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German Pages 424 Year 2019
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Paolo Panizzo
Die heroische Moral des Nihilismus: Schiller und Alfieri
De Gruyter
Herausgeber: Thomas Bremer, Daniel Cyranka, Elisabeth De´cultot, Jörg Dierken, Robert Fajen, Daniel Fulda, Frank Grunert, Wolfgang Hirschmann, Heiner F. Klemme, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Anke Berghaus-Sprengel, Albrecht Beutel, Ann Blair, Michel Delon, Avi Lifschitz, Robert Louden, Laurenz Lütteken, Brigitte Mang, Steffen Martus, Laura Stevens Redaktion: Andrea Thiele Druckvorlage: Nancy Thomas Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landesforschungsschwerpunkts »Aufklärung – Religion – Wissen. Transformationen des Religiösen und des Rationalen in der Moderne« (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg).
ISBN 978-3-11-062113-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-062409-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-062140-2 ISSN 0948-6070 Library of Congress Control Number: 2019947688 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Vorwort.......................................................................................................................................VII
KOORDINATEN I. Alfieri und Schiller als Parallel-Tragiker der Moderne. Ein Aufriss........................................... 3 II. Erhabene Größe, Männlichkeit und die heroische Moral des Nihilismus................................. 29 III. Forschungsperspektive, Vorgehensweise, Struktur und Aufbau der Untersuchung........................................................................................................ 51 ERSTER TEIL Vom alteuropäischen Stoizismus zum modernen heroischen Nihilismus Das tragische Weltbild von Schiller und Alfieri I. Lust, Tugend, Macht. Der frühe Schiller und die Rehabilitation der Sinnlichkeit 1. 2. 3. 4.
Kontinuitäten: Anthropologie und Unendlichkeit .................................................................... 57 Diskontinuitäten: Anthropologie und Endlichkeit.................................................................... 65 Schillers Philosophische Briefe und das Gespenst des Nihilismus........................................... 81 Die erhabene Größe des Franz Moor in Schillers Räubern ...................................................... 93
II. Der große Mann als Schriftsteller und Tyrann. Vittorio Alfieris Abhandlungen Della tirannide und Del principe e delle lettere 1.
Della tirannide 1.1. Der Tyrann und das Gesetz. Alfieris Della tirannide als politischer Traktat.............................................................. 119 1.2. Jenseits des Politischen. Der große Mann und die Psychologie der Macht.......................................................... 128 1.3. Tiranno und liber’uomo: Ein Konflikt zwischen Wesensverwandten................................................................... 135
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Del principe e delle lettere 2.1. Alfieris Kampfansage an das Mäzenatentum und ihre Brüche...................................... 145 2.2. Die Dekadenz der absolutistischen Kultur und die erhabene Größe des stark-fühlenden Mannes.......................................................................................... 162 2.3. Ein „unwiderstehlicher Drang unter den Besten der Erste oder gar nichts zu seyn“. Der große Schriftsteller und das Nichts................................. 181
III. Resümee .............................................................................................................................. 187
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Inhalt
ZWEITER TEIL Die heroische Moral des Nihilismus in Schillers und Alfieris Tragödien I. Verschwörungen 1. 2.
Die Konspiration als Kunstwerk. Schillers Verschwörung des Fiesko.................................. 193 Die Moral des Siegers, der stets die Geschichte schreibt. Alfieris Congiura de’ Pazzi .................................................................................................. 221
II. Dom Carlos 1.
Der Marquis und der Infant. Macht und Ohnmacht des Künstlers in Schillers Don Karlos ............................................... 249 2. Alfieris Filippo: Der Tyrann als Regisseur und die Endlichkeit des menschlichen Dramas..................................................................................................... 275
III. Königin Maria Stuart 1. 2.
Die unheroische Moral des romantischen Nihilismus. Schillers Maria Stuart .......................................................................................................... 303 Ästhetische Ohnmacht und moralische Verschleierung. Alfieris Maria Stuarda ......................................................................................................... 331
IV. Machtdämmerungen. Wallenstein und Saul ................................................................. 353
RESÜMEE UND SCHLUSSBETRACHTUNG ........................................................................ 379 Bibliographie ............................................................................................................................ 389 Personenregister ....................................................................................................................... 413
Vorwort Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift, die im Sommersemester 2017 von der Philosophischen Fakultät II der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg angenommen wurde. Für die Anfertigung der Gutachten und die wertvollen Hinweise danke ich Robert Fajen, Daniel Fulda, Werner Nell und Wolfgang Riedel sehr herzlich. Robert Fajen, Daniel Fulda und allen Mitherausgebern der Halleschen Beiträge zur Europäischen Aufklärung danke ich außerdem für die freundliche Aufnahme des Bandes in die von ihnen betreute Schriftenreihe des Verlags De Gruyter. Für die vorzügliche verlegerische Betreuung sei Susanne Rade, Andrea Thiele und Nancy Thomas vielmals gedankt. An dieser Stelle möchte ich auch Herbert Kraume nochmals sehr herzlich für das engagierte und sorgfältige Korrekturlesen der Abgabefassung der Arbeit danken. Mein aufrichtiger Dank gilt dem ehemaligen Vorsitzenden des Sprecherrates Udo Sträter sowie allen Beteiligten des an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg angesiedelten Landesforschungsschwerpunktes Aufklärung–Religion– Wissen, an dem ich mein Habilitationsprojekt als post-doc-Stipendiat begonnen habe. Für den großzügigen Druckkostenzuschuss, der mir außerdem vom Hallenser Landesforschungsschwerpunkt gewährt wurde, möchte ich mich beim aktuellen Vorsitzenden des Sprecherrates Andreas Pečar vielmals bedanken. Darüber hinaus bin ich für weitere finanzielle Förderung in meiner Habilitationszeit der Frankfurter FAZIT-Stiftung zu großem Dank verpflichtet. Mein ganz besonderer Dank gilt Daniel Fulda, der dieses Projekt kontinuierlich begleitet und stets mit Rat und Tat gefördert hat. Für seine herausforderndskeptischen Blicke und die engagiert-zuversichtliche Offenheit, die er meiner Arbeit zu jeder Zeit entgegengebracht hat, bin ich ihm ausgesprochen dankbar. Ein stets offenes und aufmerksames Ohr fand ich in meinen Hallenser Jahren außerdem bei Heinz Thoma und Rainer Godel: Auch ihnen sei hier noch einmal gedankt für ihre wertvolle Unterstützung meines Projekts. Maria Carolina Foi danke ich sehr herzlich für die einfühlsame Begleitung meiner Arbeit sowie für die kostbare Erfahrung in Forschung und Lehre, die ich als langjähriger Lehrbeauftragter an ihrem Lehrstuhl der Universität Triest sammeln konnte. Danken möchte ich zudem Carla Forno und der Stiftung „Centro di Studi Alfieriani“, die mir ergiebige Forschungsaufenthalte in Asti anlässlich der jährlichen Oberseminare und Kolloquien der „Scuola di Alta Formazione – Cattedra Vittorio Alfieri“ ermöglichten. Nicht zuletzt auf die Asteser Gespräche und Diskussionen über Alfieri mit dem damaligen Mithabilitanden Daniel Winkler blicke ich dankbar zurück. Zu jeder Zeit und in jeder Situation konnte ich in den letzten Jahren auf die außerordentliche Hilfsbereitschaft und kompetente Unterstützung meiner lieben
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VIII Freunde Anne Kraume sowie Friederike und Timo Günther zurückgreifen. Für ihre wertvollen Anregungen und Ratschläge, die gewissenhafte Gegenlektüre meiner Schriften und ihre liebevolle Anteilnahme an meiner Unternehmung danke ich ihnen von ganzem Herzen. In dem bedeutsamen und bewegten Lebensabschnitt, der mit der Veröffentlichung dieser Arbeit symbolisch zu Ende geht, stand mir vor allem meine Frau Cristina stets mit Rat und Tat zur Seite. Wie niemand sonst hat sie mich in meiner Arbeit unterstützt und mir jederzeit einen festen Rückhalt gegeben. Ihr ist dieses Buch in tiefer Dankbarkeit und Liebe gewidmet. Triest, im September 2018
Paolo Panizzo
KOORDINATEN
I. Alfieri und Schiller als Parallel-Tragiker der Moderne. Ein Aufriss Unter den zahlreichen begeisterten Lesern von Plutarchs Bíoi p arálleloi in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts 1 finden sich Vittorio Alfieri (1749–1803) und Friedrich Schiller (1759–1805), zwei Dichter, die einen festen Platz im Kanon der italienischen und deutschen Nationalliteratur einnehmen. In seiner Vita denkt der Piemonteser in den Jahren nach der Französischen Revolution an den Winter 1768/69 zurück, den er – frisch zurückgekehrt von seiner ersten, zweijährigen Reise durch Europa – in Turin verbringt. Mit Bezug auf die Lektüren, die ihn in dieser Zeit beschäftigen, hält er Folgendes fest: Ma il libro dei libri per me, e che in quell’inverno mi fece veramente trascorrere dell’ore di rapimento e beate, fu Plutarco, le vite dei veri Grandi. Ed alcune di quelle, come Timoleone, Cesare, Bruto, Pelopida, Catone, ed altre, sino a quattro e cinque volte le rilessi con un tale trasporto di grida, di pianti, e di furori pur anche, che chi fosse stato a sentirmi nella camera vicina mi avrebbe certamente tenuto per impazzato. All’udire certi gran tratti di quei sommi uomini, spessissimo io balzava in piedi agitatissimo, e fuori di me, e lagrime di dolore e di rabbia mi scaturivano dal vedermi nato in Piemonte ed in tempi e governi ove niuna alta cosa non si poteva né fare né dire, ed inutilmente appena forse ella si poteva sentire e pensare. 2
„[F]ast wörtlich denselben heftigen und schmerzlichen Affect angesichts des Plutarch“ 3 – wie bereits Wilhelm Dilthey bemerkte – lässt der frühe Schiller die Figur des Karl Moor an einer inzwischen zum geflügelten Wort avancierten Stelle seines Erstlingsdramas Die R äuber (1781) aussprechen: „Мir ekelt vor diesem Tintengleksenden Sekulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von grossen Menschen“. 4 „Grosse Menschen“, ja – „herausragende Männer“: Alfieris und Schillers 1 2
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Vgl. Martha Walling Howard: The Influence of Plutarch in the Major European Literatures of the Eighteenth Century. Chapel Hill 1970. Vittorio Alfieri: Vita di Vittorio Alfieri da Asti scritta da esso. In: Ders.: Opere. Hg. v. Arnaldo Di Benedetto. Milano u. Napoli 1977. Bd. 1, S. 2–328, hier S. 87f. Dt.: „Das Buch der Bücher aber, das waren für mich Plutarchs Viten der wahrhaft großen Männer. In jenem Winter versetzten sie mich viele glückliche Stunden lang in höchste Begeisterung. Einige dieser Lebensgeschichten, etwa die des Timoleon, Caesar, Brutus, Pelopidas und Cato, und andere las ich wohl vier- oder fünf Mal, so hingerissen, dass meine Ausrufe, mein Weinen und Rasen mich gewiss hätten wahnsinnig erscheinen lassen, wenn mich im Nebenraum jemand belauscht hätte. Unter dem Eindruck der großartigen Züge dieser herausragenden Männer sprang ich ein ums andere Mal auf, aufs Äußerste erregt und ganz außer mir. Tränen des Schmerzes und der Wut traten mir in die Augen: darüber, in Piemont geboren zu sein, in Zeiten und unter politischen Umständen, in denen nichts Großes möglich war, im Handeln nicht, im Reden nicht, ja in denen es wohl vergebliches Mühen war, Großes auch nur empfinden und denken zu wollen“. In: Vittorio Alfieri: Vita. Mein Leben. Übersetzt, mit Anmerkungen, einem Nachwort und einer Bibliographie versehen von Gisela Schlüter. Mainz 2010 (Excerpta classica, 25), S. 142f. Wilhelm Dilthey: Vittorio Alfieri. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. XXV: „Dichter als Seher der Menschheit“. Die geplante Sammlung literarhistorischer Aufsätze von 1895. Hg. v. Gabriele Malsch. Göttingen 2006, S. 284–326, hier S. 292. Friedrich Schiller: Die Räuber. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. Im Auftrag des Goetheund Schiller-Archivs, des Schiller-Nationalmuseums und der Deutschen Akademie. Hg. v.
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Alfieri und Schiller als Parallel-Tragiker Koordinaten
Rezeption des Plutarch steht im Zeichen einer enthusiastischen Bewunderung für die erhabene Größe der von dem griechischen Schriftsteller beschriebenen Figuren. Darauf, was es mit dieser Größe – einem der zentralen Begriffe der vorliegenden Untersuchung – tatsächlich auf sich hat, soll im Folgenden ausführlich zurückzukommen sein. Um unseren Forschungsrahmen an dieser Stelle zu skizzieren, sei jedoch zunächst ein anderer Weg eingeschlagen. Alfieris und Schillers Begeisterung für Plutarchs Parallelbiographien stellt lediglich eine unter vielen bezeichnenden Gemeinsamkeiten dar, die beide Dichter der Spätaufklärung miteinander teilen. Aus heutiger Sicht kann man mit Recht versucht sein, die ‚erhabene Größe‘, die Alfieri und Schiller für Plutarchs Menschen begeistern konnte, gerade diesem neuen Autorenpaar aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zuzusprechen. In gewisser Hinsicht liefern Alfieri und Schiller im Kontext der europäischen Spätaufklärung selbst zwei durchaus signifikante Lebensläufe, die sich mutatis mutandis für eine ertragreiche Gegenüberstellung nach Plutarchs Muster in der ‚Moderne‘ als bestens geeignet erweisen. Beide Autoren könnten somit selbst – mit Thomas Carlyle und Ralph Waldo Emerson gesprochen – als „representative men“ 5 für ihre Zeit und für ihr Herkunftsland aufgefasst werden. Auch für sie kann hier zunächst Platos Feststellung geltend gemacht werden, dass die „Natur“ mit „gewaltigeren Zügen schreibt [...], wo sie große Menschen bildet“, 6 und es mag vor diesem Hintergrund ein durchaus lohnenswerter Versuch sein, von den „großen Menschen“ Alfieri und Schiller „ab[zulesen], was verworren und schwach entwickelt in der Menge sich regt“. 7 Alfieris und Schillers Gegenüberstellung nach Plutarchs Muster ist nicht so abwegig, wie es zunächst den Anschein haben möchte. Man könnte gar, nicht ohne Augenzwinkern, meinen, dass die Wahlverwandtschaft zwischen diesen zeitgenössischen Anbetern des Plutarch schon bei ihrer sprachlichen und kulturellen Herkunft anfängt. Denn wenn Plutarch in der Antike die Lebensläufe je eines herausragenden Griechen und eines Römers miteinander verglich, so könnte Alfieri als direkter Nachkommen jener ‚Römer‘ für den lateinischen Teil in der Moderne stehen. Wenn wir dann mit Friedrich Schlegel in Bezug auf den Stand der deut-
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Julius Petersen, Gerhard Fricke [1948 ff.: Im Auftrag des Goethe- und Schiller-Archivs und des Schiller-Nationalmuseums hg. v. Julius Petersen, Hermann Schneider; 1961 ff.: Hg. i. A. der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach v. Lieselotte Blumenthal, Benno von Wiese; 1979 ff.: Hg. v. Norbert Oellers, Siegfried Seidel; seit 1992: Hg. i. A. der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach v. Norbert Oellers. Bd. 3, S. 20 (= NA 3, 20). Carlyles Vorlesungen „On Heroes, Hero-Worship, and the Heroic in History“ aus dem Jahr 1841 waren Vorbild für Emersons Vorlesungsreihe über „Representative Men“ (zuerst gehalten im Winter 1845/46). Vgl. dazu den Kommentar zum Aufsatz „Vittorio Alfieri“, in: Dilthey: „Dichter als Seher der Menschheit“, S. 662f. Zitiert aus Dilthey: Vittorio Alfieri, S. 284. Ebd.
Koordinaten Alfieri und Schiller als Parallel-Tragiker
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schen Kultur am Ende des 18. Jahrhunderts festhalten, dass „[i]n Deutschland, und nur in Deutschland […] die Ästhetik und das Studium der Griechen eine Höhe erreicht [hat], welche eine gänzliche Umbildung der Dichtkunst und des Geschmacks notwendig zur Folge haben muß“ 8 – ja, wenn wir mit dem Frühromantiker die „unverkennbar[e]“ „Gleichheit“ erkennen, die zwischen Schillers „lyrische[r] Art selbst mit der Dichtart des Pindarus“ 9 besteht sowie zwischen Schillers „ursprüngliche[m]“, „entschieden tragische[m]“ „Genie“ und dem „Charakter des Äschylus“, 10 dann könnte der deutsche Dichter mit gewissem Recht zur Besetzung von Plutarchs griechischer Variable in der ‚Moderne‘ herangezogen werden. 11 Nun – Alfieri der ‚Römer‘ und Schiller der ‚Grieche‘? Wie dem auch sei: Die Gegenüberstellung von Alfieris und Schillers tragischem Werk erweist sich als ein sehr wirkungsvolles, heuristisches Instrument. Wie auf den nächsten Seiten deutlich gemacht werden wird, vermag sie ein breites Spektrum von zentralen Themen aufzugreifen und ein ganzes Bündel von entscheidenden Fragen aufzuwerfen, die nicht nur Biographie und Werk dieser Autoren im Zusammenhang von Geisteswelt und Kultur ihrer Epoche betreffen, sondern die auch den Nachvollzug der durchaus heterogenen, sich nunmehr schon über zweihundert Jahre erstreckenden ästhetischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihren Werken in beiden Ländern und im gemeinsamen kulturellen Kontext Europas erfordern. Es gibt keine Evidenz dafür, dass der in demselben Jahr wie Goethe geborene und zwei Jahre früher als Schiller verstorbene Alfieri je mit dem Werk des deutschen Dichters aus Marbach, geschweige denn mit seiner Person, in Berührung kam. Anders Schiller, der in einem Brief vom 26. Januar 1803 an Goethe berichtet, er habe sich, dem ausdrücklichen Wunsch des Herzogs Carl August nachgehend, mit den „neuesten französischen Theatralia aus der Bibliothek“ beschäftigt. 12 Darunter habe er allerdings bis zu dem Zeitpunkt noch nichts gefunden, das ihn „er-
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Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie. In: Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler. Bd. 1: Studien des klassischen Altertums. Paderborn, München u. Wien 1979, S. 217–367, hier S. 364. Ebd., S. 366. Zur „deutsch-griechischen Wahlverwandtschaft“ seit dem „Bahnbrecher“ Johann Joachim Winckelmann vgl. Hinrich C. Seeba: Johann Joachim Winckelmann. Zur Wirkungsgeschichte eines ‚unhistorischen‘ Historikers zwischen Ästhetik und Geschichte. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Sonderheft: Kultur, Geschichte und Verstehen. Forschungsberichte und Beiträge zu den Themen „Kulturwandel“, „Ästhetisierung der Historie“ und „Schematheorie des Verstehens“ 56 (1982), S. 168–201, hier S. 174. Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie, S. 340. Von dem „langlebige[n] Phantasma einer spezifisch deutsch-griechischen Wahlverwandtschaft“, das nicht zuletzt in der Rezeption Johann Joachim Winckelmanns um 1800 seine „Ursprünge“ habe, ist im einleitenden Kapitel des kürzlich erschienenen Ausstellungskatalogs Winckelmann. Moderne A ntike die Rede. Vgl. Elisabeth Décultot, Martin Dönike u. Claudia Keller: Einleitung. In: Dies. u.a. (Hg.): Winckelmann. Moderne Antike. Ausstellungskatalog Weimar. München 2017, S. 13–21, hier S. 15. NA 32, 6.
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Alfieri und Schiller als Parallel-Tragiker Koordinaten
freut hätte, oder das sich nur irgend zu einem Gebrauch qualifizierte“. „Aber eine französische Uebersetzung von Alfieri“ 13 habe er angefangen zu lesen: Aufmerksamkeit verdient übrigens diese Erscheinung, und ich freue mich, wenn ich mich durch die 21 Stücke hindurch gelesen habe, diese Angelegenheit mit Ihnen zu verhandeln. Ein Verdienst muß ich ihm auf jeden Fall zugestehen, welches aber freilich zugleich einen Tadel enthält. Er weiß einem den Gegenstand zu einem poetischen Gebrauch zuzubringen, und erweckt die Lust, ihn zu bearbeiten; ein Beweis zwar, daß er selbst nicht befriedigt, aber doch ein Zeichen, daß er ihn aus der Prosa und Geschichte glücklich herausgewunden hat. 14
Es ist durchaus möglich, dass Schiller nicht erst bei dieser Gelegenheit im Jahre 1803 das Werk des italienischen Dichters kennengelernt hat. 15 So gut wie sicher ist jedenfalls, dass er sich spätestens im Frühjahr 1803 näher mit dem italienischen Dichter befasste. „Man wüßte gern“ dabei mit einem Teil der Forschung, „welche Stücke Schiller gelesen hat“, 16 und vielleicht gibt hier die bereits gezogene thematische Parallele zwischen Schillers gerade Anfang 1803 beendetem „Trauerspiel mit Chören“ Die Braut von Messina 17 und Alfieris Tragödie Polinice Aufschluss: 18 Denn wenn Schillers Trauerspiel den Untertitel „Die feindlichen Brüder“ trägt, so lautete der ursprüngliche, an Racines Thébayde angelehnte 19 Titel von Alfieris Tragödie I Fratelli N emici – Tragedia. 20 Auf die spannende Frage „warum las 13
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Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um die von Claude Bernard Petitot übersetzte Ausgabe von Alfieris Werken, die in vier Bänden in der Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar nachgewiesen ist: Œuvres dramatiques du Comte Alfieri, traduites de l’italien, par C.-B. Petitot. A Paris, chez Giguet et Michaud, Imprimeurs-Libraires 1802. Am 22. Januar 1803 schreibt Schiller (vermutlich) an den Weimarer Bibliothekssekretär Vulpius: „Sie werden mich sehr verpflichten, wenn Sie mir sowohl den Alfieri als auch die französ.[ischen] Stücke nach und nach mittheilen wollen. Für heute bitte ich um einige Theile des Erstern und um 3 oder 4 Bände von den letztern“, NA 32, 5. NA 32, 6. Vgl. Klaus Ley: Alfieri in der deutschen Literatur oder: warum las Schiller im Jahre 1803 italienische Tragödien? In: Vittorio Alfieri. Der Dichter des Mythos. Hg. v. der Akademie Deutsch-Italienischer Studien unter der Leitung v. Roberto Cotteri. Meran 2002 (Deutschitalienische Studien, 23), S. 78–91, hier S. 84. Horst Rüdiger: Die Kritik der Romantiker und Goethes an den Tragödien Alfieris. In: Ders.: Goethe und Europa. Essays und Aufsätze 1944–1983. Hg. v. Willy R. Berger u. Erwin Koppen. Berlin u. New York 1990, S. 160–193, hier S. 163. Als „literarische Zeugen“ für Lord Byron und Gabriele d’Annunzio stellt Rüdiger außerdem Alfieri und Schiller in seinem gleichnamigen Essay aus dem Jahr 1984 dar: Horst Rüdiger: Alfieri und Schiller als literarische Zeugen. In: Gotthardt Frühsorge, Klaus Manger u. Friedrich Strack (Hg.): Digressionen: Wege zur Aufklärung. Festgabe für Peter Michelsen. Heidelberg 1984, S. 135– 147. Schillers Arbeit an Die B raut v on M essina wird Anfang Februar 1803 abgeschlossen, PeterAndré Alt: Schiller. Leben – Werk – Zeit. Eine Biographie. München 2009 (zuerst 2000). Bd. 2, S. 528–536. Ley: Alfieri in der deutschen Literatur, S. 85. Wie Alfieri in der „vierten Epoche“ seiner Vita angibt, vgl. Vita, S. 184. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 252. Vgl. dazu Carmine Jannacos Nota. In: Vittorio Alfieri: Polinice. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 7: Tragedie. Edizione critica. Bd. II. Hg. v. Carmine Jannaco. Asti 1953, S. 1–10, hier S. 3.
Koordinaten Alfieri und Schiller als Parallel-Tragiker
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Schiller im Jahre 1803 italienische Tragödien?“ könnte man allerdings genauso gut etwa mit weiteren historisch-politischen oder ästhetischen Argumenten zu antworten versuchen. Indes soll der angeführte Hinweis auf die thematischen Überschneidungen zwischen Alfieris Polinice und Schillers Braut von Messina an dieser Stelle vor allem dazu Anlass geben, die Aufmerksamkeit auf die insgesamt erstaunlichen thematischen Parallelen zu lenken, die Alfieris und Schillers dramatisches Werk aufweisen. Dies betrifft zunächst die drei die gleichen Stoffe oder Motive behandelnden Werkpaare, die im zweiten Teil dieser Studie untersucht werden (es sind die in der italienischen Renaissance spielenden Verschwörungen: La congiura de’ Pazzi und Die V erschwörung d es F iesko z u Gen ua; die Bearbeitungen der „nouvelle historique“ Dom Carlos: Filippo und Don Karlos sowie die Dramatisierungen der Geschichte von Maria Stuart: Maria Stuarda und Maria Stuart). Doch auch weitere ‚Vergleiche‘ zwischen anderen Stücken aus Alfieris und Schillers Feder würden sich hier geradezu anbieten: Im Zeichen eines deutlichen Machtverlusts stehen jene alternden Protagonisten von Alfieris Saul (der Tragödie, die gemeinhin für das Meisterwerk des italienischen Dichters gehalten wird) und Schillers Wallenstein, denen das letzte Kapitel unserer Untersuchung gewidmet sein wird; vor dem Hintergrund der Legende um die Römerin Virginia können Alfieris ‚Tragödie der Freiheit‘ Virginia und, über Lessings Folie, Schillers bürgerliches Trauerspiel Kabale und Liebe analysiert werden; kollektive Befreiung vom Tyrannen thematisieren die „dem zukünftigen italienischen Volk“ 21 gewidmete Tragödie Bruto secondo und das ‚Schauspiel‘ um den schweizerischen Gründungsmythos Wilhelm Tell. Wenn das Thema der ‚feindlichen Brüder‘, wie bereits erwähnt, Schillers Braut von Messina mit Alfieris Polinice vereint, so kann Schillers Stück im Hinblick auf das Inzest-Motiv auch mit Alfieris Tragödie Mirra in Verbindung gebracht werden. 22 Gewisse Parallelen bestehen schließlich zwischen Alfieris Tragödie Rosmunda um die zweite Frau und Mörderin des Langobardenkönigs Alboin und Schillers spätem dramatischen Fragment Rosamund o der die B raut de r H ölle. 23 21
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Vittorio Alfieri: Bruto secondo. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 27: Tragedie. Edizione critica. Bd. XIX. Hg. v. Angelo Fabrizi. Asti 1976, S. 29. Die Widmung „Al Popolo Italiano futuro“ wurde am 17. Januar 1789 in Paris geschrieben, vgl. Carla Forno: Le amate stanze. Viaggio nelle case d’autore. Ariccia (RM) 2015, S. 551. Es sei an dieser Stelle außerdem angemerkt, dass Alfieris allerletzte, vor Euripides’ Folie verfasste Tragödie Alceste s econda von 1798 die einzige Tragödie darstellt, bei welcher der italienische Dichter vom Chor nach griechischem Muster Gebrauch macht. Der entsprechende Kommentar der Nationalausgabe vermerkt Folgendes: „Warum Schiller den Namen Rosamund gewählt hat, ist ungeklärt. Bekannt war der Name durch zwei literarisch oft aufgenommene geschichtliche Gestalten: durch die Langobardenprinzessin Rosamunde, die, nachdem Alboin ihren Vater ermordet hatte, von jenem geraubt wurde und daraufhin ihren Räuber tötete, und durch Rosamunde Clifford, die Geliebte Heinrichs II. von England, welche Wieland 1779 zur Titelfigur seines Singspiels ‚Rosemunde‘ machte […]. Die Motive Leidenschaft, Grausamkeit und Mord verbinden Schillers Fragment mit diesen Stoffen“ (NA
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Alfieri und Schiller als Parallel-Tragiker Koordinaten
Das sind einige der auffälligsten thematischen Gemeinsamkeiten zwischen Alfieris und Schillers dramatischem Werk – weitere Überschneidungen könnten leicht, und werden auch punktuell im Folgenden – herausgearbeitet werden, wenn man außerdem das dichterische Schaffen beider Autoren, 24 ihre Schriften zu ‚Theater und Schaubühne‘ im 18. Jahrhundert 25 oder gar ihre Übersetzungen antiker Texte 26 in Betracht ziehen würde. Ein Überblick über das Gesamtwerk von Alfieri und Schiller macht allerdings deutlich, dass das Theater – und insbesondere das tragische Theater – den eigentlichen Mittelpunkt ihres künstlerischen Schaffens darstellte. Über die erwähnten thematischen Überschneidungen zwischen einzelnen Werken hinaus mag man daher prinzipieller einen gemeinsamen Charakterzug, ja eine gemeinsame ‚dramatische‘ oder ‚theatralische‘ Veranlagung bei diesen Autoren vermuten – eine Veranlagung, die sie zu den ausgesprochenen Theatermenschen aus dem späten 18. Jahrhundert machte, für die sie nicht von ungefähr – jeder für sich betrachtet – auch in den eigenen Nationalliteraturen gehalten wurden. Was Schiller angeht, so zog bereits Friedrich Nietzsche in den 1880er Jahren eine viel sagende Parallele mit Richard Wagner, den er für das erstaunlichste „TheaterGenie“ 27 der décadence schlechthin hielt. Über den deutschen Komponisten schreibt Nietzsche im Fall Wagner: Wagner rechnet nie als Musiker, von irgend einem Musiker-Gewissen aus: er will die Wirkung, er will Nichts als die Wirkung. Und er kennt das, worauf er zu wirken hat! — Er hat darin die Unbedenklichkeit, die Schiller hatte, die jeder Theatermensch hat, er hat auch dessen Verachtung der Welt, die er sich zu Füssen legt! … 28
Die ‚Theatermenschen‘ Wagner und Schiller werden hier ohne Umschweife als demagogisch eingestellte ‚Machtmenschen‘ demaskiert. Doch damit nicht genug: Bereits ein Jahrzehnt davor notiert Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment,
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12, 535). Neben Rosemonde enthält der vierte Band von Petitots Ausgabe der „Œuvres dramatiques du Comte Alfieri“ unter anderem die französischen Übersetzungen von Alfieris Congiura de’ Pazzi (La Conjuration des Pazzi) sowie Filippo (Philippe II.). Vgl. Vittorio Alfieri: Rime. Hg. v. Chiara Cedrati. Alessandria 2015 sowie Schillers Gedichte in: NA 1 u. 2: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776–1799 u. 1799–1805. Vgl. insbesondere Alfieris Parere s ulle t ragedie und Parere s ull’arte c omica i n I talia (In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 35: Parere sulle tragedie e altre prose critiche. Hg. v. Morena Pagliai. Asti 1978, S. 79–167 und S. 239–245) sowie Schillers frühe Schriften zu Drama und Theater, insbesondere Ueber das gegenwärtige teutsche Theater und Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (NA 20, 79–86 u. 87–100). Erwähnt seien dabei Alfieris zwischen 1790 und 1793 angefertigte Übersetzung von Vergils Aeneis (vgl. Vittorio Alfieri: Eneide. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 37: Traduzioni. Edizione critica. Bd. II. Hg. v. Mariarosa Masoero u. Claudio Sensi. Asti 1983) sowie Schillers in den Jahren 1780 und 1791/92 entstandenen Teilübersetzungen von Vergils Epos Der Sturm auf dem Tyrrhener Meer, Die Zerstörung von Troja und Dido (NA 2i, 8–12 u. 22–59). Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1988 (zuerst 1967ff.). Bd. 6, S. 30 (= KSA 6, 30). Ebd., KSA 6, 31.
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dass „der Mensch […] mitunter eine Emotion an sich [erstrebt], und benutzt Menschen nur als Mittel. Am stärksten in der Grausamkeit. Aber auch in der Lust am Tragischen ist etwas davon“. 29 Der Hinweis darauf, dass ‚Menschen‘ bloß als (ästhetische) Mittel zu Emotionen Einsatz finden, ist hier bereits an sich bezeichnend. An dieser Stelle erinnert Nietzsche im Vorbeigehen jedoch auch daran, dass Goethe „diesen Sinn für das Grausame bei Schiller“ fand. 30 Unter „Mensch“ versteht Nietzsche hier offensichtlich den ‚ästhetischen Menschen‘, den er selbstverständlich im ‚Theater-Genie‘ Schiller erkennt – im Fragment ist weiterhin nicht von ungefähr von der „dramatischen Kunst“ die Rede. Festzuhalten ist hier, dass die Lust am Tragischen des ästhetischen Menschen, und dabei insbesondere des ‚Theater-‘ und ‚Machtmenschen‘, sich in gewisser Weise mit einem bemerkenswerten ‚Sinn für das Grausame‘ verbindet – wohlgemerkt, es ist ein sadistischer ‚Sinn für das Grausame‘. 31 Es hat den Anschein, als wären diese Worte auch in Bezug auf Alfieri als zutreffend zu bezeichnen, wie umgekehrt folgende Betrachtungen über Alfieri genauso gut zu Schiller passen würden. Denn was den Piemonteser angeht, zeichnete Ezio Raimondi, einer der einflussreichsten Italianisten der Nachkriegszeit, interessanterweise eine ähnliche Verbindungslinie zwischen Theater, Tyrannei und Lust am Tragischen. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1981 mit dem beachtlichen Titel „Le ombre sull’abisso“ („Schatten über dem Abgrund“) 32 ist von Alfieri als von der „theatralischsten Figur“ des Settecento die Rede, dem Autor, der sich „von oben bis unten als herrschende Figur über andere Figuren aufgebaut“ habe: 33 Alfieris theatralisches Schreiben entspringt einem vitalen Prozess, bei dem auch die Persönlichkeit desjenigen stets in Frage gestellt wird, der das Theater leitet, ja ausgehend vom Wort die Regie des Texts führt. […] Alfieri ist Theatermensch von Kopf bis Fuß. Wenn es je einen Menschen gegeben hat, der obsessiv die Idee des Theaters, ja der theatralischen Geometrie gehegt hat – die Idee, dass jedes Wort in einem Raum wirkt und einen Konflikt darstellt zwischen
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Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1875–1879, KSA 8, 455. Ebd. Eine bemerkenswerte Fügung ist es, dass während Giuliano Baioni in den 1980er Jahren auf den „Sadismus ante l itteram“ von Schillers Figur des Franz Moor hinweist, Giorgio Bàrberi Squarotti den „ungezügelten Sadismus“ von Alfieris Tyrannen Filippo unterstreicht. Vgl. Giuliano Baioni: Da Schiller a Nietzsche. In: Romano Luperini (Hg.): Tradizione, traduzione, società – Saggi per Franco Fortini. Roma 1989, S. 18–35, hier S. 24; Giorgio Bàrberi Squarotti: Lo spettacolo del Tiranno: le tragedie dell’Alfieri. In: Giovanna Ioli (Hg.): Vittorio Alfieri e la cultura piemontese fra illuminismo e rivoluzione. Atti del Convegno internazionale di studi in memoria di Carlo Palmisano: San Salvatore Monferrato, 22–24 settembre 1983. Torino 1985, S. 107–129, hier S. 115. Zur Stellung des jungen Schiller ‚zwischen Marquis de Sade und Kant‘ in der deutschen literaturwissenschaftlichen Forschung der frühen 1980er Jahre vgl. auch Harald Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant. Aufklärung und Idealismus. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 135–157. Ezio Raimondi: Le ombre sull’abisso. In: Ders.: I sentieri del lettore. Bd. 2: Dal Seicento all’Ottocento. Hg. v. Andrea Battistini. Bologna 1994, S. 293–314 (alle Übers. P.P.). Ebd., S. 294.
