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German Pages 251 [252] Year 1991
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 57
Reiner Niehoff
Die Herrschaft des Textes Zitattechnik als Sprachkritik in Georg Büchners Drama »Danton's Tod« unter Berücksichtigung der »Letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1991
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Niehoff, Reiner: Die Herrschaft des Textes : Zitattechnik als Sprachkritik in Georg Büchners Drama »Danton's Tod« unter Berücksichtigung der »Letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus / Reiner Niehoff. - Tübingen : Niemeyer, 1991 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 57) NE: GT ISBN 3-484-32057-5
ISSN 0083-4564
(D 188) © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Johanna Boy, Regensburg Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt
Inhaltsverzeichnis
Einleitung. »Gerade so im Thiers«
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I. Zitattext und »erhabnes Drama« 1. »dictirt, analysirt, abgeschrieben« 2. Methodisches 3. Der Zitattext 4. Das »erhabne Drama der Revolution« 5. Das Drama und seine Bedeutung 6. Zusammenfassung
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II. Vom Zwang des Spiels 1. Indifferenz 2. Kostüme, Namen, Jamben 3. »Puppen sind wir«
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4. Metaphorik
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HI. »... die Sprache zu einer herrschenden machen ...« 1. Sprachbewußtsein und Sprachkritik 2. Dialog/Code 3. Sprachherrschaft I 4. Sprachherrschaft II 5. Egmont und das »hohle Wort des Herrschers« IV. Das Aufbrechen des Zitattextes 1. Epigramm und Sentenz 2. Das zirkulierende Zitat 3. Das »strafende Zitat «/Paralyse 4. Witz und Zote 5. Sprachfehler
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V. Über den Zitattext hinaus 1. Marion und die Erotik 2. Arbeit Exkurs: Forschungsliteratur und abweichendes Sprechen 3. Tod 4. Schuld
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4.1. Unbeherrschte Geschichte
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4.2. Verletzte Sprache
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5. Lucile und die Sprache
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Statt eines Schlußwortes: Karl Kraus und das Zitat
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Literaturverzeichnis
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Die vorliegende Untersuchung wurde durch ein Stipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst gefördert. Für freundschaftliche Unterstützung und Kritik danke ich besonders Michael Bölker. Ein weiterer Dank gilt Frau Karin Göhlich von der Stadtbücherei Miesbpch für die Bereitstellung der Literatur.
EINLEITUNG
»Gerade so im Thiers« Ei verzwicktes x, unnützer Buchstab! (Shakespeare)
1. Erstaunlich ausgiebig und offen wird in Büchners Erstlingsdrama zitiert. »Exzessiv«1 macht Büchner von Geschichtswerken Gebrauch: der Schreibtisch, an dem >Dantons Tod< entstand, muß mit Büchern zur Französischen Revolution, entsprechenden Exzerpten und anderen Materialien überladen gewesen sein. 2
Ganze Seiten kopiert Büchner aus historischen Darstellungen und Kompilationen, welche die Reden und Abläufe der >Großen Revolution dokumentieren und interpretieren. Kaum eine Darstellung von >Danton's Tod< verzichtet auf den Hinweis, Büchners Drama bestünde zu einem Sechstel des gesamten Textvolumens aus historischen Zitaten.3 Dieser Umstand - auch darauf wird regelmäßig hingewiesen ist schon den Zeitgenossen aufgefallen. So schreibt nach Erscheinen des Dramas Karl Gutzkow an Büchner, die eher ablehnende Haltung, auf die das Drama gestoßen sei, müsse man auf die »bekannten heroice dicta«4 zurückführen, die das Stück durchziehen. Die Kritik habe, so berichtet Gutzkow weiter, in dem »Ganzen ein dramatisirtes Capitel des Thiers«5 gesehen. So gegenwärtig und >bekannt< ist offensicht-
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Jan-Christoph Hauschild, Georg Büchner. Studien und neue Quellen zu Leben, Werk und Wirkung. Königstein/Ts. 1985, S. 264. >Die Arbeit mit Quellens In: Georg Büchner. Leben, Werk, Zeit. Katalog anläßlich der Ausstellung zum 150. Jahrestag des »Hessischen Landboten«. Unter Mitwirkung von Bettina Bischoff, Burghard Dedner u.a., bearb. von Thomas Michael Mayer. Marburg 1985, S. 190. Vgl. auch: Thomas Michael Mayer, Büchner und Weidig - Frühkommunismus und revolutionäre Demokratie. Zur Textverteilung des »Hessischen Landboten«. In: Georg Büchner I/II. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1981, S. 67f. Die Angabe geht zurück auf den Aufsatz: Karl Vietor, Die Quellen von Büchners Drama »Dantons Tod«. In: Euphorion 34 (1933), S. 357-379. Gutzkow an Büchner, 10.6.1836. Zitiert nach: Georg Büchner, Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. von Werner R. Lehmann. Bd. I, Hamburg 1967 und Bd. II, Hamburg 1971. Im folgenden zit als HA (= Hamburger Ausgabe). Der zitierte Brief findet sich in Bd. II, S. 491. H A II, S. 491.
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lieh der Sprachfundus der Französischen Revolution - deren >dicta< um 1830, daß sie für Büchners Zeitgenossen mühelos identifizierbar sind. Tatsächlich wird in den zeitgenössischen Rezensionen der ungewöhnlich hohe Quellenanteil in Büchners Drama wiederholt festgestellt. Das >Repertorium der gesammten deutschen Literatur< war der Meinung, die Konstellation und Motivation der Figuren im Drama könne »bei der Menge des historisch Ueberlieferten nicht schwer« 6 gefallen sein. Und: »Die bekannten Apophtegmen aus dem Processe D[anton].'s hat der Vf. zu benutzen gewußt.« 7 Ähnlich urteilen auch die >Blätter für literarische Unterhaltungc Bei den vorhandenen historischen Vorarbeiten und bei der Prägnanz des Stoffes ist es eben nicht schwer, aus der französischen Revolutionsgeschichte effectvolle dramaüsche Szenen zu geben.8
Hermann Marggraff nennt >Danton's Tod< in den Jahrbüchern für Drama, Dramaturgie und Theater< ein »genial dialogisirtes Fragment eines geschichtlichen Zeitabschnittes« mit dem Nachsatz, das wahre Ziel der Kunst: nämlich aus der »rohen Masse« einen »Kunstgenuß«, eine »wirkliche Schöpfung hervorzubringen«, sei nur als »Schwindel« geglückt. 9 Endlich wissen die >Litterarische[n] und kritische[n] Blätter der Börsenhalle< zu berichten, Büchner habe »da und dort« kaum mehr zu leisten gehabt, »als typographisch zum Dialog umzugestalten, was im Uebrigen schon vorher Dialog war«.10 Auch Gutzkow hat weiterhin beschäftigt, daß die aus Thiers' >Geschichte der französischen Revolution wörtlich übernommenen Passagen dem dramatischen Text Büchners so überdeutlich ihren Stempel aufdrücken. Die Art, in der er diesen Umstand beschreibt, zeigt an, daß ihm das Ungewöhnliche dieses Verfahrens bewußt war, läßt aber zugleich erkennen, daß solch quellenbetontes Arbeiten entschuldigt werden mußte. Im >Nachruf< von 1837 minimalisiert Gutzkow den in den Rezensionen kritisierten Sachverhalt; die inkriminierte Technik der Textkopie wird im allgemeinen Lob auf das Erstlingswerk vergraben und in einem adversativen Nebensatz versteckt. Gutzkow 6
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Zitiert nach: Dokumente der Frührezeption von >Dantons Todheroice dictaTelegraph< erschienene Fassung eingefügt, und zwar erst in den Abdruck innerhalb der Ausgabe letzter Hand. Gesammelte Werke von Karl Gutzkow. Erste vollständige Gesammt-Ausgabe. Erste Serie, zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Jena 1872-76. Der >Nachruf< findet sich im 1874 erschienenen neunten Band innerhalb der Sammlung >Oeffentliche Charakteren das Zitat S. 270f. Daß Gutzkow erst so spät die unscheinbare Kennzeichnung des Zitatcharakters der Büchnerschen Exzerpte in seinen Text einfügt, läßt sich vielleicht damit erklären, daß Gutzkow aus historischem Abstand auf einen Umstand aufmerksam machen will, der in den dreißiger Jahren selbstverständlich ist, in den siebziger Jahren aber betont werden muß. Die Zitate sind als wörtliche Zitate nicht mehr unmittelbar präsent und werden deshalb von Gutzkow unterstrichen. Falsch also die Behauptung von Viktor ¿megai: »In Büchners Drama >Dantons Tod< (1835) wirken die authentischen Abschnitte der Reden der historischen Gestalten durchaus illusionsfördemd, d.h. sie treten keineswegs als Fremdkörper in Erscheinung.« In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hrsg. von Dieter Borchmeyer und Viktor ¿megaC. Frankfurt 1987, S. 260. 3
breitung der Revolutionsreden und Dekrete, der sprunghafte Anstieg des Pressewesens und die politische Bedeutung der Zeitschrift, zudem die schnelle und ausführliche Historiographisierung der Revolutionsereignisse, läßt die Sätze des historischen Danton und des historischen Robespierre wörtlich gegenwärtig sein. Noch 1870 schreibt Robert Hamerling im Vorwort zu seiner Tragödie >Danton und Robespierrec Zu nahe liegt unseren Tagen noch die in diesem Drama geschilderte Zeit, als daß eine Entfernung von der geschichtlichen Wahrheit auch nur im Detail verstattet gewesen wäre.14
Das wird in Gutzkows Bericht der ersten Lesung deutlich. Büchners Exzerpte werden von den Hörem als wörtliche Übernahmen historischer Reden erkannt. Damit ist die Bedingung des Zitats erfüllt: seinen Bezug aufs Zitierte sichtbar zu machen. Das Zitat weist aus dem dramatischen Immanenzzusammenhang hinaus auf vorgegebene Texte. Das Drama ist nicht >primär< und >ursprünglichDantons Toddialogisiren< aufgefaßt, oder er wird als Einschränkung der ästhetischen Qualität (>obschonDanton's TodGeorges Büchner. La mort de Danton. Publiée avec le texte des sources et des corrections manuscrites de l'auteur.< Paris 1953. Adolf Beck, Unbekannte französische Quellen für »Dantons Tod« von Georg Büchner. In: A. B., Forschung und Deutung. Hrsg. von Ulrich Füllebom. Frankfurt/ Bonn 1966, S. 346-393. Werner R. Lehmann, Textkritische Noten. Thomas Michael Mayer, Revision I; und: Th. M. M., Zur Revision der Quellen für >Dantons Tod< von Georg Büchner (II). In: Studi germanici IX (1971), S. 223-233. Bernd Zöllner, Büchners Drama »Dantons Tod« und das Menschen- und Geschichtsbild in den Revolutionsgeschichten von Thiers und Mignet. Phil. Diss. Kiel 1972. Louis Ferdinand Heibig, Das Geschichtsdrama Georg Büchners. Zitatprobleme und historische Wahrheit in »Dantons Tod«. Bern und Frankfurt 1973. Jürgen Sieß, Zitat und Kontext bei Georg Büchner. Eine Studie zu den Dramen »Dantons Tod« und »Leonce und Lena«. Göppingen 1975. Walter Hinderer, Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977. Thomas Michael Mayer, Büchner und Weidig. Nicht mehr eingearbeitet werden konnte das Buch von Herbert Wender: Georg Büchners Bild der Großen Revolution. Zu den Quellen von Danton's Tod. Frankfurt 1988. Georg Büchner, Danton's Tod. Ein Drama. Hrsg. von Thomas Michael Mayer. In: Georg Büchner, Dantons Tod. Die Trauerarbeit im Schönen. Ein Theaterlesebuch. Hrsg. von Peter von Becker, Frankfurt 1980. Der Text dieser Ausgabe bildet die Grundlage dieser Arbeit. Zitate aus >Danton's Tod< werden in Klammern im laufenden Text vermerkt. Die Verweise beziehen sich auf die Replikenzählung der Mayerschen Ausgabe. Für Verweise auf die Beiträge in diesem Band verwende ich das Kürzel: Studienausgabe. 6
geschah, nach Mayers Worten, mit der Absicht, »dichtgefügte Zitate und Reminiszenzen« 25 kenntlich und dem »Leser die für Büchner spezifisch zitierende Arbeitsweise«26 anschaulich zu machen. Worin aber besteht diese »spezifisch zitierende Arbeitsweise«? Der von Mayer edierte Text - so großartig er ist - hat die Quellen zutage gefördert, die Büchner vielleicht mitgeteilt hätte, wären ihm nicht gerade »die Darmstädter Polizeidiener« als »Musen« erschienen;27 etwa in der Art, wie Schiller als ordentlicher Historiker in der Vorrede zum Erstdruck des >Fiesco< die Quellen teils mit Bandangabe auflistet: Die Geschichte der Verschwörung habe ich vorzüglich aus des Cardinais von Retz >Conjurations du Comte Jean Louis de FiesqueHistoire des ConjurationsHistoire de Gênes< und Robertsons >Geschichte Karl des V.< - dem dritten Teil - gezogen.28 Worin besteht dann eigentlich die »spezifische« Technik Büchners, wenn Goethe im >GoetzJungfrau< ausgiebig wörtliche Verwendung für Sätze aus den Textvorlagen finden? Was ist mit dem Quellennachweis gesagt, welche »spezifisch zitierende Arbeitsweise« aufgezeigt und als Zitattechnik semantisiert? Zweifellos ist ohne die philologische Sicherung der Quellen eine Diskussion über Zitate unsinnig. Aber ist damit schon die Spezifik der Technik erklärt? In den Antworten, die auf die sich notwendig einstellenden Fragen nach Funktion und Bedeutung des Zitats und der Technik der wörtlichen Übernahme von Wörtern, Sätzen oder Texten gegeben worden sind, zeichnen sich in der Forschungsliteratur zum Œuvre Büchners zwei unterschiedliche Argumentationsstrategien ab. Die eine hält sich an Büchners programmatische Äußerungen über sein Erstlingswerk, wie sie sich in den Briefen an die Familie und an Gutzkow finden lassen: der Autor wolle dem, was gewesen sei, so nahe wie möglich kommen; die andere betont die Anverwandlung der Zitate an einen neuen ästhetischen Zusammenhang: entscheidend sei die innerdramatische Konstellation bzw. die gattungsspezifische Integration. 25 26 27 28
Studienausgabe, S. 7. Thomas Michael Mayer, Zu einigen neueren Tendenzen der Büchner-Forschung (II). In: Georg Büchner III, S. 273. Gutzkow über Büchner im >NachrufTragödie des heldischen PessimismusTell< - zuschreibt; es fällt unter die historische Ausstattung des Dramas. Das heißt dann Atmosphäre: Nähe zur Geschichte fordert Ausschöpfung von Quellen, die die Atmosphäre und den Geist der Zeit zum Teil direkt vermitteln, zum großen Teil jedoch durch Facta und durch Dicta der historischen Gestalten. 32
Der andere Ansatz wertet hingegen die Bedeutung der historischen Materialien ab und unterstreicht die Differenzen zwischen dem Wortlaut der Vorlagen und dem Drama. Nun verliert »das an sich authentische Material« plötzlich »den Charakter der Authentizität« mit der Begründung: Auch die historisch verifizierbaren Elemente gleichen sich als integrierte Bestandteile der Fiktionalität des nicht dokumentierten Materials an. 33
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Brief an die Familie vom 28. Juli 1835. HA II, S. 443. Brief an die Familie vom 5. Mai 1835. HA II, S. 438. Vigtor, Die Quellen von Büchners Drama »Dantons Tod«, S. 357. Dem schließt sich ausdrücklich an: Maurice B. Benn, The drama of revolt. A critical study of Georg Büchner. Cambridge 1976, S. 122. Karl Vigtor, Die Tragödie des heldischen Pessimismus. Über Büchners Drama »Dantons Tod«. In: DVJs 12 (1934), S. 173-209. Adolf Beck, Unbekannte französische Quellen. S. 391 und S. 393. Albert Meier, Georg Büchners Ästhetik. München o. J., S. 49. Ebenso: Walter Höllerer, Dantons Tod. In: Das deutsche Drama vom Barock bis zur Gegenwart Hrsg. von Benno von Wiese. Düsseldorf 1958, Bd. 2, S. 65.
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Gerade diejenigen Untersuchungen, die sich mit der Zitattechnik explizit befaßt haben, vertreten - wie vermittelt auch immer - diesen Standpunkt. 3 4 These ist, der Dichter wolle nicht der Geschichte nahe kommen, wie sie sich »wirklich begeben« 3 5 hat, Intention des Autors sei es vielmehr, die Zitate in ein eigendefiniertes Kunstwerk umzuarbeiten. Das, was zuvor Geschichte war, weicht nun der überlegenen Fiktion >DramaZitat und Kontext bei Georg Büchner< Textzitate gerade deshalb nicht untersucht, weil die »Abweichung« vom Quellentext nur »minimal« ist. 37 Meint doch der Begriff >Zitat< in seiner einfachsten Bedeutung bereits, daß die »Abweichung« zur Vorlage nicht nur »minimal«, sondern überhaupt nicht vorhanden ist. Die ganze Spannbreite der Interpretationen: ob sie die Geschichtsnähe, den Kunstcharakter oder den Widerschein »überzeitlicher Wahrheiten« 3 8 in der Zitation betonen, erfaßt nicht, d a ß ich in d e m Augenblick nicht mehr von einer Zitattechnik spreche, wo ich die änderung
Ver-
des Quellenmaterials interpretiere. Es ist gar nicht zu leug-
nen, daß die Varianten und Verarbeitungen des verwendeten >Materials< äußerst interessante Bedeutungsschichten des D r a m a s zutage
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Vgl. die Arbeiten von Zöllner, Sieß und Heibig. Büchner an die Familie, 28. Juli 1835. HA II, S. 443. Bernd Zöllner, Büchners Drama »Dantons Tod«. S. 78. Jürgen Sieß, Zitat und Kontext. S. 48. Louis Ferdinand Heibig, Das Geschichtsdrama Georg Büchners. S. 87.
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bringen können; 39 man darf nur nicht vergessen, daß es dann in strengem Sinne nicht länger die Zitattechnik ist, die untersucht wird. Das ist ja exakt die Interpretationsmethode der klassischen Schiller-Philologie, die Bedeutung des Dramas aus der Verarbeitung seiner historischen Materialien herauszulesen. Gerade aber dieser interpretatorische Rückschein des poetischen Prozesses fällt da weg, wo »gerade so« gesprochen wird wie in der Historiographie. Am Problem der Zitation bricht eine Schwierigkeit der Philologie auf, an der ein Nachdenken über die Technik, die Funktion und die Bedeutung des Zitats bei Büchner einsetzen kann. Denn es scheint, als sei das Problem der Zitation als ästhetische Verfahrensweise durch die positivistische Fetischisierung des Büchnerschen Textes vor allem in den letzten Jahren nicht in den Horizont der Reflexion gebracht, vielmehr abgeschattet worden. Kaum ein Problem der Büchnerschen Dramatik wird so häufig dokumentiert und so selten zur Frage ausgearbeitet. Wie oft werden die Quellen und der Dramentext in Konkordanz gedruckt; und doch dient der Quellennachweis entweder der Demonstration von Büchners Realismus oder dem Hinweis auf eine signifikante Abweichung. Ernst zu nehmen ist dagegen der Gedanke von Zons, es verbiete sich »eine Interpretation, die nur auf das Material rekurriert und nicht zugleich auf das für die Ästhetik essentielle Materialverhältnis und die Technik, die es organisiert [...].« 40 Ein Anspruch, dem Zons sich selbst freilich und auf nun bereits bekannte Weise verschließt, wenn er kurz darauf verkündet: Ursprünglich Kunstfremdes wird genauso in der Einmaligkeit des Werkes monüert wie Überliefertes, d.h. das Zitat hebt sich historisch wie ästhetischreflexiv selber auf in einen neuen Sinn- und Bedeutungsbezug.41
Das bedeutet wohl, mit Zons' absurdem Pleonasmus gesprochen, »einen Griff am Zentralkern«42 der Zitattechnik vorbei.
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Gelungen in dem Aufsatz: Heinrich Anz, »Leiden sey all mein Gewinst«. Zur Aufnahme und Kritik christlicher Leidenstheologie bei Georg Büchner. In: Georg Büchner Jahrbuch (im folgenden: GBJb) 1/1981, S. 160-168. Rainmar St. Zons, Dialektik der Grenze. Georg Büchner. Bonn 1976, S. 207. Zons, Dialektik der Grenze, S. 208. Zons, Dialektik der Grenze, S. 206.
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2. Zunächst verändert das Zitat jenes Verhältnis, das für das Drama um 1800 ausschlaggebend, für das historische Drama schlechterdings entscheidend war: das Verhältnis von Quellentexten und dramatischem Kunstwerk. Es liegt im Begriff des Zitats, daß mit der zitierenden Verfahrensweise der Quellentext exakt so übernommen wird, wie er vorgegeben ist. Die Zitation verändert das Verhältnis von Quelle und Kunstwerk, indem sie es schlicht auflöst. Gerade jenes ausgewogene Verhältnis von Stoff und Drama, das mit dem Zitat verabschiedet wird, klagt nun die zeitgenössische Kritik an Büchners Drama ein. Die Schelte der Rezensionen ist primär begründet in dem ästhetisch normierten Verhältnis von Geschichtsvorlage und Kunstwerk. Darin deckt sich die Stigmatisierung, Büchners Drama sei nur eine >Dialogisierung< des Stoffes, die Geschichte habe zu weit vorgearbeitet, die Szenen und Handlungen seien nur übernommen worden, mit dem anderen und entgegengesetzten Vorwurf, das Drama ermangele der ausgewogenen Komposition, sei ordnungslos und fragmentarisch. Gutzkow nimmt Büchner in Schutz. Man übersehe, so gegen den ersten Vorwurf, daß »in der Tat doch mehr von Ihnen gekommen ist, als von der Geschichte f...].« 4 3 Den zweiten Einwand pariert er mit dem Hinweis, daß es ein »ganz zufällig ergriffener Stoff« gewesen sei, dessen »künstlerische Durchführung den Dichter abgehetzt hatte.« 44 Dort wird der subjektive Anteil herausgestrichen, hier herabgesetzt. Zur Kritik, die sich in dem stillen »dies oder das stände gerade so im Thiers« äußerte, weiß er dann nur noch zu sagen, daß Büchner Thiers und Mignet habe »loswerden« müssen. 4 5 In allen Fällen bringt ihn das Mißverhältnis von vorgegebenem Material und dramatischem Text in Verlegenheit; die Zitattechnik und die ungewöhnliche Form des Dramas müssen entschuldigt werden. Gutzkows Schwierigkeit besteht darin, daß er die Zitation nicht als Umwälzung des Verhältnisses von Quelle und Drama verstehen kann. Denn wo zitiert wird und wo die Reden identifizierbar bleiben, geschieht etwas, das mit dem Verarbeitungsprozeß des Materials, wie er in den Dramen Schillers und Goethes zum Ausdruck kommt und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein vorherrschend ist, nicht länger gefaßt werden kann. 43 44
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Gutzkow an Büchner, 10.6.1836. HA II, S. 491. Gutzkow im >NachrufNachrufLenz< oder in den Briefen über >Danton's Tod< konträr; es steht konträr bereits zu dem, was man das klassische Stoffparadigma nennen könnte. Dieses fordert den dramatischen Prozeß als poetischen Verwandlungsvorgang historischer Quellen ein, findet seinen Prototyp in der Dramatik Schillers und wird als dramatische Technik in Schillers Briefwechsel mit Goethe reflektiert. Es macht Sinn, dieses Verfahren Schillers einen Augenblick zu verfolgen, u m die Position zu bestimmen, von der sich Büchner mittels der Zitattechnik radikal löst. Schiller schiebt zwischen die historischen Quellen, die er verwendet, und das Drama, zu dem diese den Stoff abgeben, eine Reihe von Umarbeitungsmaßnahmen. Schrittweise wird »verarbeitet« 4 6 , was ihm »Masse«, »Materie« oder »roher Stoff« heißt. 4 7 Für den Dramatiker sind die Texte der Geschichte Rohmaterial, mit d e m es »fertig zu werden« 4 8 gilt. Die Texte, die er in diesem Prozeß verbraucht, sind an sich ohne Bedeutung; das Gegenteil von Historiographie. Zwar dürfen die historiographischen Quellen alle Elemente zur Verfügung stellen, die d e m Drama verwendbar sind: Schauplätze, Handlungsstränge, Figurenensembles, plots,
Reden und Ansprachen; aber diese Ele-
mente werden aus den Quellen nur herausgelöst, sofern sie die dramatischen Gesetze erfüllen. Entscheidend ist die prädeterminierende Form und deren Bedeutung, nicht Struktur und Botschaft des vorgegebenen Quellentextes. Schiller besitzt ein strenges Reglement von dramatischer Form und ihrer Erarbeitung. Die Historiographie unterwirft er einer ganzen Reihe von Operationen: das historiographische Material wird gesichtet, selektiert, klassifiziert, perspektiviert und versifiziert. Der Stoff soll in ein dramatisches System eingehen, das prästabil die Form und als Form den Inhalt determiniert. Für Schiller ist die fünfaktige Tragödie der Ort, das autonome Selbst des Helden den Kausalitäten und Ver-
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Schiller an Goethe, 5.3.1799. In: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe. Hrsg. von Siegfried Seidel. Leipzig/München 1984, Bd. II, S. 199. Im folgenden zit. als: Briefwechsel. Vgl. auch G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik. Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. In: Hegel, Werke in zwanzig Bänden. Frankfurt 1970, Bd. 13, S. 281. »Materie« z.B.: Briefwechsel Bd. I, S. 45; »roher Stoff«: Briefwechsel Bd. I, S. 270. Schiller, Vorrede zum >Fieskoeinen GesetzesMaterial< und poetischer >Produktion< grundlegend; ein Verhältnis, das von der zeitgenössischen Kritik eingeklagt wird und das sich in Schillers Dramatik exemplarisch ausgearbeitet findet. Das heißt zunächst: Büchner begreift durch die Zitation die Texte, die in seine Dramen übernommen werden, nicht länger als >MaterialElargissez l'Ait< näher als den Schillerschen Tragödien. Es ist also durchaus richtig zu behaupten, daß Büchners poetisches Werk eine »poetische Korrektur seines (historisch weniger weit vorgreifenden) theoretischen Irrtums« darstellt, der in dem Glauben besteht, »es sei möglich, zu zeigen, wie es >sich wirklich begeben< hat.«57 Die Umwälzung der Ästhetik in ihrem Verhältnis von Drama und historiographischer Quelle wird in Büchners Werk jedoch an einer Stelle deutlich ausgesprochen, an der von der Kunst nicht die Rede ist. Wie weit in Büchners und in Schillers Werk die Funktion der historiographischen Texte differiert, läßt sich ausgezeichnet an dem aufzeigen, was die beiden Antipoden unter dem >Studieren< der Textquellen verstehen. Bei Schiller nämlich meint das >Studieren< jene selektive Tätigkeit, die den Beginn der dramatischen Verarbeitung anzeigt, und der eben jener Prozeß von Verwandlungsoperationen folgt, der weiter oben skizziert wurde. In dieser Bedeutung ist das >Studieren< in folgender Briefstelle zu verstehen: Ich habe in dieser Zeit die Quellen zum >Wallenstein< fleißig studiert und in der Ökonomie des Stückes einige nicht unbedeutende Fortschritte gemacht.58
Vom >Studieren< ist nun auch in einem Brief Büchners die Rede: Ich studirte die Geschichte der Revolution. 59
Es handelt sich um Textstudien vom Februar und März 1834 zur Geschichte der Französischen Revolution, die im Winter desselben Jahres fortgesetzt werden und in >Danton's Tod< eingehen werden. Durch den Terminus des >Studierens< scheint das Büchnersche Verfahren dem Schillerschen zunächst zu gleichen: Geschichtswerke werden gesichtet und dem Drama vorgeordnet. Berücksichtigt man aber den Kontext innerhalb des Briefes, so zeichnet sich in Büchners Auffassung von der Sichtung historiographischer Texte ein gänzlich veränderter Blick auf die Quellen ab: Schon seit Tagen nehme ich jeden Augenblick die Feder in die Hand, aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben.
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Volker Bohn, »Bei diesem genialen Cynismus«. S. 125. An Goethe, 13.11.1796. Briefwechsel Bd. 1, S. 261. Ähnlich die Bemerkung an Goethe vom 26.4.1799: »Indessen habe ich mich an eine Regierungsgeschichte der Königin Elisabeth gemacht und den Prozeß der Maria Stuart zu studieren angefangen.« Briefwechsel Bd. II, S. 210. An Minna Jaegle, nach dem 10. März 1834. HA II, S. 256.
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Begründung: Ich studirte die Geschichte der Revolution. Der Geschichtstext selbst verhindert den Schreibfluß, den er hervorruft. Wo Schiller das Buch der Geschichte nach Stoffen durchmustert, denen die Tragödienform sich möglichst direkt ablesen läßt, sucht Büchner nach der Schrift, nimmt »jeden Augenblick die Feder in die Hand.« Jedoch, der Schriftzug hält über dem Gelesenen ein: »aber es war mir unmöglich, nur ein Wort zu schreiben.« 60 Der historiographische Text deutet bei Büchner nicht auf eine Verwandlung in eine »tragische Fabel« wie bei Schiller; vom Kunstwerk ist bei Büchner überhaupt nicht die Rede. Tatsächlich findet die Niederschrift erst ein dreiviertel Jahr später statt, nach erneuten (und durch das Ausleihbuch der Darmstädter Hofbibliothek rekonstruierbaren) Quellenstudien und nach dem >Hessischen LandbotenUZ< Aussprüche, Sentenzen, Redepassagen, ganze Textauszüge aus den Reden der Revolution. Um der Funktion dieser Zitation auf die Spur zu kommen, lohnt es sich, den kleinsten Vorgang der wörtlichen Anführung zu untersuchen: die Zitation eines einzelnen Wortes im Satz. Von dort sollen sich dann Schlüsse ziehen lassen auf die Übernahme von einzelnen Sätzen und Satzblöcken, die in den Convents-, Clubund Tribunalsszenen in >Danton's Tod< zu Reden angeordnet werden.
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Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, Spalte 1666. Louis Ferdinand Heibig, Das Geschichtsdrama Georg Büchners. Zitatprobleme und historische Wahrheit in »Dantons Tod«. Heibig verweist auf Grimms Wörterbuch, allerdings nur auf die zweite Bedeutung, auf die der Wörtlichkeit des Anführens. Die juridische Dimension, die im Werk von Karl Kraus dann als wesentlicher Bestandteil der Zitation erkannt und reflektiert worden ist, entfällt. Endlich wird auch der »Skandal des Wörtlichen« exstirpiert, wenn Heibig die Bedeutung des Zitats in seinem »temporischen Bezug« und in seiner »überzeitlichen Wahrheit« erblickt. Das Zitat als Dokument bestimmter, wörtlich wiederholter Worte und Sätze gerät darüber völlig aus dem Blick.
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Mit den Anführungsstrichen, in die ein einzelnes Wort im Satz gesetzt wird, verändert sich dessen Funktion grundlegend. So betont die Sprachphilosophie, die eine Funktionsbeschreibung des Zitats versucht, gerade den satzgegenläufigen Charakter des zitierten Wortes. Das Zitierte wird nicht länger in der üblichen Weise gebraucht, nicht in der »normalen Funktion verwendet«; 76 ja ist geradezu gegen das übliche Sprechen definierbar. Quine unterscheidet deshalb das Zitat (>mention< oder >quotationuseBoston is populous< von dem Satz 2) »Boston< is dissyllabicMaterialien< von Wort, Farbe und Klang betont. Das auf sich selbst bezogene Material nenne ich, im Gegensatz zum zu verarbeitenden Stoff, das Medium. Vielleicht ist es kein Zufall, daß in Turners späten Aquarellen die Malerei sich auf das besinnt, was nicht ihr Material, sondern ihr Medium ist, die Farbe. Diese Reflexion Turners geht bezeichnenderweise einher mit der Auflösung der Perspektive, durch deren raumimaginierende Dominanz primär die Anordnung von Personen und Dingen fiktiv organisiert wurde; >fiktivInstrumentenlehreSchuld und Sühne< seine Kriminalmethode, »da faßte ich jedes Ihrer Worte doppelt auf, als säße unter jedem Wort ein anderes!«92 So will das Zitat das Geschehen re-produ90 91
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Flaubert, Bouvard und Pecuchet S. 13. Paul Johann Anselm von Feuerbach, Aktenmäßige Darstellung merkwürdiger Verbrechen. Dritte unveränderte Auflage. Frankfurt am Main 1849. (Ursprünglich: Gießen bei Gottgetreu Müller. Theil I 1808; Theil II 1811) Neudruck der 3. Auflage: Aalen 1970. Fjodor Dostojewskij, Verbrechen und Strafe. Potsdam 1924, S. 582.
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zieren, um das Wort unter dem Wort als das wahre Geschehen zu entschlüsseln. In diesem Vorgang, in Feuerbachs beständig wiederkehrender Floskel vom »Lassen wir den hiquisiten selber reden« treten die beiden Bedeutungen des Zitierens zusammen: das Vor-Gericht-Laden und das Wortgetreu-Anführen. Dasselbe gilt für die Zitattechnik Büchners. Trotzdem sind beide Verfahren grundverschieden. Feuerbach nämlich benutzt den rationalen Diskurs, formiert bereits die Epistemologie des Gefangenen, die sich mit dem neunzehnten Jahrhundert herausschält. Ziel seiner Rekonstruktion ist ein analytischer Befund, der noch über das Selbstbewußtsein des Inquisiten hinaus eine objektive Erkenntnis von Tathergang, Umständen und Psychologie aller Beteiligten liefert. Aus dem ungewiß gewordenen Geständnis ersteht ein potenziert solider Diskurs. Bei Büchner hingegen führt die in der mikrologischen Sprachkritik des einzelnen Wortes zunächst streng rational angelegte Sprachkritik umgekehrt in die Dissoziation der Textsysteme. Bis in Dantons Schrei »September!« dissoziiert der dramatische Text die vorgegebenen Worte, ent-textet sie gewissermaßen. Büchners Rekonstruktion ist eine Dekonstruktion, die vor dem juristischen Diskurs nicht halt macht. Die Suche nach den Worten durchs Zitat ist - darin dem Rimbaudschen Werk ähnlich - die Suche nach einer unbeherrschten Sprache. Im Soldaten Woyzeck, diesem Infekt in den Sprachordnungen der Gesellschaft, ist solche Suche zur Figur geworden. Das Geschehen jedoch, das in >Danton's Tod< rekonstruiert werden soll, sperrt sich gegen die Worte, die ihm beikommen wollen: oder, wie lange sollen wir Algebraisten im Fleisch beym Suchen nach dem unbekannten, ewig verweigerten x unsere Rechnungen mit zerfezten Gliedern schreiben? (222) Da ist keine andere Schrift als die der Negativität: die Rechnungen werden mit »zerfezten Gliedern« geschrieben; die Henker sind mimische Übersetzungen; die Systeme werden »in Menschfleisch« gearbeitet. »Das ist der Fluch unserer Zeit.« (426) Aber der Kritik fehlen die Worte, welche die Phrase okkupiert. In jedem Satz ist die Negativität zugegen und doch ungesagt. Es fehlt der archimedische Punkt, von dem aus die Negativität erkennbar wäre und der eine andere Sprache erlaubte. Wie aber ist das zu verstehen, daß das x der Rechnungen »ewig verweigert« ist? Worin besteht denn die Tragik in >Danton's TodMémoires sur les Prisons< von Honoré Riouffe und der Revolutionsgeschichte von Thiers. 93 Und Thiers kommentiert das Erstaunen Lacroix' weiter: L'étonnement de Lacroix était sincère, et c'est une leçon pour les hommes qui, poursuivant un but politique, ne se figurent pas assez les souffrances individuelles des victimes, et semblent ne pas y croire parce qu'ils ne les voient pas.®4
Büchner ersetzt nun den Kommentar Thiers' durch Merciers Bemerkung über die Phrasen; besser: Merciers Sätze stellen gewissermaßen eine sprachkritische Auslegung der Thiersschen Worte dar. Denn Thiers' tiefsichtige Bemerkung stellt eine Trennung fest vom Geschehen, das »Unglückliche« und »Opfer« produziert, und der Möglichkeit, sich dieses Geschehen noch vorzustellen. In das Handeln der Personen ist eine gewisse Blindheit eingetreten; zwischen das Wort und seine Realität tritt ein Unvorstellbares, das für Thiers durch die Präsenz des realen Leidens, durch dessen >Sehen< eingeholt werden kann. Tritt nun an die Stelle von Thiers' Kommentar die Replik Merciers: Geht einmal Euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt wo sie verkörpert werden. Blickt um Euch, das Alles habt Ihr gesprochen, es ist eine mimische Uebersetzung Eurer Worte.
