11. 1838 wurde die Gründung dieser Gesellschaften auf eine spezialgesetzliche Grundlage gestellt, ohne daß jedoch für die innere Ordnung dieser Gesellschaften von den Regelungen des ALR abweichende Vorschriften erlassen wurden 352 • Durch§ 2 Nr. 5 ALR, der die Ausgabe von Aktien und die Pflichten der :leichner regelt, wird lediglich ein "Vorstand der Gesellschaft" vorausgesetzt.

c) Das preußische Aktiengesetz von 1843 Die bereits oben geschilderten wirtschaftlichen Nachteile der nichtbestätigten Aktiengesellschaften und die Diskussion um deren undurchsichtige Rechtslage ließen eine gesetzliche Regelung in diesem Bereich als notwendig erscheinen 353 . In 350 Zur Bedeutung der Wirtschaftsgesellschaften bei der Entwicklung des Verkehrswesens Coing, Quellen, Bd. 3/lll. S. 2970 ff. 351 Vgl. hierzu Coing, ebenda, S. 3004. In der Zeit von 1800-1850 sind die Gründungen von nur noch zwei reinen Handelsgesellschaften verzeichnet, s. Bösselmann, S. 189. Vgl. ferner zur Bedeutung der Eisenbahngesellschaften Schumacher, S. 14 ff.; Bösseimann S. 86 ff. 352 s. a. Landwehr, S. 8. 353 Schumacher, S. 42. 6 Emmerich

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Preußen war deshalb seit 1826 eine Kommission des Gesetzgebungsministeriums354 im Rahmen einer Revision des Handelsrechts mit einer Überarbeitung des Aktienrechts befaßt. Nachdem dieses Vorhaben zunächst nicht über eine Materialsammlung hinausgelangt war, forderte man bei der Berliner Kaufmannschaft ein Gutachten 355 ein, das sich mit der Frage beschäftigen sollte, inwiefern aufgrund der mangelnden Gesetzgebung über Aktiengesellschaften in Preußen spezialgesetzliche Regelungen erforderlich seien. Das Ergebnis dieser Vorarbeiten, der 1829 fertiggestellte erste Entwurf eines revidierten Handelsrechts, enthielt jedoch lediglich allgemeine Vorschriften und keine Bestimmungen zu Handelsgesellschaften356. Maßgeblich an den Beratungen beteiligt war u. a. der Finanzminister Graf v. Alvensleben, der sich vor allem seit 1837 mit der nach wie vor ungeklärten Rechtslage der nicht bestätigten Aktiengesellschaften befaßte. v. Alvensleben hatte 1835 bereits Vorschläge zur Erarbeitung eines Aktiengesetzes zusammen mit einem Ersuchen um die Einrichtung einer Kommission zur Bearbeitung des Gesetzes an Minister v. Kamptz überreicht, auf dessen Vorschlag die "VIII. Deputation der allgemeinen Gesetzesrevision" durch allerhöchste Kabinetts-Order vom 13. 7. 1837 beauftragt wurde, weitere Sachverständige hinzuzuziehen und einen vollständigen Gesetzentwurf auszuarbeiten 357 . Neben den früher angesammelten Materialien diente ftir deren Beratungen das am 29. I. 1829 fertiggestellte Gutachten der Berliner Kaufmannschaft als wesentliche Arbeitsgrundlage 358 . Am 31 . I. 1840 wurde der Gesetzentwurf zusammen mit den Motiven 359 von der Kommission vorgelegt. Nach weiteren Überarbeitungen durch mehrere Minister360 und das Staatsministerium überreichte der König den nach den Beschlüssen des Staatsministeriums gefertigten Entwurf dem Staatsrat, der die Materie in vier Sitzungen behandelte 361 . Am 9. November 1843 wurde schließlich der Vorschlag des Staatsrates als "Gesetz über die Aktiengesellschaften" vom König in Kraft gesetzt. Die Verfassung der AG wurde durch das Aktiengesetz von 1843 indes nicht abschließend geregelt. Vorgesehen waren lediglich die landesherrliche Bestätigung

3~ Dieses Ministerium war mit der 1817 angeordneten Überprüfung der gesamten Gesetzgebung Preußens auf Erneuerungsbedürftigkeit beauftragt, kam wegen der Schwerfälligkeit des Verwaltungsapparates aber nur sehr langsam voran; vgl. auch Schurnacher, S. 47 (Fn. 39); Baums, Aktiengesellschaften, S. 29. m Abgedruckt bei Gans, S. 177 ff. Nach Schurnacher, S. 38, handelt es sich um die älteste Arbeit in Deutschland, die sich eingehender mit dem Recht der AG beschäftigte. 3~ Vgl. Baums, Aktiengesellschaften, S. 30. m Schumacher, S. 47; Baums, Aktiengesellschaften, S. 30; Reich, S. 251. 3SS Hinzugezogen wurden ferner hauptsächlich die sächsischen Landtagsakten sowie französisches Schrifttum und das holl. HGB von 1838; vgl. Schurnacher, S. 47. 3S9 Beides abgedruckt bei Baums, Aktiengesellschaften, S. 47 ff. 360 v. Kamptz, Mühler, v. Rochow und v. Alvensleben. 361 Abdruck der Sitzungsprotokolle bei Baums, Aktiengesellschaften, S. 167 ff.

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(§ 1 Abs. 2) und gerichtliche bzw. notarielle Beurkundung des Gesellschaftsvertrages, der Bestimmungen enthalten sollte über die "Form, in welcher die Zusammenkunft der Mitglieder erfolgt", "die Art und Weise, wie das Stimmrecht von den Mitgliedern ausgeübt wird" und "die Gegenstände, über welche schon durch einfache Stimmenmehrheit oder nur durch eine noch größere Anzahl von Mitgliedern Beschluß gefaßt werden kann" ( § 2 Nr. 6- 8).

Der Beschluß, für die innere Organisation der Aktiengesellschaft keinerlei Bestimmungen in das Gesetz aufzunehmen, war schon bei den Vorarbeiten der Kommission gefaßt worden. Letztlich wurden damit wesentliche Anregungen des Berliner Gutachtens vor allem für die innere Organisation der AG außer Acht gelassen, obwohl gerade dieser Bereich zu den darin schwerpunktmäßig behandelten Fragen gehörte. So geht das Gutachten - zwar nicht unter ausdrücklicher Verwendung des Begriffes, jedenfalls aber im Ergebnis 362 - davon aus, daß die AG durch Organe, (Vorstand und Generalversammlung) vertreten werde, die diese Stellung auch im Innenverhältnis besäßen. Entsprechend wurde erstmals bei der Generalversammlung nicht von Beschlüssen der Gesellschafter gesprochen, sondern ausdrücklich festgestellt: "Alle Angelegenheiten der Gesellschaft werden durch Beschlüsse der Gesellschaft bindend für jeden Actionair, nach der absoluten nicht relativen Stimmenmehrheit betrieben"363 . Gleichzeitig war damit auch eine Forderung für die bei einer Beschlußfassung erforderlichen Mehrheitsverhältnisse aufgestellt. Immerhin im Ansatz werden diese Vorstellungen im Aktiengesetz von 1843 aufgegriffen, indem § 28 Abs. 2 Nr. 3 bestimmt, daß die Gesellschaft "durch statutenmäßigen Beschluß der Mitglieder, mit landesherrlicher Bestätigung" aufgelöst wird. Damit war klargestellt, daß als höchstes Organ der AG die Versammlung der Aktionäre fungieren sollte 364 . Im Ergebnis war jedoch das gesamte Verfahren der Beschlußfassung nebst den damit zusammenhängenden Fragen weiterhin einer RegeJung in den Statuten der Gesellschaften überlassen 365 . 3. Die innere Organisation in den Statuten der Aktiengesellschaften

Nach dem oben Gesagten lassen sich die wesentlichen Erkenntnisse über die rechtliche Ausgestaltung der Gesellschaften in erster Linie aus deren Statuten als dem eigentlichen Gesellschaftsvertrag gewinnen 366 . Die Pflicht zur Veröffentlichung desselben wurde erst in Preußen durch das Aktiengesetz von 1843 einer einheitlichen Regelung unterzogen 367 • Vorher wurde in der "Gesetz-Sammlung für die Vgl. auch Landwehr, S. 27. Gutachten, S. 186; vgl. auch Schumacher, S. 40. 364 So zutreffend Landwehr. S. 9. 365 Vgl. auch Schumacher, S. 47 m. w. N.; Lauenstein S. 15. 366 Ebenso Bösselmann, S. 74. 367 In Harnburg existierte bereits 1835 eine Verordnung, welche die öffentliche Hinterlegung der Gesellschaftsstatuten vorschrieb, s. Coing, Quellen, Bd. 3/IJI, S. 3007 m. w. N. 362 363

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Königlichen Preußischen Staaten" eine Veröffentlichung der Statuten nur dann vorgenommen, wenn der Gesellschaft Privilegien oder andere Sonderrechte verliehen wurden368• Auch für den Geltungsbereich des Code de commerce war eine Veröffentlichung der Gesellschaftsstatuten in einem amtlichen Register oder einer Gesetzsammlung nicht vorgeschrieben; jedoch bestimmten die Art. 37,40 und 45 des Code, daß der Gesellschaftsvertrag nur durch einen öffentlichen Akt errichtet werden konnte und 3 Monate lang in den Kanzleien der zuständigen Gerichte ausgehängt werden rnußte 369• Sehrt hat später insbesondere die Organisation der Aktiengesellschaften unter dem Code de Commerce - d. h. der in der Rheinprovinz ansässigen Gesellschaften -einer eingehenden Betrachtung unterzogen 370• Auch im übrigen Preußen wurden seit dem lnkrafttreten des ALR eine erhebliche Anzahl von Aktiengesellschaften gegründet 371 ; dennoch sind- soweit ersichtlich - in der "Gesetzsammlung für die Königlichen Preußischen Staaten" bis zur Verabschiedung des Aktiengesetzes von 1843 die Statuten von lediglich sechs Aktiengesellschaften veröffentlicht, deren älteste, die ,,Ritterschaftliche Privatbank von Pommern" [PP-AG] 372 im Jahre 1824 bestätigt wurde 373 .

a) Untersuchungsgrundlagen: Die "dreigliedrige" Gesellschaft als Hauptform der AG-Organisation Obwohl sich die preußischen Aktiengesellschaften an den gesetzlichen Vorgaben des ALR (später auch des Aktiengesetzes von 1843) orientieren mußten, konnBösselmann, ebenda. Sehrt, S. 40. 370 ,,Die niederrheinischen Aktiengesellschaften unter dem Code de commerce" (1912); s. dort insbes. S. 53 ff. Die Aufzählung Sehrts ist allerdings lückenhaft. In den Beständen des Archivs der IHK Köln befindet sich eine Statutensammlung aus dem Jahre 1856, die vor allern bei den späteren Aktiengesellschaften über den Umfang der von Sehrt veröffentlichten Materialien hinausgeht. Soweit noch nicht veröffentlicht. werden hier auch die darin enthaltenen Gesellschaftsverträge mitberücksichtigt. 371 Vgl. die Übersicht bei Bösselmann, S. 189 ff.; vgl. auch die Zahlen bei Baums, Aktiengesellschaft, S. 26. 372 Dieser und die folgenden Kürzel werden der besseren Übersicht halber für Zitate aus den Statuten dieser Gesellschaften verwandt; vgl. hierzu auch das Quellenverzeichnis. 373 Vgl. Gesetzsammlung 1824, S. 169 ff. Bei den fünf übrigen Statuten handelt es sich um folgende Eisenbahngesellschaften: - Berlin-Sächsische [BS-AG] (Gesetzsammlung 1839, S. 177 ff.), - Bonn-Kölner [BK-AG] (Gesetzsammlung 1840, S. 31 ff.), - Oberschlesische [OS-AG] (Gesetzsammlung 1841, S. 234 ff.), - Berlin-Frankfurter [BF-AG] (Gesetzsammlung 1841, S. 94 ff.), - Magdeburg-Halberstädter [MH-AG] (Gesetzsammlung 1841, S. 58 ff.). 368 369

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ten sie - wie die Gesellschaften des Code de commerce - die vor allem für die innere Organisation eingeräumte weitgehende Gestaltungsfreiheit nutzen, um eine praxisgerechte Unternehmensleitung und -verwaltung zu verwirklichen. Entsprechend unterschiedliche Ausformungen und Strukturen finden sich in der Verwaltung aller Gesellschaften. Landwehr hat sich in seiner Untersuchung der Statuten bis 1870 in Preußen gegründeter Aktiengesellschaften angenommen und die Strukturunterschiede im einzelnen herausgearbeitet 374 . Der den Gesellschaften vom Gesetz für die Ausgestaltung der Verfassung eingeräumte Spielraum war schon deshalb vorteilhaft, weil die Vorschriften des ALR und des AktG spätestens mit dem aufkommenden Liberalismus, d. h. der Abkehr vom Merkantilismus und der Einführung der Gewerbefreiheit, auf den Boden einer Wirtschaftspolitik fielen, die sich auch unter dem Einfluß der fortschreitenden Industrialisierung stark veränderte. Die bis dahin in der Verwaltung und Leitung der Gesellschaften deutlich vorhandenen ,.aristokratischen Züge"375 wurden zugunsten einer Um- und Neuverteilung von Zuständigkeiten zurückgedrängt, was eine zunehmende ,,rechtliche Demokratisierung"376 der Gesellschaften nach außen zur Folge hatte. Tatsächlich waren demgegenüber die Strukturen der gesellschaftsinternen Entscheidungstindung jedoch noch weit von einer demokratischen Durchdringung entfernt. Bezüglich der Unternehmensverwaltung forderte das Aktiengesetz von 1843 in § 19 lediglich, daß die Geschäfte der Gesellschaft von einem nach den Vorschriften des Statuts zu wählenden Vorstand geleitet werden. Darüber hinaus ist in § 2 Nr. 6 AktG 1843 von einer ,,Zusammenrufung der Mitglieder" und damit im Ergebnis von einer Gesellschafterversammlung als maßgeblichem Beschlußkörper die Rede. Obwohl das AktG 1843 damit von einer zweigliedeigen Gesellschaftsorganisation ausging, besaß in der gesellschaftsrechtlichen Praxis die weitaus überwiegende Zahl der Aktiengesellschaften einen dreigliedrigen Aufbau, bestehend aus Generalversammlung, Direktion und Verwaltungsrat377 . Da sich in ihrer Organisation 374 Bei den 124 untersuchten Gesellschaften stützt Landwehr sich hauptsächlich auf die in der Preußischen Gesetzsammlung veröffentlichten Statuten. Grundlegend unterscheidet er zwischen folgenden Organisationstypen (S. 27 ff.): I. Schlicht zweigliedrige Gesellschaft (Vorstand und Generalversammlung); 2. Modifiziert-zweigliedrige Gesellschaft (Verwaltungsrat, Generaldirektor und Generalversammlung); 3. Dreigliedrige Gesellschaft (Direktion, Verwaltungsrat und Generalversammlung). Die Mehrzahl der Aktiengesellschaften gehörten wohl letzterem Typus an, vgl. auch Landwehr, S. 38 (Fn. 162).

Unter den a. a. 0., S. I 05 ff. aufgezählten Gesellschaften fehlt lediglich das Statut der ,.Fünften Rostocker See-Versicherungs-Gesellschaft" von 1862 375 Vgl. hierzu Martens, S. 14 ff. 376 Martens, S. 20. m Durch die z. T. abweichende Bezeichnung im Statut ergaben sich in funktionaler Hinsicht keine wesentlichen Abweichungen.

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bereits im Ansatz die Verfassung der heutigen AG widerspiegelt, sind für die vorliegende Abhandlung besonders diese dreigliedrigen Gesellschaften von Interesse. Untersuchungsgrundlage für die Frage nach dem Beschlußfassungsverfahren sowie den Möglichkeiten der Kontrolle und Einflußnahme innerhalb der Entscheidungsprozesse sind die insbesondere bei Hocker sowie in der preußischen GesetzSammlung veröffentlichten Statuten von Aktiengesellschaften. Im Interesse der gebotenen Vollständigkeit beschränkt sich die Darstellung dabei nicht auf die Aktiengesellschaften Preußens und der Rheinprovinz, sondern bezieht - soweit vorhanden - auch die Statuten der im übrigen Deutschland gegründeten Gesellschaften mit ein. b) Beschlußverfahren und Kontrollmöglichkeiten Mit den durchgreifenden Änderungen in der Verwaltungsstruktur der Aktiengesellschaften waren zwingend auch Umgestaltungen im Verfahren der Beschlußfassung verbunden. Namentlich war es die Ausbildung mehrgliedriger Gesellschaftsformen, die - wie gezeigt - zur Schaffung neuer bzw. Umverteilung bestehender Kompetenzen und der zu ihrer Wahrnehmung notwendigen Beschlüsse führte. Freilich sind angesichts der hier u. a. zu untersuchenden Entstehung des § 243 AktG vor allem die Beschlüsse der Gesellschafterversammlung bzw. deren Kontrolle von besonderem Interesse. Angesichts des vielgestaltigen Zusammenwirkens und der z. T. erheblichen Kompetenzüberschneidungen bei den Gesellschaftsorganen wäre eine dahingehende Beschränkung der vorliegenden Untersuchung jedoch verfehlt. Eine Einbeziehung der Beschlüsse von Verwaltungsrat und Direktion scheint daher angebracht. aa) Direktion Einen wesentlichen Teil der Unternehmensverwaltung in den Aktiengesellschaften bildete die Direktion (auch: Direktorium). Zwar hatte sich die von der Vorschrift des § 19 AktG 1843 gewählte Bezeichnung "Vorstand" noch nicht durchsetzen können, mit der Geschäftsführung erfüllte die Direktion aber die durch § 19 AktG 1843 normierte Funktion. Gleichzeitig nahm sie damit eine Befugnis wahr, die noch in den Kolonialgesellschaften zumindest teilweise zum Aufgabenbereich der Generalversammlung gehört hatte und dieser nunmehr endgültig entzogen wurde. In allen Gesellschaften war die Direktion sowohl geschäftsführungs- als auch gegenüber Dritten vertretungsbefugt ,,Die Direktion leitet nach bester Einsicht alle Geschäfte und Angelegenheiten der Gesellschaft: Sie vollzieht unter Beobachtung des Statuts alle Handlungen, welche ihr [ . . . ] zur Erreichung des Gesellschaftszweckes dienlich und erforderlich scheinen'm8 . 378 So (statt aller) das Statut der BK-AG; Gesetzsammlung 1840, S. 38; s. a. Landwehr, S. 38 ff.

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Nach Befugnissen und Funktionen können für die Direktion daher bereits gewisse Parallelen zum Vorstand der heutigen AG gezogen werden379. Die Direktion wurde in den Statuten - neben Generalversammlung und Verwaltungsrat - häufig als "Organ" der Gesellschaft bezeichnet380, so daß man annehmen könnte, die Lehre Savigny's von der juristischen Person sei zu diesem Zeitpunkt von der gesellschaftsrechtlichen Praxis bereits rezipiert worden. Gleichwohl zeigt sich, daß die Direktoren im Innenverhältnis als Bevollmächtigte der Gesellschaft angesehen wurden, daher nur im Rahmen der statuarisch festgelegten Grenzen und Aufgaben handlungsbefugt waren381 und insofern auch die Möglichkeit einer Beschränkung der Vertretungsmacht nach außen bestand. Weder konnten somit die Aktiengesellschaften dieser Zeit nach heutigem Verständnis als juristische Personen gelten noch waren die mit ihrer Leitung und Verwaltung befaßten Gremien als Organe im Sinne von Personen bzw. einer Mehrzahl von Personen anzusehen, welche nach der Verfassung einer juristischen Person deren Handlungsfahigkeit begründet382 . In der Regel bestand die Direktion aus drei oder mehr Mitgliedern, nur in wenigen Gesellschaften 383 war ein einzelner ,.vollziehender Direktor" vorgesehen. Die nähere Ausgestaltung des im Direktorium vorgesehenen Beschlußverfahrens war nach den hier untersuchten Statuten keineswegs selbstverständlich. Zahlreiche Gesellschaften begnügten sich mit deklaratorischen Hinweisen auf die Befugnisse der Direktion bzw. der lapidaren Feststellung, daß selbige durch "Erlasse" handele384. Andere Statuten überantworten die Regelung des Beschlußverfahrens einer Geschäftsordnung385 . Die Mehrzahl der Gesellschaftsverträge stellt jedoch für die wesentlichen Modalitäten zumindest grundlegende Regelungen auf. So ist zunächst nahezu durchgehend vorgesehen, daß sich die Direktion zur Wahrnehmung ihrer Funktionen in regelmäßigen Abständen 386 versammeln sollte. In diesen Sit-

Vgl. §§ 76 Abs. I, 77 Abs. I, 78 Abs. I AktG. Vgl. etwa Hocker, S. 386 (MCM, § 16): •.Die verfassungsmäßigen Organe der Gesellschaft sind: [ .. . ]", weiter aufS. 388 (§ 27): ,,Die Direktion [ ... ] ist das handelnde und vollziehende Organ [ ... ]", jedoch lediglich "innerhalb der durch die Statuten, durch das vom Verwaltungsrate bestimmte Geschäftsreglement, und durch die von demselben festgesetzte Bureauordnung gegebenen Grenzen und Formen."; ähnlich S. 84 (CGCG). 381 Vgl. Hocker, S. 359 (LuxiBa); S. 127 f. (DBS); S. 601 (ThüBa); S. 61 (BraBa); s.a. CLCV, § 24 sowie StromVers-AG,§ 34; AM-AG,§ 46; MFV-AG, § 37; ebenso Pöhls, S. 187; Manens, S. 19. 382 Näher zum Organbegriff Flume, juristische Person,§ II I. m. w. N. 383 s. nur Hocker, S. 330 (LAdCA). 384 So etwa Statut der Prinz-Wilhelm-Eisenbahngesellschaft, § 17. 385 Vgl. z. B. bei HockerS. 242 (GoBa); ferner NZ-AG, § 39; NB-AG, § 38 Abs. I, ähnlich PNV-AG, § 39. 386 Diese waren im einzelnen sehr unterschiedlich. Einige Direktorien versammelten sich, so oft der Geschäftsbetrieb es erforderte, andere im Abstand von einer, zwei oder vier Wo379 380

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zungen wurden die zur statutenmäßigen Geschäftsführung notwendigen Maßnahmen gewöhnlich im Wege der Beschlußfassung getroffen. Etwas anderes galt naturgemäß nur in denjenigen Gesellschaften, deren innere Organisation lediglich einen ausführenden bzw. Generaldirektor oder eine "bureaumäßige" Leitung des Geschäftsbetriebes, d. h. die Entscheidungstindung ohne formelles Beschlußverfahren vorsah 387 . In einigen Statuten war auch vorgesehen, daß der Vorsitzende des Direktoriums solche Geschäftsführungsangelegenheiten, die nach seinem pflichtgemäßen Ermessen keines formellen Beschlusses aller Direktoren bedurften, allein entscheiden konnte. Über diese Angelegenheiten hatte er jedoch dem Direktionsplenum Bericht zu erstatten 388 . In der Regel bestand die Direktion der Aktiengesellschaften jedoch aus mehreren Personen, so daß sich hier die Frage nach der ftir eine wirksame Beschlußfassung notwendigen Anzahl anwesender Mitglieder stellt. Die von Sehrt für die Gesellschaften im Geltungsbereich des Code de Commerce getroffene Feststellung, daß bei Direktorien mit mehr als drei Mitgliedern deren vollzählige Anwesenheit für die Beschlußfähigkeit dieses Gremiums nicht erforderlich gewesen sei 389, kann indes auch für die preußischen Aktiengesellschaften Geltung beanspruchen. Deren Statuten unterscheiden sich bezüglich der o.g. Voraussetzungen nur in Einzelheiten 390. Die Anwesenheit aller Direktoren wurde nur ausnahmsweise verlangt 391 • Zur Entscheidung eines Beschlußgegenstandes im Direktorium verlangen die Gesellschaftsverträge - sofern dazu eine Aussage getroffen wird - grundsätzlich die einfache, d. h. die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Andere Mehrheiten wären schon deshalb wenig praktikabel gewesen, weil keine Gesellschaft mehr als neun Direktoren besaß. Entsprechend einheitlich sind daher die diesbezüglichen Angaben in den Statuten 392 . In Ausnahmefallen-insgesamt jedoch äußerst selten eben. Ein Großteil der Gesellschaften verlangt lediglich ,,regelmäßige" Sitzungen der Geschäftsleitung. 387 Vgl. etwa PNV-AG, § 38 Abs. I; PW-AG, § 17; ähnlich FFB-AG, § 48; s. ferner Hokker, S. 9 (AVG). 388 So z. B. BF-AG, § 58 S. I; BS-AG, § 58 S. 2; KMTV-AG, § 45 Abs. I ; MH-AG, § 67 s. I. 389 S. 57; vgl. außer den bei Sehrt untersuchten Gesellschaften auch CLV-AG, § 23 Abs. I; HSEW-AG, § 18 Abs. 2. 390 Vgl. KME-AG, § 65; MFV-AG, § 46; StromVers-AG, § 32; RDS-AG, § 19; AM-AG, Art. 43; BLW-AG, Art. 35; NB-AG,§ 38; AD-AG, Art. 48; BF-AG, §57; Thü-AG, §51; WB-AG,§ 39 Abs. 3; BS-AG, §57; BK-AG,§ 36 Abs. 2; StaPo-AG, § 41; MüHa-AG, § 22 Abs. 3; OS-AG, § 46 Abs. 2; BM-AG, § 44; KMTV-AG, § 43; MH-AG, § 65; BH-AG, § 54 Abs. I; NZ-AG, § 39 Abs. 2; bei Hockers. S. 62 (BraBa); S. 109 (DBHI); S. 128 (DBS); S. 138 (DL); S. 242 (GoBa); S. 602 (ThüBa). 391 KS-AG, § 34 Abs. I; wohl auch Zoo-AG, § 30 (grds. alle Direktoren anwesend); NBAG,§ 39; Hocker, S. 241 (GoBa); s. auch Sehrt, S. 57. 392 Thü-AG, §51 Abs. 2; KS-AG, § 34 Abs. I; Zoo-AG, § 30 Abs. 2; MFV-AG, § 46; AM-AG, Art. 43; AD-AG, Art. 48; BH-AG, §54; StromVers-AG,§ 32; WB-AG,§ 39 Abs. 2; StaPo-AG, § 41; MüHa-AG, § 22 Abs. 2; OS-AG, § 46 Abs. 2; BM-AG, § 44 S. 4; BK-AG, § 36 Abs. I; BS-AG, §57; BF-AG, §57; MH-AG, § 65; KMTV-AG, § 43; NB-AG,§ 38

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- ist eine einstimmige Beschlußfassung vorgesehen393 . Für den Fall der Stimmengleichheit geben die Gesellschaftsverträge ebenso einheitlich wie im oben genannten Fall der Stimme des Vorsitzenden den Ausschlag394. Neben den bereits genannten Kriterien stellen die meisten Statuten auch einige formelle Anforderungen an die Wirksamkeit der vom Direktorium gefaßten Beschlüsse. In erster Linie ist dabei die häufig vorgesehene Protokollierung der Beschlüsse zu nennen. Diese wurde vorgenommen, indem alle Anwesenden (oder zumindest der Vorsitzende) die in einer Sitzung gefaßten Beschlüsse unterzeichneten; z. T. wurden die Protokolle zusätzlich in ein Verzeichnis eingetragen 395• Einige Gesellschaften ersetzten die Protokollierung durch die öffentliche Bekanntgabe der Beschlüsse. Gegen die Beschlußfassung des Direktoriums konnten i.d.R. weder von den Direktoren selbst noch von seiten der Aktionäre Rechtsbehelfe geltend gemacht werden, d. h. eine Kontrolle auf direktem Wege war grundsätzlich nicht vorgesehen. Einige Gesellschaften räumten aber dem Vorsitzenden der Direktion eine Art materielles Prüfungsrecht ein, indem sie ihm gestatteten, seinem Ermessen nach unzweckmäßige Beschlüsse auf eigene Verantwortlichkeit zu suspendieren396• Allerdings handelt es sich eben nur um eine Zweckmäßigkeits-, nicht um eine Rechtmäßigkeitskontrolle. Ob sich dieses suspensive Veto auch auf rechts- oder statutenwidrige Beschlüsse erstreckte, läßt sich anhand der Aussagen eines einzigen der hier untersuchten Statuten lediglich vermuten und kann daher im übrigen nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden. Im Statut der Hergiseh-Märkischen Eisenbahngesellschaft von 1844 heißt es in§ 45 S. 1: "Der Spezial-Direktor ist berechtigt und verpflichtet in allen Fällen, wo er in dem Beschlusse der Direktion das Interesse der Gesellschaft in bedeutendem Grade für gefährdet erachtet, an den Verwaltungsrath zu appelliren." Machte der Vorsitzende von seinem Vetorecht Gebrauch, so war die Angelegenheit unverzüglich dem Verwaltungsrat zur Entscheidung vorzulegen. Allein in diesen Fällen konnte dieser somit die Beschlußfassung des Direktoriums mittelbar kontrollieren bzw. beeinflussen. Dagegen konnte Abs. 2; RDS-AG, § 19 S. 3; BLW-AG, § 35 S. 2; NZ-AG, § 39 Abs. 2; KME-AG, § 66; CLVAG, § 23 Abs. I S. 4; HSEW-AG, § 18 Abs. 2 S. I ; Hocker, S. 62 (Braßa); S. 109 (DBHI); S. 128 (DBS); S. 138 (DL); S. 225 (GB); S. 242 (GoBa); S. 360 (LuxiBa); S. 602 (ThüBa). 393 Vgl. etwa Hocker, S. 237 (GoBa): Vergabe von Krediten in Höhe von mehr als 6000 Talern; s. a. Sehrt, S. 57. 394 Vgl. Fn. 392. m Sehrt, S. 57; BK-AG, § 36 Abs. 2, 3; KMTV-AG, § 46; MH-AG, § 68; BM-AG, § 44 S. 6; AM-AG, Art. 43 S. 3; AD-AG, Art. 48 S. 3; BH-AG, § 54 Abs. 4; WB-AG, § 39 Abs. 3: MüHa-AG, § 22 Abs. 4; OS-AG, § 46 Abs. 3; StromVers-AG, § 32 Abs. 3; KMEAG, § 67; RDS-AG, § 19; BLW-AG, Art. 35; CLV-AG, § 23 Abs. 2; HSEW-AG, Art. 18 Abs. 2, 3; auch die Mehrzahl der bei Hocker abgedruckten Bankstatuten sieht eine Protokollierung der Beschlüsse vor. 396 MH-AG, § 66; KMTV-AG, § 44; BK-AG, § 35 Abs. 4; BS-AG, § 59 S. 2; BF-AG, § 59 S. 2; ähnlich BM-AG, § 45.

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der Verwaltungsrat durch sein bereits erörtertes Abberufungs- bzw. Suspensionsrecht allenfalls indirekt kontrollierenden Einfluß auf die Geschäftsführung ausüben. Soweit ersichtlich einzige Ausnahme ist die Vorschrift des § 59 Abs. 2 lit. d) im Statut der Gothaer Bank aus dem Jahre 1856, wo bestimmt wird, der Verwaltungsrat könne "[ ... ] gegen Verfügungen der Direktion, welche für unstatthaft oder schädlich erachtet werden, Einsprache erheben mit der Wirkung, daß die Ausführung unterbleibt, wenn in der alsbald zu berufenden Sitzung (des Verwaltungsrates, der Verf.) zwei Drittheile sämmtlicher Mitglieder dafür stimmen"397 . Um der Gefahr einer weitgehend unkontrolliert handelnden Direktion zu begegnen, normierten vor allem zahlreiche Banken eine im Kern der heutigen Vorschrift des § 93 Abs. 2 AktG entsprechende Schadensersatzpflicht für Direktionsmitglieder, die durch "Beschlüsse, Geschäfte oder Handlungen" die Statuten oder die Gesellschaftsinteressen vorsätzlich oder fahrlässig verletzten398 • Im Falle der übrigen Aktiengesellschaften war die Haftung der Direktoren dagegen auf Vorsatz und I oder grobe Fahrlässigkeit beschränkt399; beim weitaus überwiegenden Teil fehlten solche Bestimmungen in den Statuten jedoch ganz. Dies fcillt allerdings nur wenig ins Gewicht, denn angesichts der Tatsache, daß die Direktion in den meisten Gesellschaften faktisch nur das ausführende Organ des Verwaltungsrates war, dürften sie ohnehin eher deklaratorischen Charakter gehabt haben. Ob die Vorschriften darüber hinaus als Instrument der Beschlußkontrolle geeignet gewesen wären, die verbreitet herrschenden Mißstände in der Verwaltung der Aktiengesellschaften zu beseitigen, darf letztlich bezweifelt werden. bb) Verwaltungsrat Als effizientes Gegengewicht zur Direktion, zur wirksamen Überwachung ihrer Geschäftsführung und zum Ausgleich des Machtgefälles zwischen Direktion und der Generalversammlung sahen seit Beginn des 19. Jahrhunderts fast alle Statuten die Bildung eines {auch als Verwaltung, Ausschuß, Administrationsrat bezeichneten) Verwaltungsrates vor400, obwohl dessen Einrichtung als Kontrollorgan angesichts des von staatlicher Seite ausgeübten Einflusses in den Gesellschaften nach dem Aktiengesetz von 1843 nicht obligatorisch war.