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demjenigen, der es ausdrückt und demjenigen, der es hört – dann ist dieser Mensch zweifellos Vittorio Alfieri. 34
Raimondi betont zu Recht, dass Alfieri – der ‚rationale‘ und ‚irrationale‘ Alfieri – einen „typischen Charakter des Settecento“ 35 darstellt. Ein solcher ist er schließlich, wie man ergänzen kann, auch in der ihn kennzeichnenden ‚Obsession‘ „nicht nur für die Idee des Lebens, sondern auch für die Idee des Todes“ 36 – einer ‚Obsession‘, die in unserem Rahmen ohne Zweifel als weitere Gemeinsamkeit mit Schiller betrachtet werden kann. Vor dem beschriebenen Hintergrund mag man sich fragen, ob der bereits bei den frühen Autoren hervorgehobene Pessimismus 37 einen gemeinsamen literarischen oder philosophischen Ursprung gehabt haben könnte. Für Benedetto Croce wurde Alfieri – wie die deutschen Stürmer und Dränger, ja als italienischer Stürmer u nd D ränger 38 – außer von Plutarch auch von Rousseau und dessen Kulturpessimismus stark beeinflusst. 39 Man kennt außerdem Alfieris Begeisterung für Montaigne, 40 dessen Essais nicht zuletzt durch die 1753/54 in Leipzig erschienene Übersetzung von Johann Daniel Tietz auch im deutschen 18. Jahrhundert gut bekannt waren 41 und dessen „Psychologie der Einbildungskraft“ auch von Johann 34
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„La scrittura teatrale di Alfieri nasce da un processo vitale che mette continuamente in discussione anche la personalità di chi gestisce quel teatro, di colui che fino dalla parola inventa la regìa di quel testo. […] Si dovrebbe forse capovolgere la situazione e ritornare invece all’idea di un Alfieri uomo di teatro dalla testa ai piedi. Se è mai esistito un uomo che ha avuto ossessivamente l’idea del teatro, anzi della geometria teatrale, l’idea che ogni parola agisce in uno spazio ed è conflitto tra qualcuno che la esprime e qualcuno che la ascolta, questi è sicuramente l’Alfieri“, ebd., S. 297. Ebd., S. 296. Ebd., S. 300. Vgl. etwa Mario Fubini: Ritratto dell’Alfieri e altri studi alfieriani. Firenze 1951, S. 5 sowie S. 167 und Erich Trunz: Schillers Jugendpessimismus und seine Überwindung. In: Ders.: Weltbild und Dichtung im Zeitalter Goethes. Acht Studien. Weimar 1993, S. 75–98. Benedetto Croce: Alfieri. In: Ders.: Poesia e non poesia. Note sulla letteratura europea del secolo decimonono. Bari 1923, S. 7–20, hier S. 7. Ebd. In Bezug auf Schiller sei hier mit Peter-André Alt Folgendes angemerkt: „Das düstere Sinnbild vom Leben als Tragikomödie und Schmierentheater hat Schiller in seinem Frühwerk, insbesondere in den ‚Anthologie‘-Gedichten aus dem Jahr 1782, mehrfach variiert […] Das ‚Rousseau‘-Gedicht macht die Diagnose, daß das irdische Dasein eine ‚Jahrmarktsdudelei‘ sei, durch den Hinweis auf die gewaltigen Möglichkeiten des menschlichen Geistes und die lichtvollen philosophischen Entwürfe des großen Schweizers erträglicher“, Peter-André Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995, S. 535f. Von den „sublimi saggi del familiarissimo Montaigne“, den „sublimen Essays des liebvertrauten Montaigne“, ist in Alfieris Vita die Rede, S. 90. Dt.: Alfieri: Vita. Mein Leben, S. 147. Das „berühmte Kapitel [I,xx: ‚Que philosopher, c’est apprendre à mourir‘] widmet sich, in Aufnahme der dann für Schiller wichtigen stoischen Tradition, dem antiken Topos der ‚commentatio m ortis‘, der freien Aneignung des Todes“, Wolfgang Riedel: Religion und Gewalt in Schillers späten Dramen (Maria Stuart, Die Jungfrau von Orleans). In: Ders. (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2009. Würzburg 2011, S. 23–44, hier S. 36. Überhaupt stellt Montaigne für Riedel „den bedeutendsten Anreger und Vordenker der empirischen
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Georg Sulzer rezipiert wurde – einem „Autor, den Schiller vom Studium her kannte“. 42 Unter den Autoren seiner frühen „philosophischen Studien“ nennt Alfieri darüber hinaus in seiner Vita 43 weitere prominente Vertreter der französischen Aufklärung: Voltaire, 44 Montesquieu 45 und schließlich Helvétius. 46 Mit den zuletzt Genannten tritt hier das heikle Verhältnis zum französischen Materialismus in den Fokus – jenem Materialismus, der im Übrigen „selbst Teil der Wirkungsgeschichte des britischen Empirismus“ war. 47 Führten nicht Empirismus und Materialismus „in der Konsequenz zur Physiologisierung, sprich Destruktion der Metaphysik und zum Absturz des philosophischen Denkens ‚into bottomless abysses of Atheism and Fatalism‘“? 48 Kommt auch der bei Alfieri und Schiller diagnostizierte ‚Pessimismus‘ nicht aus derselben Quelle – aus der Negation jeden metaphysischen Trosts? 49 Auf diese Aspekte wird im Folgenden ausführlich zurückzukommen sein. In diesem einführenden Überblick sei lediglich betont, dass der Einfluss von Helvétius’ Menschenlehre auf Alfieri und Schiller durchaus verdient, ernst genommen zu werden. Denn vollkommen glaubwürdig ist zum Beispiel Alfieri, wenn er 1790 in der gemeinhin so genannten Erstfassung seiner Vita rückblickend behauptet, Helvetius’ Werk De l’esprit (1758) habe einen „sehr tief gehenden Eindruck“ auf ihn gemacht („mi lasciò profondissima impressione“). 50 Keinesfalls übertrieben ist
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Psychologie des achtzehnten Jahrhunderts“ dar. Vgl. Wolfgang Riedel: Weltweisheit als Menschenlehre. Das philosophische Profil von Schillers Lehrer Abel. Einleitung zu: Jacob Friedrich Abel. Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782), mit Einl., Übers., Kommentar und Bibliogr. hg. v. Wolfgang Riedel. Würzburg 1995, S. 373–450, hier S. 436. Vgl. Riedel: Religion und Gewalt in Schillers späten Dramen, S. 36 sowie Ders.: Philosophie des Schönen als politische Anthropologie. Schillers Augustenburger Briefe und die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. In: Philosophical Readings. Online Yearbook of Philosophy 5 (2013): Special Issue. Reading Schiller. Ethics, Aesthetics and Religion. Hg. v. Laura A. Macor, S. 118–171, hier insb. S. 127–130. Alfieri: Vita, S. 86. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 141. Jenen Voltaire, den bereits der Eleve Schiller zusammen mit dem Materialisten La Mettrie als einen „unvollkommene[n] Geist“ bezeichnet hatte, der ‚Tugend‘ und ‚Wahrheit‘ gefährde (Die Tugend i n i hren F olgen b etrachtet, NA 20, 33). Genannt wird Voltaire (zusammen mit „Racine, Chapelle, Boileau“) auch unter den französischen Autoren von Lehrgedichten in einem erhaltenen Schulheft Schillers (vermutlich) aus dem Jahr 1779. Vgl. NA 41/IIA, 211. Dessen Abhandlung De l’esprit des lois Schiller wiederum in den frühen Jahren an der Karlsschule kennenlernte, „jedoch erst in den mittleren 80er Jahren gründlich studiert hat“, Alt: Schiller. Bd. I, S. 347. Nachweislich kam auch der frühe Schiller mit der Menschenlehre des Helvétius an der Karlsschule in Berührung. Vgl. Riedel: Weltweisheit als Menschenlehre, S. 434f. Ebd., S 421. So Thomas Carlyle in Bezug auf Hume. Vgl. Wolfgang Riedel: „Homo natura“. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin u. New York 1996, S. 139 (hier auch das Zitat aus Carlyles Essay Signs of the Times aus dem Jahr 1829). „[D]er Pessimismus als Vorform des Nihilism“, wird Friedrich Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahr 1887 festhalten (Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, S. 491). Vittorio Alfieri: Vita scritta da esso. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 2: Prima stesura e altri scritti autobiografici. A cura di Luigi Fassò. Asti 1951, S. 81. „Una
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es dabei, diese Lektüre als eine regelrechte „Offenbarung“ für den italienischen Autor zu bezeichnen. 51 Als revisionsbedürftig erweist sich hingegen auf Schillers Seite die moralisch zentrierte Interpretation, nach der die materialistische Menschenlehre beim frühen Autor lediglich dazu gedient hätte, die „Belastbarkeit“ des am Ende siegreichen Systems der „Philosophie der Liebe“ auf die Probe zu stellen. 52 Helvétius als der eigentliche Lehrer des ‚bösen‘ Franz Moor in den Räubern? Das Böse als bloße Funktion des Guten, als dessen Bekräftigung und Bestätigung – und nichts außerdem? Demgegenüber wird deutlich zu machen sein, dass die Menschenlehre des Helvétius nachhaltige Spuren auch in der Anthropologie des frühen Schiller hinterlassen hat. 53 Alfieri und Schiller als Zeitgenossen, als Autoren von thematisch stark verwandten Stücken, als ‚Theater-‘ und ‚Machtmenschen‘, als Dramatiker mit einem ausgeprägten Sinn für das Tragische, als ‚Pessimisten‘, als ‚Spätaufklärer‘ mit gemeinsamen geistigen Grundlagen. Zu den hier bereits erwähnten Aspekten seien zumindest noch folgende zwei hinzufügt: Alfieri und Schiller als Zeitzeugen der Französischen Revolution und als Identifikationsfiguren der entstehenden Nationalismen im 19. Jahrhundert. Womöglich führt ein direkter Weg gerade vom Materialisten Helvétius zum entscheidenden historischen Ereignis des ausgehenden 18. Jahrhunderts: Hat Helvétius nicht mit seinem Werk einen notwendigen Teil von dem mitgeliefert, dessen die Franzosen zu ihrer „politischen Revolution“ bedurften – nämlich „eines Beils und einer ebenso kaltscharfen, materialistischen Philosophie“? 54 Auf die Gründe, die Heinrich Heine gehabt haben mag, um diese ostentativ vereinfachende Annahme zu treffen, kann hier nicht eingegangen werden. Jedenfalls verhalten sich Alfieri und Schiller wiederum konform gegenüber dem Ausbruch der Revolution in
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profonda ma sgradevole impressione“ („Einen tiefen, aber unangenehmen Eindruck“) wird es dagegen in der endgültigen Fassung heißen, Alfieri: Vita, S. 87. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 142. Zu den wahrscheinlichen Gründen für diese entschiedene Urteilskorrektur vgl. Ezio Raimondi: Una giovinezza letteraria in Europa. In: Ders.: I sentieri del lettore, S. 233–266, hier S. 248– 252. Raimondi: Una giovinezza letteraria in Europa, S. 249. Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. „Die Räuber“ im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I). In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins 84/85 (1980/1981), S. 71–95, hier S. 94. Von der „Philosophie des Eigennutzes“ als einem „mit dem Namen Helvétius verbunden[en] […] Gegenstand der Verachtung“ Schillers ist auch in Schings’ jüngst erschienenem Buch die Rede: Hans-Jürgen Schings: Klassik in Zeiten der Revolution. Würzburg 2017, S. 142. Auf dieser Interpretationsbahn auch: Volker C. Dörr: Friedrich Schiller und die Aufklärung. In: Aufklärung. Epoche – Autoren – Werke. Hg. v. Michael Hofmann. Darmstadt 2013, S. 229–246. Vgl. dazu ausführlich auch Paolo Panizzo: Die blendende Fleckenhaut des Tigers. Schillers Räuber und die ästhetische Funktionalisierung des Bösen. In: Thomas Bremer (Hg.): Vernunft, Religionskritik, Volksglauben in der Aufklärung. Wissenszirkulation und Öffentlichkeit in den deutschsprachigen Gebieten. Halle (S.) 2013, S. 221–242, hier insb. S. 228–233. Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Ders.: Werke und Briefe in zehn Bänden. Hg. v. Hans Kaufmann. Bd. 5, Berlin u. Weimar 1972, S. 219.
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Paris, der eine regelrechte Wasserscheide im Werk dieser Autoren darstellt. 55 Beide sind anfänglich positiv 56 gegenüber den französischen Ereignissen eingestellt – der Stürmung der Bastille widmet der enthusiastische Alfieri im Schicksalsjahr 1789 gar eine Ode, den Parigi s bastigliato; 57 ihrerseits ernennt die Nationalversammlung 1792 im ‚entbastillierten‘ Paris den „Publiciste allemand“ „Gille“ (Schiller) zum Ehrenbürger. 58 Spätestens nach der Inhaftierung von König Ludwig XVI. im August 1792 und den darauf folgenden Septembermorden wenden sich dann beide Autoren entschieden von der Revolution ab. Alfieri, der sich 1792 zusammen mit seiner geliebten Louise Prinzessin von Stolberg-Gedern in Paris aufhält, schafft es, Hals über Kopf aus der Stadt zu fliehen, kurz bevor die Fürstin – und ehemalige Ehefrau des schottischen young p retender Charles Edward Stuart – verhaftet werden sollte. 59 Einmal nach Italien zurückgekehrt, wird Alfieri von dieser Zeit an zu einem entschiedenen, ja obsessiven und erbitterten Gegner Frankreichs, gegen das er auch die giftigen Pfeile seiner Prosatexte und Reime mit dem sprechenden Titel Misogallo („Franzosenhasser“) richtet. Ähnlich Schiller, 55
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Das sei auch jenem Teil der neuesten Schiller-Forschung zum Trotz behauptet, bei dem vor allem eine ästhetische und eine (im traditionellen Sinn verstandene) moralische Kontinuität zwischen der Zeit vor und nach der Klassik in Schillers Werk (über)betont wird. Vgl. Jörg Robert: Vor der Klassik. Die Ästhetik Schillers zwischen Karlsschule und Kant-Rezeption. Berlin 2011 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 72 [306]). Vom jungen Schiller als einem „Kantianer ante litteram“ ist gar in folgendem Aufsatz von Anna Laura Macor die Rede: Die Moralphilosophie des jungen Schiller: ein „Kantianer ante litteram“. In: Jeffrey L. High, Nicholas Martin u. Norbert Oellers (Hg.): Who is this Schiller Now? Essays on his reception and significance. Rochester NY 2011, S. 99–115. Sobald man von einem betont „anthropologischen Ansatz“ ausgeht, relativiert sich diese Interpretation jedoch stark: Riedel: Philosophie des Schönen als politische Anthropologie, S. 118–171. Oder zumindest der Revolution nicht abgeneigt, wie es sich in Schillers Fall vorsichtiger sagen lässt. Denn beim deutschen Dichter lassen sich zwar für eine „anfängliche Begeisterung über die Vorgänge in Frankreich […] keine handfesten Belege beibringen“ (Ulrich Raulff: Schiller, der Enthusiasmus, die Historie. In: Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne. Würzburg 2006, S. 325–338, hier S. 326); andererseits hat Schiller zu Beginn der Revolution auch keine öffentliche Kritik geäußert – was er erst 1792, bei der Radikalisierung derselben, tun wird. Auch wenn Schiller „nicht in die Jubelarien seines einstigen Idols Klopstock und anderer intellektueller Zeitgenossen“ ausbrach, kann „vor dem Hintergrund seiner Werke […] zumindest beim Ausbruch der Revolution von einer gewissen Sympathie ausgegangen werden“, Nikolas Dörr: Friedrich Schiller und die Französische Revolution. Die Rezeption der Französischen Revolution bei Schiller und anderen deutschen Intellektuellen. In: MenschenRechtsMagazin 36/1 (2006), S. 36–46, hier S. 40. Dass Schiller in diesen Jahren „moderaten Reformpositionen“ nahestand, wurde plausibel dargelegt, vgl. Peter-André Alt: Ästhetische Revolution, fremder Staat, ferne Nation. Schiller und die Politik. In: Jörg Robert (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Würzburg 2007, S. 27–45, hier S. 27. Vgl. dazu neuerdings auch Hans-Jürgen Schings: Revolutionsetüden. Schiller – Goethe – Kleist. Würzburg 2012, S. 16f. Forno: Le amate stanze, S. 555. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 124f. Dass die Bürgerwürde dabei nicht dem Autor der Räuber, sondern vor allem dem geistigen Vater des Marquis Posa galt, betont Schings: Klassik in Zeiten der Revolution, S. 116. Vgl. das Kapitel XXII. in der vierten Epoche der Vita. Alfieri: Vita, S. 278–282. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 390–397.
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der in den Jahren der Pariser Terreur zumindest in schriftlicher Form zu den aktuellen politischen Fragen auf Distanz geht 60 und sich dabei entschlossen dem „Konzept einer ästhetischen Erziehung des Menschen“ zuwendet. 61 Zunächst frappierend, doch eigentlich vor dem historischen Hintergrund jener Tage durchaus nachvollziehbar – ganz und gar bezeichnend ist es jedenfalls, dass sowohl Alfieri als auch Schiller im Dezember 1792, nach der Eröffnung des Prozesses gegen Louis XVI., dem Saint-Justs Plädoyer für die Todesstrafe vorausgegangen war, den festen Entschluss fassen, eine Apologie des französischen Königs zu schreiben. 62 Die (Selbst-)Krönung Napoleons zum Kaiser der verhassten Franzosen erlebt der im Oktober 1803 in Florenz verstorbene Alfieri nicht mehr. Schillers Tod im Jahre 1805 geht der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ein gutes Jahr voraus. Im 19. Jahrhundert, von dem sich beide Dichter früh verabschieden, beschreiten Alfieri und Schiller dennoch als Nationaldichter weiterhin parallele Wege – wie übrigens Italien und Deutschland in gewisser Weise parallele Wege bis zur nationalen Einigung im Jahr 1861 bzw. 1871 gehen. Bezeichnend, dass der berühmte Bildhauer Antonio Canova zwischen 1806 und 1810 eine weinende „Italia“ für das Grabmal Alfieris in Santa Croce schafft. Ob die klagende Gestalt hier vor allem um den großen italienischen Dichter trauert oder um „ihr von der Fremdherrschaft unterdrücktes Land“, 63 ist nicht eindeutig zu klären. Und am Ende auch nicht entscheidend, denn der Dichter steht hier bereits als politisch60
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Vgl. Raulff: Schiller, der Enthusiasmus, die Historie, S. 327 sowie Alt: Ästhetische Revolution, fremder Staat, ferne Nation, S. 30f. En detail zu den Pariser Ereignissen Schings: Revolutionsetüden, S. 69–118. Michael Hofmann: Schiller. Epoche – Werk – Wirkung. München 2003, S. 21. So berichtet Alfieri in seiner Vita: „La prima coserella, che mi venne ideata e fatta di mio [a Firenze] (dopo quasi tre anni che non avea più composto nulla fuorché qualche rime) fu l’Apologia del re Luigi XVI, che scrissi nel Decembre di quell’anno [1792]“, S. 283. Dt.: „Das erste kleine Werk, das ich aus mir selbst heraus [in Florenz] entwarf und ausführte, nachdem ich drei Jahre lang nichts weiter als einige Verse gedichtet hatte, war die Apologie des Königs Ludwig X VI., die ich im Dezember jenes Jahres [1792] schrieb“, Alfieri: Vita. Mein Leben, S. 398. In einem Brief vom 21. Dezember 1792 von Schiller an Körner liest man dagegen: „Kaum kann ich der Versuchung widerstehen, mich in die Streitsache wegen des Königs einzumischen, und ein Memoire darüber zu schreiben“, NA 26, 171. Vgl. dazu Alt: Ästhetische Revolution, fremder Staat, ferne Nation, S. 28 sowie das erste, „Weltereignis einer Hinrichtung“ betitelte Kapitel von Walter Müller-Seidels letztem Buch: Friedrich Schiller und die Politik. „Nicht das Große, nur das Menschliche geschehe“. München 2009, S. 9–22. Am 14. März 1789 hatte Alfieri noch einen dann nie verschickten Brief an Louis XVI. geschrieben, in dem er den König aufforderte, den vom Volk erhobenen Forderungen freiwillig nachzugeben, Forno: Le amate stanze, S. 554. Auch in seinem Misogallo lässt Alfieri den abgesetzten Monarchen zu Wort kommen: In der „Prosa terza“ gibt er die fiktive Übersetzung der „letzten Worte“ wieder, die der König am 11. Dezember 1792 vor dem Nationalkonvent spricht; in der „Prosa quinta“ inszeniert er dagegen einen fiktiven „Dialog zwischen den Schatten von Ludwig XVI. und Robespierre“, Vittorio Alfieri: Il Misogallo. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 5: Scritti politici e morali. Bd. 3. Hg. v. Clemente Mazzotta. Asti 1984, S. 191–417, hier S. 275–287 sowie 347–358. Isabel Skokan: Germania und Italia. Nationale Mythen und Heldengestalten in Gemälden des 19. Jahrhunderts. Berlin 2009, S. 64.
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kulturelle Chiffre für sein ganzes Land, und selbstverständlich auch für dessen kommende kulturelle und politische ‚Wiederauferstehung‘. Alfieri, der bereits in den 1780er Jahren in seiner Abhandlung über den Fürsten und die Wissenschaften Machiavellis „Aufforderung“ wiederholt hatte, „Italien von den Barbaren zu befreien“, 64 und der dann 1799 seinen Misogallo prophetisch dem „vergangenen, heutigen und zukünftigen [vereinten!] Italien“ 65 gewidmet hatte – der Patriot Alfieri wird im 19. Jahrhundert zum „Pionier des Risorgimento“, 66 das heißt zum ehrwürdigen Vorläufer für Schriftsteller und Intellektuelle der italienischen Freiheitsbewegung. Von ihm, dem anerkannten „Vater des neuen Italien“, 67 schrieb der Schriftsteller, Maler und Patriot Massimo D’Azeglio (1798–1866) in seinen Memoiren Unmissverständliches: „Man kann sagen, dass Alfieri Italien entdeckt hat, so wie Kolumbus Amerika entdeckte, und die Idee als Nation verbreitete“. 68
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„Esortazione a liberar la Italia dai barbari“, Vittorio Alfieri: Del Principe e delle Lettere. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 3: Scritti politici e morali. Bd. 1. Hg. v. Pietro Cazzani. Asti 1951, S. 111–254, hier S. 249. Dt.: Vittorio Alfieri: Der Fürst und die Wissenschaften, aus dem Italienischen übersetzt von Friedrich Buchholz. In Verbindung mit der Deutschen Schillergesellschaft, hg. v. Enrica Yvonne Dilk u. Helmuth Mojem. Göttingen 2011, S. 150. „Alla passata, presente, e futura Italia“, Alfieri: Il Misogallo, S. 198. Régine Bonnefois: Von der weinenden Italia Canovas zur triumphierenden Libertà von Pio Fedi. Das Problem der nationalen Identität am Beispiel der Kirche Santa Croce in Florenz und des römischen Pantheons. In: Damian Dombrowski (Hg.): Kunst auf der Suche nach der Nation. Das Problem der Identität in der italienischen Malerei, Skulptur und Architektur vom Risorgimento bis zum Faschismus. Berlin 2013, S. 36–59, hier S. 42. „Von den Neapolitanern bis zu den Lombarden, von Mazzini bis Guerrazzi, von San Larosa bis Gioberti und D’Azeglio – alle erkennen in Alfieri den Vater des neuen Italien“ – so der bedeutende Historiker des Risorgimento Walter Maturi (1902–1961): Storia e storiografia. Hg. v. Massimo L. Salvadori u. Nicola Tranfaglia. Torino 2004, S. 125. Vgl. Massimo D’Azeglio: I miei ricordi. Bd. 1. Florenz 18767, S. 88. Hier zit. nach: Bonnefois: Von der weinenden Italia Canovas, S. 42. Auch der junge Massimo D’Azeglio – wie er ebenfalls in seinen ricordi berichtet – verkehrte in dem Florentiner Salon, den Louise von Stolberg, Alfieris Lebensgefährtin, zwischen 1803 und 1823 in ihrem Haus führte. „Bei Madame d’Albany finden sich“ – wie in der Forschung zu lesen ist – „im Laufe der Jahre Massimo D’Azeglio, Alfonse de Lamartine, F. A. René de Chateaubriand, Gino Capponi, Charles Victor von Bonstetten, […] Ludovico di Brême“ ein, Rita Unfer Lukoschik: Friedrich Schiller in Italien (1785–1861). Eine quellengeschichtliche Studie. Berlin 2004, S. 122. Besonders hervorzuheben ist hierbei, dass auch Schillers Werk zu dieser Zeit „im Salon der Gräfin zum Gesprächsstoff gehörte. Die Vermittlung war durch französische Gäste erfolgt, welche Madame d’Albany schon aus ihrer Pariser Zeit kannte und später in ihrem eigenen Salon wieder begrüßen durfte: Madame de Staël […] und Jean-Charles Léonard Simonde de Sismondi. / Dieser spielte durch sein 1813 verfasstes und in Italien im ganzen Ottocento stark rezipiertes Werk De l a l ittérature d u M idi de l ’Europe eine nicht geringere Rolle bei der Rezeption Schillers als Madame de Staël, denn in sein Buch nimmt er wieder [den] Vergleich zwischen Schiller und Alfieri auf, […] und reicht ihn an die kritische Literatur über Schiller in den darauffolgenden Jahrzehnten weiter“, ebd. Dazu auch: Forno: Le amate stanze, S. 633– 636. Die wechselvolle und facettenreiche Rezeptionsgeschichte des „politischen Alfieri“ im italienischen 19. und 20. Jahrhundert rekonstruiert Stefano De Luca in seiner neu erschienenen Studie: Alfieri politico. Le culture politiche italiane allo specchio tra Otto e Novecento. Soveria Mannelli 2017. Zum Verhältnis von Kunst und Politik in der europäischen Aufklärung vgl.
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Ähnlich in den deutschsprachigen Ländern. In der turbulenten Zeit nach Schillers Tod entwickelt sich hier das, was zu Recht als „intime[s] Verhältnis zwischen Dichter und Nation“ 69 bezeichnet wurde, wobei Schiller bei allem Wandel der Zeiten und auch über das 19. Jahrhundert hinaus „ein zentraler Anker nationaler Identitätsfindung blieb“. 70 Schon bald nach seinem frühen Tod stellt der Dichter das „heroisierte Vorbild für patriotische Schwärmer“ 71 gegen Napoleons Frankreich dar. Später wird er zur „Lichtgestalt für die bürgerlichen Märzrevolutionäre des Jahres 1848“, zur erstrangigen „literarische[n] Autorität“ – an erster Stelle, vor Goethe –, zur „Kultfigur“ für die deutschen Amerika-Emigranten. Der „Höhepunkt einer solchen vorbehaltlosen Verehrung“ im 19. Jahrhundert wird eindeutig bei den Feierlichkeiten im Schiller-Jahr 1859 erreicht, wobei die Einheit der noch „politisch getrennt[en] und zerklüftet[en]“ Deutschen bereits am Horizont erkannt wird: „Denn Schiller, unser Schiller – der Prophet und Evangelist der Freiheit – hat es ja verkündigt!“. 72 In Italien und Deutschland stellen Alfieri und Schiller nach ihrem Tod nationale „Galionsfiguren“ dar, Gestalten, die „vorne steh[en] und die Wege bahn[en]“. 73 Doch Entscheidendes soll an dieser Stelle noch vermerkt werden: Denn während Alfieri tatsächlich „in deutschen Landen nie das Verständnis gefunden hat, das seine Landsleute ihm entgegenbrachten“, 74 wird Schiller im italienischen Risorgimento und dann zumindest bis zu Croces kritischer Auseinandersetzung mit dem Dichter in den 1910er Jahren 75 ein besonderer Ehrenplatz eingeräumt 76 – ja, es ist dabei nicht übertrieben zu sagen, dass sich Federico Schiller „als ausgesprochen politischer Autor […] zunächst in Italien“ behauptete. 77 In der Tat: Mit einem gewissen Erstaunen stellt man nicht nur die nachdrückliche Präsenz des deutschen Dichters im Werk keines Geringeren als Giuseppe Mazzinis (1805–1872) fest, 78 sondern auch die wirkungsmächtige Rezeption von Schillers
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neuerdings: Gerardo Tocchini: Arte e politica nella cultura dei lumi. Diderot, Rousseau e la critica dell’antico regime artistico. Roma 2016. Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945. Frankfurt a.M. 1999, S. 44. Ute Frevert: Ein Dichter für viele deutsche Nationen. In: Jan Bürger (Hg.): Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Göttingen 2007, S. 57–75, hier S. 57. Alt: Schiller. Bd. I, S. 11 (hier auch die folgenden Zitate in diesem Absatz). So H. Woyte in der Wiener Festrede im Jahre 1859, zit. nach: Thorsten Logge: Zur medialen Konstruktion des Nationalen. Die Schillerfeiern 1859 in Europa und Nordamerika. Göttingen 2014, S. 102. So Giuseppe Bevilacqua in Bezug auf Schiller, wobei sich der Begriff „Galionsfigur“ eins zu eins auf Alfieri übertragen lässt, vgl. Giuseppe Bevilacqua: Federico Schiller – eine Galionsfigur des Risorgimento. In: Bürger (Hg.): Friedrich Schiller, S. 42–56, hier S. 51 (Übers. P.P.). Rüdiger: Die Kritik der Romantiker und Goethes an den Tragödien Alfieris, S. 160. Bevilacqua: Federico Schiller, S. 42–45 (Übers. P.P.). Vgl. Unfer Lukoschik: Friedrich Schiller in Italien. Hier insb. das Kapitel F über „Die italienische Schillerrezeption in der Restaurationsära (1814–1861)“, S. 164–292. Bevilacqua: Federico Schiller, S. 46 (alle Übers. P.P.). Ebd., S. 51.
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Werken in der Welt der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts – von Gioacchino Rossinis Ende der 1820er Jahre komponierten Guglielmo Tell über Gaetano Donizettis Maria St uarda von 1834 bis hin zu Giuseppe Verdis Giovanna d’ Arco (1845), I masnadieri (1847), Luisa Miller (1849) und Don Carlos (1867). 79 Die Fülle und Implikationsreichweite der bisher genannten Gemeinsamkeiten zwischen den ‚Parallel-Tragikern‘ Alfieri und Schiller erweist sich als überraschend, in gewisser Hinsicht auch als schwindelerregend. Zuweilen mag man den Eindruck gewinnen, mit festem Blick auf diese Autoren doch durch ein Kaleidoskop zu blicken, bei dem sich schillernde Bildkompositionen immer neu und überraschender zusammensetzen. Zu allem Überfluss sei hier ein letzter, frappierender Befund erwähnt. Er betrifft die Musik als Inspirationsquelle für das künstlerische Schaffen beider Dichter. In den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts denkt Alfieri an seine Jugend zurück und beschreibt in der „zweiten Epoche“ seiner Vita seine „Jungenjahre“, die für den Dichter „acht Jahre schlechter Erziehung“ (1758–1766) bedeuten. 80 Im Jahr 1762 besucht Alfieri zum ersten Mal eine Opera buf fa im Teatro Carignano in Turin und beschreibt die Wirkung, die jene Musik auf ihn gemacht hat, wie folgt: Il brio, e la varietà di quella divina musica mi fece una profondissima impressione, lasciandomi per così dire un solco di armonia negli orecchi e nella imaginativa, ed agitandomi ogni più interna fibra, a tal segno che per più settimane io rimasi immerso in una malinconia straordinaria ma non dispiacevole; dalla quale mi ridondava una totale svogliatezza e nausea per quei miei soliti studi, ma nel tempo stesso un singolarissimo bollore d’idee fantastiche, dietro alle quali avrei potuto far dei versi se avessi saputo farli, ed esprimere dei vivissimi affetti […]. E fu questa la prima volta che un tale effetto cagionato in me dalla musica, mi si fece osservare, e mi restò lungamente impresso nella memoria, perch’egli fu assai maggiore d’ogni altro sentito prima. 81
Was die Musik im Allgemeinen angeht, so hält Alfieri außerdem Folgendes fest: Ma andandomi poi ricordando dei miei Carnovali, e di quelle poche recite dell’opera seria ch’io aveva sentite, e paragonandone gli effetti a quelli che ancora provo tuttavia, quando divezzatomi dal teatro ci ritorno dopo un certo intervallo, ritrovo sempre non vi essere il più potente e indomabile agitatore dell’animo, cuore, ed intelletto mio, di quel che lo siano i suoni tutti e specialmente le voci di contralto e di donna. Nessuna cosa mi desta più affetti, e più vari, 79 80 81
Ebd., S. 52–56. „Adolescenza. Abbraccia otto anni d’ineducazione“, Alfieri: Vita, S. 22. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 46. Alfieri: Vita, S. 37. Dt.: „Diese göttliche Musik besaß so viel Brio, war so abwechslungsreich, dass ich tief beeindruckt war. Sie hinterließ gleichsam einen Nachklang von Harmonie in meinen Ohren und in meiner Phantasie und brachte jeden Nerv in mir zum Schwingen. Darauf hin blieb ich für mehrere Wochen in tiefster Melancholie versunken, die aber nicht unangenehm war. Statt meiner üblichen Studien, die ich mehr als lustlos und widerwillig betrieb, entbrannte ich förmlich für die merkwürdigsten phantastischen Vorstellungen, aus denen ich Verse hätte schmieden können, so fern ich mich darauf verstanden hätte; den lebhaftesten Affekten hätte ich Ausdruck verleihen können. [...] Das war auch das erste Mal, dass die Musik in mir eine solche spürbare Wirkung erzeugte, die mir noch lange als einzigartig im Gedächtnis blieb“, Alfieri: Vita. Mein Leben, S. 68f.
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e terribili. E quasi tutte le mie tragedie sono state ideate da me o nell’atto del sentir musica, o poche ore dopo. 82
Vor dem Hintergrund dieser Textpassage setzte Wilhelm Dilthey Alfieris Verhältnis zur Musik mit demjenigen Heinrich von Kleists in Zusammenhang. 83 Bei Licht besehen sprach allerdings bereits Friedrich Schiller in denselben Jahren wie Alfieri von einem durchaus ähnlichen Verhältnis zur Musik – und zwar in einem Brief an Goethe aus dem Jahr 1796, in dem er auf den Prozess schöpferischen Schaffens zu sprechen kommt. Dort liest man: „Bey mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewiße musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bey mir erst die poetische Idee“. 84 Nur zu verständlich, dass Schillers Brief später auch dem jungen, am Zusammenhang von Musik und Tragik stark interessierten Verfasser der Geburt der Tragödie nicht entgehen konnte. 85 Bemerkenswert dabei, dass das von Nietzsche angenommene, enge Verhältnis zwischen Musik und Tragödie in den Worten eines weiteren tragischen Dichters der europäischen Spätaufklärung, Alfieri eben, eine so deutliche Bestätigung findet. Außer den erwähnten Gemeinsamkeiten zwischen Alfieris und Schillers im weitesten Sinne aufgefassten biographischen und künstlerischen Laufbahnen sei hier noch kurz auf zwei signifikante Unterschiede zwischen beiden Autoren hingewiesen: auf ihre unterschiedliche soziale Herkunft und auf die unterschiedlichen Ergebnisse ihres Spätwerks. Aus einem soziologischen Blickwinkel erweisen sich Alfieris und Schillers Lebensläufe wiederum als paradigmatisch für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Auf Schwarz-Weiß-Entgegensetzungen ist, dieser facettenreichen Epoche entsprechend, auch in diesem Fall von vornherein zu verzichten. Graf Alfieri ist ein Vertreter des Adels, der allerdings sein ganzes Vermögen der Schwester abtritt, um mit einer ‚Rente auf Lebenszeit‘ seiner eigentlichen Berufung als Schriftsteller und liber’uomo zu folgen. 86 Man kennt hingegen die langjährige, chronische finanzielle 82
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Alfieri: Vita, S. 37. Dt.: „Wenn ich mich an die Karnevalszeiten erinnere, die ich erlebt, an Aufführungen der großen Oper, die ich besucht habe, und wenn ich deren Wirkungen mit denjenigen des Theaters vergleiche – gerade wenn ich nach längerer Abstinenz wieder das Theater besuche –, komme ich immer zu demselben Schluss: Es gibt nichts, was mein Gemüt, mein Herz und meinen Verstand so machtvoll und unwiderstehlich bewegt wie Töne, besonders Alt und Sopran. Nichts weckt in mir so viele gemischte Affekte, nichts erschüttert mich so sehr. Fast alle meine Tragödien habe ich entworfen, während ich Musik hörte oder wenige Stunden danach“, Alfieri: Vita. Mein Leben, S. 69. Die Passage ist bereits in der ersten Fassung von Alfieris Vita enthalten, vgl. Alfieri: Vita scritta da esso. Vol. 2: Prima stesura e altri scritti autobiografici, S. 42. Dilthey: Vittorio Alfieri, S. 286f. NA 28, 201f. Schillers Brief wird von Nietzsche an folgender Stelle zitiert: Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 43. Vgl. Edoardo Costadura: Der Edelmann am Schreibpult. Zum Selbstverständnis aristokratischer Literaten zwischen Renaissance und Revolution. Berlin 2006, S. 207.
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Not des ‚Bürgers‘ und „freie[n] Autor[s] ohne feste Stellung“ Schiller 87 – sowie dessen „zähe[n] Geschäftssinn“, mit dem der deutsche Dichter sprichwörtlich aus [s]einer Not eine (wirkungsvolle) Tugend machte. Was den Piemonteser Edelmann angeht, so hat man in der Forschung gerne Goethes Wort aus einem Brief an Zelter vom 3. Dezember 1812 zitiert: „Seine Natur war vollkommen gräflich, d. h. stockaristokratisch“. 88 Goethes Äußerung mag als wichtige Stütze bei allen soziologisch betonten Interpretationen betrachtet werden, bei denen die Arbeit am Schreibpult des ‚Edelmanns‘ Alfieri als des „letzten, unduldsamen Repräsentanten des italienischen Ancien R égime“ beschrieben werden soll. 89 Mit Arnaldo Di Benedetto ist allerdings deutlich darauf hinzuweisen, dass dem Edelmann Alfieri „jedes Solidaritätsgefühl mit seinem Stand fehlte“ und dass seine „Verachtung für den Adel“ mit einer genau so großen Verachtung für den ‚dritten Stand‘ – Anwälte, Kaufleute und so weiter, die er in seinen Satire denkbar pejorativ ‚sesqui-plebe‘, das heißt ‚Anderthalb-Plebs‘ nennt 90 – eng verbunden war. 91 Geradezu undenkbar ist für Alfieri das bürgerliche Trauerspiel, das er in der Vita prägnant eine „Epopea delle rane“, nämlich eine „Frösche-Epopöe“ definiert. 92 Und dennoch ist der piemontesische Graf Alfieri nicht leicht auf ein eindeutiges soziologisches Bild festzulegen. Eine manichäische Entgegensetzung zwischen dem Edelmann Alfieri und dem Bürger Schiller wird außerdem von einer weiteren Bemerkung Goethes erschwert. Unter dem Datum vom 4. Januar 1824 notiert Eckermann in seinen Gesprächen mit Goethe: Man beliebt einmal, erwiderte Goethe, mich nicht so sehen zu wollen, wie ich bin, und wendet die Blicke von Allem hinweg, was mich in meinem wahren Lichte zeigen könnte. Dagegen hat Schiller, der, unter uns, weit mehr ein Aristokrat war als ich, der aber weit mehr bedachte was er sagte als ich, das merkwürdige Glück, als besonderer Freund des Volkes zu gelten. Ich gönne es ihm von Herzen und tröste mich damit, daß es Anderen vor mir nicht besser gegangen. 93
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Alt: Schiller. Bd. I, S. 408. Johann Wolfgang von Goethe: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832. In: Ders.: Sämtliche Werke. Nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. v. Karl Richter, in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder u. Edith Zehm. München 1991. Bd. 20.I, S. 296. Costadura: Der Edelmann am Schreibpult, S. 263. Aufstieg und Niedergang des aristokratischen Heros vom späten 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in England und Frankreich ist der unlängst erschienene Essay des Historikers Ronald G. Asch gewidmet: Herbst des Helden. Modelle des Heroischen und heroische Lebensentwürfe in England und Frankreich von den Religionskriegen bis zum Zeitalter der Aufklärung. Ein Essay. Würzburg 2016 (Helden – Heroisierungen – Heroismen, 3). Vittorio Alfieri: Satire. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 5: Scritti politici e morali. Bd. 3. Hg. v. Clemente Mazzotta. Asti 1984, S. 95f. Vgl. Arnaldo Di Benedetto: Le passioni e il limite. Un’interpretazione di Vittorio Alfieri. Napoli 1987, S. 28. Alfieri: Vita, S. 321. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 436. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. MA, Bd. XIX, S. 493f.
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Auch aus einem soziologischen Blickwinkel ist man hier daher offensichtlich mit einem komplizierteren Bild konfrontiert, als man zunächst erwartet hatte. Denn zum einen bezeichnet der vom Höfling Goethe als ‚stockaristokratisch‘ definierte Alfieri in seinem Traktat Della tirannide den Adel abschätzig als die „Klasse […] eines der größten Hindernisse politischer Freiheit und als eine der mächtigsten und dauerhaftesten Stützen der Tyrannei“. 94 Zum anderen sei der erst 1802 geadelte ‚Bürger‘ und „Freund des Volkes“ Schiller dagegen selbst „mehr ein Aristokrat“ gewesen als der zwanzig Jahre zuvor geadelte Goethe. Kein Zweifel: Sehr wohl wird an dieser Stelle zwischen der bloßen Zugehörigkeit zu einem sozialen Stand und der persönlichen Einstellung, ja Attitüde zweier Dichter unterschieden. Dennoch ist dabei eine gewisse Paradoxie nicht von der Hand zu weisen. Wie immer man auch diese paradoxen Befunde interpretieren mag – auf jeden Fall sind sie an sich bereits als signifikante Zeitdokumente der europäischen „Sattelzeit“ (Koselleck) einzustufen. Wenn man Alfieris und Schillers parallele Laufbahnen als tragische Dichter gegenüberstellt, ist man in Bezug auf das Spätwerk der Autoren mit einem weiteren signifikanten Unterschied konfrontiert, der gerade aus einer grundsätzlichen Gemeinsamkeit hervorgeht. Wie bereits erwähnt, stellt das Jahr 1789 eine deutliche Zäsur im Werk beider Dichter dar – eine Zäsur, die sich allerdings in unterschiedlicher Weise auf die weitere literarische Produktion der Autoren niederschlägt. Seine neunzehn ‚kanonischen‘ Tragödien verfasst Alfieri zwischen 1775 und 1787, das heißt ausnahmslos in der vorrevolutionären Zeit. 95 Im Jahr der Revolution erscheint der letzte Band der Didot-Ausgabe von Alfieris Werken in Paris. 96 Es ist deutlich darauf hinzuweisen, dass Alfieri zu diesem Zeitpunkt seine Laufbahn als Tragödiendichter für sich bereits für abgeschlossen erklärt hat, 97 und dass die Französische Revolution, zumindest in dieser Hinsicht, keine entscheidende Wende im Leben des Autors bringt. Dennoch ist es bezeichnend, dass sich der einstige Tragiker in den 1790er Jahren nicht nur mit Übersetzungen griechischer und römischer Klassiker beschäftigt, sondern auch zum verbitterten Verfasser von Satiren und dann, in den letzten Jahren seines Lebens, von Komödien wird. Was in 94
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„Havvi una classe di gente, che fa prova e vanto di essere da molte generazioni illustre, ancorché oziosa si rimanga ed inutile. Intitolasi nobiltà; e si dee, non meno che la classe dei sacerdoti, riguardare come uno dei maggiori ostacoli al viver libero, e uno dei più feroci e permanenti sostegni della tirannide“, Vittorio Alfieri: Della tirannide. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 3: Scritti politici e morali. Bd. 1. Hg. v. Pietro Cazzani. Asti 1951, S. 1– 109, hier S. 58. Dt.: Vittorio Alfieri: Von der Tyrannei. Von dem Grafen Victor Alfieri. Neu übertragen und mit einem Vorwort begleitet von F[erdinand Daniel] Freiherr von Fennberg. Mannheim 1845, S. 185f. Einen Überblick über Alfieris Werk verschafft Carla Forno: Solitudine – Potere – Libertà. Paradigma alfieriano dal ‚rossore‘ della gioventù al ‚pallore‘ della maturità. In: Vittorio Alfieri: Solitudine – Potere – Libertà. Atti del Convegno di Berlino (Humboldt-Universität zu Berlin, 12–13 novembre 2003). Hg. v. Roberto Ubbidiente. Frankfurt a.M. u.a. 2006, S. 9–36. Vgl. Alfieri: Vita, S. 257–267. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 362–376. Vgl. Alfieri: Vita, S. 255. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 360.