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Aus der Riouffe-Übersetzung stammt das Wort von der >Schlachtbank< Paris; nur bei Thiers findet sich das Erstaunen über den »malheureux état des prisonniers«. Vgl. Viëtor, Die Quellen von Büchners Drama »Dantons Tod«. S. 372f.; Thieberger, Les sources. S. 45f.; Thomas M. Mayer, Revision I. S. 292. [Louis] A[dolphe] Thiers, Histoire de la Révolution française. Paris 1823-1827, Bd. VI, S. 214. {Die Verwunderung Lacroix' war eine aufrichtige und hieran können alle Diejenigen eine Lehre nehmen, die bei der Verfolgung eines politischen Ziels sich die persönlichen Leiden der Opfer
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- eine äußerst scharfe Umkehrung übrigens eines Satzes des historischen Mercier: »seht um euch; alles redt euch ans Herz«95 Dieße Elenden, ihre Henker und die Guillotine sind Eure lebendig gewordnen Reden. Ihr bautet eure Systeme, wie Bajazet seine Pyramiden, aus Menschenköpfen (425),
dann wird die Zielrichtung der Reflexion deutlich: was die Schlachtbank produziert, ist die Phrase; was die Vorstellung dieses Zustandes verhindert, ist ebenfalls die »verderbliche macht der phrase«.96 Es ist in Zeitnähe zu Büchner der sprachkritische Ansatz der Zitattechnik von Nestroy gegen Hebbel und von Offenbach gegen Wagner gewendet, in seiner Nachfolge ist er von Karl Kraus überboten worden. Kraus, der sich selber zum >Schöpfer des Zitats< ernannte, führt in den Heften der >Fackel< die Texte der Feuilletons vor wie Büchner die Passagen aus Thiers und UZ in >Danton's TodZeugenschaft Grafen Czemin< sieht Kraus einen Mechanismus am Werk, der das
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nicht genug vorstellen und an dieselben nicht glauben, weil sie sie nicht sehen. Übersetzt von W. Jordan, Leipzig 1844). Mercier/Wagner, Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Faksimile nach der Ausgabe von 1776. Heidelberg 1967, S. 13. Karl Gutzkow. Zitiert nach: Grimms Deutsches Wörterbuch. Bd. 7, Leipzig 1889, Stichwort >phrasees handelt sich< der Geschichte, kann nur agieren, weil die Phrase die Vorstellungen derart surrogiert, daß das Unheil ungehindert weiterläuft, ja durch den Vorstellungsverlust erst seine verhängnisvolle Mechanik entwickelt. Die Vorstellung und das >schmierige WortDanton's Tod< tatsächlich noch ein konstantes System als Textvorgabe auftaucht, so ist es schon für den >Woyzeck< auffällig, daß diese eine kritisierte Sprache einer Palette von sprachlichen Subsystemen weicht: denen von Militär, Justiz und Medizin. In diese eingelagert ist von Beginn an, mit der ersten Szene, die entgrenzte und halluzinatorische Sprache des Franz Woyzeck; eine Sprache, die Unordnung stiftet und die Systeme chaotisiert. In >Leonce und Lena< schließlich verzehren sich die Sätze selbst; jeder geschriebene Satz wird durch den nächsten gewissermaßen ausradiert. Die Dekonstruktion vorgegebener und negativer Sprache wird in >Danton's Tod< paradigmatisch vorgeführt. Das Verfahren wird, wie an einem Beispiel zu sehen war, zudem im Drama selbst reflexiv, es weist auf sich hin und gehört zum dramatischen Text. Weil solches Verfahren in >Danton's Tod< prototypisch ausgeprägt ist und sich an 102
Vgl. Henri Poschmann, Georg Büchner. Dichtung der Revolution, Revolution der Dichtung. Berlin und Weimar 1983, S. 91: »Das Faktische, das den Rohstoff für den Dramatiker abzugeben pflegt, tritt hier anders als man es - speziell im Drama - gewohnt ist, in Erscheinung. Sein Anteil am Aufbau des Werkes, ebenso der Grad unveränderter Erhaltung des vorgefundenen Zusammenhangs der Tatsachen, d.h. der historischen Treue, sind so hoch, daß die Frage berechtigt erschien, ob man es noch mit einer »Dichtung« im herkömmlichen Sinne des Wortes oder nicht schon eher mit einer in Szene gesetzten Dokumentation zu tun hat.« Eine mir völlig einleuchtende Frage, deren Beantwortung ich unbefriedigend finde. Denn der Begriffsgehalt von »Dokumentation« wird völlig offen gehalten und läßt so, indem >Drama< gegen >Dokumentaüon< lediglich ausgetauscht wird, den sprachkriüschen Impuls des dokumentierenden Zitats abermals verschwinden.
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einem noch konsistenten Sprachbestand der Geschichtswerke abarbeitet, beschränkt sich die Untersuchung auf Büchners erstes Drama.
5. Ich habe die Zitattechnik Büchners in zwei Schritten entwickelt: erstens über die These, daß die auf allseits bekannten und identifizierbaren heroice dicta beruhende Zitation im Drama die Schillersche Verarbeitung von historiographischen Quellen polemisch ablöst; zweitens mit der Behauptung, daß die Zitation eine Dialogisierung von Geschichte sprachkritisch umwälzt. Ich gewinne so die zentrale Hypothese, daß die Wiederholung der Historiographie primär die Wiederholung einer spezifischen Sprache - der Sprache der Französischen Revolution - ist; daß die Zitation hauptsächlich der Vergegenständlichung der in der Historiographie dokumentierten Reden dient;103 daß das Zitierte Gegenstand des dramatischen Werkes wird und daß es der Gebrauch der Worte ist, der in der Technik des Zitats bei Büchner vorgeladen wird. Es ist damit vorausgesetzt, daß das Zitierte, wie Volker Bohn gezeigt hat, in einer Art »kollektiver Imagination«104 der dreißiger Jahre abgespeichert ist und damit der außerästhetische Charakter und die Vorgegebenheit des Zitats sichtbar sind. Aber es wird damit noch mehr gesagt. Indem das Zitat zum Gegenstand des Dramas wird, richtet sich das Kunstwerk auch auf das Zitierte aus: die Richtung des Dramas verändert sich grundsätzlich. In der zitierenden Technik Büchners wird das Zitat nicht länger in einen vorab existierenden ästhetischen Zusammenhang eingelassen - wie noch der soeben verwendete Begriff des >außerästhetischen Charakters des Zitats< es suggerieren könnte - ; das Drama konstruiert sich 103
Alfred Behrmann und Joachim Wohlleben weisen zu Recht auf den »wesentlichen Zitatentypus« von >Danton's Tod< hin: »es sind jene Abschnitte, die im historiographischen Text in direkter Rede stehen.« Wenn Behrmann/Wohlleben folgern: »Dies ist eine aufschlußreiche Beobachtung: sie zeigt, daß Büchners Wahl der wörtlichen Zitate nicht weniger als vom Inhalt vom sprachlichen Merkmal bestimmt ist«, dann bedauert man, daß die Autoren keinen Aufschluß darüber geben und nicht weiterverfolgen, was denn sprachliches Merkmal< meint. Der Hinweis auf die Reden der Revolution reicht jedoch hin, die historische Vermitteltheit der historiographischen Texte von Thiers und UZ - gegen Zöllner, Th. Mayer und Zons für durchaus sekundär zu halten. Büchners Sprachkritik richtet sich gegen die dokumentierten Reden, nicht gegen die Dokumente. Behrmann, Alfred/ Wohlleben, Joachim, Büchner: Dantons Tod. Eine Dramenanalyse. Stuttgart 1980, S. 48f.
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Volker Bohn, »Bey diesem genialen Cynismus«. S. 126.
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vielmehr am Zitierten und aus ihm heraus. Das wird klarer, wenn ich die Bestimmung, das Zitierte werde >Gegenstand im DramaObjekt des DramasFackel< läßt das Problem evident werden. Die >FackelFackel< als Fiktion zu bezeichnen; es wäre genauso absurd, ihr den Kunstcharakter abzuerkennen.107 Ein Buch wie Sittlichkeit und Kriminalit ä t , das sprachliche Grenzen derart überschritten hat, daß es die »Ausdifferenzierung der Lebenswelten« 108 unterlief, läßt sich nur als Sprachreflexion verstehen, nicht aber mit Begriffen wie fiktionaler oder wissenschaftlicher Prosa fixieren. In >Danton's Tod< beginnt, wie in der >Fackel< von Karl Kraus, der Destruktionsprozeß der zitierten Phrasenworte mit der Zitation; die Vergegenständlichung der reibungslosen und linearen Abfolge von Worten und Sätzen ist der Beginn eines Verfahrens, das gerade die Unterbrechung des Wortflusses zum Ziel hat. Was aber den dramatischen Text Büchners als dramatischen Vorgang mit der Tradition verbindet, ist dies: die Katastrophalität im Jetzt aufbrechen zu lassen. Büchner will, wie Kraus in den >Letzten Tagen der Menschheit^ in der vorgegebenen Sprache oder Textordnung jenes Katastrophische zur Sprache bringen, das der Text verbirgt, indem er sich produziert. Oder, anders gesagt: Das Drama wird zum Ort, eine Sprache zur Rede zu stellen, in der sich verbirgt, was wir tun, indem wir sprechen; denn in ihr liegt der Grund für das >AllesAlles um unsDanton's Tod< am Beginn der radikal negativ erkannten, sich negativistisch reflek-
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Adorno kritisiert einmal, Kraus habe sich nicht an die große Form der Prosa, den Roman, gewagt. Das zeigt, wie stark Adorno noch der klassischen Ästhetik verhaftet war. Adorno, Sittlichkeit und Kriminalität. S. 75f. Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt 1985.
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tierenden Moderne. Denn für Kraus beginnt historisch nach Goethes >Götz< und nach Schillers >Tell< ein tragischer Prozeß, der Weltgeschichte heißt, und der das Geschehen vom Wort trennt. Die Moderne beginnt für Kraus mit der Phrase und dem technischen Tod. Endlich sind es diese Worte, diese Phrasen, diese »Barbarei eines dunklen, mit neuen Worten gespickten Kauderwelsch«, 109 es ist diese sprachliche Ordnung der Wirklichkeit, die eingeholt werden soll. Wenn in der griechischen Tragödie eine Schuld der Vorzeit in der Gegenwart des Dramas ihr Antlitz katastrophal enthüllt, so ist >Danton's Tod< die Tragödie der Sprache. Blickt
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um Euch, das Alles
habt
Ihr gesprochen.
Jules Michelet, Geschichte der französischen Revolution. Hrsg. von M. Kircheisen. Wien, Hamburg, Zürich, o.J., Bd. 5, S. 209. 37
TEIL I
Zitattext und »erhabenes Drama«
1. »dictirt, analysirt, abgeschrieben« Die Herkunft der Zitate hat Thomas Michael Mayer in akribischer Kleinarbeit nahezu vollständig geklärt. Neben der Revolutionsgeschichte Thiers' und der >UZ< bleiben als wichtige Quellen noch zu nennen: Merciers >Le nouveau ParisGalerie historique des Contemporains [...]Histoire secrète du Tribunal révolutionnais sowie eine weitere Quelle, in der, nach Mayer, die bislang noch Mignets Revolutionsgeschichte zugeschriebenen Zitate zu finden sein dürften. 1 Die UZ, mit Thiers wichtigster historiographischer Text, spielte schon in Büchners Elternhaus eine große Rolle, fand doch der Vater, der als Arzt in holländischen Diensten fünf Jahre an Napoleonischen Feldzügen teilgenommen hatte, Gefallen daran, »die erlebten Ereignisse in der später erscheinenden Zeitschrift >Unsere Zeit< zu repetieren und zu ergänzen. Vielfach wurde diese abends vorgelesen [,..].« 2 Techniken des >Repetirens< lernte Büchner während seiner Schulzeit im Darmstädter Pädagog. Es galt da nicht nur, das Schreiben in den unterschiedlichsten Stilen zu lernen (nach den Instruktionen von 1827 waren »alle Gattungen des Canzlei- und Gerichtsstyls«, »einige Gattungen des Hofstyls«, alle »Gattungen des Briefstyls« sowie der »historische und didaktische« Stil Unterrichts gegenständ 3 , es wurde auch »aus den classischen Autoren dictirt, analysirt, abgeschrieben [...] und mündlich nachgebildet«, es wurde da »memorirt und recitirt«, endlich zur »Einübung der Etymologie und Syntaxe auswendig gelernt
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Die bibliographisch vollständige Ausweisung der Quellen siehe: Studienausgabe, S. 8f. Zu Mignet: Thomas M. Mayer, Revision I und Revision II. Bergemann (1958), S. 567. Zitiert nach: Gerhard Schaub, Georg Büchner und die Schulrhetorik. Untersuchungen und Quellen zu seinen Schülerarbeiten. Bern, Frankfurt 1975, S. 15.
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und mündlich und schriftlich nachgebildet«. 4 Wie weit Übungen der »Leetüre« zu Büchners erstem Drama führen, wie weit in >Danton's Tod< das »Abschreiben« reicht, ist ja schon angedeutet worden; wie weit das »Nachbilden«, die imitatio als »das aktive Ergebnis der wiederholten Lektüre« 5 gelingt, verblüfft an den nichtzitierten Passagen in den Convents- und Tribunalsreden ebenso wie in der wörtlich offenbar schwer zu lokalisierenden Rede des St. Just. Stil-, Grammatikund Rhetorikunterricht haben sicher ihren Anteil an der textanalytischen Verfahrensweise der Büchnerschen Zitattechnik.6 Nun zitiert Büchner nicht nur aus historiographischen Schriften. Es finden sich in >Danton's Tod< darüber hinaus literarische Zitate:7 aus den Werken Shakespeares, Schillers, Heines; Sappho-Verse werden rezitiert, Lieder aus >Des Knaben WunderhomStimmen der Völker in Liedem< und aus mündlicher Überlieferung; schließlich lassen sich - mit dem bisherigen Begriff des Zitats nicht zu fassen - noch wörtliche Übernahmen aus Büchners eigenen philosophischen Exzerpten, aus dem >Hessischen Landboten< wie aus den Briefen entdecken. Alles, was geschrieben oder gesprochen ist, scheint bei Büchner ins Drama eingehen zu können, und die Unterschiede von Literatur und Philosophie, von Rede und Lied, von Fiktion und Wirklichkeit, von Sprache und Schrift, von historischem Text und privatem Brief scheinen für Büchners dramatischen Text nicht konstitutiv zu sein. Unterschiedliche sprachliche Systeme treten ebenso auf wie ihre differenten Artikulationen in Rede oder Dialekt; Sprachen und Schriften werden als bereits vorhandene und vorgegebene zusammengeschraubt. Das Drama Büchners schafft kein fiktionales System, das sich durch eine Sprache gehobenen Stils von den Sprachen und Schriften der Wirklichkeit unterscheidet; er stellt kein Kunstwerk in Konkurrenz zu den bereits existenten sprachlichen Strukturtypen. Büchners Drama verzichtet überdeutlich auf Ursprünglichkeit; es verhält sich polemisch zu Ursprung und zum Ersten. In diesem Sinne ist es anarchisch.
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Schaub, Georg Büchner und die Schulrhetorik. S. 30. Gerhard Schaub, Die schriftstellerischen Anfänge Georg Büchners unter dem Einfluß der Schulrhetorik. Habilitationsschrift Trier 1980 (unveröffentlicht), Bd. 1, S. 91. Erklärt aber nicht die sprachkritische Wende Büchners. Zu den literarischen Zitaten siehe: Lehmann, Textkritische Noten. S. 8; Zons, Georg Büchner. S. 207. 39
2. Methodisches Die Zitate in >Danton's Tod< treten in unterschiedlichen Formen und Funktionen auf: Zitate werden wortweise, satzweise und als ganze Reden angeführt; sie werden als Autoritäten, als Zeugen und Angeklagte, als Entlastungen angerufen. Es zitiert der Autor und es läßt der Autor zitieren. Wie ist da zu einer Systematik zu kommen, wie ist den Zitaten ihre Funktion abzulesen? Ich setze nochmals bei den Zitaten an, die den Büchnerschen Zeitgenossen als erstes ins Auge fielen, bei den Zitaten aus der Historiographie. Deshalb auch, weil die Stelle im Brief vom März '34 darauf deutete, daß der Geschichtstext als übermächtiger Text als das Grundlegende und Entscheidende des Dramas verstanden werden kann. Diese Einsicht spricht im Grunde jede Rede vom >Geschichtsdrama< Büchners intuitiv aus, behauptet sie doch die Dominanz der historischen Textelemente in Büchners Drama. Wenn man die Technik des Zitats in >Danton's Tod< nachvollziehen will, ohne die Zitate doch als Abweichung vom Quellentext zu interpretieren noch sie zum Lokalkolorit zu erniedrigen, dann wird das über vier Fragen möglich sein: 1. Was wird zitiert? 2. Wird eine Beziehung zwischen den zitierten Elementen des dramatischen Textes hergestellt? Handelt es sich also bei den Zitaten um verbundene oder unverbundene, um diskrete oder um kontinuierliche Elemente? 3. Welche Funktion fällt dem Zitierten für die Werkkonstitution zu? 4. Welche Beziehung besteht zwischen den zitierten und den nichtzitierten Elementen des Dramas? Richtet sich die erste Frage auf die Quelle der Zitate - eine Frage, die von der Forschung bereits beantwortet ist - , so wendet sich die zweite an den Zusammenhang der Zitate zu- und untereinander - eine Frage, die etwa der Adornoschen Theorie des ins Kunstwerk eingesprengten Zitats ganz fremd ist. In 3) richte ich den Blick auf die Werkgestalt des dramatischen Textes: Als was fungieren die Zitate für den dramatischen Text? In 4) steht zur Disposition, in welche Spannung dabei zitierte und nicht-zitierte Elemente treten.
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3. Der Zitattext Eine Beziehung zwischen den zitierten Elementen des dramatischen Textes läßt sich durch die Zusammenstellung bzw. Kontrastierung der Zitate untersuchen. Eine interne Relation der Zitate wird am leichtesten feststellbar sein, wenn ich die Zitate zunächst aus ihrem innerdramatischen Zusammenhang herauslöse und sie gemäß ihres linearen Erscheinens aufreihe. Ordnet man dergestalt alle Zitate aus den sieben Geschichtswerken diachron an, stellt man die Exzerpte aus der Historiographie zur Französischen Revolution zusammen, so ergibt sich - e i n T e x t . Ich nenne diesen Text, der sich aus den Zitaten ergibt, den Zitattext. Zitattext soll heißen, daß die einzelnen Zitate nicht nur als vereinzelte Worte, Sätze oder Quellenauszüge in den dramatischen Text übernommen werden, sondern daß sie ein innerer Zusammenhang verbindet; daß die Sätze in wechselseitiger Abhängigkeit stehen und daß Anfang und Ende des Textes markiert sind. Texte sind im normalen Verständnis des Ausdrucks >Text< das Produkt mehr oder weniger bewußter und kontrollierter literarischer Komposition. Sie haben einen bestimmten Anfang und ein ebensolches Ende und irgendeine Art innerer Kohärenz oder Einheit.8
Nach welchem Prinzip oder auf Grund welcher Kohärenz schließen sich aber in >Danton's Tod< die Zitate zum Zitattext zusammen? Auf Grund welcher Einheit oder Ordnung kann ich von dem einen Zitattext sprechen und nicht etwa von mehreren Zitattexten oder von Textausschnitten oder Textfragmenten aus den unterschiedlichen Revolutionsgeschichten? Schiller verwendet für sein Drama ebenfalls Zitate unterschiedlicher Quellen, ohne daß sie doch einen anderen Zusammenhang besitzen als den, den das Kunstwerk stiftet. Analog ließe sich ja auch behaupten, Büchner arbeite in sein Drama unterschiedliche Quellen ein, die miteinander in keinem anderen Zusammenhang stehen als in dem, den das dramatische Konzept herstellt. Es ist deshalb möglich, von einer Kohärenz der Zitate zu sprechen - von einer Kohärenz, die den Zitattext stiftet - , weil eine Logik alle Zitate zusammenhält und zu einer Form anordnet. Der Zitattext, der so entsteht, faßt mehrere Szenen zusammen, in denen sich die historiographischen Zitate bündeln. Es handelt sich um die Reden Robespierres, den Antrag Legendres, die Intrige Hermans, die beiden Ver-
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John Lyons, Semantik. München 1983, Bd. 2, S. 243. 41
teidigungsreden Dantons (also die Szenen I, 3; n , 7; m , 2; m , 4; EU, 8 und m , 9). Ausgeschlossen habe ich die historisch vorgegebenen einzelnen Aussprüche. Die Sentenzen, besonders diejenigen Dantons, besitzen eine andere Funktion. Ich rechne sie nicht dem Zitattext zu. Die Szenen, in denen Büchner die Zitate zusammenfaßt, zeichnen sich durch ein ähnliches sprachliches Vokabular, durch einen ähnlichen Stil und durch einen gemeinsamen Inhalt, durch die Thematik von Geschichte und Revolution sowie durch eine fortschreitende Logik aus. Man erhält dadurch einen stark strukturbestimmten und strukturnormierten, intentional konsistenten und abgerundeten Text. Diese zusehends sich im Drama präzisierende Kohärenz der Zitate, unterstützt durch die gemeinsamen Merkmale von Vokabular und Stil, läßt schließlich auch Abweichungen von der Struktumorm erkennbar und verstehbar werden. Die Logik des Zitattextes ist in der ersten Zitatszene auffindbar. Wenn nämlich Robespierre erklärt, die H6bertisten hätten hingerichtet werden müssen, weil sie »das erhabne Drama der Revolution parodirten« (99) - ein Zitat aus der UZ, Bd. 12, S. 44 - , so ist auf Grund dieses Begriffes vom Drama die Form des Zitattextes und seine Kohärenz erklärlich. Robespieire benennt die Ordnung der Zitate, und eben diese Ordnung verbindet die zitierten Elemente zum übergreifenden Zitattext. Der Zitattext ist (oder soll sein) ein »erhabenes Drama«, ein dramatischer Text. Ein Anzeichen, daß diese programmatisch-ästhetische Äußerung Robespierres allen Zitaten als Index zugeordnet ist, könnte sein, daß Büchner, der hier hauptsächlich aus der UZ zitiert, diese Worte aus der Revolutionsdarstellung Friederichs herausbricht, an den Beginn seiner historiographischen Zitate überhaupt stellt und die in der UZ vorangehenden Passagen - nämlich die Begründung republikanischer Gewalt durch den Incorruptible - anhängt. Wie ein Vorzeichen ist dadurch Robespierres Wort vom »erhabenen Drama« an den Anfang des Zitattextes gerückt. Wie weit Robespierre in seiner ersten Rede im Jakobinerclub eine ästhetische Strukturnorm entwirft, die dann in den übrigen Zitatszenen ordnend wirkt, soll weiter unten gezeigt werden. Daß aber Büchners >Stoff< bereits an sich eine dramatische Struktur besaß und in den Revolutionsereignissen seine theatrale Realisierung fand, ist von Roland Barthes beschrieben worden: Die Revolution war par excellence einer dieser großen Augenblicke, in denen die Wahrheit durch das Blut, das sie kostet, so schwer wird, daß
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sie zu ihrem Ausdruck nach Formen verlangt, die in ihrer Vergrößerung denen auf der Bühne des Theaters entsprechen.9 Aber schon Büchners Zeitgenossen benützen die Dramenmetapher für die Große Revolution mit besonderer Vorliebe. So findet sich folgender Satz über Büchner im Nachruf von Wilhelm Schulz: Besonders hatte ihn das große Drama der neueren Zeit, die Französische Revolution, lebhaft ergriffen.10 Und sein Bruder Ludwig bemerkt, daß Georg durch seine Vorliebe für die großen Freiheitsheroen »in das Studium jenes geschichtlichen Dramas hineingezogen«11 worden sei, als das die französischen Ereignisse bezeichnet werden. Es verwundert deshalb nicht - eben weil Büchner die Zitate in einer Form arrangiert, die den geschichtlichen Ereignissen ohnehin eigen war - , daß auch in >Danton's Tod< das Drama im Drama bemerkt worden ist. Nicht selten wird vom »barocken theatrum mundi« 12 des Büchnerschen Dramas gesprochen, und Cornelie Ueding bemerkt apodiktisch: Büchner hat in >Dantons Tod< nicht nur ein Stück Historie dramatisch gestaltet oder einen historischen Stoff für sein Anliegen benutzt - er handelt auch von der Geschichte als Schauspiel.13 Es kann gesagt werden, daß in der Art und Weise, in der Büchner seine Quellen zitiert, Geschichte als Drama dem Büchnerschen Werk vorgegeben ist. Diese Logik aber, die die Zitate untereinander verknüpft, ist - das muß betont werden - nicht eine Logik, die Büchner erst in seinen >Stoff< hineinträgt. Wichtig ist diese Feststellung, weil argumentiert werden könnte, daß Büchner zwar zitiere und damit originäre ästhetische Produktion ablehne, daß aber gleichwohl in der Selektion des >Materials< wie in dessen Anordnung die dichterische Intention erneut durchschlage. Solches Argument würde dann bedeuten, daß auch eine zitierende und montierende Technik der Fiktionalität des Kunstwerkes nicht entkäme. 9 10 11 12
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Roland Baithes, Am Nullpunkt der Literatur. Frankfurt 1982, S. 29. Zitiert nach: Bergemann (1958), S. 585. In: Nachgelassene Schriften von Georg Büchner. Frankfurt 1850, S. 20. Z.B. Walter Hinderer, Büchner-Kommentar zum dichterischen Werk. München 1977, S. 54; Wolfgang Wittkowski, Georg Büchner. Persönlichkeit. Weltbild. Werk. Heidelberg 1978, S. 165. Cornelie Ueding, Dantons Tod - Drama der unmenschlichen Geschichte. In: Geschichte als Schauspiel. Hrsg. von Walter Hinck. Frankfurt 1981, S. 210. 43
In >Danton's Tod< benennt Robespierre die Logik selbst, nach der Büchner die Zitate anordnet. Die ästhetische Organisation der Geschichte ist nicht nur von den Zeitgenossen benannt, sondern wird in Büchners Dokument selbst nochmals vorgetragen. Büchner ordnet seine Zitate nach dem Anspruch, den diese selber zu erkennen geben. Die Geschichte erscheint durch Robespierres Satz vom >erhabenen Drama< als ästhetisch geformte Geschichte, und Büchner nimmt solche ästhetische Realität ernst. Diese Rekonstruktion der Dokumente hat deshalb nichts mit der Schillerschen Quellenarbeit gemein, weil keine Formintention des Dramatikers vermittelnd ins Material eingreift. Ungewöhnlich an >Danton's Tod< ist also zunächst nicht das factum brutum, daß zitiert wird, sondern: daß die Zitate gemäß des in Robespierres Programm dokumentierten Anspruchs angeordnet sind; daß die Zitate bereits Form und Kohärenz aufweisen, die im reproduzierenden Text des Büchnerschen Zitatverfahrens in ihrem eigenen Formanspruch wiederholt werden. In diesem Sinne kann man speziell für >Danton's Tod< formulieren: Zitieren heißt eine Textordnung einholen. Existiert dieser Zitattext, so wird das auch für den Werkbegriff Folgen haben. Denn dieser Text erschwert eine Interpretation der Zitation zusehends, die die Zitate in einen ästhetischen Zusammenhang >eingesprengt< denkt; einmal deshalb, weil solche Theorie die Voraussetzung einer autonomen ästhetischen Form macht, zum anderen, weil sie - das wird an der Wortwahl >eingesprengt< deutlich - die Zitate gegenüber der wie immer auch gebrochenen Geschlossenheit des Kunstwerkes nur als vereinzelte, singulare versteht. Demgegenüber muß betont werden, daß in Büchners Drama sich ein zusammenhängender, die einzelnen Zitate übergreifender Textblock abzeichnet. Darüber hinaus wird gerade diesem, der außerästhetischen Wirklichkeit entstammenden Text eine ästhetische Strukturnorm beigefügt: »erhabenes Drama der Revolution«.
4.
Das »erhabne Drama der Revolution«
In seiner Rede vor dem Volk und vor den Jakobinern (99) verknüpft Robespierre Revolution und Dichtung. Die Hdbertisten, just getötet (»Philippeau. Heute sind wieder zwanzig Opfer gefallen.« [19]), sind dem >erhabenen Drama der Revolution ins Getriebe geraten, denn »sie erklärte[n] der Gottheit und dem Eigenthum den Krieg um eine Di44
version zu Gunsten der Könige zu machen.« Das dramatische Geschehen, das sich derart durch die einzelnen >Factionen< fortschreibt, ist Geschichte; die Geschichte dramatisch. Und weil sich die Revolution der Jakobiner als Geschichtsdrama versteht, ist der Verstoß der Radikalen nicht nur ein politischer, sondern auch und darüber hinaus ein ästhetischer: »Sie parodirtefn] das erhabne Drama der Revolution.« Auf einen Ttôpoôoç, übersetzt: Nebengesang, reagiert dieses Schauspiel empfindlich. Es besitzt Regeln und hat für Gelächter nichts übrig. Dieser Umstand sowie das attributive »erhaben« deuten darauf, daß dieses Drama, in dem es sich »um große Dinge handelt« (vgl. 369), als Tragödie verstanden werden kann. Gegen seine parodistische Verunstaltung hat sich das Drama mit jener »poetischen Gerechtigkeit« zur Wehr und durchgesetzt, die Schiller bekanntlich der Tragödie zuschreibt. Geschichtliches begegnet also in Robespierres Rede als Ästhetisches. Der Konflikt, der zwischen den Jakobinern, den Hébertisten und, im folgenden, den Dantonisten moralisch und politisch geführt wird, ist von ästhetischen Kategorien präludiert. Inwieweit dramatische Intentionen die Rede Robespierres beherrschen, inwieweit also das Geschehene als Exposition und das Kommende als dramatische Handlung reflektiert und weiterhin inszeniert wird - »Wir werden der Republik ein großes Beispiel geben ...« sind Robespierres letzte Worte vor dem »Klubb« und versprechen explizit Handlung - , möchte ich etwas ausführlicher betrachten. Diese Untersuchung hat das Ziel, den inneren Zusammenhang der Zitatszenen und Zitate durch die ästhetische Logik zu erklären, die ihnen offen vorgegeben ist. Es fällt zunächst in der Rede Robespierres auf, daß es heißt, die Faction der Hébertisten »parodirte« die Revolutionsereignisse. Der Fall Hébert wird imperativisch zur Vorzeit des Dramas erklärt. Damit übernimmt die Szene I, 3 eine expositionale, das drameninteme Drama eröffnende Funktion; sie stellt in Bezug auf >Danton's TodFaction< zwar »ist nicht mehr«, aber damit ist der Konflikt nicht zur Ruhe gekommen, ist mit seinem realgeschichtlichen Material nicht, im Schil14
Louis Ferdinand Heibig, Das Geschichtsdrama Georg Büchners. S. 83. 45
lerschen Sinne, »fertig geworden«. Der Konflikt existiert weiter und bricht im Augenblick des Sprechens auf: Wir ließen den Feind aus seinem Hinterhalt hervorbrechen, wir ließen ihn anrücken, jezt steht er frei und ungedeckt in der Helle des Tages, jeder Streich
- und nun wechselt Robespierre ins Futur wird ihn treffen, er ist todt, sobald ihr ihn erblickt habt.
In den ersten Sätzen Robespierres wird derart Geschichte als Tragödie verstanden, der Konflikt wird angedeutet, Vorzeit eingeholt, Jetztzeit gestiftet und das im Konflikt beschlossene Ende bereits futurisch vorweggenommen. Gleichwohl, das Drama behauptet sich in der Gegenwart; die Höbertisten sind bereits exekutiert, die Dantonisten werden es erst am Ende des Dramas sein. Solange aber spielt sich das Geschehen als »absolute Gegenwartsfolge« 15 ab. So heißt es auch in Robespierres zweiter Rede pointiert: »Heute entscheidet sich's ob einige Männer den Sieg über das Vaterland davontragen werden« (369), so fordert Danton im dramatischen Präsens: »Die Elenden, welche mich anklagen, mögen hier erscheinen und ich werde sie mit Schande bedecken« (432); und nochmals: »Die Republik ist in Gefahr [...]. Wir appelliren an das Volk [...].« (523)16 Handlung und Drama sind immer auf der gleichen Höhe, »jetzt« ist die Krisis des Geschehens, die Zeit der Entscheidung gekommen. Robespierre spricht, der Vorhang hebt sich: Ich habe es Euch schon einmal gesagt [:] in zwei Abtheilungen, wie in 2 Heereshaufen sind die inneren Feinde der Republik zerfallen. Unter Bannern von verschiedener Farbe und auf den verschiedensten Wegen eilen sie alle dem nämlichen Ziele zu. Die eine dießer Factionen ist nicht mehr. [...] Sie erklärte der Gottheit und dem Eigenthum den Krieg um eine Diversion zu Gunsten der Könige zu machen. Sie parodirte das erhabne Drama der Revolution um dieselbe durch studirte Ausschweifungen bloß zu stellen. [...] Aber was liegt den Fremden daran, wenn ihnen Verbrecher einer anderen Gattung zur Erreichung des nämlichen Zwecks bleiben? Wir haben nichts gethan, wenn wir noch eine andere Faction zu vernichten haben.
Und nun erst, nach der ästhetischen Bestimmung der Geschichte und dem expositionalen Einstieg ins Material der Gegenwart, führt Robes-
15 16
Vgl. Peter Szondi, Theorie des modernen Dramas. S. 14-19. Zitate aus dem 12. Band der UZ und dem sechsten des Thiers. Vgl. die entsprechenden Repliken der Studienausgabe.
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pierre die »besonderen Umstände, Charaktere und Zwecke« 17 aus, die nach Hegel Bedingung des Dramas sind. Durch die futurischen Vorverweise am Ende der Rede wird dann diese Szene mit den anschließenden Zitatszenen von Robespierre zusammengebunden: das »Wir werden ein großes Beispiel geben« wie St. Justs »Wir werden [...] handeln« (191) verklammem die Szenen untereinander. Wenn irgendwo dramatische (Zeit-)Verhältnisse geschaffen werden, dann hier. 18 Mit dem Satz: »Wir haben nichts gethan, wenn wir noch eine andere Faction zu vernichten haben« wird die Überleitung in den präsentischen Konflikt so geschaffen, daß die dramatische Situation einen Sollensanspruch des Handelns stellt. Auch an Danton wird appelliert werden: »Wir müssen handeln.« (167) und St. Just wird klarstellen: »Wir werden [...] handeln.« (191) Den Konflikt, der in dieser Aktion entschieden werden soll, stellt Robespierre in einem Zwei-Parteien-Schema geschlossener Dramatik dar: hier Robespierre und dort die >andere FactionWir müssen handeln< - zu lösen ist. Der Widerspruch, soll nicht die Republik und ihr >erhabenes Drama< untergehen, kann nicht bei sich verharren. Und die Lösung des Konfliktes ist schon mitgesagt. Die Auseinandersetzung kann nur mit dem Untergang der anderen Faction besiegelt werden, die Handlung hat das Telos der Vernichtung. Solches Gesetz der Tragödie hat Hegel formuliert: Der eigentlich dramatische Verlauf ist die stete Fortbewegung zur Endkatastrophe, und Hegel führt den Gedanken durch: Dies erklärt sich einfach daraus, daß der hervorstechende Angelpunkt die Kollision ausmacht.1* Solche Kollision, die ihre Auflösung dank steter Fortbewegung erst im tödlichen Finale findet, wird von Robespierre bereits in der Exposition antizipiert; sie wird zum Konflikt zugespitzt und zur Handlung
17 18
19
Hegel, Ästhetik. Bd. 15, S. 488. Klotzens Deskription: »Voraus- und Rückblende entfallen, da alles unmittelbar dargeboten wird« verfehlt diese Sachlage. Volker Klotz, Geschlossene und offene Form im Drama. München 1976", S. 119. Hegel, Ästhetik. Bd. 15, S. 488. 47
ausgearbeitet. Die Endkatastrophe entfaltet sich aus der Exposition heraus. Denn das ist tragisches Gesetz, daß die Handlung auf den Untergang des Heroen zuläuft. Für Hegel liegt das Finale in der Logik der Sache. Formulieren sich in der Kollision tatsächlich substantielle Gehalte und geht es nicht nur um willkürliche und periphere Interessen wie in der Komödie, dann kann, nach Hegel, das tragische Individuum von seinem Wollen nicht ablassen. Es entscheidet sich vielmehr zu seinem Handeln, erzeugt sein Pathos und will seine Sache mit seiner ganzen Person durchsetzen oder untergehen. So scheint vom Ende her ein Glanz auf das Geschehen, wird doch durch den Untergang des Helden deutlich, daß das, worum es tragisch ging, nicht vertraglich noch durch einseitige Rücknahme, sondern nur durch das Aushalten des Widerspruchs zu lösen war. Der Tod aber, unter dem Blick des Tragikers, wird zum Signum, daß ein Durchwaltendes und Gerechtes herrscht; und daß dieses Gerechte durch die stetige Handlung sich prozessual herausschält. Die Einseitigkeit des tragischen Individuums reift im Drama vollständig aus und schlägt in Allgemeinheit um. Dieses in der Tragödie Durchwaltende war für Hegel in archaischen Zeiten das Fatum, im modernen Rechtsstaat aber ist es die institutionalisierte Sittlichkeit. Im »gerechten Los« 20 des Helden konkretisiert sich die Sittlichkeit und entgrenzt sich das tragische Individuum. Dieser dramatische Vorgang schließt sich kristallin in den heroischen Namen. Es ist dieser prozessuale Ablauf, den Robespierre einfordert. Die dramatische Gerechtigkeit soll ihren Gang gehen, das Allgemeine aber über dem Untergang des Besonderen tragisch aufscheinen. Das Revolutionsdrama soll deshalb nochmals durchgespielt werden, damit die »andere Faction« in ihrem Untergang das durchwaltend Allgemeine zum Vorschein bringt. Es wird ein »großes Beispiel« gegeben werden. Robespierre ruft aber nicht zu purer Vernichtung auf, wenn auch Anfang und Ende des Dramas eng zusammenrücken. Vielmehr zeichnet er bestimmte Individuen und bestimmte Interessen, die da unterzugehen haben. Das Funktionieren des konflikthaften Fortgangs legt Robespierre seinen Auslegungen zugrunde. Auf dem Hintergrund wiederum des Hegeischen Dramenbegriffs läßt sich das verstehen:
20
Hegel, Ästhetik. Bd. 15, S. 418. 48
Die dramatische Handlung beruht deshalb wesentlich auf dem kollidierenden Handeln, und die wahrhafte Einheit kann nur in der totalen Bewegung ihren Grund haben, daß nach der Bestimmtheit der besonderen Umstände, Charaktere und Zwecke die Kollision sich ebensosehr den Zwecken und Charakteren gemäß herausstelle, als ihren Widerspruch aufhebe. 21
Die »besonderen Umstände, Charaktere und Zwecke«, von denen Hegel spricht, benennt Robespierre, nachdem er die ästhetischen Voraussetzungen geklärt hat: die besonderen Umstände beruhen in der Anfälligkeit der jungen Republik durch innere und äußere Konterrevolution. Absoluter gesprochen: der geschichtliche Vorgang muß sich von den letzten Einseitigkeiten befreien, die ihr noch anhaften. Die unterschiedlichen Zwecke definiert Robespierre entsprechend: die »Fremden« und »Aristocraten« wollen die Republik stürzen und den »Königen« überantworten; sie beabsichtigen die Monarchie zu restaurieren. Die Republik hingegen schützt das Eigentum, die Tugend und den »friedlichen Bürger«. Daraus ergibt sich das Recht des »Schrekkens«, d.h. das Recht der Gewalt. Endlich zeichnet Robespierre noch die »Charaktere«: die zentralen Figuren des »Aristocratismus« und des »Lasters« schwelgen für den Tugendhaften im Hedonismus. Er identifiziert die Ausschweifungen, das »Einfälle haben, schöngeistem und so etwas wie einen guten Ton bekommen« mit dem politischen Programm der alten Aristokratie und mit den Zielen der Restauration; »doch ich denke, ich habe keine Striche mehr nötig, die Portraits sind fertig.« Damit hat die poetische Gerechtigkeit Bestimmung gewonnen, und die dramatische Kollision, »die als das Zentrum der klassischen Ästhetik des Dramas gelten kann, verleiht den Ereignissen den Charakter eines Prozesses.«22 Tatsächlich hat das Wort >Prozeß< in der tragödialen Gerichtsbarkeit eine doppelte Bedeutung: zum einen meint das Wort das Fortschreiten der Handlung, also >stete FortbewegungDantons Tod< und Heiner Müllers >Der Auftrags In: Studienausgabe, S. 107.