Hocker, S. 244. Vgl. bei Hocker LuxiBa, § 24 S. 4; HB, § 23 Abs. 3; RoBa, § 92; GB, § 58 Abs. 2; WeiBa, § 50 S. 2; DBHI, § 24 S. 4; DBS, § 24 S. 4; BraBa, § 40 Abs. 2; DL, § 29; ThüBa, § 48 Abs. 2; MCM, § 30; SchaBan, § 31; HLB, § 26 S. 2; bei den Eisenbahngesellschaften ähnlich nur KMTV-AG, § 47 S. I; MH-AG, § 69 S. I. 399 Vgl. etwa MFV-AG, §54; MüHa-AG, § 25 Abs. 3; NB-AG,§ 41; BF-AG, §54 S. 2; ThÜ-AG, § 56. 400 Eine Eigenart des französischen Rechts bestand darin, daß die Bezeichnungen für Direktion und Verwaltungsrat vertauscht waren, letzterer also die Geschäftsführung bildete. Letztlich ergaben sich aber keine inhaltlichen Unterschiede. 397

398

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 91

Berücksichtigt man allerdings die Tatsache, daß man die Generalversammlung zur Übernahme dieser Kontrollfunktionen als nicht fähig erachtete401 , so blieb als Alternative nur die Schaffung eines Gremiums, welches sowohl über die notwendige Präsenz als auch über die einschlägige Sachkenntnis und die erforderlichen Kompetenzen zur Durchsetzung von Kontrollmaßnahmen gegenüber der Direktion verfügte402 . Gleichzeitig findet sich hierin auch ein möglicher Erklärungsansatz für das deutliche Überwiegen der dreigliedrigen Gesellschaft als effektivster Form der U nternehmensverwaltung. Als "Vertreter der Gesellschaft in ihren innem und äußern Rechten"403 war der Verwaltungsrat in erster Linie mit der Beschlußfassung in Gesellschaftsangelegenheiten sowie der Überwachung der Geschäftsführung der Direktoren befaßt404 . Eine darüber hinaus abschließende Aufzählung der wesentlichen Funktionen des Verwaltungsrates scheitert schon daran, daß die Gesellschaften in Ermangelung einer gesetzlichen Regelung bei seiner Ausgestaltung in den Statuten in jeder Hinsicht frei waren. Die vom Verwaltungsrat wahrgenommenen Aufgaben reichten daher von denjenigen einer Rechnungsprüfungskommission405 über umfassende Mitwirkungs- und Zustimmungsbefugnisse bei der Untemehmensverwaltung406 bis hin zu selbständigen Geschäftsführungsaufgaben im Außenverhältnis407 . Soweit in den Statuten ausdrücklich betont wird, daß der Verwaltungsrat nicht an der ausführenden Unternehmensverwaltung teilnehme408 , kann diese Feststellung daher nur für einen geringen Teil der Gesellschaften gelten. Die in den Statuten anzutreffenden Regelungen über die Beschlüsse des Verwaltungsrates ähneln in weiten Teilen den für die Direktion aufgestellten Grundsätzen, was angesichts der z. T. unklaren Grenzziehung und den sich überschneidenden Kompetenzen der beiden Organe nicht überrascht.

Vgl. oben aa) die Ansichten der zeitgenössischen Praktiker. Ebenso Löwenfeld, S. 259 f. Anders Pöhls, S. 193, der sich nachdrücklich gegen die Einrichtung eines Kontrollgremiums zur Überwachung des Direktoriums aussprach, " ... schon weil nie zu billigen ist, was auf Mißtrauen beruht." 403 OS-AG,§ 35; ebenso Landwehr, S. 42 m. w. N. 404 Vgl. auch Landwehr, S. 42. 405 WB-AG,§ 51 Abs. I. 406 In § 39 Nr. 10 ff. des Statuts der 1841 gegründeten Berlin-Frankfurter Eisenbahn-AG war z. B. dem Verwaltungsrat ausdrücklich die "Mitwirkung und resp. Genehmigung" beim Abschluß unterschiedlicher Verträge eingeräumt, wobei unklar bleibt, wie weit die Mitwirkungsbefugnisse im einzelnen gehen konnten. Vgl. ferner OS-AG,§ 39; PW-AG, § 21; ThüAG, § 41; CLV-AG, § 38; bei Hockers. nur S. 330 (LAdCA). Ausführlich hierzu auch Landwehr, S. 43 ff. Vgl. ferner die Ausführungen zur Gewinnausschüttung oben aa). 407 So etwa Hocker, S. 373 (MaPriBa, § 43): "Der Verwaltungsrath ist berechtigt, über Alles, was das Interesse der Gesellschaft anbetrifft, Verträge [ ... ] abzuschließen." Vgl. hierzu auch Landwehr, S. 42 f. m. w. N. Zur Unterscheidung von Geschäftsführungsmaßnahmen im Innen- und Außenverhältnis s. ferner Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, Rn. 28 f. 408 Vgl. z. B. CLV-AG, § 39; KME-AG, §58. 401

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l. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

Zur Beschlußfassung des Verwaltungsrates waren die ordentlichen Sitzungen vorgesehen, die jeweils vom Vorsitzenden einberufen werden mußten. Genau wie im Falle des Direktoriums sind hierfür in den einzelnen Statuten höchst unterschiedlich ausfallende Abstände vorgesehen409. Die Einberufung außerordentlicher Sitzungen stand unter Beachtung des Gesellschaftsinteresses bzw. der Notwendigkeiten des Geschäftsbetriebes im Belieben des Vorsitzenden. In nahezu allen Gesellschaften hatte auch das Direktorium ein Recht, die Veranstaltung einer außerordentlichen Sitzung beim Verwaltungsrat zu beantragen. Zur Beschlußfähigkeit des Verwaltungsrates wurde wie im Falle der Direktion nie die Anwesenheit aller Mitglieder verlangt410 . Gewöhnlich war jedoch vorgeschrieben, daß mindestens ein Mitglied mehr als die Hälfte des Verwaltungsrates anwesend sein sollte, um das Vorhandensein einer tragfähigen Mehrheit zu gewährleisten. Bedenklich erscheint daher die Regelung in § 45 des Statuts des A. Schaafhausen'schen Bankvereins, in dem 7 von 15 Mitgliedern als ausreichend erachtet werden411 . Das Zustandekommen eines wirksamen Beschlusses erforderte- soweit ersichtlich ohne Ausnahme - jeweils die einfache Mehrheit der Anwesenden. Soweit die Statuten auf den Fall einer Stimmengleichheit eingehen, wird durchgehend der Stimme des Vorsitzenden der Ausschlag gegeben. Die Protokollierung der Sitzungen und Unterzeichnung der Beschlüsse durch die Anwesenden gehörte ebenfalls zu den gängigen formalen Kriterien einer wirksamen Beschlußfassung. Die nunmehr zu stellende Frage nach einer Kontrolle der Beschlußfassung des Verwaltungsrates beantwortet sich angesichts dessen mangelnder vorzeitiger Abrufbarkeit nahezu selbst: Eine Beschlußkontrolle fand in aller Regel nicht statt. Letztlich gestatteten lediglich drei der hier untersuchten Gesellschaften, Beschlüsse des Verwaltungsrates einer Nachprüfung zu unterziehen. So sah im Falle der Berlin-Sächsischen Eisenbahn-AG § 45 Abs. 4 des Gesellschaftsstatutes vor, daß der Vorsitzende des Verwaltungsrates über einen zweifelhaften Beschluß die Entscheidung einer außerordentlichen Generalversammlung herbeiführen konnte. Im A. Schaaffhausen'schen Bankverein und bei der Hornburger Landesbank besaß ein staatlicher Kommissar ein suspensives Vetorecht, welches Verwaltungsratsbeschlüsse bis zur Entscheidung des Finanzministeriums bzw. der Landgräflichen Regierung außer Kraft setzen konnte412 • 409 Zumeist waren regelmäßige Sitzungen vorgesehen, wobei die Spanne hier von einmal monatlich bis vierteljährlich reichte. Einige Gesellschaften ließen den Verwaltungsrat tagen, so oft dessen Vorsitzender es für notwendig erachtete. 410 Einzige Ausnahme ist die Wilhelms-Bahngesellschaft, dessen dreiköpfiger Verwaltungsrat stets vollzählig anwesend sein mußte, wobei allerdings zwei Mitglieder Vertreter entsenden durften. 411 Vgl. im übrigen aber statt aller BF-AG, § 45 Abs. 2 S. 2; MüHa-AG, § 31 Abs. 2; BMAG, § 60 Abs. I S. 3; AD-AG, Art. 61 S. 1; BH-AG, § 48 Abs. 3 S. 1; AM-AG, Art. 79 S. I; BK-AG,§ 48 Abs. I; s. ferner bei HockerS. 61 (BraBA); S. 126 (DBS); S. 140 (DL); S. 256 (HB); S. 268 (HLB); S. 357 (LuxiBa); S. 387 (MCM); S. 556 (RoBa); S. 601 (ThüBa); S. 617 (WeiBa).

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 93

Dieser ebenso banale wie bedenkliche Befund unterstreicht nochmals in jeder Hinsicht die ausgesprochene Machtkonzentration auf seiten des Verwaltungsrates. Angesichts der ihm in allen wesentlichen Belangen zustehenden weitreichenden Entscheidungsbefugnisse war dieser - obwohl formal von der Generalversammlung gewählt - in der Sache wohl weniger eine wirksame Kontrollinstanz als vielmehr eine Interessenvertretung der Großaktionäre413 , wozu auch die oben genannten Zugangs- und Stimmrechtsbeschränkungen nicht unerheblich beitrugen. Bis auf die wenigen angeführten Ausnahmen war der Verwaltungsrat bei einer entsprechenden Abfassung des Gesellschaftsvertrages damit in der Lage, praktisch jede beliebige Geschäftsführungsmaßnahme zur Ausführung zu bringen und damit das wirtschaftliche Schicksal der Gesellschaft maßgeblich zu beeinflussen. Daß dies häufig gegen das Interesse des Unternehmens geschah, wird durch die Geschichte der AG belegt. cc) Generalversammlung (1) Beschlußkompetenzen und Stimmrechtsverteilung

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts war die Gesellschafterversammlung in Form der "Generalversammlung" zur festen Institution in den Aktiengesellschaften geworden. Dabei hatte sich- soweit ersichtlich ohne Ausnahme- ein einmaliger Versammlungstermin pro Jahr als feste Regelung durchgesetzt414 • Die Teilnahmeberechtigung an der Generalversammlung wurde in einem Teil der Gesellschaften zusammen mit dem Besitz an mindestens einer Aktie erworben415 . Da viele Gesellschaften ausschließlich Namensaktien emittierten, war als zusätzliches formales Erfordernis z. T. die Eintragung des Aktienbesitzes in den "Büchern der Gesellschaft", d. h. im Aktienregister vorgeschrieben. Nicht selten finden sich jedoch auch Zugangsbeschränkungen der Art, daß bereits der Zutritt zur Generalversammlung vom Besitz einer vorgegebenen Anzahl von Aktien abhängig gemacht wurde416 . Die hierbei geforderten Zahlen bewegen Vgl. Hocker, S. 572 (SchaBan) bzw. S. 268 (HLB). So zutreffend auch Maasch-Feisel, S. 68. 414 Vgl. statt aller bereits das Statut der PP-AG,§ 24; für einen Teil der untersuchten Gesellschaften i. E. Landwehr, S. 28; vgl. auch Pöhls, S. 194. 415 Vgl. etwa folgende Statuten bei Hocker: S. 64 (BraBa); S. 141 f. (DL); S. 149 f. (DCIH); S. 226 (GB); S. 258 (HB); S. 265 f. (HLB); S. 328 (LACA); S. 408 (NBH); S. 557 (RoBa); S. 629 (LCVB); ferner in der preuß. Gesetzsammlung BF-AG, § 27; BS-AG, § 28; WB-AG, § 28; BM-AG, § 67; Zoo-AG, § 22; PW-AG, § 29; KS-AG, § 18; RDS-AG, § 8; Pöhls, S. 375 (LB). 416 Vgl. Hocker, S. 84 (CGCG); S. 110 (DBHI); S. 129 (DBS); S. 245 (GoBa); S. 361 (Lux!Ba); S. 603 (ThüBa); S. 619 (WeiBa); ferner Statutensammlung S. 24 (FFB-AG); S. II (CFR-AG); S. 17 (HSEW-AG) sowie preuß. Gesetzsammlung, OS-AG,§ 28; MH-AG, § 25; BK-AG,§ 19 i.V.m. § 20; Thü-AG, § 26; NZ-AG, § 24; weitere Beispiele bei Sehrt, S. 72. 412 413

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1. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

sich zwischen vier und zwanzig Stück. In der Mehrzahl der Statuten waren zehn Aktien vorgeschrieben - eine Regelung, welche Kleinaktionäre ohne entsprechende Beteiligung zu bloßen Geldgebern degradierte. Pöhls bemerkte kritisch, daß die Gesellschaften auf diese Weise der Verpflichtung zu entgehen versuchten, jeden Aktionär zur Generalversammlung einladen zu müssen. Diese "Unbequemlichkeit, die bei größeren Gesellschaften, deren Capital in kleine und deshalb sehr viele Aclien zerfallt, mit der Abstimmung verbunden ist", dürfe aber nicht zu einer Verletzung der Rechte nicht stimmfähiger Aktionäre führen417, zumal die zur Rechtfertigung dieser Zugangsbeschränkungen vorgebrachte Begründung- je größer der Aktienbesitz, desto größer die Sorge um das Wohl der Gesellschaft -nicht tragfähig sei418 . Dem geschmälerten Einfluß der Kleinanleger versuchte man auf der anderen Seite durch die Einführung von Höchststimmrechten zu begegnen419, was aber angesichts der festgesetzten Grenzen und des möglichen Einsatzes von Strohmännem420 eher eine - wie Pöhls konzedierte- "beruhigende" Wirkung hatte. Über Anlaß und Zeitpunkt der Einberufung außerordentlicher Generalversammlungen hatte in den meisten Gesellschaften der Verwaltungsrat oder das Direktorium zu befinden421 . Darüber hinaus bestand bereits in zahlreichen Gesellschaften auch für Minderheiten von Aktionären die Möglichkeit, durch schriftlichen und begründeten Antrag die Anberaumung außerordentlicher Versammlungen zu verlangen422. Die hierbei festgesetzten Quoren waren von Gesellschaft zu Gesellschaft unterschiedlich und bewegten sich zwischen vertretbaren423 und solchen Mindestzahlen, die für die Wahrnehmung des genannten Minderheitsrechts eher hinderlich waren424 . Pöhls, S. 199. Ders., S. 198 f. 419 Dazu im einzelnen unten. 420 Zu dieser Problematik eingehend Löwenfeld, S. 292 ff. 421 Vgl. nur folgende Statuten bei Hocker: S. 63 (BraBa); S. 149 (DCIA); S. 193 (DoPriBa); S. 226 (GB); S. 258 (HB); S. 266 (HLB); S. 290 (KöPriBa); S. 370 (MaPriBa); S. 390 (MCM); S. 408 (NBH); S. 628 (LCVB); ferner in der preuß. Gesetzsammlung BS-AG, § 24; BK-AG,§ 51; OS-AG, § 26; BF-AG, § 24; MH-AG, § 23 (Der Verwaltungsrat trägt hier die Bezeichnung "Ausschuß", s. hierzu unten cc.); BH-AG, § 31; PW-AG, § 27; KS-AG, § 21; StromVers-AG,§ 45; RDS-AG, § 9; vgl. weiterhin Sehrt, S. 71; allgemeiner Pöhls, S. 194. 422 So bei Hocker, S. 149 (DCIH); S. 226 (GB); S. 258 (HB); S. 370 (MaPriBa); S. 408; preuß. Gesetzsammlung, RDS-AG, § 9; BLW-AG, Art. 23; PW-AG, § 27; StromVers-AG, § 45; PNV-AG, §53; Vgl. ferner in der Statutensammlung CFR-AG (1855), Art. 39; HSEWAG (1856), Art. 22; WW-AG (1862), § 34 sowie alle Statuten der MBH-AG seit 1870. 423 Nach Sehrt, S. 71 war etwa bei der 1841 gegründeten Kölnischen Dampfschleppschifffahrtsgesellschaft ein Antrag von 20 Aktionären mit einem Aktienbesitz von insgesamt 100 Stück erforderlich. Die Regelung des bei Hocker, S. 226 abgedruckten Statuts der Geraer Bank (hier § 69) verlangt einen Antrag von Aktionären, deren Anteile mindestens 200,- des 4 Mio. Taler betragenden Grundkapitals repräsentieren und entspricht damit genau der heute von§ 122 Abs. I S. I AktG geforderten Quote. 424 So verlangte das Statut der Dessauer Credit-Anstalt für Industrie und Handel den sechsten Teil der ausgegebenen Aktien und damit mehr als 6500 der insgesamt 40.000 Aktien. 417 418

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 95

Auch hier zeigt sich also die Bestrebung, kapitalmäßig schwächer beteiligten Gesellschaftern den Zugang zur Generalversammlung und damit die Teilnahme an der Beschlußfassung zu erschweren. Die genannten Beschränkungen erstreckten sich indes nicht nur auf die Teilnahme an sich, denn auch das Stimmrecht in der Generalversammlung war im weitaus größten Teil der Gesellschaften an den Besitz von mehr als einer Aktie425 geknüpft. Auch hier waren im einzelnen unterschiedliche Grenzen gezogen; die geforderten Stückzahlen, die gewöhnlich zwischen fünf und zwanzig lagen, lassen aber bei einem Nennbetrag zwischen I 00 und 4000 Talern pro Aktie erkennen, daß von seiten der Gesellschaften wenig Interesse bezgl. einer Mitwirkung kapitalschwächerer Kleinanleger an der gesellschaftsinternen Entscheidungstindung bestand. Die Anzahl der Stimmen wurde nach der Stückzahl der Aktien bemessen, wobei Stimmrechtsbeschränkungen die Regel waren. Diese wurden zum einen in Gestalt eines Höchststimmrechtes durch Festlegung einer maximalen Anzahl von zur Stimmabgabe berechtigenden Aktien vereinbart426, zum anderen gestattete der Gesellschaftsvertrag mitunter auch nur den Erwerb einer beschränkten Stückzahl von Aktien427 • Entsprechend der gesetzlichen Bestimmung des § 60 II 6 ALR war die Wahrnehmung des Stimmrechts durch bevollmächtigte Vertreter in allen Gesellschaften zugelassen, was auch den praktischen Bedürfnissen einer bei steigender Anzahl von Gesellschaftern zunehmend unpraktikableren persönlichen Stimmabgabe entsprach. Die Wahl der Vertreter war allerdings auf stimmberechtigte Aktionäre derselben Gesellschaft beschränkt428 • Der hinsichtlich der Zulässigkeil einer Vertretung gesetzwidrige429 § 24 S. 3 des Statuts der Ritterschaftlichen Privatbank von 1824 blieb bis zur Reorganisation der Gesellschaft im Jahre 1833 ohne Beanstandung. Im Gegensatz zu der noch in den Kolonialgesellschaften üblichen Praxis besaß die Gesellschafterversammlung der zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründeten

m Vgl. bereits Gesetzsammlung 1833, S. 7 (PP-AG); BS-AG, § 27; BK-AG, § 20; BFAG. § 27; MH-AG, § 25; OS-AG, § 28; WB-AG, § 28; BM-AG, § 67; lbü-AG, § 26; NZAG. § 24; BH-AG, § 33; PW-AG, § 29; RDS-AG, § 10; AM-AG, Art. 22; StaPo-AG, § 21; MüHa-AG, § 38; NB-AG, § 24; KMTV-AG, § 15; AD-AG, Art. 30; s. ferner die ganz überwiegende Anzahl der bei Hocker veröffentlichten Statuten; ohne Nennung von Stückzahlen Sehrt, S. 72. 426 Auch diesbezüglich schwankte die Stückzahlgrenze der Aktien im einzelnen; einige Gesellschaften gewährten maximal 20, die meisten jedoch nur I 0 oder weniger Stimmen. Höhere Stimmenzahlen wie etwa im Statut der KME-AG, § 39 (55 Stimmen) oder gar ein unbeschränktes Stimmrecht wie im Statut der HSEW-AG (Art. 23) sind seltene Ausnahmen. 427 Vgl. nur§ II des Statuts der Zoo-AG: ..ein und derselbe Aktionair darf nicht mehr als fünf Aktien besitzen." 428 Vgl. statt aller das Statut der MH-AG, § 25; zu weiteren Beschränkungen der Vertretungsmöglichkeit Sehrt, S. 72. 429 •.Es kann dies Recht (i. e. das Stimmrecht, d. Verf.) nur in Person und durch keinen Bevollmächtigten ausgeübt werden."; s. Gesetzsammlung 1824, S. 173.

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I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

Gesellschaften keine umfassenden Zuständigkeiten mehr. Beschlüsse derselben waren über den vom ALR festgelegten Rahmen hinaus nur noch in den durch die Satzung bestimmten Punkten vorgesehen. Hauptsächlich war dies der Fall bei - Änderungen und Ergänzungen des Statuts, - Erweiterung des Gesellschaftszwecks (insbes. bei den Eisenbahngesellschaften: Anlage von Zweigbahnen), - Aufnahme von Darlehn, - Annullierung früherer Beschlüsse der Generalversammlung, - Auflösung der Gesellschaft, - Erteilung der Entlastung für den Rechnungsabschluß der Direktion. Der z. T. vertretenen Auffassung, der Entlastungsbeschluß werde nur ausnahmsweise von der Generalversammlung gefaßt, da man dieser eine Bilanzprüfung nicht zutraute430, muß sowohl für den Geltungsbereich des Code de Commerce als auch für Preußen widersprochen werden. In einer erheblichen Anzahl von Gesellschaften lag die Entscheidung über die Decharge bei der Generalversammlung431 . Antragsberechtigt in der Generalversammlung waren in erster Linie die Mitglieder des Direktoriums und des Verwaltungsrates. Darüber hinaus gewährten viele Gesellschaften bereits einzelnen Aktionären das Recht auf Antragstellung432 ; dieses scheinbar weitgehende Zugeständnis wurde jedoch häufig dadurch relativiert, daß die Wahrnehmung des Antragsrechtes unter den Vorbehalt der Wahrung gewisser Fristen oder der Erfüllung zusätzlicher Erfordernisse gestellt war. Stellvertretend sei hier § 38 des Statutes der Berlin-Hamburger Eisenbahngesellschaft433 zitiert, wonach auch den Aktienbesitzern Gelegenheit gegeben werden sollte, "Vorschläge im Interesse der Gesellschaft zur Beschlußnahme in den Generalversammlungen gelangen zu lassen." Dies könne jedoch

Vgl. Sehrt, S. 79; ferner Landwehr, S. 51. MFV-AG, § 75; WB-AG,§ 25 Nr. 3; OS-AG,§ 24 Nr. 3; KS-AG, § 17 Nr. 7; NB-AG, § 20 Nr. 3; PNV-AG. §51; Zoo-AG.§ 23 Nr. I; ferner Hocker, S. 85 (CGCG); S. 246 (GoBa); S. 259 (HB); S. 328 (LAdCA); S. 370 (MaPriBa); S. 389 (MCM); S. 409 (NBH); S. 629 (LCBV) sowie CFR-AG, Art. 38; HSEW-AG, Art. 26 Abs. 3. In anderen Gesellschaften existierte eine von der Generalversammlung eingesetzte Bilanzprüfungskommission, so daß auch hier die Entscheidung über die Entlastung im Einflußbereich der Generalversammlung lag; s. RDS-AG, § 12; BLW-AG, Art. 25; vgl. ferner Hocker, S. 482 (ProBa); S. 290 (KöPriBa); S. 278 (Kö!Ba); S. 99 (DPAB); S. 193 (DoPriBa). Vgl. zum Entlastungsbeschluß auch unten cc). 432 Nach Sehrt, S. 73. kannten ..ältere" (was sich nach den frühesten der von Sehrt untersuchten Gesellschaften auf die Zeit um 1817 beziehen muß) Aktiengesellschaften das Antragsrecht einzelner Aktionäre nicht; in den Statuten der in der ,,Preuß. Gesetzsammlung. . ." seit 1839 veröffentlichten Gesellschaftsverträge findet sich dies nicht bestätigt, vgl. statt aller Gesetzsammlung 1839, S. 186 (BS-AG). 433 Gesetzsammlung 1845, S. 181 f. 430 431

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 97 "I) nur in den ordentlichen jährlichen Generalversammlungen und 2) nur dann geschehen, wenn der diesfällige motivierte Antrag spätestens in dem, der ordentlichen Generalversammlung zunächst vorangehenden Monat Januar dem Ausschusse eingereicht wird, und von mindestens 20 stimmfähigen Aktionairen, welche zusammen I 00.000 Taler in Aktien repräsentieren, vollzogen ist."

Nach § 31 desselben Statutes hatte die Generalversammlung spätestens im Monat Mai stattzufinden, wobei die Gegenstände der Beschlußfassung "vier Wochen vor dem dazu bestimmten Tage" öffentlich bekanntzumachen waren. Der Termin der Generalversammlung war also ohne weiteres so anzusetzen, daß die genannte Frist bereits verstrichen bzw. jeder Antrag zu den Beschlußgegenständen mangels deren Kenntnis sinnlos war. Regelungen wie die vorliegende ermöglichten es den Gesellschaften in vielen Fällen, das Antragsrecht des einzelnen Aktionärs im Ergebnis leerlaufen zu lassen. Größtenteils keinen Einfluß mehr hatte die Generalversammlung im Gegensatz zu den früheren Gesellschaften auf die Gewinnausschüttung434 • Vielmehr regelten die meisten Statuten der ab ca. l 830 gegründeten Gesellschaften zusammen mit dem Verfahren zur Gewinnermittlung nunmehr dem Grund nach auch das Recht der Aktionäre auf Zahlung einer Dividende. Vereinzelt wurde in den Gesellschaften an die Aktionäre nur ein fester prozentualer Anteil am Reingewinn als Dividende ausgeschüttet435 ; in der Regel war jedoch bestimmt, daß der gesamte (!) nach Abzug aller Kosten436 verbleibende Reingewinn an die Aktionäre ausgeschüttet werden sollte437 . Daß diese Vorgehensweise erhebliche wirtschaftlichen Risiken barg (etwa bei enttäuschten Gewinnerwarlungen oder einer möglichen Überbewertung der Aktiva) und daher jeglicher kaufmännischer Vernunft widersprach, liegt auf der Hand und muß hier nicht weiter erörtert werden438 • Die Höhe der Dividendenzahlung wurde entweder vom Verwaltungsrat439, seltener vom Direktorium440 , 434 Anders ohne Nachweise Sehrt, S. 79. Diese Ansicht findet sich für die preußischen Aktiengesellschaften jedenfalls nicht bestätigt. 435 BH-AG, § 24; ferner bei Hocker SchaBan, S. 566; LAdCA, S. 333; GoBa, S. 240; CGCG,S. 87. 436 Als solche wurden i.d.R. Betriebs- und Verwaltungskosten sowie die in den Reservefonds (dessen Funktionen in etwa denjenigen der heutigen gesetzlichen Rücklagen iSd. § !50 AktG entsprachen) einzubringenden Beträge veranschlagt. 437 s. etwa Statut der HLB bei Hocker, S. 265; DPAB, S. 100; DoPriBa, S. 194; MaPriBa S. 174 (jeweils a. a. 0 .); ferner MüHa-AG, § 9; NB-AG,§ 16; KMTV-AG, § II ; AD-AG, § 13; BLW-AG, Art. S; PW-AG, § 10; StromVers-AG, § 10; PNV-AG, § 10. Der Gewinnanteil dürfte sich- wie in§ IS des Statutes der BF-AG ausdrücklich festgestellt- überwiegend nach der Höhe des Aktienbesitzes gerichtet haben; lediglich im Statut der KS-AG, § 10, wird bestimmt, daß der Gewinn gleichmäßig auf die Aktien als Dividende zu verteilen sei. 438 Kritisch hierzu auch Löwenfeld, S. I 3 f. 439 Zoo-AG, § 30 lit. f; StaPo-AG, §53 lit. d Nr. 9; BH-AG, § 47 Nr. 5; BF-AG, § 39 Nr. 4; NZ-AG, §54 Nr. 3; s. a. Hocker, S. 96 (DPAB); S. I 11 (DBHI); S. 13 I (DBS); S. 190 (DoPriBa); S. 276 (Kö!Ba); S. 288 (KöPriBa); S. 372 (MaPriBa); S. 480 (ProSa); S. 615 (WeiBa); ferner auch CLV-AG,§ 38lit. c).

7 Emmerich

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formal festgestellt und bekanntgemacht Z. T. finden sich auch weitergehende Regelungen, wonach der Verwaltungsrat auch über den Eintritt bzw. die Höhe der Dividendenzahlung zu befinden hatte 441 . Nur wenige der hier untersuchten Gesellschaftsverträge weisen die Entscheidungsbefugnis über die Höhe der Gewinnausschüttung ausdrücklich der Generalversammlung zu442 . Damit gehörte die heutzutage gemäߧ 174 Abs. 2 Nr. 2 AktG übliche Praxis noch zu den Ausnahmeregelungen. Über die Bedeutung der Generalversammlung in der inneren Organisation der Aktiengesellschaften bestand unter den oben genannten zeitgenössischen Praktikern weitestgehende Einigkeit. Übereinstimmend erkannten sie an, daß in der Generalversammlung der Wille der Gesamtheit der Gesellschafter und damit der für die Gesellschaft maßgebliche Wille unmittelbar zum Ausdruck käme443 • Andererseits hielt man die Generalversammlung aus verschiedenen Gründen nur in begrenztem Umfang für fähig, verwaltende Funktionen wahrzunehmen, weshalb ihr Einfluß möglichst beschränkt werden sollte. Hansemann war zwar der Ansicht, daß den Aktionären als (Mit-)Eigentümem der Gesellschaft die Möglichkeit gegeben sein müsse, ihre Rechte mit Hilfe des Stimmrechts in der Generalversammlung geltend zu machen. Auch solle zum "Ausgleich zwischen Demokratie und Aristokratie" eine Höchstzahl der von einer Person abzugebenden Stimmen festgesetzt werden, um den Einfluß der Großaktionäre, namentlich der Banken, in der Generalversammlung zu beschränken444 • Im übrigen war Hansemann jedoch der Ansicht, daß ein umfangreiches Gremium wie die Generalversammlung kaum in der Lage sei, positive Impulse für die Unternehmensführung zu geben. Er hielt sie deshalb nur für tauglich, "unter den Aktionären die geeigneten Personen zur oberen Leitung und Kontrolle der Verwaltung zu wählen, und außerdem nur sehr wenige organische Beschlüsse zu fassen, wie z. B. über die Vermehrung des Aktienkapitals, [und] die Aufnahme eines Anleihens [ . .. ]"445 .

In ähnlicher Weise setzte sich Camphausen für eine Eindämmung des Einflusses von Großaktionären auf die Verwaltung der Gesellschaften ein und vertrat den Standpunkt, daß die Generalversammlung, "welche sich [ ... ] immerhin als die Stellvertreteein der ganzen Gesellschaft, als einen die höchste Gewalt in sich vereinigenden Körper betrachtet, den billigen und wohlbegründeten Anspruch machen

440

MH-AG; § 17; KS-AG, § 11; KMTV-AG, § II; NB-AG,§ 39 Nr. 9; Thü-AG, §55

Nr. 6. 441 BS-AG, § 38 Nr. 3; OS-AG;§ 39 Nr. 7; ferner Hocker, S. 60 (BraBa); S. 127 (DBS); S. 141 (DL); S. 152 (DCIH); S. 257 (HB); S. 222 (GB); S. 362 (LuxiBa); S. 599 (ThüBa). 442 BK-AG, § 16; RDS-AG, § 13; BM-AG, § 71 Nr. I; vgl. weiterhin Hocker, S. 266 (HLB); S. 389 (MCM); S. 562 (RoBa); S. 629 (LCBV) sowie Pöhls, S. 384 (LB). 443 Vgl. Schumacher, S. 28. 444 Hansemann, S. 117; Schumacher, S. 23. 44$ Hansemann, S. 118; Schumacher, S. 23.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 99

darf, durch das Statut446 nicht zu sehr beschränkt zu sein, und eine gewisse Freiheit des Denkens und Handeins zu behalten"447 • Andererseits hielt Camphausen es besonders bei großen Aktiengesellschaften für bedenklich, "einer zahlreichen Versammlung einen entscheidenden Einfluß auf solche Verhältnisse einzuräumen, welche ihrer Natur nach eine sorgfältige, ruhige und nicht nur sehr abgekürzte Beratung erfahren"448 . Aus diesem Grund hielt er es für zweckmäßig, der Generalversammlung einen wesentlichen Tei1449 ihrer Befugnisse zu entziehen und auf eine "Zwischenbehörde" zu übertragen. Die genauen Vorstellungen v. Mevissens von der inneren Organisation der Aktiengesellschaften sind nur insoweit bekannt, als er das "Schicksal korporativer Unternehmungen der Willkür vorübergehender Aktienbesitzer" entzogen sehen wollte450• Hierzu sollte ein "ausschließlich stimmberechtigter, die Idee der jeweiligen Assoziation verkörpernder Kern von Aktionären"451 gebildet werden. Auch v. Mevissen versuchte jedoch, einen Ausgleich zwischen den Großaktionären und Kleinanlegern herbeizuführen. Das aus diesen Ansichten deutlich werdende Mißtrauen gegenüber einer mit allzu weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Generalversammlung erklärt sich aus der Tatsache, daß bei Beurteilungen der inneren Verhältnisse der Aktiengesellschaften stets von der Unmündigkeit der Aktionäre ausgegangen wurde. Den Gesellschaftsmitgliedern wurde a priori unterstellt, mit der Beteiligung am Unternehmen in erster Linie gesellschaftsfremde Intentionen zu verfolgen. Nicht gemeinnützige Gesichtspunkte seien für den Kauf von Aktien maßgebend gewesen, sondern das Streben nach finanziellen Vorteilen. Das Interesse der Aktionäre an der Verwaltung der Gesellschaft, so vermutete man, erwache erst dann, "wenn die Kurse ihrer Aktien sanken oder die Dividende geringer wurde"452 • Unter dem Druck der oben genannten Befürchtung versuchte man vor allem zu vermeiden, daß "die interesselosen kleinen Aktionäre einen Einfluß auf die Unternehmensleitung bekamen"453 • Infolgedessen wurden der Generalversammlung wesentliche Beschlußkompetenzen, die vor allem für eine wirkungsvolle Kontrolle der Geschäftsleitung erforderlich waren, entzogen. Obwohl selbst die Verfechter der eben zitierten Standpunkte vor dem Eigennutz einiger Gründer warnten, die sich durch eine entsprechende Ausgestaltung der Statuten eine möglichst selbständige und Unrichtig Schumacher: " ...durch den Staat..." So die Aufzeichnungen Camphausens bei Schwann, Bd. li, S. 319; vgl. auch Schumacher, S. 25. 448 Schwann, a. a. 0. 446 447

449 E. g. das Recht zur Einberufung außerordentlicher Generalversanunlungen und das Recht zur Wahl der Direktionsmitglieder; weitere Punkte bei Schwann, Bd. II, S. 319 f. 450 Vgl. Hansen, Bd. I, S. 802, Bd. 2, S. 651; Schumacher, S. 28m. w. N. 451 Schumacher, S. 27/28 m. w. N. 452 Hansemann, S. III; zustimmend Schumacher, S. 22; Lauenstein, S. II. 453 Schumacher, S. 23.