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der Forschung hervorgehoben wurde, stimmt durchaus: „Die Abrechnung mit der Französischen Revolution, mit Frankreich, mit einer einzigartigen Tyrannei der Plebs band Alfieris künstlerische Energien, er schrieb, von Ressentiment, ja Hass getrieben, Satiren, später Komödien“. 98 Ressentiment und Hass – bei aller fein durchdachten Stilisierung, ja bei allem strategischen „self fashioning“ 99 – kennzeichnen nicht nur Alfieris Misogallo, sondern auch ein weiteres Werk dieser Jahre, das auch Alfieris berühmtestes werden sollte: seine Vita scritta da esso. Die Laufbahn des Tragikers Alfieri verlief in den Jahren nach der Französischen Revolution gerade in der entgegengesetzten Richtung zu den früheren Jahren – sie führte zum Satirischen, zum Komischen, zum Romantischen 100 sowie zum eigenen Selbst des Dichters als paradigmatischem „freien Schriftsteller“. Durchaus anders die letzten anderthalb Jahrzehnte in Schillers Leben, die nicht nur vom größten politischen Ereignis der Epoche beeinflusst, sondern auch von der entscheidenden Begegnung mit der Kritischen Philosophie Kants und der folgenreichen Allianz mit Goethe in Weimar geprägt werden. Diese Jahre zeitigen nicht nur ästhetische Abhandlungen, die von einer Reflexionshöhe zeugen, die man beim späten Alfieri vergeblich suchen würde. Nachdem der deutsche Dichter seine „philosophische Bude“ 101 geschlossen hat, rückt auch das tragische Theater wieder in den Mittelpunkt seines Schaffens – und dies ohne weitere Unterbrechung bis zu seinem Tod im Jahr 1805. Jene Kontinuitätslinie im Zeichen des Tragischen, die Alfieri abhandenkommt, zeichnet sich dagegen bei Schiller deutlich ab – was allerdings nicht bedeutet, dass sein dramatisches Werk vor und nach 1789 keine Zäsur kennen würde: Die Prämissen, auf denen Schillers ‚klassische‘ Dramen gründen, sind wesentlich anders als vor 1789, denn diese Werke geben direkt oder indirekt Antworten auf eine historische Zeit, die selbst wesentlich anders geworden ist. Wenn es daher in gewisser Weise nur einen ‚tragischen Alfieri‘ gibt, so hat man es eigentlich mit zwei ‚tragischen Schiller‘ zu tun, und bei einem Vergleich zwischen dem italienischen und dem deutschen Dichter mag das leicht für interpretatorische Schwierigkeiten sorgen. Man nehme zum Beispiel Alfieris zwischen 1778 und 1782 entstandene Tragödie Maria St uarda und Schillers Maria St uart (1801): Die Werke sind lediglich durch zwei Jahrzehnte voneinander getrennt. Dennoch ist der deutsche Verfasser der Maria Stuart im Jahr 1801 bei allen Elementen der Kontinuität mit seinem Frühwerk lange nicht mehr der ‚Stürmer und Dränger‘ der 1780er Jahre – kein Wunder, dass auch der Kritiker Benedetto Croce gerade mit Blick auf Schillers Stuart und allgemein auf Schillers späte Dramen den Eindruck hatte, Alfieri sei in der Gegenüberstellung mit dem deutschen Dichter als der ‚wahre‘ „Stürmer und Dränger“ zu betrachten. 102 Ob Alfieri dann überhaupt 98 99 100 101 102
Gisela Schlüter: Nachwort. In: Alfieri: Vita. Mein Leben, S. 519. Ebd., S. 527. Vgl. etwa die phantastisch-märchenhaften Züge von Alfieris „commedia IV“ L’antidoto. NA 28, 132. Croce: Alfieri, S. 20.
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mit Croce als italienischer ‚Stürmer und Dränger‘ plausibel zu bezeichnen ist – das ist wiederum eine andere Frage. Feststeht, dass eine Quadratur des Kreises auch in diesem Fall nicht zu erreichen ist. Vor dem bisher skizzierten, ausgesprochen heterogenen Hintergrund mag der Umstand kaum überraschen, dass der Versuch, eine systematische komparative Untersuchung von Alfieris und Schillers Werk zu liefern, noch nicht unternommen wurde. Die Prophetie, ein solches ausuferndes Unternehmen wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, ist dabei ziemlich leicht zu treffen. Wer sich unserem Thema annähert, muss darauf gefasst sein, mit einer spröden Materie zu arbeiten – und dies im Hinblick sowohl auf die Quellentexte der Rezeptionsgeschichte als auch auf die wissenschaftliche Forschungsliteratur. Andererseits leuchten auch gleich die Gründe dafür ein, dass kleinere vergleichende Arbeiten in den letzten zweihundert Jahren immer wieder einzelnen Aspekten von Alfieris und Schillers Werken gewidmet wurden; 103 oder dafür, dass auch die sich nur mit einem von diesen Autoren befassenden Untersuchungen stets mit Hinweisen auf den jeweils anderen ‚Parallel-Autor‘ begleitet wurden. 104 Es sagt schon einiges über Alfieris Ruf in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, dass Thomas Carlyle in Bezug auf Schillers Don Karlos in seinem Life of Schiller (1824) Folgendes festhielt: The celebrity of Alfieri generally invites the reader of Don Carlos to compare it with Filippo. Both writers treat the same subject; both borrow their materials from the same source, the
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Wie in der Forschung rekonstruiert wurde, sei der Venezianer Verleger und Buchhändler Antonio Rosa der erste in Italien, der Alfieri und Schiller vergleichend gegenüberstellt: „Der Vergleich wird sehr früh angestellt. Erstmals im Jahre 1804 von Antonio Rosa in seinem einführenden Text zum Schiller zugeschriebenen Drama II M endico ausgesprochen, findet er sich auch in Briefe aus Italien von P. J. Rehfues [...]. Festgesetzt wird es in: De la littérature du Midi de l’Europe, par J. C. L. Simonde de Sismondi […]. Seit den Schriften Sismondis und August Wilhelm von Schlegels bildet im Ottocento die Stellungnahme pro und contra Schiller bzw. Alfieri einen festen Posten in der Diskussion um ein neues nationales Theater“, Unfer Lukoschik: Friedrich Schiller in Italien, S. 160. 104 Eine prominente Ausnahme stellen August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst dar, einer „der Schlüsseltexte für die italienische Romantik und nicht nur für diese“, wie treffend bemerkt wurde (Arnaldo Di Benedetto: „quasi che un dio“. Vittorio Alfieris Auffassung vom Dichter. In: Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Bd. 1: Der Ursprung des Konzepts um 1800. Hg. v. Albert Meier, Alessandro Costazza u. Gérard Laudin. Berlin u. New York 2011, S. 195–214, hier S. 200). In seiner sechzehnten Vorlesung kommt Schlegel auf Alfieri zu sprechen – dabei wird keinerlei Parallele zu Schiller gezogen, ja der Name des deutschen Dichters findet hier gar keine Erwähnung. Interessanterweise nennt Schlegel den italienischen Tragiker „einen umgekehrten Metastasio“ und schreibt außerdem, dass die Muse dieses „kühn und stolz gesinnte[n] Mann[es]“ eine „mannweibliche Amazone“ sei (S. 243). Schlegels durchaus kritisches Urteil über den ‚Dichter‘ Alfieri wird im 19. Jahrhundert Schule machen: Alfieris „Begeisterung war weit mehr politisch und moralisch, als poetisch, und man muß seine Trauerspiele mehr wie Handlungen des Mannes, als wie Werke des Dichters loben“, August Wilhelm Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. Erster Teil. In: Ders.: Kritische Schriften und Briefe V. Hg. v. Edgar Lohner. Stuttgart u.a. 1966 (Sprache und Literatur, 33), S. 242.
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nouvelle historique of St. Réal: but it is impossible that two powerful minds could have handled one given idea in more diverse manners. 105
Bereits 1819 war auch der Schriftsteller und Patriot Silvio Pellico (1789–1854) in Italien auf Alfieris Filippo und Schillers Don Karlos zu sprechen gekommen – und zwar in seiner in der Mailänder Zeitschrift Il Conciliatore veröffentlichten Rezension 106 zu der Tragödie von Marie-Joseph Chénier (1764–1811) Philippe II, die erst ein Jahr zuvor in Paris erschienen war. Was hierbei in der Forschung hervorgehoben wurde, trifft ins Schwarze: Schon die ersten Zeilen dieser Rezension lassen sich zweifellos auch als eine Bestätigung dafür interpretieren, dass „das Jahrhundert der Nationalismen“ zu dieser Zeit offensichtlich auch in Italien begonnen hatte. 107 So schreibt Pellico einführend: „Das Trauerspiel neigt in dieser Zeit allerorten dazu, den Titel eines vorwiegend nationalen Poems zu verdienen: Alfieri in Italien, Schiller in Deutschland, Chénier in Frankreich, drei hervorragende Dichter, die ihre Begeisterung aus der Liebe zum Wahren und Gerechten, also der Liebe zum Vaterland schöpften“. 108 Gerade Alfieris Filippo und Schillers Don K arlos widmet dann auch Carlo Cattaneo (1801–1869), einer „der vielseitigsten Intellektuellen des italienischen Risorgimento“, 109 im Jahr 1842 einen längeren vergleichenden Essay, in dem er die Werke beider Dichter vor dem Hintergrund nicht nur des gemeinsamen „Hasses“ gegen ‚willkürliche Gewalt‘ interpretiert, sondern auch der gemeinsamen Absicht, „großzügige Gedanken“ in ihren Nationen zu erwecken. 110 Wenn Giuseppe Mazzini zehn Jahre vor Cattaneo im deutschen Dramatiker Schiller allgemein den eigentlichen Vertreter jener „zukünftigen Kunst“ erkannt hatte, die gleichzeitig „europäisch und national“ sein würde (und nicht bloß „national“, wie bei Alfieri), 111 erkennt Cattaneo bei aller Bewunderung für Schiller in Alfieris Filippo Figuren „edleren Metalls“. 112 Der in unserem Rahmen bereits zitierte Wilhelm Dilthey widmet 1875 dem italienischen Grafen Alfieri einen Essay, in dem nicht von ungefähr eine sehr deutliche Parallele mit dem deutschen Tragödiendichter Schiller gezogen wird. Hier liest man: 105
Thomas Carlyle: The life of Friedrich Schiller comprehending an examination of his works. London 1899, S. 79. Vgl. Il Conciliatore. Foglio Scientifico-Letterario. Hg. v. Vittore Branca. Firenze 1953. Bd. 2, S. 396–402. 107 So Giuseppe Bevilacqua in: Federico Schiller, S. 49. 108 Vgl. Il Conciliatore. Foglio Scientifico-Letterario, S. 396. Die deutsche Übersetzung wurde hier zitiert aus: Bevilacqua: Federico Schiller, S. 49. 109 Luigi Reitani: Il poeta sentimentale e la tragedia: letture italiane di Schiller. In: Cultura Tedesca 28 (2006), S. 183–195, hier S. 192. 110 Carlo Cattaneo: Il Don C arlo di Schiller e il Filippo di Alfieri. In: Ders.: Alcuni scritti del Dottor Carlo Cattaneo. Milano 1846. Bd. 1, S. 1–43, hier S. 13. 111 Giuseppe Mazzini: Della fatalità considerata come elemento drammatico. In: Scritti editi e inediti di Giuseppe Mazzini. Milano 1862. Bd. II, S. 278–311, hier S. 287. 112 Cattaneo: Il Don Carlo di Schiller e il Filippo di Alfieri, S. 29. 106
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Die Tragödie, welche Heroen darstellt, die Tragödie von Schiller und Alfieri, entspringt aus einer großen Seele, welche selber heldenhaft ist und ein Heldenleben zu leben vermocht hätte in anderen Zeiten, in anderer geschichtlicher Lage. Und hier erkennt man den Zusammenhang der Naturgrundlage mit der geschichtlichen Mission dieser beiden großen Tragödiendichter: einem zerstückelten Vaterlande, in dem keine Bühne für politische Handlung war, hielt Jeder von ihnen auf den Brettern, welche die Welt bedeuten, Heldenthum und Größe der Seele vor, die in ihnen war, und gerne in Handlungen entströmt wäre: da sie nicht Helden werden konnten in ihren Zeiten, führten sie ihr Volk heroischen Zeiten entgegen. 113
Wie sehr solche Zeilen – bei allen bezeichnenden Zusammenhängen, die sie im Rahmen einer Gegenüberstellung zwischen Alfieri und Schiller ansprechen – heutzutage aus der kritischen Distanz zu betrachten und im besonderen Kontext von Diltheys idealistischer Philosophie zu verorten sind, leuchtet gleich ein. Um die Wende zum 20. Jahrhundert wurden vor allem auf italienischer Seite mehrfach vergleichende Analysen über einzelne Werke aus Alfieris und Schillers Feder verfasst. 114 In Anbetracht der Ergebnisse solcher „Bemühungen“ wurde nicht ohne Grund behauptet, sie würden „freilich nicht [ermutigen], auf diesem Weg fortzufahren“. 115 Aus heutiger Perspektive ist der wissenschaftliche Gewinn dieser Beiträge tatsächlich als sehr gering einzustufen, wobei offen bleiben mag, ob dies den behandelten Themen oder doch den Verfassern jener Beiträge selbst zur Last gelegt werden soll. Denn weitere im 20. Jahrhundert durchgeführte Analysen 116 – an dieser Stelle sei lediglich auf den bereits erwähnten Benedetto Croce 117 sowie auf den italienischen Germanisten Leonello Vincenti 118 verwiesen – bezeugen durchaus, dass die angestellte Parallele zwischen Alfieri und dem deutschen ‚Sturm und Drang‘, bei allem aus heutiger Sicht notwendigen Revisionsbedarf, sicher Erkenntnispotential besitzt. Der Wert von Croces in der italienischen Alfieri-Forschung sehr einflussreichem Aufsatz steht außer Frage – ungeachtet der 113 114
Dilthey: Vittorio Alfieri, S. 292. Vgl. etwa Emma Boghen Conigliani: Il Filippo di Vittorio Alfieri e il D. C arlos di Federico Schiller. Studio Critico. Ascoli Piceno 1890; Tina Fiaschi: La „Maria Stuarda“ di Vittorio Alfieri e quella di Federico Schiller. Grosseto 1903; Filippo Visconti: Il „Filippo“ di V. Alfieri e il „Don Carlos“ di F. Schiller. Avellino 1906; Elisabetta Mensi: Il „Filippo“ dell’Alfieri e il „Don Carlos“ dello Schiller. Firenze 1922; Nicolò Di Fede: Il dramma preromantico di Schiller ed Alfieri attraverso lo studio del „Don Carlos“ e del „Filippo“, Gela o. J. 115 Rüdiger: Die Kritik der Romantiker und Goethes an den Tragödien Alfieris, S. 161. 116 Sowie weiterhin im 21. Jahrhundert: Vgl. Anna Chiarloni: Filippo e Don Carlos. I linguaggi della tragedia. In: Mauro Ponzi u. Aldo Venturelli (Hg.): Aspetti dell’identità tedesca. Studi in onore di Paolo Chiarini. Roma 2001, S. 107–123. In eine Art Ferndialog auch mit anderen Dichtern und Komponisten (etwa Goethe, Manzoni, Wagner, Verdi) treten Schiller und Alfieri außerdem in dem jüngst erschienenen und bereits zitierten Buch von Carla Forno, das sich dem Thema der „Autorenhäuser“ widmet: Le amate stanze (vgl. insbesondere folgende Kapitel: „La ‚casa paterna‘ e il paradigma della malinconia. Palazzo Alfieri ad Asti“, S. 15–61; „Schiller, dalla casa di Marbach al ‚giardino dei lillà‘“, S. 126–151; „‚Vittorio prendeva al camino della contessa il suo cioccolatte, e Ippolito un’omelette soufflée‘. Alfieri a Parigi“, S. 542–583 sowie „Una casa ‚poetica‘, in cui morire ‚da vero letterato‘“, S. 630–688). 117 Croce: Alfieri, S. 7–20. 118 Leonello Vincenti: Alfieri e lo „Sturm und Drang“ (1932). In: Ders.: Alfieri e lo „Sturm und Drang“ e altri saggi di letteratura italiana e tedesca. Firenze 1966, S. 21–56.
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Tatsache, dass etwa die darin enthaltene, forcierte Parallele zwischen den ‚Stürmern‘ Alfieri und Schiller notgedrungen auf Kosten von Schillers ‚klassischen Dramen‘ gezogen wird und dass manche der von Croce aufgestellten Thesen, genauso wie bei Dilthey, offensichtlich mehr über den Kritiker und seine Zeit selbst verraten als über die behandelten Autoren. Etwa von der zunächst von Croce verwendeten, dann immer wieder gerne wiederholten, 119 teleologischen Bezeichnung für Alfieri als „protoromantico“ 120 soll hier explizit Abstand genommen werden – und zwar nicht zuletzt in Anbetracht derjenigen Charakteristika, die Alfieri allzu deutlich von den Romantikern trennten und Croce in seinem AlfieriEssay auch präzis beim Namen nennt: „Alfieri fehlten wesentliche Züge des Romantischen: die religiöse Unruhe über Zweck und Wert des Lebens, das Interesse für die Historie und das Wohlgefallen an den besonderen und realistischen Aspekten der Dinge“. 121 Von höchstem Interesse erscheint dagegen eine andere Bemerkung des italienischen Kritikers in seinem Alfieri-Essay: Es sei „durchaus natürlich“, dass Alfieri als „Dichter des Sturm und Drang“ „die Figur des ‚superuomo‘, des Uebermenschen, auf die Spitze seines Geistes (anima) gesetzt“ habe 122 – als „Übermenschen“ habe er sowohl seine „beherrschenden Tyrannen“ als auch seine „honetten Freiheitskämpfer“ betrachtet. 123 Wohlgemerkt: Im Kontext der Spätaufklärung stellt der dann von Nietzsche verwendete Begriff des „Übermenschen“ keinen Anachronismus dar, wie Croce deutlich macht – denn „Wort und Begriff entstanden damals“. 124 Inspiriert von Croce mochte auch Leonello Vincenti in den 1930er Jahren das Thema „Alfieri und der Sturm und Drang“ aufgreifen – in einem längeren, vergleichenden Essay, der auch als die zeitlich letzte nennenswerte kriti119
Vgl. Guido Santato: Introduzione. In: Letteratura italiana e cultura europea tra illuminismo e romanticismo. Atti del convegno internazionale di studi (Padova – Venezia, 11–13 maggio 2000). Hg. v. Guido Santato. Genève 2003, S. 9–30, hier insb. S. 16–18. 120 Croce: Alfieri, S. 8. Den „romantischsten Dichter, den das Italien des Settecento hervorgebracht hat“, nennt auch Vincenti den Piemonteser Alfieri (Alfieri e lo „Sturm und Drang“, S. 27, Übers. P.P.). Zur Periodisierung in der italienischen Literaturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Paola Barbon: Spätaufklärung, Neoklassik, Präromantik. Notizen zur italienischen Literatur 1770–1790 und zu ihrer Periodisierung. In: Bodo Plachta u. Winfried Woesler (Hg.): Sturm und Drang. Geistiger Aufbruch 1770–1790 im Spiegel der Literatur. Tübingen 1997, S. 157–181. 121 „Del romantico all’Alfieri mancarono tratti essenziali, l’ansia religiosa sul fine e il valore della vita, l’interessamento per la storia, e il compiacimento per gli aspetti particolari e realistici delle cose“, Croce: Alfieri, S. 9 (Übers. P.P.). 122 „Dicevo di sopra la cosa affatto naturale, perché un poeta appartenente allo Sturm und Drang non poteva non collocare alla cima della sua anima la figura del superuomo, dell’Uebermensch: concetto e parola che nacquero appunto allora. E superuomini dovevano apparirgli, e come tali attirarlo, più i suoi dominatori tiranni che non i suoi onesti fautori di libertà, alquanto dottrinari e di solito mediocri“, ebd., S. 13 (alle Übers. P.P.). 123 Ebd. 124 Ebd. Vgl. dazu auch den von Volker Gerhardt verfassten Artikel „Übermensch“. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 11, S. 46–50, sowie Arnaldo Di Benedetto: Il dandy e il sublime. Nuovi studi su Vittorio Alfieri. Firenze 2003, S. 17f.
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sche Auseinandersetzung mit unseren Autoren zu betrachten ist. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht mag dieser Aufsatz insgesamt wegen der kaum mehr zu haltenden, direkten Parallele zwischen Alfieri und dem ‚Sturm und Drang‘ ebenfalls als nicht mehr aktuell erscheinen. Einige von Vincenti hervorgehobene Aspekte sind dabei allerdings durchaus relevant – auf sie sei hier punktuell hingewiesen, weil sie dann auch in unserer Analyse von zentraler Bedeutung sein werden. Man nehme hierbei zunächst die Protagonisten der „Stürmer“ und diejenigen Alfieris: Vincenti beschreibt sie als „Menschen von außergewöhnlicher Größe, bei denen das Leben nach ihrer höchsten Freiheit trachtet [..:] ‚Kraftmenschen, Genies‘“. 125 Man halte fest: Übermenschen, Kraftmenschen – „gross[e] Kerl[e]“, wie es bei Vincenti weiterhin heißt. 126 Ein weiteres Stichwort lautet dabei „Jugend“. In diesem Aufsatz liest man, dass Alfieris Theater wie die Schaubühne der Stürmer „Stahlnerven“ 127 brauche – die „Elastizität der Jugend“ tue hier Not, es sei ein „Theater der Jugend“. 128 Dabei weist Vincenti deutlich darauf hin, dass die von dieser ‚Jugend‘ freigesetzte Kraft vor der „Moral“ kommt: Denn dieser durch und durch „elementare Wille“, der „die tragischen Konflikte bedingt und noch keinen moralischen Namen trägt“, stelle eine „primitive Kraft“ dar, die sich „um jeden Preis äußern“ müsse. 129 Und wie ist es dann um die so oft zelebrierte ‚Freiheit‘ Alfieris (und der Stürmer) wirklich bestellt? Wo bleibt hier – die Politik? In „politische Kleider“, so Vincenti, habe Alfieri „durchaus unterschiedliche Gefühle“ gezwungen, 130 jenseits der „Ideale politischer, ja republikanischer Freiheit von Alfieris Helden“ habe man zu Recht ein „Bedürfnis nach individualistischer Freiheit“ entdeckt, ein Bedürfnis, das diese ‚Helden‘ gerade ihren Antagonisten, den „Unterdrückern politischer Freiheit“ annähert. 131 Und schließlich: Wenn nicht die Politik – was steht dann im Mittelpunkt dieser Werke? Was ist ihre tiefere Quelle, woher entspringen sie? Aus einem „entschiedenen Tauchgang bis zur Grundsubstanz des Lebens“, wie es bei Vincenti ausdrucksvoll heißt – aus einem existenziellen „Bedürfnis nach Wahrheit und Totalität“. 132 Bei der betont philosophisch-existenziellen Perspektive, die hier eröffnet wird, können wir zunächst Halt machen. Die bisherige Forschung über die parallelen Laufbahnen der tragischen Dichter Alfieri und Schiller hat zwar meistens punktuell 125
„[U]omini di proporzioni straordinarie, in cui la vita anela alla massima libertà per dimostrare tutta la sua possa“, Vincenti: Alfieri e lo „Sturm und Drang“, S. 28f. (alle Übers. P.P.). 126 Ebd. 127 „[N]ervi d’acciao“, ebd., S. 30. 128 „[…] occorre l’elasticità della giovinezza […] [Q]uello di Alfieri è un teatro di giovinezza“, ebd. 129 „[…] quella più elementare volontà, che è la determinante dei conflitti tragici e che non ha ancora nessun nome morale, perché è una forza primitiva, la quale si deve ad ogni costo estrinsecare“, ebd., S. 31. 130 „Sotto la veste politica dunque Alfieri costringeva assai diversi sentimenti“, ebd., S. 52. 131 Ebd., S. 28. 132„[D]iscesa alle matrici della vita“; „bisogno di verità e di totalità“, ebd., S. 32.
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eine ganze Reihe von Motiven, Gemeinsamkeiten und Differenzen herausgearbeitet, die sich mit Sicherheit für weitere historische, kulturelle oder literaturwissenschaftliche Überlegungen eignen. Nichts kann jedoch darüber hinwegtäuschen, dass keine der bisherigen Studien eine belastbare Grundlage für eine neue Untersuchung geliefert hat, die sich zum Ziel setzte, Alfieris und Schillers dramatisches Werk vor dem Hintergrund einer strukturellen Gemeinsamkeit, über die Herausarbeitung einzelner ‚Parallelen‘ hinaus, zu interpretieren. Hingegen können einzelne Studien zum europäischen 18. Jahrhundert sowie einzelne Beiträge der Alfieri- und Schiller-Forschung der letzten Jahrzehnte 133 durchaus als Ausgangspunkt für eine solche Untersuchung wie die vorliegende fungieren. Mehr denn je tut bei der Auseinandersetzung mit Alfieri und Schiller als ‚Parallel-Tragikern der Moderne‘ ein ‚archimedischer Punkt‘ Not, von dem aus auch die einzelnen, im Vorigen genannten Gemeinsamkeiten und Unterschiede überblickt und sinnvoll gedeutet werden können. Die Aufgabe der nächsten Seiten wird es sein, vorausblickend auf unsere Analyse von Alfieris und Schillers Tragödien zu zeigen, dass sich dieser ‚archimedische Punkt‘ weder im Politischen noch im traditionell aufgefassten Moralischen, sondern im Ästhetischen findet. Darunter wird mit einem Teil der jüngsten Forschung 134 jene genuin anthropologische Dimension verstanden, in welcher der Mensch gerade als „instinkt- und umweltfreie[s] Wesen […] seine Welt und seine Geschichte aktiv gestalten kann“. 135 Hier – im Rahmen einer „Anthropologie und ästhetische[n] Freiheitsphilosophie, die die menschliche Wirklichkeit nicht als moralische Veranstaltung unter dem Gebot der Sittlichkeit, sondern – mit Nietzsche – als Möglichkeitsraum eines ‚entzückenden Reichtums der Typen‘ und einer ‚Üppigkeit verschwenderischen Formenspiels‘ betrachtet“ 136 – hier also, im allzu 133 134
Diese Studien und Aufsätze werden im nächsten Textabschnitt ausführlich zitiert. Neben den Studien von Wolfgang Riedel und Carsten Zelle vgl. insbesondere die parallel zur vorliegenden Untersuchung entstandene Dissertation von Carina Middel: Schiller und die Philosophische Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Ein ideengeschichtlicher Brückenschlag. Berlin u. Boston 2017 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, 88). 135 Ebd., S. 6. Vor dem Hintergrund eines tragischen Daseinsverständnisses, dem der rastlos ringende Mensch das auf ästhetische Fundamente gegründete Gebäude der eigenen Kultur entgegensetzt, ist eine der markantesten Stellen von Schillers spätem Essay Ueber d as Erhabene zu verstehen: „Also hinweg mit der falsch verstandenen Schonung und dem schlaffen verzärtelten Geschmack, der über das ernste Angesicht der Nothwendigkeit einen Schleyer wirft und, um sich bey den Sinnen in Gunst zu setzen, eine Harmonie zwischen dem Wohlseyn und Wohlverhalten lügt, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen. Stirne gegen Stirn zeige sich uns das böse Verhängniß. Nicht in der Unwissenheit der uns umlagernden Gefahren – denn diese muß doch endlich aufhören – nur in der Bekanntschaft mit denselben ist Heil für uns. Zu dieser Bekanntschaft nun verhilft uns das furchtbar herrliche Schauspiel der alles zerstörenden und wieder erschaffenden und wieder zerstörenden Veränderung – des bald langsam untergrabenden, bald schnell überfallenden Verderbens, verhelfen uns die pathetischen Gemählde der mit dem Schicksal ringenden Menschheit, der unaufhaltsamen Flucht des Glücks, der betrogenen Sicherheit, der triumphirenden Ungerechtigkeit und der unterliegenden Unschuld, welche die Geschichte in reichem Maaß aufstellt, und die tragische Kunst nachahmend vor unsere Augen bringt“, NA 21, 51f. 136 Middel: Schiller und die Philosophische Anthropologie, S. 2.
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menschlichen Möglichkeitsraum des Ästhetischen wird man unweigerlich auch mit dem Nihilismus und dessen eigentümlicher Moral konfrontiert sein. Doch kehren wir zunächst zu der „Größe“ zurück, die auch die Parallel-Autoren Alfieri und Schiller für Plutarchs Menschen begeistern konnte.
II. Erhabene Größe, Männlichkeit und die heroische Moral des Nihilismus Mag es nur an der gefühlten Kleinlichkeit ihres ‚Sekulums‘ gelegen haben: 1 Die Lektüre von Plutarchs „Viten der wahrhaft großen Männer“, 2 ja dieser „grossen Menschen“, 3 vermochte es, sowohl Vittorio Alfieri – der ‚self fashioned‘ literarische Protagonist der Vita s critta d a e sso – als auch Schillers Karl Moor in ein regelrechtes Schwärmen zu versetzen. Was es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der erhabenen Größe von Plutarchs Menschen auf sich hat, ist dennoch nicht so eindeutig, wie man es womöglich gerne hätte. Die bewunderte Größe von Plutarchs Männern ist vor dem Hintergrund jener „wieder aufgefunden[en]“, „andere[n] Kategorie der Ästhetik des 18. Jahrhunderts“ 4 zu interpretieren, die unter dem Namen des „Erhabenen“ läuft. Wenn man hinter jener „Größe“, wie so oft, 5 lediglich die grenzenlose Bewunderung für das ‚sittlich Heroische‘, ja 1
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Das, was Wilhelm Dilthey über Alfieri festhält, könnte möglicherweise auch in Bezug auf Schiller geltend gemacht werden: „Da die Umstände seiner heldenhaften Natur den Schauplatz des thätigen Lebens versagten, wandte er sich zur Bühne. Er stellte handelnde Naturen dar, weil für ihn selbst kein Spielraum zum Handeln da war“, Dilthey: Vittorio Alfieri, S. 316. „[…] le vite dei veri Grandi“, Alfieri: Vita, S. 87. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 142. NA 3, 20. Vgl. Carsten Zelle: Einleitung. In: Immanuel Jakob Pyra: Über das Erhabene. Mit einer Einleitung und einem Anhang mit Briefen Bodmers, Langes und Pyras. Hg. v. Carsten Zelle. Frankfurt a.M. u.a. 1991, S. 7–35, hier S. 9. Zu den Anfängen der Entgegensetzung von Schönheit und Erhabenheit im 17. und 18. Jahrhundert vgl. auch: Carsten Zelle: Schönheit und Erhabenheit. Der Anfang doppelter Ästhetik bei Boileau, Dennis, Bodmer und Breitinger. In: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Hg. v. Christine Pries. Weinheim 1989, S. 55–73. Unter Zelles einschlägigen Arbeiten zum Schönen und Erhabenen seien hier außerdem die folgenden zwei zitiert: Carsten Zelle: „Angenehmes Grauen“. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im 18. Jahrhundert. Hamburg 1987 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, 10) sowie Ders.: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart u. Weimar 1995. Richtungsweisende Überlegungen zur Kategorie des Erhabenen in der Moderne hat in Italien Giuliano Baioni angestellt: Giuliano Baioni: La Filologia e il Sublime Dionisiaco. In: Friedrich Nietzsche: Considerazioni Inattuali. Torino 1981, S. VII–LXIII; Ders.: Teoria della società e teoria della letteratura nell’età goethiana. In: Friedrich Schlegel: Sullo studio della poesia greca. Hg. v. Andreina Lavagetto. Napoli 1988, S. 7–37; Ders.: Il bello, il sublime, il dionisiaco. In: Ders.: Il giovane Goethe. Torino 1996, S. 3–26. So neuerdings Jochen Schmidt in Bezug auf Schiller: „Schillers Affinität zur Stoa beruht auf mehreren Grundelementen: erstens auf dem Ideal der Autonomie, das in der Aufklärung hohe Aktualität gewonnen hatte, zweitens auf der stark moralischen Tendenz der Stoa, die ja auf ‚Tugend‘ (virtus) ausgerichtet war, drittens auf der damit verbundenen – bei Schiller, wie man weiß, sehr theoretischen – Sinnenfeindschaft. Daraus ergab sich auch die ebenfalls in der Stoa scharf ausgeprägte Betonung der Ratio und des Willens (voluntas)“, so Jochen Schmidt: Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus. In: Ders., Barbara Neymeyr u. Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Berlin u. New York 2008. Bd. 1, S. 3–133, hier S. 125. Vgl. außerdem in der neueren theologischen Forschung: Martin Fritz: Vom Erhabenen. Der Traktat ‚Peri Hypsous‘ und seine ästhetischreligiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-003
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für das „von neostoischer magnanimitas geprägt[e] Sittlicherhaben[e]“ 6 erblickt, so übersieht man kurzerhand eine wesentliche Etappe in der historischen Entwicklung des Erhabenen, die im 18. Jahrhundert vollzogen wird. Man übersieht „die nicht wiedererstehbare sittliche Größe des Heroismus“ 7 zu dieser Zeit; 8 kurz: Man übersieht den Umstand, dass das Erhabene und das Sittliche seit der Mitte des 18. Jahrhunderts grundsätzlich getrennte Wege gehen 9 und dass das SittlichErhabene nunmehr eine unter den ästhetischen Wirkungsmöglichkeiten des Erhabenen darstellt – und dabei auch nicht zwingend die bedeutendste. Nur zu Recht wurde in der Forschung auf eine erhellende Textpassage aus dem EncyclopédieArtikel „Hässlichkeit“ („Laideur“) von 1765 verwiesen, in dem Diderot auf die Verschwörung gegen Venedig (1618) und deren Protagonisten Graf von Bedmar zu sprechen kommt. Denn unmissverständlich wird hier der „Sachverhalt“ deutlich gemacht, dass „ästhetische und ethische Betrachtungsweise einander durchaus entgegenstehen“. 10 Folgendes liest man unter dem Lemma „Laideur“ in der Encyclopédie: Eine Sache ist unter zwei verschiedenen Aspekten schön oder häßlich. Betrachten wir die Verschwörung von Venedig im Hinblick auf ihren Anfang, ihre Entwicklung und ihre Werkzeuge, so rufen wir aus: Was für ein Mann ist doch der Graf von Bedmar! Wie groß (grand) ist er! Betrachten wir aber dieselbe Verschwörung unter moralischen Gesichtspunkten – im Hinblick auf die Menschlichkeit und die Gerechtigkeit, dann sagen wir: Wie schrecklich [atroce] ist sie, und wie abscheulich [hideux] der Graf von Bedmar! 11
Die europäische Spätaufklärung weiß allzu gut, dass Sittliches und Unsittliches erhaben wirken können. Noch mehr: In Deutschland hat Friedrich Schiller wie kaum ein anderer Autor 12 im Jahrhundert der Aufklärung gewusst, dass der drama6 7
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Zelle: Einleitung zu Immanuel Jakob Pyra, S. 15. Carsten Zelle: Nachwort. In: Carl Grosse: Über das Erhabene. Mit einem Nachw. hg. v. Carsten Zelle. St. Ingbert 1990, S. 79–87, hier S. 83 (Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts, 9). In Frankreich hat Michel Delon bereits in den 1980er Jahren darauf hingewiesen, dass „la philosophie des Lumières laïcise le sublime sans l’édulcorer. A l’ancienne interprétation théologique, elle substitue une théorie de la religion et une esthétique“, Michel Delon: Le sublime et l’idée d’énergie: de la théologie au matérialisme. In: Revue d’Histoire littéraire de la France, 86e Année 1, Le Sublime (Jan.–Feb. 1986). S. 62–70, hier S. 70. Von einem Prozess der „Entflechtung der Sphären des Ethischen und Ästhetischen“ hat Carsten Zelle gesprochen. Vgl. Carsten Zelle: „Angenehmes Grauen“, S. XV. Zelle: Nachwort Carl Grosse, S. 81. Zit. aus ebd. In der Schiller-Forschung wurde darauf hingewiesen, dass Johann Georg Sulzers Empfindungs-theorie einen relevanten Teil der „theoretischen Voraussetzungen“ auch für Schillers ästhetische Reflexion der frühen 1790er Jahre liefert. Sulzers weit verbreitetes Handbuch Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771/74) war sowohl Kant als auch Schiller bestens bekannt (Riedel: Philosophie des Schönen als politische Anthropologie, S. 127). Mit seiner „Theorie der Sinnlichkeit“ habe Sulzer auch eine unverhüllte „Theorie der psychischen Manipulation“ geliefert, denn – „wer die Empfindungen regiere, regiere die ganze Person“ (ebd., S. 129). Dass jene Theorie „nicht nur zum Wohle des Menschen angewandt werden könnte“, mag wohl – wie festgehalten wurde – „außerhalb von Sulzers Vorstellungshorizont“
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tische Dichter in seinen Werken zunächst die erhabene Wirkung des unsittlich Handelnden zu erschöpfen und dann den Effekt des Sittlich-Erhabenen durch die Bestrafung des ‚Bösen‘, nicht zuletzt im Hinblick auf den eigenen künstlerischen Erfolg, zu erzielen hat. 13 Unterstrichen wurde in der Forschung die „Vorliebe für den erhabenen Bösewicht, die Diderot mit Schiller verbindet“ 14 – bei Licht besehen, verbindet jene Vorliebe den deutschen Dichter durchaus auch mit dem gleichgesinnten italienischen Tragiker Vittorio Alfieri. Von den „ungeheuren und erhabenen Verbrechen“, welcher die Italiener fähig seien, 15 spricht Alfieri begeistert und hoffnungsvoll gegenüber der Möglichkeit einer kulturellen „Wiederauferstehung“ Italiens am Ende seiner Abhandlung Del principe e delle lettere. Und auch in einer Widmung, die Alfieri ursprünglich dem Druck seiner Maria Stuarda voranstellen wollte, erwähnt der Dichter seine ausgeprägte Neigung für „antike Stoffe“, weil diese „reicher an Tugend“ und, wie es dabei explizit heißt, „grandioser an Verbrechen“ 16 seien. Das sollte nicht überraschen: Schließlich konnte auch Alfieri in Helvétius’ Hauptwerk De l’esprit (1758) folgende Bemerkungen lesen: À ce sujet, je ferai remarquer en passant quelle différence on doit mettre entre les ambitieux de gloire & les ambitieux de places ou de richesses. Les premiers ne peuvent jamais être que de grands criminels; parce que les grands crimes, par la supériorité des talents nécessaires pour les exécuter & le grand prix attaché au succès, peuvent seuls en imposer assez à l’imagination des hommes, pour ravir leur admiration; admiration fondée en eux sur un désir intérieur & secret de ressembler à ces illustres coupables. 17
Folgende, in der Forschung gezogene Parallele mit dem späteren Historismus des 19. Jahrhunderts mag auch in Bezug auf das Erhabene und auf ein bestimmtes künstlerisches Bewusstsein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchaus aufschlussreich sein: „[D]ie heroischen Taten und Gesinnungen [überleben] nach der Relativierung aller Werte durch den Historismus ästhetisch in Form unerhörter Begebenheiten, von denen man in Anekdoten gerne erzählen lässt“. 18 Ein starker
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gelegen haben (ebd.). Im Vergleich zu Sulzer verfügte Schiller offensichtlich über einen umfassenderen ‚Vorstellungshorizont‘. Vgl. Giuliano Baionis Ausführungen in Bezug auf Schillers Abhandlung Ueber den Grund des Vergnügens an t ragischen G egenständen in: Da Schiller a Nietzsche, S. 25. Darauf kommen wir im Folgenden ausführlich zurück. Zelle: Nachwort Carl Grosse, S. 81. Beide Autoren, so kann man ergänzen, waren sich offensichtlich dessen bewusst, dass „Le crime risque d’apparaître plus beau que la vertu et le méchant d’acquérir une grandeur inconnue à l’homme sage“, so Michel Delon: Le sublime et l’idée d’énergie, S. 70. Vgl. Alfieri: Del principe e delle lettere, S. 250. Auf diese Textpassage wird in unserem Kapitel über Alfieris Principe im ersten Hauptteil der Arbeit zurückzukommen sein. Vgl. die „Nota“ von Raffaele De Bello in: Vittorio Alfieri: Maria Stuarda. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 18: Tragedie. Edizione critica. Bd. XI. Hg. v. Raffaele De Bello. Asti 1970, S. 1–10, hier S. 7. Claude Adrien Helvétius: De l’esprit. Paris 1758, S. 370. Zelle: Nachwort Carl Grosse, S. 83.