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des Dramas das Widerständige ab. Robespierre sagt nicht, es gäbe >nur noch< die Dantonisten zu vernichten, und das Geschichtsdrama sei geglückt. Er fordert vielmehr überaus betont: »Wir haben nichts gethan, wenn wir noch eine andere Partei zu vernichten haben.« Auch das ist aus der Denkfigur des >erhabenen Dramas< erklärlich; es besitzt absoluten Anspruch. Wenn das Tragödienschema nicht alles Widerständige und Fremde so zum Anderen gemacht hat, daß das Drama sich an ihm als gerecht beweist, wenn das Drama nicht durch das verletzende Besondere hindurchgegangen ist, ist es nicht absolut. Das Geringste, das in seinem Gang nicht aufgeht, macht das ganze Drama zunichte. Deshalb ist dieses letzte dramatische Verfahren nicht Anhängsel eines nahezu abgeschlossenen Prozesses; in ihm konzentriert sich vielmehr, worum es geht. Es trägt die Last des Ganzen, und ohne dies Wenige ist denn auch »nichts gethan«. Für Robespierre ist die Tragödie, die er da in Gang setzt, deshalb auch nicht die Säuberungsaktion des Staates, sondern es ist ihm (oder soll es sein) Beweis auf die Absolutheit der dramatischen Form als Bildungsgesetz der Geschichte. Weil dieses Gesetz der Tragödie das ganze Geschehen und alle Figuren beherrscht, können sich die Spieler trotz aller Erschöpfung auch nicht »nebeneinandersetzen und Ruhe haben« (221). Wesentliche Bestimmungen des geschlossenen Dramas kommen in der Rede Robespierres zur Sprache. Weil er aber das Tragödienschema nicht nur als Interpretationsschema verwendet, sondern bewußt die dramatischen Regeln an seine geschichtliche Gegenwart anlegt, treten in der Person Robespierres Interpretation und geschichtliches Handeln zusammen. Robespierre versteht Geschichte als Drama und setzt ein Drama vor dem Volk und den Jakobinern in Gang. Er erklärt den dramatischen Konflikt. Die Doppelbedeutung von >erklären< bringt das Doppelte dieses Vorgangs sehr schön zum Ausdruck: er erklärt das Drama, indem er die konfliktgeladene Situation verständlich macht, und er erklärt den Konflikt in dem Sinne, in dem man davon spricht, einen >Krieg zu erklärengroßen Beispiele Es ist das geschlossene Tragödienschema, aber es ist wirksam als Klischee, das seine immanente Gewalttätigkeit nur schwach rationalisiert; ein Phantasma, das sich Wirklichkeit verschafft. Daß Büchner bei dieser Dramatisierung, die sein Stoff schon besitzt, tatsächlich an die Schillersche Dramatik dachte, wird aus der Nebenhandlung deutlich. In der Szene zwischen dem Souffleur Simon, seiner Tochter und seiner Frau, in der sich das dramatische Pathos der Haupthandlung grotesk verdoppelt, läßt Büchner seine Figuren die Posen aus Schillers >Kabale und Liebe< einnehmen und Simon dann mit dem Römerpathos des alten Verrina aus dem >Fiesko< sprechen. Revolution und Drama treffen sich im Bildungsabhub, im Klischee. Man hat die erste Rede Robespierres als >stilus demagogicusKlubb< anhand einer rhetorischen Analyse in der Art, wie Schaub die Schulreden Büchners vorführt - in ihrem
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Hegel, Ästhetik. Bd. 15, S. 480f. Reinhard Roche, stilus demagogicus. Beobachtungen an Robespierres Rede im Jakobinerclub. In: Wirkendes Wort 14 (1964), S. 244-254.
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Aufbau kennzeichnen. Interessant ist aber weniger der Aufbau als das Repertoire, weniger die lateinische Rhetorik als dieser »emotionalgehobene, pathetische, deklamatorische«25 Stil. Robespierres Rede bietet ein Amalgam von theatralen Gebärden, geschichtsheroischen Floskeln und moralischen Stigmatisierungen; sie ist hochgradig synthetisch und so künstlich wie das römische Dekor. Rhetorik, Poetik und Theatralik gehen ein geschichtliches Bündnis ein und schließen sich zur Emphase des >erhabenen DramasSprache der französischen Revolution sprechen. So, wie die Zitatszenen durch einen Stil charakterisiert sind, wie ihre Reden in das >erhabene Drama< aufgehoben sind, so ist auch die Figurenkonstellation von Robespierre'scher Fraktion und Dantonisten klassisch gegeneinander gestaffelt. Die beiden Parteien besitzen jeweils einen Protagonisten, der die Handlung führt (oder führen soll) und an dessen Entscheid der dramatische Ablauf hängt. In ihrem Antagonismus schärft sich der Widerspruch von »Notwendigkeit und Freiheit, Besonderem und Allgemeinem, Sinnlichem und Vernünftigem«, 27 von Epikureismus und Stoizismus, von Römern und Griechen, Rationalisten und Sensualisten. Flankiert werden die Heroen von schattierungshaft abgestuften Koadiutoren, von mehr oder weniger >starken Echos< (vgl. 223): Robespierre von St. Just, Dumas und dem Gerichtspersonal bis zu dem de Sadeschen Männertrio von Barere, Billaud und Collot; Danton von Camille, Lacroix, Herault und Philippeau. Sie alle sind gegen ihre Protagonisten leichter oder nachhaltiger variiert, besitzen eine eigene politische und charakterliche Note, hintertreiben auch schon intrigant
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Lew Jakubinski, Über die Herabstufung des gehobenen Stils bei Lenin. In: Sprache und Stil Lenins. Hrsg. von Fritz Mierau. München 1970, S. 60. Roland Barthes, Am Nullpunkt der Literatur. S. 29. Hegel, Ästhetik. Bd. 13, S. 480f.
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die Geschäfte des Protagonisten - wie Billaud-Varennes - , ohne daß doch ihre Zugehörigkeit zu dieser oder jener Fraktion wirklich undeutlich würde. Sie scheiden sich letztlich durch ein Merkmal deutlich: ob sie an der Handlung beteiligt sind oder von »der Zeit verloren« (vgl. 215) werden. So türmen sich die Parteien gegeneinander, die Handlung konzentriert sich in und um die Protagonisten. Zwar wissen Billaud und Collot schon um das Ende Robespierres (495ff.) wie Lacroix um das Dantons (159), aber um die herrschende dramatische Ordnung kommen sie nicht herum. Deshalb appelliert St. Just, das in Gang gebrachte Drama fortzuführen, (191) darum ruft Lacroix Danton zum Handeln auf: Du stürzest dich durch dein Zögern in's Verderben, du reißest alle deine Freunde mit dir. [...] Schreie über die Tyrannei der Decemvirn, sprich von Dolchen, rufe Brutus an, dann wirst du die Tribunen erschrecken [...]. (218) Es schicken sich in gewisser Weise die Figuren von selbst in die dramatische Anordnung, die da inszeniert wird. Es herrscht der Zwang zur Struktur. Das Geschehen wird in ästhetischen Kategorien gedacht, und dies beginnt nun, sich danach zu richten. Büchner montiert nicht nur das historisch zitierte Material nach einer ästhetischen Konvention, die dem Material bereits eingeschrieben ist, läßt nicht nur Robespierre als Autor auftreten, sondern sorgt darüber hinaus noch für eine Bühne, auf der das Drama gegeben wird. Jakobinerclub, Nationalkonvent, Revolutionstribunal, das sind die Orte, an denen das >erhabene Drama< gegeben wird; sie sind die Bühnen oder Tableaus, auf denen die Zitate ihre Ordnung erhalten. Im Zenit befindet sich die Bühne, die Sprecher treten auf und ab; zugegen ist ein Publikum, das zunächst in die Veranstaltung gebeten wird. So sagt Robespierre vor seiner ersten Rede zum Volk: Kommt mit zu den Jacobinem, und >Viele Stimmen< antworten: Zu den Jacobinem! Es lebe Robespierre! (82f.) Das Publikum ist stets zugegen, wohnt dem dramatischen Prozeß bei, um dann außerhalb des Theaters jene höhere Gerichtsbarkeit wahrzunehmen, die den dramatischen Prozeß ausmacht. In m , 10 - nach der letzten Verteidigungsrede Dantons - finden wir es vor den Türen des Theaters, auf dem >Platz vor dem Justizpalasterhabenen Dramasandere Faction< hat endlich die wenigen Treppen hinauf geschafft - einer auf dem Schafott seine Vorstellung mit dem Satz beendet: Ihr tödtet uns an dem Tage, wo ihr den Verstand verloren habt; ihr werdet sie an dem tödten, wo ihr ihn wiederbekommt (643),
so ist das zwar ein gelungenes Wortspiel und eine schöne Sentenz, aber einige Stimmen schalten sich ein mit der Bemerkung: Das war schon einmal da! wie langweilig! (644)
Lacroix' Ausruf mißfällt, weil er schon einmal gemacht worden war, und so wird der Satz wie bei Schiller verworfen, weil er eine wörtliche und erkennbare Wiederholung darstellt, ein Zitat. Das >eihabene Drama< ist primär und absolut, das Zitat aber würde »seine Eigenschaft, primär, das heißt >wahr< zu sein, in Frage stellen und [...] sich zugleich sekundär geben.«29 Alle Szenen, in denen Büchner Zitate in Reden bündelt, weisen dieselben Kennzeichen auf: ihre Zeit ist immer die absolute Zeit der Gegenwart; ihre Orte sind die theatralen Bühnen von Jakobinerklub, Nationalkonvent und Revolutionstribunal; verhandelt wird in allen Szenen die Revolution in ihrem untergehenden Heroen Danton; alle 28 29
Hegel, Ästhetik. Bd. 15, S. 496. Szondi, Theorie des modernen Dramas. S. 17.
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Redner sprechen denselben Sprachstil. Es ist gewissermaßen dasselbe Lexikon, dieselbe Grammatik, Rhetorik und Ästhetik, die der dramatischen Durch- und theatralen Aufführung der Geschichte zugrundeliegt. In der Rede Robespierres im Jakobinerclub ist die dramatische Handlung in Gang gesetzt. Danach ordnen sich die übrigen Zitatszenen. In n , 7 wird die Konfliktbereitschaft bekräftigt, die Spannung gesteigert, die Fronten werden klar geschieden. Im Verlauf der Szene wird die Handlung zur Entscheidung gebracht, findet ihren Höhepunkt und schlägt um. In der Szene HI, 4 nimmt Danton den Konflikt an. Die Szenen in, 6 und HI, 8, zwischen die beiden Reden Dantons geschoben, nehmen die Rolle der Intrige ein, ohne jedoch, wie zu zeigen sein wird, den Prozeß wahrhaft zu entscheiden, in, 9, Dantons zweite Rede vor dem Tribunal, hat retardierende Funktion. 30 Das Geschehen hält vor dem Untergang des Helden noch einmal inne. Der Konflikt ist ausgearbeitet, die >Factionen< haben sich voll entfaltet. Die Szene EI, 10 bringt die rasche Entscheidung und besiegelt den Prozeß. Mit der Szene III, 10 wird der Zitattext denn auch deutlich zusammengeschlossen. Das Drama begann ja mit Robespierres Aufforderung an das Volk, ihm in den Jakobinerclub zu folgen, und die Bürger reagierten mit dem »Es lebe Robespierre!« Ebenso schließt sich jetzt der Vorhang und beendet die Auseinandersetzung mit denselben Worten: »Es lebe Robespierre« (542). Und diese Rufe, die nun von >Alle[n]< stammen, sind im Verlauf des Dramas erweitert um den Konflikt und den Prozeß, der sich in der Zwischenzeit ereignet hat. Das Material ist nach poetischer Art durchdrungen und kehrt, gleich und doch verändert, erweitert wieder: Alle. Es lebe Robespierre! Nieder mit Danton! Nieder mit dem Verräther! (542)
30
Vgl. Burghard Dedner, Bildsysteme und Gattungsunterschiede in >Leonce und LenaDantons Tod< und >Lenzerhabenen Dramas< wird angesichts der Guillotine deutlich ausgesprochen: Ein Weib mit Kindern. Platz! Platz! Die Kinder schreien, sie haben Hunger. Ich muß sie zusehen machen, daß sie still sind. Platz! (635) Solche fortwährende Zerrissenheit der Gesellschaft: die Ungestilltheit des Hungers und die Ungestilltheit des Glücks, wird durch das »Unglück des Besonderen« nicht nur verdeckt, sondern erst erträglich. Max Horkheimer findet für die Funktion der Schaustellung des »Unglücks des Besonderen« eine sozialhistorische Erklärung. Er behauptet, daß mit Robespierre, mit Cola di Rienzo, mit Luther und Calvin der Typ des bürgerlichen Politikers auf die Bühne tritt. Diesem fällt die widersprüchliche Aufgabe zu, die >Massen< mit den bürgerlichen Interessen unter einen universalen Begriff von Freiheit gegen die Reste feudaler Grundherrschaft zu einen; zugleich muß er den 31
Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung. In: M. H., Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie. Frankfurt 1979, S. 79. Vgl. Jan ThomPrikker, Revoluüonär ohne Revolution. Interpretationen der Werke Georg Büchners. Stuttgart 1978. Der Aufsatz Horkheimers für eine sozialgeschichtliche Interpretation der Französischen Revolution wird auch von Thorn-Prikker zu Rate gezogen. Es sei kurz begründet, warum ich nochmals auf Horkheimers Aufsatz zurückgreife. Zum ersten trennt Thorn-Prikker die Darstellung der Horkheimerschen Position gänzlich vom dramatischen Text Büchners; er vergibt sich damit ganz unnötig die hohe Evidenz, die das Drama für eine sozialhistorische Interpretation bietet. Das Interpretament leuchtet ein, wird aber für das Drama nur unzureichend zugänglich gemacht. Zum zweiten übersieht m.E.n. Thorn-Prikker, daß Horkheimer das Problem von Moralität und Tugend, das sich in der Figur des bürgerlichen Führers Robespierre stellt, über den Kontext bürgerlichen Denkens und bürgerlicher Produktionsverhältnisse hinaus in die grundlegendere Problematik der Naturbeherrschung stellt. Die Moralität und der Begriff der Tugend werden von Horkheimer als Wiederholung des gesellschaftlichen Zwangs gegen die Natur innerhalb der Psyche verstanden. Moralität reproduziert das Unrecht, das der Natur durch ihre Beherrschung angetan wird, im Verhältnis des Menschen zu sich selbst. Indem Thorn-Prikker sich auf die >materielle< und politische Problematik der Moralität beschränkt, entgeht ihm die für >Danton's Tod< wie für Horkheimer wichtige Beziehung von Moralität und erotischem Glück, von Revolution und Sexus.
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das B ü r g e r t u m sprengenden Begriff der Freiheit einschränken und kontrollieren, soll doch an die Stelle des Feudalismus nun der bürgerliche Staat treten. All diese Führer sind deshalb aus gesellschaftlichen Gründen zutiefst gespalten, weil sie eine alte Klassenherrschaft abschaffen und zugleich eine neue einrichten helfen. So sieht Horkheimer in der französischen Revolution einen allgemeinen Begriff von Freiheit entfaltet und zugleich verstümmelt, Freiheit proklamiert und beschnitten. Zentral für diese Doppelfunktion des Fraktionsvorsitzenden steht der Begriff der Tugend, der Zentralbegriff Robespierres. Nach Horkheimer vereint sich in diesem nebelhaften Terminus ganz unterschiedliches: f ü r die konkurrierenden Privateigentümer der antretenden bürgerlichen Klasse meint er das humane Nebeneinander von Besitzenden, f ü r die >Massen< aber das tugendhafte Sich-bescheiden im neuen status quo einer wiederum antagonistischen Gesellschaft. Dieser Doppelcharakter der F ü h r e r f i g u r prägt alle seine Ä u ß e r u n g e n : seinen Nimbus, seine Symbole, Rituale und Worte sind rational und irrational zugleich: Während seine Handlungen unmittelbar den Interessen besonderer Gruppen von Besitzenden entsprechen, klingt in seinem Auftreten und Pathos überall das Elend der Massen hindurch. Da er keineswegs die wirkliche Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu bieten vermag, sie vielmehr für eine Politik zu gewinnen sucht, die in wechselndem Verhältnis zu ihren eigenen Belangen steht, vermag er auch seine Gefolgschaft nur zum Teil durch rationale Übereinstimmung mit seinen Zielen an sich zu fesseln, und der gefühlsmäßige Glaube an seinen Genius, seine bloße Begeisterung, muß mindestens so stark sein wie die Vernunft.32 Deshalb werden die Begriffe zu Fetischen, die Rede wird zur Predigt, das Erscheinen in der Öffentlichkeit wird zum Auftritt, Versammlungen tragen kultische und theatrale Züge - und umgekehrt. Es ist deshalb in >Danton's Tod< kein Zufall, sondern für die Irrationalität des rationalen und sinnenfeindlichen Incorruptible
kennzeichnend, daß >ein
Weib< in seiner Gefolgschaft ausruft: Hört den Messias, der gesandt ist zu wählen und zu richten; er wird die Bösen mit der Schärfe des Schwertes schlagen. (81) Nicht anders entdeckt Danton in der moralischen Rechtlichkeit parareligiöse Züge, wenn er - in Anspielung auf den bonus miles
Jesu
Christi - Robespierre fragt: 32
Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung. S. 24.
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Bist du der Policeysoldat des Himmels? (178) Der Begriff der Tugend gebietet die Versagung unkontrollierten Glücks; er läßt das Bedürfnis zur Innerlichkeit werden, und »nur dem friedlichen Bürger gebührt von Seiten der Gesellschaft Schutz« (99). Ist aber die Tugendhaftigkeit und die >UnbestechlichkeitDanton's Tod< über weite Strecken. Robespierre etwa unterstellt Danton, er wolle die »Rosse der Revolution am Bördel halten machen« (185); St. Just vermutet, Danton könne »die Freiheit n o t z ü c h t i g e n « (avgl. 472). Umgekehrt verkündet dieser dann: »Die Freiheit und eine Hure sind die kosmopolitischsten Dinge unter der Sonne.« (612) Und gegen den Unbestechlichen: Mit deiner Tugend Robespierre! Du hast kein Geld genommen, du hast keine Schulden gemacht, du hast bey keinem Weibe geschlafen, du hast immer einen anständigen Rock getragen und dich nie betrunken. Robespierre du bist empörend rechtschaffen. (176) Die Erkenntnis und die Kritik an der Triebfeindlichkeit der jakobinischen Revolution ist den Figuren in Büchners Drama durchaus geläufig. Barere etwa weiß, daß Robespierre aus »der Guillotine ein specificum gegen die Lustseuche machen« (493) will; das gefällt ihm nicht, fallen doch seine Aufenthalte in >Clichy< unter die nämliche »Krankheit«. Billaud benennt in derselben Szene den zwiespältigen Charakter Robespierres, indem er ihn scharf einen »impotenten Mahomet« (504) betitelt. Der Privatzirkel um Danton endlich reflektiert die Triebfeindlichkeit zurück in den unfreien Charakter der »Arbeit«. Präzise wird der widersprüchliche Zustand von Tugend und Laster auf d e m Hintergrund ökonomischen Zwanges erkannt: Lacroix. Und außerdem Danton, sind wir lasterhaft, wie Robespierre sagt d.h. wir genießen, und das Volk ist tugendhaft d.h. es genießt nicht, weil ihm die Arbeit die Genußorgane stumpf macht, es besäuft sich nicht, weil es kein Geld hat und es geht nicht ins Bördel, weil es nach Käs und Hering aus dem Hals stinkt und die Mädel davor einen Ekel haben. (163)
37
Das hat deutlich herausgestellt: Thomas M. Mayer, Büchner und Weidig. S. 115. 59
Auf dieser Ebene von >Danton's TodVielereinigen Stimmenc »Nieder mit den Decemvim! es lebe Danton!« Das Geschehen des Zitattextes, der Stand des e r habenen Dramas< setzt sich wörtlich fort, nur nicht länger im Rahmen der Zitate aus der Historiographie. Man könnte das so interpretieren, daß in HI, 10 das Drama seinen prozessualen Abschluß findet, daß Büchner aber die reale Entscheidung über das Geschichtsdrama der Revolution außerästhetisch dem im Zitattext exkludierten neuen Geschichtssubjekt >Volk< übergibt. Was die Geschichte bestimmt und den Prozeß entscheidet, ist nicht in dem Konflikt der Heroen am Werk, sondern allein in dem entschiedenen Eingreifen des Volkes. Die Masse, in der personnage des idealistischen Dramas nur als Statist zugegen, übernimmt aktiv die Handlung. Nach der sozialhistorischen Interpretation Robespierres als Prototyp des bürgerlichen Sozialcharakters ist eine solche These jedoch nicht haltbar. Vor ihrem Hintergrund wird deutlich, daß die Entscheidung in m , 10 nichts ist als die Fortführung des Robespierreschen Moralisierens: 1. Bürger. Wer sagt, daß Danton ein Verräther sey? 2. Bürger. Robespierre. 1. Bürger. Und Robespierre ist ein Verräther. 2. Bürger. Wer sagt das? 1. Bürger. Danton. 2. Bürger. Danton hat schöne Kleider, Danton hat ein schönes Haus. Danton hat eine schöne Frau, er badet sich in Burgunder, ißt das Wildpret von silbernen Tellern und schläft bey euren Weibern und Töchtern, wenn er betrunken ist
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Danton war arm, wie Ihr. Woher hat er das Alles? Das Veto hat es ihm gekauft, damit er ihm die Krone rette. Der Herzog von Orleans hat es ihm geschenkt, damit er ihm die Krone stehle. Der Fremde hat es ihm gegeben, damit er Euch Alle verrathe. Was hat Robespierre? der tugendhafte Robespierre. Ihr kennt ihn Alle. Alle. Es lebe Robespierre! Nieder mit Danton! Nieder mit dem Verräther. (536-542)
»Ohne politische Bedeutung und in völliger Abhängigkeit von der Ausstrahlungskraft einer Führerpersönlichkeit müßte das Volk in >Dantons Tod< erscheinen, wenn es die Szene III, 10 nicht gäbe«, 38 schreibt Bernd Zöllner. Erweist sich hier das Volk politisch autonom und frei von jakobinischer Infiltration? Tatsächlich treten die Motive, die Symptome für einen gesellschaftlichen Zwangszusammenhang, wie Horkheimer ihn beschreibt, gerade in dieser Szene sehr deutlich auf. Ästhetisches Dasein, Erotik und Hedonismus werden in der Argumentation des 2. Bürgers ebenso zu Politica gemacht wie in der Rede Robespierres; und auch hier avanciert der Begriff der Tugend (»der tugendhafte Robespierre«) zum entscheidenden Maß der Dinge. Nachdem zunächst die beiden Fraktionen auf kleinstem Raum ins Gleichgewicht gebracht werden (536-540) - den Stand des Dramas gewissermaßen resümierend übernimmt der 2. Bürger das Wort. Durch den parallelen syntaktischen Bau seiner Sätze und durch die Wiederholung des Subjekts (»Danton hat schöne Kleider, Danton hat ein schönes Haus. Danton hat eine schöne Frau«) wird seine Rede stark strukturbetont. Das hat funktionale Gründe: auf ein gleichbleibendes Satzsubjekt werden derart in syntaktisch gleichförmig wiederkehrenden Konstruktionen unterschiedliche Inhalte gehäuft, die dank des repetierenden syntaktischen Rhythmuses unendlich fortsetzbar erscheinen. Die moralischen Abweichungen, um die es sich hier durchweg handelt, werden dann - exakt wie es Robespierre in I, 3 vorführt - in Indizien für politische Konspiration uminterpretiert. Das geschieht im zweiten Teil der Replik. Wieder tritt die Satzstruktur betont hervor. Während jetzt die Aussage des Satzes gleichbleibt (Verrat), wird aber das Subjekt vakant und in das Anonyme, und damit in die Angst gesteigert (»Das Veto hat es ihm gekauft [...]. Der Herzog von Orleans hat es ihm geschenkt [...]. Der Fremde hat es ihm gegeben, damit er Euch Alle verrathe.«).
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Bernd Zöllner, Büchners Drama >Dantons TodZitattext< ließ sich als >erhabenes Drama der Revolution bezeichnen und auch weithin beschreiben. Weil dem Zitattext sein dramatischer Aufbau abzulesen war, weil er aber nur ein schlechtes Abbild eines geschlossenen Dramas ergab, ein Klischee, war er als abstrakt gewordener idealistischer Dramenbau gekennzeichnet worden; ein Dramenbau, der zwar nurmehr schablonenhaft, leer und pathetisch den Hang zur >Endkatastrophe< rasch preisgab, der gleichwohl auf Absolutheit und Wesenhaftigkeit beharrte. Tatsächlich existiert dieser abstrakte Raum des Dramas »im Denken und Reden bestimmter Figuren, die handeln, als wäre die Welt die Welt des geschlossenen Dramas. [...] Die Welt der großen Reden im Jakobinerclub errichtet ihn. Es ist der Raum, in dem die Rea39
Gerhard Jancke erkennt zwar, daß es in III, 10 »zwischen Robespierre und dem Volk eine einheitliche Aktion gibt«. Nach dem Entwickelten muß es jedoch absurd erscheinen, solche Verbrüderung als geschichtliche Glanztat, als Plädoyer Büchners für die progressive Tragfähigkeit des Robespierreschen Jakobinismus auszugeben. G. J., Georg Büchner. Genese und Aktualität seines Werkes. Königstein^Ts. 1979 3 , S. 219.
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lität der Revolution übersehbar und beherrschbar erscheint.«40 Diesem ebenso phantasmatischen wie realen Geschichtsdrama wohnt darüber hinaus ein Publikum bei. Mit Robespierre tritt dann der Autor ins Spiel, und er projektiert eine Verschmelzung von geschichtlichem Stoff und dramatischer Form. Er diktiert Zeit und Handlung. Im Ganzen also, in der Einheit von Zeit, Ort und Handlung, von Sprache, Dichter, Bühne und Publikum tritt das Theater der Revolution in Büchners dramatischem Text auf. Offen greift es auf den historischen Stoff geschichtlicher Gegenwart aus und inszeniert das »Unglück des Besonderen«. Nun ist es ein fast klassischer Topos in der Forschung, daß Büchners Drama keine Ordnung aufzuweisen habe. Äußerlich sei zwar eine Unterteilung in vier Akte zu erkennen, jeder Akt werde auch durch die Verurteilung Dantons beendet (durch Robespierre und St. Just im ersten, durch den Konvent im zweiten, durch das Volk im dritten, durch den »stillen Todesengel« (661) im vierten Akt), jedoch und »immerhin« ist >Dantons Tod< keine durch »klassische« bzw. klassizistische strenge Kausalität und einen final angelegten Nexus gebundenes Drama.41 Zu revidieren ist der Satz Knapps nicht nur, weil im Zitattext vom >erhabenen Drama der Revolution explizit die Rede und damit die Revolution als ästhetische Ordnung bereits erkennbar ist; das von Robespiene konzipierte Drama wird in Büchners Erstlingswerk darüber hinaus durch eine bestimmte Struktur markiert. Die Konstituenten von Bühne, Publikum, Zeit, Ort, Handlung und Sprache bilden einen Rahmen, in dem der Zitattext stets präsentiert wird. Der Zitattext ist derart im Gewebe, im »Sprachmoird«, 42 von >Danton's Tod< eingegrenzt; so sehr, daß Büchners Jugendfreund Georg Zimmermann in einer späten Rezension des Dramas monieren konnte, die »Deputirten-Versammlungen« seien »einander zu ähnlich«, 43 und damit die Wiederholung der strukturbildenden Konstituenten des Zitattextes erfaßt.
40 41 42 43
Behrmann/Wohlleben, Büchner: Dantons Tod. S. 180f. Gerhard P. Knapp, Georg Büchner. Eine kritische Einführung in die Forschung. Frankfurt 1975, S. 163. Roland Barthes, Sade. Fourier. Loyola. Frankfurt 1986, S. 154. Erinnerung an einen »außerordentlichen Menschen«. Zwei unbekannte Rezensionen von Büchners Jugendfreund Georg Zimmermann. Hrsg. von JanChristoph Hauschild. In: GBJb 5/1985, S. 343. 63
In einem ersten Schritt ist dieses in Büchners Werk ausgezeichnete >erhabene Drama< sozialhistorisch dechiffriert worden. Kritisch in den Blick kam der kompensatorische und triebfeindliche Inhalt der Robespierreschen Inszenierung als Widerspruch einer bürgerlich erstarrten Revolution. Nun wird in >Danton's Tod< nicht nur der Inhalt des >erhabenen Dramas< Gegenstand der Kritik, sondern auch seine eigentümlich dramatische Form. In welcher Weise die Revolution als dramatische Form ihren >erhabenen< Anspruch einbüßt, ihre angemaßte Richterwürde verliert und als Herrschaft sichtbar wird, soll im folgenden Kapitel untersucht werden.
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TEIL
II
Vom Zwang des Spiels
Der Text, den Büchner zitiert und der sich mit den Worten Robespierres als >erhabenes Drama der Revolution aufspielt, behauptet eben in seiner dramatischen Form die Autonomie seiner Akteure, die Absolutheit seines Ablaufs und die poetische Richterwürde seines Urteils. Die Geschichte wird diesem ästhetischen Anspruch unterworfen. Wer immer in >Danton's Tod< die Handlung des Geschehens vorantreiben oder beeinflussen will, sieht sich aufs dramatische Modell und dessen theatrale Realisation verwiesen. Das Geschehen ist von Fiktion durchdrungen. Wenn auch derart das >erhabene Drama< die Geschichte beherrscht, so wird doch sein formimmanenter Anspruch, auf der Selbstbestimmung der handelnden Personen zu beruhen, die Widersprüche der Geschichte zu versöhnen und poetische Gerechtigkeit zu stiften, vielfach demontiert. Im ersten Teil hatte ich darauf hingewiesen, daß die Desavouierung eben der Inhalte, die die dramatische Form der Revolution behauptet, durch eine Konfrontation erreicht wird: durch den Widerspruch von Revolution und sozialhistorischer Wirklichkeit, implizit durch den Widerspruch der Revolution mit ihrem eigenen Begriff. Das Revolutionsspektakel war als ideologischer Aufputz, als Teil des gesamtgesellschaftlichen Verblendungszusammenhanges erkannt. Im folgenden möchte ich drei weitere Brechungen eben jener Tragödienform untersuchen, welche Büchner dem Zitattext abgeschrieben und abgelesen hat: die dramatische Unbestimmtheit, die er seinen Georg Danton annehmen läßt, die parodistische Konstruktion der Figur des Souffleurs Simon und die reflexive und metaphorische Destruktion des Scheins der Erhabenheit durch die Dantonisten. Gleich ist allen drei Brechungen, daß sie gewollt oder ungewollt kritisch zum >erhabenen Drama< stehen; gleich ist ihnen aber auch, daß sie alle das Schauspielprojekt der Revolution emster nehmen als jene erste sozialhistorische Dechiffrierung des Zitattextes. Denn alle drei treiben der Realtragödie den Schein der Positivität nicht nur aus, um in dem tragödienhaften Aufputz ein Abbild ungeschlichteter gesellschaftlicher
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Widersprüche zu erkennen. Sie betonen darüber hinaus die fiktionale Durchdringung der Geschichte. Zwar wird dabei das >erhabene Drama< umbenannt, wird Posse, Marionettentheater und spectaculum deorum, aber es bleibt doch immer ein Schauspiel, welches das Geschehen beherrscht. So steht denn auch am Ende der Destruktionen der »Revolutions=Tragödie«,' in der Metaphernorgie des vierten Aktes, nicht ein außerästhetisch Reales, auf das referiert wird - wie es etwa in Camilles Wort von der »Schöpfung, die glühend, brausend, leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick gebiert« (285), anklingt sondern am Ende steht die Klage über den reinen Zwang des Spiels. Jede positive Begründung der dramatischen Form ist dahin: die Selbstbestimmung der Handelnden erweist sich ebenso als Trug wie die poetische Gerechtigkeit der Handlung, aber die Realität als Schauspiel bleibt verbindlich. Indem der Tragödie alle Geltungsansprüche genommen werden, wird sie nicht verabschiedet, sondern als Form von Herrschaft erkannt.
1. Indifferenz In seiner ersten großen Rede im >Klubb< formuliert Robespierre das Konfliktmodell des Dramas; er benennt eben die zwei Parteien oder >FactionenDanton's Tod< den Agon vor. Schon Philippeaus Auftritt mit seinen Worten über die guillotinierten Hébertisten zieht Vorgeschichte expositional in die Gegenwart ein. In den folgenden Repliken bestimmen die >Deputirten< dann in »programmatischer Rede«2 den Ort, von dem aus der Konflikt mit den »Römern« und »Decemvirn« ausgetragen werden kann. In einem definitiv antijakobinischen und mit ironischer Spitze gegen Robespierres Rousseauistische Wurzeln geschärften Entwurf proklamieren Hérault, Philippeau und schließlich Desmoulins die Beendigung der Revolution zugunsten einer sensualistischen, erotistischen und atheniensischen Staatsform. 1 2
Heinrich Zschokke, Eine Selbstschau. Aarau 1842, S. 71. Helmut Krapp, Der Dialog bei Georg Büchner. München 19702, S. 34. 66
Deutlich gegen das jakobinische Tugendideal definiert, entfalten die drei Dantonisten eine »Staatsutopie«, 3 die nun als Gegenmodell zum asketischen Römerideal (»Rüben kochen« (23)) aktiviert und als soziales Programm durchgesetzt werden soll. Diese Repliken enden appellativ und mit derselben futurischen Perspektive, die auch Robespierres programmatische Rede beschließt: Camille. Danton du wirst den Angriff im Convent machen. (23)
Desmoulins schärft das Programm zum Konflikt, und er fordert jene Entschiedenheit, die das Drama definiert. Camille drängt Danton gewissermaßen zur dramatischen Aktion; der perlokutionäre Effekt seines Satzes verweist auf die tragödiale Ordnung. Das wird in Camilles Satz mehrfach unterstrichen. Er verwendet, wie Robespierre, das Futur; seine Replik leitet auf Kommendes über und verweist bereits auf eine imaginäre nächste Szene. Das Futur schafft präsumptiv eben jene dramatische Verknüpfung, welche in geschlossener Dramaturgie die Übergänge und Verzahnungen der Szenen und Akte untereinander organisiert. Zugrunde liegt der sich über drei Figuren und ihre unterschiedlichen Temperamente entfaltenden Programmatik, die in den futurischen Appell mündet, implizit das Schema dramatisch-zeitlicher Verknüpfung, das Peter Pütz folgendermaßen beschreibt: Es ist in jedem Augenblick des Dramas schon etwas geschehen, und es steht noch etwas aus, das aus dem Vorhergehenden gefolgert und vorbereitet wird. Jeder Moment greift Vergangenes auf und nimmt Zukünftiges vorweg. Die dramatische Handlung besteht in der sukzessiven Vergegenwärtigung von vorweggenommener Zukunft und nachgeholter Vergangenheit.*
Der Struktur inhäriert daher, nach Pütz, eine »futurische Intention«, 5 und solche vorgreifend dramatische Verzahnung antizipiert Camille. Beide, Robespierre und Desmoulins, verzahnen das Künftige mit dem Gegenwärtigen. Solche »Äquivalenz« 6 signalisiert die Gleichheit der Intention auf den dramatischen Agon; beide referieren auf denselben Raum des Geschehens. 3 4
5 6
Thomas M. Mayer, Büchner und Weidig. S. 123. Peter Pütz, Die Zeit im Drama. In: Beiträge zur Poetik des Dramas. Hrsg. von Werner Keller. Darmstadt 1967, S. 108f. Pütz, Die Zeit im Drama. S. 117. Vgl.: Rosmarie Zeller, Das Prinzip der Äquivalenz bei Büchner. Untersuchungen zur Komposition von >Danton's Tod< und >Leonce und Lenaich, du, er< in der nächsten Zukunft zu unternehmen haben; er raubt dem Vor-satz das konfliktfordemde und -verheißende »Angriff im Convent machen«. Weiter eskamotiert er die strenge Option aufs heroische Individuum. Durch die konjugierende Wiederholung des Personalpronomens unterstreicht er die Ablösung von bestimmten Individuen. Aus dem »Danton, du« wird ein >ich, du, ererhabenen Dramas< existiert. Gleichwohl besitzt die Revolutionstragödie so viel Realität, daß sie über ihren ehemaligen Agenten hinwegschreitet; sie bestimmt das Büchner zitiert nach der >Galerie historiques S. Studienausgabe, S. 22.