7•

100

I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

nicht kontrollierbare Stellung als Direktor verschaffen wollten454 , hatte die Generalversammlung in den meisten Gesellschaften überwiegend organisatorische Funktionen wahrzunehmen. Im übrigen war sie in Ermangelung wirksamer Kontrollbefugnisse allenfalls Akklamations- und Ausführungsorgan von Direktion und Verwaltungsrat455 • (2) Beschlußverfahren und -kontrolle

Aus den oben (1) herausgearbeiteten Grundsätzen ergibt sich, daß die Generalversammlung trotz ihres insgesamt stark eingeschränkten Einflusses immerhin einige Entscheidungen von gewisser Relevanz für die Unternehmensverwaltung zu treffen hatte. Bezüglich der für die jeweiligen Beschlüsse erforderlichen Mehrheitsverhältnisse weichen die Gesellschaftsverträge dabei nicht von den bereits bei Direktion und Verwaltungsrat aufgestellten Grundsätzen ab, d. h. auch hier verlangte das Zustandekommen eines Beschlusses i.d.R. die absolute Mehrheit456 . Verbreitet wurde in den Statuten von dieser Vorgabe abgewichen, indem etwa bei Wahlen eine qualifizierte Mehrheit als ausreichend betrachtet wurde457 . Für Beschlüsse, die in die rechtliche Struktur der Gesellschaft eingriffen, (Statutenänderungen, Kapitalerhöhungen, Auflösung, Änderung des Gesellschaftszwecks) wurde i.d.R. die Anwesenheit eines Mindestquorums der Mitglieder sowie eine qualifizierte Mehrheit verlangt458 • Als zusätzliches formelles Erfordernis standen derlei Beschlüsse zumeist unter dem Vorbehalt staatlicher Genehmigung. Sehrt beklagte demgegenüber das Fehlen weitergehender Formalien, insbesondere die mangelnde Beglaubigungspflicht von Generalversammlungs-Protokollen. Dem muß jedoch widersprochen werden, denn in zahlreichen Gesellschaften gehörte die notarielle (z. T. auch gerichtliche) Beglaubigung zu den Voraussetzungen

So Hansemann, S. 117. Zur Rolle der Generalversammlung in den niederrheinischen Aktiengesellschaften kritisch Sehrt, S. 75. 456 Vgl. statt aller BS-AG, § 33 Abs. I S. I; NZ-AG, § 27 Abs. 2 S. I; Thü-AG, § 32 Abs. 2 S. I; NB-AG,§ 27 Abs. 2 S. I; OS-AG,§ 32 Abs. 2. S. I; StaPo-AG, § 61; KS-AG, § 20 Abs. I; BF-AG, § 34 Abs. I S. I; Hocker, S. 64 (BraBa), S. 246 (GoBa); S. 604 (ThüBa); S. 620 (WeiBa); S. 361 (LuxiBa); S. 142 (DL). m Vgl. etwa Hocker, S. 572 (SchaBan); S. 64 (BraBa); S. 85 (CGCG); S. 409 (NBH); S. 604 (ThüBa); S. 620 (WeiBa); S. 142 (DL); S. 150 (DCIH); BH-AG, § 37 Abs. 2 lit. a); KMTV-AG, § 19 Abs. 2; MH-AG, § 29 Nr. I; StaPo-AG, § 61 Nr. I. 458 Vgl. BM-AG, § 72 Abs. 2; BK-AG, § 57, 58; BH-AG, § 37 Abs. 2 lit. b); PNV-AG, §58; MH-AG, § 321it. b); WB-AG,§ 31 S: 3; StaPo-AG, § 61 Nr. 2, 3; OS-AG,§ 32 Abs. 2; NB-AG, § 27 Abs. 2 S. 2; Thü-AG, § 32 Abs. 2 S. 2; KS-AG, § 20 Abs. I S. 3; BS-AG, § 33 Abs. 2; NZ-AG, § 27 Abs. 2; Hocker, S. 65 (BraBa); S. 605 (ThüBa) S. 389 (MCM); S. 620 (WeiBa); S. 361 (WeiBa); S. 130 (DBS); S. 150 (DCIH); S. 85 (CGCG); S. 409 (NBH). 454

455

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 101

einer wirksamen Beschlußfassung459 . Dessen ungeachtet erscheint zweifelhaft, ob eine gesetzlich normierte Beurkundungspflicht für die Beschlüsse der Generalversammlung sich -wie Sehrt behauptete460 - nachhaltig auf das öffentliche Vertrauen ausgewirkt hätte, denn selbst hierdurch hätten sich die Mängel in der Verwaltung der Gesellschaften mangels wirksamer Kontrollinstrumentarien nicht beheben lassen können. Die vorliegende Untersuchung hat bisher ergeben, daß zum einen der staatliche Einfluß in den Gesellschaften via landesherrlicher Bestätigung des Statutes nach wie vor vorhanden war und daß zum anderen der Generalversammlung nur wenige wesentliche Angelegenheiten zur Entscheidung verblieben. Dies läßt für die Frage der Beschlußkontrolle bereits von vomherein den Befund vermuten, daß derselben schon mangels Notwendigkeit- die vor allem für das wirtschaftliche Schicksal der Gesellschaften substantiellen Beschlüsse wurden wie· gezeigt von Direktion und Verwaltungsrat getroffen - nur wenig Beachtung zuteil wurde. Gleichwohl erweist sich diese Vermutung ftir die Literatur als nur eingeschränkt zutreffend. Zumindest Pöhls stellte im Hinblick auf den jeder Gesellschaftsbildung zugrundeliegenden gemeinsamen Zweck fest, daß Stimmenmehrheit nur dort entscheiden könne, wo es den Statuten oder dem Gesellschaftszweck entspreche461 . Letzterer entfalte als "Grundverfassung" eine kontinuierliche Bindungswirkung für alle an der Gesellschaft Beteiligten, und kein Mitglied der Gesellschaft könne gezwungen werden, sich eine Abweichung hiervon gefallen zu lassen462 • Obwohl damit dogmatisch der Weg eröffnet war, dem einzelnen (Minderheits-)Gesellschafter entsprechende Kontrollrechte an die Hand zu geben, vollzog Pöhls diesen Schritt nicht, da seiner Auffassung nach nicht konzediert werden dürfe, daß ,,Einzelne, sey es aus Eigensinn oder auch aus individuellen Ansichten, die heilsamsten Beschlüsse verhindem"463 • Statt dessen gelangte er zu dem Schluß, daß zweckoder statutenwidrige Beschlüsse von vomherein als nichtig angesehen werden müßten464 • Letztlich findet sich die oben geäußerte Annahme jedenfalls auf rechtstatsächlichem Gebiet bestätigt, denn zahlreiche Aktiengesellschaften trafen im Gesellschaftsvertrag Regelungen wie diejenige in Art. 73 des Statutes der Gothaer Bank, der hierfür stellvertretend zitiert werden kann: 459 StaPo-AG, §58; NB-AG,§ 29; Thü-AG, § 34; NZ-AG, § 29; KMTV-AG, § 18; BHAG, § 35; PNV-AG, §54; MFV-AG, § 71; Vgl. Hocker, S. 290 (KöPriBa); S. 100 (DPAB); S. 483 (Pro Ba); S. 194 (DoPriBa); S. 279 (KöiBa); ferner AVG-AG, § 33 S. 2; CLV-AG, § 45; CFR-AG, Cap. 6. Vereinzelt wurde der öffentliche Glaube auch durch eine Veröffentlichung der Protokolle herbeigeführt, s. MüHa-AG, § 45; BM-AG, § 75. 460 s. 75. 461 s. 200. 462 S. 200 f. 463 S. 201. 464 s. 201.

102

I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

,,Die Beschlüsse der Generalversammlung und die von ihr vorgenommenen Wahlen können von Actionären nicht angefochten werden. Denjenigen, welche in der Minorität, oder nicht anwesend, oder nicht vertreten waren, sowie jenen, welche zur Theilnahme an der Generalversammlung nicht berechtigt sind, steht kein Einspruch zu gegen die Beschlüsse und Wahlen, welche eine Generalversammlung in Gemäßheil der Bestimmungen dieses Abschnittes vollzieht" 465 .

Wenngleich auch nicht jede der hier untersuchten Gesellschaften ihre Generalversammlungsbeschlüsse in gleicher Weise ausdrücklich jedweder Inhaltskontrolle entzog, so enthalten doch deren Statuten häufig Bestimmungen, die - wie schon in den Verträgen der Fernhandelsgesellschaften des 15. Jahrhunderts - die Geltung der Beschlüsse sowohl auf die übrigen (anwesenden Minderheitsgesellschafter), als auch auf die Abwesenden erstreckten466 • Soweit die Anwesenheit eines staatlichen Regierungsbeamten bei den Generalversammlungen vorgesehen war, räumten einige wenige Gesellschaften diesem ein suspensives Veto gegen die Beschlüsse ein467 , wobei allerdings zweifelhaft ist, ob es sich dabei um eine Rechtmäßigkeilskontrolle handelte, denn die Generalversammlung mußte im Falle einer Beanstandung den Beschluß nochmals beraten, konnte ihn dann aber mit gleichem Inhalt bindend verabschieden468 • Die weitaus überwiegende Anzahl der Statuten unterwarf indes sämtliche gesellschaftsinteme Streitigkeiten einer Überprüfung durch Schiedsgerichte469 . Damit setzt sich auch hier eine Entwicklung fort, die ihren Anfang bei den Fernhandelsgesellschaften des 15. und 16. Jahrhunderts nahm. Hierbei dürfte allerdings die dort noch vorrangige Motivation, gesellschaftsinterne Vorgänge weitestmöglich im Geheimen zu halten, in den Hintergrund getreten sein, denn zum einen wäre dies angesichts der großen Anzahl von Aktionären kaum praktikabel gewesen und zum anderen erscheint zweifelhaft, ob Anleger ohne Kenntnis wirtschaftlicher Einzelheiten überhaupt Investitionen in die Unternehmen getätigt hätten. Während ein Teil der Eisenbahnen und Versicherungen für das schiedsrichterliche Verfahren auf die Vorschriften§§ 167 ff. I 2 der Allgemeinen Gerichtsordnung für die preußischen Staaten (AGO) zurückgriff70, vereinbarte die Mehrzahl der Gesellschaften und vor allem die Banken ausdrücklich ein von formellen Regelun46s Hocker, S. 247; ähnlich FFB-AG, Art. 40. Auch Sehrt, S. 75, geht davon aus, daß Generalversammlungsbeschlüsse nicht anfechtbar waren. 466 Vgl. BH-AG, § 37; FFB-AG, Art. 62; HSEW-AG, Art. 25; Hocker, S. 85 (CGCG); S. 99 (DPAB); S. II! (DBHI); S. 130 (DBS); S. 141 (DL); S. 149 (DCIH); S. 193 (DoPriBa); S. 228 (GB); S. 259 (HB); S. 278 (KölBa); S. 290 (KöPriBa); S. 328 (LAdCA); S. 361 (LuxiBa); S. 371 (MaPriBa); S. 389 (MCM); S. 482 (ProBa); S. 558 (RoBa); S. 605 (ThüBa); S. 621 (WeiBa). 467 Z. B. Hocker, S. 267 (HLB). 468 Hocker, ebenda. 469 Ebenso für das bayerische Aktienwesen Obenaus, S. 26. 470 PNV-AG, § 34; BLW-AG, Art. 51; StromVers-AG, § 26; WB-AG, § 10; OS-AG,§ 8; NB-AG, § 7; BS-AG, § 68.

2. Abschn.: Beschlußverfahren und -kontrolle im Gesellschaftsrecht seit dem 15. Jh. 103

genunabhängiges Schiedsverfahren471 • Ohne auf die Notwendigkeiten eines ungehinderten Geschäftsbetriebes als Motiv hinzuweisen, verlangen alle Schiedsklauseln eine zügige Verfahrensabwicklung. Rechtsmittel gegen den Schiedsspruch waren demzufolge zumeist ausgeschlossen. Dies gilt allerdings nicht für diejenigen Gesellschaften, die das Schiedsverfahren an den einschlägigen Vorschriften der AGO ausrichteten. Hier war zwingend vorgesehen, daß gegen den Schiedsspruch Nichtigkeitsbeschwerde gemäß §§ 172, 174, 175 I 2 AGO eingelegt werden konnte mit der Folge, daß das Verfahren an ein ordentliches Gericht abgegeben wurde. Vereinzelt war dies auch im Falle eines nichtförmlichen Verfahrens zugelassen472 .

4. Zwischenergebnis

Zusammenfassend ist festzustellen, daß eine Überprüfung der Entscheidungstindung in den Gesellschaften vor Inkrafttreten des ADHGB nur in sehr beschränktem Umfang möglich war. Ausgeschlossen war nach dem oben Gesagten jedenfalls die Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen durch den einzelnen Aktionär. Bei sonstigen Kontrollmechanismen handelte es sich zumeist um solche innerhalb der jeweiligen Gesellschaftsorgane, wobei die Gesellschaftsverträge sich zu der Frage ausschweigen, ob etwa Aktionäre Beschlüsse des Verwaltungsrates z. B. über die Verteilung der Dividende anfechten bzw. einer rechtlichen Nachprüfung zuführen konnten. Soweit im Rahmen der Schiedsgerichtsvereinbarungen die Rede ist von "Streitigkeiten zwischen den Aktionären und der Gesellschaft", dürften hiermit ohne Ausnahme solche über vermögensrechtliche Ansprüche der Aktionäre gemeint sein. Kein einziger der hier untersuchten Gesellschaftsverträge deutet dagegen auch nur an, daß hierbei auch an Auseinandersetzungen über die Wirksamkeit von Generalversammlungsbeschlüssen gedacht wurde. Der vorstehende Abschnitt hat damit aufgezeigt, daß auch im Aktienrecht seit dem 17. Jahrhundert die Suche nach einem systematisch geordneten Beschlußverfahren und zugehörigen Kontrollrechten nur ansatzweise zu Ergebnissen führt. Weder das ALR von 1794 noch die Aktiengesetzgebung seit 1843 erkannten die diesbezügliche Notwendigkeit, die rechtlichen Grundlagen der inneren Organisation der AG an die sich rapide verändernden wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Ursache hierfür war zum einen die Annahme, man könne über die Genehmigungspflichtigkeit der Statuten und einiger der darin enthaltenen Bestimmungen die Gesellschaften in hinreichendem Maße dem Zugriff staatlicher Kontrolle aussetzen. Abgesehen davon, daß hiermit weniger eine rechtlich eindeutige Regelung 471 Hocker, S. 101 (DPAB); S. 132 (DBS); S. 144 (DL); S. 154 (DCIH); S. 195 (DoPriBa); S. 235 (GoBa); S. 280 (KöiBa); S. 292 (KöPriBa); S. 392 (MCM); S. 363 (Lux!Ba); ferner CLV-AG; § 52; HSEW-AG, Art. 32; CFR-AG, Art. 54; BK-AG, § 59; BH-AG, § 59; MFVAG, § 87; KS-AG, § 5; MH-AG, § 73. 472 Vgl. Hocker, S. 101 (DPAB); S. 195 (DoPriBa).

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I. Teil: Altertum und Neuzeit bis zum ADHGB von 1861

als vielmehr eine vom Belieben der Ministerialbürokratie abhängende Einzelfallgerechtigkeit geschaffen wurde473 , bezogen sich die staatlichen Interventionsmöglichkeiten aber ohnehin vorwiegend auf Fragen der Wirtschaftsverwaltung und waren i.d.R. nicht geeignet, Defizite der inneren Organisation wirksam zu beheben. Ein weiterer Faktor für die mangelnde Ausbildung von Kontrollrechten war die Einteilung der Aktionäre in ein ,,Zweiklassensystem" aus Groß- und Kleinaktionären mit unterschiedlichen Interessenlagen. Aus dieser im Grundsatz richtigen (und i. ü. bis heute gültigen) Annahme wurde jedoch die völlig falsche Konsequenz gezogen, diesen (einzelnen) Aktionären jede Kompetenz in Fragen des Unternehmensinteresses abzusprechen und demzufolge ihren Einfluß auf die Verwaltung der Gesellschaft weitestmöglich einzugrenzen. Insofern kann bereits seit dem Zeitpunkt der Trennung von gewinnbringender Kapitalbeteiligung und persönlicher Mitarbeit in den Gesellschaften sowie der Schaffung einer auf die Einlage beschränkten Haftung eine maßgebliche Benachteiligung von Kleinaktionären festgestellt werden. Trotz einer ständig wachsenden Kapitalbasis und einer zunehmenden Streuung des Aktienbesitzes erkannte man nicht das steigende Bedürfnis einer wirksamen Kontrolle der Geschäftsführung und Verrnögensverwaltung; die Organisation der Gesellschaften war insoweit nicht in der Lage, den Erfordernissen des Rechtsverkehrs zu entsprechen. Angesichts dieser Mängel im Aktiengesellschaftswesen mehrten sich auch die kritischen Stimmen derjenigen, die nach Umgestaltungen in der inneren Organisation der Aktiengesellschaften verlangten: ,Jm allgemeinen herrscht in der heutigen Aktiengesellschaft nicht die Volkssouveränität der Gesamtheit der Aktionäre, sondern eine Oligarchie der Gründer, welche sich bei Abfassung des Statuts exorbitante Vorteile stipulieren und namentlich einen dauernden dominierenden Einfluß im Verwaltungsrat sich zu sichern wissen. Diese Oligarchie hat alle Fehler, welche Oligarchien zu haben pflegen: Es herrscht Despotismus, Ausbeutung des allgemeinen Interesses zum privaten Vorteil Weniger, mit einem Wort: Korruption" 474 .

Auf die Auswirkungen dieses Zustandes wird später im Zusammenhang mit der Entwicklung der "Gründerjahre" zurückzukommen sein.

473

Obenaus, S. 26 f.

474

Vgl. Schumacher, S. 68 (Fn. 47).

2. Teil

Die Entwicklung der Beschlußkontrolle in der Aktiengesellschaft seit dem ADHGB von 1861 1. Abschnitt

Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884 A. Die Entwicklung bis zum ADHGB I. Die innere Organisation der AG

Die politischen und wirtschaftlichen Umstellungen475 nach der Revolution von 1848 brachten für das Aktiengesellschaftswesen in Deutschland einen neuerlichen Aufschwung, obwohl bis zum Jahre 1850 die Zahl der AG-Neugründungen erheblich zurückgegangen war476. Mit dem Eintritt Camphausens und Hansemanns in das Ministerium für Handel und Gewerbe ging eine erhebliche Lockerung im Gebrauch des Konzessionssystems einher, so daß die Gründungstätigkeit wieder zunahm477. Um so mehr offenbarten sich in der Folgezeit die Mängel, die der ,,rechtsfreie" status quo nicht nur auf dem Gebiet des Aktienrechtes mit sich brachte. Die allgemeine Unzufriedenheit über diesen Zustand setzte gesetzgeberische Reformbemühungen in Gang, die sich im 1857 vorgelegten "Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die preußischen Staaten" niederschlugen. Kritisiert wurde hierin vor allem die wenig praxisgerechte Ausgestaltung der Vorschriften des ALR, die sich um so nachteiliger auswirkten, ,je größer der Aufschwung ist, welchen bei dem gesteigerten Unternehmungsgeiste der Handel und die Industrie genommen haben, je umfassender, mannigfaltiger und großartiger die Mittel und Anstalten sind, welche dem Zwecke des Verkehrs dienen und je näher und vielseitiger die verschiedenen Staaten untereinander in Berührung und in Handelsbeziehungen treten"478 .

Hierzu ausführlich Bösselmann, S. 12-49. Vgl. hierzu die Übersicht bei Bösselmann, S. 189-198; s. ferner ebenda, S. 11; Schumacher, S. 55. 477 Schumacher, S. 55. 478 Entwurf 1857, I S. IV. 475

476

106 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

Hinsichtlich der inneren Organisation hatte der preußische Entwurf zum ADHGB umfangreichere Bestimmungen lediglich bezüglich des Vorstandes getroffen (Art. 193- 199). Demgegenüber enthielt das ADHGB von 1861 zusätzlich einige ergänzende Vorschriften über die Rechte und Pflichten der Generalversammlung. Diese wurde nunmehr zum höchsten Gesellschaftsorgan erklärt, das gemäß Art. 237 Abs. 1 ADHGB die Interessen der Gesellschaft wahrzunehmen hatte. Ferner sollte sie die Rechte ausüben, "welche den Aktionären in Angelegenheiten der Gesellschaft, insbesondere in Beziehung auf die Führung der Geschäfte, die Einsicht und Prüfung der Bilanz und die Bestimmung der Gewinnverteilung" zustanden (Art. 224, 239 ADHGB). Als weitere wesentliche Befugnisse konnte sie gemäß Art. 231 ADHGB die Vertretungsbefugnis des Vorstandes im Innenverhältnis beschränken und über Prozesse gegen dessen Mitglieder entscheiden (Art. 226 ADHGB). Die der Generalversammlung bisher zugeordneten Zuständigkeiten für die Fortsetzung und Auflösung der Gesellschaft sowie für Änderungen des Gesellschaftsvertrages wurden beibehalten (Art. 214, 242 ADHGB). Eine wichtige Veränderung der inneren Organisation der AG brachte ferner die Einführung des (allerdings nur fakultativen) Aufsichtsrates durch Art. 225 ADHGB mit sich479 . Diesern wurden nunmehr als maßgebliche Aufgaben die Überwachung der "Geschäftsführung der Gesellschaft in allen Zweigen der Verwaltung", die Prüfung der Jahresrechnungen und Bilanzen sowie die Einberufung außerordentlicher Generalversammlungen, soweit "im Interesse der Gesellschaft erforderlich" zugeteilt480 . Passow hielt den Aufsichtsrat als ,,Revisions- und Kontrollinstanz" für eine "sehr kostspielige, aber ziemlich überflüssige und wertlose Institution"481 • Etwas anderes gelte nur, soweit er darüber hinaus einflußreiche und wichtige Tätigkeiten auf Gebieten entfalte, die der Gesetzgeber nicht bedacht hätte482• Insgesamt - so Passow - verdanke der Aufsichtsrat in der vom ADHGB vorgesehenen obligatorischen Form seine Entstehung einer Flüchtigkeit, einer Unüberlegtheit der Redaktionskornmission der Nürnberger Konferenz und einer Kette von irrtümlichen Auffassungen483 • Unabhängig vom Streit um die Bedeutung und Entstehung des Aufsichtsrates erlangte Art. 225 ADHGB aber ohnehin keine wesentliche praktische Bedeutung, da viele der nach seinem lokrafttreten gegründeten Aktiengesellschaften entweder den bisherigen Verwaltungsrat ohne eine grundlegende Neuordnung von Kompe-

479 Vgl. den Redaktionsentwurf der Nürnberger Kommission bei Lutz, Protokolle (Teil 1), S. 179; s. a. Landwehr, S. 15. 480 Zur Entstehungsgeschichte des obligatorischen Aufsichtsrats grundlegend Passow, ZHR 64 [1909], 27 ff. 481 Aktiengesellschaft, S. 389. 482 Ebenda. 483 Ebenda, S. 392, 396; differenzierend Maasch-Feisel, S. 73; ablehnend Schumacher, S.68-76.

I. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

107

tenzen einfach umbenannten484, oder sich erst gar nicht um eine gesetzeskonforme Ausgestaltung der inneren Organisation bemühten485 • Weiterhin wurde das Direktorium redaktionell durch den "Vorstand" ersetzt, der als notwendiges Organ (Art. 227 ADHGB) in allen Gesellschaften deren gerichtliche und außergerichtliche Vertretung zu besorgen hatte (Art. 227, 230, 231 ADHGB). II. Beschlußverfahren und -kontrolle

Keine entscheidenden Neuerungen erfuhren letztlich auch das Verfahren der Beschlußfassung oder die damit verbundenen Begleitvorschriften. Immerhin hatte der Gesetzgeber in Gestalt des Art. 241 Abs. 2 ADHGB die bereits in vielen Gesellschaftsverträgen geregelte Haftung des Vorstandes486 u. a. flir statutenwidrige Handlungen erstmals normativ fixiert. An der Tauglichkeit dieser Regelungen als -indirektes- Instrument der Beschlußkontrolle wurden jedoch bereits oben Zweifel geäußert. Aufgrund der Bemühungen des preußischen Staatsministeriums, das bereits 1856 im Wege einer Zirkularverfügung versucht hatte, den Schutz der Kleinaktionäre effektiver zu gestalten487 , enthielt das ADHGB einige ergänzende Vorschriften zu den Rechten der Generalversammlung488 sowie die Pflicht zur notariellen Beurkundung von Generalversammlungsbeschlüssen. Bereits die Motive zum Entwurf von 1857 erkannten in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, "der Minorität gegen mögliche Benachtheiligungen durch Majoritätsbeschlüsse den geeigneten Schutz zu gewähren"489 und erwähnten die aus der Organisation der AG erwachsenden "Gefahren für das Publikum und die Aktionäre"490 . Damit war immerhin das Problem des Minderheitenschutzes erstmals explizit vom Gesetzgeber 484 Vgl. MAGH (1870-82), § 19; BMIG, § 23; BAGB, Art. 22; FACH,§ 24; WW-AG, § 20; RSVG-AG, § 13; ebenso Maasch-Feisel, S. 74. 485 Im Statut der 1862 gegründeten RSVG-AG wird der Aufsichtsrat als "die Vorsteher" bezeichnet (Art. 13); die im selben Jahr gegründete WW-AG behielt gar die Bezeichnung "Verwaltungsrat" bei (Art. 14 ff.) 486 s. dazu bereits oben I. Teil C. II. 3.) b) bb). 487 Namentlich wurde hierzu festgesetzt: - das Recht einer Minderheit auf Einberufung der Generalversammlung, - die Pflicht, in der Einladung zur Generalversammlung auf wichtige Beschlüsse hinzuweisen, - das Erfordernis der absoluten Mehrheit bei Beschlußfassungen, s. hierzu Schumacher, S. 68. 488 Etwa dazu, wer das Recht zur Einberufung der Generalversammlung haben sollte (vgl. Art. 236-238. 187-190 ADHGB) oder wie das Stimmrecht im Zweifel festzusetzen sei (vgl. Art. 224 Abs. 2, 190 ADHGB); s. Schumacher, S. 69 489 Vgl. Entwurf 1857, II S. 93. 490 Entwurf 1857, Il S. 83 (zu Art. 157).

108 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

aufgegriffen worden. Inzwischen nahm auch in der Literatur die Diskussion um Aktionärsrechte491 immer breiteren Raum ein, ohne daß die Praxis sich indes hiervon beeinflussen ließ. Insgesamt blieb man der Ansicht verhaftet, den angesprochenen Gefahren durch die in den Statuten gewöhnlich vorgesehenen staatlichen Genehmigungsvorbehalte wirksam begegnen zu können492 , so daß die wenigen punktuellen Änderungen denn auch kaum geeignet waren, durchgreifende Änderungen des bestehenden Rechtszustandes zu bewirken. B. Die Aktienrechtsreform von 1870 und die Gründerjahre

Auch das Gesetz des Norddeutschen Bundes "betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften", das am 11. Juni 1870 verabschiedet wurde, brachte für die Bereiche des Beschlußverfahrens und der Beschlußkontrolle keine grundlegenden Fortschritte. Als wohl einschneidendste Neuerung darf vielmehr die Einführung des Normativsystems für die Errichtung von Aktiengesellschaften gelten493 . Eine weitere wichtige Veränderung brachte die Festlegung einer zwingend dreigliedrigen inneren Organisation mit der Generalversammlung als Organ der Willensbildung, dem Vorstand als dem Ausführungsorgan und - als Ersatz für den Wegfall der bisherigen Schutzfunktion des staatlichen Genehmigungsverfahrens - dem obligatorischen Aufsichtsrat als Kontrollorgan (Art. 209 Nr. 6 ADHGB) mit gesetzlich festgelegtem Aufgabengebiet (Art. 225 ADHGB). Die Motive zur Aktienrechtsnovelle lassen dabei die Zweifel erkennen, die der Gesetzgeber an der Wirksamkeit des bisher fakultativen Aufsichtsrates hegte, gleichwohl war man der Ansicht, der Aufsichtsrat werde nach dem Wegfall der Staatsaufsicht größere Bedeutung erlangen494 . Jedenfalls aber müsse, da die Aktionäre nunmehr auf eigene Wahrnehmung ihrer Interessen angewiesen seien, die gesetzliche Organisation der Gesellschaften so beschaffen sein, daß das Selbstbeaufsichtigungsrecht wirksam ausgeübt werden könne495 • Insofern ist der These Landwehrs zuzustimmen, die Entwicklung der inneren Organisation der Aktiengesellschaften durch die Gesetzgebung habe in der Novelle von 1870 einen gewissen Abschluß erreicht496 • Daß sich die Hoffnung des Gesetzgebers auf wirksame Selbstkontrolle nach Einführung des obligatorischen Aufsichtsrates letztendlich keineswegs erfüllte, beVgl. dazu im einzelnen unten C. I. 1.) Vgl. Entwurf 1857, II S. 93 (zu Art. 184) 493 Vgl. hierzu Landwehr, S. 17 f.; Maasch-Feisel, S. 76. 494 Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1870, Bd. 4, S. 655. 495 Ebenda. 496 So Landwehr, S. 21. 491

492

I. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

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ruhte neben den von anderen Autoren497 bereits genannten Gründen auch darauf, daß der Gesetzgeber es im übrigen versäumte, mit der Schaffung wirksamer Kontrollrechte die Durchsetzung seiner Intentionen zu gewährleisten. So blieben denn auch in der Novelle von 1870 u. a. die Vorschriften über die Beschlußfassung und deren Kontrolle wiederum weitestgehend unberührt, und auch die angestrebte Interessenwahrnehmung durch die Aktionäre selbst wurde jedenfalls nicht durch entsprechende Schutzmechanismen abgesichert. Diese und andere strukturelle Schwächen der Reform von 1870 offenbarten sich letztlich - schneller als vom Gesetzgeber bei der Schaffung des Regelwerkes vorhersehbar- in der schweren Krise des Aktiengesellschaftswesens, die unter der euphemistischen Bezeichnung "Gründerjahre" bekannt wurde. Die Zahl der vor 1870 vorhandenen AG's vervierfachte sich bis 1873, wobei jede vierte durch Liquidation, jede dreizehnte durch Konkurs alsbald wieder verschwand498 . Die zahlreichen Schwindelgründungen und die damit verbundenen Verluste der Aktionäre in Milliardenhöhe fügten dem Ansehen der AG schwere Schäden zu und hatten ein nachhaltig gestörtes Vertrauen in die Institution der AG schlechthin zur Folge; wenngleich auch Forderungen wie diejenige v. lherings nach der radikalen Abschaffung der AG499 angesichts deren wirtschaftlicher Bedeutung als unbesonnen gelten dürfen. Auch darf nicht übersehen werden, daß bereits Goldschmidt mit Recht darauf hinwies, daß nicht die Unzulänglichkeiten der Novelle von 1870 allein für die Gründerkrise verantwortlich waren, sondern auch die dem Krieg von 1870171 folgende "Wirthschaftsepoche mit ihrer schrankenlosen Ausdehnung des Spekulationsgeistes" und die Leichtgläubigkeit eines von Gewinnsucht beseelten Anlegerpublikumss00. Letztlich waren es auch die auftretenden Mißstände selbst, die dem Gesetzgeber die Lückenhaftigkeit des Regelwerkes von 1870 aufzeigten und damit die umfassenden Reformbestrebungen der folgenden Jahre zumindest mitveranlaßten.