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Prozess der Werterelativierung setzt im Jahrhundert der Aufklärung an, 19 und ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür zeigt sich nicht von ungefähr in der zeitgenössischen ästhetischen Reflexion über das Schöne und das Erhabene. 20 Die große Mehrheit der Interpreten, die darauf beharrt, das Sittliche nicht als Akzidens, sondern als wesentlichen Bestandteil des Erhabenen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu betrachten, wird auch Alfieris und Schillers Vorliebe für den ‚erhabenen Verbrecher‘ stets nur als direkte Funktion ihrer sittlich-erhabenen Helden deuten und dann getrost beiseitesetzen. Der Punkt ist dabei allerdings, dass sowohl Alfieri als auch Schiller bereits die ‚großen Männer‘ des Plutarch zunächst für ihre Fähigkeit bewundern, ‚große Taten‘ zu vollbringen – abgesehen davon, ob diese außerdem sittlich erhaben sind oder nicht. Das Gleiche findet sich dann nahtlos im Theater beider Tragiker wieder, wo im Übrigen entschiedene ‚sittlicherhabene Helden‘ entweder schwer zu ermitteln sind oder sich oft auf der figürlichen Ebene als lange nicht so interessant erweisen wie ihre ‚großen‘, dabei sittlich indifferenten Kontrahenten. Nun – wenn man die interpretatorische Scheuklappe des Sittlich-Erhabenen absetzt, bekommt man einen freien Blick für das, was Alfieri und Schiller bereits an Plutarchs ‚großen Menschen‘ wirklich gefesselt hat: Die grundlegende Frage nach den äußersten Möglichkeiten und Grenzen des Menschen, die schließlich – das sei hier mit allem Nachdruck hervorgehoben – von unserem Autorenpaar der Moderne als prinzipielle Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Freiheit überhaupt aufgefasst wird. Hier begegnet man jenem bereits zitierten, außerpolitischen „individualistischen Bedürfnis nach Freiheit“ 21 wieder, das schon Vincenti scharfsinnig sowohl in den Dramen der Stürmer als auch bei Alfieri erkannte. Hier wird klar, warum mit Croce „ernste Zweifel“ an der „Konsistenz einer wörtlich politischen Inspiration von Alfieris bestem Theater“ 22 zu hegen sind, ja warum in Bezug auf Alfieri von einem „ontologischen Pessimismus“ gesprochen wurde, der den italienischen Tragiker auch aus einer direkt politischen Auseinandersetzung ausgeschlossen habe. 23 Wenn man die Frage nach der ‚Freiheit‘ des Menschen als 19
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Unter ‚Aufklärung‘ verstehen wir hier allgemein mit Panajotis Kondylis „die widersprüchliche Vielfalt der europäischen Geistesströmungen seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts“, vgl. Panajotis Kondylis: Die Entstehung der Dialektik. Eine Analyse der geistigen Entwicklung von Hölderlin, Schelling und Hegel bis 1802. Stuttgart 1979, S. 19. Vgl. dazu auch Michel Delon: „Le sublime bouleverse les tranquilles oppositions du beau et du laid, du plaisir et de la douleur, du bien et du mal. Il est vécu comme une épreuve de la terreur, car il découvre la relativité du beau, du plaisir et du bien“, Delon: Le sublime et l’idée d’énergie, S. 69. „[B]isogno di libertà individualistico“, Vincenti: Alfieri e lo „Sturm und Drang“, S. 28 (Übers. P.P.). Vgl. Di Benedetto: Il dandy e il sublime, S. 34. Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 41. Ähnlich bei Giorgio Bàrberi Squarotti: „Alfieris Tragödie verortet sich jenseits des politischen Diskurses im eigentlichen Sinn: Mit anderen Worten ist sie weit entfernt von der aristotelischen Idee des Tragischen als Ort politischen Verstoßes“, Bàrberi Squarotti: Lo spettacolo del Tiranno, S. 117 (Übers. P.P.). Ähnlich
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das „Wesen, welches will“ 24 nicht politisch, sondern philosophisch-existenziell auffasst, so wird klar, dass sich diese Frage dann auf der in den Dramen dargestellten politischen Ebene genauso dem ‚Tyrannen‘ wie dem ‚Unterdrückten‘ oder ‚Freiheitskämpfer‘ stellt. Und genau darauf beruht schließlich die so oft beobachtete, geheime Verwandtschaft zwischen Alfieris und Schillers ‚Helden‘ und ‚Antihelden‘. 25 Es mag zunächst paradox klingen, und doch haben nicht nur die wie auch immer gearteten ‚Unterdrückten‘ in Alfieris und Schillers Theater, sondern auch die ‚Tyrannen‘ selbst ein sicheres Recht darauf, sich das Motto von Schillers Räubern „In tyrannos“ (zweite Auflage, 1782) auf die Fahnen zu schreiben 26 – es kommt eben darauf an, wo man die Messlatte für die ‚Tyrannei‘ ansetzt. Denn wenn einerseits der politisch ‚Unterdrückte‘ die Figur des ‚Tyrannen‘ als personifizierte Grenze der eigenen Freiheit tout court wahrnehmen mag, so ist der ‚Tyrann‘ andererseits stets selbst – man denke nur an Alfieris Filippo – mit der Grenze des eigenen Willens und der eigenen ‚absoluten‘ Macht konfrontiert: Und wäre das nur die psychophysische Grenze seiner „thierischen Natur“. Die bewunderte oder erstrebte, außermoralisch aufgefasste ‚erhabene Größe‘ von Alfieris und Schillers Protagonisten und Antagonisten geht mit einem Moment der individualistischen Hybris Hand in Hand, in dem der Wille zur Macht der jeweiligen handelnden Figur entfesselt wird. Bezeichnend dabei, dass der ‚erhabene Verbrecher‘ Franz Moor am Anfang von Schillers dramaturgischer Laufbahn steht. In Italien hat Giuliano Baioni bereits in den 1980er Jahren deutlich darauf
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beurteilt Bartolo Anglani mit Bezug auf Alfieris Filippo: „[...] am Anfang von allem steht ein tyrannisches Streben, ein Streben nach uneingeschränkter Herrschaft, das nicht in seinen politischen Aspekten aufgeht“, Bartolo Anglani: Alfieri e la profanazione del sacro: il Filippo. In: Stella Castellaneta u. Francesco S. Minervini (Hg.): Sacro e/o profano nel teatro fra Rinascimento ed età dei Lumi. Bari 2009, S. 427–451, hier S. 448 (Übers. P.P.). Vor dem Hintergrund des Republikanismus des 18. Jahrhunderts interpretiert dagegen Gisela Schlüter den politischen Impetus Alfieris und bringt dabei den italienischen Dichter in einen direkten Zusammenhang mit Schiller. Vgl. Gisela Schlüter: La bella repubblica settecentesca. Alfieri in confronto al contemporaneo repubblicanesimo tedesco. Uno schizzo. In: Alfieri e il suo tempo. Atti del convegno internazionale, Torino, Asti, 29 novembre–1 dicembre 2001. Hg. v. Marco Cerruti, Bianca Danna u. Maria Corsi. Firenze 2003, S. 445f. Schiller: Ueber das Erhabene, NA 21, 38. Arnaldo Di Benedetto hat darauf hingewiesen, dass der liber’uomo bei Alfieri mit der Figur des „freien Schriftstellers“ übereinstimmt. „Tyrann und freier Schriftsteller stellen die zwei äußersten, polaren […] Möglichkeiten menschlicher Manifestation“. Dies begründe die Ähnlichkeit dieser beiden Figuren – im Übrigen, nicht nur bei Alfieri, sondern auch, wie Di Benedetto in der Fußnote bemerkt, bei Schiller. Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 26f. (Übers. P.P.). In Bezug auf Alfieris Figuren hielt bereits August Wilhelm Schlegel aus einem moralischen Blickwinkel heraus Folgendes fest: „Die Bösewichter tragen meistens bei ihm ihre rohe Abscheulichkeit auf der Außenseite: dies möchte hingehen, wiewohl ein solches Bild schwerlich dazu dienen wird, sie in der Wirklichkeit zu erkennen; allein seine tugendhaften Personen sind nicht liebenswürdig, und das ist ein weit schlimmeres Unglück“, Schlegel: Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, S. 243. Auf die existenziell ähnliche Situation zwischen Alfieris „Unterdrückern“ und „Unterdrückten“ hat auch Nicolò Mineo hingewiesen, vgl. Vittorio Alfieri nella crisi dell’Antico Regime. In: Alfieri e il suo tempo, S. 407–454, hier S. 424.
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hingewiesen, dass Schillers Figur des jüngeren Bruders Moor – das echte Novum der Räuber – genau dem Schema des Erhabenen folgt. 27 Das anfängliche Moment der physischen Ohnmacht schlägt bei dieser Figur bereits in den ersten Szenen in ein Moment der geistigen Übermacht um: Der zweitgeborene, junge und hässliche Franz, dem Natur und Gesellschaft, 28 das heißt die konstituierte Ordnung seit eh und je, symbolisch nichts ‚mitgegeben‘ haben, realisiert vor dem Hintergrund des „Tintengleksenden Sekulum[s]“, 29 dass er eben dadurch frei ist – ja, dass er, weil er einen Außenseiter in der etablierten Ordnung darstellt, ein Recht darauf hat, sich selbst rücksichtslos gegen sie zu wenden und sich dabei zu dem zu machen, was er will: „Sie [die Natur] gab mir nichts mit; wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache […] Das Recht wohnet beym Ueberwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze“. 30 Ein Schwindel der unbedingten Freiheit mündet hier in einem Taumel der Übermacht und Gewalt: 31 „Frisch also! mutig ans Werk! – Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich seyn, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht“. 32 Franz weiß offensichtlich nur zu gut, von was sich sein entfesselter Wille zur Macht nährt: Er lebt von Kraft, énergie – lohnenswert, nochmals darauf hinzuweisen, dass diese énergie an sich weder gut noch böse ist, denn es kommt eben darauf an, wie sie eingesetzt wird. Schon lange wurde in der Aufklärungsforschung auf die allgemeine Relevanz dieses Themas insbesondere bei der Interpretation des späten 18. Jahrhunderts hingewiesen. 33 Auch wurde dabei nicht nur das enge Verhältnis zwischen Kraft und Erhabenem hervorgehoben, 34 sondern auch das subversive Potential dieser Kategorie deutlich unterstrichen, die von den „Erneuerern des 18. Jahrhunderts“ im Kampf gegen das Tradierte Einsatz gefunden habe. 35 Dabei ist es erstaunlich, wie wenig das Thema der 27 28
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Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 24. Auf diese Aspekte wird in unserem Kapitel über Schillers Erstlingsdrama ausführlich eingegangen. In Bezug auf die sadistischen Machtpläne von Alfieris Tyrannen Filippo spricht Bàrberi Squarotti von einer regelrechten „Begierde“ („libidine“) danach, „jegliche Grenze des Legitimen und der Natur zu überschreiten“: Bàrberi Squarotti: Lo spettacolo del Tiranno, S. 116 (Übers. P.P.). NA 3, 20. NA 3, 18f. Genau vor diesem Hintergrund ist auch jener „übermenschliche“ („superumano“) „Wille zum Unmöglichen“ zu interpretieren, den auch Mario Fubini bei Alfieri wiedererkannt hat. Fubini: Ritratto dell’Alfieri e altri studi alfieriani, S. 161. NA 3, 20. Grundlegend ist dabei die Studie von Michel Delon: L’idée d’énergie au tournant des Lumières. 1770–1820. Paris 1988. Vgl. den bereits zitierten Aufsatz von Michel Delon: Le sublime et l’idée d’énergie: de la théologie au matérialisme. „Selon une des lois de l’histoire des idées, c’est donc cette notion qui devait servir aux novateurs du XVIIIe siècle pour battre en brèche le classicisme et promouvoir une nouvelle conception du monde, de la langue et de l’art: les modernités s’inventent à coup d’emprunts au passé. Celle du XVIIIe siècle a recours à la vieille idée d’énergie pour opposer à l’analyse classique une conception unitaire et dynamique de l’univers et de l’homme“, ebd., S. 62. Man mag zwar
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physischen, ja psychophysischen Kraft in die deutsche Schiller-Forschung der letzten Jahrzehnte Eingang gefunden hat. Umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass sich diese Forschung, seit den grundlegenden Studien von Hans-Jürgen Schings und dann von Wolfgang Riedel, 36 geradezu obsessiv, und nicht ohne Grund, mit Schillers Anthropologie auseinandergesetzt hat – einer Anthropologie, die allerdings bei vielen Interpreten auch bestens ohne K örper auszukommen scheint. So gut wie keine literaturwissenschaftliche Untersuchung vermisst den Hinweis auf die vom „Dichter-Anthropologen Schiller“ 37 verfolgte „Harmonisierung von materiellem und geistigem Gehalt“, 38 auf die „Figur“ des „wohltemperierten“, 39 ja des „ganzen Menschen“. 40 Und doch beruht die „thierische Natur des Menschen“ – immerhin die Hälfte des angenommenen ‚ganzen Menschen‘ – auf Kraft; und sie funktioniert, wenn der junge Mediziner Recht hatte, nach dem einfachen, mechanistischen Prinzip von Lust/Unlust. 41 Dass diese medizinischanthropologischen Erkenntnisse auch kaum zu überschätzende theologischphilosophische Folgen hatten, hat Schiller selbst sehr wohl gewusst – eine moralisch implikationsreiche Auseinandersetzung mit dem Materialismus war dabei vorprogrammiert. 42 Da der Materialismus allerdings in der Schiller-Forschung gemeinhin als das Stigma des ‚bösen‘ Franz Moor galt und noch gilt, 43 so haben die Interpreten weitestgehend auf einen ernsten Versuch verzichtet, den Einfluss
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bemängeln, dass Delon hier eine „nicht mehr zeitgemäße Vorstellung der ‚doctrine classique‘“ vertrete – (vgl. Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006, S. 205) – zentral bleibt dennoch dabei Delons Hinweis auch auf die destabilisierende oder gar subversive Bedeutung der Kategorie „Kraft“ im 18. Jahrhundert. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der ‚Philosophischen Briefe‘. Würzburg 1985. Vgl. außerdem Wolfgang Riedels Einleitung und Kommentar in: Jacob Friedrich Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782). Robert: Vor der Klassik, S. 56. Ebd., S. 47. Ebd., S. 56. Ebd., S. 47. Vgl. Schillers medizinische Dissertation Versuch ueber den Zusammenhang d er t hierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, in der unter anderem folgendes „Gesetz“ festgehalten wird: „Geistige Lust hat jederzeit eine thierische Lust, geistige Unlust jederzeit eine thierische Unlust zur Begleiterin“, NA 20, 57. Vgl. dazu Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 121–135 sowie Ders.: Die anthropologische Wende. Schillers Modernität. In: Hans Feger (Hg.): Friedrich Schiller. Die Realität des Idealisten. Heidelberg 2006, S. 35–60. Zum Verhältnis von „tierischer Lustbefriedigung“ und „sozialer Norm“ in der philosophischen Spekulation von der Antike bis zum 20. Jahrhundert vgl. Panajotis Kondylis’ „Einleitung“. In: Ders. (Hg.): Der Philosoph und die Lust. Frankfurt a.M. 1991, S. 11–34. Darauf werden wir im ersten Hauptteil der Untersuchung ausführlich zurückkommen. Dazu ausführlich auch Paolo Panizzo: Die blendende Fleckenhaut des Tigers, S. 221–242.
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der materialistischen Lehre auf den jungen Schiller zu rekonstruieren. 44 Dass Schiller geglaubt hätte, dem „kühne[n] Angriff des Materialismus“ 45 lediglich die auf der traditionellen Moral basierende ‚Philosophie der Liebe‘ 46 oder gar die „leeren Tautologien“ 47 seines Julius entgegensetzen zu können – das mag man allerdings als wenig plausibel einstufen. Es wird zu sehen sein, dass Schillers Philosophische B riefe samt ‚Theosophie des Julius‘ vielmehr und gerade von dem sentimentalischen Bewusstsein des nunmehr endgültig Verlorenen Zeugnis ablegen, von dem aus sie geschrieben wurden. Radikaler Materialismus als vorübergehender „Fieberparoxysmus“? 48 In Wirklichkeit geht die Inkonsequenz des jungen Schiller in Bezug auf die materialistische Lehre daraus hervor, dass der Dichter gleichzeitig auf zwei Fronten kämpft: Gegen die „Pfaffendogmatik“ 49 nutzt er durchaus das subversive Potential aus, das ihm die „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ 50 seines Jahrhunderts zur Verfügung stellt; andererseits ist er zu dieser Zeit (noch) nicht bereit, ganz auf eine „transzendente Grundlage“ 51 für die Moral zu verzichten. Die Fragen, welche die materialistische Lehre des 18. Jahrhunderts aufwirft, haben tiefgreifende Spuren sowohl bei Alfieri als auch bei Schiller hinterlassen. Kraft stellt die Voraussetzung für jegliche Machtsteigerung dar, und mit Spannung verfolgt man die Machtpläne der auf Alfieris und Schillers Bühne agierenden Figu44
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„Die Wirkungsgeschichte des Helvétius in Deutschland ist ein dringendes Desiderat“, schrieb bereits Hans-Jürgen Schings in seinem Melancholie-Buch (Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 20). Einen ersten Versuch einer solchen Rekonstruktion stellte die Studie des französischen Germanisten Roland Krebs: Helvétius en Allemagne ou la tentation du matérialisme. Paris 2006, dar, in welcher ein Kapitel dem „cas exemplaire: Friedrich Schiller“ gewidmet ist. Dieses Kapitel bleibt grundsätzlich den von Schings vorbestimmten Bahnen verpflichtet. In gewisser Weise suggeriert bereits der Titel von Krebs’ Monographie, dass es sich bei diesem von der Forschung in Deutschland gemiedenen Thema um etwas moralisch Zweifelhaftes handeln soll: Der Materialismus als „Versuchung“ – so mögen tatsächlich nicht nur viele Autoren aus dem 18. Jahrhundert, sondern auch viele spätere Kritiker diese Lehre empfunden haben. Zusammengefasst findet sich Krebs’ Interpretation auch neuerdings in folgendem Aufsatz: Die radikale französische Philosophie im Spiegel der deutschen Aufklärungsliteratur. In: Michael Hofmann (Hg.): Aufklärung. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2013, S. 209–228. NA 20, 115. Vgl. den bereits zitierten Aufsatz von Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. „Die Räuber“ im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I). Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, S. 28. Zu diesem der ‚Theosophie des Julius‘ entnommenen Begriff (NA 20, 108) vgl. Robert: Vor der Klassik, S. 87 sowie Jürgen Daiber: „Im dunkeln Orakel der körperlichen Schöpfung [...] verkündigt.“ Figuren des Skeptizismus in der Anthropologie des jungen Schiller. In: Peter Philipp Riedl (Hg.): Schiller neu denken. Beiträge zur Literatur-, Kultur- und Kunstgeschichte. Regensburg 2006, S. 51–68, hier S. 67; dazu außerdem Wolfgang Riedel: Aufklärung und Macht. Schiller, Abel und die Illuminaten. In: Walter Müller-Seidel u. Ders. (Hg.): Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde. Würzburg 2003, S. 107–125, hier S. 123f. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, S. 32. Ebd., S. 29. Ebd., S. 32.
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ren. Diese liefern schließlich plastische Beispiele dafür, wie weit der moderne, energiegeladene Mensch prinzipiell gehen, ja wie weit ihn sein Wille, ja seine individualistische Freiheit führen kann. Indes soll vor lauter Freiheit die andere Seite der Medaille nicht übersehen werden. Denn die „Thätigkeit der Materie“, an welche die „Thätigkeit der menschlichen Seele gebunden“ 52 ist, ist strengen, ja erbarmungslosen Gesetzen unterworfen. Über die existenzielle Frage nach der höchsten und weitesten Tragweite des Menschlich-Möglichen mag man daher leicht den Umstand aus den Augen verlieren, dass der eigentliche Ursprung von Alfieris und Schillers Interesse am Großen und Außerordentlichen gerade umgekehrt in dem beiden Dichtern gemeinsamen Bewusstsein für die Endlichkeit des Menschen liegt. 53 Das ist die Grundlage, auf der das Theater dieser tragischen Dichter vor dem kulturellen Hintergrund ihrer Epoche basiert und auf der schließlich auch ein Vergleich der Parallel-Tragiker der Moderne fruchtbar ausgetragen werden kann. Denn das, was Giuliano Baioni als „die Wurzel von Schillers tragischem Denken“ 54 bezeichnete, stellt offensichtlich auch den Ausgangspunkt des Tragischen bei Alfieri dar, wie vereinzelt in der italienischen theatergeschichtlichen Forschung festgehalten wurde: „[L]ebhaft war in Alfieri jenes Gefühl für das Tragische, das mit dem Sinn für den unlösbaren Widerspruch zwischen der Endlichkeit des Menschen, seiner Grenze und dem unstillbaren Streben nach dem Unendlichen einhergeht“. 55 Atemberaubend ist die Höhe, von der Schiller seinen Julius an einer bemerkenswerten Stelle der Philosophischen B riefe hinabstürzen lässt. Vor dem philosophischen Hintergrund seines Jahrhunderts lässt Schiller seine Figur zunächst entzückt Folgendes feststellen: „Die ganze Schöpfung ist mein, denn ich besitze eine unwidersprechliche Vollmacht, sie ganz zu genießen“. 56 Kaum hat Julius jedoch diesen Satz an Raphael geschrieben, so wird er direkt mit dessen Ungeheuerlichkeit konfrontiert. Denn der „Gott“, den Julius als ‚Mensch‘ selbst darzustellen glaubt, „ist in eine Welt von Würmern verwiesen“ 57 – die Ausdrucksstärke ist hier direkt proportional zum Entsetzen, das diese Erkenntnis offensichtlich bei Schillers Figur auslöst. Wahnwitzig, die ganze Schöpfung genießen zu wollen, wenn man von Natur aus zu diesem Zweck ungenügend, ja kläglich ausgestattet ist. Vor diesem Hintergrund fragt es sich, ob „der Zweck der Natur mit dem Menschen“ tatsächlich „seine 52 53
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Schiller: Versuch ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, NA 20, 41f. Vgl. zu diesem Thema auch den Sammelband: Friederike Felicitas Günther u. Torsten Hoffmann (Hg.): Anthropologien der Endlichkeit. Stationen einer literarischen Denkfigur seit der Aufklärung. Göttingen 2011. Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 22 (Übers. P.P.). Annamaria Cascetta: La tragedia nel secondo Settecento. In: Manuale di Letteratura Italiana. Storia per generi e problemi. Hg. v. Franco Brioschi u. Costanzo Di Girolamo. Torino 1995. Bd. III, S. 829–858, hier S. 846 (Übers. P.P.). NA 20, 112. Ebd.
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Glückseligkeit“ darstellt, 58 wie Schiller, wohl noch als Konzession an sein Jahrhundert, in den 1790er Jahren behauptet. Denn wie verträgt sich dieser ‚Zweck‘ mit der lapidaren Feststellung des Julius: „Der jezige Augenblik ist das Grabmal aller vergangenen“? 59 Alles scheint sich in einem durchaus signifikanten Paradoxon aufzulösen: Der Zweck der Natur mit dem Menschen ist seine Glückseligkeit; und um diesen Zweck zu erreichen – um den Menschen glückselig werden zu lassen, ist die Natur offensichtlich auf alles gefasst: selbst darauf, ihn – zu töten. Gewiss: „Der Materialismus“ wird hier bereits „als Lebensphilosophie im Sinne Schopenhauers erlebt“, wo die Lebenskraft als ‚Wille‘ stets an sich selbst zehrt. 60 Das menschliche Leben wird hier unmissverständlich als eine durchaus begrenzte Menge Energie aufgefasst – ein „Klumpen Energie“, 61 der im Laufe der Zeit unaufhaltsam verloren geht. „Daß der Mensch frei ist, aber sterblich – die Einsicht in diesen unglücklichen Widerspruch, der der Mensch zur Gänze ist, profiliert Schillers anthropologische Diagnose“: 62 Was an dieser Stelle in der Schiller-Forschung festgehalten wurde, lässt sich wiederum eins zu eins auf Vittorio Alfieri übertragen. Als direkte Reaktion auf diese Einsicht entsteht die buchstäblich ungeheuerliche Figur jenes Tyrannen, der zum eigentlichen Protagonisten von Alfieris tragischem Theater wird 63 – ja zu dessen überdimensionalen Protagonisten er werden musste, weil die „Analyse und Darstellung seiner ungeheuerlichen, unterjochenden Gewalt“ als die „einzige adäquate Weise“ erschien, in der die „Ungeheuerlichkeit von Inbrunst und innerlicher Verzweiflung des Schriftstellers analysiert und zum Ausdruck gebracht“ werden konnte. 64 Auch diese „Ungeheuerlichkeit“ hat eigentlich ihren Ursprung in einem Gebrechen. Energiegeladene, ‚erhabene Größe‘ weist auch hier direkt auf ihr Gegenteil hin – auf Begrenzung, Endlichkeit und Tod. Je schmerzvoller jene Grenze empfunden wird, umso blinder wird nach Größe getrachtet – zumindest so lange die Kraft dazu hinreicht. Woher kommt die bewunderte, mit allen Mitteln erstrebte, energiegeladene, ‚erhabene Größe‘, mit welcher der Leser bei Alfieri und Schiller immer wieder konfrontiert wird? Und umgekehrt: Woher das düstere, resignative Moment, das 58 59 60 61 62
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Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 133. NA 20, 112. Vgl. Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 22. Von der „inquietudine di un grumo di energia, affacciato sul niente“ ist prägnant bei Cascetta die Rede: La tragedia nel secondo Settecento, S. 848. Carsten Zelle: Die Notstandsgesetzgebung im ästhetischen Staat. Anthropologische Aporien in Schillers philosophischen Schriften. In: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Hg. v. Hans-Jürgen Schings. Stuttgart u. Weimar 1994 (= DFG-Symposion 1992), S. 440–468, hier S. 440. Vgl. Bàrberi Squarotti: Lo spettacolo del Tiranno, S. 110–112 (Übers. P.P.). Ebd., S. 111. Bereits Mario Fubini hat diese Aspekte deutlich auf den Punkt gebracht: „Alfieri schreibt Tragödien, weil nur die Tragödie seinen Abscheu gegen jene Kraft angemessen zum Ausdruck bringen kann, die er über sich, über der ganzen Welt drohend fühlt“, Fubini: Ritratto dell’Alfieri e altri studi alfieriani, S. 7 (Übers. P.P.).
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hier und da im Werk beider Autoren zu finden ist? 65 Der gemeinsame philosophische Hintergrund von Alfieris und Schillers tragischem Denken kann auf den Namen Nihilismus getauft werden – vorausgesetzt, man verständigt sich von vornherein darüber, was hier genau unter diesem umstrittenen Terminus 66 gemeint ist. Der von Wolfgang Müller-Lauter verfasste Artikel zu diesem Lemma im Historischen Wörterbuch der Philosophie weist bereits in den ersten Zeilen ausdrücklich darauf hin, dass der Begriff Nihilismus „im Laufe seiner Geschichte zur Kennzeichnung für zum Teil sehr verschiedenartige philosophische Standpunkte und Richtungen“ in „West- und Mitteleuropa“ verwendet wurde. 67 Die von MüllerLauter angeführten Beispiele mögen hier für sich sprechen: Nihilismus stehe für „den philosophischen E goismus bzw. Solipsismus, für Idealismus, Atheismus, Pantheismus, Skeptizismus, Materialismus und Pessimismus“, sowie außerdem „vor allem zur Kennzeichnung religiöser, politischer und literarischer Strömungen“. 68 Historisch betrachtet hat man es offensichtlich mit einem diffusen, seit dem Jahrhundert der Aufklärung etablierten (Kampf-)Begriff zu tun, das eine Fülle von Bedeutungen und Nebenbedeutungen, polemischen Intentionen und widersprüchlichen Assoziationen transportiert. Man weiß, dass der Nihilismus-Begriff in seiner „ersten wesentlichen philosophischen Bedeutung“ Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland „vor allem von theistischen und (erkenntnistheoretisch) realistischen
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„Cose omai viste“, so schreibt Alfieri in einem berühmten Sonett aus dem Jahr 1794, „e a sazietà riviste, / Sempre vedrai, s’anco mill’anni vivi: / E studia, e ascolta, e pensa, e inventa, e scrivi, / Mai non fia, ch’oltre l’uom passo ti acquiste”, Vittorio Alfieri: Rime, S. 567 (Dt.: Bereits Gesehenes, und zur Genüge Wiedergesehenes / wirst Du immer wieder sehen, solltest du tausend Jahre leben; / Lerne, höre, denke, erfinde oder schreibe gar, / nie wirst Du einen Schritt über den Menschen hinaus kommen“, Übers. P.P.). Am Ende von Schillers frühem Gedicht Resignation (1786) ergreift dagegen ein „Genius“ das Wort: „Zwei Blumen blühen für den weisen Finder, / sie heißen Hofnung und Genuß. / Wer dieser Blumen Eine brach, begehre / die andre Schwester nicht. / Genieße, wer nicht glauben kann. Die Lehre / ist ewig wie die Welt. Wer glauben kann, entbehre. / Die Weltgeschichte ist das Weltgericht“ (NA 1, 168). Auf beide Texte kommen wir im Folgenden ausführlich zurück. Zur Geschichte und Bedeutung des Nihilismus von der Aufklärung bis zur Gegenwart: Claudio Magris u. Wolfgang Kaempfer (Hg.): Problemi del nichilismo. Milano 1981; Emanuele Severino: Essenza del nichilismo. Milano 1982; Hans-Jürgen Gawoll: Nihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchung vom deutschen Idealismus bis zu Heidegger. Stuttgart-Bad Cannstatt 1989; Thomas Immelmann: Der unheimlichste aller Gäste. Nihilismus und Sinndebatte in der Literatur von der Aufklärung zur Moderne. Bielefeld 1992; Federico Vercellone: Introduzione a: Il Nichilismo. Roma u. Bari 1992; Franco Volpi: Nichilismo. In: Dizionario di filosofia di Nicola Abbagnano. Terza edizione aggiornata e ampliata da Giovanni Fornero. Torino 2001, S. 756–759; Umberto Galimberti: L’ospite inquietante. Il nichilismo e i giovani. Milano 2007; Alessandro Bertinetto u. Christoph Binkelmann (Hg.): Nichts – Negation – Nihilismus. Die europäische Moderne als Erkenntnis und Erfahrung des Nichts. Frankfurt a.M. u.a. 2010. Wolfgang Müller-Lauter: Nihilismus. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1984. Bd. 6, S. 846–853, hier S. 846. Ebd.
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Denkern auf die idealistische P hilosophie angewandt“ wurde. 69 Seine Anfänge sind allerdings weder in Deutschland noch „erst im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zu suchen, sondern bereits in einer frühen Phase der französischen Aufklärung“. 70 Und wenn es übertrieben ist zu behaupten, dass „[n]ihilistisches Denken und Erleben […] eine notwendige Folge der Aufklärung“ darstellen, „wo diese konsequent zu Ende gedacht und konsequent in die Praxis umgesetzt wird“, 71 so lässt es sich sehr wohl festhalten, dass es „kein Zufall und kein weginterpretierbarer Schönheitsfehler [ist], daß der neuzeitliche Nihilismus ausgerechnet im Zeitalter der Aufklärung zum ersten Mal konsequent und umfassend formuliert wurde“. 72 Wenn man die Kategorie des Nihilismus für die heutige Aufklärungsforschung nutzbar machen will, so tut ein Zweifaches zur Schärfung dieses nicht zuletzt durch viel 19. Jahrhundert gesättigten Begriffs Not: Zum einen sollen die Charakteristika herausdestilliert werden, die zur „Wesensbestimmung des Nihilismus“ 73 bereits im Jahrhundert der Aufklärung gehören. Zum anderen soll der Terminus rein deskriptiv, das heißt bar jeden pejorativen, polemischen oder moralistischen Untertons, etwa als ‚Schelte‘ im Sinne Jacobis, 74 verwendet werden. Hierbei hat Panajotis Kondylis bereits in seiner 1981 erschienenen Studie zur Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus bahnbrechende Vorarbeit geleistet und eine prägnante Definition von Nihilismus gegeben, an die hier unmittelbar angeschlossen werden kann. „Im Hinblick auf das geistige Spektrum der Aufklärung“ – so Kondylis zur „Wesensbestimmung des Nihilismus“ – könnte der Nihilismus „als der Versuch definiert werden, die Rehabilitation der Sinnlichkeit restlos und wertfrei durchzuführen“. 75 Der springende Punkt ist dabei in der Rolle zu erkennen, welche die Natur im nihilistischen Welt- und Menschenbild übertragen bekommt. Denn zum einen versteht man hier unter ‚Natur‘ „ausschließlich rohe oder verfeinerte Materie“, wobei nichts weniger als der Dualismus KörperGeist kurzerhand beseitigt wird – der „Geist“ stellt hier nichts als verfeinerte Materie dar. 76 Zum anderen wird diese „Natur“ als „ledig aller Werte“ sowie „Unwerte“ konzipiert, was gleich bedeutet, dass ihr jeder normative Gehalt abgesprochen
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Ebd. Vgl. Friedrich Heinrich Jacobis berühmten Brief vom März 1799 an Fichte. In: Johann Gottlieb Fichte: Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hg. v. Reinhard Lauth u.a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962–2012. Bd. III/3, S. 244f. Kurt Kloocke: Nihilistische Tendenzen in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts bis zu Benjamin Constant. Beobachtungen zum Problem des „Ennui“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 56 (1982), S. 576–600, hier S. 577. Ebd., S. 600 (Hervorh. P.P.). Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002 (erste Auflage 1981), S. 493. Ebd., S. 490. Vgl. Jacobis bereits erwähnten „Sendbrief“ an Fichte, S. 244f. Kondylis: Die Aufklärung, S. 490. Ebd.
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wird: „Normen“ sind vielmehr „menschliche veränderliche Konventionen“, ja „subjektive Fiktionen ohne objektive Gültigkeit“. 77 Folgt man Kondylis, so gehören somit zwei Momente seit dem 18. Jahrhundert zum ‚Wesen‘ des Nihilismus: die restlose, wertfreie Rehabilitation der Sinnlichkeit und die strikte Trennung von Natur und Norm. In vereinfachtpointierter aphoristischer Form hält Kondylis diesen Sachverhalt – hier prinzipiell, ohne spezifischen Zeitbezug – auch in einem seiner „Gedanken und Sprüche“ fest. Dort liest man prägnant: „Die Werte sind relativ und der Mensch ist sterblich; konsequent durchdacht, heißt diese elementare Einsicht: Nihilismus“. 78 Der Nihilismus ergibt sich demnach als konsequente Schlussfolgerung aus beiden erwähnten Prämissen – der Relativität der Werte und der unüberwindbaren Endlichkeit des Menschen – und hat hier weder mit einem programmatischen destruktiven Impetus noch mit existenzieller Resignation oder Verzweiflung zu tun, die zwar durchaus mögliche, jedoch keinesfalls zwingende Konsequenzen aus der erfolgten ‚Einsicht‘ darstellen. 79 Werte werden als relativ aufgefasst, weil der bisherige Glaube an „objektiv gültige Normen“ als unhaltbar erkannt wird – diese Normen waren ja bislang „entweder durch den Geist in seiner göttlichen und menschlichen Dimension oder aber durch den normativen Aspekt der Natur begründet“ worden. 80 Und da der ‚Geist‘ selbst als endliche Materie konzipiert wird, so wird auch jede in Aussicht gestellte Möglichkeit für das Individuum, die Grenze des Todes zu überwinden, als Wahn verworfen. Vor dem verwickelten historischen Hintergrund des Terminus Nihilismus nennt Kondylis’ Definition die beiden Aspekte präzis beim Namen, die dessen „Wesen“ ausmachen, und liefert dabei ein rein deskriptives, wertneutrales Verständnis dieses Begriffs, 81 mit dessen Hilfe Licht in eine bedeutende Ideenkonstel77 78
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Ebd. Panajotis Kondylis: Gedanken und Sprüche. In: Falk Horst (Hg.): Kondylis – Aufklärer ohne Mission. Aufsätze und Essays. Berlin 2007, S. 185–189, hier S. 189. Mit Bezug auf den ‚Nihilismus‘ hielt bereits Friedrich Nietzsche in einem in unserem Rahmen erwähnenswerten Fragment aus dem Jahr 1887 Folgendes fest: „Der radikale N ihilismus ist die Überzeugung einer absoluten Unhaltbarkeit des Daseins, wenn es sich um die höchsten Werthe, die man anerkennt, ˂handelt˃, hinzugerechnet die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-sich der Dinge anzusetzen, das ‚göttlich‘, das leibhafte Moral sei. Diese Einsicht ist eine Folge der großgezogenen ‚Wahrhaftigkeit‘: somit selbst eine Folge des Glaubens an die Moral“, Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 571. Nihilismus hat hier somit weder mit dem „aktive[n]“ noch mit dem „passivische[n] Nihilism“ zu tun, mit denen sich Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment aus dem Herbst 1887 beschäftigt. Ebd., KSA 12, 351. Kondylis: Die Aufklärung, S. 490. Unter Nihilismus ist „ausschließlich die These von der objektiven Wert- und Sinnlosigkeit von Welt und Mensch“ zu verstehen, Panajotis Kondylis: Macht und Entscheidung. Die Herausbildung der Weltbilder und der Wertfrage. Stuttgart 1984, S. 124. In Bezug auf Kondylis’ Verständnis von Nihilismus schreibt Peter Furth: „Nihilismus war lange Zeit ein Begriff der Kritik und des Kampfes; war normativ aufgeladen und drängte zu praktischer Negation sowohl im Sinne des Nihilismus wie gegen ihn. Aber allmählich nahmen die deskriptiven Anteile in der Anwendung des Begriffes zu“, Peter Furth: Aufklärer ohne
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lation des späten 18. Jahrhunderts gebracht werden kann. Es ist ausdrücklich zu betonen, dass der Nihilismus, so wie er hier verstanden wird, eine Minderheitsposition im ideengeschichtlichen Kontext der westeuropäischen Aufklärung darstellte. 82 Denn von der Mehrheit der damaligen Denker und Schriftsteller wurde die menschlich-göttliche Dimension des Geistes oder der normative Gehalt der Natur eher bekräftigt als in Frage gestellt, sodass auch die metaphysischen Postulate des antiken sowie des christlich-theologischen Denkens grundsätzlich unangetastet blieben. 83 Als Minderheitsphänomen des 18. Jahrhunderts zeichnet sich der Nihilismus jedoch überraschenderweise scharf hinter dem tragischen Theater unserer prominenten Parallel-Dichter der europäischen Spätaufklärung ab. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Schiller und Alfieri hier unmittelbar als ‚Nihilisten‘ – und geschweige denn als „konsequente“ Nihilisten wie etwa La Mettrie oder Sade 84 – in Frage kämen oder dass sie sich gar selbst je als solche verstanden hätten, was begriffsgeschichtlich zu ihrer Zeit schlichtweg widersinnig gewesen wäre. Der Punkt ist hier vielmehr, dass der Nihilismus im Kontext der „anthropologischen Achsendrehung und Wende zur Ästhetik“ 85 der Spätaufklärung sozusagen als
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Mission. Über die Position von Panajotis Kondylis. In: Horst (Hg.): Panajotis Kondylis – Aufklärer ohne Mission, S. 53–76, hier S. 63. Wie im Übrigen auch der Materialismus, der, wie Kondylis schreibt, „wenigstens statistisch, eher eine Randerscheinung im geistigen Spektrum der Aufklärung geblieben“ ist: „Die große Mehrheit der Aufklärer akzeptiert die traditionelle Verbindung zwischen der Idee vom Geist und den ethischen Normen, und deshalb will sie die Sphäre des transzendenten Geistes und des Transzendenten überhaupt nicht restlos beseitigen“, Panajotis Kondylis: Die neuzeitliche Metaphysikkritik. Stuttgart 1990, S. 276. Vgl. dazu die Unterkapitel „Philosophische Schulen und Diskursformationen. Die traditionsbildende Konfrontation von Stoa und Epikureismus“ sowie „Überkreuzung epikureischer und stoischer Strömungen im 18. Jahrhundert. Revolutionäre und religionskritische Paradigmatisierung stoischer Leitfiguren“ in Jochen Schmidts bereits zitiertem einführenden „Überblick“: Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus, S. 26–33 u. 107–111. „Vom Standpunkt der christlichen Lehre aus erschienen die aus der nicht-christlichen antiken Tradition stammenden philosophischen Lehren entweder wie der Epikureismus gar nicht oder wie die Stoa immerhin teilweise akzeptabel“, ebd. S. 26. „Die Popularität der stoischen Lehren vor allem im 16. und 17. Jahrhundert ist“ – wie auch Kondylis unterstreicht – „vornehmlich darauf zurückzuführen, daß sie einen gangbaren, nach beiden Seiten hin offenen Mittelweg und somit einen von weiten Kreisen akzeptablen Kompromiß anzubieten schienen. Im antiken Stoizismus im allgemeinen verband sich ja die Kenntnis von Beschaffenheit und Wirkung der Affekte und der Sinnlichkeit überhaupt mit dem Postulat ihrer Beherrschung oder vielmehr Durchtränkung durch die Vernunft […] Stoische Thesen waren m.[it] a.[nderen] W.[orten] flexibel genug, um eine zumindest formale Übereinstimmung mit der christlichen Lehre zu ermöglichen, indem sie letztere zugleich unterminierten“, Kondylis: Die Aufklärung, S. 133f. Allgemein zum historischen und ideengeschichtlichen Kontext der europäischen Aufklärung: Vincenzo Ferrone: I profeti dell’illuminismo. Le metamorfosi della ragione nel tardo Settecento italiano. Roma u. Bari 22000 sowie Ders.: Lezioni illuministiche. Roma u. Bari 2010. Kondylis: Die Aufklärung, S. 503–518. Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden. Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer. In: Ders.: Um Schiller. Studien zur Literatur- und Ideengeschichte der Sattelzeit. Hg. von Markus Hien, Michael Storch u. Franziska Stürmer.