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Geschehen. Aber an Dantons ironischer Indifferenz wird deutlich, daß diese Bestimmung ohne Subjekt vor sich geht. Nicht allein weil ihm die Geschichte subjektlos scheint, sondern weil sie an seiner Indifferenz als Zwang aufbricht. Denn die Gesetze des Dramas fordern Individuen, die sich zur Bestimmtheit bringen. Und nur durch die entschlossene Partikularität der Akteure, dadurch, daß sie sich mit einem »Lebensinhalt« 10 fest zusammenschließen und für ihn einstehen wollen, wird das dramatische Geschehen zur höheren Gerechtigkeit, zum sinnlichen Scheinen der Idee. Weil sich Danton aber gerade aus der kollidierenden geschichtlichen Dynamik ausblendet, ein Oblomov des Dramas, weil an seiner ironischen Indifferenz jede Bestimmtheit zuschanden wird, muß das >erhabene Drama< Danton zur tragischen Gestalt zurichten und als Zwang erkennbar werden. Tatsächlich treffen Robespierres Stigmatisierungen der Rede im Jakobinerclub nicht. Denn Robespierre versucht, den Libertinismus und die Sprachskepsis Dantons als »Aristokratismus« zu politisieren. Aber weder sehen wir Danton »in Carossen fahren« noch mit »ehemaligen Marquisinnen und Baronessen Unzucht treiben« (99). Zwar hat er, wie Robespierre inkriminiert, »Einfälle«, aber nicht im Sinne des von der Revolution geschmähten »guten Tons« der Aristokratie: weder der Danton des Büchnerschen Dramas noch der historische Danton, von dem die UZ sagt, keiner seiner Zeitgenossen habe »das Wörterbuch der Revolution mehr bereichert, als er.«11 Kurz, dem Libertin und Spieler Danton ist keine politische Identität, kein Lebensinhalt zuzuschreiben, zumindest nicht bis zur Konversion Dantons in den Tribunalsszenen mit ihrem: »Jezt kennt Ihr Danton.« (440) Diese Indifferenz, die eine sprachliche Aktion ist, hat eine kritische Funktion. Durch die Unbestimmtheit Dantons wird die Übermacht des dramatischen Verlaufs hervorgetrieben. Weil sich am unbestimmt Anderen der dramatische Prozeß auch dann abspult, wenn dessen Konturen sich nicht zum Wollen schärfen (»Wir sollten uns nebeneinander setzen und Ruhe haben.« [221]), erweist sich am >Müden< (vgl. 298) die Gewalt der Inszenierung. Danton wird auf einer Schaubühne, der er sich zunächst ironisch verweigert, auf einer Schaubühne also, die sich wahrhaft als moralische Anstalt gibt, nicht im Sinne poetischer Gerechtigkeit gerichtet, sondern zugerichtet. 10 11
Hegel, Ästhetik. Bd. 15, S. 522. UZ, Bd. 12, S. 122. 71
Gibt aber Danton die Handlung auf, weil sie nur innerhalb der Dramenkonvention funktioniert, so verliert er auch deren Zeit, Ort und Sprache. Deshalb schließt sich in >Danton's TodEgmonterhabenen Dramas< nicht die erfüllte Zeit, sondern nur die vom Drama nicht okkupierte, die, wenn man so sagen kann, Restzeit. Das wird deutlich, wenn man sich Schlegels Bestimmung der dramatischen Zeit in seinen >Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur< vor Augen führt. Schlegel schreibt: Unser Körper ist der äußern astronomischen Zeit unterworfen, weil die organischen Verrichtungen sich darnach abmessen; unser Geist aber hat seine eigne ideale Zeit, welche nichts anders ist als das Bewußtsein der fortschreitenden Entwickelung unsers Daseins. In dieser Art von Zeitmessung gelten die Zwischenräume eines gleichgültigen Stillstandes gar nichts und zwei bedeutende Augenblicke, wären sie durch Jahre getrennt, knüpfen sich unmittelbar aneinander. [...] Ebenso ist es nun mit der dramatischen Darstellung: unsere Einbildungskraft geht leicht über die Zeiten hinweg, welche vorausgesetzt und angedeutet, aber weggelassen werden, weil nichts Bedeutendes darin vorgeht; sie hält sich einzig an die vorgestellten entscheidenden Augenblicke, durch deren Zusammendrängung der Dichter den trägen Gang der Stunden und Tage beflügelt 12 Indem Danton sich aus der Realtragödie ausblendet, fällt er aus der »idealen Zeit« des Dramas heraus und sinkt in jene Zeiträume zurück, die Schlegel der dramatischen Zeit entgegensetzt, in die physischen. Das dramatisch Bedeutungslose, das, was »weggelassen« wird, weil nichts darin »vorgeht«, der »träge Gang der Stunden«, die Zeit der »organischen Verrichtungen« und die »astronomische Zeit« werden Danton zur einzigen Erfahrung: Danton. Das ist sehr langweilig immer das Hemd zuerst und dann die Hosen drüber zu ziehen und des Abends in's Bett und Morgens wieder heraus zu kriechen und einen Fuß immer so vor den andern zu setzen, da ist gar kein Absehens wie es anders werden soll. (215) Eine Erfahrung, die sich dann mit dem sich schließenden Raum in der Conciergerie verknüpft:
12
August Wilhelm Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Hrsg. von Edgar Lohner. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1967, Bd. 2, S. 23. 72
Danton. Will denn die Uhr nicht ruhen? Mit jedem Picken schiebt sie die Wände enger um mich, bis sie so eng sind wie ein Sarg. (570)
Daß Danton schließlich die Sprache fehlt, das Geschehen in seiner Übermacht zu benennen; daß das >erhabene Drama< sich gegen jedes begreifende Wort wehrt, daß also die herrschende Tragödie ein geschlossenes Regelsystem ist, das nicht in ein Außen oder von einem Außen her übersetzbar ist, spricht sich deutlich in Dantons Replik aus: Es wurde ein Fehler gemacht, wie wir geschaffen worden, es fehlt uns was, ich habe keinen Namen dafür, wir werden es einander nicht aus den Eingeweiden herauswühlen, was sollen wir uns drum die Leiber aufbrechen? (221)
So fest schließt sich die Sprache der Revolution mit dem Geschehen zusammen, besetzt es so grundsätzlich, daß kein Wort länger ans Geschehen heranreicht. Fritz Heyn stellt daher ganz zu Recht fest: »Das Wort ist sowohl Zeuge eines mächtigen Ausdruckswillens, als auch einer erschütternden Rat- und Inhaltslosigkeit.« 13 Heyn gelangt zu der einsichtigen These, daß die Sprache der Dantonisten an ihren Gegenstand nicht heranreiche und ihre Erkenntnisfunktion einbüße; an die Stelle der Erkenntnis aber trete die Rhetorik. 14 Dies ist nun freilich nicht länger die Beredsamkeit der Schulrhetorik; Heyn beschreibt mit diesem Terminus vielmehr die Wucherung der sprachlichen Ausdrucksmittel im Sprechen der Gemäßigten; eine Wucherung der Signifikationen angesichts einer unzugänglichen Übermacht. Daraus entwickelt sich ein Sprechen, das entweder hochgradig variativ den »Fehler« zu benennen versucht, oder das desillusionierend und »enttautologisierend«15 die herrschende Sprache, die Rhetorik der Rhetoren destruiert. So zeugt auch der Verlust der Sprache von der Übermacht des >erhabenen Dramaserhabene Drama< ist real, aber es ist Reales als Zwang und Simulation, nicht als geglückte Geschichte. Am unbestimmten Antagonisten erweist es sich als zwanghaft, übermächtig, herrschend und real.
2. Kostüme, Namen, Jamben Das Revolutionsdrama bestimmt nicht nur Anfang, Ablauf und Ausgang des Geschehens, inszeniert nicht nur Tribunal und Intrige, sondern sorgt darüber hinaus für das Dekor und die Kulissen. Die Akteure der Großen Revolution beschwören nach Marx, um »noch nicht Dagewesenes« durchzusetzen, ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparolen, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. So maskierte sich Luther abwechselnd als Apostel Paulus, die Revolution von 1789-1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum, und die Revolution von 1848 wußte nichts Besseres zu tun, als hier 1789, dort die revolutionäre Überlieferung von 1793-1795 zu parodieren.16
Von solcher »weltgeschichtlichen Totenbeschwörung« ist der Zitattext durchdrungen; 17 er maskiert sich als Römerdrama. So will ein Bürger aus Lyon zum »Dolch des Cato« greifen (91), Robespierre sieht den »Tacitus parodirt« und will mit dem »Sallust antworten und den Catilina travestiren« (99); St. Just fordert alle »Feinde der Tyrannei« auf, die den »Dolch des Brutus unter ihren Gewändern tragen« (37), in die Feier des historischen Augenblicks einzustimmen. Die Rezeption der römischen Antike kennzeichnet in >Danton's Tod< ausschließlich den Jakobinismus und gehört dem herrschenden Zitattext an. Büchner übernimmt diese Drapierungen in den zitierten Reden allesamt aus den Quellen, aus Thiers' Revolutionsgeschichte, aus Desmoulins >Vieux CordelierGasse< gerückt, gerät grotesk etwa dann, wenn der trunkene Theaterangestellte seine Frau schlägt und solch heroisches Werk mit jambischem Versmaß begleitet: Simon. Nein, laßt mich Römer, zerschellen will ich dieß Geripp! Du Vestalin! (37) Büchner bricht diesen Satz doppelt. Einmal durch die Kontrafraktur des gehobenen Versmaßes - deutlich betont durch das apokopierte Endungs->e< - , mit dem wirklichen Vorgang; eine unwürdige Schlägerei. Zum anderen tritt das theatrale Vokabular in deutlichen Gegen-
19
Gerhard Jancke, Georg Büchner. S. 188. 75
satz zu jenem »Gassenidiom«, 20 in dem Simon seine Frau zunächst beschimpft: Simon (schlägt das Weib) Du Kuppelpelz, du runzliche Sublimatpille, du wurmstichischer Sündenapfel! (35)
>Jambisch< trennt sich Simon mit seiner Revolutionsphraseologie von dem, was er tatsächlich sagt und tut. Seine Versifikation hebt die Wirklichkeit nicht auf, läßt deren Wahrheit nicht hervortreten, sondern macht sie verschwinden. Das Erkenntnispathos idealistischer Ästhetik wird hier gewissermaßen säkularisiert und weicht einem kompensatorischen Effekt. Unerträgliches wird durchführbar, Gemeines ertragbar, wo der Jambus zur Seite steht. So entschuldigt sich Simon am Ende der Szene mit Shakespeare-Versen: Schlug ich dich? Das war nicht meine Hand, war nicht mein Arm, mein Wahnsinn that es. Sein Wahnsinn ist des armen Hamlet Feind Hamlet that's nicht, Hamlet verläugnet's. (88)
Daß Simon nun mit diesen Versen die »menschliche Sprache« wiederfindet und »seine Ideologie der menschlichen Freiheit des Individuums« 21 korrigiert, dürfte da fehl am Platz sein, wo reales Handeln mit dem zum Ornament verkommenen Dichterwort vergessen gemacht wird. Doch Simons Verse sind mehr als psychologische Kompensation. Sie lassen nicht nur das factum brutum verschwinden, sie verstellen auch die Vermittlungen des Geschehens, deren Offenlegen gerade solches Treiben und Sprechen unterbindet. Diese Ornamentierung wird in der Szene I, 2 noch durchschlagen; die militanten Sansculotten sind das Korrektiv. Unter dem Versmaß und seiner Dissimulation decken sie die verschütteten gesellschaftlichen Vermittlungen auf: Simon. Ha Lucrecia! ein Messer, gebt mir ein Messer, Römer! Ha Appius Claudius! 1. Bärger. Ja ein Messer, aber nicht für die arme Hure, was that sie? Nichts! Ihr Hunger hurt und bettelt. Ein Messer für die Leute, die das Fleisch unserer Weiber und Töchter kaufen! Weh über die, so mit den Töchtern des Volkes huren! Ihr habt Kollern im Leib und sie haben Magendrücken, ihr habt Löcher in den Jacken und sie haben warme Röcke, ihr habt Schwielen in den Fäusten und sie haben Sammthände. Ergo ihr
20 21
Helmut Krapp, Der Dialog bei Georg Büchner. S. 15. Jancke, Georg Büchner. S. 188. 76
arbeitet und sie thun nichts, ergo ihr habt's erworben und sie haben's gestohlen; ergo, wenn ihr von eurem gestohlnen Eigenthum ein paar Heller wieder haben wollt, müßt ihr huren und beulen; ergo sie sind Spitzbuben und man muß sie todtschlagen. (56f.) Mit solcher Technik der Nebenhandlung und solcher Konzeption der Nebenfiguren, die dem großen Konflikt und ihren Parteien nicht zugehören, zieht Büchner vertikale Unterbrechungen in den sukzessiven Verlauf des Zitattextes. Er bricht das >erhabene Drama< diskontinuierlich auf und läßt die Brechungen zum Kommentar des Geschehens werden. Eingang und Ausgang dieser Volksszenen bilden nicht den Hintergrund der Heroen, aus dem diese dann hervortreten und von dem sie sich heroisch absetzen - wie im >EgmontGötz< und noch im >Wallensteinerhabene DramaGasse< bricht, wird er auch selbst gebrochen. Eine Differenz jedoch, die im Verlauf des Dramas eingeebnet wird; in der Szene HI, 10 sind die radikalen und parodistischen Frakturen verschwunden. Der Zitattext kommt mit der Wirklichkeit in jene schlechte Identität, die Merciers Wort von den Phrasen behauptet. Die an Simon deutlich werdende Schwäche der ästhetischen Gesten und Formen, Wirklichkeit nicht aufzuheben, sondern Negativität ertragbar zu machen und bruchstückhaft mit Sinn auszukleiden, diese Schwäche reflektiert Danton. Und er reflektiert sie zynisch, das heißt, er überbietet das Negative der bestehenden Wirklichkeit, indem er es als Negatives erkennt und doch affirmiert. Unglück und Langeweile werden im gelungenen Abtritt von der Lebensbühne vergessen gemacht. Über »die Leute« sagt Danton: 22
Hinderer, Büchner-Kommentar. S. 51; vgl.: Jancke, Georg Büchner. S. 187. 77
Ob sie nun an der Guillotine oder am Fieber oder am Alter sterben? Es ist noch vorzuziehen, sie treten mit gelenken Gliedern hinter die Coulissen und können im Abgehen noch hübsch gesticuliren und die Zuschauer klatschen hören. Das ist ganz artig und paßt für uns, wir stehen immer auf dem Theater, wenn wir auch zulezt im Ernst erstochen werden. (226)
Das Theater, das wir zum Abschied von der Negativität in Szene setzen, löst sich so vollständig vom Realen, daß nur noch der Tod mit seinem »Ernst« die Rückkehr des Realen leistet. Wir werden »im Ernst« erstochen, so Danton, und dieses »im Ernst«, das den afiktionalen Charakter des Todes markiert und das in den letzten Lebensaugenblick geschrumpfte, heteronome Reale anzeigt, ist von Büchner nachträglich in Dantons Replik eingefügt worden. Er unterstreicht damit die lebenslange Vorherrschaft der Aesthetica und Surrogate, die allein dazu dienen, das Sterben genußvoll werden zu lassen. Nur der Tod tanzt aus der Reihe, so wie in der Szene I, 2 die ökonomische Analyse die ästhetischen Gebärden, das »Gesticuliren« aufbricht. Die Schwäche der ästhetischen Formen selbst: an das Wirkliche nicht mehr heranzureichen, genießen die Dantonisten nun als Spiel. Mit den substanzlosen Surrogaten läßt sich, wenn sie schon keinen Sinn, sondern nur Funktion haben, trefflich die Zeit verbringen. So will Danton zwar handeln, aber »bloß zum Zeitvertreib, wie man Schach spielt« (34), meint Hérault. Das treibt den Gebärden und dramatischen Versatzstücken den Schein aus, auf Reales zu verweisen. In der Conciergerie werden dann idealistische Phrasen pathetisch zum besten gegeben, Geschichte bekommt noch einmal »Rock und Hosen an« (285), um desto wirksamer entheroisiert zu werden. Auf Dantons geschichtsoptimistische Vorgabe: Die Sündfluth der Revolution mag unsere Leichen absetzen wo sie will, mit unsern fossilen Knochen wird man noch immer allen Königen die Schädel einschlagen können (615),
folgt Héraults desillusionierender Kommentar: Ja, wenn sich gerade ein Simson für unsere Kinnbacken findet. (616)
Und auf den Satz: Wenn einmal die Geschichte ihre Grüfte öffnet kann der Despotismus noch immer an dem Duft unserer Leichen ersticken (620),
läßt sich Danton antworten: Hérault. Wir stanken bey Lebzeiten schon hinlänglich. Das sind Phrasen für die Nachwelt nicht wahr Danton, uns gehn sie eigentlich nichts an.
(621) 78
Das sind Schlußgebärden heroischer Protagonisten - die letzte etwa ganz im Stile Egmonts, der sich für die zukünftige Freiheit opfert - , die zur Pose verkommen sind. Die Geschichte hat den Heroismus verbraucht, die heroice
dicta
sind Wiederholungen, die Dekorationen verschlissen. Selbst Lacroix muß sich auf seine Schlußdeklamation unter der Guillotine ein: »Das war schon einmal da! wie langweilig« (644) gefallen lassen, und Hérault bringt am Ende »nicht einmal einen Spaß mehr heraus. Da ist's Zeit.« (651) Aber auch das Spiel mit den ästhetischen Formen beugt sich der Übermacht des Geschehens, die gerade erträglich gemacht werden soll. Frühzeitig erkennt das schon Camille, wenn er zu Danton beim Eintritt ins >Luxemburg< meint: Gieb dir nur keine Mühe. Du magst die Zunge noch so weit zum Hals heraushängen, du kannst dir damit doch nicht den Todesschweiß von der Stime lecken. (398)23 Die Strategien der Subjekte, das Negative zu benennen, reichen so wenig hin wie die Versuche, es durch die Pose auszuschalten. Gerade die spielerische Verwendung theatraler Versatzstücke, die ironische Ästhetisierung reicht nicht an das Geschehen heran, ist vielmehr vom selben Ungeist wie das herrschende Drama. Es ist ein Stück, das da geboten wird, und indem Danton »die Leute« in ihrem Unglück auffordert, den Auftritt mit großer Geste zu beenden und als Entschädigung f ü r ein beschädigtes Leben zu genießen, verweist er auf die Gewalt der Machthaber. Büchner macht das deutlich, indem er Danton und den Zeremonienmeister des Schlachtfestes, St. Just, die gleichen Sätze sagen läßt: Philippeau. Und Frankreich bleibt seinen Henkern? Danton. Was liegt daran? [...] Ob sie nun an der Guillotine oder am Fieber oder am Alter sterben? (226)
St. Just. Was liegt daran ob sie an einer Seuche oder an der Revolution sterben? (370)
Da wie dort derselbe zurichtende, objektivierende Blick des unbetroffenen und unberührten Dritten; der Blick aufs Opfer, der das Opfer nochmals hin-richtet. Ein aggressiv-sadistischer Blick im Stile Davids, der »im September die Gemordeten, wie sie aus der Force auf die
23
Siehe dazu: Volker Bohn, »Bei diesem genialen Cynismus«. S. 123.
79
Gasse geworfen wurden, kaltblütig zeichnete und sagte: ich erhasche die letzten Zuckungen des Lebens in dießen Bösewichtern.« (285) Daraus wird deutlich, daß sich hier alles ineinander verwischt; ein Ungeist waltet in Allem. Das Reale ist Fiktion; die Kunst Davids ihrerseits Reproduktion eines fiktionalisierten Realen, mit dem Blick der Macht gerüstet, im Schulterschluß mit St. Justs glasklarer Rationalität und Dantons Ästhetizismus. Dessen ästhetischer Genuß aber ist verklammert mit dem, was er erträglich machen möchte.
3.
»Puppen sind wir«
Nun ist Dantons Rolle als souverän, zumindest spielerisch über die entleerten ästhetischen Gebärden gebietender Akteur gebrochen. Die Übermacht des Geschehens wertet in >Danton's Tod< den pathetischen Abtritt, mit dem sich das Individuum noch einmal zum dramatischen Schauplatz machen möchte, drastisch um. Weder Heroe noch Spieler, sondern Marionette: Danton. Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst! Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen, man sieht nur die Hände nicht, wie im Mährchen. (339)
Diese Worte von den Puppen, die wir auf der Bühne sind, erklären das Subjekt weder zum handlungstreibenden Akteur noch zum ironischen Spieler; sie sprechen vielmehr von einer Inszenierung, in der dem Spieler alle Macht genommen ist. Geschichte, das ist jetzt eine fremde Choreographie; die dramatis personae stehen unter radikal fremder, >unbekannter Regieerhaben< sei; daß die Subjekte es, wie St. Just sagt, »durchführen«; daß sie die autonomen und moralischen Subjekte ihrer geschichtlichen Welt sind. Gegen solche Bedeutung der Marionettenmetaphorik: daß wir von einer radikal fremden Inszenierung um uns und in uns restlos durchdrungen sind - »nichts, nichts wir selbst« - , dagegen wird nun häufig Camilles Rede übers Theater angeführt.24 In Camilles Bemerkungen über Oper und Drama wird zwar die idealistische Kunst als Surrogatproduktion verworfen, ja, in der Kritik an der Kunst des Idealismus ist auch die Kritik an einer Wirklichkeit impliziert, die nach idealistisch-dramatischen Mustern produziert ist,25 allein Camille besitzt ein Gegengewicht gegen das Marionettenunwesen. Die Welt der Surrogate und Phrasen ist ihm nicht die ganze Welt. Weil Büchner sich aber in dieser Rede programmatisch selbst zu Wort gemeldet habe, müsse Camilles Apotheose dieses ganz Anderen auch als Position Büchners und damit als Grundaussage nicht nur seines Erstlingswerkes, sondern seines ganzen Œuvres angesehen werden. Für Camille hat die idealistische Kunst jeden Bezug zum Realen verloren. Das Drama ist eine künstliche und abstrakte Begriffsbewegung; ein Einkleiden und Einfärben von Puppen, die nach der Melodie der Idee tanzen: eine schlechte Kopie der »Schöpfung«. Zu die-
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Als Beispiel für viele: Theo Buck, »Man muß die Menschheit lieben«. Zum ästhetischen Programm Georg Büchners. In: Georg Büchner III, S. 15-35. Vgl. auch Henri Poschmann, Georg Büchner. S. 149. »Camille verwirft eine Kunst, deren ästhetisches Prinzip das Leben in der Unwahrhafügkeit der Schablonen erstickt Insofern die Kunst, die er meint, rhetorisch und idealistisch, also wirklichkeitsunangemessen verfährt, ist das öffentliche >Theater< der Politik in seine Verurteilung einbezogen.« Behrmann/Wohlleben, Büchner: Dantons Tod. S. 191. 81
ser Schöpfung verhalte sich die idealistische Kunst vampiristisch und parasitär; sie liefere Holzpuppen anstatt lebendiger Gestalten.26 In ihrer Künstlichkeit finde das erstarrte Drama ein Pendant nur noch in der Oper; dort werde die Stimme der Nachtigall erbärmlicherweise durch eine »Thonpfeife« surrogiert.27 Wie Wagner 1834 gegen die Erstarrung der Oper für das »wahre, warme Leben«28 optiert, so glaubt auch Camille jenseits der vertrockneten ästhetischen Formen an eine formlose, sich nicht zu Konturen verfestigende göttliche Realität. Diese ist für ihn herakliteisch im Ruß, und ist auch bei denen, die sie nicht wahrnehmen, »glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen« (285). Genau hier aber werten Danton und später Mercier um; hier widerspricht die Reihe des Schauspiel-Motivs. Dantons Replik von den »Puppen« und vom »Muß«, Merciers Satz von den Phrasen widerlegen die Annahme eines rauschhaft Realen jenseits der Ordnung des Revolutionsdramas bzw. des Zitattextes. In uns »glüht« es nicht, wie Camille meint, sondern es »hurt, lügt, stiehlt und mordet«; um uns gebiert sich nicht die Schöpfung »brausend und leuchtend«, vielmehr; »Blickt um Euch, das Alles habt Ihr gesprochen, es ist eine mimische Uebersetzung Eurer Worte.« (425) Den Figuren in >Danton's Tod< ist eine Struktur des Geschehens bereits vorgegeben und hat sich durch sie reproduziert. Das Wirkliche ist nicht ungeordnet und stromhaft, sondern vorgeordnet und strukturiert. Die Struktur des Schauspiels herrscht über die Akteure und durchherrscht sie; ist »in uns« und »um uns«. An die Stelle der Entscheidungen treten Vorentscheidungen, die als Zwang, als »Muß« den Akteuren fremd entgegentreten. Die Struktur des Schauspiels ist eine prästabilierte Disharmonie, ein vorgängiges Negatives. Und dieses Negative ist nicht mehr nur ein Negatives in der bestehenden Welt, sondern eines der bestehenden Welt. 29 Das heißt, das Negative, das 26
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Nicht anders Büchner in dem berühmten Brief an die Familie vom 28. Juli 1835. HA II, S. 444. Büchner verachtete die Oper. Noch im Januar 1837 schreibt er an Minna: »Du weißt, wie ich Frauenzimmer lieb habe, die in einer Soiree oder einem Concerte einige Töne todtschreien oder winseln.« HA II, S. 463f. Gutzkow sah in der Oper eine Auflösungserscheinung des Dramas, einen Ersatz »für das schmerzlich Unvermeidbare des Fatums«, aber »mit Cadenzen, mit Koloraturen«. In: Karl Gutzkow, Kritiken und Charakteristiken. Leipzig 1842, S. 228. Richard Wagner, Die deutsche Oper. In: Dichtungen und Schriften. Hrsg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt 1983, Bd. 5, S. 12. Vgl.: Theunissen, Negativität bei Adorno. S. 47.
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hier ansichtig wird, existiert nicht unter anderem, sondern es durchherrscht das Ganze der bestehenden Wirklichkeit. Danton ist nicht länger der Metazuschauer einer Aufführung, die unter »Klatschen« 30 vom Tod unterbrochen wird, sondern ist selber eingefaßt in die Negativität des Geschichtsverlaufs, dessen dramatischem Ablauf er als unfreiwilliger Spieler, als Marionette dient. Ein solches Negatives, wie es aus den Verwandlungen des Bildes von Schauspiel, von Darsteller, Handlung und Text herauszulesen ist, ist der von Büchner negierten Schillerschen Dramatik fremd. Zwar existiert in Schillers Dramatik und in der Schillerschen Ästhetik ein Negatives: die Übermacht der Natur, der physischen Gewalt und des kausalen Zusammenhangs; gleichwohl besteht für Schiller kein Zweifel, daß die moralische Freiheit des Selbst diese Fesseln abwerfen kann. Siegel dessen ist - und dem war der Büchner der SchüleiTeden über den >Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer< und über >Cato< noch verpflichtet - der heroische, in der Selbstbestimmung zur Sittlichkeit sich gründende Tod. Zwar hat Schiller Übermacht unter dem Titel des »erhabenen Gegenstandes« großartig definiert: »Wir beziehen ihn [den erhabenen Gegenstand. R. N.] entweder auf unsere Fassungskraft und erliegen bei dem Versuch, uns ein Bild oder einen Begriff von ihm zu bilden: oder wir beziehen ihn auf unsere Lebenskraft, und betrachten ihn als eine Macht, gegen welche die unsrige in nichts verschwindet« 31 ; trotzdem verliert sie durch die moralische Freiheit ihren radikalen Charakter. Zwar bestimmt die Übermacht bei Schiller das >um unsin uns< bleibt der Schillerschen Übermacht kategorial entzogen; oder, mit den Worten Lessings, die Schiller als zentrale These an den Beginn des Aufsatzes >Über das Erhabene< stellt: »Kein Mensch muß müssen«. 32 Bei Büchner kann sich das Selbst nicht länger von der Übermacht ausnehmen; es ist nicht nur beherrscht, sondern durchherrscht. Es 30
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»Klatschen« bedeutet auch in Büchners Briefen die Affirmation eines schlechten Stückes. So im Brief vom Dezember 1832 aus Straßburg an die Familie, HA II, S. 415: »/.../ das Ganze ist doch nur eine Comödie. Der König und die Kammern regieren, und das Volk klatscht und bezahlt.« Vgl. auch: Brief vom 1. Januar 1836 aus Straßburg an die Familie. HA II, S. 451. Über das Erhabene. In: Sämtliche Werke. Nach der Ausgabe letzter Hand unter Hinzuziehung der Erstdrucke und Handschriften. Red. Jost Perfahl. München 1968, Bd. 5, S. 219. Über das Erhabene. S. 215.
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handelt in einer Weise, in der es nicht handeln will. Danton findet sich vom >Muß< ergriffen - Büchner knüpft hier vielleicht an den >Hofmeister< von Lenz an -, 3 3 das gerade »in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet«. Ist das Negative derart in das Selbst eingezogen, dann ist auch der Tod nicht mehr die Überwindung der Übermacht und Beweis für die Stärke der moralischen Natur. Danton: Da ist keine Hoffnung im Tod, er ist nur eine einfachere, das Leben eine verwickeitere, organisirtere Fäulniß, das ist der ganze Unterschied! (517)
Über die Marionettenmetapher drängt ein radikal Negatives in Büchners Revolutionsdrama, das weder auf den Tod begrenzt noch durch ein »glühendes, brausendes und leuchtendes« Reales ausgetauscht werden kann. So überherrscht das Negative das dramatische procedere des Zitattextes, indem es ihm vorhergegangen ist (»Das war dieß Muß.«) und auch über den Untergang des Helden hin sich »in ewigem Hunger« (222) fortsetzt. Deshalb ist das Kommende, eben weil es kein Neues ist, vorhersagbar. So, wie Lacroix bereits im ersten Akt »alles sieht«, nämlich: »Robespierre und das Volk werden tugendhaft seyn, St. Just wird einen Roman schreiben und Barrere wird eine Carmagnole schneidern und dem Convent das Blutmäntelchen umhängen« (165), so kann Danton sagen: Die Freiheit und eine Hure sind die kosmopolitischsten Dinge unter der Sonne. Sie wird sich jezt anständig im Ehebett des Advokaten von Arras prostituiren. Aber ich denke sie wird die Clytemnaestra gegen ihn spielen, ich lasse ihm keine 6 Monate Frist, ich ziehe ihn mit mir. (612)
»Die Clytemnaestra gegen ihn spielen« bestimmt die Geschichte über den Aufführungscharakter (»spielen«) und die Übermacht (»gegen ihn«) hinaus als mythisch. Wie die Heroine des Aischyleischen Dramas gilt die Freiheit altes Unrecht ab und zieht neue Untat nach sich, ist doch mythische Unausweichlichkeit definiert »durch die Äquivalenz zwischen jenem Ruch, der Untat, die ihn sühnt, und der aus ihr erwachsenden Schuld, die den Fluch reproduziert.«34 Dieser »Schuldzusammenhang als Gesetz«35 verstrickt Danton und Robespierre ineinander; Dantons »ich ziehe ihn mit mir« spricht das aus. Unter dem dramatischen Konflikt sind beide ineinander verschlun-
33 34 35
Siehe: Hinderer, Büchner-Kommentar. S. 107f. Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. S. 77. Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. S. 77.
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gen; die Scheidung von Allgemeinem und Besonderem, Notwendigkeit und Freiheit, ja noch von Opfer und Henker lösen sich auf: Robespierre hat die »Quaal des Henkers«, Christus hatte die »Wollust des Opfers« (213). Weil aber Robespierre und Danton im Gegensatz zu denen, die auf der Bühne bleiben, noch bewußt ist, daß sich das Unrecht gegen ihre Betreiber perpetuiert und das Opfer ohne Sinn bleibt, sprechen sie untereinander dieselbe Sprache der Trauer. Robespierres Satz: Wahrlich des Menschensohn wird in uns Allen gekreuzigt, wir ringen Alle im Gethsemanegarten im blutigen Schweiß, aber es erlöst Keiner den Andern mit seinen Wunden (213),
läßt sich denn auch, wie Walter Hinderer betont, »mühelos in den Kontext Dantons einfügen«. 34 In dieser Trauer schließt sich das Urteil über das >erhabene DramaDanton's Tod< geführt wird, modern.
4.
Metaphorik
Das Drama um die Dantonisten mündet in ein Delta der Metaphern, in eine chorische Klage, die eben diese Reflexion des Tragischen zur Sprache bringt, daß das Geschehen dem Strukturzwang eines Schauspiels unterliegt und daß es, einmal von seinen idealistischen Überformungen befreit, sich als sinnfeme Aufführung fremder Herrschaft zu erkennen gibt. Das Revolutionsspektakel ist nurmehr ein Schauspiel des Sterbens, an dem sich anonyme Inszenatoren, »seelige Götter« ergötzen. Ist für Robespierre die Revolution in konventioneller Metaphorik ein »Schiff«, das geführt, »Rosse« (185), die gelenkt sein wollen, ist
36 37
Hinderer, Büchner-Kommentar. S. 50. Adorno, Ästhetische Theorie. S. 49.
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für St. Just das revolutionäre Geschehen »Wasserfluthen« (370) vergleichbar und spricht Collot von der »Lava der Revolution«, so ist diese Metaphorik nicht nur falsch, weil sie konventionell und etwa auch bei Forster, van Halem, Posselt und Görres zu finden ist, sondern deshalb, weil sie die Übermacht der Revolution in das alte Bild der Übermacht der Natur zurückblendet. Diese Übermacht versucht Philippeau zu Beginn der großen Schlußrepliken der Dantonisten in der Conciergerie geradezu im Stile Schillers zu überwinden. Für ihn ist die Revolutionstragödie ein Konzert, das zwar innerweltlich dissonant klingt, ein »Ineinanderschreien« und ein »Zeter«, für das es aber ein »Ohr giebt«, welches in dem Getöse einen »Quell von Harmonien« zu hören vermag. (625) Er verwendet hier einen Schillerschen Topos: Versöhnung mit dem unleidlichen Ende stelle sich dann ein, wenn der Tod im Bewußtsein einer überwaltenden Instanz affirmiert werde; nur so zeuge der Mensch von der »teleologischen Verknüpfung der Dinge«: Das geschieht, wenn selbst die Unzufriedenheit mit dem Schicksal hinwegfällt, und sich in die Ahndung oder lieber in deutliches Bewußtsein einer teleologischen Verknüpfung der Dinge, einer erhabenen Ordnung, eines gütigen Willens verliert.
Die »Ahndung« leiste dann, den einzelnen Mißlaut in der großen Harmonie aufzulösen. 38
Philippeau söhnt sich mit dem Geschichtsverlauf aus, weil der Inszenator und Zuhörer, der deus absconditus den Sinn bewahrt, 39 weil dessen Ohr den harmonischen Zusammenklang der menschlichen Instrumente verbürgt. Der Metapher vom harmonischen Konzert entgegnet Danton: Aber wir sind die armen Musicanten und unsere Körper die Instrumente. Sind die häßlichen Töne, welche auf ihnen herausgepfuscht werden nur da um höher und höher dringend und endlich leise verhallend wie ein wollüstiger Hauch in himmlischen Ohren zu sterben? (626)
Die anderen Repliken Dantons, H6raults und Camilles breiten ähnliche metaphorische Tableaus aus: der Vergleich mit »Ferkeln«, die mit »Ruthen todtgepeitscht« (627) werden, mit Kindern, die in den »glühenden Molochsarmen dießer Welt gebraten und mit Lichtstrahlen ge38 39
Schiller, Über die tragische Kunst In: Sämdiche Werke. Bd. 5, S. 152. Nur Wolfgang Wittkowski hat versucht, Philippeaus Replik emsthaft als Büchners Position zu vertreten. Vgl.: W. W., Georg Büchner. S. 181.
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kitzelt werden« (628), mit den »Goldkarpfen«, denen beim Sterben zugeschaut wird (629). Die Subjekte sind allemal wehrlos einer Übermacht ausgesetzt, die sich an ihrem Verenden erfreut; sadistische Tableaus, in denen die Organisatoren ihr Werk synästhetisch in Farbe (»Farbenspiel des Todeskampfes« [629]), Geschmack (das Fleisch der »Ferkel« [627]) und Klang (das Lachen der Kinder; der Ton der Instrumente [626; 628]) genießen. Das möchte ich exkursorisch an dem Bild vom mißbrauchten Instrument, das Danton gegen Philippeaus Metapher von der großen Harmonie verwendet, ausführen. Denn dieses Bild besitzt eine innerdramatische und außerdramatische Geschichte und Bedeutung. Zunächst, innerdramatisch, verwendet Danton die Metapher des Musikinstruments als Bild der Langeweile: »So ein armseeliges Instrument zu seyn, auf dem eine Saite immer nur einen Ton angiebt!« (221) Der Heroe, von der Revolution verabschiedet (»Ich hab' es erreicht, die Revolution sezt mich in Ruhe, aber auf andere Weise, als ich dachte.« [221]), bezeichnet mit dieser Metapher die Eintönigkeit, die ihm nach dem Verlust geschichtlicher Zeit und Zeitigung bleibt. Später dann, nach der Verhaftung, kommt er auf das Bild vom Instrument zurück und verändert es. Der Körper wird jetzt zum Instrument, das der Tod zerstört: »Mein lieber Leib [...]. Morgen bist du eine zerbrochene Fiedel, die Melodie darauf ist ausgespielt.« (570) Die Metapher vom »zerbrochenen« Instrument stammt aus der christlichen Ikonographie, die in >Danton's Tod< umgewertet wird. Die mittelalterliche Lehre von der Musik unterscheidet drei Formen der Musik: die música coelestis, die música mundana und die música humana oder instrumentalis. Ihre Wertigkeit ist absteigend. Die himmlische Musik beruht auf Zahlengesetzen, die in der Ordnung des Seins gegründet sind; die weltliche Musik ist die der menschlichen Stimme und verbindet Mikrokosmos und Makrokosmos; die Instrumentalmusik ist die hörbare, praktische und auf sinnlicher Erzeugung und Wahrnehmung beruhende Musik. Vor der música coelestis muß die música instrumentalis vergehen; die Lauten, Geigen, Orgeln sind nichts gegen das göttliche Gesetz der Zahl. Raffael hat das in seinem Bild der >Heiligen Cäcilie< dargestellt. Mitten im Hochzeitsfest hört die Schutzpatronin der Musik den göttlichen Gesang. Im ekstatischen Hören der música coelestis gleitet ihr das Orgelportativ zu Boden zu anderen, bereits zerbrochenen Instrumenten. An ihnen erweist sich die Überlegenheit der göttlichen Musik: sie zerbrechen zugleich vor der und als Zeichen für die música coelestis. 87
Dieses Zeugnis des zerbrochenen Instruments für die große Harmonie ist in >Danton's Tod< doppelt verwandelt. Einmal verstummt die »morgen« zerbrochene »Fiedel«, auf der die Melodie ausgespielt ist, nicht vor der himmlischen Musik, sondern vor dem Tod, der Danton »so unverschämt nahe kommt und so aus dem Hals stinkt und immer zudringlicher wird« (506). Zum anderen läßt Büchner seinen Danton die Metapher vom zerbrochenen Instrument weiter variieren ins Bild vom mißbrauchten Instrument der späten Repliken. Der Körper ist ein Musikinstrument, auf dem Töne nur »herausgepfuscht« werden; der Mißklang erfreut »himmlische Ohren«. Bezeichnete die »zerbrochne Fiedel« das Ende der Funktion des Instrumentes, seine Vergängnis, so ist in der variierten Metapher ein absolutes Ende nicht abzusehen. Der Mißbrauch, der mit Instrument, Kind und Tier getrieben wird, zeichnet sich durch seine Dauer aus. An die Stelle von Vergängnis tritt das Verhängnis: Ist denn der Aether mit seinen Goldaugen eine Schüssel mit Goldkarpfen, die am Tisch der seeligen Götter steht und die seeligen Götter lachen ewig und die Fische sterben ewig und die Götter erfreuen sich ewig am Farbenspiel des Todeskampfes? (629)
Der Schmerz, den Payne zum Unmaß aller Dinge erklärt und der von Laflotte zur Rechtfertigung der Denunziation gemacht wird (382; 461), - der Schmerz habe ein »feineres Zeitmaaß, er zerlegt eine Tertie«, so Laflotte (461) - dehnt sich hier zur Ewigkeit. Die dreimalige Wiederholung des »ewig«, die die Unaufhörlichkeit des Leidens unterstreicht, unterscheidet dann auch Camilles Replik von den Parallelstellen bei Leopardi, Wieland, Young, Tieck, Fichte und Shakespeare. 40 Gegen diese >instrumentalisierende< Verfügung, welche die Menschen 40
Siehe: Karl Vietor, Georg Büchner. Politik, Dichtung, Wissenschaft. S. 107; Thomas M. Mayer, Revision I, S. 310f.; Hinderer, Büchner-Kommentar. S. 126. D a die Forschung die Parallelen zu Fichte und Shakespeare bisher nicht gesehen hat, seien die Stellen hier angeführt. V o n Shakespeare, der das Bild häufig verwendet, sei nur auf den >Lear< verwiesen, w o es heißt: A s flies to wanton boys, are w e to th' Gods; They kill us for their sport. (IV, 1, 36f.) Die Fichte-Stelle aus der B e s t i m m u n g des MenschenübertragenDanton's Tod< als die Anatomie dieses Zitattextes, so sind im Drama mehrere Schichten zu unterscheiden. Auf der ersten Ebene wurde der Text als sozialhistorisch dekodierbares Dokument gelesen; auf einer zweiten Ebene wurde die Struktur dieses Textes, sein ästhetisches Programm, zum Gegenstand der Darstellung. Damit war die Gewichtung der Büchnerschen Dekomposition von der Kritik des Textes qua Kontext verlagert auf die Form des Textes selbst, auf die Geschichte als Schauspiel. Durch unterschiedliche Operationen - durch die sprachliche Entheroisierung, durch die ironische Indifferenz, durch die parodistische Konstruktion Simons, durch die Metaphorik vom Götterschauspiel - wird das Stück als >erhabenes Drama< demontiert. Es zerfielen dabei die Voraussetzungen der Tragödienform; das dramatische Individuum besitzt nicht die
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42
Eine analoge Umwendung christlich-soteriologischer Muster weist Heinrich Anz im >Lenz< an der Liedmontage »Leiden sey all mein Gewinst« nach. In: GBJb 1/1981, S. 160-168. Thomas M. Mayer, Revision I. S. 311.