C. Die Folgen der Gründerjahre: Die Aktienrechtsnovelle von 1884 I. Aktionärsschutz und Beschlußkontrolle: Die Individual- oder Sonderrechte

Unbesehen der nach außen hin zutage tretenden Mißwirtschaft zur Zeit der Gründerjahre machten sich auf dem Gebiet der inneren Organisation der AG zunehmend Veränderungen bemerkbar. Bereits seit der preußischen Verfassung von 1850 hatte die Entstehung der liberalen Demokratie, die Schaffung der bürgerliVgl. Maasch-Feisel, S. 77 ff. m. w. N. Vgl. die Statistiken in der Allgemeinen Begründung zur Novelle von I 884, abgedruckt bei Schubert I Hommelhoff, S. 404 ff. (409 ff.) 499 Der Zweck im Recht, S. 223. 500 ZHR 30 [1884], 69 (75 f.); vgl. auch Schubert/Hommelhoff, S. 56. 497

498

110 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

chen Rechte und die Einführung von Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit zu einer Betonung der Autonomie des Einzelnen letztlich auch auf rechtlichem Gebiet geführt. Auch in der gesellschaftsrechtlichen Lehre ging man infolgedessen nunmehr davon aus, daß sich die Rechte des Aktionärs in der Betätigung seines Willens in der Generalversammlung oder bei der Wahrnehmung gesetz- und statutenmäßiger Befugnisse in Gemeinschaft mit den übrigen Aktionären nicht erschöpften501 und befaßte sich in zunehmendem Maße mit der Materie der sog. Sonder- und Individualrechte. Während zunächst die begriffliche Trennung zwischen diesen Rechtsinstituten nicht immer eindeutig vollzogen wurde, unterschied man später zwischen den Sonderrechten vermögensrechtlichen Inhalts, "bei denen die Gesellschaft dem berechtigten Aktionär als Verpflichtete gegenübersteht"502 und den Individualrechten, bei deren Geltendmachung der einzelne Aktionär "Träger und Vertreter des Gesamtwillens der Aktionäre sein und nicht vermögensrechtliche Ansprüche zu eigenem Vortheile gegen die Gesellschaft, sondern Rechte der Gesellschaft Namens und im Interesse derselben verfolgen" sollte503 .

1. Die Sonder- und Individualrechte in der Literatur Nachdem Pöhls in seiner Abhandlung über die Aktiengesellschaften 504 aus dem Jahre 1842 den Begriff der Sonderrechte noch nirgends erwähnt hatte, war es Jolly, der sich schon 1847 wohl als erster mit den seiner Ansicht nach unzureichend ausgestalteten Aktionärsrechten auseinandersetzte 505 . Er entwickelte seine Auffassung von den Einzelrechten der Aktionäre aus dem Spannungsverhältnis zwischen Einzel- und Mehrheitswillen. Seiner Auffassung nach beinhalte die Natur des Rechtsverhältnisses, welches einer AG zugrundeliege, die notwendige Übereinkunft der Gesellschafter, stets gemeinsam handeln zu wollen, da die AG als formell selbständiges Rechtsinstitut erscheine, für welches nicht die Einzelnen als solche handeln könnten. Aus dieser Notwendigkeit dürfe deshalb grundsätzlich nicht "ein freies Widerspruchsrecht jedes Einzelnen gegen alle Gesellschafterbeschlüsse gefolgert werden"506. Vielmehr müsse zwischen einstimmigen und solchen Beschlüssen unterschieden werden, die durch Mehrheitsentscheidung zustande kämen. Bei letzteren müsse ein "Widerspruchsrecht" schon deshalb ausgeschlossen sein, weil hierdurch nicht eine Verletzung der Rechte des Einzelnen, sondern lediglich ein Untersot Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1884, Bd. 3 (Anlagen), S. 294 f. so2 A.a. 0., S. 295. Genannt werden etwa der Anspruch auf einen Gewinnanteil oder auf Dividendenzahlung (Art. 217 Abs. I ADHGB). soJ Ebenda. 504 ,,Das Recht der Aktiengesellschaften mit besonderer Rücksicht auf die Eisenbahngesellschaften". 505 ZDR 11 [ 1847], 317 ff.

506

Ebenda, S. 400.

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liegen der individuellen Ansicht des Überstimmten bewirkt werden könne507• Bei Mehrheitsbeschlüssen, die unter Verletzung von Verfahrensvorschriften zustandegekommen waren, bestand nach dem Ansatz von Jolly für Kontrollrechte ohnehin kein Bedarf, da diese nach seiner Ansicht ipso jure ungültig sein sollten508. Im Falle einstimmiger Beschlußfassung müsse jedenfalls dann, wenn keine rechtliche Verpflichtung zur Teilnahme an derselben bestehe, "wenigstens ein Zwang auf Anerkennung der Beschlüsse vorhanden sein, an deren Bildung man selbstverschuldeter Weise keinen Antheil nahm"509, so daß auch hier eine Beschlußanfechtung nicht infrage kommen konnte. Eine Verletzung seiner "statutenmäßig festgestellten" Rechte durch den Vorstand oder die "Gesellschaft selbst" sollte nach Jolly der einzelne Aktionär selbst gerichtlich geltend machen können, falls dies weder durch eine zur Kontrolle berufene Behörde noch die Generalversammlung der Aktionäre geschehen sei 510. Hierbei handelte es sich streng dogmatisch betrachtet allerdings weniger um ein Anfechtungsrecht als vielmehr um die Durchsetzung der Schadensersatzpflicht, die wie oben erwähnt in zahlreichen Statuten normiert war. Dies wird auch dadurch bestätigt, daß Jolly den an einem rechtswidrig gefaßten Beschluß Beteiligten die Verpflichtung auferlegen wollte, dem klagenden Aktionär u. a. die Prozeßkosten zu erstatten 511 • Insgesamt kann Jolly daher eher als "Erfinder der Aktionärsklage"512 denn als effizienter Wegbereiter des Anfechtungsrechts des einzelnen Aktionärs betrachtet werden. Es war soweit ersichtlich Renaud, der sich seit 1863 im Rahmen mehrerer Publikationen mit den Sonder- und Individualrechten beschäftigte und der in diesem Zusammenhang erstmals explizit auch das Anfechtungsrecht des einzelnen Aktionärs untersuchte. Danach sei dieser seiner Auffassung nach kraft seines .,gesellschaftlichen Rechtes" u. a. befugt, einen Beschluß des Verwaltungsrates, der die Aufschiebung einer Dividendenzahlung zur Abwendung von Nachteilen für die Gesellschaft anordnete und dem er nicht zustimmte, anzufechten. Alsdann bestünde die Möglichkeit, auf gerichtlichem oder schiedsgerichtlichem Wege die Feststellung einer Pflicht zur Dividendenzahlung herbeizuführen 513 • Wenngleich diese Ansicht auch als Ausgangspunkt der Entwicklung des Anfechtungsrechts im heutigen Sinne verstanden werden muß, so war letzteres damit dennoch keineswegs auf eine gesicherte Grundlage gestellt: ZDR II [1847],422. Ebenda,S.407. ~9 A. a. 0 .. S. 409 510 A. a. 0., S. 422 f. 511 ZDR 11 [1847], 317 (423). 512 Brondics, S. 29m. w. N. 513 Renaud, I. Aufl., S. 465,576,577, 586; 2. Aufl., S. 523; ders., ZHR 12 [1868], I (9); i. E. auch ZHR 13 [1869], 164 f. Nicht nachvollziehbar ist daher, wie Martens, S. 24, zu der Auffassung gelangte, Sonderrechte seien in der Literatur "anscheinend unbekannt" gewesen. 507 ~s

112 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

Zunächst war Renauds Ansicht insofern unklar, als daß sie keine eindeutige Unterscheidung zwischen Anfechtungs- und Feststellungsklage ermöglichte, da das Rechtsschutzziel der Anfechtung offensichtlich die Feststellung vermögensrechtlicher Ansprüche sein sollte. Abgesehen von diversen anderen ungeklärten Fragen- ob sich z. B. die Anfechtung auch gegen Beschlüsse des Direktoriums und der Generalversammlung richten konnten, wer bei einer Klage passivlegitimiert sein sollte etc.- sowie der weniger dogmatisch als eher gesellschaftspolitisch fundierten Herleitung eines "gesellschaftlichen Einzelrechtes"514 ist darüber hinaus in mehrerlei Hinsicht zweifelhaft, ob zumindest das Schiedsverfahren in diesen Fällen als Instrument einer wirksamen Beschlußkontrolle überhaupt geeignet gewesen wäre. Zum einen benennen die Schiedsklauseln in den Gesellschaftsstatuten nicht einheitlich einzelne Aktionäre als mögliche Partei des Verfahrens515 , so daß daraus kein allgemeingültiger Rechtsgrundsatz einer Anfechtungs- bzw. Klagebefugnis des Einzelaktionärs herzuleiten war. Zum anderen läßt auch die Ausgestaltung des Verfahrens fraglich erscheinen, ob die Anrufung eines Schiedsgerichtes als Rechtsmittel gegen Beschlüsse von Direktorium oder Verwaltungsrat vorgesehen waren, denn i.d.R. sollte jede Streitpartei einen Schiedsrichter "aus ihren Reihen" bestimmen. Dies hätte jedoch bedeutet, daß die Möglichkeit bestanden hätte, die Beschlüsse der genannten Gesellschaftsorgane auf Umwegen einer Überprüfung durch einzelne Aktionäre zugänglich zu machen, was nach den ausdrücklichen Zuständigkeitsregelungen der Statuten und den Entscheidungsstrukturen in den Gesellschaften aber gerade nicht der Fall sein sollte. Letztlich sah wohl auch der Gesetzgeber keinen diesbezüglichen Handlungsbedarf, denn die Motive zur Aktienrechtsnovelle von 1870 enthalten keinerlei Ausführungen zur Materie der Individualrechte. So stellte v. Gierke 1868 in rechtstatsächlicher Hinsicht denn auch fest, daß die Statuten der meisten Aktiengesellschaften bemüht waren, "durch die besonderen Bestimmungen über die Bedingungen und die Ausübung des Stimmrechts sowohl die Interessenvertretung der unpersönlichen Kapitalbeträge gegen individuelle Willkür, Einsichts1osigkeit oder Unwürdigkeit zu sichern, als auch den Beschlüssen gegen die Kapitalmacht einzelner Mitglieder die Bedeutung von Genossenschaftsbeschlüssen zu wahren"516 . Es war - wie eingangs erwähnt - die Zeit der Gründerkrise, in der sich die Diskussion um die Individualrechte erneut belebte. Bekker beklagte 1872 den Mangel

s. Fn. 535. Vgl. BLW-AG, §51 :"[ ... ] Streitigkeiten, sowohl zwischen der Direktion und den gesammten Aktionären, als zwischen der Gesellschaft und den Versicherten [ . . . ]"; NB-AG, § ?:"Streitigkeiten zwischen der Gesellschaft und deren Vertretern und Beamten [ ... ]"; anders aber MH-AG; § 73:"Streitigkeiten, welche in Eisenbahn-Angelegenheiten über gegenseitige Rechte und Verbindlichkeiten zwischen einzelnen Aktionären unter einander oder zwischen der Gesellschaft und einzelnen ihrer Mitglieder entstehen [ ... ]". 516 v. Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. I, S. 1024. 514 515

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an Vorarbeit bei der Klärung der Rechtsverhältnisse der Aktionäre und widmete sich in einer umfassenden Abhandlung517 eingehend der Materie der Individualrechte. Nach seinem Verständnis war jeder Aktionär Rechtsnachfolger der Gründer einer AG und hatte deshalb einen unveräußerlichen Anspruch auf die gesetz- und statutenmäßige Verwaltung des Aktienuntemehmens. Dieser Anspruch stehe zur Disposition des Einzelnen und könne folglich von jedem für sich geltend gemacht werden518 • Gleichwohl gelangte Bekker nicht- wie später vom ROHG und den Reichstagsprotokollen falschlieherweise angenommen519 - zu der Annahme, dem einzelnen Aktionär stehe ein Recht auf Anfechtung statutenwidriger Generalversammlungsbeschlüsse zu, denn seinen Ausführungen legte er die eigentümliche Auffassung zugrunde, mit der Teilnahme an der Generalversammlung höre der Einzelaktionär quasi auf, im Gefüge der AG als rechtlich selbständiges Individuum zu existieren: "Sobald er aber daselbst erscheint, hört die einseitige Berechtigung auf. In der Generalversammlung ist er verpflichtet, als Teil eines Organs der Gesellschaft, er steht ebenso unter den allgemeinen gesetzlichen wie unter den besonderen statuarischen Bestimmungen"520. Die Kontrolle von Generalversammlungsbeschlüssen wollte Bekker dadurch verwirklicht sehen, daß für den Fall einer gesetz- oder statutenwidrigen Beschlußfassung die AG selbst, vertreten durch den Vorstand, das Recht habe, "die Kontrakts- (oder Quasikontrakts-) Klage [ . .. ] wider diejenigen Aktionäre, welche den fehlsamen Beschluß gefaßt und die mit Gesetz und Statut in Konflikt getretene Majorität gebildet haben" zu erheben. Die beklagten Aktionäre sollten als Gesamtschuldner für etwa durch den fehlerhaften Beschluß entstandene Schäden haften 521 . Immerhin erkannte Bekker selbst die dogmatische und praktische Fragwürdigkeit dieser Thesen und konzedierte, daß .,der Beweis der persönlichen Zugehörigkeit des Beklagten zur schuldigen Majorität zunächst oft auf Schwierigkeiten stoßen" werde. Er schlug deshalb als weitere Möglichkeit der Beschlußkontrolle vor: ,,Präjudizielle Feststellung der Gesetz- und Statutenwidrigkeit der gefaßten Beschlüsse; im Anschluß daran Inhibitorien die Ausführung derselben zu hintertreiben. De lege ferenda in zweckmäßiger Gestaltung vielleicht sehr zu empfehlen, zum mindesten ernstlich zu erwägen [ ... ]522 . Sein Vorschlag zielte damit in der Sache auf die Schaffung des Anfechtungsrechts, ohne daß er sich jedoch ausdrücklich auf eine ausdrückliche Bezeichnung oder nähere theoretische Ausformung desselben kaprizierte.

m ZHR 17 [1872], 379 ff. Ebenda, S. 430,437. ROHG 9, 273 (274); Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1884, Bd. 3: Anlagen, S. 296. 520 Bekker, ZHR 17 [1872], 379 (425). 521 A. a. 0., S. 427. 522 Bekker, ZHR 17 [1872], S. 428. 518

519

R Emmerich

114 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

Freilich stieß Bekkers rechtstheoretisches Konzept dort auf Schwierigkeiten, wo es um Rechtspositionen ging, die wesensnotwendig nicht von der AG gegen sich selbst geltend gemacht werden konnten, weil es sich dabei um solche des Einzelaktionärs handelte, wie etwa dem Anspruch auf Gewinnverteilung bzw. Dividendenausschüttung, bei denen sich nach damaliger Auffassung Gesellschaft und Aktionär als Schuldner und Gläubiger gegenüberstanden 523 • Für den Fall eines gesetzoder statutenwidrigen Beschlusses über die Gewinnverteilung sollte der einzelne Aktionär auf Feststellung der Nichtigkeit des Beschlusses klagen können, was im Ergebnis der heutigen Möglichkeit des § 249 Abs. 1 AktG entsprach. Für sonstige Fälle, in denen der Aktionär als Gesellschafter betroffen war, konnte nach Bekker eine Klage nur dann angestrengt werden, wenn die AG, die in diesen Fällen das nämliche Recht regelmäßig nur in eigenem Namen geltend machen konnte, selbiges an den Aktionär abtrat524. Die obigen Ausführungen verdeutlichen die dogmatischen Unsicherheiten und Schwierigkeiten, welche in der zeitgenössischen Literatur bei der Herleitung und Anerkennung von Individualrechten wie des Anfechtungsrechts bis dahin bestanden, ohne daß man sich jedoch im Anschluß auf Seiten der Literatur mit nennenswertem Erfolg bemühte, diesem Zustand abzuhelfen. Vor allem die hitzige, teilweise polemisch geführte Diskussion um die Aktiengesellschaft in den Gründerjahren brachte nur wenige brauchbare Lösungsansätze hervor. Es fehlte dagegen nicht an vehementer Kritik, deren Zielscheibe vor allem die Generalversammlung war. So vertrat etwa Perrot die Ansicht, die Generalversammlung und als Konsequenz die AG selbst sei .,notorisch ein ganz dicker und handgreiflicher Blödsinn"525 • Emstzunehmendere Reformvorschläge wie derjenige, die .,Individualrechte der Aktionäre als der lebendigen Träger der Aktiengesellschaft" müßten erweitert und dem einzelnen Aktionär Kompetenzen übertragen werden, die bisher der Generalversammlung vorbehalten gewesen seien526, waren die Ausnahme. Gleichwohl bildeten die hier gewonnenen Erkenntnisse eine wichtige Grundlage für spätere Reformansätze. In der Folgezeit war es dann die Rechtsprechung, die sich mit den Individualrechten zwar verstärkt befaßte527 , aber eher zu deren praktischer Ausgestaltung als ihrer theoretischen Festigung beitrug. Erst 1879 unternahm Thöl einen weiteren Versuch, die Individualrechte und das Anfechtungsrecht rechtstheoretisch zu untermauern. Nach Thöls Ansicht sei jedem gültigen Beschluß der Generalversammlung immanent, daß dieser alle Aktionäre als .,wollende oder so geltende" binde, 523 524

Ebenda, S. 409. Ebenda, S. 438.

In zwölfter Stunde, S. 70. Strombeck, S. 49 f.; s. auch die Ausflihrungen von Oechelhäuser, S 77, der die Individualrechte als •.Zweischneidiges Schwert" bezeichnete und für eine eher vorsichtige Ausweitung eintrat, im Ergebnis aber z. B. ein Anfechtungsrecht einzelner Aktionäre ablehnte. 527 s. dazu unten 2. 525

526

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dem erklärten Willen aller also rechtlich gleichzusetzen sei, wobei Statut und Gesetz für die überstimmte Minderheit einen Verzicht auf den eigenen Willen fingierten. Dieser Gesamtwille könne allerdings nur so weit reichen, wie ihm nicht der offensichtliche, nicht notwendigerweise aber ausgesprochene Wille des einzelnen Aktionärs entgegenstehe, es sei denn, letzterer habe ausdrücklich auf diesen verzichtet. Die dem Gesamtwillen gesetzte Grenze sei demnach das auf Gesetz, Statut und offensichtlichem Willen beruhende Einzelrecht, das auch gegenüber der Generalversammlung bestehe528 . Obgleich Thöl davon ausging, daß ein Einzelrecht nicht durch Beschluß der Generalversammlung aufgehoben werden könne, vertrat er die im Ergebnis widersprüchliche Auffassung, daß die Einzelrechte - wozu er auch das Anfechtungsrecht zählte529 - sämtlich durch den satzungsändernden Beschluß einer 2/3-Mehrheit beseitigt werden könnten, und zwar auch dann, wenn das Statut eine solche Abänderung nicht besonders, "weder ausdrücklich, noch stillschweigend" gestattete. Es mag sein, daß diese Auffassung Thöls ihre Entstehung einer früheren Version seines Lehrbuchs und der unkritischen Übertragung in die folgenden Auflagen verdankte, spätestens seit 1874 war sie jedoch durch eine anderslautende Rechtsprechung des ROHGunhaltbar geworden530 . Zutreffend stellte Reinganum demgegenüber 1881 fest, es sei allgemein anerkannt, daß die Generalversammlung die persönlichen Rechte der Aktionäre durch Beschlüsse nicht verkürzen könne und daß dem Einzelaktionär wegen einer Verletzung dieser Rechte ein Klagerecht zustehe531. Zu Recht bejahte er ein Rechtsschutzinteresse allerdings nur dann, wenn der angefochtene Beschluß auf einer Verletzung von Gesetz oder Satzung beruhte, da ansonsten zu befürchten sei, daß auch die Verletzung von Privatinteressen zur Erhebung von Anfechtungsklagen führen würde 532 . Eine Kausalitätsbeziehung zwischen Rechtsverletzung und Beschluß war dagegen nicht gefordert. Weitaus bemerkenswerter war indes Reinganums Feststellung, die Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen könne auch auf eine Verletzung der gesellschaftlichen Treuepflicht gestützt werden:

528 529

530 531 532

Thöl. S. 495 f. Ders., S. 498. Als weitere Einzelrechte nannte Thöl: - den Anteil am Gesellschaftsvermögen, - die Forderung auf Auszahlung des zur Verteilung vorgesehenen Gewinns, - das Behaltendürfen gutgläubig empfangener Dividenden, - das Stimmrecht in der Generalversammlung, - das Recht, die Einberufung einer Generalversammlung zu verlangen, - die Rechte aus Widerrechtlichkeilen des Vorstandes und des Aufsichtsrates (i. E. Klagerechte), - die Rechte aus Widerrechtlichkeilen der Generalversammlung (Anfechtungsrecht), ebenda, S. 490 f. s. dazu unten 2. Reinganum, S. 21, 25. Ders., S. 29 f.

116 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861 ,,Die Gesellschafter sind einander Treue und Redlichkeit schuldig. [ .. . ) Wenn auch bei den eigenthümlichen Verhältnissen der Actiengesellschaft eine persönliche Haftung der Actionäre wegen ihrer Beschlüsse ausgeschlossen bleiben mag, so wirkt doch dies gesetzliche Prinzip der Treue und Redlichkeit gegen den Gesellschafter und der Anwendung aller Sorgfalt in den gesellschaftlichen Verrichtungen dahin, dass Beschlüsse, welche der Verletzung dieser Rechtsprincipien ihr Dasein verdanken, nichtig oder doch anfechtbar sind"533 .

Reinganum darf damit zwar als ..Erfinder der Treuepflicht" gelten; überzeugend war der Rückgriff auf die Treuepflicht des Aktionärs indes nicht. Es ist nicht recht einzusehen, warum die Verletzung der unter den Aktionären wirkenden Treuepflicht im nachhinein von einem Beteiligten sollte geltend gemacht werden dürfen, der zuvor an eben dieser Rechtsverletzung im Wege der Beschlußfassung mitgewirkt hat.

2. Die Sonderrechte in Rechtsprechung und Praxis a) Die Rechtsprechung Trotz der wie oben dargestellt immer lebhafteren Diskussionen in der Literatur blieben die dort vertretenen Ansichten zu den Individualrechten - offensichtlich in Ermangelung praktischer Bedürfnisse - anfangs in der Rechtsprechung ohne Resonanz. Gerichtsentscheidungen, die mit dem Anfechtungsrecht befaßt waren, blieben zunächst vereinzelt. So verneinte etwa das Berliner Ober-Apellationsgericht in einem Urteil aus dem Jahre 1868 die Anfechtungsbefugnis eines Aktionärs, der nicht unverzüglich gegen den angefochtenen Beschluß der Generalversammlung protestiert hatte, unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung. In den Urteilsgründen führte das Gericht aus, daß der Kläger, der in der Generalversammlung vertreten worden war, bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinen Protest gegen den fraglichen Beschluß erhoben habe. Es könne aber einem Aktionär nicht gestattet sein, "etwaige in Formalitäten begangene Verstöße einstweilen ungerügt hingehen zu lassen, um gelegentlich in späterer Zeit alle damit in Zusammenhang stehenden, ihm mißliebigen Acte der Gesellschaftsbehörden als ungiltig anzufechten"534• Im übrigen verzichtete das Gericht jedoch darauf, auf die dogmatischen Grundlagen des Anfechtungsrechts näher einzugehen, so daß die Ausführungen zu allgemein gehalten waren, um dem Anfechtungsrecht als eigenständigem Rechtsinstitut zum Durchbruch verhelfen zu können. Es kann daher auch nach den oben gewonnenen Erkenntnissen nicht als Ergebnis fundierter rechtswissenschaftlicher Diskussionen oder zwingender Einfluß wirtschaftlicher und politischer Veränderungen m Ders., S. 31. Busch's Archiv, Bd. 20, 344 (346); s. ferner Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages 1884, Bd. 3 (Anlagen), S. 294 f. 534

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ll7

bezeichnet werden, als deren Konsequenz das Anfechtungsrecht letztlich auch von der Rechtsprechung entdeckt wurde. Das ROHGentschied im Jahre 1873 als erstes Obergericht unter Verweis auf die zuvor zitierten Ansichten Renauds und Bekkers: ,,Es mag richtig sein, daß ein Aktionär, welcher dem vom Kläger behaupteten Beschlusse nicht zugestimmt hätte, vermöge seines gesellschaftlichen Rechts befugt wäre, die Vertagung der definitiven Feststellung des Jahresgewinnes anzufechten und auf gerichtlichem oder schiedsgerichtlichem Wege die Herbeiführung einer solchen Feststellung zu verlangen"s3s.

Da der Kläger, wie das ROHG feststellte, jedoch nicht Aktionär der beklagten Gesellschaft war, unterlag die Klage notwendigerweise der Abweisung, ohne daß das Gericht nähere Ausführungen zum Anfechtungsrecht zu tätigen hatte. Damit war vom ROHG allerdings gleichzeitig auch das Problem der lediglich inter panes wirkenden Rechtskraft von Schiedsgerichtsvereinbarurigen umgangen worden, die sich damit für Anfechtungsprozesse als ohnehin problematisch erwiesen hätten. Dessen ungeachtet liegt angesichts des Verweises auf Bekker nahe, daß das Gericht das Anfechtungsrecht im anerkannten Anspruch des Einzelaktionärs auf gesetzund statutengemäße Verwaltung des Gesellschaftsvermögens536 begründet sehen wollte. An einer insoweit eindeutigen Bezugnahme fehlt es jedoch in den Urteilsgründen. Gleichwohl war mit dem Leitsatz zumindest eine Tendenz vorgegeben, und noch im gleichen Jahr hatte sich derselbe Senat des ROHG erneut mit Individualrechten und dem Anfechtungsrecht zu befassen. Unter Berufung auf Art. 224 ADHGB537 entschied das Gericht im Rechtsstreit Lampe gegen die Norddeutsche Lloyd-AG, daß es "grundlos und willkürlich" wäre, aus der genannten Vorschrift zu folgern, .,entweder, daß es überhaupt keine den Aktionären als einzelnen Gesellschaftern zustehende, von dem Gutbefinden des Verwaltungsrathes oder den Beschlüssen der Generalversammlung unabhängige Rechte geben könne, oder daß solche Rechte des von dem Verletzten anzurufenden richterlichen Schutzes nicht theilhaftig werden dürften"538. Entgegen Brondics539 war es daher das ROHG, das als erstes Gericht einen klagbaren Anspruch des Einzelaktionärs bejahte und damit zumindest den Individualrechten zur endgültigen Anerkennung verhalf.

535 Urteil vom 22. 4. 1873; s. ROHGE 9, 272 (273). 536 s. hierzu oben I. 537 .,Die Rechte, welche den Aktionären in den Angelegenheiten der Gesellschaft, insbesondere in Beziehung auf die Führung der Geschäfte, die Einsicht und Prüfung der Bilanz und die Bestimmung der Gewinnvertheilung zustehen, werden von der Gesarnmtheit der Aktionäre in der Generalversammlung ausgeübt." (Text bei Schubert/Homrnelhoff, S. 107 ff. (120). 538 ROHGE ll, 118 (121). 539 S. 35.

118 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

Auch zum Anfechtungsrecht bezog das Gericht erstmals ausdrücklich Stellung. Dogmatisch beschritt es dabei einen anderen Weg als die bis dahin von der Literatur gewählten Ansätze, indem es zur Begründung des Anfechtungsrechts schlicht auf den Gesellschaftsvertrag zurückgriff: ,,Eine Berücksichtigung des Inhalts des unter den hier streitigen Parteien maßgeblichen Gesellschaftsvertrages führt darauf hin, daß dem durch statutenwidrige Bestimmung der Dividende verkürzten Aktionär die Anfechtung dieser Feststellung und der Anspruch auf den vollen ihm gebührenden Betrag nicht versagt werden kann"540

Das Gericht gewann seine Erkenntnis aus der Heranziehung von§ 10 des Statutes der Norddeutschen Lloyd AG, der wie folgt lautete: "Jeder Aktionär hat das Recht auf den Bezug der ordnungsgemäß festgestellten Dividende." Mit diesem Recht korrespondiere ein "aus eigener Person, nöthigenfalls gerichtlich, geltend zu machendes Recht" des Einzelaktionärs auf eine den Vorschriften des Statutes (im konkreten Fall § 27) entsprechende Feststellung der Dividende. Verstoße der entsprechende Beschluß der Generalversammlung gegen diese Vorschriften, so die Urteilsbegründung, "ist die Dividende nicht ordnungsgemäß festgestellt und tritt das auf dem Grunde des § 10 beruhende jedem Aktionär zustehende Recht der Anfechtung in Wirksamkeit"541 . Der Auffassung des ROHG lag also ein individualistisch-aktionärsbezogenes Verständnis des Anfechtungsrechts zugrunde, wobei die Anfechtungsbefugnis voraussetzte, daß der Anfechtende in eigenen Rechten mittel- oder unmittelbar betroffen war542 . Dabei gründete die Auffassung des Gerichts anscheinend in der - allerdings nicht ausdrücklich genannten - Vorschrift des Art. 89 Einl. ALR, die wie folgt Iautete:"Wem die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die Mittel, ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann." Auf diesen Begründungsansatz wird im Zusammenhang mit einem weiteren ROHG-Urteil alsbald zurückzukommen sein543 • Die Feststellungen des eben aufgeführten Urteils scheinen im Ergebnis auf den ersten Blick sehr weitreichend zu sein, beinhalteten sie doch die naheliegende Schlußfolgerung, daß dem einzelnen Aktionär gleichsam als Kehrseite jedes ihm gegenüber der AG aufgrund gesetzlicher oder gesellschaftsvertraglicher Vorschriften zustehenden Rechts die Befugnis zugesprochen werden sollte, solche Beschlüsse anzufechten, die dieses Recht verletzten, gleichgültig ob es sich hierbei um ein Vermögens- oder sonstiges Recht handelte. Man könnte daher meinen, das ROHG habe damit jenen Bestimmungen in den Gesellschaftsverträgen den Boden ROGHE II, 118 (123 f.) ROHGE II, 118 [124]. 542 Anders Schubert/ Hommelhoff, S. 97 (Fn. 222) Das ROHG stellte jedoch fest, daß "der in der fraglichen Rechten Verletzte" befugt sei, "die ihn als Actionär bedrohenden Folgen solcher Rechtsverletzung von sich abzuwenden" (E 14, 357) bzw. daß die Rechte des betroffenen Aktionärs "von ihm aus eigener Person" geltend zu machen seien (E II, 123); s. auch Ring, S. 457 m. w. N.; Immenga, GmbHR 1973, 5 (6). 543 Vgl. folgende Seite. 540 541

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entziehen wollen, die das Anfechtungsrecht ausdrucklieh ausschlossen. Diese Annahme erweist sich jedoch bei näherer Betrachtung als verfriiht, denn dem ROHG war offensichtlich die Tragweite seiner Ausführungen sehr wohl bewußt. Einschränkend stellte es daher fest, gleichwohl sei die Generalversammlung "die Verkörperung der Gesellschaft" und "als solche sowohl die Principalin aller Verwaltungsorgane, als auch die Inhaberin alleiniger freier Willensbestimmung, nur beschränkt durch die den Gesellschaftern, als solchen, nach der Grundlage des Gesellschaftsvertrages zugesicherten [ .. . ) Rechte". Infolgedessen könne die Generalversammlung "für einzelne in der Folgezeit zu erledigende Angelegenheiten Special-Beschlüsse fassen, welche, wenn sie einstimmig erfolgen, oder, falls durch Majorität gefaßt, ihrer Gültigkeit nach von der Minorität nicht angefochten werden, für die Verwaltungsorgane verbindlich sind und auch in ihren Ergebnissen von den Aktionären anerkannt werden müssen"544 . pamit weichte das ROHG seine Position im nachhinein wieder auf, indem es die Anfechtungsbefugnis auf solche Fälle beschränkte, in denen einzelne Aktionäre aufgrund gesetzlicher Vorschriften oder des Gesellschaftvertrages berechtigt waren, eigene Ansprüche gegen die Gesellschaft zu erheben. In der Regel waren dies jedoch nur die bereits genannten Vermögensrechte 545 . Zweifelhaft war demnach, ob beispielsweise auch ein Beschluß, mit dem ein Aktionär zu Unrecht von der Generalversammlung ausgeschlossen wurde, der Anfechtung unterlag. Offen blieb nach diesem Urteil ferner insbesondere die Frage nach der Zulässigkeil der verbreiteten Praxis, das Anfechtungsrecht durch die Satzung auszuschließen. Insgesamt war das Urteil damit zwar dogmatisch fundierter, im Ergebnis aber wenig geeignet, abschließend Klarheit in Bezug auf die Anerkennung des Anfechtungsrechts zu schaffen. Immerhin war jedoch erstmals dem einzelnen Aktionär - wenn auch in äußerst beschränktem Umfang - ein Instrument zur Durchsetzung zumindest seiner gesellschaftsvertraglich geregelten Belange an die Hand gegeben. Das ROHG setzte seine Rechtsprechung in einem weiteren Urteil vom 26. 10. 1874 fort, in dem es zunächst die vorherigen Urteile bestätigte und ausführte, daß namentlich die Vermögensrechte des einzelnen Aktionärs diesem weder durch Mehrheitsbeschluß entzogen noch sonst willkürlich geschmälert oder beeinträchtigt werden dürften. Gegen Beschlüsse, die eine Verletzung der fraglichen Rechte enthielten, stünde dem Betroffenen der Rechtsweg offen "behufs judicatmäßiger Feststellung der Illegalität des betreffenden Beschlusses und der etwa zu dessen Ausführung bereits seitens der Gesellschaft gethanen Schritte." Zum Anfechtungsrecht heißt es schließlich in den Griinden: ,,Daß ein Generalversammlungs-Beschluß, welcher den formellen Anforderungen des Gesetzes oder Statuts nicht entspricht, und namentlich ein blos mit Stimmenmehrheit in solchen Fällen gefaßter Beschluß, in denen das Gesetz oder Statut Einstimmigkeit verlangt, der Anfechtung unterliegt, erscheint selbstverständlich. Die Befugniß des einzelnen Aktio-

544 545

Schuber!/ Hommelhoff, S. 125 Vgl. Ring, S. 457 m. w. N.