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‚unheimlicher Gast‘ vor der Tür von Alfieris und Schillers tragischem Theater steht, 86 sodass auch das Ethos – ja die Moral – von Alfieris und Schillers tragischen Helden erst fruchtbar interpretiert werden kann, wenn man ihr heroisches Streben nach unbedingter Freiheit und Größe konsequent mit einer Weltsicht in Zusammenhang bringt, die jeden normativen Rückhalt verloren hat. Welche Konsequenzen – so könnte man zugespitzt fragen – welche Verhaltensnormen, ja welche Moral ziehen Protagonisten und Antagonisten von Alfieris und Schillers Theater implizit oder explizit aus der Einsicht in die Relativität der Werte und die Negation der „Personal-Unsterblichkeit“? 87 Wie auf den nächsten Seiten herausgearbeitet werden soll, ziehen sie daraus vor allem eine rigoros auf immanente Voraussetzungen gegründete, kraftbasierte und ästhetisch verankerte Moral der Selbstsinnstiftung. Gerade in der Notwendigkeit einer existenziellen Selbstsinnstiftung besteht dabei das Heroische dieser neuen und bei beiden Dichtern nicht selten durch Maßlosigkeit und Hybris gekennzeichneten Moral, die man mit guten Gründen auch eine durch und durch männliche nennen kann. 88 „Männlichkeit ist die Moral des Nihilismus“ – das hielt wiederum bereits Kondylis kurz und bündig in seinen „Gedanken und Sprüchen“ fest. 89 Und wie es sich zeigen lässt, ist gerade Männlichkeit – nach den Geschlechterstereotypen des ausgehenden
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Würzburg 2017, S. 3–34; zuerst erschienen in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart u. Weimar 1994, S. 410–439. So schreibt Friedrich Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment: „Der Nihilismus steht vor der Thür: woher kommt uns dieser unheimlichste aller Gäste? —“, Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 125. Nietzsche: Der Antichrist, KSA 6, 215. Zur Opposition „weiblich/männlich“ in der Neuzeit vgl. einführend den Beitrag von Marion Heinz in: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 2004. Bd. 12, S. 358–364. Zur Kardinaltugend der ἀνδρεία vgl. außerdem ebd. das Lemma „Tapferkeit“ von Karl A. Blüher. Bd. 10, S. 894–901. Umgekehrt hat die GenderForschung der letzten Jahrzehnte verstärkt das Thema eines „weiblichen Heroismus“ und eines „weiblichen Erhabenen“ in den Fokus genommen: Karen Beyer: „Schön wie ein Gott und männlich wie ein Held“. Zur Rolle des weiblichen Geschlechtscharakters für die Konstituierung des männlichen Aufklärungshelden in den frühen Dramen Schillers. Stuttgart 1993; MaryAnn Snyder-Körber: Das weiblich Erhabene. Sappho bis Baudelaire. Paderborn u. München 2007; Mareen von Marwyck: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld 2010. Aus der Gender-Perspektive speziell auf Alfieri: Stephanie Laggini Fiore: The Heroic Female: Redefining the Role of the Heroine in the Tragedies of Vittorio Alfieri. Newcastle upon Tyne 2012. Wiederum aus der Genderperspektive widmet sich Thomas Boyken („So will ich dir ein männlich Beispiel geben“. Männlichkeitsimaginationen im dramatischen Werk Friedrich Schillers. Würzburg 2014) dagegen der Erstellung einer Typologie der männlichen Figuren in Schillers dramatischem Werk. In diesem Rahmen sei außerdem auf folgende einschlägige Publikation des an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg verorteten Sonderforschungsbereiches 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen. Transformationen und Konjunkturen von der Antike bis zur Moderne“ verwiesen, die das Ziel verfolgt, „Geschlecht“ als analytische Kategorie für die Heroismusforschung fruchtbar zu machen: Carolin Hauck, Monika Mommertz, Andreas Schlüter u. Thomas Seedorf (Hg.): Tracing the Heroic Through Gender. Würzburg 2018 (Helden – Heroisierungen – Heroismen, 8). Kondylis: Gedanken und Sprüche, S. 189.
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18. Jahrhunderts als Stärke, Tapferkeit und Durchsetzungskraft aufgefasst 90 – in dem unbedingten Streben nach Macht von Alfieris und Schillers Figuren strikt erforderlich; eine männlich-heroische Gesinnung ist ebenfalls nötig, wenn jene Figuren, über ihre eigentlichen Geschlechter hinaus, 91 den Folgen einer stärkeren, drohenden Macht ausgesetzt sind. Kein Zweifel: Wir befinden uns hier erneut im Wirkungsbereich des Erhabenen, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vor allem den Wirkungsbereich des Männlichen darstellt. 92 Bekanntlich sind auch die Kategorien der „doppelten Ästhetik der Moderne“ 93 zu dieser Zeit klar nach Geschlechterstereotypen kodiert, und zwar nicht nur in Edmund Burkes europaweit stark rezipierter Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757), sodass bereits Mary Wollstonecraft (1759–1797) in A Vindication of t he R ights of M en (1790) dem „Right Honourable“ Autor der Enquiry Folgendes vorwerfen konnte: You may have convinced them [die Leserinnen der Enquiry] that littleness and weakness are the very essence of beauty; and that the Supreme Being, in giving women beauty in the most supereminent degree, seemed to command them, by the powerful voice of Nature, not to cultivate the moral virtues that might chance to excite respect, and interfere with the pleasing sensations they were created to inspire. Thus confining truth, fortitude, and humanity, within the rigid pale of manly morals, they might justly argue, that to be loved, woman’s high end and great distinction! they should „learn to lisp, to totter in their walk, and nick-name God’s creatures“. 94
Doch ist die ‚doppelte Ästhetik der Moderne‘ nicht nur bei Burke geschlechtlich kodiert. Auch bei Kant findet sich die Entgegensetzung von Weiblich-Schönem und Männlich-Erhabenem. In den Beobachtungen übe r d as Gefühl de s Sc hönen
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Einer passiven, kaum widerständigen Weiblichkeit setzt sich hier eine aktive, energische und wollende Männlichkeit entgegen. So schreibt Jean-Jacques Rousseau in seinem Émile o u de l’éducation (1762): „L’un doit être actif et fort, l’autre passif et faible: il faut nécessairement que l’un veuille et puisse; il suffit que l’autre résiste peu“, Heinz: Weiblich/männlich, S. 359f. In der Alfieri-Forschung wurde neuerdings zu Recht deutlich darauf hingewiesen, dass sich Alfieris tragische Heldinnen (etwa Antigone, Sofonisba, Marzia, Agesistrata, Porzia) „ihrer weiblichen Charakterzüge entkleiden“ und sich „virile Werte“ zu Eigen machen. Vincenza Perdichizzi: Lo scrittore tribuno e la tragedia eroica di Vittorio Alfieri. In: Laboratoire italien. Politique et societé 13 (2013) http://laboratoireitalien.revues.org/680 (01.09.2018). Ähnliches wird auch in Bezug auf einige Heldinnen in Schillers Theater hervorzuheben sein. Vgl. dazu Maria Carolina Foi: Spiel des Weiblichen. Bemerkungen zu Don Carlos. In: PeterAndré Alt, Marcel Lepper u. Ulrich Raulff (Hg.): Schiller, der Spieler. Symposion zum 250. Geburtstag. Göttingen 2013, S. 45–65, hier insb. S. 46–48 sowie Dies.: La giurisdizione delle scene. I drammi politici di Schiller. Macerata 2013, hier S. 78–80. In Bezug auf die geschlechtlich kodierte Opposition von ‚Anmut‘ und ‚Würde‘ in Schillers gleichnamiger Abhandlung vgl. neuerdings auch: Hannah Dingeldein: Die Ästhetik des Schönen und Erhabenen. Friedrich Schiller und Uwe Johnson. Göttingen 2014, S. 111f. Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne, hier insb. S. 123–146. Mary Wollstonecraft: A Vindication of the Rights of Men. In: Dies.: A Vindication of the Rights of Men with A Vindication of the Rights of Woman and Hints. Hg. v. Sylvana Tomaselli. Cambridge 1995, S. 1–63, hier S. 47.
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und E rhabenen (1764) liest man, dass zwar jedes Geschlecht beide Aspekte vereinbaren sollte, […] doch so, daß von einem Frauenzimmer alle anderen Vorzüge sich nur dazu vereinigen sollen, um den Charakter des Schönen zu erhöhen, welcher der eigentliche Beziehungspunkt ist, und dagegen unter den männlichen Eigenschaften das Erhabene als das Kennzeichen seiner Art deutlich hervorsteche. 95
Und vorausgreifend auf unsere weitere Analyse lässt sich vor der Folie von Schillers ästhetischen Schriften der 1790er Jahre im Vorbeigehen ergänzen, dass das ‚Weibliche‘ im Erhabenen höchstens in dem anfänglichen Moment der passiven Ohnmacht zu finden ist, das sich dann bald in aktive Übermacht umwandeln muss: Das Gefühl des Erhabenen besteht einerseits aus dem Gefühl unsrer Ohnmacht und Begrenzung, einen Gegenstand zu umfassen, anderseits aber aus dem Gefühl unsrer Uebermacht, welche vor keinen Grenzen erschrickt und dasjenige sich geistig unterwirft, dem unsre sinnlichen Kräfte unterliegen. 96
Um dieses Gefühl der Übermacht, das sich allerdings vor dem philosophischen Hintergrund des späten 18. Jahrhunderts mit der Einsicht in die Relativität der Werte und die Sterblichkeit des Menschen konfrontieren muss, dreht sich schließlich jene männlich-heroische Moral von Alfieris und Schillers tragischen Helden, die es im Folgenden herauszuarbeiten gilt. „Unter allen Künsten ist die dramatische die am meisten männliche“, hat Wilhelm Dilthey interessanterweise in seinem Alfieri-Aufsatz festgehalten. 97 Von (wörtlich) „Majestät und männlicher Erhabenheit der Tragödie“ hatte aber auch Alfieri bereits 1785 in seinem bekannten Brief an Melchiorre Cesarotti geschrieben – und dabei mehr oder minder offenkundig der galanten französischen Literatur, dem Melodram und jedem ‚verweiblichten‘ cicisbeismo in literaricis 98 polemisch die ‚männliche Härte‘ der eigenen Poetik als Tragödiendichter entgegengesetzt. 99 95
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Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (Kap. IV., Dritter Abschnitt: „Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältniß beider Geschlechter“). In: Ders.: Vorkritische Schriften 2. 1757–1777. Berlin 1968, S. 205–256, hier S. 228–243, hier S. 228. Zum Verhältnis zwischen Kants und Schillers Theorie des Erhabenen vgl. neuerdings: Rosemarie Brucher: Subjektermächtigung und Naturunterwerfung. Künstlerische Selbstverletzung im Zeichen von Kants Ästhetik des Erhabenen. Berlin 2013, S. 99–123. Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 137. Dilthey: Vittorio Alfieri, S. 316. Zu „Conversazione und cicisbeismo in der moralistischen Literatur“ am Beispiel des venezianischen Settecento vgl. Robert Fajen: Die Verwandlung der Stadt. Venedig und die Literatur im 18. Jahrhundert. München 2013, S 149–182. „[L]a maestà e maschia sublimità della tragedia“, Vittorio Alfieri: Note dell’Alfieri, che servono di risposta [alla lettera dell’abate Cesarotti su „Ottavia“, „Timoleone“ e „Merope“]. In: Ders.: Parere sulle tragedie, S. 262–277, hier S. 275. Vgl. dazu auch die im Mai 2014 an der Universität Innsbruck eingereichte Habilitationsschrift von Daniel Winkler, in der Alfieris ausdrucksstarke Formulierung bereits im Titel wiedergegeben wurde: „Per non tradire, quanto è in me, la maestà e maschia sublimità della tragedia“. Körper, Revolution und Nation bei
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Beispiele ‚erhabener Größe‘, ja „männlicher Erhabenheit“ – in einer für die Moderne bezeichnenden Verflechtung von existenzieller und ästhetischer Selbstentfaltung – liefern Vittorio Alfieri und Friedrich Schiller gerade als dramatische Dichter, und das bedeutet nicht zuletzt: als absolute, sadistische Tyrannen ihren Figuren gegenüber. Hierin legen sie beide den „Allmachtsanspruch“ jenes modernen „Autors“ an den Tag, der, wie treffend in Bezug auf Alfieri bemerkt wurde: nicht mehr den Ausleger von Geschichte und Mythos darstellt, sondern deren Manipulanten, Umwandler, Gestalter. Und so gleicht seine Übermacht gegenüber den von der Tradition gelieferten Gegebenheiten am Ende der Übermacht des Tyrannen oder des Liebesdrangs, das heißt sie bedeutet die absolut willkürliche Behandlung jener Figuren und Situationen, welche die Vergangenheit dem tragischen Dichter zur Verfügung stellt. 100
Durchaus bemerkenswert, dass auch eine gewisse Neigung zum Sich-SelbstTyrannisieren bereits früh bei beiden tragischen Dichtern erkannt wurde. „Er haßte die Tyrannen, weil er sich selbst eine Tyrannen-Ader fühlte“, schreibt Goethe lapidar in Bezug auf Alfieri in einem Brief an Zelter vom 3. Dezember 1812. 101 „Man sieht, in welcher ununterbrochenen Spannung er lebt und wie sehr der Geist bei ihm den Körper tyrannisiert, weil jeder Moment geistiger Erschlaffung bei ihm körperliche Krankheit hervorbringt“, bemerkt der Rittmeister von Funck nach einem Besuch bei Schiller im Januar 1796. 102 Was bedeutet eigentlich, dass der Tyrann als der „privilegierte Protagonist von Alfieris tragischem Theater“ 103 ein Individuum darstellt, das „jede menschliche, natürliche und göttliche Grenze überschreitet“, und dass er seine entfesselte „LeiVittorio Alfieri und im alfierianischen Theater der Sattelzeit. Die Studie ist bei Fink erschienen unter dem Titel: Körper, Revolution, Nation. Vittorio Alfieri und das Tragödienprojekt der europäischen Aufklärung. München 2016. Im Kapitel IV. ist hier von Metastasios „weiche[r]“ und Alfieris „harte[r]“ Kunst sowie von Alfieris „männlich-energetische[r]“ bzw. „männlichvitale[r] Tragödienkunst“, ja von seinem „maskulin-erhabene[n] Tragödienverständnis“ die Rede, S. 175–190. Zu Recht weist auch Enrico Mattioda darauf hin, dass sich Alfieris „harter elfsilbiger Vers“ im literarisch-kulturellen Kontext des italienischen Settecento „offen und bewusst“ gegen die Tradition des Melodramas und des gesungenen Verses richtete, Enrico Mattioda: Introduzione. In: Ders. (Hg.): Tragedie del Settecento. Modena 1999. Bd. I, S. 7–82, hier S. 12. Wie auch von Vincenza Perdichizzi neuerdings angemerkt, ersetzt Alfieri „Eleganz“ mit „Energie“ und überwindet dabei den „gemäßigten Klassizismus“ des frühen 18. Jahrhunderts, indem er die Kategorie des Erhabenen aufwertet. Dem „weiblichen“ Genre des Melodrams setzt Alfieri die „männliche“ Gattung der Tragödie entgegen. Perdichizzi: Lo scrittore tribuno e la tragedia eroica di Vittorio Alfieri. Auf Alfieris ‚männliche Tragödienkunst‘ und auf ihre polemischen Ziele im literarischen Kontext des Settecento kommen wir in unserem Kapitel über Alfieris Abhandlung Del p rincipe e d elle l ettere ausführlich zurück. 100 Bàrberi Squarotti: Lo spettacolo del Tiranno, S. 127 (Übers. P.P.). 101 Goethe: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, MA, Bd. 20.I, S. 296. 102 Zit. nach: Alt: Schiller. Bd. 2, S. 367. Hier ist außerdem zu lesen: „Charlottes junger Cousine Christiane von Wurmb soll Schiller im Februar 1801 erklärt haben, man müsse versuchen, ‚jeden Augenblick mit voller Kraft zu ergreifen, ihn so zu benutzen, als wäre es der einzige letzte‘“. 103 Bàrberi Squarotti: Lo spettacolo del Tiranno, S. 129 (Übers. P.P.).
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denschaft“ mit dem „wahren Schriftsteller“ teilt? 104 Und was heißt dann genau, dass „Schillers ästhetischer Humanismus […] stets auch ein tragisch-heroischer wie der Nietzsches“ gewesen ist? 105 Bei der Untersuchung von Alfieri und Schiller stoßen wir offensichtlich auf ein historisches Phänomen, das bisher in der AlfieriForschung kaum, in der Schiller-Forschung lediglich am Rande, nur als ‚Wagnis‘, ja als „etwas steile These“ 106 Erwähnung gefunden hat: Das sich in der Spätaufklärung abzeichnende Umschlagen des „alteuropäische[n] heroische[n] Stoizismus“ in den „modernen heroischen Nihilismus“. 107 Zwar spielen Hauptbegriffe der Stoa 108 wie „Freiheit“ und „Will[e] (voluntas)“ 109 eine geradezu entscheidende Rolle im Werk beider Dichter – vom Motto „In tyrannos“ von Schillers Räubern 110 bis hin zur prägnanten Bezeichnung des Menschen als „Wesen, welches will“ im späten Essay Ueber das Erhabene; 111 von der Widmung „alla libertà“ von Alfieris Schrift Della tirannide bis hin zu der berühmten Episode der Vita, da sich der junge und willensstark nach literarischem Ruhm strebende Tragiker vom treuen Diener Elia an den Stuhl fesseln lässt, um sich ganz seinen Studien zu widmen 112 und dabei Herr seiner inneren Gefügigkeit gegenüber einer „gehassliebten Dame“ zu werden. 113 Wenn man allerdings feststellt, dass die „Einsicht in die ihrerseits schon als vernünftig begriffene, weil vom Logos bestimmte Naturordnung“ eine „ebenfalls 104 105
Ebd. Gilbert Merlio: Schiller-Rezeption bei Nietzsche. In: Georg Bollenbeck u. Lothar Ehrlich (Hg.): Schiller – Der unterschätzte Theoretiker. Köln, Weimar u. Wien 2007, S. 172–213, hier S. 211. 106 Wolfgang Riedel: Die Freiheit und der Tod. Grenzphänomene idealistischer Theoriebildung beim späten Schiller. In: Georg Bollenbeck u. Lothar Ehrlich (Hg.): Schiller – Der unterschätzte Theoretiker, S. 59–71, hier S. 71. 107 Ebd. 108 Zum Lemma Stoizismus vgl. Frank Böhling u. Maximilian Forschner: Stoa; Stoizismus. In: Joachim Ritter u. Karlfried Gründer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1998. Bd. 10, S. 176–186 sowie Nicola Abbagnano: Stoicismo. In: Dizionario di filosofia di Nicola Abbagnano. Terza edizione aggiornata e ampliata da Giovanni Fornero. Torino 2001, S. 1045. 109 Schmidt: Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus, S. 125. 110 Zur politischen Dimension der Freiheit im Neostoizismus vgl. ebd., S. 65–76 sowie 107–111. 111 NA 21, 38. 112 In der Abhandlung Del principe e delle lettere liest man: „Non dico io per ciò, che ad essere un uomo grande basti il credersi tale; anzi, chi lo è, tale per lo più non si reputa: ma dico bensì, che a volerlo divenire, bisogna essere in se stesso convinto di averne tutta la capacità; e aggiungervi un intenso, e incessante volere“, Alfieri: Del principe e delle lettere, S. 169; dt.: „Ich behaupte deswegen nicht, daß, um ein großer Mann zu seyn, nichts weiter erforderlich sey, als sich dafür zu halten; im Gegentheil wer es wirklich ist, hält sich in der Regel am wenigsten dafür. Ich sage blos, daß man, um es zu werden, durchaus die Überzeugung haben muß, alle Fähigkeit dazu zu besitzen: Hinzu kommen muß alsdann das gespannte unabläßige Wollen“, Alfieri: Der Fürst und die Wissenschaften, S. 63. 113 Alfieri: Vita, S. 143–166. Dt.: Vita. Mein Leben, S. 219–228. „Poetikschlüssel und Synthese einer von tiefer Beunruhigung gekennzeichneten existenziellen Erfahrung“ nennt Carla Forno das Willensmotiv bei Alfieri, vgl. Forno: Le amate stanze, S. 94. Zur Episode des an seinen Stuhl gefesselten Tragödiendichters sowie zum Verhältnis des Grafen zum „treuen“ Diener Elia vgl. auch Carla Forno: Il „fidato“ Elia. Storia di un servo e di un conte. Asti 2003.
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wesentliche Einsicht“ 114 der Stoa darstellt, und dass sich Schiller – wie im Übrigen auch Alfieri – „als Dramatiker“ „freilich nicht“ an eine so konzipierte Naturordnung hielten, 115 so erkennt man implizit, dass man sich bei diesen Dichtern zwar noch in einer zeitspezifischen Gemengelage, dennoch bereits deutlich über jenem ‚alteuropäischen Stoizismus‘ befindet. 116 Mit gutem Grund kann dabei behauptet werden, dass sich das genannte Umschlagen in den ‚modernen heroischen Nihilismus‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Alfieris und Schillers Werk fordernd und unüberhörbar ankündigt. 117 Dass sich jedoch der Übergang des ‚alteuropäischen heroischen Stoizismus‘ in den ‚modernen heroischen Nihilismus‘ in Deutschland nicht erst beim späten Schiller, 118 sondern bereits früh bei dem Dichter profiliert; dass dieser Übergang außerdem ein wesentliches Merkmal der europäischen Aufklärung darstellt und dass der Übergang in den ‚heroischen Nihilismus‘ hier schließlich mit einem tragischen Weltbild einhergeht, ja, mit einer weitreichenden „tragisierenden Deutung[-] von Mensch, Welt und Leben“, 119 die somit nicht „erst im Kontext der idealistischen Philosophie um 1800“ entsteht, 120 sondern bereits in den siebziger und acht-
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Schmidt: Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus, S. 125 (Hervorh. P.P.). Der „Begriff einer göttlichen Vernunft, welche die Welt sowie alles Weltliche nach einer notwendigen und vollkommenen Ordnung regiert“, gehört ja zu den „Dreh- und Angelpunkten der stoischen Lehre“, Abbagnano: Stoicismo, S. 1045 (Übers. P.P.). 115 Schmidt: Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus, S. 125. 116 Angesichts der „umfassenden Integration von Körper und Schmerz in die Beschäftigung mit dem Erhabenen“, so hält auch Torsten Hoffmann neuerdings in Bezug auf Schiller fest, „überrascht es, dass in der Forschung Schillers Ästhetik des Erhabenen immer wieder mit der körperfeindlichen Anthropologie der Stoa assoziiert worden ist“, Torsten Hoffmann: Körperpoetiken. Zur Funktion des Körpers in der Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts. Paderborn 2015, S. 330. 117 Auf der Bedeutung der stoischen Ethik bei Schiller insistiert dagegen weiterhin in der jüngsten Forschung Barbara Neymeyr: „Seelenstärke“ und „Gemütsfreiheit“. Stoisches Ethos in Schillers ästhetischen Schriften und in seinem Drama Maria Stuart. In: Jochen Schmidt, Dies. u. Bernhard Zimmermann (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Bd. 2, S. 897–926. 118 So Wolfgang Riedel: Die Freiheit und der Tod, S. 71. In Bezug auf Schillers späten Essay Ueber das Erhabene lässt sich vielmehr festhalten, dass hier ästhetische Fragen systematisiert werden, die von Anfang an eine zentrale Rolle in Schillers Theater spielen. Vgl. dazu auch: Carsten Zelle: „Weltgeschichte als erhabenes Objekt“ – Natur, Geschichte und Erhabenheit in Schillers Spätschrift Über da s E rhabene. In: Études Germaniques 60/4 (2005), S. 651–664 (vgl. außerdem die leicht überarbeitete Fassung dieses Artikels in: Schiller-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart u. Weimar 2005, S. 479–490). 119 Daniel Fulda u. Thorsten Valk: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose. Berlin u. New York 2010, S. 1–20, hier S. 4f. 120 Ebd. Zur „Tragödie der Moderne“ vgl. neuerdings auch Daniel Fulda: „Kein Mensch muss müssen“? Freiheit und Zwang in der Tragödie der Moderne. In: Daniel Fulda, Hartmut Rosa u. Heinz Thoma (Hg.): Freiheit und Zwang. Studien zu ihrer Interdependenz von der Aufklärung bis zur Gegenwart. München 2018 (Laboratorium Aufklärung, 32), S. 197–215.
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ziger Jahren des 18. Jahrhunderts Gestalt annimmt: Diese Thesen zu bekräftigen, ist die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung einiger ausgewählter dramatischer Werke, die uns ‚Parallel-Tragiker der Moderne‘ haben. ziger Jahren desdie18. Jahrhunderts Gestalt annimmt:hinterlassen Diese Thesen zu bekräftigen, ist die Aufgabe der vorliegenden Untersuchung einiger ausgewählter dramatischer Werke, die uns die ‚Parallel-Tragiker der Moderne‘ hinterlassen haben.
III. Forschungsperspektive, Vorgehensweise, Struktur und Aufbau der Untersuchung Vor dem Hintergrund ihrer Biographie wurden der italienische und der deutsche Dichter bisher in chronologischer Reihenfolge erwähnt – zuerst der zehn Jahre ältere Alfieri, darauf der jüngere Schiller. Die Studie nimmt allerdings vom deutschsprachigen Kulturraum ihren Ausgang und erweitert dann ihren Blickwinkel auf den italienischen. Schiller stellt daher den ersten Referenzautor der Untersuchung dar, und das bedingt auch die Reihenfolge der Kapitel innerhalb der zwei Hauptteile, in welche die Studie gegliedert ist. Vor der Folie von Plutarchs Viten verfährt die Auseinandersetzung mit Schillers und Alfieris ausgewählten Werken auch in unserem Rahmen in gewisser Hinsicht auf ‚parallelen Bahnen‘, sodass Querverweise auf den jeweils anderen Parallel-Autor und dessen Produktion in den einzelnen Kapiteln auf ein Minimum beschränkt wurden. Die Gegenüberstellung von Schiller und Alfieri ergibt sich in der Studie programmatisch aus der getrennten Analyse der Werke beider Autoren vor dem gemeinsamen historisch-kulturellen Hintergrund, den wir in den einführenden Kapiteln unter dem Titel „Koordinaten“ skizziert haben. In einem letzten Schritt wird allerdings die Tragfähigkeit der aufgestellten Thesen auch in einem direkten Vergleich zwischen zwei Meisterwerken aus Schillers und Alfieris Feder unter Beweis gestellt: Im letzten Kapitel des zweiten Hauptteils werden Schillers Wallenstein und Alfieris Saul vor dem Hintergrund der vorangegangenen Analyse direkt gegenübergestellt. Hier, bei der Auseinandersetzung mit der dargestellten Machtdämmerung dieser Protagonisten, wird versucht, die interpretatorische Fruchtbarkeit des in der Untersuchung vorgeschlagenen Ansatzes abschließend noch einmal zu zeigen. Der Ausgangspunkt unserer Analyse: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeitigt Schillers und Alfieris folgenreiche Begegnung mit dem ‚Nihilismus‘ – der Einsicht in die konstitutive Relativität aller Werte und die unüberwindbare Endlichkeit des Menschen – die moderne ‚heroische Moral‘, die dann viele Protagonisten beider Tragiker beseelt. Vor diesem Hintergrund ist auch das Tragische bei Schiller und Alfieri neu zu verstehen: Die vom Menschen heroisch erstrebte, ‚erhabene Größe‘ findet nicht mehr im Rahmen einer sinnvollen, göttlichen und/oder natürlichen Gesamtordnung statt, sondern sie deutet sich vielmehr als einmalige Leistung eines außerordentlichen Einzelnen, der bei der Umsetzung seines großen Plans auch die äußersten Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Willens und der menschlichen Freiheit am eigenen Leib erprobt. Dabei hat das Streben nach „erhabener Größe“ genau in ihrer Kehrseite ihren Ursprung – in dem Nichts, in dem das Leben jedes Einzelnen seinen Ursprung hat und in das jede Lebensform unvermeidlich mündet.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-004
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Struktur und Aufbau der Untersuchung Koordinaten
Wie sich rekonstruieren lässt, steht der Bruch mit den metaphysischen Postulaten des christlichen Abendlandes bereits am Anfang von Schillers und Alfieris dichterischer Laufbahn im knappen Jahrzehnt zwischen 1773 und 1782 – dabei deutlicher bei Alfieri; 1 scheinbar zögerlicher und doch offensichtlich auch beim frühen Schiller. 2 Der Bruch mit dem christlich-theologischen Welt- und Menschenbild leitet einen Paradigmenwechsel ein, bei dem der Mensch dazu berufen wird, mit ästhetischen Mitteln auch den Sinnhorizont schöpferisch zu gestalten, der früher metaphysisch sichergestellt war – die Prämissen für Nietzsches späteren Satz, nach dem die Kunst „die eigentlich metaphysisch[e] Thätigkeit des Menschen“ 3 darstellt, sind somit bereits hundert Jahre vor der Geburt der Tragödie im westlichen Abendland gegeben. 4 Und bei jenem modernen Primat des Ästhetischen über das Moralische, der sich bereits bei den Tragikern Schiller und Alfieri profiliert, wird das Erhabene nicht von ungefähr zur zentralen ästhetischen Kategorie. Zu bedenken dabei, dass ‚erhabene Größe‘ immanent nur unter der Bedingung zu erreichen ist, dass man über die erforderliche psychophysische Kraft verfügt. Der erste Hauptteil der Untersuchung ist einer allgemeinen Erörterung des hier kurz skizzierten Zusammenhangs bei Schiller und Alfieri gewidmet, einer Erörterung, die dann als fester Referenzrahmen für die Analyse der ausgewählten Werkpaare beider Tragiker im zweiten Hauptteil der Studie fungieren soll. In Absetzung zu den vorherrschenden Tendenzen der Forschung über beide Autoren wird hier auf blinde Flecken der geläufigen moralischen und politischen Ansätze aufmerksam gemacht und das Blickfeld auf den modernen ‚heroischen Nihilismus‘ erweitert, der in der ästhetischen Kategorie des Erhabenen seinen Fokus hat. In den sich mit dem jungen deutschen Mediziner und Dichter befassenden Kapiteln des ersten Hauptteils werden Schillers medizinische Dissertationen, die „philosophische Erzählung“ Der Spaziergang unter den Linden (1782), die Gedichte Freigeisterei aus L eidenschaft (1786) und Resignation (1786) sowie Schillers Philosophische Briefe (1786) behandelt. Die im letzten Kapitel anschließende Interpretation des 1
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Wie etwa der frühe, offensichtlich von Voltaire inspirierte Esquisse d u Jugement U niversel (1773) des Piemontesers zeigt (Vittorio Alfieri: Esquisse du jugement universel. Hg. v. Guido Santato. Firenze 2004) oder einige Abschnitte seines frühen, zunächst noch auf französisch verfassten Journal (Tagebuch) zu erkennen geben (Vittorio Alfieri: Giornali e annali. In: Ders.: Opere. Hg. v. Arnaldo Di Benedetto. Milano u. Napoli 1977. Bd. 1, S. 407–426). Wie schon die Geburt des „Monstrums“ Franz Moor in den Räubern (Uraufführung 1782) bezeugt – darauf kommen wir im Folgenden ausführlich zurück. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 24. In Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft heißt es: „Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können“, KSA 3, 464. Die allzu menschliche, Ordnung stiftende Kraft des Ästhetischen setzt sich einer als Chaos konzipierten Existenzgrundlage entgegen: „Der Gesammt-Charakter der Welt ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen“, KSA 3, 468.
Koordinaten Struktur und Aufbau der Untersuchung
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Franz Moor als Schillers erster moderner ‚erhabener Figur‘ führt zu einer radikalen Revision der inzwischen weit etablierten Interpretation von Schillers Erstlingsdrama Die R äuber (1781) als ‚Experiment des Universalhasses‘ hin. Die Alfieri gewidmeten Kapitel des ersten Hauptteils befassen sich hingegen mit den vom italienischen Dichter in den 1770er und 80er Jahren geschriebenen ‚moralischpolitischen‘ Traktaten Della tirannide und Del principe e delle lettere. Ausgehend von der vordergründigen, strikten Entgegensetzung zwischen ‚Tyrann‘ und liber’uomo bzw. ‚Schriftsteller‘ in Alfieris längeren Abhandlungen wird auch hier auf den eigentlichen Primat des Ästhetischen über das Politische und Moralische beim italienischen Dichter hingewiesen und schließlich die grundsätzliche Verwandtschaft zwischen den angeblichen Erzfeinden ‚Tyrann‘ und ‚Schriftsteller‘ vor dem Hintergrund ihres gemeinsamen ‚männlich-heroischen‘ Strebens nach ‚erhabener Größe‘ herausgearbeitet. Im zweiten Hauptteil werden in einzelnen Kapiteln Schillers und Alfieris sechs Dramen und Tragödien analysiert, die thematisch am engsten miteinander verknüpft sind: Das sind I.) die in der italienischen Renaissance spielenden Konspirationen Die Verschwörung des Fiesko zu Genua und La congiura de’ Pazzi; II.) die Bearbeitungen der „nouvelle historique“ Dom C arlos: Don K arlos und Filippo sowie III.) die Dramatisierungen der Geschichte von Maria Stuart: Maria St uart und Maria St uarda. Außerdem wird die letzte Konsequenz der kraft-basierten ‚heroischen Moral des Nihilismus‘ abschließend bei der pointierten vergleichenden Analyse zweier ‚großer‘ Männer und Kriegsführer und deren Verhältnis zu ihrer schwindenden Macht rekapituliert: IV.) Schillers Wallenstein und Alfieris Saul. Vor dem Hintergrund dessen, was in den einführenden Kapiteln sowie im ersten Hauptteil der Studie deutlich gemacht wurde, soll hier in der Auseinandersetzung mit Schillers und Alfieris tragischen Helden vor allem der Zusammenhang herausgearbeitet werden, der zwischen der Einsicht in die Endlichkeit des Menschen und einer heroischen, oft bis zur Machthybris gesteigerten existenziellen Selbstsinnstiftung besteht. Darüber hinaus soll im zweiten Hauptteil der Studie die enge Verbindung herausgestellt werden, die zwischen der männlich-heroischen Moral von Schillers und Alfieris Protagonisten und dem Künstlerischen und Theatralischen – ja Ästhetischen – besteht. Wie ausgeführt werden soll, gestaltet sich jedes erhabene Unternehmen, jede ‚große Tat‘ bei Schiller und Alfieri – sei es eine politische Verschwörung, der unerschrockene Kampf um die ‚Freiheit‘ oder gar derjenige um das nackte Überleben – auffällig wie ein zu realisierendes Kunstwerk, bei dem ‚Helden‘ und ‚Antihelden‘ nicht von ungefähr die Perspektive des Künstlers einnehmen und in ihrem Willen zum Erfolg nach ästhetischen Kriterien handeln. In diesem Sinne wird in unserem Rahmen etwa von der ‚Konspiration‘ als ‚Kunstwerk‘ die Rede sein – und außerdem von Alfieris Figuren Carlos und Posa als ‚Künstler‘ sowie von Alfieris Filippo als „Regisseur“. Der Kontrast zwischen einer aktiven, im Zeichen des ‚Männlich-Erhabenen‘ stehenden, selbstsinnstiftenden Moral des Nihilismus und einer passiven, mit dem ‚Weiblich-Schönen‘ korre-
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Struktur und Aufbau der Untersuchung Koordinaten
lierenden, eskapistischen Moral des Nihilismus – ein Kontrast, der Nietzsches Unterscheidung zwischen dem ‚tragisch-dionysischen Nihilismus der Stärke‘ und dem ‚romantischen Nihilismus der Schwäche‘ vorwegnimmt 5 – soll in der Auseinandersetzung mit Schillers Maria Stuart deutlich gemacht werden. Was insbesondere das Werk Schillers angeht, so soll unsere Analyse der späteren Dramen Wallenstein und Maria St uart letztlich auch auf das kritischere Bewusstsein des ‚klassischen‘ deutschen Dichters aufmerksam machen gegenüber einer ‚männlichaktiven‘, dabei allzu sehr auf das ‚große Individuum‘ zentrierten Moral des Nihilismus, bei der alles Soziale voreilig in den Hintergrund gerät. Wenn heutzutage die „Humanität der Weimarer Klassik“, wie in der jüngsten literaturwissenschaftlichen Forschung festgestellt wurde, „scheinbar kaum noch vor dem Schicksal gerettet werden kann, vollends zur gewichtig klingenden Leerformel zu verkommen“, 6 so mag man doch gerade in der Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Korrektur der forciert männlich-individualistischen Moral des modernen Nihilismus auch eines der programmatischen Ziele eines Kulturideals erkennen, mit dem sich auseinanderzusetzen auch die Postmoderne – kritisch und selbstkritisch – noch allen Grund hat.
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Vgl. neben Nietzsches Aphorismus „Was ist Romantik?“ in der Fröhlichen Wissenschaft (KSA 3, 619–622) auch folgende nachgelassenen Fragmente aus den Jahren 1885–1886: KSA 12, 111 sowie 350–352. Vgl. neuerdings Volker C. Dörr u. Michael Hofmann: Einleitung. In: Dies. (Hg.): „Verteufelt human“? Zum Humanitätsideal der Weimarer Klassik. Berlin 2008, S. 9–13, hier S. 9.