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Möglichkeit, sich zur Handlung zu entscheiden, sondern es wird in den Ablauf hineingerissen; es erschließt sich auch nicht im Tod, sondern wird als Ding, Tier oder Kind, mißbraucht. An die Stelle des klarsichtigen, die Gestrüppe des Endlichen auflösenden Autors tritt ein Sardanapal der Geschichte. In großer Entfernung zum idealistischen Drama Schillers kommt damit ein Negatives in den Blick, von dem sich die Akteure durchherrscht und instrumentalisiert sehen; eine Übermacht, vor der die Schillerschen Heroen gerade ihre moralische Freiheit und autonome Distanz beweisen wollten. Auf einer dritten Ebene nun wird die Negativität als Negativität der Sprache verstanden. In Merciers Satz von den Phrasen, welche Wirklichkeit geworden sind, findet die dramatische Reflexion ihren umfassendsten Ausdruck. Sie zieht die Konsequenzen aus der Zwiespältigkeit der Metaphorik, also daraus, daß das metaphorische Sprechen das Heteronome der Geschichte aufschließen will und dafür eine unkonventionelle Metaphorik verwendet, die ihrerseits konventionelle Züge trägt. Die metaphorische Benennung der Ohnmacht wird von Mercier durch Sprachkritik ersetzt. Die Tragödie der Revolution ist für ihn die Tragödie der Sprache der Revolution, und durch seine Sätze von den Phrasen ist diese Sprachreflexion deutlich die dominante Ebene des Dramas. Sie ist sicherlich mit den anderen Ebenen verschlungen, erklärt diese neu und läßt sich aus ihnen erklären. Aber gerade weil die Negativität, die Mercier vor Augen hat, jene Negativität noch überbietet, welche die Dantonisten in den späten Repliken formulieren, trennt sich die Sprachreflexion dominant von den anderen Ebenen. Daß die Negativität in der Sprache liegt, die da gesprochen wird, heißt: die Negativität liegt in der Ordnung und im Code der Revolutionssprache. Mercier legt offen, was für gewöhnlich ein »Hintergrundsphänomen« bleibt: den Strukturzwang der Sprache, der für den Sprecher »außerhalb seines kritischen Bewußtseins und seiner Kontrolle«43 liegt. Aufgedeckt wird der Zwang und die Gewalt sprachlicher Strukturen mit ihren Kanalisierungen, Selektionen, Kontrollen, Absorbierungen; »Systeme«, die »heut zu Tag Alles in Menschenfleisch« (426) arbeiten. Deshalb ist in diesen konkreten, von Mercier kritisierten und von Büchner zitierten Sätzen die Negativität durch keine Übersetzung oder Übertragung mehr einzuholen; negativ sind der Code und 43
Benjamin Lee Whorf, Sprache Denken Wirklichkeit Reinbek bei Hamburg 1963, S. 10.
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die Ordnung der Sprache, die in den konkreten Sätzen realisiert wird. Es reicht deswegen nicht hin, die Sprachkritik in >Danton's Tod< allein aus der Metaphysikkritik des Dramas abzuleiten, wie das Silvio Vietta in seinem Buch über Neuzeitliche Rationalität und moderne literarische Sprachkritik< versucht, noch im Stile von Cornelie Uedings >Denken Sprechen Handeln< das Sprachproblem in der gesellschaftlich verhinderten »Vermittlung zwischen dem als richtig Erkannten und seiner Überführung in richtiges, d.h. aber veränderndes Handeln«44 zu sehen. Merciers Sprachkritik lenkt vielmehr den Blick auf die Verwendung, Organisation und Verwaltung der Sprache als System, verweist darauf, daß die Revolutionssprache sich gegen andere Möglichkeiten des Sprechens hegemonial durchsetzt und Wirklichkeit konstituiert. Merciers Kommentar leistet die negativistische Begründung der Zitattechnik. In >Danton's Tod< wird deshalb so exzessiv zitiert, weil die Negativität nicht anders zu fassen ist als in der Sprache, in der und durch die sie herrscht. Endlich erhält durch die Dominanz der Sprachkritik auch der Begriff des Zitattextes erst seinen vollen Sinn. Denn als Zi'faitext bietet er den »Skandal des Wörtlichen«; 45 als Zitatrexr verweist er auf eine Ordnung und einen Code. Die Vorentscheidungen, die das Handeln der Revolutionäre und den Gang der Revolution bestimmen, sind im System der Sprache, die da gesprochen wird, zu suchen.
44 45
Comelie Ueding, Denken Sprechen Handeln. S. 8f. Roland Barthes, Mythen des Alltags. S. 57. 91
TEIL III
»... die Sprache zu einer herrschenden machen ...«
1. Sprachbewußtsein und Sprachkritik Büchners sprachreflexive und sprachkritische Wende fällt in eine Zeit ausgeprägten Sprachbewußtseins. Gerade die intensiven Bemühungen um die Sprache hält Friedrich Sengle für das spezifische Kennzeichen von Kunst und Kultur zwischen Restauration und Revolution. 1 Tatsächlich wird in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durch die Grimms, durch Friedrich Schlegel, Adam Müller, Wilhelm von Humboldt und Carl Gustav Jochmann Sprache als grammatisches und lexikalisches, als ethnologisches, politisches und weltkonstituierendes Mittel reflektiert und erforscht. Ebenso weist Sengle in der Literatur dieser Zeit einen extensiven Hang zu Sprachexperimenten nach: von den Makrostrukturen literarischer Texte in den polystilistischen und stilparodistischen Dramen Nestroys bis hin zu Spracherweiterungen geradezu anarchischen Ausmaßes auf der Ebene des einzelnen Wortes. Dies gesteigerte Sprachbewußtsein hängt nach Sengle mit dem Verblassen der Geltung der klassischen Schreibweise und der Schulrhetorik zusammen. Das trifft für Büchner, dessen Schulreden und -aufsätze noch ganz der Rhetorik verschrieben sind, sicher zu: Von den Schülerarbeiten bis in die Studienzeit ist Büchners Verhältnis zur Rhetorik affirmativ, spätestens seit >Danton's Tod< wird es zunehmend kritischer, distanzierter, komplizierter, ambivalenter. 2
Ja, es läßt sich feststellen, »daß Büchner so etwas wie einen >Umschlagpunkt< von Rhetorikgebrauch zu Rhetorikkritik markiert.« 3 Dies um so mehr, als die traditionelle Rhetorik eben jenem dramatischen Idealismus eng verbunden ist, der für den Autor von >Danton's Tod
klassische Schreibweise< und die Rhetorik zutiefst miteinander verwandt sind. Der Rhetor trennt, wie der klassische Dichter, den Gedanken von der Formulierung - »zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht« (285), wie Camille in >Danton's Tod< sagt und verwendet Sprache als zugleich operatives und omamentales Instrument. 8 Beiden, der Redekunst wie der klassischen Schreibweise, geht es allein um die Persuasión, nicht um die »Struktur der Ausdrucksweise«. 9 Historisch verlieren beide, weil sie im Grunde eine Schreibweise darstellen, zugleich ihre Bedeutung. Diese eine Schreibweise ist nach Barthes bourgeois. Ihre Forderung nach clarté und nach universaler Transparenz, die eine »radikale Eliminierung jeder anderen Möglichkeit der Sprache«10 bedeute, beginne bereits mit der Grammatik von Port Royal (1660) und herrsche auch in der Revolution und über sie hinaus. Die politische Autorität, der Dogmatismus des Geistes, die Einheit der klassischen Ausdrucksweise sind also die Figuren der gleichen historischen Bewegung. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Revolution nichts an der bürgerlichen Schreibweise geändert hat [...] Diese bürgerliche Schreibweise hat ohne Bruch bis 1848 bestanden, ohne auch nur im ge-
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7
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HA II, S. 444. Ziüert nach Bergemann (1958), S. 553. Erinnerung an einen »außerordentlichen Menschen«. Zwei unbekannte Rezensionen von Büchners Jugendfreund Georg Zimmermann. Hrsg. von JanChristoph Hauschild. In: GBJb 5/1985, S. 333. Sengle, Biedermeierzeit. Bd. 1, S. 562. Vgl. Schaub, Georg Büchner: Poeta rhetor. S. 182. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur. S. 66f. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur. S. 67. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur. S. 68.
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ringsten durch die Revolution erschüttert zu werden, die dem Bürgertum die politische und soziale Macht gab, die geistige aber nicht zu geben brauchte, da es sie seit langem besaß.11
Diese Sprache hat Büchner vor sich; diese Sprache wird ihm in der Rhetorik der Revolutionsheroen zum Gegenstand. In >Danton's Tod< bricht die in der klassischen Rhetorik Quintilians vorausgesetzte Harmonie von wohlgeordneter Rede und sittlichem Redner, dem vir bonus auf. Aber mehr noch, die Rhetorik ist in Büchners Drama der Macht verbunden, die Macht rhetorisch. Büchner interessiert nicht, ob der einzelne Redner die Rede willkürlich zur Lüge und Verführung verfälscht. Seine Sprachkritik richtet sich vielmehr auf die Organisation, Verteilung und Inszenierung der Rede - somit als Sprache und Schreibweise verstanden - , weil er darin eine Organisation, Verteilung und Inszenierung von Macht entdeckt. In dem Sinne läßt sich sagen: Uns scheint jedoch, daß das eigentlich dramatische Ereignis vor allem die Sprache selbst sei [...]. Im >Danton< ist das Wort nicht mehr nur das Medium der Handlung, sondern ist gleichsam der Haupthandelnde selbst. Die Sprache ist - über das Rhetorische hinaus - agitatorisch.12
Neben Büchners dramatischer Reflexion und Kritik sprachlicher Negativität existiert um 1830 eine liberale politische Sprachkritik, die Carl Gustav Jochmanns. 13 In Jochmanns Buch >Über die Sprache< von 1828 formuliert sich, nach der These Werner Krafts, deshalb eine >politische< Sprachkritik, weil sie im Gegensatz zum Humanismus Humboldts die Humanität nicht von der Sprache trennt, sondern sie gerade in der Sprache findet. In Jochmanns Sprachbuch, so Kraft, avanciere Sprache zum »regulativen Prinzip« mit dem Ziel, »die verborgene Wahrheit an den Tag zu bringen.« 14 Was aber wird bei Jochmann als Sprache kritisch vorstellig und worin besteht ihr regulatives Prinzip? Tatsächlich liest Jochmann den Zustand der Gesellschaft - wie Büchner die Negativität der Französischen Revolution - an ihrem Verhalten zur Sprache ab. Sprache ist ihm dabei, ähnlich wie für Humboldt, das Medium der Verständigung über Mitwelt und Umwelt. Quasi basisdemokratische Verständigungsprozesse sieht Jochmann in 11 12 13
14
Barthes, Am Nullpunkt der Literatur. S. 69. Fritz Heyn, Die Sprache Georg Büchners. S. 12f. Auf Jochmann verweist auch: Cornelie Ueding, Denken Sprechen Handeln. S. 44f. Werner Kraft, Carl Gustav Jochmann und sein Kreis. Zur deutschen Geistesgeschichte zwischen Aufklärung und Vormärz. München 1972, S. 64.
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England erfüllt, in Deutschland aber unter »Verordnungen und Berichten«, unter dem »Commandorufe und seinem Widerhalle« 15 verschüttet. Gegenläufig zu Grimms Wörterbuch und darin Büchner und Humboldt verwandt, denkt Jochmann Sprache als Rede, als textliche Ordnung, nicht als prägrammatisches Phänomen. Was Jochmann nun konkret fordert, ist eine Sprache, die in öffentlicher und unzensierter Rede Rechtsnormen ausdiskutiert, die auf Grund ihrer Verständlichkeit Wahrheit aussprechen und die dank ihrer emotionalen Werte dem Gefühlsleben des Subjekts Ausdruck geben kann. Eine zentrale Aufgabe fällt dabei der Öffentlichkeit zu. Im Kampf der Meinungen, im Spiel von Vormächten und Unterlegenheiten garantiert sie, »daß es in der That keine bessere Meinung geben kann, als eben die herrschende.«16 Dabei hat die öffentliche Rede, die gegen Befehl und Kommando definiert ist, ihr Vorbild am freien Markt: Sprache soll Informationen austauschbar werden lassen wie Straßen die Lieferungen von Waren ermöglichen. Der offene Tausch der Meinungen, nicht Paragraph und Befehl, fungiert »als überall gangbares Mittel eines europäischen Wortverkehres«. 17 Dessen Vorbild findet Jochmann in der französischen Sprache. Was Jochmann derart gegen den Sprachdirigismus einklagt, ist das bürgerliche Recht der freien Rede. Als positives Modell dient dabei eine funktionale, verständliche und transparente Sprache, reines »Hülfsmittel«, das gut beherrscht sein will und das explizit Sache des Bürgertums ist: »Herren und Knechte« nämlich, so weiß Jochmann, »sind selten gute Sprecher«.18 Korrekte Sprache hingegen verbürgt gute Sitten; eine Forderung, der wiederum nur das Bürgertum nachkommt. Maßhalten gilt in allen Lebensbereichen, ist Garant der Prosperität und des Anstandes, eines »geordneten bürgerlichen Lebens«; Maßhalten gilt auch und vor allem für die Sprache: In den höchsten und in den niedrigsten Ständen eines Volkes zeigen sich die ergiebigsten Quellen ihrer [der Sprache. R. N.] Verunstaltung; oben, in dem Canzeleistyl der Machthaber und ihrer Verwaltungs- und Regierungsbehörden, und unten, in dem nicht minder werthlosen Redeschlendrian des Pöbels bildet und bewahrt sich was immer im Ausdrucke den Ge15 16
17 18
Carl Gustav Jochmann, Über die Sprache. Heidelberg 1828, S. 197. Carl Gustav Jochmann's von Pemau Reliquien. Aus seinen nachgelassenen Papieren. Gesammelt von Heinrich Zschokke. Hechingen 1837, Bd. 2. Darin der bekannte Aufsatz >Über die Öffentlichkeit, S. 20. Jochmann, Über die Sprache, S. 201. Jochmann, Über die Sprache. S. 221. 95
schmack beleidigt, oder den Sinn entstellt, und Sprachreinheit ist wie Sittenreinheit und aus dem nemlichen Grunde, in der Mitte, ist in demjenigen Stande zu suchen, der von den Versuchungen des Ueberflusses und den Demiithigungen des Mangels gleich weit entfernt, sich zwar anzustrengen, aber seinen Anstrengungen mit dem Leben dann auch des Lebens Genuß und Würde zu danken hat; in jenem Mittelstande, von dem wir überall die ersten Funken des Lichtes und die ersten Bewegungen eines geordneten bürgerlichen Lebens, und in dem Maaße wie er die ihn umgebenden roheren Bestandteile der Gesellschaft veredelnd in sich aufnimmt, alle Gesittung der Gesellschaft ausgehen sehn. 19
Die Sprachkritik Jochmanns setzt korrektes Sprechen und bürgerliche Ordnung in eins. Sie definiert sich durch die Opposition zum Befehl und durch den Ausschluß all dessen, was die Transparenz der Sprache nicht besitzt: die Entstellung der Information und die Beleidigung des »Geschmacks« durch den »Redeschlendrian«. Weit entfernt, Rhetorik zu kritisieren, fordert Jochmann endlich, wie Adam Müller, eine wahre und demokratische Rhetorik. Das Ziel dieser Sprachtheorie ist der freie Austausch der Reden, ihr Garant die Rednerbühne und die freie Presse. Und genau hier beerbt Jochmann die Französische Revolution und ihre bourgeoise Schreibweise: Die Nationalversammlung seit 1789 waren die Academien, in welchen diese neue Schule der französischen Literatur sich bildete, die Rednerbühnen lieferten den Erzeugnissen der Presse Form und Stoff, und die Gabe zu schreiben, innigst verwandt mit dem Rechte zu sprechen, wird so lange dasein als dieses, und länger nicht.20
Wie weit diese Theorie einer ökonomischen, transparenten und moralischen Sprache tatsächlich der Ordnung der Revolutionssprache entspricht, soll weiter unten gezeigt werden. Deutlich wird aber schon jetzt, wie stark die bürgerlich-liberale Sprachkritik an die Rhetorik jener Rhetoren anknüpft, die in >Danton's Tod< als Generalphraseure sprachlich die gesellschaftliche Negativität erzeugen; deutlich wird auch, wie instrumental Sprache dabei gedacht wird und wie stark das korrekte Sprechen zugleich zu einem moralischen Wert erklärt wird. Das rein formale Recht der Redefreiheit zum Statthalter des Guten zu erklären, dagegen hat Büchner sich entschieden gewehrt. Büchner dachte Sprache und Sprachfreiheit nicht losgelöst von den materiellen Bedingungen der Gesellschaft. August Becker gegenüber äu19 20
Jochmann, Über die Sprache. S. 221f. Zitiert nach Kraft, Carl Gustav Jochmann. S. 375. Krafts These, Jochmann sei ein Vorläufer von Karl Kraus, scheint mir ganz unhaltbar. Vgl. dazu das Kapitel >Statt eines SchlußwortesDanton's Tod< Macht und Rede verknüpft sind, wie sich die Herrschaft einer negativen Sprache - der Phrase - durchsetzt, was sie bedeutet und wie sie funktioniert: w i e sie alles Sprechen in Büchners Stück organisiert, kanalisiert und schließlich infiziert, soll im folgenden dargestellt werden.
2. Dialog/Code 2.1.
Sprache im Drama wird seit seinen frühesten Anfängen, seit die
Rede von Chor und Chorführer in die Wechselrede von Protagonist und Antagonist übergegangen ist, mit dem Dialog gleichgesetzt. In Hegels Ästhetik nimmt der Dialog, nicht die Sprache, für das Drama entscheidende Bedeutung an: Das eigentlich Dramatische ist das Aussprechen [Herv. R. N.] der Individuen in dem Kampf ihrer Interessen und dem Zwiespalt ihrer Charaktere und Leidenschaften. 22 Und an anderer Stelle: Die vollständig dramatische Form aber drittens ist der Dialog. Denn in ihm allein können die handelnden Individuen ihren Charakter und Zweck sowohl nach Seiten der Besonderheit als in Rücksicht auf das Substantielle ihres Pathos gegeneinander aussprechen [Herv. R. N.], in Kampf geraten und damit die Handlung in wirklicher Bewegung vorwärtsbringen. 23 21
22 23
Zitiert nach Bergemann (1958), S. 463. Anläßlich der »Gesetz-Entwürfe über die Presse« in Frankreich nach dem Attentat Fieschis auf Louis-Philippe schreibt Büchner: »Die Regierung ist sehr unklug; in sechs Wochen hat man die Höllenmaschine [Guillotine. R. N.] vergessen, und dann befindet sie sich mit ihrem Gesetz einem Volke gegenüber, das seit mehreren Jahren gewohnt ist, Alles, was ihm durch den Kopf kommt, öffentlich zu sagen.« (Brief vom Anfang August 1835 an die Familie. HA II, S. 446.) Büchner spricht hier zwar von einem öffentlichen Reden, das an die regulative Öffentlichkeit Jochmanns erinnern könnte. Allein, es geht hier nicht um den regulierenden »Kampf der Meinungen«, sondern offensichtlich um ein souveränes, gerade nicht an die Öffentlichkeit in der Form der Presse gebundenes Sprechen des Volkes. Hegel, Ästhetik. Bd. 15, S. 491. Hegel, Ästhetik. Bd. 15, S. 493.
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Entsprechend ließe sich für den Zitattext, der ein Drama sein will, argumentieren: Will Robespierre sein tragödiales Gesetz durchführen, soll der Gang der Geschichte tatsächlich dramatische Konturen gewinnen, dann muß er versuchen, Danton in die dialogische Struktur der Wechselrede einzubinden. Danton muß, um die Handlung »wahrhaft vorwärtszubringen«, wie Hegel sagt, den Dialog im Rahmen des Revolutionstheaters annehmen und sich auf der Bühne aussprechen. Schon Camille hatte ja mit seinem Satz: »Danton du wirst den Angriff im Convent machen« dramatische Aktion als Rede vor dem Nationalkonvent eingefordert. Und in der ersten Szene des zweiten Aktes tritt Lacroix an Danton heran mit den Worten: Du stürzest dich durch dein Zögern in's Verderben, du reißest alle deine Freunde mit dir. Benachrichtige die Feiglinge, daß es Zeit ist sich um dich zu versammlen, fordere sowohl die vom Thale als die vom Berge auf. Schreie über die Tyrannei der Decemvirn, sprich von Dolchen, rufe Brutus an, dann wirst du die Tribunen erschrecken [...]. (218) 24
Gerade hier ließe sich die These von der Tragödie als Wechselrede besonders gut illustrieren, denn Lacroix verlangt nicht irgendeine Handlung, eine Intrige oder einen Komplott etwa, sondern er erwartet, daß Danton auf die Bühne tritt und die Handlung durch die Gegenrede »wirklich vorwärtsbringt«. Die Verben betonen das überdeutlich: Schreie über die Tyrannei, sprich von Dolchen, rufe Brutus an. Lacroix fordert von Danton den dramatischen Dialog. Aber Lacroix geht noch weiter. Er erwartet nicht nur von Danton die dramatische Widerrede, er bestimmt auch das Vokabular, in dem das geschehen soll: Schreie über die Tyrannei, sprich von Dolchen, rufe Brutus an. Danton wird bewußt auf ein bestimmtes Zeicheninventar verpflichtet. Er soll nicht sich, seine Zwecke und sein ihm eigenes Wollen aussprechen, sondern sich eines bestimmten Vokabulars bedienen. Gerade das aber ist neu gegenüber der herkömmlichen, noch bis zu Peter Szondi reichenden Gleichsetzung von Dialog und Sprache im Drama. 25 Denn die Bestimmung der Sprache als Dialog setzt immer schon eine verbindliche und gemeinsame Sprache zwischen den Sprechern voraus. Erst eine gemeinsame Sprache erlaubt den Akteuren,
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Ähnlich heißt es bei Heine: »Rede Dolche, rede Schwerter!«. Zitiert nach Sengle, Biedermeierzeit. Bd. 1, S. 455. Vgl.: Szondi, Theorie des modernen Dramas. S. 19.
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sich gegeneinander auszusprechen und sich in der Sprache vollständig dem Anderen sichtbar zu machen. Lacroix dagegen macht in seiner Replik die Sprache, die den Dialog vor dem Konvent tragen soll, zum Gegenstand; er baut sie gewissermaßen vor Danton auf und bedeutet dem »Müden«, daß gerade diese Sprache gesprochen, dieses Vokabular verwendet werden muß, wenn das »Unglück« noch abgewendet werden soll. Lacroix verpflichtet Danton auf einen bestimmten Code, sofern man unter Code die Benützung eines bestimmten Zeicheninventars und bestimmter semantischer, syntaktischer, phonologischer Kombinationsregeln verstehen will. Dieser Code ist der Code der Revolutionssprache; das ist durch die Markierung des Römervokabulars überdeutlich. Lacroix fordert von Danton Sätze, die aus dem Code der Revolutionssprache erzeugt sind; er fordert die Generierung dessen, was ich den Zitattext genannt habe. Mit Lacroix tritt in gewisser Weise der Zitattext selber appellativ an Danton heran. Der Verführer drängt auf Erfüllung, oder, anders gesagt, auf Integration in die eine Sprache der Revolution. Daß Lacroix hier tatsächlich als der Abgesandte des Zitattextes auftritt, läßt sich dem Umstand ablesen, daß seine Worte von Büchner wörtlich der Historiographie entnommen sind.26 Damit ist zweierlei gesagt: Zum einen, daß dieser bestimmte Code vom Sprecher ablösbar, ja ihm vorgegeben ist - ein Sprechen, das der Person in keiner Weise zugehört und kein Sich-Aussprechen bedeutet -, 2 7 zum anderen, daß, wer das Geschehen beeinflussen oder bestimmen will, nicht nur im Drama der Revolution auftreten, »vortanzen« muß (409), sondern darüber hinaus diesen Code beherrschen und sich dieses Vokabulars bedienen muß: »dann wirst du die Tribunen erschrecken [...].« (218) Die Revolution ist ein Sprachgeschehen, das von denen »wirklich vorwärtsgebracht« wird, welche die Sprache beherrschen. Danton stimmt in den Zitattext ein. In einer Art Selbstbalance des Systems wird ihm die Möglichkeit zu sprechen gegeben. Legendre nämlich fordert das gewissermaßen Jochmannsche Recht auf die öffentliche Rede für Danton: 26 27
UZ, Bd. 12, S. 91 f. Anna Jaspers (Georg Büchners Trauerspiel »Dantons Tod«, S. 77.) verwischt die Sprachproblematik, wenn sie feststellt: »Jede bedeutende Gestalt des Dramas hat ihren eigenen Sprachstil, und darin besteht das Hauptmittel zu ihrer Charakterisierung.«
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Der Mann, welcher im Jahre 1792 Frankreich durch seine Energie rettete, verdient gehört zu werden, er muß sich erklären dürfen wenn man ihn des Hochverraths anklagt. (361) Und tatsächlich kommt es dann ja zu den zwei Verteidigungsreden (III, 4 und HL, 9) vor dem Tribunal, die eben jene Patt-Situation herzustellen vermögen, die ich im ersten Teil dieser Arbeit bereits vorführte. Wenn Danton in diesen beiden Reden die Stimme erhebt, die er »so oft für die Sache des Volkes ertönen ließ« (432), so schreit er genau über die »Decemvim« (523), die Lacroix von ihm angerufen haben will, und über die Tyrannei (»Das ist die Dictatur, sie hat ihren Schleier zerrissen [...].« [528]), deren Nennung die Tribunen in Schrecken setzen soll. Daß Danton den Sprachwechsel geleistet und die Generierung des Zitattextes überzeugend vollbracht hat - eben so sehr, daß das ganze Geschehen für einen Moment in die Schwebe kommt - , bestätigt ihm nun genau jener Lacroix, der ihm den Revolutionscode nahegelegt hatte: Du hast gut geschrien, Danton [...]. (506) Wenn Walter Höllerer also meint, in der Szene m , 4 zeige sich Danton mit seiner »alten, neu zurückgewonnenen Stimme« 2 8 , so ist das richtig, weil darin die Rücknahme des großen Rhetoren in die Revolutionssprache erkannt ist; das bedauernde »aber nun ist es zu spät« 2 9 zeigt jedoch, daß Höllerer nur den Augenblick für das rechte Wort verpaßt und nicht den Code schlechthin kritisiert sieht. 3 0 Richtig scheint mir vielmehr die Beschreibung, Danton »beschränke sich auf eine Rekapitulation seiner revolutionären Taten in der Vergangenheit« und »falle dabei in eine Propagandasprache zurück, die er eigentlich schon überwunden hat«, wenn auch hier die Akzeptanz des Codes verwischt wird durch den Befund, das »ändere sich jedoch bei Dantons zweiten Auftritt vor dem Tribunal.« 31 Die Rückkehr in die alte Sprache bedeutet in beiden Szenen die Rückkehr in eben jene Revo28 29 30
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Höllerer, Dantons Tod. S. 71. Höllerer, Dantons Tod. S. 71. Helmut Koopmann, Dantons Tod und die antike Welt. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 84 (1965), S. 28. Ähnlich zwiespältig ist auch Koopmanns Analyse, nichts wirke »im ganzen Stück antiquierter« als Dantons »verspätete Verteidigungsrede vor dem Revolutionstribunal«. So William H. Rey in dem ansonsten unergiebigen Band: Georg Büchners >Dantons TodVermittler
von
Mensch und WeltDantons Tod< und vor allem auf Dantons späte Tribunalsreden, so beginnt man zum einen Merciers Worte zu verstehen: »Blickt um Euch, das Alles habt Ihr gesprochen«, liegt doch solchem Satz die Vorstellung einer energeia, wenn auch einer negativen energeia zugrunde. Zum anderen wird verständlich, daß Danton nicht nur eine vorgegebene, fremde Lexik benützt, wenn er in die Revolutionssprache einstimmt, sondern daß er mit ihrer Affirmation eben die »Weltansicht« annimmt, die sich in ihr niederschlägt. Das erklärt, warum in den Tribunalsreden Dantons vorhergehende und gleichzeitige geschichtliche Erfahrungen und Reflexionen einer heteronomen, übermächtigen Geschichte im Umbruch von einer Szene in die andere völlig umgewertet werden. Sie empfangen ihren Sinn erst aus dem Code. So produziert Danton in den Tribunalsreden Sätze einer Geschichtsheroik, die er andernorts beständig demontiert und deren deklamatorisch-pathetischem Stil er sich verweigert. Auf einen Satz wie diesen: Männer meines Schlages sind in Revolutionen unschätzbar, auf ihrer Stirne schwebt das Genie der Freiheit, aus der ersten Tribunalsrede und von Büchner nach Thiers zitiert, läßt er sich in der Conciergerie kritisch antworten: Hérault: Das sind Phrasen für die Nachwelt [...]. (621) Was dort heroische Geschichte und geschichtsmächtiges Subjekt ist, bedeutet hier nur Phrase für die Annalen. Solche unterschiedlichen »Weltansichten« im Sprechen Dantons zeigen sich aber am deutlichsten an der dreifachen und je unterschiedlichen Verwendung des Wortes >Septembererhabenen Dramas< abgeschlossen ist, noch bevor die Bürger im Anschluß an die zweite Rede vor dem Tribunal über Danton das robespierristische Urteil sprechen. Indem Danton in III, 4 in die Revolutionssprache einstimmt und den Zitattext gewissermaßen mit- oder zü Ende schreibt, affirmiert er die Negativität, die in der Revolutionssprache liegt. Ist das Tragische das Unterliegen vor einer Übermacht, so ist Dantons Tragik bereits vor dem Urteil der Bürger entschieden, denn als übermächtig erweist sich in HI, 4 der Code. Nimmt man den Gedanken ernst, daß Büchner seinen Danton in den Zitattext zurücknimmt, also in jene Sprache, die Büchner nicht erfunden, sondern in der Geschichtsschreibung der UZ und Thiers' vorgefunden hat, so setzt das voraus, daß die beiden Reden Dantons aus dem Konvolut der historiographischen Exzerpte Büchners stammen müssen. Und tatsächlich hat Thomas Michael Mayer die Quellen für die Szenen in, 4 und in, 9 ausgewiesen:37 Büchner zitiert hier aus der >Galerie historiqueDanton's Tod< soll der Revolutionsrhetorik gehorchen, jedes Wort soll ihr gleichen. Daraus läßt sich wiederum zweierlei erklären. Zunächst wird durch diese Interpretation verständlich, warum Danton erst so spät in das Geschehen eingreift/ in den Code einstimmt. Danton verweigert sich nämlich nicht nur jeder aktionistischen Gebärde, sondern auch und zutiefst der revolutionären Sprache. Was Danton durch seine Ironie und Indifferenz, die in ihrem betont sprachlichen Destruktivismus aufgefallen waren, ablehnt oder hinausschiebt, ist der Zuspruch zur Re-
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zu den Danton-Quellen. In: GBJb 1/1981, S. 242 und Jean-Louis Besson, Ein kleiner Beitrag zu den >DantonFactionNebenfiguren< des >erhabenen Dramas< durch den vorgegebenen, vorgeschriebenen, zur Norm erklärten Text der Revolutionstragödie zu helfen. In Simon wird figurativ, daß die Figurenkonstellationen in Sprachkonstellationen eingebettet sind. Von Simon werden nun alle bisher ausgearbeiteten Ebenen des Zitattextes repräsentiert und souffliert: die sozialhistorische als die Beziehung von Besonderem und Allgemeinem; die theatrale als Versifizierung und Ästhetisierung des Geschehens; die sprachliche als Herrschaft von Semantik, Lexik, Grammatik und »Weltansicht« der Revolutionssprache. Zu Beginn der Szene II, 2 verstolpert ein Bürger seine Replik, weil er die Umbenennungen der neuen Sprache noch nicht erlernt hat; Meine gute Jacqueline, ich wollte sagen Com, wollt' ich Cor
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Paul Landau, Dantons Tod. In: Georg Büchner. Hrsg. von Wolfgang Martens. Darmstadt 1969, S. 20. Vgl. Briefwechsel zwischen Alexander Lang und Henri Poschmann. Abgedruckt in: GBJb 1/1981, S. 177f. 107
Simon ist zur Stelle und verhilft dem Sprecher dieses Satzfragments sowohl zur vorschriftsmäßigen republikanischen Namensgebung, als auch zu einer korrekten Subjekt - Prädikat - Objekt - Konstruktion: Simon. Cornelia, Bürger, Cornelia. Bürger. Meine gute Cornelia hat mich mit einem Knäblein erfreut. (234f.)
Nun, nachdem Satzkonstruktion und Namensgebung stimmen, wird noch eine semantische Korrektur vorgenommen: Simon. Hat der Republik einen Sohn geboren. (236)
Dem Bürger scheint dies mit der christlichen Formel für die Geburt des Erlösers ausgeschmückte Rechtsverhältnis - ein Topos in den Schriften der Großen Revolution47 - zu abstrakt. Er wendet ein: Bärger. Der Republik, das lautet zu allgemein, man könnte sagen Simon. Das ist's gerade, das Einzelne muß sich dem Allgemeinen Bürger. Ach ja, das sagt meine Frau auch. (237ff.)*"
Nach der Korrektur von Lexik und Grammatik ist endlich auch die Semantik abgeklärt. Das Geschehen ist sprachlich und gedanklich in die Ordnung gebracht. Die Ellipse, die sich Simon dabei erlaubt (»Das ist's gerade, das Einzelne muß sich dem Allgemeinen«), ist keine grammatische Irregularität, sondern eine Stereotype: Sprachmaterial, dogmatisch erstarrt. Die Generierung der Sätze aus dem Geist der Revolutionssprache erweist sich als Spracherstarrung, bedenkt man, daß die Stereotype ein Wort ist, »das wiederholt wird ohne jede Magie, ohne jede Begeisterung, als wenn es natürlich wäre, als wenn, wie durch ein Wunder, dieses wiederkehrende Wort jedesmals aus anderen Gründen angemessen wäre, als wenn das Imitieren nicht mehr als Imitation empfunden werden könnte: ein zwangloses Wort, das auf Konsistenz Anspruch erhebt und seine eigene Insistenz nicht kennt.« 49 Diese Stereotype, die vom Zwang und von der Sprachverknappung der Revolutionssprache spricht, reicht nun hin, um als Auslöser für die
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»Eure Kinder gehören weniger euch, als vielmehr dem Vaterland.« Dekret des Nationalkonvents, Juni 1794, kurz vor dem Thermidor. Übersetzt von Karsten Witte und abgedruckt in: Karsten Witte, Reise in die Revolution. S. 55f. Ebenso in der Abhandlung »Franzosen noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt« im fünften Dialog von de Sades >Philosophie im Boudoüx Hamburg 1970. Vgl. S. 242. Hinderer (Büchner-Kommentar. S. 105) hört hier einen Ehebruch anklingen. Barthes, Die Lust am Text. S. 64.
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Anamnese des Sprachsystems zu dienen. »Ach ja«, so der Bürger, »das sagt meine Frau auch.« Nachdem nun die Geburt des Sohnes zu einer Spracherzeugung geworden ist, muß dem Kind noch ein Name gegeben werden. In diesen kleinen Vorgang sammelt sich die harmonische Vereinigung des »Nützlichen, Rechtlichen« und schließlich gar noch des Schönen. Die Familiennamen und das Revolutionsvokabular verbinden sich mit dem abendländischen Ordnungsdenken, unterstrichen noch durch die Zahl Drei. Alles findet zur Einheit in der Sprachfamilie der Revolution: Simon. Tauf ihn: Pike, Marat. [...] Bürger. Ich hätte gern drei, es ist doch was mit der Zahl drei, und dann was Nützliches und was Rechtliches, jezt hab' ich's: Pflug, Robespierre. Und dann das dritte? Simon. Pike. Bürger. Ich dank Euch, Nachbar. Pike, Pflug, Robespierre, das sind hübsche Namen, das macht sich schön. (244ff.)
Es ist dieser Vorgang der Sprachregelung, der hier in einem Szenenauftakt paradigmatisch vorgeführt wird, den Büchner dann im vierten Akt zu einer eigenen Szene ausarbeitet (TV, 2) und den er, eben als Zitattext, seinem Revolutionsdrama überhaupt zugrunde legt; solche Sprachlenkung und -herrschaft wird in >Danton's Tod< sprachkritisch zum Gegenstand der dramatischen Reflexion Büchners.
3. Sprachherrschaft I Herrschaft als Sprachherrschaft und Sprachlenkung zu begreifen, ist dem ausgehenden achtzehnten und beginnenden neunzehnten Jahrhundert weitgehend fremd. Sofern über die Verbindung von Sprache und Herrschaft nachgedacht wird, geschieht dies im Rahmen der aufkommenden vergleichenden Sprachwissenschaft und wird, ethnologisch begründet, in ferne Reiche oder in die historische Vorzeit verschoben.50
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Etwa bei Jacob Grimm: »In der frühen zeit gelten viele dialekte gleichansehnlich nebeneinander; [...] sobald herrschaft und bildung einem volke vorgewicht geben, fängt seine mundart an, sich über benachbarte abhängige auszubreiten [...]. Die stärkere mundart steigt, die schwächere sinkt und wird gemein, doch selbst die herrschende muß durch ihre wachsende ausdehnung unvermerkt eigenheiten der anderen Stämme an sich ziehen [...].« Jacob Grimm, Deutsche Grammatik. 1. Bd., 2. Ausgabe. Göttingen 1822. Vorrede, S. Xllf.