120 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861 närs in allen diesen Fällen, gegen die Gesellschaft klagend aufzutreten, läßt sich, wenigstens nach Preußischem Rechte - § 89 der Einleit. zum Allg. Landr., § I der Einleit. zur Allg. Ger. Ordg. - nicht bezweifeln 546".

Mit dem Verweis auf § 89 Einl. ALR versuchte das ROHG zwar erstmals, eine aUgemeingültige dogmatische Stütze für das Anfechtungsrecht zu schaffen, der m.E. jedoch aus mehreren Gründen nicht überzeugen konnte. Denn zum einen regelte § 27 II 6 ALR, daß die Verfassung einer "Corporation" durch die "solchergestalt", d. h. nach der Vorschrift des § 26 ll 6 ALR547 "bestimmten Rechte und Pflichten der Gesellschaft und ihrer Mitglieder" gebildet werde. Gern. § 26 ll 6 ALR war hierfür aber in erster Linie der Gesellschaftsvertrag maßgebend, während § 89 Einl. ALR sich wie oben gesehen nur auf gesetzlich gewährte Rechte bezog. Bereits die systematische bzw. grammatikalische Auslegung der einschlägigen Vorschriften zeigt daher, daß bei der Herleitung des Anfechtungsrechts a11enfa11s für eine analoge Anwendung des § 89 Einl. ALR Raum bleiben konnte, denn von Gesetzes wegen dem einzelnen Gesellschafter zugewiesene Beschlußkontro11rechte kannte das ALR nicht. Da zudem für alle Gesellschaftsbeschlüsse der bereits oben erwähnte staatliche Genehmigungsvorbehalt aus § 26 II 6 ALR existierte, verboten sich insoweit auch gesellschaftsvertragliche Regelungen. Zum anderen begab das ROHG sich mit den genannten Feststellungen in Widerspruch zumindest zu den Ausführungen im Urteil vom 26. 10. 1874, denn damit schaffte es wiederum Raum für die bereits oben erwähnte weite Auslegung der Anfechtungsbefugnis, die über die Geltendmachung von Vermögensrechten hinausging. Da sich das Gericht hiermit aber nicht weiter auseinandersetzte, trug das Urteil kaum zur Festigung der bisher gewonnenen Erkenntnisse bei. Gleiches gilt für das ROHGUrteil vom 20. 10. 1877, in dem das Gericht fast schon formelhaft ausführte: "Das Recht der Einzelaktionärs, gemeinhin gegenüber gesetz- oder geschehenen statutenwidrigen Beschlüssen Anfechtungsrecht genannt, kann im Princip als bestehend anerkannt werden"548.

Bedeutsam war diese Entscheidung allerdings in anderer Hinsicht, denn das ROHG gewährte dem Aktionär- wie Knobbe-Keuk später zutreffend feststellte 549 - mit Selbstverständlichkeit ein Klagerecht gegen die Gesellschaft wegen gesetzoder satzungswidriger Maßnahmen des Vorstandes und des Aufsichtsrates. In der Tat lautete der damalige Klageantrag, "die Beschlüsse und Kontrakte des Aufsichtsrats, Vorstands und der Generalversammlung [ ... ] für nichtig [ ... ] zu erklären"550. Die Klagebefugnis beruhte nach Ansicht des ROHG auf dem "Recht des Aktionärs, um der Gesellschaft und seiner Mitgliedschaft willen zu verlangen, daß

546 547 548 549

5SO

ROHGE 14, 355 f. Zum Normtext s.o. I. Teil, 2. Abschnitt, C. II. 2.) a) aa). ROHGE 23, 272 (275). FS Ballerstedt, 239 (248 f.) ROHGE 23, 272 (273).

I. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

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der Gesellschaftswille sich entsprechend den Gesetzen und den statuarischen Bestimmungen betätige"551 . Die Begründung dieses Urteils war damit im Ansatz erheblich breiter gelagert als das heute geschriebene Recht, das dem einzelnen Aktionär im Rahmen der Anfechtungsklage einen derartigen Anspruch nicht mehr zugesteht und bildete später die Grundlage für die Diskussion um die Einführung einer allgemeinen Aktionärsklage552. Nach Ansicht von Knobbe-Keuk war damit zu differenzieren zwischen einer Klage gegen gesetz- und statutenwidrige Beschlüsse der Generalversammlung und einer Klage wegen ebensolcher Maßnahmen von Vorstand und Aufsichtsrat. Nur im erstgenannten Fall handele es sich um eine Anfechtungsldage, so daß das Anfechtungsrecht als Erscheinungsform des allgemeinen Rechts der Gesellschafter auf gesetz-und statutenmäßige Betätigung der Gesellschaft zu gelten habe553 . Die Judikatur des Reichsoberhandelsgerichtes fand nach dessen Auflösung im Jahre 1879 ihren Fortgang in der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Mit dem Urteil vom 19. 2. 1881 trug das Gericht entscheidend zur Festigung der Rechtsanschauung zu den Individualrechten bei. Es stellte fest, der einzelne Aktionär habe "ein Recht darauf, daß von den Gesellschaftsorganen den gesetzlichen Bestimmungen gemäß verfahren werde" und könne "zur Realisierung dieses Rechts die richterliche Hilfe anrufen", bestätigte also dem Grundsatz nach die bisherige Rechtsprechung des ROHG zum Anfechtungsrecht Der zentrale Passus aus den Gründen lautet jedoch: "In Betracht kommen können dabei jedoch "nur die Rechtsnormen, nicht das Interesse der Gesellschaft. Wie einerseits bei gesetzmäßigem Verhalten der Organe der Gesellschaft der einzelne Aktionär nicht geltend machen kann, daß der gefaßte oder ausgeführte Beschluß den Interessen der Gesellschaft zuwiderlaufe, so kann andererseits bei rechtswidrigem Vorgehen der Gesellschaftsorgane dem Anfechtungsrecht des einzelnen Aktionärs der Einwand nicht wirksam entgegengesetzt werden, daß der rechtswidrig gefaßte Beschluß den Interessen der Gesellschaft förderlich gewesen sei"554 •

Damit war zum einen klargestellt, daß das Anfechtungsrecht nicht nur, wie bisher in der Rechtsprechung des ROHG geschehen, auf die sog. Vermögensrechte beschränkt war, sondern auch der Sicherung von Teilnahmerechten wie dem erwähnten Anspruch auf Mitwirkung in der Generalversammlung dienen konnte. Ferner bestätigte das Gericht den Anspruch des einzelnen Aktionärs auf gesetzund statutenmäßiges Verhalten der Gesellschaft, welches unabhängig von der Satsst ROHGE 23, 272 (273) ss2 Vgl. Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, Rn. 221a. Seit der "Holzmüller"-Entscheidung (BGHZ 83, 122 ff.) wird diskutiert, ob im Wege der Aktionärsklage gegen gesetz-oder satzungswidriges Verhalten der Gesellschaft mit dem Antrag auf Unterlassung bzw. Wiederherstellung vorgegangen werden kann, vgl. zum Streitstand Eisenhardt a. a. 0., m. w. N. 553 Knobbe-Keuk in FS Ballerstedt, S. 239 (246 ff.); vgl. hierzu auch Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, Rn. 221a. 554 RGZ 3, 123 (126)

122 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

zung und den Gesellschaftsinteressen gewährleistet werden müsse und im Falle einer Rechtsverletzung sogar gegenüber den letztgenannten Vorrang genieße. Gleichzeitig stellte das Reichsgericht hiermit erstmals fest, daß unter bestimmten Voraussetzungen die Interessen eines einzelnen Gesellschafters höher zu bewerten seien als diejenigen des Unternehmens. b) Gesellschaftsrechtliche Praxis und Gesetzgebung In der öffentlichen Diskussion galten die Mißstände im Aktiengesellschaftswesen mittlerweile als wichtiger Teilbereich der sozialen Frage, wobei man zum Teil sogar die Grundsätze und Prinzipien der Wirtschaftsordnung ernsthaft gefährdet sah555 . Mit dieser Problematik beschäftigte sich auch der "Verein für Socialpolitik", für den der spätere ROHG-Senatspräsident Wiener sowie die Handelsrechtier Behrend und Goldschmidt hierzu gutachterlieh Stellung nahmen und sich einstimmig für die Notwendigkeit aussprachen, den Bereich der Individualrechte einer eingehenden Revision zu unterziehen 556• Am detailliertesten waren die Forderungen Behrends, der sich für eine ,,Nichtigkeitsklage" gegen gesetz- oder statutenwidrige Generalversammlungsbeschlüsse einsetzte und versuchte, die Grundzüge des entsprechenden Verfahrens zu formulieren. Danach sollte die genannte Klage zulässig sein, wenn bei der Einberufung, bei Verhandlungen oder Abstimmungen der Generalversammlung wesentliche Formvorschriften verletzt und wenn Beschlüsse unter Einbeziehung ungültiger Stimmen oder außerhalb ihrer Kompetenzen gefaßt würden. Klagebefugt sollte jeder Aktionär sowie Dritte sein, die ein rechtliches Interesse an der Ungültigkeitserklärung des Beschlusses besaßen. Die Klage sollte innerhalb einer Frist von dreißig Tagen gegen den Vorstand als Passivlegitimierten gerichtet werden können557. Weitergehend als die meisten Verfechter seiner Ansicht forderte Behrend zudem Publizität des Verfahrens durch Veröffentlichung von Termin und Klageantrag in öffentlichen Blättern. Unter Berufung auf Bekker's Ansicht sollte nach Behrend außerdem die Möglichkeit für den Richter bestehen, angefochtene Beschlüsse außer Vollzug zu setzen558 . Obwohl Behrend nicht zu allen Problemfragen der Individualrechte umfassend Stellung bezogen hatte, enthielt sein Gutachten sehr praktikable konzeptionelle Ansätze zu einer Neuordnung dieser Materie. Nicht nur zufallig fanden daher einige davon auch im späteren Gutachten des ROHG Berücksichtigung559 Von gesetzgebenscher Seite erhielt die Debatte um die Individualrechte erst zu dem Zeitpunkte neue Anstöße, als im Februar 1873 die Regierung aufgrund eines Vgl. Weber, in: Hildebrandt/Conrad, S. 333. Vgl. die Ausführungen Wieners in: Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. I , S. I ff. (23 f.); s. ferner Goldschmidt a. a. 0., S. 29 ff. (35 f.) . 551 Sehrend, in: Schriften des Vereins für Socialpolitik (Fn. 626), S. 37 ff. (76 f.) 558 A. a. 0., S. 78; zu Bekker s. oben 1.) 559 s. dazu unten aa). 555 556

I. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

123

Antrags der nationalliberalen Fraktion des preußischen Abgeordnetenhauses die Einsetzung einer Kommission zur Untersuchung der Mißstände im EisenbahnKonzessionswesen ankündigte. Da es sich bei den meisten Eisenbahngesellschaften um AG's handelte, hatte sich die Untersuchungskommission überwiegend mit originär aktiemechtlichen Fragestellungen zu beschäftigen. Gleichwohl konnte dabei lediglich ein Teil der Mängel des Aktiemechts zur Sprache kommen. Erste Reformbestrebungen wurden ersichtlich, als die nationalliberale Fraktion im März 1873 an Reichskanzler Bismarck eine Anfrage des Inhalts richtete, ob die bestehenden Mißbräuche zur Kenntnis der Regierung gelangt seien und inwiefern hier Abhilfe möglich und vorgesehen sei560. Daraufhin wurden im April 1873 sämtliche Bundesregierungen ersucht, über jedwede seit der Reform von 1870 aufgetretenen Mißstände zu berichten und Vorschläge für eine künftige Behebung derselben auf gesetzlichem Wege zu unterbreiten. Gleichzeitig richtete der preußische Handelsminister detaillierte diesbezügliche Anfragen an sämtliche Handelskammern und kaufmännischen Korporationen. Eine Zusammenschau der gutachterliehen Stellungnahmen561 dieser Gremien zeigt, daß man den Individualrechten zumindest im Umfange des status quo ante nicht gänzlich ablehnend gegenüberstand562 . Dabei ist insbesondere erwähnenswert, daß vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Gründerjahre erstmals ausdrücklich gefordert wurde, Beschlußkontrollrechte als Minderheitenschutzrechte u. a. gegen die vielfaltigen Manipulationen des Beschlußverfahrens durch Vermietung, Verleihung oder Verpachtung von Aktien auszugestalten 563 Gleichwohl wurden von einigen einflußreichen Organisationen weitreichende Vorbehalte gegen eine Erweiterung der Individualrechte vorgebracht, die allerdings im wesentlichen nicht mehr als die althergebrachten Argumente enthielten: Mangelndes schutzwürdiges Interesse der Kleinaktionäre am Unternehmen und Gefahr der ineffizienten Unternehmensverwaltung durch zu weitreichende Kontrollbefugnisse der Aktionäre bzw. der Generalversammlung. Dementsprechend heißt es etwa im Gutachten der Harnburgischen Handelskammer: "Daher erachtet die Handelskammer es für eine durch und durch ungesunde Richtung, wenn von manchen Seiten die Revision des Actiengesetzes deshalb angestrebt wird, um,

560 561 562

563

s. hierzu Schubert/Hommelhoff, S. 7 f. Dreizehn davon sind abgedruckt bei Hecht, S. !57 ff. Hecht, S. 119, S. 136 und folgende Gutachten sprechen sichfür Individualrechte aus: - Gutachten der HK zu Augsburg, ebenda, S. 202 f. - Gutachten des Vorsteher-Amts der Königsherger Kaufmannschaft, ebenda, S. 269. - Gutachten der Vorsteher der Stettiner Kaufmannschaft, a. a. 0., S. 287. - Beschlüsse des Vereins für Socialpolitik, a. a. 0 ., S. 297. - Bericht der Ältesten der Kaufmannschaft zu Berlin, betr. Die legislative Änderung der gesetzlichen Vorschriften über Actien-Gesellschaften, a. a. 0 ., S. 350. - Vorschläge der Special-Kommission zur Untersuchung des Eisenbahn-Koncessionswesens, ebenda, S. 365. Vgl. die Forderungen der Special-Kommission bei Hecht, S. 365

124 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861 wie man sich ausdrückt, den kleinen Actionär gegen den grossen, das Publikum gegen die Banquiers, den Aussenstehenden gegen den Eingeweihten besser als bisher zu schützen. Die Handelskammer ist vielmehr der Meinung, dass kein Gebiet der Gesetzgebung so sehr als dasjenige des inneren Actien-Gesellschaftsrechtes eine strenge Durchführung des Grundsatzes, dass das Recht für die Wachsamen geschrieben wird, erfordert"564 .

Auf der Grundlage der genannten Enquete unterbreitete der Handelsminister dem preußischen Staatsministerium 1873 ein Votum und Vorschläge zur Änderung des Aktienrechts. Noch vor der Entscheidung des Staatsministeriums votierte jedoch der Justizausschuß des Bundesrates im Jahre 1874, daß hierfür kein Anlaß bestünde und man bis zu einer Neufassung des HGB warten solle565 . Dies wurde vom Bundesratsplenum am 22. 6. 1874 gebilligt, so daß die Aktienrechtsreform zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben schien. Hiermit wollte sich das preußische Abgeordnetenhaus allerdings nicht zufriedengeben und stellte 1876 beim Bundesrat den Antrag, unabhängig von einer Revision des HGB ein Zwischengesetz zur Behebung der Mängel im Aktienrecht zu erlassen. Diesem Antrag schlossen sich das Handels- und Justizministerium kurze Zeit später an 566.

aa) Vorschläge zur Beschlußkontrolle im Gutachten des ROHG von 1877 Ohne daß seitens des Staatsministeriums eine Entscheidung zum Antrag des preußischen Abgeordnetenhauses ergangen wäre, erbat das Reichskanzleramt im gleichen Jahr ein Gutachten beim ROHG zu der Frage, ob das geltende Aktienrecht in dem Umfange mangelhaft sei, daß "der Erlaß eines Zwischengesetzes geboten oder wünschenswerth" erscheine. Allerdings sollte dieser Auftrag lediglich dem Zweck dienen, Gegenargumente gegen den preußischen Antrag zu sammeln567. Das Gutachten, welches das ROHG schließlich unter dem 31. 3. 1877 erstattete, ging jedoch in jeder Hinsicht weit über diese ursprünglich gehegten Intentionen hinaus. Das Gericht wies darauf hin, daß nach seiner Erkenntnis nur durch eine umfassende Revision unter gleichzeitiger Prüfung der Grundprinzipen des Aktiengesellschaftsrechts diejenigen Wirkungen zu erwarten seien, "behufs deren Erzielung der Erlaß eines Zwischengesetzes in Anregung gekommen" sei. Es erscheine "sehr zweifelhaft, ob ohne eine solche gleichzeitige Revision dieser Grundprinzipien eine folgerichtige und förderliche gesetzgebefische Ordnung einer bestimmVgl. Hecht, S. 232. Vgl. Bericht des Justizausschusses vom 9. 6. 1874 (Bundesratsdrucksache Nr. 78/ 1874), s. 196 f. 566 Zu alledem eingehend Schubert/Hommelhoff, S. 7 ff. Vgl. auch den preußischen Antrag ebenda, S. 127 ff. 567 Dies., S. 15 f. m. w. N. 564 565

1. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

125

ten Gesellschaftsform ausführbar"568 sei. Zu warnen sei daher vor einer überstürzten Reformtätigkeit auf der Grundlage der Erfahrungen der Gründerjahre, die leicht dazu führen könne, durch die Schaffung allzu restriktiver Vorschriften die Entwicklung des Aktienrechts auf Jahre hinaus zu hemmen. Diese Erkenntnisse waren letztlich für das ROHG ausschlaggebend, die Erforderlichkeil und Zweckmäßigkeit eines Zwischengesetzes zu verneinen. Die Bedeutung des Gutachtens liegt darin, daß es dem Reichsjustizamt ein dogmatisch praktikables, durch die Judikatur z. T. bereits erprobtes Modell zur Weiterentwicklung des Aktienrechtes auf der Basis des Gesetzes von 1870 zur Verfügung stellte, das heute die Kontinuität veranschaulicht, in der das Aktiengesetz von 1884 steht569. Dabei beruhte die Reform von 1870 nach Ansicht des Gerichtes im wesentlichen auf richtigen Prinzipien, so daß sich eine Reform darauf beschränken sollte, "eine kräftigere und reifere Ausgestaltung der einzelnen Normen, wie insbesondere ihre Stellung unter schärferer und sie möglichst überall deckende Verantwortlichkeitsfolgen" 570 zu versuchen. Das Gutachten ist in zwei Teile gegliedert, von denen der zweite, "Geschäftsführung in der Aktiengesellschaft" die hier interessierenden Ausführungen zu den Beschlußkontrollrechten enthält. ( 1) Beschlußkontrolle durch den Vorstand

Für den Fall, daß ein Mitglied des Vorstands auf eine gesetz- oder statutenwidrige Beschlußfassung in dessen Geschäftskreis aufmerksam werde, sollte nach den Vorstellungen des ROHG das betreffende Mitglied die Pflicht treffen, dies unverzüglich dem Aufsichtsrat oder - falls dieser am betreffenden Beschluß mitgewirkt habe - einer umgehend einzuberufenden Generalversammlung mitzuteilen. Diese Verpflichtung sollte vom Zeitpunkt an gelten, von dem ab das Vorstandsmitglied von dem fraglichen Beschluß wußte oder bei pflichtgemäßer Sorgfalt hätte wissen müssen und sollte entsprechend haftungsrechtlich sanktioniert sein. Diese Haftung sollte auch dann fortdauern, wenn Aufsichtsrat oder Generalversammlung dem Beschluß zugestimmt hätten und das Vorstandsmitglied dann an der Ausführung desselben mitwirkte. Es stehe ihm dann frei, sein Mandat niederzulegen. Wolle der Betreffende jedoch sein Vorstandsmandat behalten, so reiche es nicht aus, daß er sich an der anschließenden Ausführung des Beschlusses nicht beteilige, in diesem Falle bestehe für ihn eine Verpflichtung, den fraglichen Beschluß anzufechten 571 • Sehr weitgehend unterbreitete später Bähr den Vorschlag, auch Beschlüsse des Vorstandes einer Anfechtung durch einzelne Aktionäre zugänglich zu machen 572 . Daß dies im Hinblick auf eine effektive Geschäftsführung einerseits und die bereits

568 569 570 571 572

Vgl. den Quellentext bei Schubert/ Hommelhoff, S. 16. Ebenda, S. 19 f. Ebenda, S. 18. Vgl. Schubert/Hommelhoff, S. 213. S. 30

126 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

seit 1870 vorhandene Haftungsvorschrift des Art. 241 Abs. 2 ADHGB weder praktikabel noch notwendig war, bedarf keiner weiteren Ausfl.ihrungen. (2) Beschlußkontrolle im Aufsichtsrat

Anders als für den Vorstand konnte nach Meinung des ROHG für den Aufsichtsrat eine konkrete Empfehlung, wie dieser im Falle von erkannten Gesetz- oder Statutenwidrigkeiten zu verfahren habe, nicht getroffen werden, da die Vielzahl der in diesem Rahmen zur Verfügung stehenden Maßnahmen eine bestimmte gesetzliche Regelung nicht zuließen. Dennoch seien die bisher in Artt. 193 und 225a ADHGB enthaltenen gesetzlichen Bestimmungen über die Pflichten und die Verantwortlichkeit des Aufsichtsrates unzureichend~ 73 . Das ROHG-Outachten enthielt daher zur Beschlußkontrolle folgende Vorschläge: [ ... ] Nimmt der Aufsichtsrath in seiner Amtswirksamkeit die Interessen der Gesellschaft schädigende Handlungen oder Unterlassungen oder gesetz- oder statutenwidrige Beschlüsse oder Verfügungen wahr, so hat er auf Beseitigung derselben und ihrer Folgen thunlichst hinzuwirken. Er kann jederzeit im Interesse der Gesellschaft, insbesondere um derselben von den Mißbräuchen Kenntniß zu geben und Beschlüsse zu deren Abstellung zu erwirken, eine Generalversammlung berufen. [ ... ] Im Falle einer Betheiligung des Aufsichtsraths an gesetz- oder statutenwidrigen Beschlüssen oder Verfügungen oder seiner Weigerung, denselben oder ihren Folgen entgegenzuwirken, sind auch diejenigen Aufsichtsrathsmitglieder flir die Folgen verantwortlich, welche, ohne selbst jenem Verhalte zugestimmt zu haben, es unterlassen haben, einer unverzüglich zu berufenden Generalversammlung hiervon Kenntniß zu geben"s74• Im Gegensatz zum Vorstand sollte folglich dem Aufsichtsrat als nicht an der Geschäftsführung beteiligtem Organ nach der Vorstellung des ROHG keine eigene Anfechtungsbefugnis zukommen. (3) Beschlußkontrolle in der Generalversammlung: Das Anfechtungsrecht

Auch die Ausführungen des ROHG zum Anfechtungsrecht des einzelnen Aktionärs waren von entscheidender Bedeutung für dessen spätere Kodifizierung im Aktiengesetz von 1884 und sollen daher an dieser Stelle im Wesentlichen vollständig wiedergegeben werden: .,Was das Recht der Anfechtung eines Generalversammlungsbeschlusses anlangt, so kann dieses Recht dem Einzelactionär schon nach heutigem Recht nicht bestritten werden. Es kann sowohl bei Verletzung der wesentlichen Förmlichkeiten in Betreff der Einberufung, Verhandlung und Abstimmung wie bei materieller Unzuständigkeit der Generalversammlung für den Beschluß geltend gemacht werden. Aber es fehlt an Bestimmungen behufs Vermeidung einer Vervielfältigung solcher Anfechtungsprozesse mit etwa verschiedenen 573 574

Schubertl Hommelhoff, S. 225 f. Schubert/ Hommelhoff, S. 228.

I. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

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Ergebnissen, der Festsetzung einer Frist, innerhalb welcher die Anfechtung allein zulässig, überhaupt an einer organischen Ausbildung der ganzen Materie. Wir schlagen vor: Die Anfechtung eines Beschlusses der Generalversammlung wegen Verletzung wesentlicher Fönnlichkeiten oder Ueberschreitung der der Generalversammlung durch Gesetz oder Gesellschaftsvertrag ertheilten Befugnisse im Wege der Klage gegen die Gesellschaft steht jedem Actionär, sowie dem Vorstande und jedem Mitglied des Vorstandes der Gesellschaft zu. Ebenso kann jeder Actionär gegen die Gesellschaft auf Aufrechterhaltung eines Generalversammlungsbeschlusses klagen, wenn deren Vorstand die Gültigkeit bestreitet. Auf die Klage auf Ungültigkeitserklärung oder Aufrechterhaltung des Beschlusses wird zunächst ein Termin zur Feststellung der streitenden Theile und ihrer Streitgenossen anberaumt. Eine öffentliche Bekanntmachung dieses Tennins mit der Aufforderung an alle Ac· tionäre, falls sie als Streitgenossen eines der beiden streitenden Theile in den Prozeß eintreten wollen, bis zu diesem Tennine oder in demselben ihren Anschluß zu erklären, erfolgt unter Beifügung einer Klageabschrift durch Anheftung an der Gerichtstafel und im Lokal der Börse, falls eine solche am Sitze des Prozeßgerichtes besteht, sowie durch zweimalige Einrückung in die für Bekanntmachungen im Gesellschaftsvertrage vorgesehenen öffentlichen Blätter. Gehen bis zum Termine noch andere Klagen auf Ungültigkeitserklärung oder Aufrechterhaltung desselben Beschlusses, wenn auch auf andere Gründe gestützt, ein, so werden sie mit der bereits angestellten Klage zum Zwecke gleichzeitiger Verhandlung und Entscheidung verbunden. Das Gericht stellt in dem Tennine die Personen der beiden streitenden Theile und ihrer Streitgenossen sowie ihre Stellung als Kläger oder Beklagter fest. Wollen Mitglieder des Vorstandes selbst als Kläger die Gültigkeit des Generalversamm· lungsbeschlusses anfechten, so wird der Gesellschaft für ihre Vertretung im Prozesse Mangels anderer hierzu befugten Vorstandsmitglieder vom Gericht ein Vertreter bestellt. Gegen die Feststellung des Gerichts ist die sofortige Beschwerde zulässig. [" .]

Die Beurtheilung, ob bei der Einberufung der Generalversammlung oder bei den Verhandlungen oder Abstimmungen in derselben wesentliche Fönnlichkeiten verletzt sind, bleibt dem Ennessen des Gerichts überlassen. Dasselbe hat auch unabhängig von den Ausführungen der Parteien bei seiner Entscheidung zu prüfen, ob der Generalversammlungsbeschluß wider ein Verbotsgesetz verstößt. Das Urtheil, wodurch der Beschluß der Generalversammlung für ungültig erklärt oder aufrechterhalten wird, ist für alle Actionäre, auch die im Prozesse nicht vertretenen, bindend. Durch die Entscheidung werden die auf Grund des ungültigen Beschlusses im guten Glauben erworbenen Rechte Dritter nicht berührt. Mit oder nach Erhebung der Klage auf Ungültigkeitserklärung kann beantragt werden, daß die Ausführung des angefochtenen Beschlusses vorläufig bis zur Entscheidung über dessen Gültigkeit unterbleibe. Ueber diesen Antrag hat das Gericht nach Anhörung des Vorstandes und, sofern auch der Aufsichtsrath seine Zuziehung verlangt, auch des Aufsichtsrathes sofort zu entscheiden und kann demselben, nach seinem Befinden gegen Sicherstellung für den der Gesellschaft aus der Nichtausführung drohenden Schaden, Folge geben. Gegen einen im Handelsregister eingetragenen Generalversammlungsbeschluß kann ein Antrag auf Ungültigkeitserklärung, sobald drei Monate von der Veröffentlichung der Ein-

128 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861 tragung ab verflossen sind, nur noch auf Grund eines Verstoßes des Beschlusses wider ein Verbotsgesetz gestellt werden" 575

Die Einrichtung des Anfechtungsrechtes rechtfertigte sich nach Ansicht des ROHG aus der Tatsache, daß der einzelne Aktionär keine Möglichkeit habe, wegen Gesetz- oder Statutenverletzungen unmittelbar gegen Vorstand oder Aufsichtsrat zu klagen, da diese Organe nicht ihm, sondern lediglich der Gesellschaft gegenüber verpflichtet seien. Als Ausgleich hierfür sei die Ausgestaltung eines "derartigen mittelbaren, vom Rechte der Gesellschaft abgeleiteten Rechts des Einzelactionärs" de lege lata zu empfehlen576 . Entsprechend der selbstgesetzten Vorgabe, die Reformvorschläge auch auf den normübergreifenden Kontext zu erstrecken, unterbreitete das ROHG des weiteren auch zu Stimmrecht und Beschlußfassungsverfahren in der Generalversammlung diverse Reformvorschläge, die vor allem gewährleisten sollten, "daß die Generalversammlungsbeschlüsse der legitime Ausdruck des wirklichen Mehrheitswillens der bei der Gesellschaft Betheiligten" seien. Insbesondere erachtete es entgegen der bisher weitverbreitete Praxis als "nicht angemessen, daß das Stimmrecht durch den Gesellschaftsvertrag einzelnen Actionären soll gänzlich entzogen und an die Voraussetzung des Besitzes einer größeren Anzahl Actien soll geknüpft werden dürfen", da das Stimmrecht in der Generalversammlung das einzige Mittel sei, durch das der einzelne Aktionär eine mittelbare Einwirkung auf die Gesellschaftsangelegenheiten ausüben könne577 • Deshalb müsse vermieden werden, daß scheinbar vollwertige Aktien erworben werden könnten, die sich erst beim Blick in die Satzung als unvollkommene, insbesondere stimmrechtslose Beteiligungen erwiesen. Der abschließende Vorschlag des ROHG zur Regulierung des Stimmrechtes in Art. 224 Abs. 2 HGB lautete daher: ,)ede Actie gewährt eine Stimme. Im Gesellschaftsvertrage kann festgesetzt werden, daß kein Actionär mehr als eine gewisse Zahl von Stimmen in der Generalversammlung führen darf'57s.

Insgesamt stand das ROHG sonach den Individualrechten durchaus nicht ablehnend gegenüber. Gleichwohl warnte es vor den Risiken einer allzu schrankenlosen Erweiterung der Aktionärsbefugnisse. Es dürfe "nicht außer Betracht gelassen werden, daß es sich um Rechte handelt, welche in den normalen Functionsablauf der Gesellschaften eingreifen und daher ihre Ausübung von bestimmten Cautelen abhängen muß. Als Regel muß der Gesetzgeber annehmen dürfen, daß 575 Schubert/ Hommelhoff. S. 255 ff. 576 Schubert/ Hommelhoff. S. 214. Es muß daher auch der Annahme Brondics', S. 37, widersprochen werden, der Gesetzgeber habe sich in seiner Zurückhaltung bei der Ausgestaltung der Individualrechte dem Gutachten des ROHG angeschlossen. Letzteres stand diesen Rechten deutlich aufgeschlossener gegenüber, als dies später in der Novelle von 1884 umgesetzt wurde. m Ebenda, S. 230 f. 578 Ebenda, S. 232.