ERSTER TEIL Vom alteuropäischen Stoizismus zum modernen heroischen Nihilismus Das tragische Weltbild von Schiller und Alfieri
I. Lust, Tugend, Macht. Der frühe Schiller und die Rehabilitation der Sinnlichkeit 1. Kontinuitäten: Anthropologie und Unendlichkeit „Soviel wird, denke ich, einmal fest genug erwiesen seyn, daß das Universum das Werk eines unendlichen Verstandes sei und entworffen nach einem treflichen Plane“. 1 Mit diesen Worten beginnt die erhaltene Abschrift von Schillers erster medizinischer Dissertation Philosophie de r P hysiologie, die der Eleve im Herbst 1779 in lateinischer Fassung an der Karlsschule einreicht. Das allererste Unterkapitel der Schrift trägt den Titel „Bestimmung des Menschen“ und befasst sich somit programmatisch mit einem Thema, mit dem sich zahlreiche bedeutende Autoren der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland in ihren Werken auseinandersetzten – von Johann Joachim Spaldings Die Bestimmung des Menschen (1748) und Johann Melchior Goezes Gedancken ü ber d ie B etrachtung vo n d er B estimmung de s M enschen (1748), über Moses Mendelssohns Phaedon o der übe r di e Unsterblichkeit der Seele (1767) und Thomas Abbts Zweifel über die Bestimmung des Menschen (1767) bis hin zu Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte. 2 Schillers Argumentation ist an dieser Stelle klar nachvollziehbar: Das Universum stellt das Werk eines „unendlichen Verstandes“ dar; trotz seiner Endlichkeit und Begrenztheit bleibt der Mensch nicht ausgeschlossen von den Prinzipien, die jenen „treflichen Plan“ regeln – im Gegenteil: Dank göttlicher Fügung partizipiert der Mensch direkt an jenem „unendlichen Verstand“ und kann gerade in dieser Fähigkeit, die ihm eine besondere Stellung in der Schöpfung sichert, seine eigentliche ‚Bestimmung‘ finden. Daher soll der „Geist des Menschen“ (induktiv) „aus den einzelnen Wirkungen Ursach und Absicht, aus dem Zusammenhang der Ursachen und Absichten all den grosen Plan des Ganzen entdeken“, um endlich daraus den „Schöpfer“ selbst zu erkennen, „ihn [zu] lieben, ihn [zu] verherrlichen“. 3 Nicht 1 2
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NA 20, 10. Zur „Epochendebatte“ über die ‚Bestimmung des Menschen‘ in Deutschland vgl. Reinhard Brandt: Die Bestimmung des Menschen bei Kant. Hamburg 2007, insb. Kap 2: Die Bestimmung des Menschen – ein Thema der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Deutschland, speziell bei Kant, S. 57–138. Was insbesondere Kant anbelangt, hält Brandt Folgendes fest: „Es gibt keine Kantische Schrift mit dem Titel ‚Die Bestimmung des Menschen‘, und doch lässt sich gut dokumentieren, daß Kant selbst dieses Thema als das eigentliche Zentrum seiner Philosophie betrachtet“, S. 20. Vgl. außerdem Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 156–176; Raffaele Ciafardone: Die Philosophie der deutschen Aufklärung. Texte und Darstellung. Stuttgart 1990 (darin insb.: Norbert Hinske: „Die tragenden Grundideen der deutschen Aufklärung“, S. 407–458) sowie neulich Laura Anna Macor: Die Bestimmung des Menschen (1748–1800). Eine Begriffsgeschichte. StuttgartBad Cannstatt 2013. Zum „Anthropologische[n] Freiheitsdiskurs der Spätaufklärung“ vgl. Middel: Schiller und die Philosophische Anthropologie, S. 130–185. NA 20, 10.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-005
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Kontinuitäten: Anthropologie und Unendlichkeit Schiller und die Rehabilitation der Sinnlichkeit
für das, was jenes Werk an sich darstellt oder ihm bedeutet, soll der Mensch es erkennen, sondern als unmittelbare Widerspiegelung der Größe seines Schöpfers – denn je mehr er es erkennt, desto mehr kann er die ganze Welt mit dem Blick ihres Schöpfers selbst „umfassen“ und somit an seiner Größe teilhaben. Denn „Gottgleichheit“ – so Schillers prägnante Formulierung an dieser Stelle – „ist die Bestimmung des Menschen“. 4 Leichten Herzens wird hier zugegeben, dass wirkliche „Gottgleichheit“ auf Erden unerreichbar bleibt und bloß ein utopisches Ideal darstellt. Denn dies ändert gar nichts an der Zuversicht, mit welcher der Mensch vor dem Hintergrund seiner „Bestimmung“ seiner Zukunft entgegenblicken könne: „Unendlich zwar ist diß sein Ideal: aber der Geist ist ewig. Ewigkeit ist das Maas der Unendlichkeit, das heist, er wird ewig wachsen, aber es niemals erreichen“. 5 Der Optimismus dieser Konzeption entspringt offensichtlich nicht aus dem Glauben oder aus der Hoffnung, einmal tatsächlich wie Gott zu sein, sondern aus der dem menschlichen Geist uneingeschränkt gewährten Möglichkeit sowohl einer direkten Teilnahme am Göttlichen als auch einer unendlichen, sittlich bedingten, qualitativen Steigerung dieser Teilnahme. Mit anderen Worten: Wahre Freude, Glückseligkeit und Ergötzung entstehen hier nur in einem geordneten System der Teilhabe am göttlichen Weltplan, wo diese Partizipation – und das ist dabei das Entscheidende – immer auch die kollektive Teilnahme der menschlichen Gemeinschaft an jenem ewigen Fest der Schöpfung mit impliziert, in dem der Mensch sich als Krone und Endziel des Universums feiern kann. 6 In diesem Sinne nimmt der Mensch eine durchaus privilegierte Position in der von Gott erschaffenen Welt ein. Der Mensch ist da – wie Schiller schreibt –, „um glüklich zu seyn“, 7 und da „[e]in ewiges[,] ein großes, schönes Gesez [...] Vollkommenheit an Vergnügen, Mißvergnügen an Unvollkommenheit gebunden“ hat, 8 liegt es geradezu in der Ordnung der Dinge begründet, dass der Mensch stets nach dem Vollkommenen strebt, denn nur darin kann er letztlich seine Glückseligkeit finden. „[W]as ihn schmerzt, wird er meiden, was ihn ergötzt, darnach wird er ringen“ 9, so liest man in Schillers erster Dissertation weiter. Schließlich liefert der Eleve an dieser Stelle – und zwar sowohl in unmittelbarer Kontinuität mit den medizinischen, anthropologischen und psychologischen Theorien und Fragestellungen seiner Zeit als auch in direkter Übereinstimmung mit den metaphysischen Postula4 5 6
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Ebd. Ebd. Zur Metapher der „Scala naturae“ im 18. Jahrhundert vgl. Ulrike Zeuch: Die Scala naturae als Leitmetapher für eine statische und hierarchische Ordnungsidee der Naturgeschichte. In: Elena Agazzi (Hg.) in Zusammenarbeit mit Ulrike Zeuch: Tropen und Metaphern im Gelehrtendiskurs des 18. Jahrhunderts. Hamburg 2011, S. 25–32 (Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderband, 10). NA 20, 10. NA 20, 11. Ebd.
Schiller und dieAnthropologie Rehabilitationund derUnendlichkeit Sinnlichkeit Kontinuitäten:
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ten des christlichen Abendlandes 10 – eine „Philosophie der Physiologie“, in welcher die Beziehung zwischen Körper und Geist im menschlichen Organismus in Konformität mit dem traditionellen christlichen Weltbild und der entsprechenden Ethik gelöst wird. Die ganze Schöpfung hält hier fest zusammen – dafür sorgt die „Bande der allgemeinen Liebe“: Denn Liebe sei ja „der schönste, edelste Trieb in der Menschlichen Seele, die grose Kette der empfindenden Natur“. 11 Jedes Wesen erhält hier somit seinen strukturellen Sinn und gleichzeitig den prästabilierten Rahmen seiner potentiellen Steigerung im teleologisch geordneten Aufbau des Kosmos 12 – im Jahrhundert der Aufklärung ist das ein gemeinsam europäisches Credo, das in der Metapher der „großen Kette der Wesen“ 13 in Alexander Popes berühmtem Essay on M an (1733/34) womöglich seinen poetischen Höhepunkt erreicht: Vast Chain of Being! which from God began, Natures aethereal, human, angel, man, Beast, bird, fish, insect! what no eye can see, No glass can reach! from Infinite to thee, From thee to Nothing! 14
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Vgl. dazu Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller (insb. Erster Teil: „‚Philosophie und Arzneiwissenschaft‘. Schiller und die medizinische Anthropologie seiner Zeit“, S. 1–59) sowie Alt: Schiller. Bd. I, S. 135–166. Grundlegendes zum Anthropologie-Verständnis im 18. Jahrhundert fasst Carsten Zelle zusammen: Anthropologisches Wissen in der Aufklärung. In: Michael Hofmann (Hg): Aufklärung. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2013, S. 191– 208. Zum „Dreischritt von Geschichtstheologie, Geschichtsphilosophie und Geschichtsskepsis“ in Schillers Geschichtsdenken in den zwei Jahrzehnten vor und nach 1789 vgl. Wolfgang Riedel: „Weltgeschichte ein erhabenes Object“. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Hg. v. Peter-André Alt, Alexander Košenina, Hartmut Reinhardt u. Wolfgang Riedel. Würzburg 2002, S. 193–214. NA 20, 11. Stoische und christliche Auffassungen sind hier eng miteinander verknüpft. In Bezug auf die Rede des Eleven Schiller Die Tugend, in ihren Folgen betrachtet (1780) schreibt Alt: „Neben die schottische Moralphilosophie und die Vollkommenheitslehre Mendelssohns rückt die stoische Ethik als drittes Gedankenelement in den Horizont der Rede“, Schiller. Bd. I, S. 106. Die Ursprünge für Schillers Rezeption stoischen Gedankenguts liegen in Jacob Friedrich Abels Lehre der „Seelenstärke“ oder „firmitas animi“: Siehe Wolfgang Riedels Kommentar zu Abels Rede aus dem Jahr 1777 „Seelenstärke ist Herrschaft über sich selbst“, in: Abel: Eine Quellenedition zum Philosophieunterricht an der Stuttgarter Karlsschule (1773–1782), S. 570– 575. Vgl. dazu außerdem: Trinidad Piñeiro Costas: Schillers Begriff des Erhabenen in der Tradition der Stoa und Rhetorik. Frankfurt a.M. u.a. 2006, hier insb. S. 52–59 sowie 69–78. Vgl. Alt: Schiller. Bd. I, S. 108–110. Vgl. außerdem das Standardwerk zu diesem Thema: Arthur O. Lovejoy: The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea. Cambridge 1936 sowie neuerdings: Schings: Klassik in Zeiten der Revolution, S. 80–86. Bei Schings ist hier nicht nur von der „Great chain of Being“ die Rede, sondern auch eindrucksvoll von einer „Great chain of h uman r ights“, an deren Existenz der Universalhistoriker Schiller geglaubt habe, ebd., S. 149f. Alexander Pope: An Essay on Man. Hg. v. Maynard Mack. 4. Aufl. London u. New Haven 1982 (The Twickenham Edition of the Poems of Alexander Pope, Bd. III/1), S. 44f. Vgl. dazu auch Hans-Jürgen Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses. „Die
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Kontinuitäten: Anthropologie und Unendlichkeit Schiller und die Rehabilitation der Sinnlichkeit
In seinem narrative p oem hält Pope die innere Geschlossenheit des Weltplans sowie die verschiedenen Stufen fest, welche die Wesen in ihrer Steigerung zur Vollkommenheit durchlaufen. Nicht als letztes Glied der Wesenskette erhält der Mensch seine privilegierte Stelle im Universum, sondern gerade in seiner mittleren Position, die seiner ‚doppelten‘ Natur entspricht – als „zweydeutig Mittelding von Engeln und von Vieh“, wie Albrecht von Haller 1734 schreibt –, 15 und ihm stets die Möglichkeit der Vervollkommnung gewährt. „One truth is clear, ‚Whatever is, is right‘“, 16 liest man noch in Popes Lehrgedicht – und das ist nur zu konsequent: Die Trias, die aus Gutem, Wahrem und Schönem besteht, 17 bleibt geschlossen im Hintergrund der optimistischen Weltanschauung, die hier in aller Deutlichkeit in Erscheinung tritt, und lässt Popes Essay on Man folgerichtig in eine allgemeine Rechtfertigung alles Seienden münden. Vor dem philosophisch-theologischen Hintergrund, der hier skizziert wurde, ist auch das Werk des jungen Friedrich Schiller zu interpretieren. Das gilt nicht nur für seine erste medizinische Schrift, sondern auch für seine frühen Gedichte sowie für die Festreden des Eleven an der Karlsschule. 18 Immer wieder, kaum könnte es anders sein, begegnet man in diesen Texten Begriffen und Topoi, die im direkten Zusammenhang mit den moralischen, anthropologischen und philosophischen Diskursen der Aufklärung stehen 19 – Diskurse, welche die Schiller-Forschung der letzten Jahrzehnte, ausgehend von den literaturanthropologischen Studien von Hans-Jürgen Schings und Wolfgang Riedel, minutiös rekonstruiert hat. 20 Nicht von
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Räuber“ im Kontext von Schillers Jugendphilosophie (I). In: Jahrbuch des Wiener GoetheVereins 84/85 (1980/1981), S. 71–95, hier S. 77f. sowie Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 116–118. Albrecht von Haller: Über den Ursprung des Übels. In: Ders.: Die Alpen und andere Gedichte. Hg. v. Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 1984, S. 62 (v. 106). Pope: An Essay on Man, S. 51. Vgl. dazu auch das erste Kapitel von Schillers „Theosophie des Julius“ mit dem Titel „Die Welt und das denkende Wesen“ (NA 20, 115–117). Davon wird im Folgenden noch ausführlicher die Rede sein. Neue Einblicke in den (insbesondere philosophischen) Unterricht an der Karlsschule gewährt neuerdings die Habilitationsschrift von Alice Stašková: Friedrich Schillers philosophischer Stil. Logik – Rhetorik – Ästhetik (2015, noch nicht erschienen). Vgl. darin Kap. II: „Die Karlsschule als Schule des Denkens“ sowie Kap. III: „Sprachen und Stile der Karlsschule“. Zum „anthropologischen Diskurs“ und den „anthropologiebasierte[n] Argumentationsfiguren“ in der Spätaufklärung vgl. Rainer Godel: Vorurteil – Anthropologie – Literatur. Der Vorurteilsdiskurs als Modus der Selbstaufklärung im 18. Jahrhundert. Berlin 2007 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 33), S. 41–92. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977; Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Würzburg 1985; Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992. Stuttgart u. Weimar 1994. Zum germanistischen Forschungsparadigma der ‚literarischen Anthropologie‘ bzw. ‚anthropologischen Wende‘ im 18. Jahrhundert vgl. außerdem Wolfgang Riedel: Anthropologie und Literatur in der deutschen Spätaufklärung. In: IASL, Sonderheft: Forschungsreferate 6/3. (1994), S. 93–157; Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Ralph Häfner: Richtungen und Tendenzen in der deutschen Aufklärungsforschung. In: Das achtzehnte
Schiller und dieAnthropologie Rehabilitationund derUnendlichkeit Sinnlichkeit Kontinuitäten:
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ungefähr steht die Tugend, ja das „Wesen der Tugend“ 21 im Mittelpunkt von Schillers Festreden zu Ehren der Reichsgräfin Franziska von Hohenheim, in welchen die Lebensgefährtin des Herzogs von Württenberg Carl Eugen als „Freundin der Menschen“ 22 und als Personifikation der Tugend schlechthin gefeiert wird. „Was ist also das Wesen der Tugend?“, fragt der Eleve in der ersten Rede aus dem Jahr 1779 und antwortet dabei emphatisch: „Nichts anders als Liebe zur Glükseeligkeit, geleitet durch den Verstand – Tugend ist das harmonische Band von Liebe und Weißheit!“. 23 In der zweiten Festrede Die T ugend i n i hren Folgen be trachtet (1780) betont Schiller außerdem die transitive Eigenschaft der Tugend, die unausweichlich zur „Glükseeligkeit des Ganzen“ führt: Diß alles kurz zusammengefast, können wir sagen: Derjenige Zustand eines denkenden Geists, durch welchen e r am f ähigsten w ird, G eister v ollkommener z u m achen, und durch V ervollkommung derselben selbst glükseelig zu seyn, dieser Zustand wäre die Tugend. 24
Ein roter Faden zieht sich von Schillers ersten Gedichten Der A bend (1776) und Die Eroberer (1777), noch in Klopstocks Manier verfasst, über die „Laura“-Oden, die Hymne Der Triumph der Liebe und das Gedicht Die Freundschaft der Anthologie auf das Jahr 1782 bis hin zur Ode An die Freude (1785). Den theoretischen Höhepunkt dieser optimistischen Weltanschauung, in der sich viele der bedeutendsten philosophischen und anthropologischen Tendenzen, Spekulationen und Überzeugungen des Jahrhunderts der Aufklärung widerspiegeln, stellt die 1786 in den Philosophischen B riefen veröffentlichte „Theosophie des Julius“ dar, welche die Forschung gerne getrennt von dem literarischen und fiktionalen Rahmen, in den sie eingebettet ist, als „das eigentliche philosophische Glaubensbekenntnis des jungen Sch[iller]“ 25 betrachtet hat. Lohnend ist hier zunächst einmal, einen kurzen Blick auf diese Schrift gerade aus dieser in der Forschung am häufigsten vertretenen Perspektive zu werfen – um diese dann im nächsten Abschnitt umzukehren.
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Jahrhundert 19 (1995), S. 163–171; Manfred Beetz, Jörn Garber u. Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen 2007; Alexander Košenina: Literarische Anthropologie. Die Neuentdeckung des Menschen. Berlin 2008. Zur „anthropologischen Wende der Spätaufklärung“ in der germanistischen Forschung der letzten Jahrzehnte vgl. auch Robert: Vor der Klassik, S. 55–61. Nicht ohne Interesse ist dabei folgende Anmerkung zum ‚Kurs‘ der literarischen Anthropologie in der heutigen Forschung: „Die Tatsache, dass die Anthropologie inzwischen Lehrbuchstatus erreicht hat, dürfte den Abschluss der heroischen Epoche ihrer Erforschung bezeichnen“, ebd., S. 55. NA 20, 4 sowie 35. NA 20, 9. NA 20, 4. NA 20, 31. So beispielsweise der Kommentar der älteren Ausgabe von Schillers sämtlichen Werken (auf Grund der Originaldrucke herausgegeben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 31962. Bd. V, S. 1088). Auf diese und ähnliche Positionen der Forschung, bei denen das ‚Sentimentalische‘ an der ‚Philosophie der Liebe‘ beim „jungen Schiller“ (doch welche Jahre meint man dabei genau?) unterbelichtet bleibt, kommen wir im Folgenden ausführlich zurück.
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Kontinuitäten: Anthropologie und Unendlichkeit Schiller und die Rehabilitation der Sinnlichkeit
Die Parallelen zu den bereits erwähnten Werken des frühen Schiller sind in der „Theosophie des Julius“ nicht zu übersehen. Wenn der Eleve seine erste medizinische Dissertation mit den Worten begonnen hatte, „das Universum [ist] das Werk eines unendlichen Verstandes“, so eröffnet Julius seine Schrift mit dem gleichbedeutenden Satz „Das Universum ist ein Gedanke Gottes“ – ein „idealische[s] Geistesbild“, das „in die Wirklichkeit“ hinüber getreten sei. 26 Julius weitere Betrachtungen stellen sich offensichtlich in eine Kontinuitätslinie mit den Theorien, auf welche die moderne Wissenschaft im 17. Jahrhundert gegründet wird und die hier stets als implizites Referenzsystem fungieren. In seiner „Theosophie“ übernimmt und bekräftigt Julius den cartesianischen Dualismus von res cogitans und res extensa, in welchem die Schöpfung als Emanation und Verwirklichung eines ursprünglichen Gedankens verstanden wird. 27 Diesen ‚ursprünglichen Gedanken‘ könne der Mensch, der ja selbst ein „denkendes Wesen“ darstellt, „rückwärts“ rekonstruieren, indem er allmählich das allgemeine „Gesez in dem Phänomen“ zu erschließen lerne. 28 Bereits vor Descartes – um hier nur ein weiteres Beispiel zu nennen – geht auch Galileo Galilei (1564–1642) prinzipiell von der Trennung von Welt und Denken aus und erkennt dem letzteren, entsprechend der „antikchristliche[n] Auffassung von der Inferiorität der sinnlichen Welt“, 29 den Primat zu. 30 In seiner Schrift Il Saggiatore (1623) behauptet der italienische Physiker und Astronom zur Bekräftigung seiner mathematisch basierten Erkenntnismethode, dass die wahre „Philosophie“ in dem „großen Buch“ des Universums niedergeschrieben sei und dass man dieses Buch erst lesen könne, wenn man mit der „Sprache“ und den „Zeichen“ vertraut wird, in denen es geschrieben ist. 31 Ähnlich 26 27
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NA 20, 115. Zur ‚dualistischen Anthropologie‘ im 15. und 16. Jahrhundert sowie zur Entstehung einer „neuen Anthropologie“ in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vgl. resümierend Zelle: Anthropologisches Wissen in der Aufklärung, S. 192–194. Vgl. dazu auch neuerdings: Wolfgang Riedel: Unort der Sehnsucht. Vom Schreiben über Natur. Ein Bericht. Berlin 2017 (darin insb.: Kap. 3: Wider den Dualismus, S. 30–46). NA 20, 115. Panajotis Kondylis: Das Politische im 20. Jahrhundert. Von den Utopien zur Globalisierung. Heidelberg 2001, S. 58. „Galileis Gott schafft“ – wie Kondylis betont – „eine Welt, die ein treues Bild seines eigenen Denkens bildet, und dies führt wiederum zur Feststellung der engen Verwandtschaft zwischen göttlichem und menschlichem Intellekt, da auch dieser höchster Intensität fähig ist, wenn auch seine Extensität hinter jener des göttlichen Geistes zurückbleiben muß“, Kondylis: Metaphysikkritik, S. 181. Es stimmt zwar, dass Galileis „Mathematisierung der Welt“ schließlich auch „deren automatische ontologische Aufwertung“ bedeutet (ebd., S. 180); wahr ist aber, dass Galilei „freilich den Dualismus von Gott und Welt bzw. von Geist und Materie an[nimmt], da er für selbstverständlich hält, daß Schöpfer und Gesetzgeber einer geometrisch strukturierten Welt nur ein göttlicher Geometer sein kann“, ebd. „Sig. Sarsi, la cosa non istà così. La filosofia è scritta in questo grandissimo libro che continuamente ci sta aperto innanzi a gli occhi (io dico l’universo), ma non si può intendere se prima non s’impara a intender la lingua, e conoscer i caratteri, ne’ quali è scritto. Egli è scritto in lingua matematica, e i caratteri son triangoli, cerchi, ed altre figure geometriche, senza i quali mezi è impossibile a intenderne umanamente parola; senza questi è un aggirarsi vanamente per
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schreibt Schillers Julius in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, dass „die Gesetze der Natur“ die „Chiffern“ darstellten, die „das denkende Wesen zusammenfügt, sich dem denkenden Wesen verständlich zu machen“ – sie seien das „Alphabet, vermittelst dessen alle Geister mit dem vollkommensten Geist und mit sich selbst unterhandeln“. 32 Wenn einerseits das Universum für Julius als Emanation aus dem unveränderlichen, vollkommenen, göttlichen Einen zu verstehen ist, so benennt die „Theosophie“ andererseits auch das universelle Prinzip, das als „das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung“ die einzelnen „denkenden Wesen“ wie ein „allmächtige[r] Magnet“ zu einer geschlossenen Gemeinschaft zusammenfügt 33 – es lautet: Liebe. „Liebe“ stellt hier die gleichsam natürliche und metaphysische Anziehungskraft dar, welche die „Verwechslung der Wesen“ 34 erst möglich macht, die Grundvoraussetzung zum „Umarmen der ganzen Natur“. 35 Wie treffend bemerkt wurde, spiegeln sich in dieser Auffassung nicht zuletzt Naturgesetze und -phänomene wider, die im 17. und 18. Jahrhundert beschrieben werden und die den Blick des Menschen auf die Natur neu bestimmen – etwa das elektrostatische Kraft-AbstandGesetz (Charles Augustin de Coulomb), Isaac Newtons Gravitationsgesetz sowie William Harveys Entdeckung des Blutkreislaufes. 36 Doch stellt „Liebe“ für Julius auch noch jene göttliche Kraft dar, von der bereits Dante Alighieri im allerletzten Vers des Paradies-Abschnittes seiner Göttlichen K omödie nicht von ungefähr geschrieben hatte, sie bewege „die Sonne und die anderen Sterne“ 37 – eine optimistische Konzeption, welche die Aufklärung offensichtlich noch durchaus mit dem christlichen Mittelalter teilt. Das Universum als Gedanke Gottes; die Verwandtschaft des Menschen als ‚vernünftig empfindendes Wesen‘ mit dem Schöpfer; „Liebe“ als das universelle
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un oscuro laberinto“, Galileo Galilei: Il Saggiatore. In: Le opere di Galielo Galilei. Nuova ristampa della edizione nazionale. Firenze 1968. Bd. VI, 197–372, hier S. 232. NA 20, 116. Wie treffend bemerkt wurde, formuliert die „Theosophie“ „einen Glauben an die Lesbarkeit jener ‚große(n) Zusammensetzung, die wir Welt nennen‘. Gott spricht die Symbolsprache der Mathematik. Das Buch der Natur ist ein schwieriger und ‚chiffrierter‘, aber doch lesbarer Text; er dient der Kommunikation nicht der Geheimhaltung“, Robert: Vor der Klassik, S. 173. Zur „Lehre von der Konventionalität der Zeichen“ in Schillers Philosophischen B riefen vgl. auch Alice Stašková: Schillers philosophische Prosa und die Sprachen der Karlsschule. In: Peter-André Alt u. Marcel Lepper (Hg.): Schillers Europa. Berlin u. Boston 2017, S. 75–87. NA 20, 19. Ebd. NA 20, 121. So liest man in Schillers „Theosophie des Julius“: „Eine neue Erfahrung in diesem Reiche der Wahrheit, die Gravitation, der entdeckte Umlauf des Blutes, das Natursystem des Linnäus, heißen mir ursprünglich eben das, was eine Antike, in Herkulanum hervorgegraben – beides nur Widerschein eines Geistes, neue Bekanntschaft mit einem mir ähnlichen Wesen“, NA 20, 116. Vgl. dazu Alexander Košenina: Philosophische Briefe (1786). In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 359–364, hier S. 362. „L’amor che move il sole e l’altre stelle“, Paradiso XXXIII, v. 145. In: Dantis Aligherii Comedia. Edizione critica per cura di Federico Sanguineti. Firenze 2001, S. 562.
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Kontinuitäten: Anthropologie und Unendlichkeit Schiller und die Rehabilitation der Sinnlichkeit
Band, das die ‚beseelte Schöpfung‘ vereint; und schließlich: „Gottesgleichheit“ als „Bestimmung des Menschen“: Diese Grundgedanken, auf die sich die „Theosophie des Julius“ stützt, setzen ein Leben im Jenseits nach christlichem Glauben voraus, ein Leben, das die Grenzen des physischen Daseins transzendiert. Es kann kein Zweifel bestehen: Die „Unsterblichkeit der Seele ist conditio sine qua non ihres transzendenten Auftrags“. 38 Wenn „Gottesgleichheit“ die Bestimmung des Menschen darstellt, dann wird dieses menschliche Ideal notwendigerweise ins Unendliche projiziert. Die offensichtliche Unmöglichkeit, das Ziel dieser ‚Bestimmung‘ im Diesseits zu erreichen, stellt hier keinen zureichenden Grund für den Menschen dar, um den Lebensmut zu verlieren. Ganz im Gegenteil, denn der ‚Geist‘ des Menschen ist bei dieser Lebensauffassung konstitutiv nicht dem Zahn der Zeit ausgesetzt – „der Geist ist ewig“, wie Schiller bereits in seiner Philosophie de r Physiologie lapidar festgehalten hatte. 39
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Wolfgang Riedel: Die Aufklärung und das Unbewußte. Die Inversionen des Franz Moor. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 198–220, hier S. 201. NA 20, 10.
2. Diskontinuitäten: Anthropologie und Endlichkeit Die bisher erwähnten Werke aus der Feder des frühen Schiller teilen durchaus, zumindest vordergründig, die philosophischen und theologischen Prämissen, auf welchen die „Theosophie des Julius“ in den Philosophischen Briefen basiert. Das ist nicht weiter verwunderlich: Schließlich sind jene Prämissen nicht nur für die metaphysische Anthropologie der zeitgenössischen Popularphilosophie maßgeblich, sondern sie bestimmen das allgemeine kulturelle Referenzsystem des christlichen Abendlandes selbst mit, ja sie stellen den gegebenen kulturellen Hintergrund dar, vor dem sich jeglicher anthropologische Diskurs im Kontext der europäischen Aufklärung – einschließlich des materialistischen „Discurs über den Geist des Menschen“ 1 – entfaltet. Auch in seiner ‚Theosophie des Julius‘ bietet der frühe Dichter viel allgemeines Gedankengut seiner Zeit. Indes lohnt es sich danach zu fragen, welche Bedeutung dieser „Theosophie“ tatsächlich in Schillers Frühwerk zuzusprechen ist. Denn das bisher Gesagte zeichnet zwar ein zutreffendes, doch sicherlich nur partielles Bild von Schillers frühem Schaffen im Zeichen des metaphysischen Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele. Bedeutende Werke aus derselben Zeit – von Schillers dritter Dissertation Versuch über de n Z usammenhang de r t hierischen Natur de s M enschen m it s einer ge istigen (1780) über das Erstlingsdrama Die R äuber (1781) und die „philosophische Erzählung“ Der S paziergang unter den Linden (1782) bis hin zu den Gedichten Freigeisterei aus Leidenschaft (1786) und Resignation (1786) – setzen jedoch offensichtlich, und vor eben demselben kulturellen Hintergrund, der hier kurz skizziert wurde, deutlich andere Akzente. Diese Werke weisen darauf hin, dass Schillers Glaube an die Unsterblichkeit der Seele bereits in den Jahren vor den Philosophischen B riefen nicht unerschütterlich war oder zumindest dass dieser Glaube schon zu dieser Zeit nicht akritisch übernommen und mit reflektiert wurde. Wenn mit der Forschung angenommen wird, dass „die Theosophie als authentisches Zeugnis für den Denkstil des jungen Schiller gelten [darf]“, 2 so ist dabei jedenfalls zu ergänzen, dass mehrere Passagen aus den oben erwähnten Werken auf nicht weniger authentische Weise Zeugnis ablegen von Schillers kritischer Überprüfung und grundlegender Problematisierung der Thesen und Überzeugungen, die in der „Theosophie des Julius“ Ausdruck finden. 3 1
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So lautet Johann Christoph Gottscheds deutsche Übertragung des Titels von Claude Adrien Helvétius’ Abhandlung De l ’esprit (Paris 1758): Discurs über den Geist des Menschen. Aus dem Französischen des Herrn Helvétius. Mit einer Vorrede Herrn Joh. Christoph Gottscheds. Leipzig u. Liegnitz 1760. Alt: Schiller. Bd. I, S. 243. Wissenswertes fasst Jürgen Daiber zusammen (Figuren des Skeptizismus in der Anthropologie des jungen Schiller, S. 51–68), der dabei allerdings Schillers „Skeptizismusexperimente“ reduktiv als „Exerzitien der inneren Reinigung, Katharsisübungen“ auffasst, deren Zweck es gewesen sei, „über das radikale Ausagieren philosophischer Zweifel zu anderen Größen vorzustoßen“, S. 67.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-006
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Diskontinuitäten: undSinnlichkeit Endlichkeit Schiller und die Anthropologie Rehabilitation der
Wenn Schillers erste Dissertation Philosophie de r P hysiologie in Kontinuität mit der „rationalen Psychologie“ 4 bleibt und richtungsweisend mit der hier schon erwähnten metaphysischen „Theorie der Seele“ ansetzt, nimmt der junge Mediziner in seinem Versuch übe r de n Z usammenhang de r t hierischen N atur de s M enschen mit seiner geistigen, in deutlicher Abgrenzung von den bedeutendsten medizinischen Lehren seiner Zeit, doch in klarer Übereinstimmung mit der empiristisch orientierten Doktrin seiner Lehrer an der Stuttgarter Karlsakademie, 5 „einen regelrechten methodischen Paradigmenwechsel vor“, 6 der die traditionell benachteiligte „thierische Natur des Menschen“ nun in den Mittelpunkt stellt, um ein anthropologisches Gleichgewicht zwischen beiden ‚Naturen‘ des Menschen wiederherzustellen sowie ihren komplementären Charakter zu bekräftigen. So liest man in der Einleitung von Schillers dritter Dissertation: Da […] gewöhnlicher Weise mehr darinn gefehlt worden ist, daß man zu viel auf die eigene Rechnung der Geisteskraft, in so fern sie ausser Abhängigkeit von dem Körper gedacht wird, mit Hintansetzung dieses leztern geschrieben hat, so wird sich gegenwärtiger Versuch mehr damit beschäftigen, den merkwürdigen Beitrag des Körpers zu den Aktionen der Seele, den grossen und reellen Einfluß des thierischen Empfindungssystemes auf das Geistige in ein helleres Licht zu sezen. 7
Genauso programmatisch wie die Seele im Mittelpunkt der ersten Dissertation stand, steht hier der Körper und sein Einfluss auf den Geist im Fokus von Schillers Aufmerksamkeit. 8 Die „Tätigkeit der menschlichen Seele ist“ – wie man weiter in der Schrift liest – „an die Thätigkeit der Materie gebunden“, 9 und das Ziel von Schillers „Versuch“ ist es gerade, den „Zusammenhang“, ja die gleichberechtigte Wechselwirkung zwischen beiden Teilen der menschlichen Natur zu beschreiben. Die allgemeinen „Geseze“, die der junge Mediziner aus seinen Beobachtungen der wechselseitigen Beeinflussung von Körper und Geist formuliert, lauten wie folgt: „Geistige Lu st h at j ederzeit e ine t hierische Lu st, g eistige U nlust j ederzeit e ine thierische Un lust z ur B egleiterin“ 10 und „die al lgemeine E mpfindung t hierischer Harmonie [ ist] die Q uelle g eistiger Lu st, u nd d ie t hierische U nlust d ie Q uelle geistiger U nlust“. 11 Die philosophische und theologische Tragweite der hier formulierten „Gesetze“ wird in der Schrift nicht thematisiert, dennoch bleibt sie nicht ohne Folgen, wie gleich noch zu sehen sein wird. Denn die wechselseitige Beeinflussung und Abhängigkeit von tierischer und geistiger Natur, die Schiller in seiner 4 5 6 7 8 9 10 11
Vgl. Riedel: Die anthropologische Wende, S. 44. Vgl. Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 17–59. Dazu auch Daiber: Figuren des Skeptizismus in der Anthropologie des jungen Schiller, S. 59–61. Riedel: Die anthropologische Wende, S. 44. NA 20, 40f. Wie treffend bemerkt wurde, „betreibt“ nun Schiller „ganz im Stile der Zeit, empirische Psychologie und Anthropologie ‚von unten‘“, Riedel: Die anthropologische Wende, S. 44. NA 20, 42. NA 20, 57. NA 20, 63.
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dritten Dissertation beobachtet und beschreibt, bringt letztlich den ‚Geist‘ um nichts weniger als um jene absolute Freiheit und Autonomie, die diesem die christlich-platonische Weltanschauung zuerkannt hatte. 12 Es ist der einst absolut freie und autonome ‚Geist‘ selbst, der schließlich die Prämissen der eigenen Freiheit und Autonomie durch logische Beobachtung in Frage stellt 13 – auch ein zentraler Punkt, auf den zurückzukommen sein wird. Vor dem Hintergrund des zeitgenössischen medizinisch-anthropologischen Diskurses an der Karlsakademie lässt der junge Mediziner den engen Zusammenhang zwischen geistiger und tierischer Natur des Menschen in eine „anthropologische Polarität“ 14 münden, in der das eine Moment ausschließlich in seinem Verhältnis der Gegensätzlichkeit mit dem anderen seinen Sinn bekommt. Die Kapitel 10 „Aus der Geschichte des Individuums“ und 11 „Aus der Geschichte des Menschengeschlechts“ von Schillers Versuch über den Z usammenhang weisen deutlich darauf hin, dass die Wechselbeziehung zwischen Körper und Geist nicht nur die existenzielle Laufbahn des Einzelnen bedingt, sondern auch die Progression – und die Regression gleichermaßen – der menschlichen Kultur determiniert. Denn auch die Kultur wird hier als ein Organismus betrachtet, der dieselben Entwicklungsstufen aller organischen Wesen durchläuft. Gerade im Kapitel 11 seiner Dissertation wirft Schiller einen ‚gewagten‘ „Blick über die Universalgeschichte des ganzen menschlichen Geschlechts“ 15 und bedient sich dabei einer ‚genealogischen Methode‘, die nicht nur marginal an Helvétius’ Abhandlung De l’homme, de ses facultés intellectuelles et de son éducation (1772) erinnert. Genauso wie Helvétius betrachtet der Eleve hier die verschiedenen Etappen der Menschheitsgeschichte vor dem Hintergrund der materiellen 12
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Ernüchtert und ernüchternd stellt der junge Mediziner in seiner dritten Dissertation fest, dass „Zerrüttungen im Körper […] das ganze System der moralischen Empfindungen in Unordnung bringen [können]“ (NA 20, 65). Zu Recht hat Panajotis Kondylis (Die Entstehung der Dialektik, S. 26f.) unterstrichen, dass sich der frühe Schiller „dessen bewußt [war], dass eine Gefährdung der Annahme von der Freiheit des Willens, durch Betonung des maßgebenden Einflusses der Sinnlichkeit auf denselben, der Rede von Moral jede Grundlage entziehen würde“. Daher habe er in seinen medizinisch-philosophischen Abhandlungen unablässig danach gestrebt, seine Aussagen zur Verflechtung von Sinnlichem und Geistigem „möglichst zu relativieren“ – was nicht ohne logische Widersprüche erfolgt sei: „Die Bindungen des Geistes an die Materie“ würden hier „nur in dem Maße akzeptiert, wie die Freiheit außer Gefahr bleibt“ (ebd., S. 27). In unserem Rahmen sind wir weniger darum bemüht, die logische Stichhaltigkeit von Schillers Versuchen, Freiheit und Sinnlichkeit in Einklang zu bringen, zu überprüfen als darum, die prinzipielle Bedeutung der hinter Schillers Versuchen steckenden Frage der Rehabilitation der Sinnlichkeit ins rechte Licht zu rücken. Das wird Friedrich Nietzsche im 19. Jahrhundert an der Stelle deutlich erkennen, wo er nicht von ungefähr die Entstehung des Nihilismus („als d er nothwendigen C onsequenz d er bisherigen Werthschätzungen“) mit der christlichen Moral in direkten Zusammenhang bringen wird, Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 109. In einem weiteren nachgelassenen Fragment aus dem Herbst 1886 heißt es: „Der Untergang des Christenthums — an seiner Moral (die unablösbar ist — ) welche sich gegen den christlichen Gott wendet“, ebd., KSA 12, 125f. Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 21. NA 20, 53.
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Bedürfnisse, die der Mensch „von seiner Wiege an bis zu seinem männlichen Alter“ 16 zu befriedigen hatte. Dabei stehen Mangel und Dürftigkeit deutlich am Anfang jeglicher menschlichen Tätigkeit: „Hunger und Blösse haben den Menschen zuerst zum Jäger, Fischer, Viehirten, Akermann und Baumeister gemacht. Wollust stiftete Familien, und Wehrlosigkeit der Einzelnen zog Horden zusammen“. 17 „Hier schon die ersten Wurzeln der geselligen Pflichten“ 18 – so fährt Schiller fort: Auch das, was eine Gesellschaft für ‚tugendhaft‘ erklärt, was für sie Lob und Tadel verdient, ist nicht metaphysisch festgelegt, sondern hat offensichtlich menschliche (allzu menschliche) Gründe. Die gängige medizinische Theorie des „Animismus“ Georg Ernst Stahls umkehrend, die besagt, dass es – um es mit einem bekannten Zitat aus Schillers Wallenstein auszudrücken – „der Geist“ ist, der „sich den Körper baut“, 19 schreibt Schiller an dieser Stelle, dass es in der Universalgeschichte des menschlichen Geschlechts der Körper war, der den Geist „zwang“, „auf die Erscheinungen um ihn her zu achten“; 20 ja, es war der Körper, der dem Geist „die Welt interessant und wichtig [machte], weil er sie ihm unentbehrlich machte“. 21 Nicht nur vollzieht Schiller in seiner Schrift eine bemerkenswerte Umkehrung der traditionellen Perspektive, indem er den Zusammenhang der tierischen und geistigen Natur des Menschen vom Körper her rekonstruiert, sondern er unterstreicht auch nachdrücklich die Bedeutung dieser Umkehrung, indem er die von ihm erreichten, überraschenden Ergebnisse explizit in einer Textpassage darlegt: „Wir wollten den rechtmäßigen Genuß der Sinnlichkeit auf die Vollkommenheit der Seele zurükführen, und wie wunderbar drehte sich der Stof unter unsern Händen!“. 22 Wenn man vom Körper ausgeht, so zeigt die Geschichte des Menschengeschlechts, dass auch ein moralisch dubioses „Uebermaaß“, ja der „Mißbrauch“ der Sinnlichkeit den „Realitäten der Menschheit“ 23 förderlich sein kann. Die Interaktion von Körper und Geist 24 determiniert die existenzielle Laufbahn des Menschen und seiner Geschichte, und die Menschheit lernt gleichermaßen auch aus den Katastrophen, die sie durchleben muss. Es ist schließlich kein Zufall, dass Schiller an zwei Stellen des Kapitels das ‚Ausarten‘ –„in Luxus“, „in 16 17 18 19 20 21 22 23 24
Ebd. Ebd. Ebd. NA 8 N II, 687. NA 20, 54. Ebd. NA 20, 56. Ebd. So gesehen ist auch die in der Forschung angenommene „Schillersche Wette“ („das wollen wir doch einmal sehen, wer wen über den Tisch zieht, der Geist den Körper oder der Körper den Geist!“, Safranski: Friedrich Schiller, S. 13) gegenstandslos: Formuliert wird diese ‚Wette‘ in der Forschung weiterhin vom traditionellen Blickwinkel einer strikten Entgegensetzung zwischen Körper und Geist heraus; schon ab Schillers dritter Dissertation ziehen sich Körper und Geist allerdings nicht gegenseitig über den Tisch: Wenn sie dann überhaupt ‚ziehen‘, so ‚ziehen‘ sie eher vereint an einem Strang.