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Sprache aber als Mittel der Herrschaft über Umwelt und Mitwelt zu begreifen, die Durchsetzung von Sprachregeln als Durchsetzung von Normen und Zwängen zu verstehen, ist äußerst selten. In einer kleinen Schrift mit dem Titel >Idee zum ersten Patriotischen Institut für den Allgemeingeist Deutschlands< aus dem Jahr 1788 formuliert Herder am Vorabend der Großen Revolution den Gedanken, daß Herrschaft durch Sprache als Herrschaft vermittels eines Sprachsystems gedacht werden muß. Sprachherrschaft ist für Herder kein Klassenzeichen - so, wie Büchner im >Hessischen Landboten< noch die besondere Sprache der Reichen und Gelehrten angreift und wie Robespierre den bon ton der Aristokratie verurteilt - , sondern ergibt sich aus der allgemeinen Geltung eines Sprachsystems, dem alle Sprecher verpflichtet sind. Eine Sprache, ein Sprachsystem soll herrschen und beherrscht werden: Die Geschichte zeigt, daß alle herrschenden Völker der Weltperiode nicht durch Waffen allein, sondern vielmehr durch Verstand, Kunst und durch eine ausgebildetere Sprache, über andere Völker oft Jahrtausende hin geherrschet haben, ja daß selbst wenn ihre politische Macht verfallen war, das ausgebildete Werkzeug ihrer Gedanken und Einrichtungen anderen Nationen als Heiligthum wert geblieben. Die Griechische, Lateinische und Arabische Sprache zeigen dieses in der alten und mittlem Zeit; in der neuem hat es zuerst die Spanische, nachher die Französische Sprache bewiesen, welche Vortheile, ja welch ein geheimes Übergewicht eine Nation erlange, deren Sprache sich gewissermaaßen zu einer herrschenden zu machen gewußt hat.
Herder folgert und fordert: Billig also ists, daß die Deutsche Sprache, wenigstens innerhalb der Grenzen der Nation, herrschend werde, daß Deutsche Fürsten sie verstehen, rein sprechen und lieben. 51
Dieses Programm einer Sprachherrschaft ist deshalb so spannend, weil es die Herrschaft weder, wie später Jochmann oder Adam Müller, als Befehl oder Verordnung denkt, noch, wie Jochmann in >Über die Sprachereine Sprache< die Sprache der Herrschaft gegenüber den dialektalen Splittersprachen, so wird der Dialekt zum Soziolekt. In >Danton's Tod< sprechen dann die radikalen Sansculotten nicht zufällig Dialekt, und noch dazu hessischen. Der Dialekt verbindet sich der sozialen und politischen Perspektive; das >Schinderhanneslied< in der Szene I, 2 macht das geradezu thematisch. Diese in jeder Hinsicht rein gesprochene Sprache erkennt Herder als eine, die sich zur Herrschenden machen kann und Übermacht erlangt. Dazu muß sie beherrscht werden. Die herrschende Sprache ist zugleich eine beherrschte Sprache im doppelten Sinne: ihr System muß beherrscht werden; beherrscht ist sie aber auch selbst, indem sie transparent, »rein«, wird. In dem Sinne handelt es sich um eine domestizierte Sprache, die, wie Barthes sagt, andere Möglichkeiten der Sprache eliminiert, der Verständigung dient und Herrschaft ermöglicht. Damit geht die Konstituierung des Systems über in die Ordnung des Diskurses: sie normiert, schließt aus, setzt Werte und vereinheitlicht. Nicht anders sieht das Konzept der Sprache aus, welche die Französische Revolution - wie bei Herder im Rahmen einer nationalstaatlichen Planung der Sprache - durchzusetzen versucht. So erläßt der Nationalkonvent in Paris ein Dekret an das französische Volk, in dem die Vereinheitlichung und Beherrschung einer einzigen, gemeinsamen Sprache gefordert wird. Dieses Dekret geht von einer Aufhebung der Dialekte aus. Begründung ist die ungenügende Koordinierung aller Bürger im Zeichen der Sprache. Das Glück, Franzose zu sein, sei durch das Fehlen einer wesentlichen Eigenschaft getrübt: »Einige haben keinerlei Kenntnis der Nationalsprache, andere beherrschen sie nur unzureichend.«53 Nur eine vereinheitlichte Sprache aber
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Dekret vom Juni 1794. S. 55. Im folgenden zit. als: Dekret. S. Anm. 47. 111
garantiere Freiheit und Republik. Deshalb: »Die Sprache muß eins sein mit der Republik.«54 Zwei Motive werden dafür angeführt. Als erstes garantiere nur eine vereinheitlichte Sprache die Möglichkeit, juristische Entscheidungen mit möglichst geringem Aufwand zu vollziehen und sich nach ihnen zu »richten«. Zum zweiten gestalte die Revolution den ökonomischen Sektor um, und die Errungenschaften der Aufklärung - denen der Wirtschaft hier gleichgesetzt - , seien »Früchte«, die »für euch nicht erreichbar sind, solange ihr die Sprache, in der sie verfaßt sind, nicht kennt.«55 Weil die Nationalsprache zu beherrschen erste Bürgerpflicht ist, weil sie aber realiter noch nicht beherrscht wird - zu viele Dialekte und fremde Muttersprachen kursieren noch in einem Land, das seine Landesgrenzen mit den Sprachgrenzen zur Deckung bringen will - , sind »Magister bestellt, die französische Sprache zu unterrichten«.56 Die Nationalsprache wird exportiert wie die Freiheit: »Die mit uns verbündeten Völker verschmelzen in der großen Familie, indem sie unsere Sprache und unsere Gesetze annehmen.«57 Das erfordert und fuhrt zu folgenden Umstrukturierungen im Korpus der Sprache. Zunächst müssen die Dialekte aufgelöst werden, sie gelten politisch als Mittel der Despoten, die Knechtschaft durch das ancien régime zu festigen. Die Nationalsprache hingegen soll ein gesamtgesellschaftliches Band sein, das alle Sprecher miteinander verbindet; ein gesellschaftliches Geflecht, das alle sozialen Beziehungen durchherrscht: »Da ihr nur republikanische Gefühle hegt«, so das Dekret, »soll einzig die Sprache der Freiheit sie zum Ausdruck bringen, sie allein soll euch als Dolmetscher gesellschaftlicher Beziehungen dienen: in familiärer Geborgenheit wie in allen Umständen des Lebens.«58 Läßt sich die Sprachtätigkeit Simons besser beschreiben als mit dieser Forderung nach Universalisierung und Unterwerfung einer Sprache, die sich in allen Zellen des gesellschaftlichen Lebens wiederholen soll?
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Dekret. S. 55. Dekret. S. 55. Dekret. S. 56. Bericht über die Inschriften an öffentlichen Denkmälern von Bürger Grégoire. 11. Januar 1794. Abgedruckt in: Von Brutus zu Marat Kunst im Nationalkonvent 1789-1795. Reden und Dekrete. Hrsg. und übersetzt von Katharina Scheinfuß. Dresden 1973, S. 47. Dekret. S. 57.
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Aber das Dekret vereinheitlicht und integriert nicht nur, es extegriert auch Sprachformen. Da ist zunächst die Sprache des »Despotismus«, die sich durch den »guten Ton« auszeichnet; sie ist eine Sprache der »Niederträchtigkeit«. Das Dekret schließt aber nicht nur diese Sprache einer gerade verabschiedeten Klasse aus, sondern ebenso den »flegelhaften Stil« 59 Héberts; dessen Stil sei »darauf gerichtet, die Moral zu korrumpieren«. 60 Das Dekret eliminiert über die sprachlichen Repräsentanzen des ancien régime hinaus eben das, was sich der Transparenz der juristischen und ökonomischen Sprachverwendung nicht einfügt. Gerade in Bezug auf Héberts Zeitschrift >Père Duchêne< weist Roland Barthes darauf hin, daß der Ultrarevolutionär, indem er seinen Sätzen immer Schmähungen und Flüche beigefügt habe, »die Einsamkeit einer ritualen Sprache« 61 erzeugt habe. Diese zugesetzten, aggressiven, häufig obszönen Zeichen - »so eine Art Interpunktion« im Raum der Zeitung sahen die Goncourts in ihnen62 - kreieren nach Barthes weder einen Stil, noch eine Information, noch eine Idee; sie seien vielmehr als Stellungnahme über die Mitteilung hinaus zu verstehen, als Verweis auf Geschichte. Wie bürgerlich hier das Dekret rituale Sprache ächtet, wird dadurch deutlich, daß es mit der Inkriminierung des »flegelhaften Stils« bereits auf der Linie des Direktoriums liegt. Dieses schmähte Héberts Signale als »handgreifliche Beweise der Anarchie von 1793, die man schon im Keim zu Staub zermalmen« müsse. Und der >Bericht über die Fortführung des Wörterbuchs der französischen Sprachen mit dem das Erbe des Wörterbuchs der Akademie angetreten wurde, erkannte in Héberts Schriften die »merkwürdigen Verknüpfungen unzusammenhängender Ausdrücke«, »barbarische Wörter und übertriebene Redensarten«. 63 Das Dekret leitet aus der Inkriminierung der ritualen Sprache Héberts die Exklusion jedes verzerrenden, entstellenden, obszönen Sprechens ab. Der schlechte Sprachgebrauch kann beseitigt, der Dialekt durch Sprachlehrer geläutert werden. Der zynische, der parodistische,
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Dekret. S. 57. Dekret. S. 57. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur. S. 7. Zitiert nach: Paul Lafargue, Die französische Sprache vor und nach der Revolution. In: P. L., Vom Ursprung der Ideen. Hrsg. von Katahrina Scheinfuß. Dresden 1970, S. 103. zit. nach: Lafargue, Die französische Sprache. S. 104.
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der obszöne Stil aber muß verbannt werden, weil er bewußt die Normen der Sprechregelung demoliert. Die Revolutionssprache sieht sich in den Parodien und Obszönitäten um Glanz und Ernst gebracht, sprachlich zum Gegenstand gemacht und als herrschende Sprache bedroht. Ist nicht die Persiflage ein Ton der Monarchie? Ist sie nicht der letzte Schritt zur Korruption, wenn sie die Moral ins Lächerliche zieht? Der Name der divinité wie der vertu dürfen nur mit Achtung ausgesprochen werden. Welches Verhängnis hat unter modernen Völkern diesen rüpelhaften Sprachgebrauch eingeführt, der unter dem Vorwand zu fluchen, nichts anderes darstellt als Bilder des Blasphemen und Obszönen? 64
Aus dem »Ton« der Mitteilung, aus dem Ritual der Worte wird ein politisches und moralisches Problem: »diese Erniedrigung der Sprache, des Geschmacks und der Moral ist wahrhaft konterrevolutionär«. 65 Die angebotene und erlaubte Sprache gibt sich derart als linguistischer Sezessionsakt zu erkennen, der jede rituale und subversive Sprache, jede Spürbarkeit der Zeichen markiert und ausschließt. Verordnet wird eine republikanische Sprache, die nicht obszön, persiflierend und polemisch und die nicht länger durch Dialekte eingetrübt ist, eben »eine anständige und gepflegte Sprache« von »ursprüngliche[r] Naivität«.66 Die Sprache der Republikaner soll sich durch Freimut auszeichnen und eine Würde, die sich von Niedertracht und Roheit gleichweit entfernt.67
Man erinnere sich: »Niedertracht«, das war das Zeichen der despotischen Sprache. Die Sprache der Mitte, die hier gefordert wird, liegt also zwischen einer Sprache der alten Aristokratie und einer, in der Sansculottenluft weht. Es ist aber genau die Sprache der Mitte und der Mäßigung mit ihrer moralischen, politischen, ökonomischen und juristischen Fundierung, die bei Jochmann dreißig Jahre später zwischen Gelehrtensprache und »Redeschlendrian« die guten Sitten und das gute Informationsgeschäft verbürgen soll. Dekretiert wird im Juni 1794 eine Sprache der Ökonomie, eine Sprache, die das Gesetzeswesen transparent macht, den Handel der Waren und Informationen garantiert und Moral konstituiert. Eine domestizierte, beherrschbare,
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Dekret. S. 57. Grégoires >BerichtBerichtDanton's TodKlubb< ergeben und die Revolutionssprache und den Zitattext gleichermaßen auszeichnen. Anhand des Dekrets sollte auf die Ordnung aufmerksam gemacht werden, die auch in >Danton's Tod< im Zitattext anwesend ist. Ist der Revolutionssprache - der historischen und von Büchner zitierten - , die Tendenz abzulesen, Sprache von allen ritualen und geschichtlichen Zeichen zu reinigen, die nicht in Mitteilung und Information aufgehen, so wird in der Rede des St. Just in >Danton's Tod< 68 69
Vgl. Grégoires >BerichtBerichtPhrase< auch als Homonym für >Satz< lesen. Auch in dieser Bedeutung wird >Phrase< in der Linguistik verwendet. Die Negativität der Revolutionssprache beruht dann auf der linearen, logischen Diskursivität, und St. Justs Rede ist die formalisierte Vollendung eben jener Sprache, die es »zu verstehen« und »rein zu sprechen« gilt, und die ein nun nicht länger »geheimes« Übergewicht gewinnt. Eine Sprache, »worin jedes Komma ein Säbelhieb und jeder Punkt ein abgeschlagner Kopf ist.« (487)
4. Sprachherrschaft II Die herrschende Sprache der Revolution, so sollte deutlich werden, erzwingt ein Zeicheninventar, einen Code, und setzt eine Ordnung, ist Diskurs. Foucault hat gezeigt, daß der Diskurs tatsächlich nicht, wie es scheint, die Möglichkeit einer Schöpfung darstellt - eine These, die in den zwanziger und dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts von Humboldt so vehement vertreten wird - , sondern sich immer durch Einschränkung und Zwang definiert. Foucault behauptet, daß »in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird - und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.«73 Nicht anders
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Barthes, Die Lust am Text. S. 75; vgl. auch: Silvio Vietta, Neuzeitliche Rationalität und literarische Sprachkritik. München 1981, S. 114. Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt, Berlin, Wien 1977, S. 7.
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entwickelt auch Roland Barthes den Begriff der Sprache. Sprache definiere sich durch Macht; eine Macht, die wir jedoch übersehen, weil sie in den Klassifikationen der Sprache haust. Sie erweitert nicht, sondern beschränkt Ausdrucksmöglichkeiten, reguliert und kanalisiert sie, ist ein Janusgesicht aus »Aufteilung und Strafandrohung«. 74 »Sprechen - und noch viel mehr einen Diskurs führen - heißt nicht kommunizieren, wie man allzu oft wiederholt, es heißt unterwerfen: die gesamte Sprache ist eine verallgemeinerte Rektion.«75 Von diesen Prozeduren haben wir einige kennengelernt: zentral die Herrschaft des Codes als Integration ins Zitat, die Verdopplung des Codes vermittels der Sprachlehre Simons, die Ausschlußprozeduren und Nonnbildungen der Regeln reiner Sprache im Dekret von 1794, endlich die Inthronisation des Satzmodells und des linearen Signifikanten als formalsprachliche Produktion der Geschichte in der Rede des St. Just. Durch Merciers Worte von den Phrasen, die da Wirklichkeit geworden sind, wird reflektiert, daß in >Danton's Tod< das Geschehen umfassend von der Revolutionssprache überherrscht wird; zu ihrem Mittler machen sich die Rhetoren der Convents-, Club- und Tribunalsreden. Sie vertreten, inthronisieren und herrschen durch ein Sprachsystem, das alle anderen Möglichkeiten der Sprache eliminiert, sich ihnen übermächtig zeigt. Die Revolutionssprache usurpiert und produziert das Reale, und Michelet erkennt: »Diese Sprache ..., das war die ... sichtbar gewordene Energie.«76 Auf diesem Hintergrund läßt sich Büchners Danton lesen als die Herrschaft der Revolutionssprache, als die geschichtliche Ausschlußbewegung anderer Möglichkeiten der Sprache. Tatsächlich ist in dem Revolutionsdrama Büchners ein Kräftespiel unterschiedlicher Sprachformen zu erkennen. In diesem Agon sprachlicher Strukturtypen erweist sich der Code der Revolution, der opfer- und sinnvollen Geschichte, der clarté, den anderen Ereignissen der Sprache überlegen: dem parodistischen, philosophischen, melancholischen, erotischen und zynischen Sprechen; dem Volkslied, dem Witz und der Allusion. Man muß sich also den Ort des Dramas als den Kampfplatz von Sprach-
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Roland Barthes, Lc^on/Lektion. Antrittsvorlesung am Collège de France. Frankfurt 1980, S. 17. Barthes, Le^on/Lektion. S. 17/19. Zitiert nach: Jean Pierre Faye, Theorie der Erzählung. Einführung in die »totalitären Sprachen«. Frankfurt 1977, S. 7 und S. 13. 118
formen vorstellen; ein Platz aber, der bereits und seit perfektivischer Vorzeit von einem Textmoloch besetzt ist. Eine negative Sprache, die alles Sprechen einebnen, sich angleichen, bestenfalls zu ihrer eigenen Verdopplung machen will; die sich überall Geltung verschafft: denn »jedes Sprechen (jede Fiktion) kämpft um Hegemonie; wenn es die Macht für sich hat, dehnt es sich überall hin aus im Strom und Alltag des sozialen Lebens, wird es doxa, Natur: [...] aber selbst außerhalb der Macht, gegen sie, entsteht neue Rivalität, spalten sich die Redeweisen, kämpfen untereinander. Eine unbarmherzige Topik regelt das Leben der Sprache; die Sprache kommt immer von irgendeinem Ort, sie ist ein kriegerischer Topos.« 77 4.1. Paradigmatisch für die Kämpfe und Prozeduren der Diskurse, für das dramatische Leben, das sie in >Danton's Tod< führen, steht die Szene I, 2: die Konfrontation sansculottischer militaras mit Robespierre, dem »Messias«. In dieser Szene wird nämlich die Semiokratie der Revolutionssprache in ihrer entscheidenden sozialen Funktion deutlich. Die Herrschaft des Codes besteht hier nicht nur gewissermaßen statisch in der Erlernung von Grammatik, Lexik und Semantik, sondern dynamisch in der Absorbierung überschüssiger Potenzen in den Worten und Sätzen der Bürger. Was dem Code der Revolutionssprache nicht entspricht, wird nicht nur durch Prozeduren der Integration oder Extegration geordnet. Es wird vielmehr auch jede genuine Energie des Sprechens durch den Revolutionscode neutralisiert; wird seines eigenen Sinns und Rhythmus' beraubt und annuliert. Es findet derart eine »Einebnung« 78 der Triebkräfte nicht-konformer und nicht domestizierter Redeweisen statt, eine Filtration und Zensur. Die politische Dimension dieser Diskursverknappung hat Thomas Michael Mayer bis in die feinsten Verästelungen der Szene I, 2 >Eine Gasse< nachgezeichnet. Mayer untersucht, wie bestimmte historisch identifizierbare politische Positionen der Sansculotten dem bürgerlichjakobinischen, politisch-phraseologischen Jargon Robespierres gegenübergestellt werden. Die Bürger in I, 2 vertreten nach Mayer die Thesen eben jenes Gracchus Babeuf, der in den Revolutionsjahren gegen jeden Versuch der Festschreibung des Privateigentums die gleiche und gerechte Umverteilung aller Güter forderte, und der, politisch von
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Barthes, Die Lust am Text. S. 44f. Jean Baudrillard, Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin 1978, S. 100. 119
Robespierre enttäuscht, dem radikalen Flügel der enragés und Hébertisten verbunden war. Dessen Thesen habe Büchner, vermittelt durch den französischen Neobabouvismus der dreißiger Jahre, kennengelernt und lege sie in dieser Szene den unter dem Namen >Bürger< auftretenden Sansculotten in den Mund. Die Sätze des ersten Bürgers also: Ergo ihr arbeitet und sie thun nichts, ergo ihr habt's erworben und sie haben's gestohlen; ergo, wenn ihr von eurem gestohlnen Eigenthum ein paar Heller wieder haben wollt, müßt ihr huren und beulen; ergo sie sind Spitzbuben und man muß sie todtschlagen (57), teilten die babouvistische Kritik des Besitzes, wie sie auch der Hessische Landbote expressis verbis vertrete. Die Sätze des Bürgers lägen keineswegs, wie Jancke behauptet,79 auf der Linie des amtierenden und nach Mayer seinerseits schon »kanalisierten«80 Jakobinismus, sondern hätten in der historischen Wirklichkeit von 1794 sicherlich die Verhaftung des Sprechers durch eben diesen Jakobinismus nach sich gezogen. Kurz, auch mit den Folgesätzen des >Dritten Bürgersc Sie haben uns gesagt; schlagt die Aristocraten todt, das sind Wölfe! Wir haben die Aristocraten an die Laternen gehängt. Sie haben gesagt das Veto frißt euer Brot, wir haben das Veto todtgeschlagen. Sie haben gesagt die Girondisten hungern euch aus, wir haben die Girondisten guillotinirt. Aber sie haben die Todten ausgezogen und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen und frieren (58), befänden sich die militants von eben jenem Maximilien Robespierre denkbar weit entfernt, der eine Szene später die Angriffe auf das Eigentum zurückweisen wird, und der jetzt in die von Verzweiflung und Hunger beherrschte Szene ruheheischend eintritt. Mayer bringt für diese Kontrastierung denkbar gute Argumente. Er verweist darauf, daß gerade in dem Moment, wo der »habituell sorgfältigst gekleidete Maximilien«81 auftritt, der erste Bürger provokativ seinen aus der ökonomischen terreur abgeleiteten Satz: »todtgeschlagen wer kein Loch im Rock hat« (74) anstimmt; ebenso, daß die aufgebracht durcheinander schreienden Bürger deutlich dem ruhigen, organisiert auftretenden Queüe des Robespierre kontrastiert sind. Man könne nicht übersehen »welch deplaziert ruhigen, unnahbaren Kontrast Robespierres Erscheinung«82 in der bis zum Zerreißen gespannten Si-
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Jancke, Georg Büchner. S. 212-219. Thomas M. Mayer, Büchner und Weidig. S. 97. Mayer, Büchner und Weidig. S. 111. Mayer, Büchner und Weidig. S. 113. 120
tuation biete. Weiter vertrete Robespierre dann in der dialogischen Auseinandersetzung mit den Sansculotten einen auf einem mißverstandenen Rousseau beruhenden abstrakten Normativismus, der den politischen Konzeptionen der revolutionären Avantgarde gerade entgegengesetzt sei. Von Robespierres nur schwach verdecktem Machthunger spräche dabei schon die Metaphernwahl. Wenn der Unbestechliche betont: »Armes tugendhaftes Volk! [...] Deine Gesetzgeber wachen, sie werden deine Hände fuhren [...]« (82), so degradiere er die historisch gerade auf mandatare, eben nicht repräsentative Vertretung drängenden Radikalen nachgerade zu Marionetten. Büchner zeige nicht etwa das »unverbrüchliche Bündnis zwischen Robespierre und der Sansculotterie«, sondern vielmehr »einen Robespierre, der die Sozialrevolutionäre Energie der bras nus demagogisch auf die eigenen, jakobinischen Mühlen lenkt.«83 Man kann diesen Agonismus und die Kanalisierung, die in I, 2 beginnt und erst mit der Szene III, 10 in Robespierres Sinne endet, auch sprachlich fassen. Denn die Repliken des ersten und dritten Bürgers, die eine überscharfe und zynische Einschätzung und Artikulation der geschichtlichen Lage leisten, sind von einem geradezu rohen grammatischen Parallelismus. Das ist nicht die syllogistische Wendigkeit des St. Just, schon gar nicht die Beredsamkeit Robespierres oder des Danton des dritten Aktes, sondern das ist eine offen primitive Sprache, die alle rhetorische und phraseologische Beschwichtigung abzuwerfen versucht. Sie läßt überdeutlich gerade jenen poetischen Glanz vermissen, der die Tribünenreden auszeichnet. Sprache ist hier im Rohzustand der Agitation. Nun wird üblicherweise gerade der syntaktische Parallelismus dieser Repliken, also das repetierende »Ergo« des ersten, das »Sie haben uns gesagt« des dritten Bürgers, gegen die Sansculotten vermerkt: der sprachliche Automatismus 84 sei sprachliche Lynchjustiz. Solche Inkriminierung übersieht gerade, daß die Sprachformen der Bürger in der Szene I, 2 entschieden variativer, polychromer sind als der rhetorische Duktus des Unbestechlichen. Denn das Sprechen der >Gasse< ist provokativ nicht allein in der Herausforderung einer kruden Syntax an die ars bene dicendi, sondern ebenso in jenen obszönen Wortspielen, die die Sprachlenkung des 83 84
Mayer, Büchner und Weidig. S. 115. Vgl.: Rosmarie Zeller, Das Prinzip der Äquivalenz. S. 212. 121
Dekrets als Verstoß gegen die (Sprach-)Sitten ahndete. Weiter stattet Büchner seine Radikalen mit dialektalem Einschlag aus: ein Akt, der gegen das Dekret gerichtet ist; eine phonologische Variante aber auch, mit der schon der Schüler Georg Büchner gegen das schlechte Pathos Schillers auszog. 85 Neben Dialekt, Witz und Agitatorik läßt Büchner die Sansculotten das Schinderhannes-Lied anstimmen: Verse über einen Umverteiler, der Krieg gegen die Reichen führte, Handwerker und Hausierer aber programmatisch unbeschadet ließ; Verse auch, die Büchner »dem geflohenen Burschenschafter und Wachenstürmer Heinrich Ludwig Ferber auf ein Stammbuchblatt«86 schrieb. Nun ist diese Sprache nicht nur äußerst variativ und, im Vergleich zu Simons Römerpathos, frei von Ornamenten, sondern auch, im Gegensatz zu Robespierres Politphrasen, äußerst analytisch und wach. Die Sansculotten nehmen die ständig Ehrfurcht erheischenden phraseologischen Wendungen des Jakobiners bei ihrem Wortlaut und verwenden sie zur Darstellung des eigenen Elends. So, wenn der 3. Bürger auf Robespierres Frage: »Was giebt's da Bürger?« (72) lapidar zurückfragt: »Was wird's geben«, gilt diese Wiederholung als Hinweis, daß das, was »es giebt«, nur das Gewohnte und Alltägliche ist. Um so schärfer muß dann der Kontrast zwischen dieser Simplifikation der Verzweiflung und der Schärfe der darauffolgenden Anklage auffallen: Die paar Tropfen Bluts vom August und September haben dem Volk die Backen nicht roth gemacht. Die Guillotine ist zu langsam. Wir brauchen einen Platzregen. (73)
Auch in den nächsten Repliken behalten die Sansculotten das Wort, zwingen den Dialog zur Sache, indem sie in Robespierres automatisierte Wendungen beständig einhaken: Robespierre. Im Namen des Gesetzes! 1. Bürger. Was ist das Gesetz? 85
Franzos berichtet, Büchner habe in der Schule ein Heft anlegen müssen mit den besten deutschen Gedichten. »Büchner kam dieser Anordnung nach, aber in recht sonderbarlicher Weise. Das bloße Copieren langweilte ihn, und so finden sich nur solche Gedichte vollinhaltlich eingetragen, die er zugleich in irgend einer Weise parodirte. [...] Man weiß, daß sich in Schillers >Graf Eberhard der Greiner< der Stolz der Schwaben sehr kräftig ausspricht. Und darum hielt es der muthwillige Schüler für angemessen, das Gedicht gleich vollständig in den schwäbischen Dialekt umzusetzen.« Georg Büchners sämmüiche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Erste kritische Gesammt-Ausgabe. Eingeleitet und hrsg. von Karl Emil Franzos. Frankfurt 1879, S. XXIII.
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Thomas M. Mayer, Studienausgabe. S. 73.
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Robespierre. Der Wille des Volks. 1. Bürger. Wir sind das Volk und wir wollen, daß kein Gesetz sey [...]. (76ff.)
Robespierres Sprache dagegen ist monochrom und abstrakt-rechtlich,87 ja, seine Repliken sind »mit aus den Quellen weither zusammengesuchten Kardinalphrasen garniert.« 88 Was läßt sich unter »Kardinalphrasen« verstehen? Jedes Wort hat einen lexikalischen Bereich, in dem seine unterschiedlichen Bedeutungen aufgehoben werden. Durch den Satz, den Kontext, durch Dialekt und Soziolekt werden die unterschiedlichen Bedeutungen realisiert und spezifiziert. In der Phrase geschieht ein gegenläufiger Vorgang. Anstatt eine spezifische Bedeutung zu realisieren, amalgamiert sie die unterschiedlichen Bedeutungen und Assoziationen der ganzen lexikalischen Einheit, verwischt die Differenzierungen und Referenzen. Widersprüchliches, wie in Robespierres angeblich immer unwiderstehlich ausgesprochenem »Armes, tugendhaftes Volk!« - das Volk ist arm, aber keineswegs tugendhaft, wie Einund Ausgang der Szene I, 2 deutlich vorführen kann zusammengezwungen weiden, weil jede Spezifizierung des Wortes (häufig zugunsten einer Emotionalisierung der Rede) aufgelöst wird. Überdeutlich trifft dagegen auf die analytische Gegen-Methode der Sansculotten zu: »Während die überzeugende Rede in emotionale Richtung geht, während sie danach strebt, die reine Wortebene, die unzerlegten »ganzen« Bedeutungen der Wörter mit allen Beimischungen, die ihnen die lexikalische Ebene gibt, mit allen emotionalen Schattierungen auszunutzen, und während für sie der Satz ein kompaktes Knäuel, ein synthetisches Ganzes darstellt, das oft als solches von Wert ist, geht die überzeugungsändemde Rede den Weg der Zerlegung dieses Knäuels, ihrer Analyse, des Herausschälens des Wortes aus dem Satz und der Sache aus dem Wort.«89 Die Phrase greift aber noch weiter. Sie kann sich so sehr von jeder Bedeutungsspezifizierung lösen, daß sie schließlich nur noch den lexikalischen Bereich selber anruft. Bedeutung und Referential gehen unter, es bleibt die Phrase als »Benennung einer Benennung« 90 zurück. 87 88 89
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Vgl.: Krapp, Der Dialog bei Büchner. S. 129f. Mayer, Büchner und Weidig. S. 115. Juri Tynjanow, Das Wörterbuch des Politikers Lenin. In: Sprache und Stil Lenins. Hrsg. von Fritz Mierau. S. 95. Tynjanow, Das Wörterbuch des Politikers Lenin. S. 93. Büchner spricht einmal von den »leeren« Phrasen, mit denen das Volk vom Liberalismus abgespeist wird. Bergemann (1958), S. 568.
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Es findet derart eine Verdopplung und Maskierung statt, so daß »das Wort, das in der Phrase »tönt«, etwas bedeutet, aber nichts zu sich herein läßt; ein >indirektesfremdes< Wort« mit dem Effekt, daß »das Bewußtsein der Nichtübereinstimmung, der Fremdheit« 91 schließlich verloren geht. In der Szene I, 2 treibt Robespierre noch einzelne Kardinalphrasen wie Keile in die Agitation der Radikalen; in der Rede im >Klubb< arbeitet er dann die Phrase zum Sprachsystem aus. Der Referenzwert wird abgeschafft, die Phrase wird zur Rede, der Redner zum Phraseur. 92 Dagegen steht in der Szene I, 2 noch die am Elend aufbrechende Analytik der Radikalen, ihr Wortwitz, das Lied und der Dialekt, eine polychrome Redeweise, die die Sache gegen die Phrase sucht und zugleich beständig ins Wortspiel umbricht. Die Phrase wird so doppelt unterlaufen: als Bezug zur Sache rehabilitiert die radikale Analytik die Referenz, um eine Verständigung der Geschundenen zu schaffen; eine Verständigung, die eine andere Form der Kommunikation und der Sozialität impliziert, gewissermaßen eine analytische Klage, dem metaphorischen Finale der Dantonisten vergleichbar. Freilich wurde solcher Sprechakt in der historischen Realität per Erlaß verboten: »Unter keinen Umständen dürfen sich die Arbeiter versammeln, um ihre Klagen vorzubringen; möglicherweise auftretende Zusammenrottungen werden aufgelöst; die Urheber und Rädelsfüherer werden festgenommen und nach dem Gesetz verurteilt«, 93 lautet eine Verfügung des Wohlfahrtsausschusses vom Dezember 1793. Unterlaufen wird aber die Phrase auch im Wortwitz, lebt doch der Wortwitz gerade von jener Reversibilität der Sätze, die auch die Analytik herstellt, und die die Phrase verhindert. Beide Techniken lassen die vorgegebenen Sätze reversibel werden und kehren das Machtverhältnis der Worte um.
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Tynjanow, Das Wörterbuch des Poliükers Lenin. S. 103f. Dagegen Robert Musil: »[...] es werden Phrasen dieser Revolutionsmänner aneinandergereiht, ohne daß daraus der Phraseur entsteht, noch sich die Phrasen zu jenem tragischen Phrasenchaos verschlingen, das wir als poliüsches Schicksal verehren.« Musil, »Dantons Tod« von Georg Büchner. Zur Aufführung im Deutschen Volkstheater Wien. Abgedruckt in: Dichter über Büchner. Hrsg. von Werner Schlick. Frankfurt 1973, S. 43f. Zitiert nach: Daniel Gu6rin, Klassenkampf in Frankreich. Bourgeois et »bras nus« 1793-1795. Frankfurt 1979, S. 213.
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Wie deutlich die militants schließlich dem Unbestechlichen kontrastiert sind, wird durch zwei vergleichbare Ruhestifter und ihre szenentechnische Gestaltung deutlich: Egmont und Rienzi. Während nämlich der Goethesche Held unter das aufgeb. achte Volk tritt und ein empörter Bürger die Autorität des Grafen betont: Egmont. Ruhig! Ruhig, Leute! Was giebt's! Bringt sie auseinander. Zimmermeister. Gnädiger Herr, Ihr kommt wie ein Engel des Himmels. Stille. Seht ihr nichts? Graf Egmont! Dem Grafen Egmont Reverenz! 94 ,
so muß im >Danton< ein Weib aus dem als Propagandatrupp fungierenden, auch schon mitgefühlten Queue des Robespierre ihren Helden selbst küren, und zwar in Überbietung des »Engels des Himmels« gleich zum »Messias«, dem von den Radikalen keineswegs »Reverenz« erwiesen wird. Zudem sind im >Egmont< Volk und Heroe sprachlich vorab aufeinander eingestimmt. Es herrscht zwischen ihnen eine Stimmlage; eine Kontrastierung der Gruppen durch ihre Redeweisen fehlt völlig. Wie absolut die Aura des ruheheischenden Protagonisten schließlich auch dargestellt werden kann, zeigt Wagners 1838 geschriebener >RienziLetzte der Tribunen< die Szenerie, wie Egmont und Robespierre: (Allgemeiner heftiger Streit. Als Raimondo im gefährlichsten Gedränge ist, tritt Rienzi auf [...]. Das Volk läßt sogleich bei Rieruis Erscheinen vom Streit ab. Die Nobili sind durch Erstaunen über Rieruis gebieterisches Auftreten und dessen augenscheinliche Gewalt über das Volk sprachlos gefesselt.) Rienzi. Zur Ruhe! - (zum Volke) Und ihr, habt ihr vergessen, was ihr mir geschworen?"
Die Uniformität der Stillage im >EgmontRienzi< sind Formen, die auratische Erscheinung des Heroen zur Darstellung zu bringen: da wie dort zieht sie eine jubilierende oder sprachlose Verbrüderung auf offener Szene nach sich. Nichts davon in >Danton's TodKlubbFaktion< mobilisiert [...]«,96 registriert Thomas M. Mayer. Man kann diese politische Zurichtung auch unter der Perspektive der Sprachherrschaft lesen, und zwar als eine Monopolisierung der Sprache durch die Rhetoren und als Inthronisation eines kommunikativen und darin gesellschaftlichen
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Mayer, Büchner und Weidig. S. 115. 126
Modells. Die radikale, polychrome Redeweise wird durch die Kommunikationssituation in Convent, Club und Tribunal zum Schweigen gebracht, indem der Wechsel der Redeweisen und die Unterbrechung der sukzessiven Abfolge der Phrasen und Reden systematisch unterbunden wird. Wie schon die Szenenanlage von I, 2 zu I, 3 den Weg der Sansculotten in die Fänge der Theaterregie beschreibt und somit die Organisation und Transformation der Sprechweisen präfiguriert - die Beruhigung der erzürnten Radikalen, ihre Eingliederung in den >Schwanz< Robespierres und der Wechsel von der offenen >Gasse< in die geschlossene Anstalt des Clubs - , so wird gerade durch die Monopolisierung des Wortes die Eliminierung einer so liquiden wie direkten, einer fluktuierenden und über mehrere Sprecher verteilten, jederzeit umkehrbaren Sprache durchgesetzt. Zur Herrschaft wird dagegen ein starres Kommunikationsmodell gebracht, das die Sansculotten zu >Empfangern< degradiert, die Rhetoren zu >Sendem< macht. In diesem Sinne ist es richtig, wenn die UZ, wie bereits zitiert, behauptet, daß Robespierre seine Rede gehalten habe, um »Herr der Ereignisse zu bleiben«. Dieser Raum des sprachlichen Monopols läßt die einen zu Codierem, die anderen zu Decodierem werden; und die Botschaft, die da getauscht werden soll, setzt voraus, daß der Code von den Codierern wie von den Decodierem gleichermaßen anerkannt wird. Und genau darum, so war schon an der Sprachlehrertätigkeit Simons zu erkennen, geht es: um Herrschaft und Akzeptanz des Codes. Derart ist die Phrase in die Ordnung und in den Code zurückgenommen, in das gesellschaftliche Modell des Austauschs von Sprache. In den Revolutionsreden, in dem Szenario der theatralen Präsentation der Rede ebnet die Revolutionssprache alles reversible und polychrome Sprechen ein; sie wird undurchlässig für Erwiderung und Antwort außerhalb von Code und Kommunikation. Deshalb gibt es keine Wiederholung der Szene I, 2. Und dafür steht nochmals Simon allegorisch ein. An seinem Beruf des Soufflierens wird nämlich deutlich, daß in diesem Drama der herrschende und zu erlernende Text vorgegeben und durch keine Antwort zu verändern ist; ebensowenig, wie im konventionellen Schauspiel ein Akteur in seine eigene Rolle eingreifen und sie verändern kann. Mit der Monopolisierung und Institutionalisierung der Rede erstarrt Kommunikation, »vorausgesetzt, man findet sich bereit, Kommunikation als Austausch zu definieren, als reziproken Raum von Rede und Antwort (parole et réponse), als Raum also einer Verantwortung (re127
sponsabilitö), - und zwar nicht im Sinne psychologischer und moralischer Verantwortung, sondern als eine von einem zum anderen im Austausch sich herstellende persönliche Korrelation.«97 Gerade dieser emphatische Begriff der Kommunikation als dialogischer Austausch in »persönlicher Korrelation« wird historisch exakt von Zeitgenossen Büchners entfaltet. Von Hegel theorieimplizit vorbereitet, 98 sieht Adam Müller schon explizit im »Gespräch« das nicht oppressive Modell gesellschaftlicher Kommunikation; 99 eine Theorie, die ihren Höhepunkt in Humboldts Aufsatz >Ueber den Dualis< von 1827 findet. Hier wird programmatisch ein dialogisches Gegenkonzept zur Monopolisierung und Institutionalisierung der Rede entworfen. Humboldt betont nämlich die Besonderheit des sprachlichen Verhältnisses, das ein >Ich< zu einem >Du< herstellt, gegenüber dem Verhältnis von >Ich< und >ErEr< ist abwesend, >Du< aber in persönlicher Korrelation anwesend. Für Humboldt gelingt Sprache und Sprechen erst, wenn es zum Ansprechen des Du wird und Erwiderung und Antwort geworden ist. Ein solches sprachliches Verhältnis, dem erotischen verwandt, geht eben durch die Unersetzbarkeit von Ich und Du über Sprache als bloßes Verständigungsmittel hinaus und ermöglicht »gemeinsames Handeln«.100 Gerade solche Dimension der Sprache und des Sprechens wird durch die Semiokratie der Sprachverwalter abgeblockt. Tatsächlich gibt es ja keinen spontanen und wechselseitigen Austausch zwischen den drei großen Fraktionen von Radikalen, Robespierristen und Dantonisten.101 Wo sie paarweise aufeinandertreffen, wie in den Szenen I, 2 und I, 6 wird das Gespräch durch Stereotype verhindert: So durch die Kardinalphrasen Robespierres in der Auseinandersetzung mit den Sansculotten, so durch die Selbstzitate des Unbestechlichen im Treffen mit Danton. Da nämlich wiederholen seine wenigen Worte: »Das Laster muß bestraft werden, die Tugend muß durch den Schrecken herrschen«, (175) nur Sätze aus seiner Jakobinerclub-Rede drei Szenen zuvor.