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die den Gesellschaftsorganen verliehenen Machtbefugnisse legal gehandhabt werden und die in den Generalversammlungen sich bethätigenden Mehrheiten legal und im Interesse der Gesellschaft verfahren. [ ... ] Soll auch den Einzelactionären die Möglichkeit der Geltendmachung berechtigter Interessen nicht versagt werden, so darf doch nicht vergessen werden, daß die gewährten Mittel auch zur Schikane und absichtlichen Schädigung der Gesellschaftsinteressen benutzt werden können"579 .

bb) Die Beratungen des Deutschen Juristentages zum Anfechtungsrecht Bereits im Jahre 1873 hatte die erste und zweite Abteilung des 11. DJT zur Vermeidung unsolider Gründungen und Mißbräuche in der Verwaltung der Aktiengesellschaften eine wesentliche Änderung der diesbezüglichen gesetzlichen Bestimmungen empfohlen. Insbesondere sollte dem einzelnen Aktionär, soweit dies seinen Interessen entsprach, ein Klagerecht auf .,Innehaltung der gesetzlichen und statuarischen Vorschriften über Geschäftsführung, Bilanz und Gewinnverteilung" gewährt werden580 . Erst im Jahre 1880 griff die zweite Abteilung des 15. DJT im Zuge der allgemeinen Reformbestrebungen diese Thematik erneut auf und setzte sich damit auseinander, ob und inwieweit der Rechtskreis des einzelnen Aktionärs, speziell in bezug auf Kontrollrechte gegenüber der Geschäftsführung und der Generalversammlung, erweitert werden sollte. Hierzu gehörte nach der Tagesordnung auch die Frage, ob jedem Aktionär das Recht zustehen sollte, Beschlüsse der Generalversammlung wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften bzw. der Überschreitung ihrer gesetz- oder satzungsmäßigen Kompetenzen anzufechten 581 . Richtungsweisend waren hierbei die Ausführungen der Referenten Jaques und Wiener. 582 • In den Verhandlungen wurde zunächst der rechtstatsächliche Befund angesprochen, daß bis dato weder Theorie noch Praxis eine Begriffsbestimmung der Begriffe .,Sonder-" bzw...Individualrechte" unternommen hätten, beide Begriffe z. T. sogar synonym verwendet würden und daher nicht eindeutig zugeordnet werden könnten. Gleichwohl wurde festgestellt, daß eine derartige Abgrenzung wenig ergiebig wäre, denn vom Standpunkt der Rechtspraxis aus betrachtet sei weniger die abstrakte Bezeichnung eines Rechts maßgebend als vielmehr die Umstände seiner Ausübung583 . Namentlich W!ener forderte, die Unterscheidung zugunsten des einheitlichen Begriffes ,,Mitgliedschaftsrechte" aufzugeben 584 , der auch heute gebräuchlich ist. Vgl. Gutachten des ROHG bei Schubert/Hommelhoff, S. 253 f. Vgl. Verhandlungen des II. DJT, Bd. 2, S. 134 ff.. s. hierzu auch Schubert/Hommelhoff. S. 6 f. 581 Vgl. Verhandlungen des 15. DJT, Bd. 2, S. 153 ff. 582 An der Vorbereitung der Referate waren federführend einige bedeutende zeitgenössische Gesellschaftsrechtier beteiligt, namentlich Goldschmidt, Laband, Wolsson und Keißner. 583 Verhandlungen des 15. DJT, Bd. 2, S. 160. 584 Ebenda, S. 174. 579 580

9 Emmerich

130 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

Bezugnehmend auf die auch oben zitierte Rechtsprechung des ROHG stellte Jaques fest, daß zu den fundamentalen Rechten des einzelnen Aktionär gegenüber der Gesellschaft der Anspruch gehöre, daß diese "die gesetzlichen und statuarischen Vorschriften zur Geltung bringe und befolge", d. h. für eine ordnungsgemäße Verfolgung des Gesellschaftszwecks Sorge trage. Aus diesem Grundprinzip folge u. a. das Recht auf Anfechtung gesetz- und statutenwidriger Generalversammlungsbeschlüsse. Der einzelne Aktionär habe durch seinen Beitrag zum Gesamtvermögen der AG zwar eingewilligt, daß letzteres durch eine Organisation verwaltet werde, die er nicht fortlaufend beeinflussen könne; darin liege jedoch keinesfalls ein Verzicht auf den dahingehenden Einfluß, "daß diese Generalversammlung, dieses geschäftsführende Organ, nur innerhalb des Rahmens agire, welcher durch Gesetz und Statut festgestellt worden ist"585 . Obwohl in den Beratungen immer wieder Stimmen laut wurden, die vor allzu weitgehenden ,,Eingriffsbefugnissen" des Einzelaktionärs in die Verwaltung der AG warnten586, bestand im Grundsatz Einigkeit darüber, daß die Individualrechte dringend einer Erweiterung bedürften. Auf dieser Grundlage verabschiedete der DJT schließlich die folgende Empfehlung: ,,Jedem Actionär soll das Recht zustehen, Beschlüsse der Generalversammlung wegen Verletzung wesentlicher Förmlichkeiten oder Ueberschreitung der der Generalversammlung durch Gesetz oder Gesellschaftsvertrag ertheilten Befugnisse im Wege der Klage gegen die Gesellschaft anzufechten" 587

Es sei der unverzichtbare Zweck dieses Rechtes, die Verwaltung der AG "auf dem Boden der Vorsicht, Mäßigung und Loyalität festzuhalten und die Generalversammlung statt zum Schauplatz bloßen auf vorheriger Absprache beruhenden Nieclerstimmens zur Stätte der wirklichen Verständigung und des Interessenausgleichs zu machen" 588 . Erwähnenswert scheint an dieser Stelle letztlich, daß es im Rahmen der Beratungen des DJT als einer der "wundesten Punkte" des bisherigen Aktienrechts bezeichnet wurde, daß der einzelne Aktionär kein Recht auf Information über die Geschäftsführung in der AG habe589. Die Erfahrung der Gründerjahre habe gezeigt, daß Generalversammlungen oft nur zum Schein abgehalten würden, so daß den Aktionären durchaus Gelegenheit gegeben werden müsse, Einsicht in die Verwaltungsgeschäfte der Gesellschaft zu nehmen. Sowohl Jaques als auch Wiener unterstützten daher die Forderung, daß jedem Aktionär rechtzeitig Einsicht in die Jah-

s.

585

Verhandl. des 15. DJT, Bd. 2, S. 161. Vgl. auch die Ausführungen Wieners a. a. 0.,

178 586

Vgl. etwa die Ausführungen von Makower, in: Verhandlungen des 15. DJT, Bd. 2,

587

A.a.o., S. 211 f. A.a. 0., S. 182. Ebenda, S. 160

s. 171 ff. 588 589

I. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

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resrechnung, die Bilanz sowie die Berichte von Vorstand, Aufsichtsrat und Revisoren gewährt werden müsse. Obwohl diese Ansicht sich nicht bis zum Gesetzgeber des Jahres 1884 durchsetzen konnte, war damit das Augenmerk der Praxis erstmals auf ein Rechtsinstitut gelenkt worden, das, obgleich nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, als eines der heute zentralen aktienrechtlichen Mitgliedschaftsrechte zumindest einer Erwähnung bedarf: Das Auskunftsrecht des Aktionärs. Nur durch die Einholung entsprechender Informationen, so bereits die damalige Erkenntnis, sei der Aktionär in der Lage, die ihm zustehenden Mitgliedschaftsrechte tatsächlich in vollem Umfang wahrzunehmen 590. Aus diesem Grunde bestand die Überzeugung, "daß die Aktionäre informiert sein sollen, wenn sie in die Generalversammlung kommen"591. Damit war allerdings weniger der nach heutigem Recht bestehende Auskunftsanspruchdes Aktionärs aus § 131 AktG angesprochen als vielmehr die gegenwärtig in § 175 Abs. 2 AktG geregelten Informationsrechte. Entsprechend lautete der abschließende Antrag des 15. DIT, de lege ferenda sei rechtzeitig vor Abhaltung der ordentlichen Generalversammlung ,jedem Actionär Einsicht in die Jahresrechnung und Bilanz sowie in den Bericht des Vorstandes, des Aufsichtsrates und der Revisoren zu gewähren"592 . Bei Verweigerung der Einsichtnahme sollte jeder Aktionär das Recht haben, ,,Nullität der in einer ohne diese Voraussetzung einberufenen Generalversammlung gefaßten Beschlüsse zu behaupten" 593 . Das Instrument zur Durchsetzung dieses Rechts war indes, wie gezeigt, die Anfechtungsklage.

II. Die Aktienrechtsrefonn von 1884

1. Rechtspolitisches Grundkonzept Das Hauptziel des Aktiengesetzes von 1884594 war es, innerhalb der Gesellschaften die organisatorischen Voraussetzungen für gesellschaftsinterne Selbsthilfe zu schaffen; die Beteiligten sollten Mißhelligkeiten selbst vorbeugen und trotzdem eingetretene mit eigenen Mitteln bereinigen können. Das hierzu vorgesehene Lösungskonzept, die Stärkung aller Gesellschaftsorgane gegenüber den Gründern, verwirklichte der Gesetzgeber vornehmlich über den Ausbau und die Absicherung der Aktionärskompetenzen 595 . Die Generalversammlung erhielt beispielsweise die unabdingbare Befugnis, die Mitglieder des Aufsichtsrates zu wählen (Artt. 224, 191 Abs. I HGB), und zwar 590 591 592 593

594

595

Verhandlungen des 15. DJT, Bd. 2, S. 177 Ebenda, S. 206. A.a. 0., S. 208. A.a. 0., S. 206. Text abgedruckt bei Schubert/ Hommelhoff, S. 560 ff. Vgl. Schubert/Hommelhoff, S. 86 f.

132 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkonttolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

erstmals spätestens ein Jahr nach Gründung der Gesellschaft, denn nach dieser Periode endete nunmehr zwingend die Amtszeit des ersten Aufsichtsrates, der zumeist mit den Gründem identisch war. Deren früher oft vorhandenem, lang andauerndem Einfluß war damit der Boden entzogen. Ferner war die Wahl zum Aufsichtsrat durch die Generalversammlung nunmehr jederzeit frei widerruflich, wenn auch nur mit qualifizierter -Mehrheit (Artt. 222, 191 Abs. 4 HGB). Weitere wesentliche Neuerungen waren die zumindest mittelbare Trennung von Vorstand und Aufsichtsrat596 sowie die Klarstellung von dessen Überwachungsfunktion 597 und der Verantwortlichkeit seiner Mitglieder durch Einführung der Organhaftung598 . Nach wie vor bestehen blieb dagegen die Möglichkeit, dem Aufsichtsrat durch die Satzung zusätzliche Befugnisse außerhalb seiner gesetzlichen Überwachungsfunktion zu übertragen (Art. 225 Abs. 3 HGB) und ihn auf diese Weise - wie ehemals den überkommenen Verwaltungsrat - an der Geschäftsführung zu beteiligen. Zumindest in diesem Punkt war das oben angesprochene Prinzip der Organtrennung daher noch nicht konsequent verwirklicht worden.

2. Beschlußkontrolle, insbesondere: Das Anfechtungsrecht Bezüglich der Individualrechte hat der intensive Dialog, den die parlamentarischen Gremien, das Reichsoberhandelsgericht und die Sachverständigen aus Wissenschaft und Praxis in den Jahren bis 1884 miteinander führten, in der Novelle nur in beschränktem Umfang Früchte getragen. Im Gegensatz zu den zahlreichen Befürwortem im Vorfeld der Refonn stand der Gesetzgeber den Individual- und Minderheitsrechten sehr viel reserviener gegenüber. Die wenigen, die letztlich im Gesetz aufgenommen wurden, waren schon vorher weitgehend in Rechtsprechung und Literatur anerkannt und daher nurmehr zu kodifizieren und näher auszugestalten599. Die wichtigste Neuerung der Aktienrechtsreform von 1884 in diesem Bereich bestand zweifellos in der Einführung des Anfechtungsrechts. Gemäß Artt. 222, 190a HGB konnte ein Beschluß der Generalversammlung .,wegen Verletzung des S96 An. 225a HGB verbot die gleichzeitige Zugehörigkeit zu beiden Organen und untersagte die Tätigkeit ehemaliger, noch nicht entlasteter Vorstandsmitglieder im Aufsichtsrat. Hieraus ergibt sich notwendig das Verbot der gleichzeitigen Tätigkeit beider Organe, vgl. auch Schubert/Hommelhoff, S. 92. S97 An. 193 Abs. I HGB verpflichtete den Aufsichtsrat, sich zum Zwecke der Überwachung vom "Gange der Angelegenheiten der Gesellschaft" zu unterrichten, vgl. Schubert/ Hommelhoff, S. 577. S98 Das Gesetz von 1884 kodifizierte erstmals den noch heute in §§ 116, 93 Abs. 2 AktG geregelten Schadensersatzanspruch der Gesellschaft gegen die Organmitglieder. S99 So zutreffend Schubert/Hommelhoff, S. 97. Bei den anderen Rechten handelte es sich um das Recht auf Verfolgung der Ansprüche der Gesellschaft aus der Gründung und Geschäftsfiihrung sowie das Recht auf Untersuchung von Gesellschaftshergängen, vgl. Allg. Begründung zum Entwurfbei Schubert/Hommelhoff, S. 467.

1. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

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Gesetzes oder des Gesellschaftsvertrages als ungültig im Wege der Klage" angefochten werden600• Dabei betonte der Gesetzgeber insbesondere unter Verweis auf die Rechtsprechung des ROHG, daß diese Möglichkeit bereits als bestehendes Recht anerkannt werden müsse. Dennoch sei das Anfechtungsrecht ein "zweischneidiges Mittel, welches Schikanen und Erpressungen Thür und Thor" öffne; insofern sahen es die Verfasser des Entwurfs als ihre Aufgabe an, selbiges zwar auf einen festen Boden zu stellen, es gleichzeitig aber "in einer dem allgemeinen Interesse entsprechenden Weise zu begrenzen"601 • Zunächst sollten die Unsicherheiten bezüglich der örtlichen und instanziellen Zuständigkeit der Gerichte beseitigt werden. Um zu verhindern, daß "die Anfechtungsklage je nach der Höhe des Interesses des Anfechtenden theils vor dem Amtsgericht, theils vor dem Landgerichte erhoben, oder daß die Anfechtung im Wege der Einrede oder Widerklage bei Gelegenheit eines an einem anderen Orte schwebenden Prozesses geltend gemacht" werde, sollte nunmehr gern. Artt. 222, 190a Abs. 2 S. 2 HOB das Landgericht, in dessen Bezirk die Gesellschaft ihren Sitz hatte, ausschließlich zuständig sein. Die erstinstanzielle Zuständigkeit des LG rechtfertige sich nach Ansicht der Entwurfsverfasser aus der Wichtigkeit, die ein derartiger Rechtsstreit für die Gesellschaft gewöhnlich habe. Außerdem wollte man hierdurch mit Rücksicht auf die Prozeßökonomie das Interesse mehrerer Kläger auf die gleichzeitige Geltendmachung ihrer Ansprüche in einer Klage im Wege der notwendigen Streitgenossenschaft (§ 59 ZPO) lenken62. Soweit dennoch mehrere Klagen anhängig gemacht wurden, waren diese von Amts wegen zu verbinden (Artt. 222, 190a Abs. 3 S. 2 HGB). Auch die Klagebefugnis, war bis dahin nur höchst unzureichend gesetzlich geregelt. Mangels anderslautender Vorschriften war angenommen worden, daß die Anfechtung von jedem Aktionär ohne Rücksicht darauf geltend gemacht werden konnte, ob er in der Generalversammlung, die den angefochtenen Beschluß erlassen hatte, anwesend war, ob der Beschluß bereits ausgeführt worden und ob bejahendenfalls die Ausflihrung überhaupt noch rückgängig zu machen war603 . Da auch eine Anfechtungsfrist bisher gesetzlich nicht geregelt war, nahmen die Verfasser des Entwurfs zu Recht an, daß das Anfechtungsrecht in einer derartigen Unbegrenztheit höchst bedenklich erscheine und die mögliche fortdauernde Ungewißheit über die Gültigkeit eines Generalversammlungsbeschlusses zu erheblichen Beeinträchtigungen der Verwaltung bis hin zur "völligen Zersetzung der Organisation604" führen könne. Die Klagefrist betrug daher nunmehr einen Monat; klage-

600 Unzutreffend Brondics, der annimmt, Artt. 222, 190a hätten auch die Nichtigkeitsklage geregelt. Die Rechtsfolge der Nichtigkeit wurde erst in § 273 HGB 1897 ausgesprochen, s. unten. 601 Allg. Begründung zum Entwurf, a. a. 0 ., S. 467. 602 Allg. Begründung zum Entwurf, a. a. 0., S. 468. 603 Vgl. Allg. Begründung zum Entwurf, ebenda; s. hierzu auch Knobbe-Keuk, FS Ballerstedt, S. 250.

134 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

befugt war nach der neuen Regelung außer dem Vorstand nur derjenige Aktionär, der in der Generalversammlung seinen Protest zu Protokoll erklärt hatte 605 . Um eine Aushöhlung dieser Regelung zu verhindem , sollten auch diejenigen Aktionäre, denen der Gesellschaftsvertrag das Stimmrecht versagte, ein Recht auf Zulassung zur Generalversammlung und Protokollierung ihres Protestes haben, wobei die Anfechtungsklage auch auf die Verletzung dieses Rechtes gestützt werden konnte606. Klarheit schaffte das Gesetz auch bezüglich der - wie oben gezeigt bereits vom RG aufgegebenen - Einschränkung der Anfechtungsbefugnis auf Vermögensrechte. Die Funktion des Anfechtungsrechts wurde nunmehr im wesentlichen in der Gewährleistung der gesetz- und statutenmäßigen Verwaltung der Gesellschaft gesehen; nach der eindeutigen Fassung der Artt. 222, 190a HGB sollte das Anfechtungsrecht daher dem Einzelaktionär wegen gesetz- und statutenwidriger Beschlußfassung schlechthin zustehen, ohne daß es der Verletzung eines besonderen Interesses des Anfechtenden bedurfte607 . Hiermit war gleichzeitig die Abkehr von der in der ROHG-Rechtsprechung vorherrschenden, aktionärsbezogenen Ausgestaltung des Anfechtungsrechts endgültig vollzogen. Sein Anfechtungsrecht verwirkt haben sollte derjenige Aktionär, der zur Beschlußfassung entweder geschwiegen oder sich im voraus den Beschlüssen der Generalversammlung unterworfen habe. Freilich sollte dies nicht für den Fall gelten, daß entweder die Einberufung der Versammlung formell fehlerhaft oder der betreffende Beschluß nicht ordnungsgemäß auf der Tagesordnung bekanntgemacht worden sei 608 . Gern. Artt. 222, 190a Abs. 3 HGB hatte jeder Aktionär vor Klageerhebung seine Aktien zu hinterlegen und auf Verlangen der Gesellschaft eine nach Ermessen des Gerichts zu bestimmende Sicherheit zu leisten. Hierdurch gedachte man sicherzustellen, daß der anfechtende Aktionär während des Prozesses Gesellschafter der beklagten AG blieb sowie schikanösen oder zu Spekulationszwecken erhobenen Klagen vorzubeugen. Eine ähnliche Intention verfolgten Artt. 222, 190b HGB, die unbegründet und böswillig erhobene Anfechtungsklagen mit einer Schadensersatzpflicht sanktionierten. Passivlegitimiert sollte gern. Artt. 222, 190a Abs. 2 S. 1 der Vorstand (bzw. bei einer Klage des Vorstands der Aufsichtsrat) sein. Hierbei handelte es sich um ein Redaktionsversehen, das erst bei der Neuverabschiedung des HGB 1897 korrigiert 604 Allg. Begründung zum Entwurf, ebenda. Das Problem der mangelnden Rechtssicherheit war bereits 1879 von Löwenfeld kritisiert worden, allerdings mit der drastisch konsequenten Forderung, eine Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen prinzipiell nicht zuzulassen, s. S. 233. 605 Kritisch zu diesem Erfordernis Wiener, Entwurf, S. 113. 606 So z. B. Hergenhahn, S. 147; Lubszynski, S. 3; ablehnend Ring, S. 459 607 Vgl. Lehmann, Aktiengesellschaften, Bd. 2, S. 398; Ring, S. 457; Staub, 6. 17. Auf!., § 271 Anm. 3; vgl. auch Nord, S. 65; Golega, S. 31 ; Immenga, GmbHR 1973,5 (6). 608 Allg. Begründung, a. a. 0.

1. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

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wurde. Die Fassung der genannten Vorschriften war dahingehend richtigzustellen, daß die Klage gegen die Gesellschaft, vertreten durch Vorstand und Aufsichtsrat, erhoben werden mußte609 . Der Vorstand war verpflichtet, die Erhebung jeder Klage sowie den Termin zur mündlichen Verhandlung unverzüglich in den für Bekanntmachungen der Gesellschaft vorgesehenen Blättern zu veröffentlichen (Artt. 222, 190a Abs. 5 HGB). Eine durch obsiegendes Urteil ausgesprochene Unwirksamerklärung des angefochtenen Beschlusses wirkte gegen alle Aktionäre, auch gegen die nicht am Prozeß beteiligten (Artt. 222, 190a Abs. 6 S. 1 HGB). Das Gesetz wählte dabei im Bereich der Rechtsfolge entgegen späteren Regelungen den Begriff "ungültig", vermied also eine Unterscheidung zwischen "unwirksam" und "nichtig", wobei zu dieser Zeit noch alle drei Begriffe praktisch synonym gebraucht wurden. Für die notwendige Publizität des Richterspruches gegenüber Dritten oder Gläubigem der AG sorgten die Vorschriften der Artt. 222, 190a Abs. 6, die den Vorstand verpflichteten, eine Abschrift des Urteils zum Handelsregister einzureichen und ggf. zu veröffentlichen. Abgesehen von der Schadensersatzpflicht der Artt. 222, 190b HGB erfuhr das Anfechtungsrecht damit in seinen Grundzügen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen eine Ausgestaltung, die sich noch heute im geltenden Recht wiederfindet. Trotz der geübten Zurückhaltung bei der Ausgestaltung der Minderheitsrechte ist damit das Gesetz von 1884 ein gelungener Kompromißversuch zwischen dem vor allem sozialpolitisch motivierten Bestreben, einerseits den Aktionär als Kapitalanleger zu schützen und andererseits den Wünschen der Wirtschaft, im Aktienrecht die ihrer Ansicht nach zur ökonomischen Weiterentwicklung notwendige Flexibilität zu erhalten. Daß die Reform Jetztlieh auch in anderen Bereichen erfolgreich war, bewies die Entwicklung des Aktienwesens in den folgenden Jahren610.

111. Zwischenergebnis

Nach dem vorstehenden Abschnitt ist festzuhalten, daß das Anfechtungsrecht die Grundlagen seiner heutigen Ausformung zum größten Teil der Entwicklung des Aktienrechtes während der sog. Gründerkrise verdankt. Während die Literatur hierbei nur einen Teil der Vorarbeiten leistete, war es in erster Linie die gesellschaftsrechtliche Praxis, welche die entscheidenden Anstöße erbrachte. Die Gründe sind bekannt: Der Gesetzgeber des Jahres 1870 hatte es bei der Abschaffung des Konzessionssystems versäumt, gegenüber dem übermächtigen Einfluß der Gründer und Großaktionäre in der Verwaltung der Gesellschaften ein effizientes Gegengewicht in Gestalt von Minderheitsrechten zu schaffen. Das System von "checks and balances", das zuvor aufgrund der staatlichen Kontrolle zumindest theoretisch vorhanden war, geriet damit vollends aus dem Gleichgewicht und er-

609 610

RGZ 14, 127 (142) s. auch Ring, S. 460 m. w. N.; Huber, FS Coing, S. 169 (Fn. 10) Vgl. hierzu Hergenhahn, S. 25 ff.

136 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

möglichte die vor allem für die Finanzen der Beteiligten folgenschweren Mißstände in der Verwaltung der Gesellschaften. Interessanterweise waren es denn auch bis auf das Urteil des RG vom 19. 2. 1881 stets Auseinandersetzungen um Fragen der Gewinnverteilung, mit denen sich die Richter im Rahmen der Anfechtungsklage jeweils zu befassen hatten. Diese Fragen aber waren - wie der Gang der vorliegenden Untersuchung belegt - bereits von jeher geeignet, für Konflikte unter den einzelnen Gesellschaftern zu sorgen, so daß die These gerechtfertigt erscheint, die Rechtsfigur des Anfechtungsrechts dürfe eher als Resultat rechtstatsächlicher bzw. wirtschaftlicher Notwendigkeiten denn als eines erkannten Bedürfnisses nach Verbesserung des Minderheitenschutzes gelten.

D. Exkurs: Das Aktienrecht der südlichen Nachbarländer Angesichts der Tatsache, daß die Beschlußkontrollrechte und der damit zusammenhängende Minderheitenschutz im deutschen Recht erstmals durch das Gesetz von 1884 umfassend geregelt wurden, stellt sich letztlich die Frage, ob und inwieweit sich in diesem Zusammenhang Wechselwirkungen mit ausländischen Rechtsordnungen feststellen lassen. Naheliegend erscheint wegen der Vergleichbarkeit der Rechtssysteme sowie der vielfältigen politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen insbesondere ein Blick auf die Gesetzgebung Deutsch-Österreichs, der Schweiz und Italiens.

I. Deutsch-Österreich

Nachdem man zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Notwendigkeit erkannt hatte, die gesellschaftsrechtliche Gesetzgebung zu überarbeiten, entfaltete der Gesetzgeber in Österreich insbesondere seit 1852 eine rege Reformtätigkeit auf handelsund gesellschaftsrechtlichem Gebiet. Die letzten beiden Entwürfe für ein österreichisches HGB von 1853 bzw. 1854 hatten der Nürnberger Kommission zur Schaffung des deutschen ADHGB neben dem preußischen Entwurf als Beratungsgrundlage gedient611 • Wegen der daraus resultierenden starken Parallelen zum deutschen ADHGB ergaben sich für die Aktiengesetzgebung Deutsch-Österreichs im 19. Jahrhundert im Allgemeinen nur geringe Unterschiede zum deutschen Recht. Erst mit Verordnung vom 20. 9. 1899 (Aktienregulativ, im folgenden: AktVO) wurde das Österreichische Aktienrecht spezialgesetzlich geregelt, das Vereinsgesetz vom 26. 11. 1852 galt subsidiär612 . Vgl. hierzu ausführlich Schimke, S. 86 ff. m. w. N.; s. ferner Conradi, S. 145 ff. Das VereinsG fand auf Aktiengesellschaften Anwendung, die kein Handelsgewerbe betrieben und war daher praktisch nicht mehr relevant; vgl. Schlegelberger, S. 77. 611

612

I. Abschn.: Vom ADHGB 1861 bis zur Aktienrechtsnovelle von 1884

137

Wichtigster Unterschied zum deutschen Recht war die Beibehaltung des Konzessionssystems. Die AktVO normierte die Voraussetzungen für die Erteilung der staatlichen Genehmigung. Allerdings sagte § 2 Abs. 2 der AktVO die Erteilung einer Genehmigung bindend zu, sofern alle Voraussetzungen durch die Statuten der zu gründenden Gesellschaft umgesetzt wurden. Der staatliche Einfluß reichte insgesamt weiter als im deutschen Recht, da einige Beschlüsse unter staatlichem Genehmigungsvorbehalt standen, so z. B. Satzungsänderungen (§§ 15, 48 AktVO), Kapitalerhöhungen und -herabsetzungen (§§ 16, 17, 18 AktVO) sowie die Auflösung der Gesellschaft(§ 57 AktV0) 613 . Entsprechend dem ADHGB kannte auch das Österreichische Recht die dreiteilige Unternehmensverwaltung mit Generalversammlung, Vorstand und Aufsichtsrat oder Revisoren (§ 37 Abs. 3 AktVO). Für den hier besonders interessierenden Bereich der Beschlußkontrolle erscheint bemerkenswert, daß man insoweit der deutschen Reform von 1884 nicht gefolgt war, denn eine Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen war nicht vorgesehen614 . Es bestand lediglich die Möglichkeit, einen Beschluß der Generalversammlung im Wege der allgemeinen Feststellungsklage für nichtig erklären zu lassen615 .

II. Schweiz

Für den hier in Rede stehenden Zeitraum enthielt das schweizerische Obligationenrecht vom 14. 6. 1881 die maßgeblichen aktienrechtlichen Bestimmungen, wobei auch hier eine Anlehnung an das deutsche ADHGB bestand616 . Keine Verwandtschaft im deutschen Recht fand der Aufbau der schweizerischen AG, der sich in eine Generalversammlung, einen Verwaltungsrat nach französischem Vorbild und eine Revisionsstelle gliederte. Ebenfalls weniger weitgehend als im deutschen Aktienrecht des Jahres 1884 war auch in der Schweiz keine Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen möglich617 • Allerdings enthielten die Artt. 671 ff. des Obligationenrechts umfassende Haftungsvorschriften, welche eine Inanspruchnahme sowohl der Gründer als auch von Verwaltungsrat und Revisoren durch den einzelnen Aktionär ermöglichten, falls der Vorwurf gesellschaftsschädigenden Verhaltens oder der Verletzung von Geschäftsführungs- bzw. Aufsichtspflichten zu besorgen war. Damit war allerdings eine wirksamere Möglichkeit indirekter Beschußkontrolle gegeben, als dies im deutschen Recht erstmals durch Einführung des § 241 Abs. 2 ADHGB der Fall war618 , denn der Anspruch konnte hier

613 614 615 616 617 618

Vgl. Schlegelberger, S. 79; vgl. auch Reich, S. 252. Schlegelberger, S. 78. Ebenda. Schlegelberger. S. 82. Ebenda, S. 83. s. dazu oben I. Teil, A. !1.

138 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

vom einzelnen Aktionär und nicht etwa lediglich von der Gesellschaft oder den Revisoren geltend gemacht werden.

ßl. Italien

Der italienische Gesetzgeber kodifiziene das Aktienrecht im Codice di Commercio vom 27. 8. 1892. Bezüglich der Unternehmensverwaltung wurde das französische System aus Generalversammlung, Verwaltungsrat und Aufsichtsrat übernommen; Parallelen zum deutschen Recht bestanden im Rahmen der Publizitätsvorschriften (Handelsregister bzw. Bekanntmachungen, Ant. 91-94). Weitergehend als auf österreichischem und schweizerischem Rechtsgebiet waren die Vorschriften über die Beschlußkontrolle ausgestaltet. Gemäß An. 155 Abs. 3 des Codice waren Beschlüsse über Gegenstände, die nicht auf der Tagesordnung angekündigt waren, ipso iure nichtig619 . Ein dem Anfechtungsrecht ähnliches Widerspruchsrecht jedes Aktionärs gegen gesetz- oder satzungswidrige Beschlüsse der Generalversammlung enthielt Art. 163. Im Falle des Widerspruchs hatte das Handelsgericht über diesen zu befinden, wobei der Präsident der Gerichts den Beschluß bis zur Entscheidung über den Widerspruch suspendieren konnte620 .

IV. Zusammenfassung

Die vorangehende Betrachtung einiger benachbarter Rechtsordnungen zeigt, daß jedenfalls auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes und der Beschlußkontrolle die Rechtsentwicklung in Deutschland im Jahre 1884 vergleichsweise weit fortgeschritten war. Gleichzeitig ist festzustellen, daß die systematische gesetzliche Regelung in den genannten Bereichen ihr Vorbild nicht in ausländischen Rechtsordnungen gefunden und diese zumindest in der unmittelbaren Folgezeit auch nicht nennenswert beeinflußt hat. Das Gesellschaftsrecht der genannten Nachbarländer ist insoweit für die Weiterentwicklung des deutschen Aktienrechts ohne Bedeutung geblieben621 •

620

Schlegelberger, S. 98. Schlegelberger, S. 98.

621

Für Österreich ebenso Reich, S. 252.

619

2. Abschn.: Die Entwicklung des Anfechtungsrechts bis zum AktG von 1937

139

2. Abschnitt

Die Entwicklung des Anfechtun~rechts bis zum AktG von 1937 A. Das HGB vom 10. 5. 1897 Das neue HGB vom 10. Mai 1897, das am 1. 1. 1900 in Kraft trat, nahm das Aktienrecht in den §§ 271 bis 334 in sich auf. Die für das Anfechtungsrecht maßgeblichen Vorschriften waren nunmehr in den§§ 271 ff. HGB geregelt. Dabei hatte der Gesetzgeber die Grundzüge im wesentlichen unverändert gelassen und nur einige wenige Änderungen eingefügt. So sollte eine Anfechtung wegen Bildung überhöhter Rücklagen nur für Aktionäre, deren Beteiligung 1 I 20 des Grundkapitals betrug, zulässig sein (§ 271 Abs. 2 S. 2 HGB). Ferner wurde die Anfechtungsbefugnis auf einzelne Mitglieder von Vorstand oder Aufsichtsrat ausgedehnt, sofern diese sich durch Ausführung des Beschlusses straf- bzw. gegenüber den Gesellschaftsgläubigem haftbar machen würden. Im wesentlichen entsprach die Vorschrift damit dem heutigen § 245 Nr. 5 AktG. Passivlegitimiert sollte im Prozeß nach dem neuen HGB die Gesellschaft, nicht mehr der Vorstand sein. Letzterer war im Prozeß gemeinsam mit dem Aufsichtsrat vertretungsbefugt (§ 272 Abs. 1 HGB). Eine Erleichterung für die Klageerhebung durch Aktionäre enthielt die Novelle insoweit, als die Hinterlegung der Aktien nunmehr nicht mehr erforderlich war. Da gern. § 272 Abs. 3 HGB jedoch die Anordnung einer Sicherheitsleistung immer noch möglich war, fiel dies nicht wesentlich ins Gewicht. Nicht entfallen war dabei die Voraussetzung, daß der Kläger seine Aktionärseigenschaft notfalls nachzuweisen hatte622 • Eine aus heutiger Sicht bedeutende Änderung enthielt § 273 Abs. 1 HGB, der als Rechtsfolge eines obsiegenden Urteils die Nichtigerklärung des angefochtenen Beschlusses regelte. Da man bisher allerdings zwischen Unwirksam- und Nichtigkeit nicht unterschieden hatte, ergaben sich hierdurch materiellrechtlich keine Änderungen. B. Die Reformbestrebungen bis zum Ende der Weimarer Republik Die Kritik an der gesetzlichen Fixierung und Fortentwicklung des Anfechtungsrechtes war weder nach 1884 noch nach 1897 verstummt. Gearbeitet wurde mit den bekannten Argumenten: Bedeutungslosigkeit der Generalversammlung und Interessenlosigkeit insbesondere der Kleinaktionäre. Nach wie vor seien nicht sie die eigentlichen "Unternehmer" in der AG, sondern - abgesehen von den Gründem 622

Vgl. Makower, § 271 V. 4.