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Weichlichkeit und Schwelgerei“ 25 – als stets latentes Risiko, wenn nicht gar als natürliche Notwendigkeit, hervorhebt. Hinter dem Optimismus gegenüber der unendlichen Progression der menschlichen Gattung steckt hier offensichtlich das Bewusstsein, dass jeder Organismus auch einem unvermeidlichen Prozess des Kräfteverfalls und der Dekadenz ausgesetzt ist. Die anthropologische Polarität von Körper und Geist, die den Fortschritt letztlich von der dem Menschen zur Verfügung stehenden Kraft abhängig macht, impliziert notwendigerweise die Dekadenz und den Tod als komplementäres Moment des Kräfteverfalls. Konsequent durchdacht, kann der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele dabei keinen Platz mehr finden. „Der Mensch“, so liest man noch am Ende des „Aus der Geschichte des Menschengeschlechts“ betitelten Kapitels von Schillers Schrift, „mußte Thier seyn, eh er wußte daß er ein Geist war, er mußte am Staube kriechen, eh er den Newtonischen Flug durchs Universum wagte“. 26 Der Geist wird hier „prinzipiell als eingebunden“ in die „Funktionskreise physiologischer Prozesse“ verstanden, wie bemerkt wurde, 27 und das bleibt nicht ohne Folgen auch für Schillers weitere Werke. Erst vor dem hier beschriebenen Hintergrund, und eben nicht ausgehend von der optimistischen „Theosophie des Julius“, bekommen auch düstere Motive wie Vergänglichkeit, melancholische Resignation und Tod ihren eigentlichen Sinn in Schillers Frühwerk. Wenn der junge Schiller schon von seiner dritten Dissertation an seinen „‚anthropologischen‘, medizinisch geprägten und das heißt realistisch ernüchterten Blick auf den Menschen […] nie wieder preisgegeben hat“, 28 so tut man gut daran, sich in der Beschäftigung mit dem Frühwerk des Dichters auf die durchaus folgenreichen Implikationen zu konzentrieren, die jener ‚ernüchterte Blick‘ mit sich führte – Implikationen, die manche Figur aus Schillers frühen Werken in aller Deutlichkeit widerspiegelt. Von den Protagonisten der kleineren Werke, die Schiller Anfang der achtziger Jahre verfasst, verdient Wollmar – die Figur, die mit Edwin im Zentrum der philosophischen Erzählung Der Spaziergang unter den Linden (1782) 29 steht – besondere Aufmerksamkeit. In einer „Einsiedelei“, zurückgezogen von der betäubenden Welt der täglichen Geschäfte, die keine Zeit für ‚philosophische Gespräche‘ übrig lässt, leben zwei Freunde, die entgegengesetzte Lebenseinstellungen vertreten. Der „glückliche“ Edwin führt seine Existenz in Eintracht mit der Ordnung der Welt und schlürft gierig und sorgenlos an dem „Becher der Freude“, 30 den ihm die „aufgeheiterte“ Natur reicht. Wollmar, dem „trübere[n]“ Spaziergänger, ist dagegen jeder Zugang zum freudenreichen Fest des Lebens versperrt. Das Bewusstsein, dass sich Freude und Genuss in dem präzisen Augenblick selbst ausschöpfen, da 25 26 27 28 29 30
NA 20, 55. NA 20, 56. Riedel: Die anthropologische Wende, S. 44. Ebd. Alt: Schiller, Bd. I, S. 239–242. NA 22, 74.
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sie gekostet werden, ja dass sie genauso vergänglich sind wie die Existenz selbst, macht ihm letztlich die Teilnahme am Bankett des Lebens zuwider – einem Bankett, in dem er nicht von ungefähr nur eine „Tafel des Todes“ zu sehen vermag. 31 Es leuchtet ein: Auch vom ‚Becher der Freude‘ kann man sich leicht angewidert fühlen, wenn darin eine Spinne ist. 32 Wollmars Bild der Spinne im Becher der Freude könnte nicht prägnanter sein: In jedem Genuss ist schon das grauenerregende Moment des Vergehens enthalten, vor dem man nur Ekel zu empfinden vermag. Denn Blühen und Welken sind nichts als die unzertrennlichen Phasen eines notwendigen Lebensprozesses. Wollmar ist sich darüber klar, dass Edwin, gleich Werther im berühmten Brief vom 10. Mai, nur das erste Moment, das freudige, fruchtbare Moment des Blühens, wahrnimmt – oder wahrhaben will. 33 Die Natur, die Edwin als „ein rotwangigtes Mädchen an seinem Brauttag“ sieht, 34 ist für Wollmar indes auch schon jene „abgelegte Matrone“, die in ihrem mehrfach getragenen „Sonntagsaufputz“ ihre Kinder verführt und ihnen – indem sie sich verschwenderisch gibt – auch den Tod reicht, um sich dann aus ihren „Gebeinen“ neue „Schminke“ zu „kochen“. 35 Über die Natur und ihre Ordnung äußert Wollmar unmissverständliche Worte: Es ist ein unflätiges Ungeheuer, das von seinem eigenen Kot, viele tausendmal aufgewärmt, sich mästet, seine Lumpen in neue Stoffe zusammenflickt, und groß tut, und sie zu Markte trägt, und wieder zusammenreißt in garstige Lumpen. 36
Das ist zu diesem Zeitpunkt, im Jahre 1782, noch ganz in der ausdrucksvollen Sprache des Franz von Moor gesagt, wie noch zu sehen sein wird. Die hier gewählten, besonders ausdrucksstarken Formulierungen sollen allerdings auch die emotionale Nähe und Intensität vermitteln, mit denen Schillers Figur der Frage der Endlichkeit begegnet. Alle Lebewesen, keines ausgenommen, sind wohl dem von Wollmar beschriebenen Schicksal ausgesetzt – diejenigen, die schon waren, jetzt sind oder sein werden. Das ist die verzweifelte „Generationskette“, 37 die alle Wesen miteinander verbindet – eine ‚Kette der Wesen‘ der besonderen Art, die in Wollmars Äußerungen nun jede metaphysische Komponente verloren hat und ganz im Zeichen eines diesseitigen gemeinsamen „Grabmal[s]“ steht. 38 Hatte Goethes
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Ebd. Ebd. Tatsächlich stellt die Natur hier „einen Projektionsraum der Subjektivität“ wie in Goethes Werther dar: Vgl. Wolfgang Riedels Kommentar in der Ausgabe von Schillers sämtlichen Werken in 5 Bänden, auf der Grundlage der Textedition v. Herbert G. Göpfert, hg. v. PeterAndre Alt, Albert Meier u. Wolfgang Riedel. München 2004. Bd. V, S. 1182. NA 22, 74. Ebd. NA 22, 74f. Vgl. Alt: Schiller. Bd. I, S. 239. NA 22, 75.
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Werther nicht bereits von der Natur als von einem „ewig verschlingende[n], ewig wiederkäuende[n] Ungeheuer“ gesprochen? 39 „Sehen Sie, Edwin! Das Schicksal der Seele ist in die Materie geschrieben“ 40 – so ruft Wollmar aus und bringt damit auch den philosophischen Hintergrund seiner existenziellen Verzweiflung deutlich zum Ausdruck. In dieser Verzweiflung spiegelt sich die Situation jenes Menschen paradigmatisch wider, der sich nach der Erkenntnis des ‚Schicksals der Seele‘ am Scheideweg sieht: Entweder ist er selbst fähig, ja stark genug, dieser Erkenntnis zum Trotz dem eigenen Leben einen Sinn zu geben, oder er ist dazu verdammt, ohnmächtig in jeder Lebensäußerung nur die Sinnlosigkeit des Ganzen zu sehen. Es ist daher irreführend, Wollmar als „materialistisch denkenden Skeptiker“ 41 zu definieren und seinen ‚Skeptizismus‘ als logische Konsequenz seiner metaphysikfeindlichen Haltung abzutun. Denn mit den folgenschweren Konsequenzen des verlorenen Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele muss sich nicht nur die materialistische Menschenlehre französischer Prägung messen, sondern auch die Anthropologie des jungen Schiller – insbesondere ab der dritten Dissertation, die sich eben mit dem ‚Zusammenhang der tierischen und der geistigen Natur des Menschen‘ befasst. Vor dem Hintergrund der dritten Dissertation ist auch die Figur des Wollmar genau zu betrachten. Dabei wird klar, dass auch Wollmars ‚Lebenspessimismus‘ nicht einfach als Folge seines Atheismus und angeblichen Materialismus, sondern prinzipiell als Symptom einer existenziellen Machtlosigkeit zu verstehen ist. Nicht weil Wollmar an keine metaphysische Rechtfertigung des Daseins mehr glaubt, ist er zum ‚Pessimisten‘ geworden – schließlich glaubt auch Edwin nicht an das Leben im Jenseits, wie gleich zu sehen sein wird. Wollmars verzweifelter Pessimismus entsteht aus seiner Unfähigkeit, mit der Erkenntnis über das vorgezeichnete Schicksal der nunmehr an den Körper gefesselten Seele konstruktiv umzugehen. Hier, im Werk des jungen Schiller, begegnen wir einer Figur, die sich darüber klar geworden ist, dass der Mensch endlich und die Werte relativ sind. Wir begegnen hier somit einem ‚Nihilisten‘, der offensichtlich nicht über die Kraft verfügt, um eine neue männlich-heroische Moral auf seine schmerzvolle Erkenntnis zu gründen. Edwin hat daher gut reden, wenn er rhetorisch fragt: Und soll ich darum das Veilchen unter die Füße treten, weil ich die Rose nicht erlangen kann? Oder soll ich diesen Maitag verlieren, weil ein Gewitter ihn verfinstern kann? Ich schöpfe Heiterkeit unter der wolkenlosen Bläue, die mir hernach seine stürmische Langeweile verkürzt. Soll ich die Blume nicht brechen, weil sie morgen nicht mehr riechen wird? Ich werfe sie weg, wenn sie welk ist, und pflücke ihre junge Schwester, die schon reizend aus der Knospe bricht. – – 42
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Goethe: Die Leiden des jungen Werther, MA I.2, 240. NA 22, 76. Alt: Schiller. Bd. I, S. 239. NA 22, 78.
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Indes weiß Wollmar, der seine Laura „verloren“ hat, dass nicht alles, was in der Natur zur Verfügung steht, einfach austauschbar ist. Seine Laura, die wie eine Blume „welk“ geworden ist, kann er nicht einfach wegwerfen und mit einer ihrer „jüngeren Schwestern“ ersetzen – mit Lauras Seele, die schon das Schicksal des endlichen Körpers geteilt hat, ist auch ihre wahrste Identität endgültig verloren gegangen. Nicht auf Grund eines erlittenen Todesfalls – nicht bloß wegen negativer „Erfahrungen der Leidenschaft“ 43 ist Wollmar zum Pessimisten, ja Nihilisten geworden, sondern aus dem Bewusstsein heraus, dass sich jede einzelne Empfindung, wie schließlich jede einzelne Identität, in den Gezeiten der Sensationen unwiederbringlich verliert: Jeder Tropfe Zeit ist eine Sterbeminute der Freuden, jeder wehende Staub der Leichenstein einer begrabenen Wonne. Auf jeden Punkt im ewigen Universum hat der Tod sein monarchisches Siegel gedrückt. Auf jeden Atomen lese ich die trostlose Aufschrift: Vergangen! 44
Der Tod stellt hier eine endgültige, unüberwindbare, tyrannische Grenze dar. Freiheit und Endlichkeit des Menschen sind entgegengesetzte Pole, wobei sich der Pol ‚Endlichkeit‘ am Ende doch als mächtiger erweist. Indes vertritt Edwin in Schillers Spaziergang ebenfalls keine metaphysische Weltanschauung. Der lakonische Spruch, den er Wollmars pessimistischnihilistischer Lebenseinstellung entgegensetzt und der seine hedonistische Weltanschauung am Besten zusammenfasst, lautet: „[W]enn sie auch die Insel verfehlt, so ist doch die Fahrt nicht verloren“. 45 Am Ende formulieren beide Figuren, wie in der Forschung bemerkt wurde, „eine Absage an teleologische Ordnungsmuster“; 46 „beiden Positionen gemeinsam bleibt der Zweifel an der Substanz aufgeklärten Fortschrittsglaubens“. 47 Doch stellt sich dabei die Frage, wie die unterschiedlichen Einstellungen der Figuren zu erklären sind: Wenn weder Edwin noch Wollmar an eine metaphysische Rechtfertigung des Daseins glauben; ja wenn Edwin die Freuden, die ihm während der ‚Fahrt‘ seines Lebens gegönnt werden, sorgenlos genießt, während Wollmar nur Ekel vor dem Leben zu empfinden vermag, seitdem er die ‚Spinne‘ der Sinnlosigkeit im ‚Becher der Lebensfreude‘ wahrgenommen hat – wovon hängt der evidente Unterschied ihrer Weltanschauungen ab? Wie ist die Polarität von „Melancholie (‚Resignation‘)“ und „Enthusiasmus“ zu erklären, die allgemein in den „stereotypen Figuren in Schillers frühen ‚weltanschaulichen‘ Texten“ erkannt wurde? 48 Eindeutig ist diese Frage hier nicht zu beantworten, und dennoch gibt der Text ein Indiz, das zumindest eine Vermutung in eine bestimmte 43 44 45 46 47 48
Alt: Schiller. Bd. I, S. 240. NA 22, 78. Ebd. Alt: Schiller. Bd. I, S. 240. Ebd. Vgl. Jörg Robert: Selbstbetrug und Selbstbewusstsein. Demetrius oder das Spiel der Identitäten. In: Ders. (Hg.): Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Würzburg 2007, S. 113–141, hier S. 136 (Fn.).
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Richtung rechtfertigt. Schon in der ersten längeren Passage des Dialogs wendet sich Wollmar an einen ideellen „jungen Menschen“ und fragt dabei rhetorisch: „Junger Mensch, weißt du wohl auch, in welcher Gesellschaft du vielleicht itzo spazierest? Dachtest du je, dass dieses unendliche Rund das Grabmal deiner Ahnen ist […]?“. 49 Der „junge Mensch“, der hier geduzt wird, ist wohl nicht mit Edwin zu identifizieren, denn beide Freunde reden sich einander im ganzen Dialog mit Sie an. In seinem Gespräch mit Edwin fragt Wollmar einen fiktiven „jungen Menschen“, ob er auch, das heißt wie er selbst, das wisse, was Wollmar wohl aus eigener Erfahrung gelernt hat. Auffällig ist, dass Wollmar während des Spaziergangs die Figur darstellt, die den Dialog argumentativ führt – dabei erscheint er als derjenige, der von den beiden Protagonisten mehr Lebenserfahrung besitzt. Und schließlich deutet auch die Hinwendung an einen ‚jungen Menschen‘ auf einen erfahrenen Sprecher hin, denn wenn Wollmar selbst jung wäre, würde er wahrscheinlich seine rhetorischen Fragen nicht an einen „jungen Menschen“ stellen. Auf den Altersunterschied zwischen den Sprechern weist aber auch die Pointe von Schillers ‚philosophischer Erzählung‘ hin: Auf Edwins enthusiastische Erinnerung an den ersten Kuss, den ihm seine Juliette an einer bestimmten Linde gegeben habe, antwortet Wollmar, wie die ‚Regieanweisung‘ besagt, „heftig davongehend“: „Junger Mensch! Unter dieser Linde hab ich meine Laura verloren!“. 50 Mit diesen bewegten Worten endet zunächst der Dialog – „Fortsetzungen“ werden lediglich in Aussicht gestellt. 51 Aus diesen Elementen lässt sich schließen, dass Edwins (noch) optimistische Lebenseinstellung im Zusammenhang mit seinem jungen Alter steht und dass auch Wollmar womöglich Edwins hedonistischen Optimismus einmal teilte, als er noch im Besitz seiner Laura war. Andererseits deutet der mögliche Altersunterschied zwischen Edwin und Wollmar viel prinzipieller auch auf einen physischen Kräfteunterschied hin, der schließlich, trotz der gemeinsamen philosophischen Prämissen, eine unterschiedliche Lebenseinstellung rechtfertigt. Nicht nur deswegen, weil Edwin noch keine traurigen Erfahrungen gemacht hat, kann er seiner Zukunft optimistischer entgegenblicken als Wollmar, sondern auch und vielmehr deswegen, weil er noch über die notwendige Kraft verfügt, um der eigenen Existenz einen Sinn zu geben – und wäre das nur ein hedonistischer Sinn. Auch wenn es sich dabei um einen Zufall handeln sollte, so ist es ein bemerkenswerter Befund, dass zwei durch einen großen Altersunterschied gekennzeichnete, dabei entgegengesetzte Lebensauffassungen vertretende Figuren im Zentrum des Ende Oktober 1782 ebenfalls im Wirtembergischen Repertorium veröffentlichten Dialogs Der J üngling und de r G reis stehen. 52 Im „Jüngling“ Selim spiegelt 49 50 51 52
NA 22, 75. NA 22, 78. Ebd. Die 1782 veröffentlichten Dialogerzählungen Der S paziergang unter den Linden und Der Jüngling und der Greis stehen am Beginn von Schillers „narrative[m] Werk“, vgl. Alt: Schiller.
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sich jenes unaufhaltsame Streben nach Taten, samt ‚titanischem‘ Gestus, der jüngeren Sturm-und-Drang-Generation wider, das in den Worten des „Greisen“ Almar aber schon eine erste Kritik erfährt: „Deine eitle Wünsche, glaub es einem Greisen, sind nicht in dir entsprossen, und ein Traum wird dich verzehren“. 53 Das endlose Streben, das Selim gerade als wahre „Bestimmung“ seiner Natur auffasst, und die „geheime Stimme“, die ihn „nach unbekannten dunklen Szenen“ ruft, 54 erscheinen Almar in ihrer jugendlichen Grenzenlosigkeit geradezu als unangemessen. Doch ist Selim nicht bereit, sich mit Almars Argumenten auseinanderzusetzen – Almars „Moral“ bringt er dagegen in Zusammenhang mit seinem fortgeschrittenen Alter, besser gesagt, mit Almars zurückgehender Lebenskraft, und macht sie somit nur von einer physiologischen Determinante abhängig: Selim. Eine Moral, die ich oft gehört habe, die aber allein für dich passet, in deiner sich neigenden Natur entspringt […]. Du bückst dich nicht mehr nach der Blume, weil deine Nerven starr worden sind. Du wähnst dich glücklich, weil du es nicht mehr in einem hohen Grade sein kannst. 55
Entsprechend dem physiologischen Denkschema setzt Selim auch seine weitere Argumentation fort. Kraftvolles Streben und friedvolle Entspannung – die Polarität von „Verselbstung“ und „Entselbstigung“, die der junge Goethe in den Figuren des Prometheus und des Ganymed darstellte 56 – werden hier fast didaktisch als die gegensätzlichen Momente präsentiert, die einander im Laufe einer Existenz ohne metaphysische Bestimmung im Zeitfluss ablösen. So ist es nur konsequent, dass auch der ‚titanische‘ Selim zugibt, „Minuten“ zu kennen, in denen sein „Geist stillen Gewässern gleichet“: „[K]ein wohltätiger Wind vermag das drückende Gleichgewicht auseinanderzuschaukeln; der Puls der Natur macht eine Pause, gekrümmt über mich selbst winde ich mich rastlos wie einer, der im Grab erwacht […]; ich vegetiere in einem hohen Grade, ich schwelge“. 57 Es ist kein Paradox, wenn Selim das Streben nach Genuss, ja „die Ahndung, die Hoffnung des Genusses“, 58 höher preist als den Genuss selbst. Wenn man ein Ziel vor Augen hat, wird die ganze Lebenskraft dazu mobilisiert, jenes Ziel zu erreichen – jede Aktion bekommt dadurch einen Sinn, das Subjekt erfährt eine Steigerung seiner Lebenskräfte, es übt ‚Macht‘ aus und kann sich dabei gerade in der Ausübung seines Kraftpotentials als Individuum „fühlen“. Das Gegenteil geschieht, wenn man genießt –
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Bd. I, S. 475f. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass sich die Form des Dialogs „besonders auf heiklem theologischen Terrain“ empfahl, „wo es um Glaubenszweifel und skeptische Einwände geht“, Košenina: Philosophische Briefe, S. 361. NA 22, 79. Ebd. NA 22, 79f. Vgl. dazu Giuliano Baioni: Introduzione. In: Johann Wolfgang Goethe: Inni. Hg. v. Giuliano Baioni. Torino 1967, S. 5–36 sowie Ders.: Il giovane Goethe, S. 97–101. NA 22, 80. Ebd.
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Selim selbst weiß das in Schillers Dialog mit bewunderungswürdiger psychologisch-anthropologischer Kompetenz deutlich darzulegen: „[D]ie Seele hört auf zu glühen, die Schwingen der Imagination sinken am Ziele; der Zauber verschwindet; der Tumult von Assoziationen macht der dringenden lauten Wirklichkeit Platz; die Seele ist dann am meisten leidend, und am wenigsten glücklich“. 59 Was Selim hier beschreibt, ist nichts anderes als die natürliche Depotenzierung, die das Subjekt im Moment des Genusses erfährt. Indem das Subjekt sich ‚gehen lässt‘, verzichtet es auf einen Teil seines Selbst – das Individuum erlebt dabei den Verlust der eigenen Lebenskräfte und ermattet. Im Strom der Sensationen verliert das Individuum schließlich sich selbst. Das ist der Zustand, den Selim lieber meiden möchte, auch wenn er – im Gegensatz zu dem, was ihm Almar vorwirft – sich nicht vor diesem Zustand „fürchte[t]“, 60 denn er glaubt, stark genug zu sein, um den Zirkel des Strebens immer wieder von vorne in Gang setzen zu können. Im Grunde genommen agiert Selim nicht, um sich Genuss zu verschaffen, sondern um eine existenzielle Leere durch Aktion zu füllen – im utopischen Glauben, seine „Laufbahn“ sei die „Ewigkeit“, 61 das heißt im Glauben, er könne das Streben ewig weiterführen. Doch legt der „Schwärmer“ und „Träumer“ Selim 62 gegen Ende des Dialogs nicht von ungefähr eine Ernüchterung an den Tag, die man eigentlich von ihm nicht erwarten würde. Almars Vorwurf, er verfolge ein „leeres Phantom“, widerspricht er nicht, sondern er erwidert lediglich, dass ohne jenes „Phantom“ alles Glück keinen Sinn habe, ja dass ohne jenes „Phantom“ „Elysium“ zum „Küchengarten“ herabsinke: „Wehe dem Frechen, der mit frevelnder Hand den Schleier wegzieht von diesem magischen Tumult. Er kommt dem Alter in diesem traurigen Vorrecht zuvor“. 63 Mit dem Bild des „Schleiers“ nimmt Schillers vitaler Jüngling Selim an dieser Stelle das Motiv des ‚Schleiers der Maja‘ vorweg, das im 19. Jahrhundert in Schopenhauers Philosophie und dann bei Nietzsche Karriere machen wird. Schon auf den ersten Seiten von Schopenhauers Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung liest man: [E]ndlich die uralte Weisheit der Inder spricht: „Es ist die Maja, der Schleier des Truges, welcher die Augen der Sterblichen umhüllt und sie eine Welt sehn läßt, von der man weder sagen kann, daß sie sei, noch auch, daß sie nicht sei: denn sie gleicht dem Traume, gleicht dem Sonnenglanz auf dem Sande, welchen der Wanderer von ferne für ein Wasser hält, oder auch dem hingeworfenen Strick, den er für eine Schlange ansieht“. 64
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Ebd. Ebd. NA 22, 81. Ebd. Ebd. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen. Darmstadt 1974. Bd. I, S. 37.
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Und doch – auch wenn Schillers Selim bereits den existenziellen Abgrund kennt, der sich hinter dem „Schleier“ verbirgt, hat er für existenziellen Pessimismus und Resignation (noch) nichts übrig. Für ihn soll sich nur der ‚Greis‘ um jenen Abgrund kümmern, denn schließlich steht er ihm ja physiologisch viel näher, ja er trägt ihn in einem gewissen Sinn schon in sich. Auch für Selim soll dagegen der Spruch von Edwin gelten, nach dem die „Fahrt“, oder der „Weg“, wie Selim selbst an dieser Stelle sagt, 65 nicht gleich verloren ist, wenn sie beziehungsweise er das Ziel verfehlt. Es mag dahingestellt bleiben, welcher Figur des Dialogs oder welcher damit geäußerten Position Schillers Sympathie eigentlich gilt. 66 Es genügt festzustellen, dass „Schiller am Beginn der 80er Jahre nur gebrochene Lösungen für einen Ausweg aus der Theodizee-Krise parat hat“ 67 und dass ein direkter Weg von den antimetaphysischen Positionen, die in den analysierten Werken von den unterschiedlichen Figuren vertreten werden, bis zu den Gedichten Freigeisterei d er Leidenschaft und Resignation führt, die in demselben Jahr der „Theosophie des Julius“ – doch argumentativ unter umgekehrtem Vorzeichen – erscheinen. Der Frage nach dem Verhältnis von Sinnlichkeit und Moralität, von Affekt und Selbstdisziplinierung – somit einer genuin aufklärerischen Frage widmet sich das Gedicht Freigeisterei d er L eidenschaft, in dem der innere Konflikt dargestellt wird, den die verpönte Liebe zu einer verheirateten Frau im lyrischen Ich auslöst. 68 Im Banne seiner erdrückenden Leidenschaft, ja seines heißen Verlangens nach Laura, stellt das lyrische Ich die Legitimität aller etablierten sittlichen Normen in Frage, welche die Erfüllung seines Liebesglücks verhindern. Kein Hehl wird im Gedicht vom durchaus privaten Charakter des dabei erstrebten ‚Glücks‘ gemacht: Jezt schlug sie laut, die heißerflehte Schäferstunde, jezt dämmerte mein Glük –– Erhörung zitterte auf deinem brennenden Munde, Erhörung schwamm in deinem feuchten Blick[.] 69
Indes gewinnen Bedenken ethischer Natur die Oberhand: „Mir schauerte vor dem so nahen Glüke“, setzt das Gedicht fort, „und ich errang es nicht“:
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NA 22, 81. Vgl. Alt: Schiller. Bd. I, S. 241. Ebd., S. 242. Vgl. dazu auch Daiber: Figuren des Skeptizismus, S. 61f.; Jutta Heinz: Freunde, Freundschaft, Beschäftigung – Zur Poetologie der Gefühle in Schillers Lyrik. In: Klaus Manger (Hg.): Der ganze Schiller – Programm ästhetischer Erziehung. Heidelberg 2006, S. 233–250, hier S. 241f.; Piñeiro Costas: Schillers Begriff des Erhabenen, S. 66 sowie neuerdings das Kapitel „Von der Religion zur menschlichen Natur. Freigeisterei d er L eidenschaft“ in: Cordula Burtscher: Glaube und Furcht. Religion und Religionskritik bei Schiller. Würzburg 2014, S. 91–98. NA 1, 164.
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Vor deiner Gottheit taumelte mein Muth zurüke, ich Rasender! und ich errang es nicht! 70
Die philosophisch-theologische Frage, die das Gedicht aufwirft, ist klar: So lange das Glück des Individuums unzertrennlich mit der gesellschaftlichen Dimension verbunden bleibt; so lange das persönliche Glück dem allgemeinen Wohl untergeordnet wird; ja so lange die „Liebe“ als das kollektive „Band“ aufgefasst wird, das alle Wesen zusammenhält, und die „Freude“ als das natürliche Gefühl, das dem kollektiven Fest des Menschen unter Menschen entspringt – und genau diesem Gefühl ist Schillers Ode An die Freude gewidmet –, besteht für das etablierte soziale System keine Gefahr. 71 Das ist hier der entscheidende Punkt. In dem Moment hingegen, da das Recht des Einzelnen auf Liebe, Freude und Glück durch eine unterschiedliche Akzentsetzung in den Vordergrund gestellt wird, droht auch die soziale Ordnung der Gesellschaft bis in ihre Grundlagen erschüttert zu werden. Das sozial Destabilisierende am Individuellen stellt gerade das dar, was in Freigeisterei der Leidenschaft vor Augen geführt wird: Das abstrakte „Band der Liebe“ nimmt hier für das lyrische Ich nicht von ungefähr die ganz konkrete Form eines persönlichen Liebesobjekts an, so dass jede an soziale Rücksicht mahnende Norm einerseits als bloß konventioneller „Gebrauch“ 72 latent delegitimiert, andererseits als willkürlich gelegtes Hindernis zur eigenen als durchaus legitim empfundenen Glückserfüllung, ja Lustbefriedigung wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund verwandelt sich der traditionelle ‚Gott der Liebe‘, der „Allgut[e]“, 73 dem als Garanten der universellen Ordnung die höchste Huldigung gebührt, leicht in sein Gegenbild, nämlich in einen schadenfrohen „Nero“, der mit den eigenen „Paradiesen“ „wuchert“ und der „mit blutendem Entsagen“ zu bestechen ist. 74 Allerdings wird dies alles an dieser Stelle aus der Perspektive desjenigen beschrieben, der offensichtlich zu keiner Entsagung bereit ist. Das lyrische Ich von Freigeisterei d er L eidenschaft kennt keine ‚Resignation‘ im Sinne einer theologisch-mystischen resignatio, das heißt der zuversichtlichen Ergebung des eigenen Willens in den Willen Gottes. Wer dagegen, aber gleichwohl nicht aus selbstlosen Gründen, auf eine jenseitige Instanz der Gerechtigkeit gesetzt, ja gehofft hat und nun ihre metaphysischen Ansprüche gegenüber der „Richterin“ und „Vergelterin“ „Ewigkeit“ erhebt, ist die verstorbene Seele, die in Schillers Gedicht Resignation 75 auf der „Schauerbrücke“ 70 71 72 73 74 75
Ebd. Dazu grundlegende Reflexionen bei Kondylis: Der Philosoph und die Lust, S. 11–34. NA 1, 165. Ebd. Ebd. Zu Schillers „doppelter Beurteilung der Religion bzw. des Christentums“ vgl. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, S. 39f. Gerade der „unmittelbar[e] Umschlag“ von Schillers „persönliche[n] Empfindungen in Räsonnement“, ja der Mangel an „klassische[r] Bändigung“ in diesem Gedicht – ein Mangel, der, wie in der Forschung bemerkt wurde, „aus heutiger Sicht“ gewisse Zweifel am „poetischen Wert des Gedichts“ aufsteigen lassen mag (Michael Hofmann: Resignation (1786).
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steht, auf der ihr überirdisches Schicksal entschieden wird. 76 In dem Moment, da diese Seele ihren durch bittere Entsagung aller diesseitigen Freuden gewonnenen ‚Wechsel‘ zum metaphysischen Inkasso einreicht – „Vergelterin, ich fodre meinen Lohn“ 77 –, muss sie von einem unsichtbaren „Genius“ vernehmen, dass der „Vollmachtbrief zum Glüke“, 78 den sie im irdischen Leben in blinder Hoffnung auf metaphysische Belohnung unversehrt gehalten hat, nun nach dem Tod der Materie keinen Tauschwert besitzt, sondern den Inhalt s elbst ihres Glücks im irdischen Leben ausmachte: „Du hast gehoft, dein Lohn ist abgetragen / dein Glaube war dein zugewognes Glük“. 79 „Hofnung und Genuss“ 80 schließen in den Worten des Genius in Schillers Gedicht einander aus: „Genieße, wer nicht glauben kann“; „Wer glauben kann, entbehre“, lautet sein Fazit. 81 Ernüchtert muss die verstorbene Seele vernehmen, dass das „Weltgericht“, das am Ende des irdischen Lebens wahre ‚Gerechtigkeit‘ walten lassen sollte, eigentlich mit dem Lauf der „Weltgeschichte“ übereinstimmt. 82 Der Genius macht aber auch deutlich, dass die Seele, die auf eine überirdische Gerechtigkeit gehofft hat, in Wirklichkeit nicht betrogen wurde, denn das Glück, an dem sie im Leben teilhaben konnte, lag in ihrer Hoffnung selbst. „[W]as man von der Minute ausgeschlagen / gibt keine Ewigkeit zurük“, 83 lauten die letzten Verse des Gedichts: Hoffnung und Genuss sind damit gleichgestellte, diesseits gewandte Alternativen, die sich dem Menschen anbieten, um im irdischen Leben so „glücklich“ wie möglich zu werden. Denn auch derjenige, der nicht im Glauben an ein Jenseits „entbehren“ kann und sich lieber dem Genuss hingibt, wird nicht Teil eines absoluten Glücks, sondern unterwirft sich dem erbarmungslosen physiologischen Zirkel von Kraftsteigerung und Kraftverlust, bei dem der höchste Augenblick der Ekstase schon den entgegengesetzten Moment der Dekadenz einleitet. Auch hier gilt das lapidare Diktum von Schillers Julius: „Der jezige Augenblik ist das Grabmal aller vergangenen“. 84 In der Forschung wurde Schillers Kritik an der Tauschlogik des christlichen Erlösungsgedankens hervorgehoben, eine Kritik, die der Dichter noch 1794 in einer unveröffentlichten Verteidigung von Resignation nochmals bekräftigt. 85 Einmal
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In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 261f., hier S. 262) – stellt letztlich auch den Mehrwert dieses Gedichts dar als eines Zeitdokuments, das von Schillers Bewusstseinsgrad in Bezug auf das behandelte Thema klares Zeugnis ablegt. Vgl. dazu auch Wolfgang Riedel: Abschied von der Ewigkeit. Zu Schillers Resignation. In: Norbert Oellers (Hg.): Gedichte von Friedrich Schiller. Interpretationen. Stuttgart 1996, S. 51–63. NA 1, 166. NA 1, 168. NA 1, 166. NA 1, 168. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. NA 20, 112. Vgl. dazu Alt: Schiller. Bd. I, S. 251f.
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abgesehen von der irdischen und überirdischen Laufbahn der einzelnen Seele, zieht jene Alternative zwischen Hoffnung und Genuss, die sich dem Individuum ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in aller Deutlichkeit stellt und die der junge Schiller präzise registriert, gewiss gravierende Konsequenzen für das etablierte gesellschaftliche System nach sich. Schillers frühes Gedicht macht deutlich, dass beide Lebenseinstellungen, diejenige des ‚Hoffenden‘ wie diejenige des ‚Genießenden‘, auf egoistischem Kalkül basieren. Doch während der metaphysisch motivierte Verzicht auf diesseitige Freuden und Genüsse schließlich den egoistischen Trieb des Einzelnen zugunsten der ganzen Gesellschaft in Schranken hält, so kennt das Streben nach Genuss jenes Menschen, der „nicht glauben kann“, 86 im Prinzip nunmehr keine ethischen, sondern nur physische Grenzen, das heißt nur die Grenzen der eigenen Aufnahmekraft. Mit welchen Argumenten wird die Gesellschaft den Menschen, der an keine metaphysische Belohnung mehr glaubt, zu überzeugen versuchen, dass er mit Blick auf die Mitmenschen auf einen Teil seines Genusses verzichten soll, und zwar auch dann, wenn er sein Bedürfnis nach Genuss nicht ganz gestillt hat? Welches Autoritätsprinzip wird dieser Mensch anerkennen – vor welcher Autorität wird er Halt machen? Der Hinweis, dass das Versprechen auf überirdische Belohnung nicht zuletzt auch mit irdischer Macht zu tun hat – der Hinweis, dass hinter der „Weisung auf das andre Leben“ 87 auch allzu menschliche Interessen stecken, nämlich die Interessen der stärkeren Vertreter des etablierten Machtsystems, ist schon in Schillers Gedicht enthalten. Schon zu ihren Lebzeiten musste sich die ätherische Protagonistin von Resignation mit dem Hohn einer Welt konfrontiert sehen, für welche die „Ewigkeit“ nichts als eine „Lügnerin“ sei, die – „gedungen von Despoten“ – bloße „Schatten“ für „Wahrheit“ ausgebe: Die durch bitteren Verzicht gewonnene „Schuldverschreibung“ laute ja „an die Todten“ 88 – wohl zur Freude der privilegierten sozialen Schichten im Diesseits. Was geschieht, wenn der vorhin ins Jenseits projizierte und damit in Schranken gehaltene Egoismus des Einzelnen sich im Diesseits als legitimes Streben nach Glück des Individuums durchsetzt? Auf diese zentrale Frage, die schließlich die Möglichkeit des Zusammenlebens ohne einen metaphysischen Halt betrifft, wird in der Analyse von Schillers Räubern zurückzukommen sein.
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NA 1, 168. NA 1, 167. Ebd.
3. Schillers Philosophische Briefe und das Gespenst des Nihilismus Im bisher Gesagten wurde versucht, die andere Seite jener „Philosophie der Liebe“ in Schillers Frühwerk zu umreißen, die – als opinio communis in der Forschung – mit der in den Philosophischen B riefen (erst 1786) publizierten „Theosophie des Julius“ ihren Höhepunkt erreicht. In Schillers Œuvre wird die „Theosophie“ als „sachlich […] den späten Karlsschuljahren“ zugeordnet; vor dem Hintergrund der behandelten Themen und Überzeugungen wird angenommen, dass sie „wohl […] bereits 1779/80“ verfasst wurde 1 – also vor Schillers dritter Dissertation, die zumindest in nuce ganz andere philosophisch-anthropologische Szenarien eröffnet als diejenigen der traditionellen „Liebesphilosophie“. 2 Es gibt gute Gründe zur Annahme, dass Schiller selbst den Ideen der „Theosophie des Julius“ angehangen habe. 3 Die „Theosophie“ pauschal als „eine Spiegelung der Schillerschen Jugendphilosophie“ 4 zu bezeichnen, mag allerdings irreführen. Denn die entscheidende Frage ist hier nicht, ob der junge, „aus einem pietistischen Elternhaus stammend[e]“ und „im Klima des schwäbischen Pietismus“ groß gewordene Schiller 5 je das metaphysische Credo seines Julius geteilt, sondern vielmehr, wann er von dieser optimistischen „Jugendphilosophie“ Abschied nahm, in dessen Mittelpunkt die Liebe als der „allmächtige Magnet in der Geisterwelt“ 6 steht: bereits Ende der 1770er Jahre? Oder Mitte der 1780er Jahre, zur Zeit der Veröffentlichung der Philosophischen Briefe? 7 Erst in den 1790er Jahre gar, zur Zeit seiner Begegnung mit der Philosophie Kants? 8 Auch ist man gut beraten, den Text von Schillers „Theosophie des Julius“ nicht isoliert als ein in sich geschlossenes Ganzes in den 1 2
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Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 199. Wie Wolfgang Riedel als Herausgeber der 2004 erschienenen Neuausgabe von Schillers sämtlichen Werken in fünf Bänden im Kommentar schreibt, zeige auch ein Brief aus dem Jahr 1783 an den späteren Schwager Friedrich Hermann Reinwald den jungen Autor bereits „auf dem Weg zur Psychologisierung der Liebesmetaphysik“, Bd. V, S. 1183–1193, hier S. 1184. Ebd. Vgl. den entsprechenden Kommentar in der Nationalausgabe von Schillers Werken, NA 21, 160. Lothar Pikulik: Der Dramatiker als Psychologe. Figur und Zuschauer in Schillers Dramen und Dramentheorie. Paderborn 2004, S. 41. NA 20, 119. Vgl. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 207. Wie man bei Rüdiger Safranski liest: „An [der] Liebesphilosophie als Abwehrzauber gegen den nihilistischen Materialismus wird Schiller festhalten bis in die achtziger Jahre, als er, vom Glück der Freundschaft mit Körner euphorisiert, dichtete: Seid Umschlungen, Millionen […] Bis dahin spielt die Liebesphilosophie eine gewichtige Rolle in den Dissertationen, in der Festrede über die ‚Tugend‘ zum Geburtstag der Gräfin von Hohenheim im Januar 1780, in den 1782 veröffentlichten Gedichten an ‚Laura‘, in der im selben Jahr entstandenen ‚Theosophie des Julius‘, die 1786 in den ‚Philosophischen Briefen‘ mitgeteilt wird; sie kehrt wieder am Ende der achtziger Jahre in den philosophischen Gesprächen des Romans ‚Der Geisterseher‘. Erst mit dem Studium Kants Anfang der neunziger Jahre verblaßt sie allmählich“, Rüdiger Safranski: Friedrich Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus. München 2004, S. 84f.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-007
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Philosophischen B riefen zu betrachten. Denn zum einen erfüllt der Traktat eine bestimmte kompositorische Funktion im literarischen Kontext von Schillers Briefen – wohlgemerkt markiert er den „Ausgangs-, nicht den Zielpunkt“ von Schillers „philosophische[m] ‚Bildungsroman[-]‘“; 9 zum anderen darf auch die durchaus wahrscheinliche Eventualität einer Überarbeitung dieses „Kernstück[s]“ 10 zur Veröffentlichung in den Briefen nicht unberücksichtigt gelassen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es weiterführend, die „Theosophie“ als Bestandteil des fiktiven Rollenspiels zwischen Julius und Raphael im Kontext der Philosophischen Briefe zu deuten. Hierbei lohnt es sich, der Logik der literarischen Fiktion selbst zu folgen und in der Auseinandersetzung mit dem Text erstmals den „Gesichtspunkt“ 11 einzunehmen, aus dem auch der fiktive Herausgeber der Briefe, wie er schreibt, den „Briefwechsel gelesen und beurtheilt wünsch[t]“: 12 Einige Freunde […] haben sich zu dem Entwurfe verbunden, einige Revolutionen und Epochen des Denkens, einige Ausschweifungen der grübelnden Vernunft in dem Gemählde zweier Jünglinge von ungleichen Karakteren zu entwikkeln, und in Form eines Briefwechsels der Welt vorzulegen. Folgende Briefe sind der Anfang dieses Versuchs. 13
Bereits bei der ersten Lektüre des Briefwechsels stellt man fest, dass die „Theosophie des Julius“, will man hier gleich eine spätere Kategorie Schillers bemühen, in einem durchaus sentimentalischen Kontext eingebettet ist, da sie ziemlich unverhüllt aus dem Bewusstsein eines unwiederbringlichen Verlustes heraus dargestellt wird – davon wird gleich mehr die Rede sein. Doch ist nicht nur der allgemeine Kontext der Briefe als ‚sentimentalisch‘ zu bezeichnen. Selbst der angeblich „verloren[e] Aufsatz“ der ‚Theosophie‘, „entworfen in jenen glüklichen Stunden meiner stolzen Begeisterung“, 14 wie Julius schreibt, verrät an manchen Stellen eine durchaus ‚sentimentalische‘ Perspektive, über die die pathetische Sprache, in der das Glaubensbekenntnis im Text erfolgt, nicht hinwegzutäuschen vermag. Peremptorische Äußerungen wie „Das Universum ist ein Gedanke Gottes“ 15 oder „Alle Geister werden angezogen von Vollkommenheit“ 16 sowie feierliche Äußerungen der Entzückung – „Jezt Raphael, ist alles bevölkert um mich herum. Es gibt für mich keine Einöde in der ganzen Natur mehr. Wo ich einen Körper entdeke, da ahnde ich einen Geist – Wo ich Bewegung merke, da rathe ich auf einen Gedanken“ 17 – stehen im Text in einem scharfen Gegensatz zu mancher Bemerkung, in 9 10 11 12 13 14 15 16 17
So Riedel im Kommentar der Neuausgabe von Schillers sämtlichen Werken in fünf Bänden, Bd. V, S. 1184. Kommentar, NA 21, 160. NA 20, 108. Ebd. Ebd. NA 20, 115. Ebd. NA 20, 117. NA 20, 116f.