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Baudrillard, Kool Killer. S. 91. Vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegeischen Logik. Frankfurt 1978, S. 46. S. besonders die ersten beiden der >Zwölf Reden über die Beredsamkeit in Deutschlands In: Über die Sprache. S. 125. Eine Ausnahme wird in Replik (191) beschrieben. Vgl. Teil IV dieser Arbeit.
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Blockiert in diesen beiden großen Szenen das Zeicheninventar des Zitattextes andere Möglichkeiten der Sprache, so unterbindet in den Szenen auf der großen Sprachbühne über das Zeicheninventar hinaus die Sprechsituation allen Widerstand. Hier werden alle auf den nämlichen Code verpflichtet, ein Code, der mit dem Schluß des dritten Aktes seine Herrschaft auch über Danton und das V o l k angetreten hat. Jetzt sprechen alle dieselbe Sprache. Daß die Monopolisierung und Verwaltung der Rede in der Französischen Revolution sich bereits der Presse verbündet und daß in der rhetorischen und kommunikativen Macht bereits die mediale Semiokratie heraufzieht, erhellt sich aus dem Brief eines Redakteurs des >Moniteur< v o m 18. Juli 1794; Adressat ist Robespierre selbst: Sie müssen bemerkt haben, daß der Moniteur die Reden der Mitglieder des Berges immer weit ausführlicher gegeben hat, als die der übrigen Conventsmitglieder. Von Louvets Anklagen gegen Sie lieferte ich nur einen Auszug, während ich Ihre Antwort ganz einrücken ließ. Ich habe alle diejenigen Reden vollständig gegeben, welche für den Tod des Königs gehalten wurden; und von allen übrigen habe ich gerade nur so viel bekannt gemacht, als unumgänglich nöthig war, um den Charakter der Unparteilichkeit nicht ganz zu verlieren. Mit Wahrheit kann ich Ihnen sagen, daß die Publicität, die ich Ihren vollständigen Reden verschaffte, nicht wenig dazu beigetragen hat, die Meinung der Versammlung und der Departemente zu bestimmen.102 Der Briefschreiber unterschätzt noch die Funktion der Presse. Denn sie verteilt nicht nur die Redeanteile nochmals um, sie reproduziert und potenziert zudem die Inthronisation des Codes, der Ordnung und des Kommunikationsmodells von Sender und Empfänger. Sie wiederholt, in der reinen Reproduktion der »vollständigen R e d e « , die theatrale Präsentation der Rede, das gesellschaftliche M o d e l l des Zitattextes und trägt es, w i e es das Dekret forderte, in alle gesellschaftlichen Beziehungen ein. Deshalb reicht es auch nicht hin, das Sprachproblem in >Danton's Tod< allein auf den Hintergrund der klassischen Rhetorik zu projizieren, wie es Gerhard Schaub versucht; die Reden in >Danton's Tod< sind vielmehr verknüpft mit der Zeitung, die »Rednerbühnen lieferten den Erzeugnissen der Presse Form und S t o f f « , wie Jochmann schrieb. Weniger verweisen sie zurück auf Quintilian und C i cero, als bereits voraus auf die Macht der Presse und der Medien.
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Zitiert nach: UZ, Bd. 12, S. 235.
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4.3. Anmerkung. Die Sprachregelung in >Danton's Tod< findet ihre technologischen Seitenstücke in der Erfindung zweier unterschiedlicher Sprechmaschinen: in der »sprechenden Maschine«, die Wolfgang von Kempelen 1778 konstruiert und 1791 in seinem Buch >Mechanismus der menschlichen Sprache nebst einer Beschreibung seiner sprechenden Maschine< der Weltöffentlichkeit präsentiert, und im Telegraphen, der zwischen 1782 und 1794 in Paris erfunden und zu Militärzwekken benützt wird, zwischen 1832 und 1840 dann von Morse zur elektrischen Informationstechnologie weiterentwickelt wird. Kempelens Maschine ist nicht ohne Blasphemie, hatte doch nicht nur die klassische Rhetorik die Ausbildung des Sprechens aus der Tatsache begründet, daß den Menschen vor dem Tier die Sprache auszeichne. Büchner findet diese Vorstellung, die er von Quintilian sicher kannte, bei Descartes wieder. Er exzerpiert: »Die Thiere sind nichts als seelenlose Maschinen, Automaten; der Hauptgrund, warum sich ihnen die Seele absprechen läßt, liegt in dem Mangel der Sprache.«103 Welche Verunsicherung es daher für die Vormachtstellung des einzigen Sprechers Mensch bedeuten muß, wenn die Automaten zu sprechen beginnen, hat Kempelen erkannt: »Eine sprechende Maschine erfinden, und sie nach einem überdachten Plan ausführen wollen, wäre wohl einer der verwegnesten Entwürfe gewesen, die je in eines Menschen Seele entstanden sind.«104 In dem Verhältnis von Sprachmaschine und Erfinder drückt sich eine dämonische Konstellation aus. Angst macht der Apparat, der spricht; Angst macht aber auch der Operateur, der sprechen läßt. Die Sprachmaschine ist das Modell eines Verlustes von Vormacht, denn der Mensch verliert den Vorrang der Sprache; und sie ist ein Modell von fremder Übermacht insofern, als der Mensch selbst nichts als eine Sprachmaschine ist, die von einem fremden Operateur zum Sprechen gezwungen wird. In der Sprachmaschine ist ein Sprecher konzipiert, der einem Sprachzwang erliegt; dem jedes Wort diktiert wird und der Worte wiederholen muß, die nicht die seinen sind. Daß ein solcher Gedanke in Büchners erstem Drama - in der Gestalt Simons - gedacht ist, war schon zu sehen. Daß Büchner ihn nach >Danton's Tod< nicht fallengelassen hat, beweist die berühmte Replik Valerios aus >Leonce und Lenac
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HA II, S. 180. Wolfgang von Kempelen, Mechanismus der menschlichen Sprache. Wien 1791, S. 388.
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Aber eigentlich wollte ich einer hohen und geehrten Gesellschaft verkündigen, daß hiemit die zwei weltberühmten Automaten angekommen sind und daß ich vielleicht der dritte und merkwürdigste von beiden bin, wenn ich eigentlich selbst recht wüßte, wer ich wäre, worüber man übrigens sich nicht wundern dürfte, da ich selbst gar nichts von dem weiß, was ich rede, ja auch nicht einmal weiß, daß ich es nicht weiß, so daß es höchst wahrscheinlich ist, daß man mich nur so reden läßt, und es eigentlich nichts als Walzen und Windschläuche sind, die das Alles sagen.105
Kempelens Maschine ist noch ganz antropomorph konstruiert. Ihren Blasebalg nennt er Lunge, ihr Klarinettenmundstück Stimmritze, ihren Trichter nennt er Mund. Auf solche Kopie des Menschen verzichtet dagegen der Telegraph, den Linguet projektiert, und der durch Robespierres Vermittlung von Claude Chappe an die Öffentlichkeit gebracht worden ist, vollkommen. Die Apparatur soll nicht vorgegebene Worte einfach wiederholen, sie soll vielmehr ganz der Generierung und Übermittlung von Nachrichten dienen. Der Telegraph setzt damit ein kommunikatives Modell und definiert sich streng durch die linguistischen Unterscheidungen von Sender, Empfänger, Botschaft, Code und Kanal; er ist das Denkmal der bürgerlichen Ökonomie des Zeichens, und der ganze Formalismus der Information und die Abstraktheit der kommunikativen Beziehung in der bürgerlichen Gesellschaft findet in diesem Apparat seinen Ausdruck. Weiter geht dann noch Morses Telegraph. Das wahrhaft Neue an seinem elektrischen Telegraphen ist die Möglichkeit - und die Erfinder haben bei einer privaten Probevorführung diesen Gedanken bereits durchgespielt - , die Nachrichtenvermittlung mittels Relais um die Welt zu spannen. Die Kommunikation wird global. Damit wird aber auch ein universaler und überall verständlicher, absolut transparenter Code notwendig. Morses berühmtes Alphabet verwirklicht die Forderung nach einer Universalsprache, welche Comenius und Leibniz stellten und die der Bürger Grégoire in der Revolutionssprache im Januar 1794 eingelöst sehen wollte: »Leibniz wollte eine Universalsprache, die das gemeinsame Band allen menschlichen Wissens wäre. Sein Wunsch beginnt sich zu erfüllen: Unsere durch Klarheit als Idiom der Vernunft anerkannte Sprache wird durch unsere Grundsätze die Sprache der Freiheit.«106 In diesem Sinne kommt die Revolutionssprache im Telegraphen zu sich: zur Herrschaft gebracht wird ein universal gültiger,
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HA I, S. 131. Bericht über die Inschriften. S. 48.
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überall dechiffrierbarer Code, ein formales Kommunikationsmodell und eine globale Vernetzung von Sendern und Empfängern. Wollte man explizit eine Verbindung zwischen den beiden Erfindungen und Büchners erstem Drama herstellen, so könnte man sagen, daß in >Danton's Tod< Robespierre und der Souffleur Simon als Sprachoperateure auftreten. Ihre Wörter: >TugendLasterTyranneiFremde< wiederholen sich in den Mündern der Bürger wie in Kempelens sprechender Maschine die Wörter >MamanRacineOperaConstantinopolisDanton's Tod< die Herrschaft der Phrase bedacht, Goethes >EgmontEgmont< zum Vorschein und Garanten der Freiheit und der gelingenden Geschichte gegen das »hohle 107
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J. L. Boeckmann, Versuch lieber Telegraphic und Telegraphen [...]. Carlsruhe 1794. In: Abhandlungen von der Telegraphie [...]. Hrsg. von Fritjof Skupin. Reprint, Berlin 1986, S. 98 und S. 116. In: Hamburger Ausgabe, Bd. IV. S. 454. 132
Wort«. Wie der Widerstreit von liebendem Gespräch und Phrase im >Egmont< ausgetragen wird, soll dargestellt werden, weil das Goethesche Drama dem Büchnerschen als »Gegenentwurf« 1 0 9 verbunden ist und weil die Darstellung der Herrschaft der Phrase im Kontrast auch Aufklärung über die Macht des Zitattextes in >Danton's Tod< gibt. Caroline Herder teilt in einem Brief ihrem Mann eine Äußerung Carl Phillip Moritz' mit. Anläßlich seines Studiums der Perspektive in der Malerei habe dieser erkannt, der Kern des Dramas überhaupt und der von Goethes Egmont insbesondere sei in dem, was er »Mittelpunkt« nennt, zu suchen. So ist in »Egmont« der Mittelpunkt die Szene, da Klärchen vor Egmont kniet und fragt: »Bist du der Egmont pp.« und er antwortet: »Nein, der Egmont bin ich nicht pp., dein Egmont bin ich«, und Klärchen: » S o laß mich sterben! Die Welt hat keine Freuden auf diese.« Hier sei der höchste Punkt des Stücks. Er und Klärchen. Politik ist ihm nichts gegen dieses Verhältnis; an dieser Szene hängt nun sein Tod und Klärchens freiwilliger Tod. 110
Eine äußerst zutreffende Bemerkung, die bisher nicht ernst genug genommen worden ist. Von dieser Szene aus wird das ganze Drama strukturiert, empfängt seine Bedeutung von den hier verwendeten Worten und wird motivisch von diesen durchstrahlt. In dem liebenden Gespräch zwischen Egmont und Klärchen nämlich scheint eine Verständigung auf, die gegen die entfremdende Politik, gegen die heraufziehende Willkürherrschaft Albas und darin gegen die Übermacht des »hohlen Wortes« kommunikative Freiheit nicht nur verspricht, sondern liebend Wirklichkeit sein läßt. Daß Klärchen am Ende des Stückes dann Egmont im Kerker als Allegorie der Freiheit erscheinen kann und das zukünftige Gelingen der Geschichte prophezeit, begründet sich eben aus dem liebenden Gespräch; hier hat gesellschaftliche Freiheit ihren Vorschein, hier findet sie ihre Realutopie. Adam Müller nennt in seinen >Reden über die Beredsamkeit< diese kommunikative Utopie »die tiefere dialogische Natur der Liebe«. 1 1 1 Wie Goethe versteht er sie als Gegensprache; sie opponiert den Verordnungen und Befehlen eines Regenten, »der in der Außenwelt nichts sieht, als die kolossalen Schriftzüge seiner eigenen Gedanken.« 112 109
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Vgl. Reinhold Grimm, »Dantons Tod« - ein Gegenentwurf zu Goethes »Egmont«? In: Germanisch-Romanische Monatszeitschrift 33 (1983), Heft 1, S. 424-457. Zitiert nach: Egmont. S. 568. Zwölf Reden über die Beredsamkeit Frankfurt 1967, S. 50. Müller, Zwölf Reden. S. 50.
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Wie sieht nun die zentrale Szene zwischen Goethes »dämonischem« Helden und seinem Klärchen aus? Kontrastiert zum politischen Bankrott der Regentin, die zwar guten Willens ist, aber dennoch die von außen einbrechende und per Schrift oktroyierte Tyrannis nicht verhindern kann, richtet die Szene zwischen Egmont und Klärchen, gewissermaßen im Stile der Hegeischen Rechtsphilosophie,113 im Privaten das Öffentliche, im Gespräch die Schrift, in der Liebe den Befehl. Angelegt ist die Szene zwischen den Liebenden als Umarmung. Sie wird, nach einem expositorischen Auftakt,114 gewissermaßen eingerahmt von Klärchens Begrüßung einerseits: »eilt auf ihn zu Egmont! sie umarmt ihn und ruht an ihm«n> und Egmonts Geste am Ende der Szene andererseits: »er umarmt sie«," 6 gefolgt nur noch von den aus der Umarmung hervorgehenden, alles Seiende transzendierenden Worten: Egmont. Das ist dein Egmont. Klärchen. So laß mich sterben! Die Welt hat keine Freuden auf diese.117
Das liebende Gespräch ist ein Gespräch des Blicks. So liest Klärchen aus den Augen Egmonts »Trost und Hoffnung und Freude und Kummer«,118 alle durch das wiederholte >und< parataktisch an- und gleichgeordnet. Egmont antwortet ihr, indem er die entfremdende Macht von Öffentlichkeit und Neid einem unglücklichen alter ego zuschreibt, während dieser, der anwesende, der liebende und geliebte Egmont, »der ist ruhig, offen, glücklich, geliebt und gekannt von dem besten Herzen, das auch er ganz kennt und mit voller Liebe und Zutrauen an das seine drückt.«119 Zentral und in der Satzkonstruktion die beiden Personen umschließend steht das >kennenEgmontDanton's Tod< gehört das heroische Opfer den Phrasen des Zitattextes zu. Aber auch Goethes Gegenkonzept, das liebende Gespräch und das >KennenKennen< unter der Übermacht der Phrase zum Thema macht:131 Julie. Du kennst mich Danton. Danton. Ja, was man so kennen heißt. Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint und sagst immer zu mir: lieb Georg. Aber (er deutet ihr auf Stirn und Augen) da da, was liegt hinter dem? Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müßten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Himfasern zerren. (4f.)
Hier strahlt nicht vom offenen, gelingenden, liebenden Gespräch und vom lesenden Blick das Glück ins Ganze, vielmehr stagnieren in einer auf den, wie es bei Jochmann und Grimm heißt, »Gebrauch« festgelegten Sprache der Blick und das Kennen. Der emphatisch transzendierende Gestus, der in Egmonts Satz lag, das emphatische Kennen, das Julie nun thetisch behauptet, ist für Danton zerstört. >Kennen< ist nurmehr lexikalisch das, was »man so heißt«; Klärchens Blick, der »Freude und Hoffnung und Trost und Kummer« in Egmonts Augen las, gerät zum Teil eines Steckbriefes: »Du hast dunkle Augen und lockiges Haar und einen feinen Teint«. Was dahinter liegt, die Bedeutung der Worte, die über das Gegebene hinausreichen, eine geistige Ordnung, ist dahin. Das Refugium der gelingenden Geschichte, die hebende Verständigung, ist ausgelöscht. Damit ist nicht nur die Liebe, sondern auch die Freiheit dahin, die sich in Klärchen verbanden; dahin ist auch das Opfer, das für die Freiheit geschah. Einmal noch versucht Julie, den Tod durch die Liebe zu bezwingen. Sie inszeniert den Lockentausch. Zu dem Knaben, der als Bote geschickt wird, sagt sie: Da, bring ihm das und sag' ihm er würde nicht allein gehn. Er versteht mich schon und dann schnell zurück, ich will seine Blicke aus deinen Augen lesen. (543)
Das ist die gewissermaßen klassische Codierung der Liebe. Das >Verstehen< wird zu einem Einverständnis, das noch aus den Augen des Botschafters zu »lesen« ist. Danton antwortet im Selbstgespräch: Ich werde nicht allein gehn, ich danke dir Julie. (570)
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Reinhold Grimm übersieht die Büchnersche Destruktion dieses zentralen Motivs.
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Allein, der nächste Satz schließt adversativ an: Doch hätte ich anders sterben mögen [...]. Es war ja die Versprechung im >Egmont< gewesen, daß die liebende Verständigung die Ent-Fremdung durch den Anderen aufheben könnte. Das fremde Draußen hatte sich im Anderen und in den Anderen verwandelt, hatte seine Fremdheit verloren und war zur Allegorie der Freiheit geworden. Solche positiv verstandene »Veränderung« 132 mißlingt in >Danton's TodVieux CordelierDanton's Tod< auch Büchners gewesen, so rebellieren sie gleichermaßen durch die Zitation gegen das fatale Gesetz der Geschichte. Desmoulins Technik des Zitierens und der Anspielung bringt - in der Historie wie in >Danton's Tod< - nicht nur Unordnung in die Ordnung der Namen und Zeichen. Durch die Umstellungen, Verzerrungen und Allusionen erscheint auch das geschichtliche Geschehen, zu dem das Zitat kommentierend Stellung bezieht, in einem anderen Licht. Die monströse Geschichte, die aus Worten produziert ist und an die doch keine Worte heranreichen, sieht sich plötzlich von einem unerwarteten Vergleich, von einem Zitat, einer Parodie erfaßt. Die Verstellung der Namen und Zeichen entfaltet einen Text über oder unter dem Zitattext; die Verschwiegenheit der Zeichen bricht auf, die Anspielungen werden bedrohlich. In der letzten Szene des ersten Aktes, in eben der Szene, in der St. Just von den Epigrammen Dantons berichtet und die Notwendigkeit der Handlung daraus ableitet, wird auch der Tod der Dantonisten beschlossen. St. Just versucht nun Robespierre zu überzeugen, daß alle Dantonisten unter das Fallbeil müßten. Auf die Forderung: »Sprich deutlicher« (196) wird der Mord - fast möchte man sagen: vorschriftsmäßig - antikisiert: »Wir müssen ihn in seiner vollen Waffenrüstung beisetzen und seine Pferde und Sclaven auf seinem Grabhügel schlachten.« (197) Zur Gefolgschaft zählt er Lacroix, Hérault (»Er war der schöngemalte Anfangsbuchstaben der Constitutionsacte, wir haben dergleichen Zierrath nicht mehr nöthig, er wird ausgewischt.« [201]), Philippeau und Camille Desmoulins. Robespierre, der der Jugendfreundschaft mit Camille sentimental nachhängt, interveniert. Die Notwendigkeit des >Schlachtens< wird von St. Just nun mittels einer Nummer des >Vieux Cordelier< bewiesen. »Da lies!« Robespierre wiegelt nochmals ab: »Aha, der alte Franziskaner, sonst nichts? Er ist ein Kind, er hat über Euch gelacht.« (204) Aber St. Just zwingt den jakobinischen »Messias« zu lesen, und was dieser nun in dem von Büchner aus unterschiedlichen Quellen zusammenmontierten Artikelausschnitt findet, führt direkt zur Liquidation des Autors:
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Robespierre, (liest) »Dießer Blutmessias Robespierre auf seinem Kalvarienberge zwischen den beyden Schächern Couthon und Collot, auf dem er opfert und nicht geopfert wird. Die Guillotinenbetschwestern stehen wie Maria und Magdalena unten. St. Just liegt ihm wie Johannes am Herzen und macht den Convent mit den apokalyptischen Offenbarungen des Meisters bekannt, er trägt seinen Kopf wie eine Monstranz.« St. Just. Ich will ihn den seinigen wie St. Denis tragen machen. Robespierre, (liest weiter) »Sollte man glauben, daß der saubere Frack des Messias das Lcichenhemd Frankreichs ist und daß seine dünnen auf der Tribüne herumzuckenden Finger Guillotinmesser sind?« (206ff.)
Der ganze Passus schreibt sich her aus einer Variation oder variativen Auslegung und Verkehrung des Messias-Titels Robespierres, mithin aus vorgegebenem Material. Wie Sentenz und Epigramm arbeitet hier die Allusion als sekundäres Sprechen in vorhandenen, besetzten, definierten sprachlichen Bezügen und verzerrt sie. Erst die Ausweitung und Entstellung, die Schärfe des Kontrastes (Messias-Guillotinemesser) bringt die sprachliche Negativität der Reden, die »Guillotinemesser« sind, so drastisch auf den Punkt, daß Robespierre nur ein bedauerndes »Also auch du Camille?« und dann ein entschiedenes »Weg mit ihnen! Rasch!« übrigbleibt. So unverdaulich aber ist den Chefrhetoren diese Zitatarbeit und die Erkenntnis, die ihr entspringt, daß Robespierre unverzüglich den Schreiber samt seiner Zeitschrift liquidiert (der historische Robespierre wünschte den >Vieux Cordelier< verbrannt zu sehen). Mehr noch, die Verkehrung des Messias-Namens in den »Blutmessias«, der »opfert und nicht geopfert wird«, ist so unabweislich, daß sie, kaum daß Robespierre alleine ist, wiederkehrt und zu einem Taumel der Verkehrungen führt: Ja wohl Bluimessias, der opfert und nicht geopfert wird. - Er hat sie mit seinem Blut erlöst und ich erlöse sie mit ihrem eignen. Er hat sie sündigen gemacht und ich nehme die Sünde auf mich. Er hatte die Wollust des Schmerzes und ich habe die Quaal des Henkers. (213)
Die Umkehrung des Bildes wird - nicht zur doxa, sondern zur paradoxa der Revolution.
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3. Das »strafende Zitat«/Paralyse Epigramm und Sentenz wie zirkulierendes Zitat und Allusion reflektieren als sekundäres Sprechen die herrschende und vorgegebene Sprache. Greift aber das Epigramm die Ausbreitung, die Topographie des Zitattextes als das strenge Geflecht der Sätze an, so verändert das zirkulierende Zitat die Beziehung des Textes zu seinem Repertoire. Das »strafende Zitat«, wie Adorno die Technik von Kraus nennt, vorgegebene Texte nicht für, sondern gegen sich selbst sprechen zu lassen, und die Paralyse greifen dagegen in die Materialität des vorgegebenen Textes selber ein. Sie erst behandeln den Zitattext als wörtlich zu wiederholenden Text, als buchstäbliches Unheil. Die Paralyse, unter der ich den Versuch verstehen möchte, vorgegebenes sprachliches Material durch eine über das Zitat hinausgehende Verzerrung gewissermaßen abzugelten, verzichtet gänzlich auf eine eigene Struktur und realisiert sich allein in der Beziehung einer sprachlichen Aktion zu der vorgegebenen Textkonstruktion. Diese sprachlichen Zitationen - nun nicht der Kulturgeschichte, sondern des Zitattextes - leisten in >Danton's Tod< Danton und sein Privatzirkel. Ihre Paralysen des Zitattextes gehen dabei ganz von der Vorherrschaft, von der wörtlichen Vorherrschaft bereits gesprochener Sätze aus. Diese Sätze sind ihnen Realität; die Worte, die da gesprochen werden, Indizien dessen, was ist und was heraufzieht. Das strafende Zitat gesteht zunächst, weil es reine Repetition ist, die Übermacht dieser Sätze, dieser Metaphern ein; zugleich aber baut es darauf, daß in der Wiederholung die Negativität des Zitierten aufbricht. Während in der rhetorischen und logischen Verknüpfung der Sätze der einzelne Satz, die einzelne Wendung in der Hierarchie aller anderen steht und dabei gleichsam unsichtbar wird, segmentiert das wörtliche Zitat in der Wiederholung einzelne Textelemente, bricht sie aus ihren Kontexten heraus macht sie zu spürbaren Zeichen der Negativität. Im Abbruch, in der Segmentierung ist das strafende Zitat also selbst bereits paralytisch. Beide Formen sprachlicher Dekomposition gehen davon aus, daß das Vorgegebene gegen seine eigenen Intentionen aussagt, gewissermaßen Dimensionen des Verrats besitzt. Solche Hoffnung, ja Sicherheit spricht Danton deutlich aus, wenn er über Legendre, der im >Klubb< ungewollt die Rede Robespierres und damit den Beginn des dramatischen Prozesses heraufbeschworen hat, sagt: »Wir sind Legendre Dank schuldig, er hat sie sprechen gemacht« (156), oder: »Morgen geh' ich zu Robespierre, ich werde 151
ihn ärgern, da kann er nicht schweigen.« (171) In allem, was sich zu Sätzen formuliert, ist für Danton das Ungesagte und Verschwiegene schon mitgesagt. Sprache ist als Systemzwang Herrschaft, und das Sprechen ist Anzeige von Herrschaft. Das aber heißt ein doppeltes: alle konkreten Sätze erfüllen die Herrschaft des Systems; zugleich aber wird in ihnen auch das System, das sich in der Phrase verbirgt, ansichtig. In Dantons Spracharbeit etabliert Büchner, wie Nestroy, eine »linguistische Hörweise: An ihrer Sprache sollt ihr sie erkennen.« 22 Die paralytische Beziehung der Kommentare Dantons zum Zitattext vermittelt sich durch die wörtliche Wiederholung von Wörtern und Sätzen aus dem Zitattext. Teile der Reden werden aus ihrem Zusammenhang: aus der Verbindung von Zeit, Ort und Handlung ebenso wie aus dem Kontext der Sätze innerhalb der Rede, herausgelöst, in >Nebenszenen< eingetragen und einer kritischen Sprachanatomie unterworfen. So fordert in der Szene I, 3 - eine Szene, die von Büchner hauptsächlich aus Thiers' Revolutionsgeschichte und der UZ übernommen worden ist - Collot die Jakobiner auf, den Renegaten der Revolution »die Masken abzureißen« (96), ein Topos der Revolutionsrhetorik. Und Robespierre führt in seiner anschließenden Rede sein zentrales Ideologem mit den Worten aus: Die Waffe der Republik ist der Schrecken, die Kraft der Republik ist die Tugend. Die Tugend, weil ohne sie der Schrecken verderblich, der Schrekken, weil ohne ihn die Tugend ohnmächüg ist. Der Schrecken ist ein Ausfluß der Tugend, er ist nichts anders als die schnelle, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit. (99; von Büchner zitiert nach UZ, Bd. 12, S. 34f.)
Eben diese Worte trägt nun aus der theatralen, rhetorischen Szenerie ein Bote, Lacroix, in Dantons Zimmer im palais royal. Nach der phatischen Eröffnung (»Höre Danton, ich komme von den Jacobinern.« [146]) berichtet Lacroix nicht allein den Ablauf der Jakobinersitzung, sondern wiederholt wortgetreu Segmente aus den Reden im >KlubbGeheimnis um Marie Roget< beruht vollständig, wie Poe immer wieder betont, auf Zeitungsartikeln; der Gang seiner Erzählung ist nichts anderes als die Rekonstruktion eines Geschehens im Medium der Berichte, die es hervorrief: »Das >Geheimnis um Marie Roget< wurde fem vom Schauplatz der Greueltat abgefaßt, und der Autor konnte sich dabei einzig aus den Zeitungen unterrichten.«24 Und in einem Brief: »Ich prüfte, eine nach der anderen, die Ansichten und Argumente unserer Presse über diese Angelegenheit und stellte überzeugend fest, daß man der
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Auf Coopers Werke, die ebenfalls bei Sauerländer erschienen, wird im Anhang der Erstausgabe von >Danton's Tod< hingewiesen. Edgar Allan Poe, Das gesamte Werk. Hrsg. von Kuno Schumann und Hans Dieter Müller. Ölten 1966, Bd. I, S. 779. 155
Wahrheit bisher nicht näher gekommen war. [...] Mein Hauptanliegen ist wie immer, die Grundsätze aufzuzeigen, die man bei einer solchen Untersuchung befolgen mußte - also Dupins Ansichten darüber.«23 Das Ziel der Erzählung, die eine »Untersuchung« ist, liegt einzig darin, unter veränderten Namen ein Verbrechen aufzuklären, »die Wahrheit zu finden.«26 Die Kunst besteht für Poe in der artistischen Kommentation des Geschriebenen, in der Interpretation von Texten, die sein Detektiv zur Rekonstruktion ebenso offensichtlich zitiert, ausschnitthaft und fragmental wiederholt, zur Rekonstruktion ausleuchtet, wie auch Büchner augenfällig die Reden der Revolution zitiert und wie Danton die Rede Robespierres bruchstückhaft repetiert und umkehrt. Die Erzählung ist für Dupin/Poe nichts als ein verändertes Lesen vorgegebener Texte, die ihre Wahrheit gewissermaßen an der Oberfläche und durch Offenheit verbergen; gerade so, wie der Minister D. den entwendeten Brief dem Blick entzieht, indem er ihn für jeden sichtbar in einem »schäbigen Filigran-Gestell aus Pappkarton«27 aufbewahrt. Das Ingenium des Detektivs, seine idiosynkratische Rationalität (für Poe eine Verbindung aus Mathematik und Dichtung) sieht da Indizien, wo der konventionelle Blick automatisiert alles in Ordnung wähnt. Gerade das Zu-Selbstverständliche,28 das Zu-Schlichte 29 birgt Wahrheit. Dupin weiß, »daß wir gerade den nebensächlichen, zufällig anfallenden Ereignissen die allermeisten und wertvollsten Entdeckungen verdanken.«30 Mit diesem Konzept hat Büchners Danton-Figur einiges gemein. Wie Dupin präpariert Danton coram publico vorgegebene sprachliche Äußerungen; und er versucht, den Reden, die ihm vorgegeben sind, einen zweiten Text abzulauschen. Dieses Aushören eines Subtextes heißt Kunst, für Büchner wie für Poe. Und wie Dupin vermutet auch Danton das Geheimnis und das Unheil im Selbstverständlichen. Hatte der designierte Heroe doch schon in der ersten Szene des Dramas Camille erklärt: »Oh, es versteht sich Alles von selbst« (26), um anzudeuten, daß das, was dem normalen Denken selbstverständlich er-
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Ziüert nach: Walter Lenning, Poe. Hamburg 1959, S. 114. Poe, Das Geheimnis der Marie Roget. S. 779. Poe, Der sübitzte Brief. In: Das gesamte Werk. Bd. 1, S. 939. Poe, Der stibitzte Brief. S. 917 und S. 938, wo es heißt: »[...] was allzu aufdringlich und allzu handgreiflich selbst-verständlich ist, läßt der Intellekt unregistriert vorüber.« Poe, Der sübitzte Brief. S. 917. Poe, Marie Roget. S. 824. 156
scheint, gerade Katastrophales verbirgt oder von Katastrophalem jederzeit eingeholt werden kann. Beiden, Büchner wie Poe, wird die Bauweise des poetischen Textes zur Anatomie eines vorgegebenen, zitierten Textes; die poetische Analyse schreibt sich in ihre Vorgabe ein. Büchner und Poe rekonstruieren in den Texten ein Geschehen, das in den Texten zwar aufgehoben, nicht aber in der konsekutiven Abfolge der Zeichen zu finden ist. Bei Poe wird dabei das X der Gleichung, das Verbrechen, durch eine noch ihr Gegenteil mit umgreifende Rationalität - prototypisch im >Stibitzten Brief< - gefunden. Ihm schließen sich die Indizien; das Geschehen findet in den (Zeitungs-)Texten, die es hervorgerufen hat, seine logische und einsichtsvolle Rekonstruktion und Erklärung. Indem der logische Gedanke des Detektivs die Welt ins Lot bringt, Moral und Recht wiederherstellt, wird auch das X der Rechnung aufgelöst. Das Geschehen geht für Dupin in einer (exzessiven) logischen Erzählung auf. Durch die positivistisch erstellte kausale Kette der Indizien gibt Poes Detektiv der Welt zu verstehen, daß es ihr an Rationalität mangelt. Deshalb berichtigt Dupin die vorgegebenen Texte, entstellt oder verzerrt sie nicht. Sprache ist als unbefragtes Werkzeug der Methode und der Logik unterstellt. Dieser entscheidende Punkt trennt Danton von Dupin. Der vorgegebene und analysierte Text ist nicht die schlecht gedachte Theorie über ein sich in Wirklichkeit logisch abspielendes Geschehen; der Text ist vielmehr das Ereignis selbst; das Sprachsystem besetzt phraseologisch das Reale. Die Annäherung an die Negativität der Geschichte, an das »x unserer Rechnungen« (222) ist deshalb zur Destruktion der herrschenden Sprache verpflichtet. Die Poetik durch den kriminologischen Diskurs der Wahriieit zu ersetzen, bedeutet nur, eine neue Ordnung einzuführen. Dupins Ideal ist eine restlos transparente Welt ohne Fatalität, Differenz und Übermacht. Aber die Parolen, Reden und Phrasen in >Danton's Tod< besetzen das Reale; tendenziell bleibt aller Einspruch wortlos und verdunkelt. Peter Horn hat darauf hingewiesen, daß unter der Vorherrschaft einer Sprache jeder Versuch der Abweichung »dem offiziell zum Sein erklärten sprachlos und hilflos entgegensteht.«31 Weil das Drama genau 31
Peter Horn, »Ich meine für menschliche Dinge müsse man auch menschliche Ausdrücke finden«. Die Sprache der Philosophie und die Sprache der Dichtung bei Georg Büchner. In: GBJb 2/1982, S. 219. 157
dieses Spannungsverhältnis aber reflektiert, ist die Sprache in >Danton's Tod< nicht das unbefragte und vorausgesetzte, sondern das befragte und fragwürdige Medium des Dramas. Die Worte sind nicht nur einer einsichtigen Rekonstruktion ungefügig, sondern selbst Teil der Negativität; sie blockieren, was es zu sagen gälte. Unterbindet aber der Code den Ausdruck der Negativität, die er erzeugt, bleibt nur, entweder der Sprache die Unbeherrschtheit jenseits der Sprachordnung zurückzuerstatten, wie es Rimbaud versuchen wird, oder aber der herrschenden Sprache ihre Ordnung als Erstarrung, als Ordnung des Todes aufzuweisen. Eben das leisten das strafende Zitat und die Analyse konkret: sie erbringen den Nachweis, daß die Sprache, die da gesprochen wird, sich in der Guillotine manifestiert. Für das strafende Zitat und die paralytische Sprachaktion meldet sich in jeder erstarrten Metapher, in jeder erledigten Redewendung, der Tod an. Die Präparation und Paralyse der ausgetrockneten Sätze macht dabei zur Technik, was Jean Paul in der >Vorschule der Ästhetik< als die Arbeit des »bösen Feindes« beschreibt: »Jede Floskel und Redeblume ist ein Lorbeerzweig, welchen vielleicht der böse Feind aufhebt und trocknet zu künftigem Fegefeuer.« 32 Sprache ist in der Negation und in der Unordnung, in dem, was den Ausschluß und damit die Konturen der herrschenden Sprache hervortreibt; Sprache ist in der Präparation der Erstarrungen, in der Verzerrung, Verkehrung, Demolierung der vorgegebenen, überherrschenden Wortproduktion des Wirklichen. Kunst als paralytische Arbeit ist Spracharbeit; an die Stelle des poetischen Symbols tritt - bei Büchner sicher in Zusammenhang zu denken mit den naturwissenschaftlichen Studien - das Symptom, das Indiz und das Detail. Der Sprachanatom Danton liest die Wirklichkeit als Text, und Bruchstücke des Textes als Symptom der Negativität der Sprache, der er entstammt. Wie in der Anatomie der Franzose Xavier Bichat die Medizin revolutionierte, indem er die Organe des Körpers als Haut und Gewebe begriff, wie ihm daher eine Gewebeprobe genügte, um die Krankheit eines Organs zu diagnostizieren, so dient in >Danton's Tod< die Sprache als Metasystem des Wirklichen; das Zitat, das die Reden in Convent und Club wiederholt, ist die Entnahme einer Gewebeprobe aus dem Sprachleib. 32
Jean Paul, Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Weimar 1935, Erste Abteilung, 11. Band, S. 139.