140 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

die Großaktionäre, die zumeist auch die Mitglieder von Vorstand und Aufsichtsrat stellten623 . Zielscheibe der Kritik war aber vor allem diejenige Gruppe "findiger" Kapitalanleger624, die bald nach der Kodifizierung des Anfechtungsrechts die Möglichkeiten seiner gewinnbringenden Nutzung erkannt hatten. So beklagte etwa der 31. Deutsche Juristentag, das Anfechtungsrecht werde in einer sehr großen Zahl der Fälle dazu benutzt, um erpresserisch oder auf anders unlautere Weise gegen die Gesellschaften oder deren Verwaltung vorzugehen. Es bestehe eine außerordentlich große Differenz zwischen der Zahl der in Generalversammlungen erhobenen Proteste und derjenigen der anschließend tatsächlich erhobenen Anfechtungsklagen, so daß davon auszugehen sei, daß in der überwiegenden Anzahl derartiger Fälle zwischenzeitlich mit oder ohne Erfolg versucht werden würde, sich die Klage abkaufen zu lassen 625 . Dieser "Schacher mit Individualrechten" schade nicht nur dem Ansehen, sondern auch den Finanzen der betroffenen Gesellschaften; insgesamt müsse daher vor der Vermehrung oder dem Ausbau von Rechten wie dem Anfechtungsrecht gewarnt werden 626 . Zwar erscheint die Herstellung einer Relation zwischen der Anzahl der zu Protokoll erklärten Proteste und den letztlich angestrengten Klagen nicht zwingend; da die Versuche einiger Aktionäre, sich den "Lästigkeitswert" einer Anfechtungsklage abkaufen zu lassen, die Gerichte jedoch bis in die jüngste Vergangenheit beschäftigten627, dürften bereits zur damaligen Zeit die Äußerungen in der Sache berechtigt gewesen sein. Gleichwohl blieben die Stimmen, die sich im Umfeld dieser Vorfälle für eine Beschränkung des Anfechtungsrechts etwa durch Einführung bestimmter Quotenregelungen aussprachen, in der Minderzahl628. Gegen eine derartige Beschränkung spreche die Funktion der freien Anfechtbarkeil als Gegengewicht gegen die mißbräuchliche Ausnutzung von Mehrheitsverhältnissen und als im Rahmen der Beschlußfassung präventiv wirkendes KontrollmitteL Darüber hinaus werde durch eine Einschränkung des Anfechtungsrechts das Vertrauen des Publikums zur Aktiengesellschaft weiter untergraben und infolgedessen dem Gedanken der Staatsaufsicht erneut Vorschub geleistet629.

623 Passow, Bedeutung, S. 119m. w. N., 210, 217; vgl. auch Verhandlungen des 31. DJT, Bd. 3, S. 444. Zu Veränderungen der Aktionärsstrukturen Drescher, S. 5 f.; Passow, Strukturwandel, S. 10 f. 624 Für die Gegenwart bezeichnet Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, Rn. 221 , die genannten Anleger treffend als "finanzinnovative Berufsopponenten". 625 Verhandlungen des 31. DJT, Bd. 3, S. 445; vgl. hierzu auch die späteren Ausführungen Max Hachenburgs anläßlich der Verhandlungen des vorl. Reichswirtschaftsrates, in: Schubert I Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 250; vgl. ferner Druckschriften des Deutschen Anwaltsvereins, Nr. 20, S. 170. 626 Verhandlungen des 31. DJT, Bd. 3, S. 446; zustimmend Passow, Aktiengesellschaft, s. 499. 627 Vgl. etwa BGHZ 107, 297 (311); vgl. hierzu auch Eisenhardt, Gesellschaftsrecht, Rn. 221. 628 Vgl. Verhandlungen des 31. DJT, S. 629; Geiler, S. 31.

2. Abschn.: Die Entwicklung des Anfechtungsrechts bis zum AktG von 1937

141

Weitaus intensiver als mit der Eingrenzung des Anfechtungsrechts waren Rechtsprechung und Literatur mit der Klärung von Einzelfragen in dessen Umfeld befaßt. Außer der Kommentarliteratur erschien vor allem in der Zeit nach dem I. Weltkrieg eine Reihe von Publikationen, die sich ausschließlich dem Anfechtungsrecht widmeten. Neben einigen Randprob Jemen, wie etwa der Einordnung des Anfechtungsrechts unter die Minderheitsrechte630 warf man beispielsweise kurz nach Erlaß des neuen HGB die noch im heutigen Recht streitige Frage auf, ob es notwendig sei, daß der angefochtene Beschluß auf der Verletzung von Gesetz oder Satzung beruhe. Diese Voraussetzung erschloß sich zwar nicht aus dem Wortlaut der Norm; die herrschende Auffassung war sich bezüglich der Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung des§ 271 HGB aber gleichwohl einig, da es als unnötiger Formalismus angesehen wurde, die Fehlerhaftigkeit eines Beschlusses einzuklagen, obwohl sie für das Zustandekommen desselben ohne Belang war631 . Der beklagten Gesellschaft sollte daher die Möglichkeit eröffnet sein, der Klage die fehlende Kausalität zwischen Rechtsverletzung und Beschluß einredehalber entgegenzuhalten, wobei sie diesbezüglich die Beweislast tragen sollte632 • Auch die ferner diskutierte Frage, ob der Vorstand berechtigt und verpflichtet sei, anfechtbare bzw. angefochtene Beschlüsse auszuführen, hat bis in die Gegenwart nichts an Aktualität eingebüßt633 • Die weitaus größte Aufmerksamkeit wurde jedoch in Rechtsprechung und Literatur einer Thematik gewidmet, die als Zentralproblem des damaligen Aktienrechts galt634: Der Abgrenzung zwischen Anfechtbarkeil und Nichtigkeit von Generalversammlungsbeschlüssen. Schon bald nach der gesetzlichen Fixierung des Anfechtungsrechts hatte man erkannt, daß mit den Voraussetzungen der Anfechtungsklage nicht alle denkbaren Alternativen einer fehlerhaften Beschlußfassung abgedeckt werden konnten. Außerdem war fraglich, was mit fehlerhaften Beschlüssen zu geschehen hatte, die nicht angefochten wurden oder bei denen die entsprechende Frist verstrichen war. 629 So Ludewig, S. 151 f. Auch der vor!. Reichswirtschaftsrat stellte später nochmals fest, das Anfechtungsrecht sei als vorläufig "einziges Hilfsmittel" des Aktionärs von so überragender Wichtigkeit, daß trotz der Mißbräuche an eine Einschränkung oder gar Abschaffung nicht zu denken sei; vgl. Protokolle der Verhandlungen des vorl. Reichswirtschaftsrates, in: Schubert I Hommelhoff, Aktienrechtsreforrn, S. 585 630 Vgl. Krämer, S. 38. Aus der Tatsache, daß der einzelne Aktionär die Minderheitsrechte mit Wirkung für und wider die Gesamtheit geltend machen könne, wurde dabei gefolgert, daß er insofern als Organ der Gesellschaft handele, vgl. Krämer a. a. 0. 631 Vgl. etwa Hueck, Anfechtbarkeit, S. 125 f. 632 RGZ 65, 241 (242); 90, 206 (208); Makower, § 271 Ill; ebenso Staub, 8. u. 9. Aufl., § 271 Anm. 4; Hueck, Anfechtbarkeit, S. 126; Krämer, S. 42; Ensslin, S. 109 f. ; a.A. Horrwitz, S. 82. Zum heutigen Meinungsstand und in der Sache differenzierend Geßler I Hefermeh1-Hüffer, § 243 Rn. 23 ff. 633 Vgl. Go1ega, S. 50 ff.; zum gegenwärtigen Stand der Diskussion Vo1hard, ZGR 1996, 55 ff. 634 Vgl. Nord, S. 65; ebenso Ludewig, S. 152.

142 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

Die Rechtsprechung behalf sich anfangs in Einzelfällen, in denen eine wortgetreue Anwendung der Anfechtungsvorschriften zu unbilligen Ergebnissen führte, mit einer Ergebniskorrektur: Das Reichsgericht hatte sich z. B. mit einem Fall zu befassen, in dem die Generalversammlung einer AG per satzungsänderndem Beschluß eine versteckte Nachschußpflicht eingeführt hatte. Der Vertreter des Klägers hatte dem Beschluß in der Generalversammlung zugestimmt; die Klage war erst nach Ablauf der einmonatigen Frist erhoben worden. Das Reichsgericht führte hierzu aus, daß sich die Leistungspflicht des Aktionärs auf das Grundkapital in der Erbringung des durch den Aktienwert bestimmten Anteils erschöpfe. Von diesem Grundsatz abweichende Beschlüsse seien mit dem Wesen der AG nicht zu vereinbaren635, letztere würde hierdurch vielmehr "aus ihrem Rahmen heraustreten". Aufgrund dessen vermöge auch der Ablauf der einmonatigen Frist den Beschlüssen nicht "den Rechtsbestand zu erwirken" 636 . Das Gericht vermied jedoch eine eindeutige Stellungnahme dazu, ob der Beschluß erst aufgrund der Anfechtung oder ipso iure nichtig war. In einem späteren Urteil sprach das Reichsgericht sich dann scheinbar ausdrücklich gegen eine Nichtigkeitsklage aus. Es hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein ohne die erforderliche Mehrheit gefaßter Beschluß anfechtbar oder nichtig sei. Das RG stellte fest, es sei denkbar, daß ein Beschluß unter derart schweren Fehlern leide, daß von einem solchen nicht mehr gesprochen werden könne und insofern auch eine wesentliche Voraussetzung für die Anfechtungsklage nicht vorliege. Das Vorliegen dieses "Scheinbeschlusses" könne aber von jedermann jederzeit durch Klage geltend gemacht werden637 . Daß aber nach der Vorstellung des RG Angriffe gegen fehlerhafte Beschlüsse aus Gründen der Rechtssicherheit wohl auf die Anfechtungsklage beschränkt bleiben sollten, belegt die Aussage, daß nach Auffassung des Gerichts die Theorie, wonach die Gültigkeit oder Ungültigkeit eines Beschlusses dauernd in der Schwebe bleibe (d. h. die Möglichkeit einer nicht fristgebundenen Nichtigkeitsklage), die Entwicklung der AG "schweren Erschütterungen" aussetze und weitgehend auf die Vorteile von Formund Fristerfordernissen der Anfechtungsklage verzichte638 . Die Rechtsprechung des RG überzeugte hier angesichts ihrer Widersprüchlichkeil nicht, hatte das Gericht doch noch in der oben zitierten Entscheidung betont, 635 Als wesensfremd bezeichnete das RG auch einen Beschluß, der das jederzeitige Kündigungsrecht eines ausscheidenden Genossen aus der eG beschränken wollte, vgl. RGZ 42, 79 (82). Aus der Zusammenschau der diesbezüglichen Rechtsprechung ergibt sich, daß "Wesensfremdheit" gleichzusetzen war mit "Überschreitung der Grenzen der Satzungsautonomie"; so auch Huber, FS Coing, S. 171 m. w. N. 636 RGZ 21, 148 (158 f.); vgl. auch RGZ 36, 134 (136) zur Beschlußanfechtung nach Ablauf der Monatsfrist aus Artt. 222, 190a HGB. 637 RGZ 75, 239 (242). 638 RGZ 75, 239 (245). Zu Unrecht nahm Ensslin, S. 25 daher an, das Reichsgericht habe durch seine Rechtsprechung zur Nichtigkeit von Beschlüssen dieselben der angeblich zu stark erschwerten Anfechtungsklage entziehen wollen.

2. Abschn.: Die Entwicklung des Anfechtungsrechts bis zum AktG von 1937

143

daß die klageweise Geltendmachung einer durch Gesellschaftsbeschlüsse bewirkten Rechtsverletzung gerade nicht an diejenigen Erfordernisse - insbesondere Fristen -geknüpft sei, die das Gesetz für die Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen aufstellte 639. Wenn es sich bei dieser Klage aber nicht um eine Anfechtungsklage handeln sollte, konnte hier jedoch nur noch die Nichtigkeitsfeststellungsklage in Betracht kommen640. In der Literatur stimmte man mit der Rechtsprechung zumindest insoweit überein, als daß man für einige Fallgruppen die Nichtigkeit von Beschlüssen ohne weiteres anerkannte. Namentlich war dies der Fall bei der Entziehung der sog. Sonderrechte, beim Verstoß gegen Vorschriften zum Schutz öffentlicher Interessen (wozu auch die Sittenwidrigkeit gezählt wurde), bei wesensfremden Beschlüssen, beim Verstoß gegen Dritt- oder Gläubigerschutzvorschriften sowie bei den oben angesprochenen Scheinbeschlüssen641 • Trotzdem war eine Mindermeinung zunächst der Ansicht, daß es insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit unvertretbar sei, außerhalb der Möglichkeit des§ 271 HGB einen von dessen Voraussetzungen losgelösten Rechtsbehelf zuzulassen, mit dem die Nichtigkeit eines Beschlusses isoliert geltend gemacht werden konnte642 . Es hätte somit die eigentümliche Situation bestanden, daß man zwar bestimmten Beschlüssen die Rechtswirksamkeit versagte, ein Rechtsbehelf zur klageweisen Geltendmachung der Nichtigkeit jedoch nicht existierte643 , wenngleich die Rechtsprechung dies auch wie oben gezeigt durch die extensive Auslegung des§ 271 HGB ausgleichen konnte.

Durchsetzen konnte sich jedoch die überwiegende Gegenansicht, welche die Auffassung vertrat, neben der Anfechtungs- müsse die Nichtigkeitsfeststeilungsklage ohne weiteres zulässig sein644 . Anderenfalls würde der Generalversammlung die Möglichkeit gegeben, sich über sämtliche Gesetzesbestimmungen hinwegzusetzen, sobald nur alle Aktionäre einig seien oder zumindest niemand Anfechtungsklage erhebe645 . Auf die Nichtigkeitsklage sollten nach dieser Ansicht die Vorschriften über die Anfechtungsklage mit Ausnahme der Fristbestimmung des

639

RGZ 36, 134 (136); vgl. zur nicht fristgebundenen Klageerhebung auch RGZ 80, 81

(85). 640 Kritisch zur uneinheitlichen RG-Rechtsprechung auch Brodmann, § 271Il. 3. a. E. Zweifelhaft war deshalb die Annahme Makowers, § 273 Anm. II, das RG befürworte die Möglichkeit der Nichtigkeitsklage 641 Staub, 8. Aufl., § 273 Anm. 16 ff.; Horrwitz, ZBH 1926, 184 f.; Ritter, DJZ 1911, 642; zur Sittenwidrigkeit von Beschlüssen s. nur Ludewig, S. 153m. w. N. 642 So Ring, S. 457; Fürst, LZH 1912, 511 ; vgl. auch Horrwitz, ZBH 1926, 185; zurückhaltend RGZ 15, 95 (98). 643 Staub, 8. Aufl .. Anm. 20, vertrat die Auffassung, bei einer gleichwohl erhobenen Anfechtungsklage handele es sich um eine Anfechtungsklage im Sinne der ZPO, obwohlletztere eine derartige Klageart gar nicht kannte. 644 RG JW 1912, 802; RGZ 89, 367 (379) Staub, 12./13. Auflage, § 273 Anm. 19, Hueck, Anfechtbarkeit, S. 234; Horrwitz, S. 123; Teske, S. 86; Martin S. 46. 64S Hueck, Aktienrechtsreform, S. 34.

144 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

§ 271 Abs. 2 HGB entsprechende Anwendung finden, soweit die Klage von einem Aktionär oder Gesellschaftsorgan erhoben wurde646 . Ferner wurde die Erfüllung der Voraussetzungen des § 256 ZPO, insbesondere das Vorliegen eines Feststellungsinteresses verlangt, wobei man sich jedoch jedoch kaum Fälle vorstellen konnte, in denen dieses nicht vorliege 647 . Wenn auch die zuvor dargestellte Abgrenzungsfrage für die Rechtsdogmatik von besonderem Interesse gewesen sein mag, so hatte sich die aktienrechtliche Praxis doch mit gänzlich anderen Problemen zu befassen. Denntrotz des allgemeinen Aufschwunges des Aktiengesellschaftswesens nach 1884 beklagte man in der übrigen Organisation der AG auch unter der Geltung des neuen HGB zahlreiche Mängel. Zeitgenössische Kritiker monierten bereits um 1900, daß sich vor allem wegen der Regelung des § 246 Abs. 3 HGB, der außer den gesetzlichen Befugnissen die Übertragung weiterer Obliegenheiten an den Aufsichtsrat gestattete, an den Zuständen vor 1884 im Grunde nichts geändert hätte. In der Tat bestätigt der Blick in einige Gesellschaftsverträge, daß i.d.R. dem Aufsichtsrat nach wie vor per Satzung ein weitreichender Einfluß auf die Geschäftsführung eingeräumt wurde648 . Eindringlich wurde darauf hingewiesen, daß wechselseitige Zustimmungs- und Entscheidungsvorbehalte nicht nur die Verwaltung der AG hemmten, sondern hierdurch auch eine erhebliche Gefahr von Kollusionen und Interessenkonflikten verursacht wurde649 . Dennoch glaubte die Aktienrechtswissenschaft vor dem ersten Weltkrieg fest daran, mit dem bestehenden Gesetzeswerk hinreichend wirksam gegen Mißstände vorgehen zu können, was sich jedoch bald genug als Irrtum herausstellte650. Denn obwohl die Vorschriften des Aktiengesetzes von 1884 flexibel genug waren, um dem Aktienrecht über einen langen Zeitabschnitt genügend Raum für Weiterentwicklungen zu bieten, war die Konzeption des Regelwerkes in großen Teilen von der Rechtswirklichkeit überholt worden651 . Die Veränderungen im Wirtschaftsgefüge wie z. B. die verstärkte Bildung von Großunternehmen und die kriegsbedingten Um- und Neuverteilungsprozesse auf dem Kapitalmarkt wirkten sich zwingend auch auf das Aktienrecht aus.

Vgl. Hueck, Anfechtbarkeit, S. 237. Horrwitz, S. 123. 648 Vgl. die folgenden Vorschriften: "Die Direktion führt die Geschäfte der Gesellschaft [ ... )nach den ihr vom Aufsichtsrat erteilten Instruktionen."(§ 16 des Statutes der Dresdner Bank); "Der Vorstand hat bei der Geschäftsführung die ihm vom Aufsichtsrat etwa erteilten Instruktionen zu befolgen."(§ 12 des Statutes der Hamburgisch-Amerikanischen PaketfahrtAG); "Der Vorstand ist verpflichtet, sich an die Instruktionen des Aufsichtsrates zu halten." (§ 13 des Statutes der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik zu Berlin); diese und weitere Nachweise bei Passow, Bedeutung, S. 170 ff. 649 Vgl. etwa Passow, BedeutungS. 195 ff., m. w. N. 650 Geßler/Hefermehi-Eckardt, Einl. Rn. 13; ebenso Brondics, S. 39. MI Zu den Strukturwandlungen des Aktienrechts bis zum Ende der Weimarer Republik s. Drescher, S. 3 ff.; Passow, Strukturwandel, S. I ff.; vgl. auch Schubert/ Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 25 ff. 646

647

2. Abschn.: Die Entwicklung des Anfechtungsrechts bis zum AktG von 1937

145

Die Gründungswelle Anfang der 20er Jahre und die Auswirkungen der Inflation stürzten das Aktiengesellschaftswesen zunächst in eine erneute tiefe Krise. Unter dem Druck des auf den Markt drängenden ausländischen Kapitals und der damit drohenden Überfremdung in den Gesellschaften griff man u. a. zum Instrument der Mehrstimmrechtsaktie, um den bisherigen Großaktionären in den Unternehmen die Stimmenmehrheit und damit den Einfluß zu erhalten. Der betriebswirtschaftliehe Sinn und Zweck dieser Vorgehensweise wurde jedoch alsbald durch zahlreich auftretende Mißbrauchsfälle konterkariert, in denen es "geschäftstüchtigen" Kapitalanlegern gelang, sich mit einem unverhältnismäßig niedrigen Kapitalanteil die Stimmenmehrheit in der Generalversammlung zu verschaffen und so ein Unternehmen zu beherrschen652 . Diese und andere Mißstände ließen die Notwendigkeit einer Überarbeitung des Aktienrechts immer deutlicher zutage treten. Die Problematik der Mehrstimmrechtsaktien wurde dabei zum Hauptanlaß und Kernpunkt der folgenden Reformbewegung653, die jedoch trotz der Dringlichkeit der angesprochenen Fragen zunächst eher schleppend verlief. Weder der aktienrechtliche Arbeitsausschuß des vorläufigen Reichswirtschaftsrates 654, der sich seit 1920 mit den Problemen einer eventuellen Neuregelung des Aktienrechts befaßte, noch der Deutsche Juristentag655 oder der "Ausschuß zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der deutschen Wirtschaft" (Enquete-Ausschuß), der ab 1926 über eine Novellierung des Aktienrechts beriet, befürworteten zunächst deren grundsätzliche Notwendigkeit. Erst die Aktivitäten des Reichsjustizministeriums seit 1927 bewirkten in dieser Richtung neue Anstöße. Durch die Verteilung von Fragebögen mit über 700 Fragen beabsichtigte das Ministerium, eine Stellungnahme der universitären Lehre, der Handelspresse. der Spitzenverbände von Industrie und Handel sowie der Gewerkschaften zu einer Überarbeitung des Aktienrechts einzuholen. Auf dieser Grundlage veröffentlichte das Reichsjustizministerium 1930 den ,.Entwurf eines Gesetzes über Aktiengesellschaften und Kommanditgesellschaften auf Aktien". Die Motive zum Entwurf wa6S2 Wohl kaum ein anderes Rechtsinstitut hat im Aktienrecht dieser Zeit so viel Diskussionsstoff geliefert wie die Mehrstimmrechts-. Depot- oder Vorratsaktien sowie deren Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse in der Generalversammlung. Vgl. Verhandlungen des 34. DJT, Bd. 2, S. 656; mit jeweils zahlreichen weiteren Nachw. hierzu auch Drescher, S. 15 ff.; Ludewig, S. 70 ff.; Martin, S. 52 ff.; Passow, Aktiengesellschaft, S. 335 ff.; ders., Strukturwandel, S. 15 ff.; s. a. Brondics, S. 39 f.; eingehend ferner Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 89 ff. 653 Vgl. Drescher, S. 63. 654 Hierzu ausführlich Schubert/ Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 9 ff. 655 Der 33. DJT 1924 beschäftigte sich zunächst mit der Frage der Annäherung an das anglo-amerikanische Recht im Bereich der Kapitalbeschaffung durch die AG; vgl. Verhandlungen des 33. DJT, Bd. 2, S. 385 ff. Dies zog die weitere Fragestellung nach sich, ob hierbei Grundzüge des deutschen Aktienrechts geändert werden sollten; vgl. Verhandlungen des 34. DJT, Bd. 2, S. 611 ff. Insgesamt wurde eine Übernahme ausländischer Institutionen aber abgelehnt. s. hierzu auch Schuber!/ Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 27 f. 10 Emmerich

146 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

ren maßgeblich vom Gutachten des Deutschen Anwaltsvereins656 beeinflußt, das dieser im Rahmen der Fragebogenaktion erstattet hatte und schlossen sich damit weitgehend der auf Rathenau657 zurückgehenden Lehre vom "Unternehmen an sich" an. Entsprechend dem Leitgedanken dieser Lehre 658 , folgte der Entwurf dem Grundsatz, daß Interessen des Unternehmens als solche ebenso schutzbedürftig seien wie das individuelle Interesse des einzelnen Aktionärs und suchte dem Ziel, die Unternehmensentwicklung von wechselnden Mehrheiten der Aktionäre möglichst unabhängig zu machen, durch eine Abschwächung der Machtbefugnisse der Generalversammlung und einzelner Aktionäre näherzukommen. Aufgrund zahlreicher Änderungsvorschläge wurde der Aktiengesetzentwurf 1930 allerdings bereits Ende des Jahres einer erneuten Überarbeitung unterzogen und im Oktober 1931 als amtlicher Entwurf neu veröffentlicht659 . Im Bereich der inneren Organisation brachten die Entwürfe auf redaktioneller Ebene die Ersetzung des Begriffs "Generalversammlung" durch "Hauptversammlung" (vgl. § 87 Entwurf 1931 ). Offenbar konnte man sich aber noch nicht zu einer konsequenten Umbenennung entschließen, denn die später verabschiedeten Notverordnungen enthielten wieder den alten Terminus660 . Die endgültige Neubezeichnung wurde erst im Aktiengesetz von I 937 übernommen. Für das Anfechtungsrecht waren dagegen einige wesentliche inhaltliche Änderungen vorgesehen. Neben einer Erweiterung der Anfechtungsbefugnis auf Mitglieder des Vorstandes(§ 139 Nr. 2 Entwurf I93I) sollte zunächst die Stellung der Minderheitsaktionäre dahingehend verbessert werden, daß für das Verlangen einer Sicherheitsleistung vor Klageerhebung (§ 272 Abs. 3 HGB) die beklagte Gesellschaft glaubhaft zu machen hatte, daß ihr aufgrund aktien- oder bürgerlich-rechtlicher Vorschriften gegen den I die Kläger oder einzelne von ihnen Ersatzansprüche entstanden waren oder noch entstehen konnten(§ I40 Abs. 3 Entwurf 1931). Diese Änderung war notwendig geworden, nachdem das Reichsgericht in einem Grundsatzurteil die bisherige Praxis für unzulässig erklärt hatte. Es war der Ansicht, daß die Anordnung einer Sicherheitsleistung eine ,,Beschränkung der Minderheit" sei. Als solche sei sie nur dann zu rechtfertigen, wenn der Kläger wegen böslicher Klageerhebung (273 Abs. 2 HGB), Kreditschädigung (§ 824 BGB) oder sittenwidriger

s.o. Fn. 679. Vom Aktienwesen, S. 38 ff. 658 Die Verfechter dieser Lehre gingen im Kern davon aus, das Unternehmen sei aufgrund eines gewandelten Verständnisses vom HGB nicht mehr allein Rahmen für die Verfolgung der Interessen der einzelnen Beteiligten, sondern ein Rechtsgut besonderer Eigenart und eine Einrichtung mit besonderen Aufgaben, die als solche staatlichen Schutzes bedürfe, auch wenn dies mit den Interessen der beteiligten Aktionäre in Widerstreit gerate. Vgl. hierzu ausführlich Drescher, S. 47 ff.; Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 30. Zur Entwicklung des Begriffes vgl. in jüngerer Zeit Riechers, Entwicklung. 659 Text abgedruckt bei Schubert I Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 849 ff. (16() Vgl. § 260 der VO vom September 1931 bei Rosendorff, S. 14; s. dazu auch unten. 656 657

2. Abschn.: Die Entwicklung des Anfechtungsrechts bis zum AktG von 1937

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Schadenszufügung (§ 826 BGB) haftbar zu machen sei661 . Ansonsten käme es zu einer unerträglichen Beschränkung des Anfechtungsrechts wenn die beklagte Gesellschaft bei jeder Gefahrdung durch eine Anfechtungsklage Sicherheit verlangen könnte. Es sei daher Sache des Richters, nach freiem Ermessen zu prüfen, ob der Gesellschaft durch die Klage Nachteile drohten und danach ggf. die Sicherheitsleistung festzusetzen 662 Ebenfalls redaktionell geändert wurde § 141 Abs. 2 Entwurf 1931, der für die Schadensersatzpflicht bei unberechtigt angestrengten Anfechtungsklagen statt "böslicher" Handlungsweise als Haftungsgrund Vorsatz bzw. grobe Fahrlässigkeit einführte. Eine wichtige Neuerung enthielt § 137 Abs. 1 S. 2 Entwurf 1931, der einen Beschluß auch dann für anfechtbar erklärte, wenn der Aktionär mit der Stimmrechtsausübung "gesellschaftsschädliche Sondervorteile" für sich oder einen Dritten verfolge. Die Einführung dieser Regelung wurde insbesondere vor dem Hintergrund begrüßt, daß das bisherige Recht keine wirksame Handhabe gegen diese Form des Stimmrechtsmißbrauchs kannte. Die bestehenden absoluten Verbote der Stirnrnrechtsausübung (etwa§ 252 S. 3, 317, 318 HGB) galten nurfür Ausnahmefälle besonders schwerer Interessenkollisionen und wurden von der Rechtsprechung daher so restriktiv ausgelegt, daß sie keinen wirksamen Schutz für die Gesellschaft boten663. Das Reichsgericht behalf sich zunächst damit, daß es die jeweiligen Beschlüsse unter Heranziehung der§§ 138, 826 BGB für nichtig erklärte; diese Lösung war jedoch in Detailfragen heftig urnstritten664 , so daß die Neuregelung zumindest grundsätzlich Klarheit schaffte. Der ursprüngliche Wortlaut des Entwurfs 1930 verwandte noch die Formulierung "gesellschaftsfrernde Sondervorteile"; zu Recht wurde hieran jedoch kritisiert, dieser Begriff sei zu starr und ermögliche keine klare Abgrenzung, so daß im Ergebnis doch wieder auf die vorn RG entwickelten Grundsätze zur Sittenwidrigkeil zurückgegriffen werden rnüsse665 . Im Entwurf 1931 war der geänderte Wortlaut dann nahezu identisch mit der heutigen Fassung des § 243 Abs. 2 S. 1 AktG. Bedeutsam war ferner die Einführung eines Auskunftsrechts des einzelnen Aktionärs ( § 88 Abs. I Entwurf 1931 ), wobei dieser dann zur Erhebung der Anfechtungsklage berechtigt sein sollte, wenn der Vorstand die Beantwortung einer Frage zu Unrecht verweigert hatte. Bei einer solchermaßen begründeten Klageerhebung konnte die Gesellschaft eine neuzuschaffende Spruchstelle anrufen (§ 89 Abs. 1 Entwurf 1931 ). Diese hatte anschließend in einem geheimen Verfahren darüber zu befinden, ob die Verweigerung der Auskunft durch überwiegende Interessen der 1561 1562 1563 664

1565

10*

RGZ 123, 194 (196). RG a. a. 0., S. 200 f. Vgl. hierzu Vassmer, S. 58. s. zum damaligen Streitstand Vassmer, S. 59 f. Vassmer, S. 61.

148 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

Gesellschaft oder der Allgemeinheit gerechtfertigt war (§ 90 Abs. 1 Entwurf 1931). Kritisiert wurde die Vorschrift des § 261 e Entwurf 1931 (Ausschluß der Anfechtung wegen Verletzung von Formvorschriften im Rahmen der Gewinn- und Verlustrechnung) mit der Begründung, ihrer Einführung liege offenbar die Befürchtung zugrunde, bei den erweiterten Publizitätsvorschriften im Rahmen der Gewinn- und Verlustrechnung werde es zu einem starken Überhandnehmen von Anfechtungsklagen kommen. Diese Befürchtung sei angesichts der Schadensersatzpflicht für unberechtigte Klagen allerdings unbegründet, wohingegen der Ausschluß der Anfechtbarkeil die Publizitätsvorschriften praktisch hinfällig werden lasse666. Letztlich konnte sich diese Ansicht nicht durchsetzen, wohl auch weil die aufgezeigte Konsequenz nicht zwingend war, denn die Generalversammlung hatte gern. § 129 Entwurf 1931 über den Jahresabschluß einen Beschluß zu fassen, der dann ggf. angefochten werden konnte. Außerhalb der Anfechtungsvorschriften war schließlich noch die ausdrückliche Anerkennung der Nichtigkeitsklage von Bedeutung(§ 142 Entwurf 1931). Wo die Grenzziehung zwischen Anfechtbarkeil und Nichtigkeit erfolgen sollte, war allerdings noch immer nicht abschließend geklärt. Gleichwohl sah man diese Unterscheidung unter Berücksichtigung auch im bürgerlichen Recht gefestigter Grundsätze als unverzichtbar an. Auch eine zeitliche Begrenzung der Geltendmachung der Nichtigkeit hielt man für grundsatzwidrig, zumal Fälle denkbar seien, in denen das öffentliche Interesse eine Heilung der Nichtigkeit nicht gestatte667 . Der Entwurf versuchte daher, die Nichtigkeitsgründe weitestmöglich zu beschränken. Nichtig sollten danach nur solche Beschlüsse sein, die ausschließlich oder überwiegend im öffentlichen Interesse erlassene Vorschriften verletzten oder die aufgrund eines obsiegenden Anfechtungsurteils für nichtig erklärt wurden (§ 136 Entwurf 1931 ). Zur Begründung verwiesen die Entwurfsverfasser darauf, die Zulässigkeil einer zeitlich unbeschränkt geltend zu machenden Nichtigkeit sei geeignet, die Interessen der Gesellschaft unter Umständen erheblich zu gefährden. Gleiches gelte für eine übermäßig große Anzahl von Nichtigkeitsgründen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit mißbräuchlich erhobenen Anfechtungsklagen wollte man keine Möglichkeit schaffen, eine AG nach langer Zeit mit der Drohung einer Nichtigkeitsklage zwecks Erlangung finanzieller Vorteile zu erpressen668 . Der ungestörte Fortgang der Reformarbeiten wurde durch die Finanzkrise und die politischen Zusammenbrüche des Jahres 1931 verhindert. Nach Ansicht der Ministerialbürokratie erforderten die politischen und wirtschaftlichen Umstände 666 Vgl. Protokolle der Verhandlungen des vorI. Reichswirtschaftsrates, in: Schubert I Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 299. 667 Vgl. Begründung zum Entwurf 1931 bei Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 918. 668 s. Protokolle der Verhandlungen des vor!. Reichswirtschaftsrates, in: Schubert/Hommelhoff, Aktienrechtsreform, S. 370.

2. Abschn.: Die Entwicklung des Anfechtungsrechts bis zum AktG von 1937

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eine Vorabregelung besonders dringlicher Reformfragen. Trotz eindringlicher Warnungen vor einem völlig unbefriedigenden Resultat entschloß sich das Reichskabinett, nur einzelne Abschnitte des Gesetzes im Wege einer Teilreform zu verabschieden und setzte diese durch die Notverordnungen669 vom 19.9. und 6. 10. 1931 zur vorläufigen Erprobung in Kraft. Diese bezogen sich indes auf hier nicht interessierende Bereiche des Aktiengesetzes und sollen daher nicht weiter erörtert werden. Als der Aktienrechtsausschuß des vorläufigen Reichswirtschaftsrates im März 1933 seinen Abschlußbericht zum Aktiengesetzentwurf vorlegte, fand ein Reformprojekt seinen vorübergehenden Abschluß, das außerordentlich sorgfältig vorbereitet und im vorparlamentarischen Raum ungewöhnlich intensiv beraten worden war. Obgleich die Reform erneut erst durch offensichtliche Mißstände in Bewegung geraten war und ihr Hauptzweck in der Beseitigung derselben zu sehen ist, wollte sie nicht nur punktuelle Abhilfe schaffen, sondern das Aktienrecht in ganzer Breite behutsam weiterentwickeln 670 .

C. Der Nationalsozialismus und das AktG von 1937 Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten leistete die neugegründete Akademie für deutsches Recht wesentliche Vorarbeit bei der Anpassung aller Rechtsbereiche an das nationalsozialistische System. Nachdem der vorläufige Reichswirtschaftsrat im Jahre 1934 aufgelöst worden war, machte man die weiteren Arbeiten am Aktiengesetz vom Ergebnis der Beratungen im dort ins Leben gerufenen Ausschuß für Aktienrecht abhängig, der die "großen Linien des neuen Aktienrechts" ausarbeiten sollte671 • Die "neue Weltanschauung" griff dabei so rasch um sich, daß in der Akademie für deutsches Recht von den bisherigen Reformern aus dem aktienrechtlichen Arbeitsausschuß des vorläufigen Reichswirtschaftsrates kein einziger mehr vertreten war. Es versteht sich von selbst, daß auf liberalistischindividualistischen Traditionen aufgebaute Gesetzeswerke wie das Aktiengesetz nicht mit dem gegenläufigen nationalsozialistischen Gedankengut zu vereinen waren und sich daher dem Zugriff des NS-Regimes nicht entziehen konnten. Die demokratische Struktur der AG und der mit selbständigen Rechten ausgestattete Einzelaktionär paßten nicht zur nationalsozialistischen Rechtsauffassung, zu deren typischen Merkmalen die Zurückdrängung des Individuums zählte672 • Zwar erteilt man allzu forschen Reformideen, die eine Abschaffung der AG als "anonyme Körperschaft" forderten, eine Absage, da man ihren wirtschaftlichen Nutzen nicht bestreiten konnte; in vielerlei Hinsicht wurde jedoch eine grundlegende Umgestal669 670 671 672

Beide abgedruckt bei Rosendorff, S. 9 ff. Zutr. Schubert I Homme1hoff, Aktienrechtsreform, S. 72. Brondics, S. 41; vgl. auch Schubert/ Homme1hoff, Aktienrechtsreform, S. 35 Vgl. Eisenhardt, Rechtsgeschichte, Rn. 631; s. auch Brondics, S. 42.

150 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

tung des Aktienrechts gefordert, die den nationalsozialistischen Grundsätzen Rechnung tragen sollte673 . Das umfassend reformierte Aktiengesetz vom 30. 1. 1937 hatte es sich denn auch zur Aufgabe gemacht, "Künder der neuen Weltanschauung" zu sein674 . Gesetzestechnisch enthielt es eine Neuerung; das Aktiengesetz wurde aus dem HGB ausgegliedert. Inhaltlich sah die "gewandelte Rechtsauffassung" es in erster Linie als unerträglich an, daß die Aktionäre bisher "in der Generalversammlung über Wohl und Wehe der Gesellschaft selbstherrlich zu bestimmen" hatten 675 . Das neue Aktiengesetz sollte nun überall eine ,,klare Verantwortung" schaffen, stärkte die Stellung des Vorstandes und begrenzte den Einfluß der Hauptversammlung. § 70 AktG 1937 setzte das sog. Führerprinzip auch auf das Aktienrecht um, wonach der Vorstand die Gesellschaft so leiten sollte, wie "das Wohl des Betriebes und seiner Gefolgschaft und der gemeine Nutzen von Volk und Reich" es erforderten. Die Hauptversammlung war damit als oberstes Gesellschaftsorgan abgelöst worden. Angesicht dieser äußerst ungünstigen Einflüsse und Begleitumstände mag es überraschen, daß das Aktiengesetz von 1937 in mehreren Bereichen an die vor 1933 erarbeiteten Grundsätze anknüpfte, einige der damaligen Reformansätze sogar zu Ende führte und insgesamt von der NS-Doktrin weniger durchdrungen war als zahlreiche andere Gesetze676 • Die amtliche Begründung zum Aktiengesetz 1937 deckte sich in vielen Punkten mit den vor der Machtübernahme gewonnenen Erkenntnissen. Insbesondere auf dem Gebiet des Aktionärsschutzes führte das Gesetz einige Verbesserungen durch, die selbst nach dem Krieg noch Bestand hatten und auch in der Aktienrechtsreform von 1965 noch berücksichtigt wurden677 • Hinsichtlich des Anfechtungsrechts und den damit zusammenhängenden Fragen enthielt das Gesetz von 1937 einige wichtige Änderungen. Die wesentlichen Regelungen waren nunmehr in den §§ 197 ff. AktG getroffen. Beachtenswert ist zunächst, daß § 197 Abs. 2 AktG entgegen dem amtlichen Entwurf von 1931 und trotz der berechtigten Kritik an dieser Formulierung als Anfechtungsgrund wieder die Verfolgung gesellschaftsfremder Sondervorteile anführte. Allerdings behalf man sich mit einer restriktiven Auslegung dieses Begriffes dahingehend, daß als gesellschaftsfremd nur solche Sondervorteile angesehen wurden, die geeignet waren, die Gesellschaft zu schädigen 678 . Neu eingeführt wurde die sog. Konzernklausel des § 197 Abs. 2 S. 2, wonach die Abstimmung zur Erlangung gesellschaftsfremder Sondervorteile dann keinen Anfechtungsgrund darstellte, wenn dies im In673 674

Vgl. Begründung 1937, S. 154; ebenso Baumbach, AktG 1937, S. I (Ein!.). v. Godin/Wilhelmi, S. III (Vorwort).

Baumbach, AktG 1937, S. 2 (Ein!.); vgl. auch Begründung 1937, S. 155. Zeiß, S. 4 (Einleitung); s. hierzu auch Begründung zum Regierungsentwurf (Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 13; zum Verhältnis Justiz und Nationalsozialismus vgl. Eisenhardt, Rechtsgeschichte, § 73. 677 Vgl. Brondics, S. 42 f. 678 v. Godin/Wilhelmi, § 197 li. 6. 67S

676

2. Abschn.: Die Entwicklung des Anfechtungsrechts bis zum AktG von 1937

151

teresse schutzwürdiger Belange erfolgte. Zur Begründung dieser Ausnahme wurde darauf verwiesen, daß für die Einzelgesellschaft schädliche Hauptversammlungsbeschlüsse dem Konzern durchaus dienlich sein könnten. Die Ermittlung des überwiegenden Interesses sollte letztlich einzelfallbezogen ermittelt werden, insbesondere unter Berücksichtigung des zu gewährenden Ausgleichs679 . Abweichend vom bisherigen Recht konnte der Streitwert einer Anfechtungsklage nunmehr vom Gericht nach freiem Ermessen unter Berücksichtigung des Interesses der Gesellschaft an der Aufrechterhaltung des Beschlusses festgesetzt werden. Bei einer Streitwertberechnung nach den Vorschriften der ZPO könnte u. U. der Wert einer einzigen Aktie maßgebend sein; dies stehe aber in keinem Verhältnis zur (vor allem wohl wirtschaftlichen) Bedeutung des Anfechtungsprozesses und fördere die mutwillige Prozeßführung680• Diese Regelung wäre heute wohl kaum mit verfassungsrechtlichen Grundsätzen zu vereinbaren, denn die aus ihr folgende Streitwertberechnung konnte eine hohe KostenvorschuBlast bzw. ein erhebliches Kostenrisiko bewirken und damit die Anfechtungsklage für Kleinaktionäre im Einzelfall unzumutbar machen681 . In der Tat führte die Vorschrift dazu, daß unter der Geltung des AktG 1937 von Kleinaktionären kaum Anfechtungsklagen erhoben wurden682 . Daß sich hierin die wesentlichen Änderungen beim Anfechtungsrecht bereits erschöpften, zeigt, daß nach dem Entwurf von 1931 im Grundsatz kein größerer Änderungsbedarf mehr bestand. Die Ausgestaltung dieses Rechtsinstitutes hatte daher bereits in den Reformen der Weimarer Zeit im Wesentlichen ihren Abschluß gefunden. Ungelöst waren demgegenüber jedoch nach wie vor grundlegende Fragen der Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen. Das Aktiengesetz nahm sich nunmehr auch dieses Problems in Gestalt des neugeschaffenen § 195 an, der eine abschließende683 Aufzählung der Nichtigkeitsgründe für Hauptversammlungsbeschlüsse enthielt. Der Gesetzgeber sah die Schaffung dieser Vorschrift als zwingend notwendig an, da der bisherige Rechtszustand, insbes. Die fehlende Frist für die Nichtigkeitsklage, die unscharfe Grenzziehung zwischen Anfechtbarkeil und Nichtigkeit sowie die insoweit schwankende Rechtsprechung zu einer dauerhaft nicht tragbaren Unsicherheit für die Aktiengesellschaften und damit für das Wirtschaftsleben geführt hätten 684 . Der Regelungsgehalt der Vorschrift war dabei bereits mit dem heutigen § 241 Nr. 1 - S AktG praktisch identisch. Hinsichtlich des

Dies., § 197 11 7. Begründung 1937, S. 226; vgl. auch Baumbach, AktG 1937, § 199 Nr. 7. 681 Ebenso KK-Zöllner, § 247 Rn. I; vgl. zum Verhältnis Rechtsschutz/Kostenrisiko Däubler, BB 1969,545 ff. ; Fechner, JZ 1969,349 ff. 682 Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 334. 683 Baumbach, AktG 1937, vor§ 195; a.A.- und insoweit mit der gesetzgeberischen Intention kaum vereinbar- Ritter/Ritter,§ 195 Anm. 5 f.; Schlegelberger/Quassowski, § 195 Rn. 2. 684 Begründung 1937, S. 222. 679 680

!52 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

Nichtigkeitsgrundes der Sittenwidrigkeit wurde z. T. noch unterschieden zwischen Beschlüssen, die nach Art und Weise ihres Zustandekommens und solchen, die durch ihren Inhalt gegen die guten Sitten verstießen 685 . Im Grunde war dieser Auffassung jedoch bereits durch die Regelung des § 197 Abs. 2 AktG 1937 der Boden entzogen worden; spätestens aber mit der Anerkennung von Treuebindungen im Aktienrecht war sie gänzlich obsolet geworden 686 . Neu war auch die Einführung des § 196 AktG 1937, der eine Heilung durch Registereintragung bei nicht ordnungsgemäß beurkundeten Beschlüssen bzw. in den sonstigen Fällen durch Eintragung und Fristablauf (3 Jahre) vorsah. Die Schaffung dieser Vorschrift wurde ebenfalls als notwendig angesehen, um die durch eine unbegrenzt mögliche Geltendmachung der Nichtigkeit entstehende Rechtsunsicherheit zu verhindem 687 . Eine Beschränkung der Heilungsmöglichkeit auf die genannten Fälle mangelhafter Beschlußfassung sei erforderlich, da es ansonsten zu einer ungerechtfertigten Besserstellung bloß anfechtbarer Beschlüsse kommen würde688 • Ihre abschließende, d. h. ebenfalls mit dem heutigen Wortlaut des § 249 AktG praktisch identische, Regelung fand auch die Nichtigkeitsklage in Gestalt des§ 201 AktG 1937. Wegen ihrer Rechtsnatur als Feststellungsklage689 galten hier die besonderen Voraussetzungen des § 256 ZPO; erforderlich war demnach insbesondere ein eigenes Feststellungsinteresse des Klägers690 .

3. Abschnitt

Die Neuordnung nach 1945 A. Die Reform von 1965

Alsbald nach dem Zusammenbruch von 1945 war die Forderung nach einer erneuten Reform des Aktiengesetzes aufgestellt worden. Zwar bestand weitestgehend Einigkeit darüber, daß die Herkunft des Aktiengesetzes aus der nationalsozialistischen Zeit - von einzelnen terminologischen Fragen abgesehen - die Reform68~ Vgl. Gadow/Heinichen, § 197 Anm. 14; a.A. schon Brodmann, § 271 I II b) 2.; zust. v. Godin/Wilhelmi, § 195 Nr. 10. 686 So auch KK-Zöllner, § 241 Rn. 124m. w. N. 687 v. Godin/Wilhelmi § 195 I; Schlegelberger/Quassowski, § 195 I. 688 Begründung 1937, S. 224. 689 Die Rechtsnatur als Feststellungsklage wurde später streitig, vgl. hierzu K. Schmidt JZ 1977,769 ff.; ders., FS Stimpel, 217 (224). 690 Ganz h. M.; vgl. Schlegelberger/Quassowski, § 201 Rn. 2; Gadow/Heinichen, § 201 Anm. 2 Ritter /Ritter,§ 201 Nr. 2 b); differenzierend v. Godin/Wilhelmi, § 201 II, die Aktionäre und Mitglieder des Vorstands oder Aufsichtsrates ohne weiteres als klagebefugt ansahen; nur Nichtigkeitsklagen Dritter sollten an den Voraussetzungen des § 256 ZPO gemessen werden.

3. Abschn.: Die Neuordnung nach 1945

!53

bedürftigkeit nicht begründete; die Reformbestrebungen zielten vielmehr darauf ab, das Aktienrecht so zu gestalten, daß es mit den veränderten Grundsätzen der Wirtschaftsverfassung in Einklang stand. Diese war maßgeblich von den neu geschaffenen grundrechtliehen Garantien der Entfaltungsfreiheit, der Eigentumsgarantie und der Sozialbindung des Eigentums geprägt, so daß das Aktienrecht vom wirtschaftlichen Eigentum der Aktionäre an dem auf ihren Kapitalbeiträgen beruhenden Unternehmen auszugehen hatte691 . Aus diesem Grunde sollten Mitspracheund Kontrollrechte nur so weit eingeschränkt werden, als dies zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der Gesellschaften, des Erreichens des Gesellschaftszwekkes sowie der Wahrung übergeordneter wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Ziele notwendig war. Nur bei einer diesen Grundsätzen entsprechenden Gestaltung des Aktienrechts würden private Eigentümer immer wieder bereit sein, ihr Kapital einer AG zur Verfügung zu stellen und so Bestand und Fortschritt der Wirtschaftsordnung zu sichern. Die Beteiligung immer größerer Teile des Volkes und die Verhinderung einer Kapitalkonzentration in den Händen weniger sei eine gesellschaftspolitische Aufgabe, der das Aktienrecht durch breiteste Streuung des Eigentums Rechnung tragen sollte 692. Damit waren die wesentlichen Reformziele formuliert, wie sie auch in der Regierungserklärung Adenauers vom 29. Oktober 1957 zum Ausdruck gebracht worden waren. Die Systematik im Aufbau des neuen Aktiengesetzes entsprach grundsätzlich derjenigen des Gesetzes von 1937. Mit der Schaffung des Rechts für verbundene Unternehmen (Konzernrecht) hatte der Gesetzgeber ferner eine aktienrechtliche Neuerung eingeführt. Die Vorschriften über die Anfechtbarkeil und Nichtigkeit von Hauptversammlungsbeschlüssen wurden in verschiedener Hinsicht erweitert und geändert; die bisher 8 wurden durch 21 neue Paragraphen ersetzt (§§ 241261 AktG). Eine Reihe von Hauptversammlungsbeschlüssen wurde aus diesem allgemeinen Bereich herausgenommen und in besonderen Bestimmungen geregelt693, in denen allerdings z. T. auf die "allgemeinen" Anfechtungsvorschriften verwiesen wird. Im übrigen wurde die Wahrnehmung des Anfechtungsrechts durch einige Änderungen erleichtert. Die wohl wichtigste hiervon war die Streichung der allgemeinen Schadensersatzpflicht für unbegründet erhobene Anfechtungsklagen (§ 200 Abs. 2 AktG 1937). Zutreffend verwies der Gesetzgeber darauf, daß diese Vorschrift eine unberechtigte Benachteiligung des Anfechtungsklägers enthalten habe. Auch bei anderen Klagen sei denkbar, daß der Kläger durch die Klageerhebung dem Beklagten schuldhaft einen Schaden zufüge. Diese Fälle könnten aber bereits durch § 826 BGB erfaßt werden; darüber hinaus sei eine Ungleichbehandlung in Form einer besonderen und strengeren Haftung auch unter dem Gesichtspunkt einer gesellschaftlichen Sonderverbindung sachlich nicht zu rechtfertigen 694 . Vgl. Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 13. Begr. RegE 1965, ebenda, S. 14. 693 Aufsichtsratswahlen (§§ 250,251 AktG), Gewinnverwendungsbeschlüsse (§§ 253,254 AktG), Kapitalerhöhungsbeschlüsse (§ 255 AktG) und Beschlußfassungen über den Jahresabschluß (256, 257 AktG). 691

692

154 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

Diese Ansicht stieß nicht auf ungeteilte Zustimmung. Es wurde eingewandt, daß bereits die Gleichstellung der Anfechtungsklage mit anderen Klagen verfehlt sei, weil dem Kläger aus dem mitgliedschaftliehen Anfechtungsrecht eine Macht zuwachse, die über diejenige anderer Kläger im Regelfall hinauswachse. So könnten etwa Willensentschließungen der Gesellschaft lahmgelegt werden, ohne daß letztere hiergegen etwas unternehmen könnte695 . Überzeugend war diese Kritik indes nicht. Der Anfechtungskläger mag zwar einen spürbaren Einfluß auf die Entscheidungen in der Verwaltung einer AG haben, weiter als derjenige anderer Kläger reicht dieser Einfluß aber nicht, denn auch im gewöhnlichen Zivilprozeß kann- etwa im Wege der einstweiligen Anordnung - auf derlei Willensentschließungen bzw. Entscheidungsprozesse nachhaltig eingewirkt werden. Vereinfacht wurde die Klageerhebung auch durch den Verzicht auf die Sicherheitsleistung (§ 199 Abs. 4 AktG 1937). Es bestehe kein Grund, Anfechtungsprozesse diesbezüglich anders zu behandeln als gewöhnliche Prozesse und auf diese Weise unnötig zu erschweren696 . Eine weitere Erleichterung brachte die Streichung der Begriffe "vorsätzlich" und "gesellschaftsfremd" in § 243 Abs. 2 S. 1 AktG. Ersteres hatte zur Folge, daß das Streben nach Sondervorteilen beim abstimmenden Aktionär zwar nach wie vor Vorsatz erforderte, dieser aber nicht mehr die Schädigung der Gesellschaft umfassen mußte697 . Das Absehen vom Erfordernis des gesellschaftsfremden Sondervorteils wurde damit begründet, daß die Gesellschaftsfremdheit bereits im Wort "Sondervorteile" zum Ausdruck komme698 • Dies wurde zum Teil nur als redaktionelle Änderung aufgefaßt699 ; die Richtigkeit der Begründung wurde allerdings auch in Zweifel gezogen. Denn gesellschaftsfremd sei ein Sondervorteil, wenn seine Verfolgung nicht im Gesellschaftsinteresse liege700. Während dies also nach dem Aktiengesetz von 1937 nur dann einen Anfechtungsgrund gab, wenn der Sondervorteil dem Gesellschaftsinteresse schadete bzw. es mindestens unberührt lasse, sei nach neuem Recht eine Anfechtung auch dann zulässig, wenn die Verfolgung des Vorteils der Gesellschaft nütze701 . Diese Ansicht ist m. E. unrichtig. Bereits aus dem Normkontext erschließt sich, daß nur die Verfolgung gesellschaftsschädlicher Sondervorteile einen Anfechtungsgrund gewähren soll, denn § 243 Abs. 2 S. 2 spricht vom Ausgleich des hierdurch entstandenen Schadens. Zum gleichen Ergebnis führt auch die historische Auslegung des § 243 Abs. 2 S. I AktG; schließlich käme auch die Gewährung gesellschaftsnützlicher Vorteile allen Aktionären zugute, eine Anfechtung wäre hier schlechthin sinnlos. 694 695

696 697 698 699 700

1o1

Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 335. KK-Zöllner, § 243 Rn. 49. Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 333; vgl. auch Obermüller /Werner /Winden, S. 141. Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 329. Begr. RegE 1965, ebenda, S. 330. Vgl. etwa Obermüller /Werner/Winden, S. 139. Zöllner, Stimrnrechtsmacht, S. 351. GK-AG-Schilling, § 243 Anm. 21 c).

3. Abschn.: Die Neuordnung nach 1945

155

Zur neuen Regelung des § 243 Abs. 2 S. 2 AktG wurde die Auffassung vertreten, durch die Ausgleichsgewährung werde die Anfechtung auch dann ausgeschlossen, wenn der Beschluß in erster Linie nicht die übrigen Aktionäre, sondern die Gesellschaft schädige702 . Auch dies vennag nicht zu überzeugen. Zum einen beeinträchtigen derlei Sondervorteile immer auch mittelbar die Aktionäre durch Venninderung ihres wirtschaftlichen Anteils am Gesellschaftsvennögen, zum anderen kann ein an die Aktionäre gewährter Ausgleich den Schaden der Gesellschaft nicht ausgleichen. Die Vorschrift kann daher nicht den Sinn haben, eine Schädigung der Gesellschaft rechtmäßig werden zu lassen703 • Abgesehen von diesen Bedenken wird ohnehin der Generalklausel des § 243 Abs. 2 S. 1 AktG spätestens seit der "Kali-Salz-Entscheidung" des BGH704 die praktische Bedeutung weitestgehend abgesprochen, denn seither ist anerkannt, daß Treuepflichtverletzungen (zu denen die Verfolgung gesellschaftsfremder Vorteile zu zählen ist) eine Gesetzesverletzung i. S. d. § 243 Abs. 1 AktG darstellen und ein Rückgriff auf § 243 Abs. 2 S. I damit nicht mehr nötig ist. Die daran anknüpfende Ausgleichsklausel greift insoweit ins Leere705 . Die Frage der Sondervorteile hatte der Gesetzgeber des Jahres 1965 auch in anderem Zusammenhang geregelt, denn entfallen war nach der neuen Regelung auch die KonzernklauseL Sie war aufgrund der Einfügung der konzernrechtlichen Vorschriften entbehrlich geworden, aus denen sich die Fälle ergeben, in denen die Verfolgung von Sondervorteilen im Konzerninteresse zulässig ist706 • Dementsprechend wird im Konzernrecht die Anwendung des § 243 Abs. 2 AktG z. T. ausdrücklich ausgeschlossen (vgl. etwa§ 304 Abs. 3 S. 2 AktG). Für die auf eine Auskunftsverweigerung gestützte Anfechtungsklage führte § 243 Abs. 4 AktG eine wichtige Neuerung ein. Mehrfach waren in der Praxis Hauptversammlungsbeschlüsse gefaßt worden, wonach festgestellt wurde, daß eine Auskunftsverweigerung ohne Einfluß auf die Stimmabgabe gewesen sei. Hierbei war umstritten, ob auf diesem Wege die Ursächlichkeil der Rechtsverletzung für den ursprünglichen Beschluß beseitigt werden könnte707 • Um diese Streitfrage einer nonnativen Klärung zuzuführen, sollten derlei Hauptversammlungsbeschlüsse künftig ohne Belang sein708 , ohne daß dabei jedoch das Prinzip durchbrachen werden sollte, wonach die Verletzung von Gesetz oder Satzung für einen Beschluß ursächlich sein mußte. Insofern enthalte die Vorschrift lediglich eine vorweggenommene negative Würdigung eines bestimmten Beweismittels, wodurch der von der Gesellschaft ggf. auf anderem Wege zu erbringende Beweis mangelnder Ursäch702 703

704 705

706 707 708

Obermüller/Werner/Winden, S. 139. So zutreffend GK-AG-Schilling, § 243 Anm. 23. BGHZ 71,40 (43 f.) =NJW 1978, 1316 ff. Zöllner, Kontrollrechte, S. 148; ebenso Hüffer, FS Kropff, 127 (129). Begr. RegE 1%5 bei Kropff, S. 329. Vgl. dazu BGHZ 36, 121 ff. Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 330.

156 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

lichk.eit allerdings nicht abgeschnitten werden sollte709 . Die unberechtigte Auskunftsverweigerung bildet sonach keinen absoluten Anfechtungsgrund. Lediglich der Bestätigung anerkannter Grundsätze diente die Neueinführung des § 244 AktG. In Rechtsprechung und Literatur bestand vor 1965 Einigkeit, daß die Gesellschaft den durch eine Anfechtungsklage hervorgerufenen Schwebezustand beseitigen könne, indem sie den angefochtenen Beschluß unter Ausschaltung der Mängel wiederhole710. In einigen Fällen- insbesondere bei der Kapitalerhöhungsei jedoch die Wiederholung eines Beschlusses aus formellen Gründen nicht ohne weiteres möglich, vielmehr müsse der angefochtene Beschluß zunächst beseitigt und sodann ein neuer Beschluß gefaßt werden. Als Alternative zu diesem wenig praxistauglichen Weg wurde vorgeschlagen, den angefochtenen Beschluß zu bestätigen und auf diese Weise den ihm anhaftenden Mangel zu heilen. Da die Zulässigkeil einer solchen Bestätigung aber umstritten war, obwohl hierfür ein dringendes wirtschaftliches Bedürfnis bestand, entschloß sich der Gesetzgeber zur Schaffung einer an § 144 BGB angelehnten Vorschrift. Entsprechend sollte eine Bestätigung nur für anfechtbare, nicht aber für nichtige Beschlüsse zulässig sein. Letztere könnten wie nichtige Rechtsgeschäfte nur durch eine erneute Vomahme "bestätigt" werden711 . Kritisch betrachtet wurde die Neuregelung der Streitwertvorschriften in § 247 AktG. Das bisher geltende Recht hatte wie oben gezeigt eine unbillige Benachteiligung von Kleinaktionären zur Folge. Nicht zuletzt deshalb erlaubte der Gesetzgeber nunmehr die Berechnung des Streitwertes nach einem den wirtschaftlichen Verhältnissen der Parteien angemessenen Teil des Gesamtstreitwertes (sog. gespaltener Streitwert). Die hiergegen eingewandten verfassungsrechtlichen Bedenken im Hinblick auf Art. 3 Abs. I GG greifen im Ergebnis wohl nicht durch712 ; ein weiteres Problem der Vorschrift sah man jedoch darin, daß in Ermangelung einer Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage der gespaltene Streitwert zu leichtfertigen Erhebung von Anfechtungsklagen verleiten könne713 • Auch dieser Einwand dürfte nicht stichhaltig sein, denn auch bei der Anwendung des§ 247 Abs. 2 AktG trägt der Kläger im Falle des Unterliegens das Kostenrisiko, was ihn auch nach Ansicht des Gesetzgebers regelmäßig von einer mutwilligen Klageerhebung abhalten wird. Außerdem ist die wirtschaftliche Gefährdung glaubhaft zu machen (§ 294 ZPO), wobei das Gericht sein insoweit bestehendes Ermessen richtig ausübt, wenn es dem Kläger bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung die Festsetzung eines Teilstreitwertes versage 14 . Obennüller/Wemer/Winden, S. 140. Obennüller I Werner /Winden, S. 140m. w. N.; vgl. auch Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 331. 711 Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 331. 712 Ebenso- mit unterschiedlicher Begründungen- KK-Zöllner, § 247 Rn. 17; GK-AGSchilling, § 247 Anm. 1. 713 Obennüller/Wemer/Winden, S. 141 f. 709

710

3. Abschn.: Die Neuordnung nach 1945

157

B. Zwischenergebnis Mit dem vorstehenden Abschnitt schließt sich der Bogen, den die vorliegende Untersuchung über ein halbes Jahrtausend gesellschafts-und aktienrechtlicher Entwicklung spannt. Das Aktiengesetz 1965 setzt dabei den Schlußpunkt in der Entstehungsgeschichte des Anfechtungsrechts, dessen Rechtsgrundlagen seitdem praktisch unverändert fortbestehen. Zwar bemängeln Kritiker noch immer die Unvollkommenheit und mangelnde Stimmigkeit der gesetzlichen Systematie 15 ; gleichwohl ist positiv zu bemerken, daß das Aktiengesetz alle ihm vorangegangenen Gesetzeswerke bei weitem überdauert hat, denn noch im vorigen Jahrhundert wurde durchschnittlich bereits nach neun Jahren jeweils eine komplette legislatorische Neuordnung der gesamten aktienrechtlichen Materie notwendig. Insbesondere den gründlichen und maßvollen Reformarbeiten während der Weimarer Zeit ist es auch im Hinblick auf die endgültige Ausformung des Anfechtungsrechts zuzuschreiben, daß sich in mittlerweile mehr als sechzig Jahren, die seit dem AktG von 1937 vergangen sind, keine so schwerwiegenden Mängel mehr gezeigt haben, daß der Gesetzgeber grundlegende Reformen für nötig gehalten hätte. Freilich sind dem Gesetz Bewährungsproben, die erfahrungsgemäß erst in Zeiten wirtschaftlicher Krisen wie den Gründerjahren oder den dreißiger Jahren abzulegen sind, bisher erspart geblieben. Die seitdem vorgenommenen Veränderungen gehorchten jedenfalls im wesentlichen der Notwendigkeit wirtschaftlicher Weiter- und Neuentwicklungen und verdienen es nicht, in Verkennung der Rechtswirklichkeit als "steter Kampf des Gesetzgebers gegen immer neue Mißstände"716 bezeichnet zu werden.

C. Beschlußkontrolle und Minderheitenschutz im geltenden Recht: Ausblick Dem Einfluß des Aktionärs im Unternehmen und insbesondere dem Minderheitenschutz kommt heutzutage eine wesentlich weitreichendere Bedeutung zu als dies bei seiner Ausformung etwa im Reformgesetz von 1884 der Fall gewesen ist. Gleichwohl stellt das geltende Recht dem Aktionär zur Verfolgung seiner Belange Kontrollinstrumente zur Verfügung, die in ihrer Ausgestaltung nicht wesentlich über das genannte Gesetz hinausgehen 717 . Aus dieser erkannten Unzulänglichkeit entwickelte sich in jüngerer Zeit eine lebhafte Diskussion um die Ausweitung dieser Rechtsbehelfe, deren wohl wesentlichstes Resultat die Aktionärsklage ist, die 714 Vgl. Begr. RegE 1965 bei Kropff, S. 335; zustimmend KK-Zöllner, § 247 Rn. 22; GKAG-Schilling, § 247 Anm. 4. 715 Vgl. etwa 8rondics, S. 46 f. 716 Wiethölter, S. 35. 717

Vgl. hierzu die sehr anschauliche Gesamtübersicht bei Zank!, 88 1978, 1755.

!58 2. Teil: Entwicklung der Beschlußkontrolle in der AG seit dem ADHGB von 1861

spätestens seit der "Holzmüller"-oder "Seehafenbetriebs"-Entscheidung des BGH718 als anerkannt gelten darf. Schubert/ Hommelhoff haben vor mehr als zehn Jahren anläßlich des 100-jährigen Bestehens des modernen Aktienrechts vor einer allzu verengenden Diskussion um die Individual- und Minderheitenrechte gewarnt, in der die eine Seite die Mitgliedschaft des Aktionärs in immer neuen Rechtspositionen konkretisiert sehen wolle, während die andere vor allzu weitreichenden Befugnissen von Gesellschaftern warne, die nur an Dividenden, Kurssteigerungen, Bezugsrechten und Gratisaktien interessiert seien719 • Die letztgenannte Ansicht könnte dabei immerhin eine Tradition beanspruchen, die - wie die vorliegende Untersuchung gezeigt hat - bis in die Anf