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Die Technik der Zitation und der Analyse, der Anatomie des Zitattextes findet die Sätze als Symptome einer vollständigen Negativität vor; alle Zeichen stehen auf Tod. Die Peripherie des Textes, die Floskeln und Metaphern, sprechen und zeugen gegen die herrschende Sprache. Das Auflesen des Dahingesagten, der automatisierten Rede, die buchstäbliche Répétition von Redewendungen: die durch Zitat und Kommentar segmentierten Phrasen, gehören einer Spracharbeit zu, welche die Negativität der Sprache von der Peripherie aus angeht, weil sie in den ausgehöhlten Wendungen die Wahrheit über das Pathos des Bedeutsamen entdeckt und aus ihnen den Schritt des Heraufziehenden heraushört. Roland Barthes hat einmal eine neue Linguistik gefordert, die statt der Etymologie und der Lexikologie der Wörter ihr, mit einem Ausdruck Nietzsches, »Hart- und Starrwerden«, »ihre Verdickung im Laufe des historischen Diskurses« untersuchen solle. Eine solche Wissenschaft, die nach Barthes »zweifellos subversiv« wäre, deckte den »Sprachcharakter« der Wahrheit auf. 33 Solchem Gebot hat im neunzehnten Jahrhundert die Kunst Jeans Pauls und Büchners, Grabbes, Nestroys und Offenbachs gehorcht und mündet zur Jahrhundertwende in das Werk von Karl Kraus. Solche Wissenschaft hat bereits Swift in einem »Gemeinplatzsammelbuch« betrieben - eine Sammlung, mit der er seine Satiren versorgte - , und solche Linguistik betrieb Flaubert mit seinem 1850 fertiggestellten >Dictionnaire des Idées reçuesc »Die nachgelassenen Werke Flauberts enthalten ein Dictionnaire des Idées reçuesdaß man, sobald man ihn einmal gelesen hätte, nicht mehr zu reden wagte, aus Angst, ganz selbstverständlich (!) einen Satz zu sagen, der darin steht.Kunst< betrieben wird, dokumentiert zwar nurmehr die Allianz von Phrase und Tod; gleichwohl verlangt die Präparation solchen Dokuments eben jene Gefährlichkeit der Sprache, die der Code absorbieren möchte. Denn wo würde eine Metapher nachhaltiger ins Leben der Sprache zurückgerufen, als da, wo ihre Erstarrung aufbricht, und zwar im doppelten Sinne, indem sie zum Vorschein kommt und rissig wird? Wo wird eine Metapher spürbarer, als in dem kleinen Disput zwischen Danton und Lacroix, der ihren tödlichen Automatismus aufgedeckt? Danton. Und Robespierre? Lacroix. Fingerte auf der Tribüne und sagte: die Tugend muß durch den Schrecken herrschen. Die Phrase machte mir Halsweh. Danton. Sie hobelt Breuer für die Guillotine. Lacroix. Und Collot schrie wie besessen, man müsse die Masken abreißen.
Danton. Da werden die Gesichter mitgehen. (149f.)
4. Witz und Zote Die Sprachordnung der Revolution exkludiert explizit das obszöne Sprechen: als Erotikon und als Sprachspiel ist es doppelt verfemt. Im Dekret von 1794 hatte es geheißen: Zu Beginn der Revolution mochte es noch hingehen, um deren Grundsätze zu verbreiten, manches Mal die Umgangssprache achtlos zu verwenden. Aber schließen Alltäglichkeit und Anstand sich aus? [...] Welches Verhängnis hat unter modernen Völkern diesen rüpelhaften Sprachgebrauch eingeführt, der unter dem Vorwand zu fluchen, nichts anderes darstellt als Bilder des Blasphemen und Obszönen? Dieser Brauch hat ein so leichtes wie
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abscheuliches Talent, die Nullität des Geistes zu verbergen oder der Brutalität einen noch wilderen Akzent zu verleihen.35 Und bedauernd heißt es weiter: »Und doch ist dies die gewohnte Sprache einer großen Anzahl unter uns.« 34 Das obszöne und blasphemische Sprechen ist nicht nur der Sprachordnung von 1794 Anathema, sondern auch Büchners Zeitgenossen. Die sprach-moralische Kritik an seinen »Ferkeldramen« 3 7 versucht Büchner der Familie gegenüber dadurch abzuwehren, daß er auf die »weltbekannte obscöne Sprache« 3 8 der französischen Revolution verweist: die Obszönitäten seien Teil jenes Geschichtsbildes, welches das Drama seiner Auffassung nach zu geben habe. Die Zeitgenossen Büchners mochten diese historisch-ästhetische Argumentation nicht akzeptieren; sie sahen sich selbst in eben den obszönen Wortspielen angegriffen, die Büchner seinen historischen Akteuren zuschrieb. Die literarische Öffentlichkeit der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts zieht dieselbe sprachliche Demarkationslinie wie das Dekret von 1794. Das wird deutlich an der verstümmelten Fassung des Büchnerschen Revolutionsdramas in Gutzkows >PhönixDanton's Tod< gezwungenermaßen, treibt ihm die »Veneria« und die »Quecksilberblumen« 40 aus. Aber Gutzkow weiß dabei um die Bedeutung dessen, was er dem Drama nimmt. Im >Nachruf< heißt es: Als ich nun, um dem Zensor nicht die Lust des Streichens zu gönnen, selbst den Rotstift ergriff, und die wuchernde Demokratie der Dichtung mit der Schere der Vorzensur beschnitt, fühlt' ich wohl, wie gerade der Abfall des Tuches, der unsem Sitten und Verhältnissen geopfert werden mußte, der beste, nämlich der individuellste, der eigentümlichste Teil des Ganzen war. Lange, zweideutige Dialoge in den Volksszenen, die von Witz und Gedankenfülle sprudelten, mußten zurückbleiben. Die Spitzen der Wortspiele mußten abgestumpft werden oder durch aushelfende dumme Redensarten, die ich hinzusetzte, krumm gebogen.41 35 34 37
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Dekret. S. 57. Dekret. S. 57. Nach Gutzkows Bemerkung im Brief vom 10. Juni 1836 an Büchner. In: Bergemann (1958), S. 535. Brief an die Familie, 28. Juli 1835. HA II, S. 444. Gutzkow an Büchner, 3. März 1835. Bergemann (1958), S. 516. Gutzkow an Büchner. S. 516. In: Gutzkow, Liberale Energie. S. 185. 161
Ein vorbehaltloseres Lob ist den ohnehin nur selten beachteten Techniken des Witzes und speziell der Zote in Büchners Drama bis heute nicht gezollt worden. Gutzkow, der schon in der emphatischen Rezension von >Danton's Tod< Büchner Witz, Geist, Eleganz und Humor attestiert, 42 der für >Leonce und Lena< das »Übergewicht der Wörter über die Handlung« feststellt und zugleich und zu Recht den Witz Brentanos »keuscher« als den Büchnerschen findet, 43 der endlich noch in einer >späten Erinnerung< neben den »charakteristisch wiedergegebenen Momenten der Französischen Revolution« besonders auf die »witzigen Einfälle« 44 in Büchners Erstlingswerk hinweist, dieser Gutzkow benennt also in seinem >Nachruf< gerade die Zweideutigkeiten der Volksszenen als die »individuellste« und »eigentümlichste« Sprechweise des Dramas. Nun lassen sich zwar, wie zu sehen war, in den Volksszenen noch andere Redeweisen auffinden - so viele, daß man dem vierten Stand in Büchners Drama gleich vorwarf, er sei seiner selbst als Klasse nicht bewußt, weil es den Bürgern an der »gemeinsamen Sprache« für die »gemeinsame Sache« 45 ermangele - , gleichwohl ist der hohe Anteil gerade der Zoten auffällig und bedeutsam. Denn wie die anderen bisher untersuchten Redeweisen, welche die Sprachordnung verletzen, arbeiten auch Witz und Zote mit dem, was Freud in der Untersuchung über den Witz die »mehrfache Verwendung desselben Materials«46 nennt; und wie Epigramm, Zitat und Paralyse entstellen auch Witz und Zote den Zitattext und die herrschende Sprache. Dabei wird in den Zoten die Intransingenz des Codes reversibel. Die Botschaft wird zum Witz. Drängt die Revolutionssprache in der Vermittlung durch den Sprachlehrer Simon auf Eindeutigkeit, so wird sie in den Zoten zweideutig; Sätze werden nicht dechiffriert und führen zu Handlungen, sondern werden verbogen - die Botschaft läuft leer. In der sechsten Szene des zweiten Aktes versammeln sich Simon und >Bürgersoldaten< vor Dantons Haus. Sie exekutieren die Peripetie des
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Gutzkow, Liberale Energie. S. 180. Gutzkow, Liberale Energie. S. 193. Gutzkow, Liberale Energie. S. 193. Comelie Ueding, Denken Sprechen Handeln. S. 47. Sigmund Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten. In: Studienausgabe. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u.a. Frankfun 1970, Bd. IV, S. 35.
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>erhabenen Dramaseigentlich< tragischen Geschehen nicht beteiligt sind und die in der Tragödie ebensolche Nebenrollen einnehmen wie die Fuhrleute in >Danton's TodMacbeth< (II, 3) den »tragischen Sinn des Kontrastes zwischen zwei
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Georg Zimmermann, Erinnerung an einen »außerordentlichen Menschen«. GBJb 5/1985, S. 343. Anders in den Komödien. Vgl.: Burghard Dedner, Bildsysteme und Gattungsunterschiede in >Leonce und LenaDantons Tod< und >LenzHamletIm Geschriebenen ein Symptom dessen sehen, was verschwiegen wurde.< (Nietzsche) [...] Und was verschwiegen wird, kehrt als Bedrohung in Form einer geringfügigen, aber irreversiblen Subversion seines Diskurses wieder.«61 Der Sprachfehler geht über die Markierungen der Diskursordnung und über die erstarrten phraseologischen Wendungen hinaus; er ist das Symptom eines Gegensinns, der sich gegen den Willen des Sprechers im faux pas durchsetzt, und erhebt unmittelbar Einspruch gegen die herrschende Sprache. Dieses Versprechen oder Entgleiten der linearen Diskursivität ist innerhalb des Zitattextes das unbewußte Korrelat zur bewußten Verzerrung der Paralyse und der Zote und verifiziert gewissermaßen deren Kritik: die Herrschaft durch Sprache ist auch die Herrschaft über und gegen Sprache. Das am ausgiebigsten in der Forschung bisher diskutierte (und von Werner R. Lehmann übermäßig ausgeschlachtete 62 ) Beispiel eines durch den Sprachfehler verursachten Gegensinnes ist der mythologische Vergleich, mit dem St. Just seine große Konventsrede ausklingen läßt: Die Revolution ist wie die Töchter des Pelias; sie zerstückt die Menschheit um sie zu verjüngen. Die Menschheit wird aus dem Blutkessel wie die Erde aus den Wellen der Sündfluth mit urkräftigen Gliedern sich erheben, als wäre sie zum Erstenmale geschaffen. (370)
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Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod. München 1982, S. 345. Werner R. Lehmann, »Geht einmal euren Phrasen nach ...«. Revolutionsideologie und Ideologiekritik bei Georg Büchner. Darmstadt 1969, S. 20-24; derselbe: Mythologische Vexierspiele. Zu einer Komposiüonstechnik bei Büchner, Döblin, Camus und Frisch. In: Festschrift für Adolf Beck, hrsg. von Ulrich Füllebom. Heidelberg 1979, S. 189-193. 168
Denn die Medea der Mythologie beabsichtigt nur zum Schein, dem Pelias ewige Jugend zu schenken. Sie täuscht die Töchter, die so ihren Vater morden, denn der Zerstückte bleibt tot. Kurz, durch den Fehlgriff im Mythologem - eine Fehlleistung, die Büchner sicherlich bewußt eingearbeitet hat, verwendet er doch den Medea-Mythos in Zusammenhang mit dem Motiv der Zerstückelung bereits im Beginn des Dramas (114) - enthüllt der Revolutionsmann das geheime, >verschwiegene< Vernichtungsprogramm seiner Rede. Der Rest ist Blendwerk.63 Auf einen anderen Versprecher, der ähnlich Ungesagtes zur Sprache bringt, weist Louis Ferdinand Heibig hin. 64 In Robespierres großer Ansprache im ersten Akt heißt es nämlich zur Liquidierung der H6bertisten: Hebert's Triumph hätte die Republik in ein Chaos verwandelt und der Despotismus war befriedigt. (99) >Wäre befriedigt gewesen< hatte es natürlich heißen sollen, ein Irrealis; eine Möglichkeit der Geschichte, die durch das beherzte Eingreifen der Jakobiner um den Unbestechlichen gerade - so meint es Robespierre - verhindert worden war. Aber statt dessen gerät dem Redner der Lapsus des Indikativs in die Konstruktion, und das Geschehene erscheint in einem verkehrten Licht. Denn nun heißt der Satz, nimmt man ihn wörtlich, daß mit dem Untergang der H6bertisten der Despotismus befriedigt war. Was nach Robespierres Meinung durch die Guillotinierung der Radikalen verhindert worden war, ist mit diesem Vorgang gerade eingetreten: die Konterrevolution. Vielleicht ist die Stelle überinterpretiert, vielleicht handelt es sich nur um einen der »Gallizismen«65 in der Büchnerschen Übersetzungskunst (hier aus Thiers' Geschichtswerk); vielleicht verrät aber auch im unscheinbaren Indikativ der Jakobinismus, der die Revolution verrät, sich selbst.
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Kaum ein größeres Werk, das sich diese Fehlleistung entgehen ließe. Es seien nur einige genannt: Behrmann/Wohlleben, Büchner: Dantons Tod. S. 183; Adolf Beck, Unbekannte französische Quellen. S. 361; Hinderer, Büchner-Kommentar. S. 110; Erwin Kobel, Georg Büchner. S. 33f.; Helmut Koopmann, Dantons Tod und die antike Welt. S. 39; Peter Szondi, Dantons Tod. In: derselbe, Versuch über das Tragische. Frankfurt 1961, S. 104. Heibig, Das Geschichtsdrama Georg Büchners. S. 85. Thieberger, Les sources. S. 54; Thomas M. Mayer, Büchner und Weidig. S. 60 und S. 145. 169
Und vielleicht darf man auch jenes Lacroix'sche Schlußepigramm - ganz in der Rhetorik des heroischen Sterbens gehalten - in die Reihe der Versprecher eingliedern. Es heißt da: Die Tyrannen werden über unsern Gräbern den Hals brechen. (645)
Lacroix vergißt das reflexive >sichErsten Abschnitt< der >Krankheit zum Tode< beschließen. Kierkegaard verwendet da das Bild vom Sprachfehler als Bild für das trotzige Selbst, das von seinem vereinseitigten Selbstsein-wollen nicht ablassen will. Sieht man einmal davon ab, daß Kierkegaard den Sprachfehler gerade desavouiert, und liest man den Satz umgekehrt als Apotheose der Einspruch erhebenden Fehlleistung, die den überherrschenden Text verkehrt, dann scheint dieser Satz wie für den Souffleur Simon und gegen die Revolutionssprache geschrieben: Bildlich gesprochen ist das so, wie wenn einem Schriftsteller ein Schreibfehler unterliefe - vielleicht war es ja gar kein Fehler, sondern gehörte in einem viel tieferen Sinne wesentlich zur ganzen Darstellung - und sich dieser Schreibfehler, seiner Fehlerhaftigkeit bewußt, nun gegen den Schriftsteller empören wollte, ihm aus Haß gegen ihn verwehren wollte, ihn richtigzustellen und in wahnsinnigem Trotz zu ihm sagte: »Nein, ich will nicht ausgemerzt sein, ich will als Zeuge gegen dich dastehen, als Zeuge dafür, daß du ein mittelmäßiger Schriftsteller bist.67
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Sören Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode. Hrsg. von Ingeborg Frieser. Bremen 1949, S. 83f. 171
TEIL V
Über den Zitattext hinaus
Büchner liest in seinem ersten Drama die französische Revolution als Text, und diesen Text montiert er aus den Schriften der Historiographie zusammen. Dessen Vorherrschaft wird dargestellt als Sprache, die alles Sprechen regelt und vereinheitlicht, die andere Möglichkeiten des Sprechens unterbindet, absorbiert und eliminiert. Büchner zeigt, wie empfindlich der Zitattext dabei auf Abweichungen reagiert. Aber er erkennt zugleich, daß an der Abweichung der Umfang des Zitattextes sichtbar wird; daß die Verletzung des Zitattextes auch dessen Grenzen sichtbar macht. Schließlich wird an den unterschiedlichen Verzerrungen der herrschenden Sprache deutlich, daß zwar der Gang des Geschehens, daß die geschichtliche Vorherrschaft der Phrase nicht aufzuhalten ist, daß aber der Totalitätscharakter dieses Fortschritts, noch bis ins letzte Wort hinein zu herrschen, aufbricht. So sammelt sich in der Sentenz, im Zitat, in der Paralyse, in Witz und Wortspiel kritisches und utopisches Potential. >Danton's Tod< wird durch diese Handlung zur Sprachhandlung, zum Widerspiel des linear ablaufenden Zitattextes und seiner Unterbrechung, von Sprachregel und Regelverletzung. Der Zitattext wird von seinen Rändern her bestimmt; er wird aber auch von seinen Grenzen her in Frage gestellt. Aus den zeitgenössischen Reaktionen auf Büchners Erstlingswerk geht hervor, daß sich das Deutschland von 1835 von der aggressiven Sprachkritik und Sprachverletzung Büchners getroffen sah. Man erkannte in der Deformierung der Reden der Revolutionsmänner den Angriff auf die eigenen Sprachnormen. So wird Georg Büchners Bruder Wilhelm auf eine Anfrage Franzos' die »scharfe und markierte Sprache« 1 im Revolutionsdrama hervorheben, und Georg Zimmermann wird zwar die Sprache als »kühn und gewaltig« loben, gleichwohl betonen, daß sie »mit widerwärtigen, vielfach Shakespearisirenden
Zitiert nach Bergemann (1958), S. 568.
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Cynismens übersäet« sei und deshalb eine »für das größere Publikum nicht geeignete Leetüre« darstelle.2 Wie stark aber Büchners Sprachkritik dem Sprachbewußtsein in den dreißiger Jahren widerstrebte, geht vor allem aus der Rezension von 1837 hervor, die Hermann Marggraff über >Danton's Tod< veröffentlichte. »Die Polemik gegen jede moralische und religiöse Ueberzeugung, ist hier gar zu wild, wüst und cynisch - cynisch oft selbst der Sprache nach.«3 Nachdem Marggraff die Blasphemie Büchners so aufs Äußerste, nämlich auf die Deformation sprachlicher Werte, gebracht hat, fährt er fort: Diese Sprache, zuweilen spröde und dunkel, sonst lakonisch schlagfertig, stolz, republikanisch kurz, männlich fest, an echt französischem Pathos und prägnanten Bildern reich, verliert sich nicht selten in's Gemeine und »stinkt« dann, um mit einem Lieblingsausdruck des Verfassers zu reden. [...] Bei diesem genialen Cynismus wird dem Leser zuletzt ganz krankhaft pestartig zu Muthe und unheimlich; er schließt die Augen, er hält die Ohren, die Nase zu; seine Gefühls- und Geschmacksnerven werden afficirt -; jeder Sinn wird aufs empörendste beleidigt und möchte außer Thätigkeit gesetzt sein.* Volker Bohn bemerkt auf Grund gerade dieser Rezension völlig zu Recht, daß Büchners Drama »nicht in erster Linie Kritik der politischen Inhalte, sondern der S p r a c h e provozierte.« 5 Aber Büchner arbeitet in >Danton's Tod< nicht nur mit Sprachverletzungen, welche an der Grenze der Revolutionssprache angesiedelt sind, er läßt seine Figuren im Drama nicht nur inkriminierte Terminologien, subversive Sprachformen sprechen, die den vorgegebenen Text und sein Regelsystem angreifen, er läßt sie auch bisweilen momentan und sporadisch - den Zitattext überschreiten. Dann realisieren die Dramenfiguren - oder versuchen es zumindest - Möglichkeiten des Sprechens, die nicht nur auf den Zitattext reagieren, die nicht nur replizieren, sondern die eine eigene Konsistenz gegen den
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Erinnerung an einen »außerordentlichen Menschen«. In: GBJb 5/1985, S. 343. In: Dokumente der Frührezeption. In: Georg Büchner III, S. 102. In: Dokumente der Frührezeption. S. 103. Bohn, »Bey diesem genialen Cynismus«. S. 121. Ganz ähnlich auch Heine: »Nein, ich gestehe bescheiden, mein Verbrechen war nicht der Gedanke, sondern die Schreibart, der Stil.« Handschrift zu den >Göttem im ExilPhrasenDanton's TodKennen< beruht, steht der Eros der Marion quer. Die Verkehrung dieser Liebe wird, das ist nicht unbekannt, bereits durch die Anordnung der Personen in der Szene verdeutlicht. Sitzt zu Beginn des Dramas der Müde »zu d. Füßen von Julie«, 8 so betont Marion: »Nein, laß mich! So zu deinen Füßen. Ich will dir erzählen.« (115) Damit ist zugleich der Beginn der Szene als Erzählung streng pointiert, gerade als Erzählung aber nochmals von der Szene Julie/Danton distinkt abgesetzt. Marions Eros ist nicht dem Dialog, sondern der monologischen Erzählung verbunden. Ihre auktoriale Geste stoppt den dramatischen Ablauf. Das unterstreicht auch das Tempus ihrer Sätze. Die Epik als Erzählung von Vergangenheit definiert sich, so Goethe und Schiller in ihrer brieflichen Auseinandersetzung über dieses Thema, geradezu durch das Imperfekt und steht konträr zum Hier und Jetzt des Dramas. Marions Monolog ist zutiefst zwiespältig. Denn während sie das Ende ihres Auftrittes deutlich dadurch unterstreicht, daß sie die Revolutionssprache und noch deren Kritik als unsinnlich, als »kalt« ablehnt, so beginnt ihre Erzählung doch mit der entgegengesetzten Bewegung: während Danton nämlich, gegen ihre auktoriale Gebärde des »Ich will dir erzählen« den sinnlichen Genuß einklagt: »Du könntest deine Lippen besser gebrauchen« (116), beharrt Marion auf ihrem Bericht, mithin auf dem Wort, auf dem Sprechen. Zweideutig ist ihr Monolog also deshalb, weil er die herrschenden Worte der Revolution mittels der Sinnlichkeit kritisiert und umgeht, zugleich aber die direkte Forderung nach körperlicher Liebe durch die Erzählung verwandelt. So steht ihr Monolog, fast autistisch aus den Zusammenhängen des Dramas gelöst, zwischen dem Sinn der Revolution, den die Revolutionssprache setzt, und den Sinnen, die durch die Worte verletzt werden. Ihre Utopie ist deshalb die Utopie einer zweideutigen, gelösten, sinnenhaften wie sinnlosen Sprache. Und so vereint sie, schon in der Erzählhaltung, die Widersprüche, die dann in der Erzählung manifest werden, den Wiederspruch von Körper und Geist, von Arbeit und Fest. »Ich bin immer nur Eins.« (117)
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Studienausgabe, S. 14. 175
Deshalb ist Marions Erzählung nicht allein Lebensbericht, ist nicht ein Zeugnis ablegen »vor einem, der das in ihren Augen verdient hat«, 9 sondern ein Erotikon selbst. Marions Bericht ist erotisch erzählt. Das wird an Dantons Reaktion deutlich. Mit einer »fast masochistischen Ergriffenheit« 10 lauscht er ihrer Biographie, fast orgiastisch brechen aus ihm im Anschluß an ihr Sprechen die Bilder von Selbstauflösung hervor. Marions Erzählung produziert sprachlich eine erotische Struktur, wie Bataille sie beschreibt: eine Erotik, die den Liebenden auflöst und zerstört, nicht sich zur Person individualisieren läßt und konstituiert;11 ihr Bericht ruft den Wunsch nach Enteignung und Verschmelzung hervor: Danton. Ich möchte ein Theil des Aethers seyn, um dich in meiner Fluth zu baden, um mich auf jeder Welle deines schönen Leibes zu brechen.
(120) So produziert die Erzählung Marions jene Erotik, deren Genese sie beschreibt, vergleichbar den unentwegt biographisierenden und damit erotisierenden Libertinen in den Werken de Sades. Marions Sätze sind Einheiten ihrer erotischen Geschichte wie Einheiten der Sprache. Sie erfüllt darin Camilles Wunsch, die »gliederlösende, böse Liebe« von »melodischen Lippen« (23) abzulesen. Marions Erzählung ist die Genese der Erotik gegen die Welt der Sprachregelungen. Ihre Biographie beginnt nämlich mit einem Diktat; in ihrem Anfang stehen fremde Worte. Deshalb finden wir zu Beginn ihrer Erzählung das Zitat eines fremden Ausspruchs: »Meine Mutter war eine kluge Frau, sie sagte mir immer [Herv. R. N.] die Keuschheit sey eine schöne Tugend« (117). Und schon schließt sich an diese auf Robespierres Tugendbegriff anspielende Vorgabe eine Sprachordnung an: »wenn Leute in's Haus kamen und von manchen Dingen zu sprechen anfingen, hieß sie mich aus dem Zimmer gehn; frug ich was die Leute gewollt hätten so sagte sie mir ich sollte mich schämen«. Die Erziehung der Marion umstellt das Sexuelle, das sie aus-
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Buck, Grammatik einer neuen Liebe. S. 20. Dolf Oehler, Liberté, Liberté Chérie. Männerphantasien über die Freiheit. Zur Problematik der erotischen Freiheits-Allegorie. In: Studienausgabe, S.
101. 11
Vgl. dazu die Interpretation von: Hans-Thies Lehmann, Georg Büchner, Heiner Müller, Georges Bataille. Revolution und Masochismus. In: GBJb 2/1982, S. 308-329. 176
schließt, mit Andeutungen, mit »Begierden, Vorspielen, Zusammenhängen, Anregungen, zweideutigen Sublimierungen«, mit einem nur »andeutenden Sprechen«. 12 Sie regelt nicht nur die Teilnahme am Sprechen, sie gibt auch Lesedirektiven: »gab sie mir ein Buch zu lesen so mußt ich fast immer einige Seiten überschlagen.« Allein das Buch der Bücher liest Marion »nach Belieben«, und gerade in der Bibel trifft sie auf Unbegreifliches, Entzogenes: »da war Alles heilig, aber es war etwas darin, was ich nicht begriff, ich mochte auch niemand fragen«. Dieses Andere, das Marion als Gegentext aus der Bibel herausliest und über dem sie »brütet«, vereinsamt sie zunächst: sie hat an der Umwelt »keinen Theil« mehr und gerät »in eine eigne Atmosphäre«, um dann als Auflösendes und Dissoziierendes, als erwachter Eros wiederzukehren: »ich betrachtete meine Glieder, es war mir manchmal, als wäre ich doppelt und verschmölze dann wieder in Eins.« Marion stürzt in den Taumel, die Verwirrung des Leibes; und diese Sinne trennen sie von der Welt, machen sie einsam. Die Einsamkeit und die Erotik treten in der Dissoziation der Person zusammen. Das Übermächtige, das darin erfahren wird, ist ein Gewaltsames, unter dessen Macht Marion fast vergeht (»sie erstickte mich fast«). 13 Wie weit die einsame Erotik Marions schon von der Welt der Zeichen entfernt ist, zeigt die nun anschließende, in die Genese des Eros eingeschobene und mit ihr verbundene Episode. »Ein junger Mensch« sei nämlich sie besuchen gekommen, der »sprach oft tolles Zeug, ich wußte nicht recht, was er wollte, aber ich mußte lachen.« Für Marion sind die Worte nurmehr »Unterhaltung«, in der sich die Signifikanten von den Signifikaten lösen; was ihr Liebhaber sagt, ist »tolles Zeug«, dessen Absicht sie nicht versteht, und das in ihr nur die Lust des Lachens hervorruft. Solcherart Sprechen scheint Marion jedoch blaß gegen die körperliche Liebe. Bewußt überschreitet sie das Gebot der Moral. Sie erlaubt sich »das größere« der erotischen Praxis und verabschiedet »das geringere« des Gesprächs. Damit ist die andere Welt des Eros in ihr Recht gesetzt, bricht sich Bahn. >Welt< und >Objekt< verschmelzen in der erotischen Erfahrung indifferent. Ihre Widersprüchlichkeit verliert sich im dissoziierenden und dissoziierten Subjekt: »Aber ich wurde wie ein Meer, was Alles verschlang.«
12 13
Barthes, Sade. Fourier. Loyola. S. 33. Vgl.: Lehmann, Georg Büchner. S. 313f. 177
Bataille behauptet, daß die >heilige ErotikAbsatz< kommen die erotischen und sprachlichen Einheiten zur Deckung. Wenn Marion nämlich sagt, sie kenne »keinen Absatz, keine Veränderung«, so ist darin eine Erotik ohne Objekt ebenso angesprochen wie ein Sprechen ohne Einschnitte. Deshalb charakterisiert Martens zu Recht, Marion rede »absatzlos«, 21 eine frühe Verwandte der Molly Bloom. Daß sie auch und gerade darin von den Agenten der Geschichte in >Danton's Tod< geschieden ist, zeigt ein Bück auf die durch und durch in sich verknüpfte Rede des St. Just. Dessen >schlüssiger< Text, der die Hinrichtungen durch die Guillotine logisch deduziert und syntaktisch produziert, besagt, daß Revolution und Geschichte »bey jedem Absatz« ihre »Leichen ausstoßen«, (vgl. 370) 22 18 19 20 21
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Buck, Grammatik einer neuen Liebe. S. 22. Buck, Grammatik einer neuen Liebe. S. 22. Hans Ritscher, Georg Büchner. Dantons Tod. Grundlagen und Gedanken zum Verständnis des Dramas. Frankfurt 19756, S. 25. Wolfgang Martens, Zum Menschenbild Georg Büchners. »Woyzeck« und die Marionszene in »Dantons Tod«. In: Georg Büchner. Hrsg. von Wolfgang Martens. Darmstadt 1969, S. 376. Martens begreift die Erotik Marions negativ: als »Unterjochung des Ich«, als »Reduzierung der Persönlichkeit«, als »Entmenschlichung« (S. 380). Dafür lassen sich in >Danton's Tod< keine Belege finden. Nimmt man die doppelte Bedeutung von >Absatz< ernst, kann man auch folgenden Satz Dantons gegen Robespierre anders verstehen: »Nicht wahr, Unbestechlicher, es ist grausam dir die Absätze so von den Schuhen zu treten?« (180; vgl. 185) 179
Vielleicht ist es diese Durchdringung von Erotik und Sprache, die Danton dann in die lyrische Entzückung versetzt; eine Durchdringung, die Leidenschaft hervorruft und die Lust am Text, nicht aber jenen Enthusiasmus, mit dem die Deduktionen des St. Just gefeiert werden. Allein, der leidenschaftliche Hymnus Dantons erreicht die Erotik Marions nur als Wunsch, dessen Unerfüllbarkeit er in einem Atemzug mitbenennt: Danton. Warum kann ich deine Schönheit nicht ganz in mich fassen, sie nicht ganz umschließen? (118)
Geht Marions Erzählung aufs Ganze, so ist Dantons Aporie das »nicht ganz«; zwei Worte, die Büchner in der Überarbeitung der Handschrift direkt zusammengerückt hat. Marions Absolutes schließt sich nicht über beide hin, bleibt vielmehr abgelöst und monologisch. Zwar »strahlt« in Marions Erzählung eine »reine Utopie« auf, »kühn und leuchtend«,23 aber sicher treffen sich beide nicht in »liebender communio«.24 Der Hymnus wird zur Klage. Danton bleibt auf die Scheidung von Sinn und Sinnen festgelegt; seine Lippen sind nicht »melodisch«, sondern halten die Distanz zum Objekt, »haben Augen«. (119) Marions erotische >Grammatik< bleibt ein Reservat, ein Monologismus fern der Negativität der Revolutionssprache.23
2. Arbeit In der Erotik Marions definiert sich der Genuß gegen die Arbeit; die erotische Überschreitung, die unproduktive Verausgabung steht zur geregelten Reproduktion des Lebens konträr. Umgekehrt erkennt die Frau des Simon im erniedrigten Eros, in der Prostitution, das versklavende Prinzip der Arbeit. Über ihre Tochter sagt sie: Wir arbeiten mit allen Gliedern warum denn nicht auch damit; ihre Mutter hat damit geschafft wie sie zur Welt kam und es hat ihr weh gethan, kann sie für ihre Mutter nicht auch damit schaffen, he? (55)
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Reinhold Grimm, Cœur und Carreau. Über die Liebe bei Georg Büchner. In: Georg Büchner I/II, S. 311 und 322. Buck, Grammatik einer neuen Liebe. S. 17. Und wird noch unterstrichen durch den Szenenbruch (121ff.): Lacroix tritt auf und reduziert zynisch die Szenerie auf Prostitution und Penetration. Er fühlt sich an die Gasse erinnert, da »waren Hunde«, »die quälten sich«. (123/125)
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Auch den Sansculotten im ersten Akt des Dramas, davon war schon die Rede, ist die Arbeit kein Wert. Im Gegenteil: 3. Bürger. Unser Leben ist der Mord durch Arbeit, wir hängen 60 Jahre lang am Strick und zapplen, aber wir werden uns losschneiden. (68)
Zwar ist die Durchsetzung dieser revolutionären Parole (»aber wir werden uns losschneiden«) nicht nur bedroht, sondern wird schrittweise von der herrschenden Sprache absorbiert; gleichwohl wird in diesen Sätzen, die große Ähnlichkeit zu Wendungen aus dem >Hessischen Landboten< aufweisen, 26 punktuell der Bann der Theaterdekorationen und der Kardinalphrasen durch die Kritik am Prinzip der Arbeit und durch die ökonomische Analyse gebrochen. So polarisiert der 1. Bürger die Gesellschaft in die, welche zugleich zur Arbeit gezwungen sind und doch »Kollern im Leib«, »Löcher in den Jacken« und »Schwielen in den Fäusten« haben, und in jene, die »warme Röcke« tragen, unter »Magendrücken« leiden und »Sammthände« haben: Ergo ihr arbeitet und sie thun nichts, ergo ihr habt's erworben und sie haben's gestohlen; ergo, wenn ihr von eurem gestohlnen Eigenthum ein paar Heller wieder haben wollt, müßt ihr huren und bettlen; ergo sie sind Spitzbuben und man muß sie todtschlagen. (57)
Diese Analyse des Hungers aus ökonomischer terreur und fortgesetzter Ausbeutung, die zur Revolte aufruft, wird vom dritten Bürger fortgeführt. Er übersetzt die Revolte in eine radikale Kritik an den Wortführern der Revolution, die zu Umwälzungen aufgerufen haben und dabei zu neuen Ausbeutern geworden sind. Statt die Armut abzuschaffen, haben sie das Prinzip der Reproduktion, den »Mord durch Arbeit«, peipetuieit. Sie haben kein Blut in den Adem, als was sie uns ausgesaugt haben. Sie haben gesagt: schlagt die Aristocraten todt, das sind Wölfe! Wir haben die Aristocraten an die Laternen gehängt. Sie haben gesagt das Veto frißt euer Brot, wir haben das Veto todtgeschlagen. Sie haben gesagt die Girondisten hungern euch aus, wir haben die Girondisten guillotinirt. Aber sie haben die Todten ausgezogen und wir laufen wie zuvor auf nackten Beinen und frieren. (58)
Hier durchschaut der >dritte Biirger< das zuvor Gesagte und dann zur Wirklichkeit Gebrachte, die vorgegebenen Sätze der führenden Sprecher als Schein, hinter dem das Unwesen gedeiht. Er liest, wie Mer-
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Vgl. Thomas Michael Mayer in der Studienausgabe. S. 73.
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cier, Gegenwart als das Produkt vorzeitiger, perfektivischer Sätze das dreimalige »sie haben gesagt« macht das deutlich. 27 Er erkennt die Ausbeuter als Sprecher und ihre Sätze als Phrasen, die zur schlechten Wirklichkeit werden. So kritisiert er die Sätze der Revolution, die uneingelöst bleiben, anhand der Armut, der Ausbeutung und der Arbeit, die das Leben zu einem langsamen Sterben macht. Der Schluß des Sansculotten: »Wir wollen ihnen die Haut von den Schenkeln ziehen und uns Hosen daraus machen, wir wollen ihnen das Fett auslassen und unsere Suppen mit schmelzen« (58), ist zugleich ein rebellierender Aufschrei gegen die Armut und die Arbeit; ein Aufschrei auch gegen die Phrasen, welche sie verdecken. »Nur dort, wo das Volk blasphemisch den vorgegebenen Diskurs umfunktioniert, wie [...] in der revolutionären Situation in >Danton's TodMord< und mit den sadistischen Verheißungen für den langen Abend, der dann in >Danton's Tod< doch nicht anbricht. Im Lichte solcher Überschreitung gewinnen die Repliken des Radikalen jene Konsistenz, die sie als ein Entwurf gegen die vorgängige Rhetorik und Phraseologie der herrschenden Sprache wie gegen die ungeschlichtete, unwürdige und verzweifelte ökonomische Lage verstehbar machen. Hier kommen die Klischees und Stereotypen, hier kommt die »Nicht-Authentizität«34 der Revolutionssprache an ihr Ende.
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Georges Bataille, Das theoretische Werk. München 1975, S. 28f. Bohn, »Bei diesem genialen Cynismus«. S. 123.
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Wie wenig Wert Büchner der Arbeit tatsächlich beimaß, wie deutlich er unter dem Diktat der buchhalterischen Vernunft, des Gesetzes, der Arbeit und der Sprache anarchisch gedacht haben dürfte, zeigt in >Danton's Tod< endlich ein kleiner Dialog zwischen einem >Bettler< und >zwei Herren^ Dort nämlich vollzieht sich, was Bataille als die wirkliche Form der Verschwendung in der heutigen Gesellschaft beschrieben hat. Verausgabung ist nurmehr bei dem, der sich der rationalisierten, verschwendungsfeindlichen Arbeit gänzlich versagt. Der wirkliche Luxus, so Bataille, »fällt dem Elenden zu, will heißen, demjenigen, der sich auf der Erde ausstreckt und verachtet. Authentischer Luxus verlangt vollständige Verachtung des Reichtums, die düstere Gleichgültigkeit dessen, der die Arbeit verweigert, und dessen Leben einerseits den Glanz des grenzenlosen Ruins, andererseits eine stillschweigende Beschimpfung der beflissenen Lügen der Reichen darstellt.«35 Solch anarchischer Asketismus blitzt bei Büchner auf: Bettler. Mein Herr wo habt Ihr Euren Rock her? 2. Herr. Arbeit, Arbeit! Du könntest den nemlichen haben, ich will dir Arbeit geben, komm zu mir, ich wohne Bettler. Herr, warum habt Ihr gearbeitet? 2. Herr. Narr, um den Rock zu haben. Bettler. Ihr habt Euch gequält um einen Genuß zu haben, denn so ein Rock ist ein Genuß, ein Lumpen thut's auch. 2. Herr. Freilich, sonst geht's nicht. Bettler. Daß ich ein Narr wäre. Das hebt einander. (251 ff.)
Von hier führt in Büchners Werk der Weg zu Valerio in >Leonce und LenaDanton's TodAberrationen< Woyzecks feststellen. Wer auf der sozialen Rangleiter ganz unten steht, er mag sich noch so revolutionär artikulieren, sagt immer das Falsche; Pauper können nicht richtig sprechen, über sich nicht, mit anderen schon gar nicht. Was sie sagen und wie sie's sagen, es ist immer verkehrt. Wer ohnmächtig und unterdrückt ist, der spricht verquer, sieht nichts im rechten Licht, dem ist der Blick ver-
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Georg Büchner, Woyzeck. Nach den Handschriften neu hergestellt und kommentiert von Henri Poschmann. Leipzig 1984, S. 15. Silvio Vietta, Sprachkritik bei Büchner. In: GBJb 2/1982, S. 156. Burghard Dedner, Bildsysteme und Gattungsunterschiede in »Leonce und LenaDantons Tod< und >LenzLandboten< erleichtern wollte? Und worin besteht denn das Fehlen einer »gemeinsamen Sprache« in >Dantons Tod