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der sich Julius völlig über den instrumentellen Charakter seiner Darlegungen klar zu sein scheint. So schreibt er an den Freund in seinem Traktat: „Verwirre mich hier durch kein zweideutiges Lächeln, mein Raphael – diese Voraussezung ist der Grund, worauf ich alles folgende gründe, und einig müssen wir sein, ehe ich Mut habe, meinen Bau zu vollenden“. 18 Das ist eine ziemlich überraschende Äußerung für einen Aufsatz, der in jenen „glüklichen Stunden“ einer „stolzen Begeisterung“ sollte entworfen worden sein, in denen sich das „Herz“ – wie Julius schreibt – „eine Philosophie [suchte]“ und die „Phantasie“ ihre „Träume“ unterschob. 19 Schon an dieser Stelle erscheint die „Theosophie“ dagegen als ein experimenteller Versuch des logischen Argumentierens, den Julius nach der Begegnung mit Raphael unternimmt, um seine früheren Positionen mit den Mitteln der Vernunft gegenüber dem Freund zu verteidigen. Darauf, dass der Autor der „Theosophie“ schon mehr weiß, als sein Text angibt, und dass die Positionen dieser Schrift bereits in dem Moment kritisch reflektiert werden, in dem Julius sie darlegt, deutet auch das völlig pragmatische „Bekenntnis“, das am Ende des „Liebe“ betitelten Kapitels abgelegt wird: Ich bekenne es freimüthig, ich glaube an die Wirklichkeit einer uneigennüzigen Liebe. Ich bin verloren, wenn sie nicht ist, ich gebe die Gottheit auf, die Unsterblichkeit und die Tugend. Ich habe keinen Beweis für diese Hofnungen mehr übrig, wenn ich aufhöre an die Liebe zu glauben. Ein Geist, der sich allein liebt, ist ein schwimmender Atom im unermeßlichen leeren Raume. 20
Mit seinem „Bekenntnis“ ist Julius eigentlich bereits über einen schlichten Glauben an seine „Theosophie“ hinaus. Denn im Gegenlicht zeigt seine Glaubensformel vor allem, dass er sich klar über den instrumentellen Charakter seines Credos ist. Seiner Theosophie spricht er einen absoluten Wert zu, weil sie seine Argumentation, wenn nicht gleich auch seine Existenz, aufrechterhält. Dabei wird aber auch das Relative an dieser Theorie deutlich sichtbar. Wie Julius zugibt, muss er „an die Wirklichkeit einer uneigennützigen Liebe“ glauben, weil er sonst gleich auch die Trias „Gottheit“, „Unsterblichkeit“ und „Tugend“ aufgeben müsste. Zu einem solchen Schritt ist er allerdings offensichtlich nicht bereit oder einfach unfähig. Sein argumentativer „Bau“ droht einzustürzen, und um ihn zu retten, muss er an seinem Glauben festhalten – seine Worte machen deutlich, dass er sich über diese Situation vollkommen klar ist. Dass er sich ohne jenen Glauben argumentativ oder existenziell zum Scheitern verurteilt sieht, beweist allerdings lange nicht, dass die Argumente, mit denen er seine ‚Theosophie‘ untermauert, stringent wären. Im Gegenteil: Wie manche Beweisgründe in Schillers medizinischen Dissertationen 21 sind auch Julius’ Argumente „rein moralischen Charakters“ und laufen auf „leere 18 19 20 21
NA 20, 117. NA 20, 115. NA 20, 122. Vgl. Kondylis: Die Entstehung der Dialektik, S. 27f.
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Tautologien“ hinaus. 22 Die „Theosophie des Julius“ besitzt somit nur einen ‚privaten‘ Charakter – tatsächlich handelt es sich wörtlich um Julius’ ‚Theosophie‘, das heißt um seine ‚Theosophie‘. Der Traktat stellt den letzten Rettungsversuch eines Menschen dar, der angefangen hat, die Sicherheiten seines früheren Glaubens kritisch zu hinterfragen. Schon ein flüchtiger Blick auf den Rest der Philosophischen Briefe macht deutlich, dass diese „Theosophie“ erst vor dem Hintergrund von Julius’ erschütternder Begegnung mit ‚Raphael‘ ihren Sinn entfaltet, dem Freund, der hier als Chiffre für die Erkenntnisfähigkeit der Vernunft 23 und für das logische „Denken“ 24 zu interpretieren ist. Von Anfang an sentimentalisch ist die Perspektive der Briefe. Daher überrascht es kaum, dass Julius gegen seinen Freund vor allem Klagen laut werden lässt, die proportional zu seinem durch die Begegnung mit den Geboten des logischen Denkens erlittenen Verlust an existenziellen Sicherheiten sind. „Du hast mir den Glauben gestohlen, der mir Frieden gab“, 25 klagt er: Schnell wird klar, dass die zentrale Frage, um deren Lösung Julius kämpft, das Schicksal der Seele nach dem Tod betrifft – ein Schicksal, an das Julius zwar manchmal in seiner Vergangenheit erinnert wurde, doch ohne dass er sich dabei intensiv darum zu kümmern brauchte: Selige paradiesische Zeit, da ich noch mit verbundenen Augen durch das Leben taumelte, wie ein Trunkner […] – da mich nur eine politische Zeitung an die Welt, nur die Leichenglocke an die Ewigkeit, nur Gespenstermährgen an eine Rechenschaft nach dem Tode erinnerten, da ich noch vor einem Teufel bebte, und desto herzlicher an der Gottheit hieng. Ich empfand und war glüklich. 26
„Wenn Du keinen Schlüssel zum Himmel hattest, warum mußtest Du mich der Erde entführen?“, 27 fragt Julius prägnant im drauf folgenden Brief an Raphael. Nach und nach findet der Leser der Philosophischen B riefe die Themen wieder, denen wir bereits in unserer vorigen Analyse von Schillers frühen Schriften begegnet sind – Themen, die um die zentrale Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens nach der Fokussierung des unauflöslichen Zusammenhangs zwischen geis22
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Ebd. In seiner „Theosophie“ behauptet Julius beispielsweise, dass „Liebe“ (wohl ein zentraler Begriff der Theosophie: „das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend“) eine „Anziehung des Vortreflichen, gegründet auf einem augenbliklichen Tausch der Persönlichkeit, einer Verwechslung der Wesen“ ist, NA 20, 119. Und das muss sie sein, so sein späteres „Bekenntnis“, weil er sonst „verloren“ wäre, „wenn sie nicht ist“, ja weil er sonst Gottheit, Unsterblichkeit und Tugend aufgeben müsste, NA 20, 122. Im Endergebnis muss Liebe das sein, was Julius behauptet, weil er sonst, wäre sie das nicht, verloren wäre. Der Punkt ist hier allerdings, dass sich Julius darüber klar ist, dass jene Liebe nicht an sich ist, sondern dass sein Glaube an sie eine existenzielle Stütze darstellt. So schreibt Julius: „Glaube niemand als Deiner eignen Vernunft, sagtest Du weiter. Es giebt nichts heiliges als die Wahrheit. Was die Vernunft erkennt, ist die Wahrheit“, NA 20, 111. So wiederum Julius an seinen Freund: „Raphael hat mich denken gelehrt“, NA 20, 109. NA 20, 110. NA 20, 109. NA 20, 112.
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tiger und tierischer Natur des Menschen kreisen. Die ersten Briefe des Julius an Raphael zeichnen fast didaktisch eine steigende Parabel der existenziellen Verzweiflung. Doch Vertrauen steht paradoxerweise am Anfang dieser Parabel: Julius war bereit, seinem Freund Gehör zu schenken, und hat sich daher dessen Gebot willig zu Eigen gemacht, niemandem zu glauben als seiner „eignen Vernunft“. 28 „Deine Lehre hat meinem Stolze geschmeichelt“, 29 wird er später zugeben; Tatsache ist aber – darüber ist sich Julius genau so klar wie sein Autor –, dass ihm seine Vernunft nunmehr „alles“ ist: Sie stellt nichts weniger als seine „einzige Gewährleistung für Gottheit, Tugend, Unsterblichkeit“ dar. 30 Freilich besteht kein direkter Zusammenhang zwischen Vernunftglauben und existenzieller Verzweiflung, genauso wie kein direkter Zusammenhang zwischen Vernunftglauben und Negation der Metaphysik besteht. Zu unterstreichen ist hierbei lediglich, dass die Vernunft nun explizit allein dazu berufen wird, auch das System der traditionellen Metaphysik aufrecht zu erhalten. Schillers Julius ahnt indes schon, welches Risiko hinter der Alleinherrschaft der Vernunft 31 steckt: „Wehe mir von nun an, wenn ich diesem einzigen Bürgen auf einem Widerspruche begegne! wenn meine Achtung vor ihren Schlüssen sinkt! wenn ein zerrissener Faden in meinem Gehirn ihren Gang verrükt! – “. 32 Es war gerade der Glaube an die Vernunft, der auch zur Erkenntnis des Zusammenhangs von geistiger und tierischer Natur des Menschen geführt hat. Nur folgerichtig ist es also, wenn Julius nun vor dem Hintergrund der influxionistischen Medizin seiner Zeit daraus schließt, dass seine „Glükseeligkeit […] von jetzt an dem harmonischen Takt [s]eines Sensoriums anvertraut [ist]“ 33 – wobei unter „Sensorium“ gerade der „neurophysiologische Komplex Sinnesorgane, Nervensystem, Gehirn“ 34 zu verstehen ist, der körperliche und geistige Fähigkeiten zusammenfasst. 35 Allmählich wächst bei Julius der wohl begründete Verdacht, dass auch die „Wahrheit“, die für Raphael das ist, „was die Vernunft erkennt“, 36 stets selbst in Gefahr ist, wenn sie, das Produkt der Vernunft, nunmehr vom Zustand und von der Funktionsfähigkeit der körperlichen Organe abhängt: „Wehe mir, wenn die 28 29 30 31
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NA 20, 111. Ebd. Ebd. Julius hat sich offensichtlich durch Raphael von den Vorteilen dieser ‚Alleinherrschaft‘ überzeugen lassen: „[D]ie Vernunft, sagte mir Raphael, ist die einzige Monarchie in der Geisterwelt, ich trug meinen Kaisertron in meinem Gehirne“, NA 20, 111f. NA 20, 111. Ebd. Vgl. Wolfgang Riedels Kommentar zu den Philosophischen B riefen in der Ausgabe von Schillers sämtlichen Werken in 5 Bänden, Bd. V, S. 1186. Vgl. Schillers Verwendung dieses von Albrecht von Haller übernommenen Begriffs in den medizinischen Dissertationen (Philosophie d er Physiologie, NA 20, 20; Versuch ü ber den Zusammenhang, NA 20, 42 u. 74). Vgl. dazu auch Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 207; darin insb. das Kapitel „Schillers ‚Nervengeist‘ zwischen Medizin und Metaphysik“, S. 93–100. NA 20, 111.
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Saiten dieses Instrumentes in den bedenklichen Perioden meines Lebens falsch angeben – wenn meine Ueberzeugungen mit meinem Aderschlag wanken!“. 37 Nur das psychophysische Gleichgewicht sichert die reibungslose Tätigkeit der Seele – daher mögen, und das ist gerade Julius’ Befürchtung an dieser Stelle, physiologische Kraftschwankungen und Krankheiten direkt die Kontinuität der subjektiven „Ueberzeugungen“ beeinflussen und damit schließlich die Einheit des Subjekts selbst gefährden, dem keine seelisch-geistige Kontinuität mehr sichergestellt werden kann. „Wehe mir von nun an, wenn ich diesem einzigen Bürgen auf einem Widerspruche begegne!“, schreibt Julius, wie wir uns erinnern, am Ende des ersten Briefes an Raphael. 38 In seinem zweiten und inhaltlich bedeutendsten Brief legt Julius gewichtige Folgen und Widersprüche an den Tag, die sein neuer Glaube nach sich zieht. Der erste und durchaus folgenreiche Punkt, den er anspricht, betrifft die potentiell subversive Kraft des von Raphael vertretenen Vernunftglaubens: [D]u hast mich in einen Bürger des Universums verwandelt. Meine Wünsche hatten noch keinen Eingrif in die Rechte der Großen gethan. Ich duldete diese Glüklichen, weil Bettler mich duldeten. Ich erröthete nicht, einen Theil des Menschengeschlechts zu beneiden, weil noch ein größerer übrig war, den ich beklagen mußte. Jezt erfuhr ich zum erstenmal, dass meine Ansprüche auf Genuß so vollwichtig wären, als die meiner übrigen Brüder. Jezt sah ich ein, daß eine Schichte über dieser Atmosphäre ich gerade so viel und so wenig gelte, als die Beherrscher der Erde. 39
Politisch Brisantes wird an dieser Stelle nicht weiter geäußert. Doch wird die ganze Tragweite von Julius’ Argumentation schon auf den ersten Blick deutlich. Bereits vor seiner Begegnung mit Raphael war sich Julius der sozialen Missstände in der etablierten Ordnung bewusst. Dennoch betrachtete er sie als systemimmanent, und da ihm die gesellschaftliche Ordnung selbst als (metaphysisch) gerechtfertigt erschien, war er bereit, die damit verbundenen sozialen Unterschiede zu akzeptieren. Durch ‚Raphael‘ erfährt nun Julius, dass seine persönlichen Ansprüche das gleiche Recht besitzen wie diejenigen der „Großen“: Erst vor dem Hintergrund dieser durch die Vernunft legitimierten Berechtigung machen seine „Wünsche“ – wohlgemerkt handelt es sich dabei noch ausschließlich um „Wünsche“ – einen „Eingrif“ in die Rechte der „Beherrscher der Erde“ denkbar. Franz von Moor wird viel weiter gehen, wie wir noch sehen werden. Doch worauf genau erhebt Julius seine „Ansprüche“? – das ist hier die entscheidende Frage. Auf „Genuß“, lautet dabei die so einfache wie folgenreiche Antwort. Es ist hervorzuheben, dass Julius keinesfalls Ansprüche auf jene ‚Freude‘ und ‚Glückseligkeit‘ erhebt, welcher das Individuum ausschließlich in der idealen, sich selbst feiernden Gemeinschaft der Menschen teilhaftig wird und von denen 37 38 39
Ebd. Ebd. Ebd.
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auch noch in der „Theosophie“ die Rede ist. Die Gesellschaft spielt an dieser Stelle keine Rolle: Vor dem Hintergrund des Jahrhunderts der Aufklärung redet Julius an dieser Stelle unverblümt von seinen ganz individuellen Ansprüchen auf „Genuß“. Die Quintessenz dieses Gedankens findet wenige Zeilen später ihre präziseste Formulierung: „Alle Dinge im Himmel und auf Erden haben keinen Werth, keine Schäzung, als soviel meine Vernunft ihnen zugesteht. Die ganze Schöpfung ist mein, denn ich besitze eine unwidersprechliche Vollmacht sie ganz zu genießen“. 40 Die idealistische Überzeugung des Jahrhunderts der Aufklärung, dass der Zweck der Natur in Bezug auf den Menschen dessen Glückseligkeit darstellt, wird hier offensichtlich geradewegs als das Recht des Menschen auf Glückseligkeit tout court interpretiert. 41 Dank Raphaels Vermittlung ist Julius zum gehorsamen Untertanen der Vernunft-Monarchie geworden. In diesem Reich hat er nicht nur gelernt, dass jeder Mensch das gleiche Recht auf Glück und Genuss besitzt, sondern auch, dass die Vernunft selbst über die „Schöpfung“, als res extensa verstanden, herrscht und verfügt. Mit ihren Kategorien bestimmt sie schließlich den „Werth“ der erschaffenen Welt, und als ordnende Macht, die sich alles Existierende zu unterwerfen vermag, erteilt sie dem Menschen das Recht, die ganze Schöpfung zum Zweck der eigenen Glückseligkeit in Anspruch zu nehmen. Wenn das Kopernikanische Weltsystem den Menschen aus dem physischen Zentrum des Universums gebannt hatte, so erhält der Mensch nun dank der Gabe der Vernunft seine Rolle als Weltherrscher wieder. „Wie erhaben und prächtig klingt diese Verkündigung!“, 42 ruft der enthusiasmierte Julius aus. Wenn es hier allerdings darum ginge, die privilegierte Stellung des Menschen im Universum getrennt von den Schicksalen der Individuen hervorzuheben, könnte man an dieser Stelle leicht den Optimismus teilen, den die dem Menschen „unwidersprechlich“ gewährte ‚Vollmacht‘ zum Genuss der ganzen Schöpfung hervorruft. Indes haben wir nicht vergessen, dass Julius seine Briefe aus einem sentimentalischen Bewusstsein heraus verfasst, so dass es sich lohnt zu fragen, was es eigentlich mit dieser ‚Vollmacht‘ zum uneingeschränkten Genuss der ganzen Schöpfung auf sich hat. Die weitere Lektüre der Philosophischen B riefe macht schnell deutlich, dass Julius’ Enthusiasmus täuscht. Wenn er in seinem zweiten Brief an Raphael ein Hohelied der Vernunft anstimmt, so tut er dies im Endeffekt nur aus dem Grund, weil er ein schmerzhaftes Paradox noch deutlicher zeigen möchte – das Paradox nämlich, dass jene ‚Vollmacht‘, die darin besteht, die Schöpfung ganz zu genießen, auf ein leeres Versprechen hinausläuft. Denn in Wirklichkeit erteilt sie ein zwar wünschenswertes ‚Recht‘, von dem der Mensch als „innigste Vermischung“ von Seele und Körper 43 allerdings keinen Gebrauch machen kann: 40 41 42 43
NA 20, 112. Vgl. Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 22. NA 20, 112. Vgl. Schillers dritte Dissertation Versuch über den Zusammenhang, NA 20, 64.
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[A]ber – unglükseliger Widerspruch der Natur! – dieser freie emporstrebende Geist ist in das starre unwandelbare Uhrwerk eines sterblichen Körpers geflochten, mit seinen kleinen Bedürfnissen vermengt, an seine kleinen Schiksale angejocht – dieser Gott ist in eine Welt von Würmern verwiesen. 44
Ein Gott in einer Welt von Würmern: Kaum ein Bild vermag das furchterregende Szenario besser zu veranschaulichen, das sich vor dem Menschen abspielt, dem die Vernunft einerseits das uneingeschränkte Recht auf Glückseligkeit eingeräumt und andererseits das klare Bewusstsein seiner Endlichkeit gegeben hat. In der Tat: Welchen Sinn hat es – so scheint sich Schiller mit seinem Julius zu fragen – „das Recht des Menschen auf Glückseligkeit zu behaupten, wenn die Materie, wie er in seiner […] Dissertation schreibt, ‚ein Raub des ewigen Wechsels [ist] und […] sich selbst auf[reibt], so wie sie wirket‘ und wenn ‚unter der Bewegung […] das Element aus seinen Fugen getrieben, verjagt und verlohren [wird]‘“? 45 Wenn bereits Wollmar im Spaziergang unter den Linden darauf hingewiesen hatte, dass „jeder Tropfe [...] Zeit eine Sterbeminute der Freuden“ ist, 46 und wenn sich Almar in Der Jüngling u nd de r G reis darüber klar geworden war, dass Selim stets ein „leeres Phantom“ verfolgen musste, 47 um die Depotenzierung zu überwinden, die dem höchsten Augenblick des Genusses innewohnt, so stellt nun Julius in den Philosophischen Briefen lakonisch fest, dass der Mensch, um „[e]inen Genuß zu erschöpfen“ „jeden andern verloren geben“ muss und dass „[j]ede neu erworbene Freude […] ihn die Summe aller vorigen [kostet]“. 48 Doch nicht den schon erlebten Freuden und Genüssen trauert Julius hier nach. Hinter der von ihm beklagten Ungreifbarkeit und Unbeständigkeit der Sensationen steckt die schon zur existenziellen Angst gesteigerte Befürchtung, dass das Subjekt sich selbst in der zeitlichen Aufeinanderfolge der Sensationen verliert. Wenn „der jezige Augenblik [...] das Grabmal aller vergangenen“ ist, 49 wie Julius schreibt: Welche Haftung, welche Garantie, welche Kontinuität kann das ‚Ich‘ gewährleisten, da es sich selbst in der Flut der Sensationen verliert und in jedem Augenblick anders wird? Und wenn man jenes ‚Ich‘ als soziales Wesen betrachtet: Welche gesellschaftliche Verantwortung kann es übernehmen, wenn es sich nicht mehr des eigenen „Zentrums“ sicher sein kann – eines Zentrums, das die christliche Tradition in der ‚Seele‘ verortet hatte? In seinen Briefen macht Julius deutlich, was nach seiner Begegnung mit dem Freund Raphael vom optimistischen Glauben der Aufklärung übrig geblieben ist: „Es ist das hölzerne Gerüste der Schaubühne wenn die Beleuchtung dahin ist“, 50 44 45 46 47 48 49 50
NA 20, 112. So Giuliano Baioni in: Da Schiller a Nietzsche, S. 22. Schillers Zitate aus der Dissertation Versuch über den Zusammenhang finden sich hier: NA 20, 42. NA 22, 78. NA 22, 81. NA 20, 112. Ebd. NA 20, 115.
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wie er in dem Brief schreibt, mit dem er Raphael seine ‚Theosophie‘ zuschickt. Der Traum ist offensichtlich ausgeträumt, der „wohlthätig[e] Schlaf“ 51 endgültig dahin. Durch und durch sentimentalisch ist hier die Perspektive des desillusionierten Betrachters: Die ‚Vernunft‘ definiert Julius nicht von ungefähr als jene „Fakel in einem Kerker“, 52 durch die sich der Gefangene erst seiner Gefangenschaft bewusst wird, wobei er die eigene und Raphaels „Philosophie“ gerade mit der „unglükseelige[n] Neugier des Oedipus“ vergleicht, „der nicht nachließ zu forschen, bis das entsetzliche Orakel sich auflößte. Möchtest du nimmer erfahren, wer du bist!“. 53 Der sinnlose Grund der menschlichen Existenz, der sich hier in aller Deutlichkeit bemerkbar macht, verlangt nach Antworten, welche die „Theosophie“ nicht mehr zu liefern vermag. In diesem Sinne ist die „Theosophie des Julius“ tatsächlich als ein Dokument zu verstehen, das von „glüklichen Stunden“ einer „stolzen Begeisterung“ 54 zeugt – Stunden, die allerdings einer unwiederbringlichen Vergangenheit angehören. In seinem einzigen Brief an Julius, der 1786 in den Philosophischen B riefen veröffentlicht wird, bereut der Vernunftoptimist Raphael durchaus nicht, den Freund aus seinem „süßen Traume“ 55 erweckt zu haben. Dabei gibt er selbst zu, dass es im Leben Momente gibt, „in denen es schreklich ist, an Wahrheit und Tugend zu verzweifeln“ 56 – Momente, die er selbst erlebt haben will. Doch ist Raphael überzeugt, dass sich Julius aus dieser „Krisis“ 57 selbst herausarbeiten wird – was immer auch ihm vorläufig „eine melancholische Laune eingeben mag“. 58 Schließlich ist sich Raphael sicher, mit dem Freund medizinisch korrekt vorgegangen zu sein: Durch die gezielt verabreichte „Einimpfung“ 59 habe Julius nun lediglich eine künstlich herbeigeführte Krisis zu überwinden, die ihn einerseits vor weiteren „Gefahren der Zweifelsucht“ 60 schützen und ihm andererseits nun auch den Zugang zu den „Freuden“ und „Genüsse[n]“ 61 der Vernunft gewähren soll. Dass Julius diese „Freuden“ und „Genüsse“, da er sie nicht kannte, schließlich auch nicht erreichen wollte, spielt dabei keine Rolle: Raphael sieht es gerade als seine moralische „Pflicht“ an, seinem Freund „Genüsse nicht vorzuenthalten“, derer er ihn für „fähig und würdig“ hält. 62 Das dadurch verursachte, momentane Leiden wird gerade durch das Versprechen zukünftiger „Freuden“ kompensiert. 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62
NA 20, 112. Ebd. Ebd. NA 20, 115. NA 20, 113. NA 20, 114. NA 20, 113. NA 20, 114. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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Medizinisch korrekt war für Raphael auch der gewählte Moment für die ‚Einimpfung‘ des Freundes, wobei nicht von ungefähr die Bedeutung der psychophysischen Balance des ‚Patienten‘ für den Erfolg der ‚Therapie‘ unterstrichen wird: Und welchen günstigeren Zeitpunkt konnte ich dazu wählen mein Julius! In voller Jugendkraft standst du vor mir, Körper und Geist in der herrlichsten Blüte, durch keine Sorge gedrükt, durch keine Leidenschaft gefeßelt, frei und stark, den großen Kampf zu bestehen, wovon die erhabene Ruhe der Ueberzeugung der Preiß ist. 63
Es ist kein Zufall, wenn (‚Jugend-)Kraft‘ und ‚Stärke‘ in Raphaels Worten eine so bedeutende Rolle spielen: Der Zustand, in dem „Körper und Geist in der herrlichsten Blüte“ sich befinden, ist schließlich die erste Voraussetzung für einen optimalen Vernunftgebrauch – und grundsätzlich für das Bestehen jeden „großen Kampf[es]“. Raphael ist sich sicher, dass Julius, der bereits „gut aus Instinkt“ 64 gewesen sei, nach der künstlich ausgelösten „Krankheit“ 65 eine moralische Steigerung erfahren und somit dann ‚gut‘ aus ethischer und moralischer selbstbewusster ‚Mündigkeit‘ sein wird. Julius’ Verzweiflung an „Wahrheit und Tugend“ 66 stellt für Raphael eine genauso notwendige wie momentane ‚Verwirrung‘ dar, die Ausgezeichnetes für die Zukunft verspricht. Durchaus legitim scheint es dennoch an dieser Stelle zu fragen: Was würde geschehen, wenn das nicht so wäre? Wenn sich Julius’ vorübergehende Verwirrung zu einer tiefgreifenden existenziellen Verzweiflung ausarten würde? Dass das Experiment, das Raphael in gewisser Weise medizinisch aseptisch am Freund vollzieht, auch scheitern kann, gibt Raphael selbst implizit zu, indem er sagt, dass es Momente gibt, die für die „Spizfindigkeiten einer klügelnden Vernunft“ 67 nicht geeignet sind, oder wenn er das psychophysische Gleichgewicht des ‚Patienten‘ als Voraussetzung für den Erfolg der vorgenommenen Einimpfung hervorhebt. Doch das, was in den Philosophischen Briefen hintergründig thematisiert wird, ist, dass die Vernunft, die inzwischen zur „einzige[n] Gewährleistung für Gottheit, Tugend, Unsterblichkeit“ 68 geworden ist und hier gerade als Therapie vorgeschlagen wird, den eigentlichen Auslöser der zu überstehenden „Krankheit“ darstellt. Kann die Vernunft an dieser Stelle wirklich medizinisch erfolgreich eingesetzt werden – als eine Art ‚homöopathisches Mittel‘ gegen die „Gefahren der Zweifelsucht“? 69 Die medizinisch eingeleitete und betreute ‚Zweifelsucht‘ des Julius in Schillers Philosophischen Briefen macht deutlich, dass es in Wirklichkeit gerade die ‚Vernunft‘ ist, die konsequent jene ‚Gefahren‘ nach sich zieht. Was sich bereits an 63 64 65 66 67 68 69
Ebd. Ebd. NA 20, 113. NA 20, 114. Ebd. NA 20, 111. NA 20, 114.
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dieser Stelle in Schillers Frühwerk abzeichnet, ist ein entscheidender philosophischer Übergang in der Kultur des christlichen Abendlandes – ein Übergang, auf den Friedrich Nietzsche im Winter 1885/86, genau hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Schillers Philosophischen Briefen, in einem nachgelassenen Fragment zur Entstehung des ‚Nihilismus‘ hinweisen wird. Hier macht Nietzsche den Zusammenhang deutlich, der zwischen dem Zusammenfallen von „wahr“, „gut“ und „schön“ 70 in der christlichen Tradition und der darauffolgenden „radikalen Ablehnung von Werth, Sinn, Wünschbarkeit“ 71 besteht: „[D]er Sinn der Wahrhaftigkeit, durch das Christenthum hoch entwickelt, bekommt Ekel vor der Falschheit und Verlogenheit aller christlichen Welt- und Geschichtsdeutung. Rückschlag von ‚Gott ist die Wahrheit‘ in den fanatischen Glauben ‚Alles ist falsch‘“. 72 Dass der erwähnte „Rückschlag“ im Einzelfall nicht zwingend ist, versteht sich von selbst. Daher mag es sein, dass Julius, wie Raphael vorhersagt, seine „Krankheit“ einfach überwinden und seine Existenz vor dem Hintergrund der abendländischen Denkgeschichte fest auf die Gebote der ‚Vernunft‘ gründen wird. Genau das lässt übrigens auch der letzte Teil der „Theosophie des Julius“ erahnen, der als eine Art zusätzlicher Kommentar des Julius zur „Theosophie“ zu lesen ist. 73 Doch befinden wir uns hier tatsächlich, auf der spekulativen Ebene, „jenseits theologischer Dogmen, aber noch diesseits eines nihilistischen Materialismus“? 74 Das, was nach der Lektüre der Philosophischen B riefe von Julius eigentlich bleibt, ist jedenfalls nicht seine tröstende „Theosophie“, sondern die existenzielle Verzweiflung, die seine erste Begegnung mit dem ‚Nihilismus‘ ausgelöst hat. Wir erinnern uns: ‚Nihilismus‘ ist hier wertfrei als die „elementare Einsicht“ in die Endlichkeit des Menschen und die Relativität der Werte zu verstehen. 75 Wenn man es in Julius’ emphatischer Sprache ausdrücken will, so hat man es hier gerade mit einem „Gott in einer Welt von Würmern“ 76 zu tun sowie mit einem ‚Gläubigen‘, der sich darüber klar ist, dass er ohne seinen Glauben „verloren“ wäre. 77 Bereits an Schillers Julius lässt sich beobachten, was Nietzsche in einem weiteren Fragment aus dem Sommer 1886 festhält: Der Nihilismus erscheint jetzt, nicht weil die Unlust am Dasein größer wäre als früher, sondern weil man überhaupt gegen einen „Sinn“ im Übel, ja im Dasein mißtrauisch geworden ist. Eine
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Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 126. Ebd., KSA 12, 125. Ebd., KSA 12, 125f. Vgl. dazu das Kapitel „Metaphysik und Subjektivität. Julius’ Postskript zur ‚Theosophie‘“ in: Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 213–229. Riedel: Aufklärung und Macht, S. 125. Kondylis: Gedanken und Sprüche, S. 189. NA 20, 112. NA 20, 122.
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Interpretation gieng zu Grunde; weil sie aber als die Interpretation galt, erscheint es, als ob es gar keinen Sinn im Dasein gebe, als ob alles umsonst sei. 78
Was sich hingegen an Julius noch nicht beobachten lässt, ist das MännlichHeroische als Kennzeichen der ‚Moral des Nihilismus‘. Um diese ‚Moral‘ analysieren zu können, ist es notwendig, sich von Julius und Raphael als ‚spekulierenden‘ Menschen zu verabschieden und sich mit ‚handelnden‘ Menschen auseinanderzusetzen. Dafür soll nun Schillers Theater in den Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit rücken.
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Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1885–1887, KSA 12, 212.
4. Die erhabene Größe des Franz Moor in Schillers Räubern Bei der Lektüre der erst Anfang Mai 1781 abgefassten, 1 später vom Autor unterdrückten Vorrede 2 zu den Räubern fallen insbesondere zwei Elemente auf: Zum einen der allgemeine „apologetisch[e] Charakter“ 3 der Schrift, die nicht davon ablässt, „die episch-dramatische Eigenart der ‚Räuber‘ gegen Ansprüche zu verteidigen, die nur von einem orthodoxen Verfechter bewährter Stilformen angemeldet sein konnten“. 4 Zum anderen die gezielte Thematisierung ‚handwerklicher‘ Aspekte der dramatischen Dichtkunst, das heißt die Betonung der inneren Regeln, denen sich die unterschiedlichen dramatischen Formen unterwerfen müssen, sowie der inneren „Oekonomie“ eines Schauspiels, die der Dichter naturgemäß zu berücksichtigen hat, 5 und der Frage nach dem Erwartungshorizont des rezipierenden Publikums. Im Rahmen der dichtungs- und wirkungstheoretischen Reflexion des Dichters bleiben in dieser ersten Vorrede auch die hier spärlichen und vagen Hinweise auf den eigentlichen Inhalt des Schauspiels sowie die Auseinandersetzung mit der moralischen Brisanz des behandelten Sujets. So liest man hier beispielsweise: Die Oekonomie desselben [des Schauspiels] machte es nothwendig daß mancher Charakter auftreten mußte, der das feinere Gefühl der Tugend beleidigt […]. Noch mehr – Diese unmoralische Karaktere mußten von gewissen Seiten glänzen, ja offt von Seiten des Geists gewinnen, was sie von Seiten des Herzens verlieren. Jeder Dramatische Schriftsteller ist zu dieser Freiheit berechtigt, ja sogar genöthigt, wenn er anders der getreue Kopist der wirklichen Welt seyn soll. 6
Bloß als wirklichkeitsgetreu und keinesfalls karikaturistisch sei die Darstellung des Bösen in Schillers Schauspiel zu betrachten: „Ich wünschte zur Ehre der Menschheit“ – bemerkt der Autor gewitzt in Klammern – „daß ich hier nichts denn Karrikaturen geliefert hätte, muß aber gestehen, so fruchtbarer meine Weltkenntniß wird, so ärmer wird mein Karrikaturen-Register“. 7 Den letzten Zeilen der Vorrede zum Trotz betreibt der Dichter hier selbstverständlich auch ‚Werbung‘ in eigener Sache. Ziel der Vorrede ist es ja nicht zuletzt, das Interesse des Lesers anzustacheln. Schiller scheint sich schon zu diesem Zeitpunkt darüber klar zu sein, dass
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Zu einer Zeit also, da sich die Erstausgabe des Dramas bereits im Druck befand, Alt: Schiller. Bd. I, S. 277–281. Ausführlicher über das Verhältnis zwischen Ethik und Ästhetik in Schillers Vorreden sowie über die Selbstrezension zu den Räubern: Panizzo: Die blendende Fleckenhaut des Tigers, S. 221–242. Vgl. den entsprechenden Kommentar zu den Räubern in der Nationalausgabe, NA 3, 302. Ebd. NA 3, 244. Ebd. Ebd.
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sich moralisch verdorbene „Bösewichter“, „Mißethäter“ und „Ungeheuer“ 8 zu diesem Zweck nicht schlechter eignen als integre Figuren. Die unterdrückte Vorrede stellt die Vorlage für die zweite Vorrede zur ersten Auflage dar, die dann tatsächlich von Schiller veröffentlicht wurde. Einige Passagen derselben werden wörtlich von der ersten Vorrede übernommen, wobei die scharfe Kritik gegen den modischen Theaterstil und seine Zuschauer hier deutlich abgemildert wird. Auch an dieser Stelle meldet sich der Dichter nicht selten als ästhetischer Theoretiker zu Worte. Doch wird der moralischen Rechtfertigung des gewählten Stoffes und der entworfenen Charaktere dieses Mal mehr Platz eingeräumt – so, als ob Schiller dabei gezielt den möglichen Vorwurf der Immoralität gegen sein Schauspiel in der Vorrede vorwegnehmen und somit auch neutralisieren wollte. Seiner „Schrift“ verspricht der Dichter sogar offenkundig „einen Platz unter den moralischen Büchern“. 9 Franz Moor wird dabei als „Mißmensch[-]“ apostrophiert, und die Darlegung der „vollständige[n] Mechanik seines Lastersystems“ und der „ungeheueren Verirrung“ des „Räuber[s] Moor“ soll schließlich ex negativo „der Religion und der wahren Moral“ förderlich sein. 10 Geschickt weiß Schiller an dieser Stelle, aus einer (möglichen) Not (präventiv) eine Tugend zu machen. Auch in der mit der Kürzel „K....r“ unterzeichneten ‚Selbstbesprechung‘, die der junge Dichter 1782 nach der Mannheimer Premiere der Räuber für das Wirtembergische Repertorium verfasst, lässt sich ein bedachtes und umsichtiges Spiel mit dem Erwartungshorizont des Publikums erkennen – ein sorgsam kalkuliertes Spiel, das schließlich darauf zielt, die Rezeption des Stücks in die vom Autor gewünschte Richtung zu lenken. Eine distanzierte Haltung ist daher bei der Analyse von Schillers Selbstrezension geboten, denn, wie zurecht bemerkt wurde, „[n]och dort, wo Schiller das Drama ausdrücklich mit Kritik bedeckt, arbeitet er als geschäftstüchtiger Anwalt in eigener Sache. Bereits der junge Autor zeigt Reklametalent und Gespür für den Markt – Eigenschaften, die ihm auch in späteren Jahren treu bleiben werden“. 11 Wenn man nun mit diesem Hinweis an den Text herangeht, so erweist sich Schillers Selbstrezension als ein fruchtbarer Ausgangspunkt für die Interpretation der Räuber. Kaum überraschend ist es, dass die aus der moralischen Warte heraus betriebene (Selbst-)Kritik auch hier und wie in der zweiten Vorrede eine große Rolle spielt. „Tugendhaft und lasterhaft“, „gut und böse“ stellen schließlich die ethischmoralischen Kategorien dar, die zum gemeinsamen kulturellen Horizont von Autor und Publikum gehören und an denen das Schauspiel am ehesten gemessen werden soll. Dabei sieht sich der Rezensent, wie der Verfasser der Vorrede vor ihm, mit dem Umstand konfrontiert, dass gerade moralisch verdorbene Figuren im Mittel8 9 10 11
Ebd. NA 3, 8. NA 3, 6f. Alt: Schiller. Bd. I, S. 283.
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punkt des Dramas stehen. „Räuber aber sind die Helden des Stücks, Räuber“: 12 Wie kann man denn zwischen „gut“ und „böse“ unterscheiden, wenn man gerade moralisch zweifelhafte Menschen als Protagonisten für das eigene Stück auswählt? Der Rezensent, der hier gleichwohl als eingeweihter „Fachmann“ redet, weiß sich auf Grund einer bewunderungswürdigen psychologischen Eindringlichkeit doch vor der „so ziemlich vollständige[n] Ökonomie der ungeheuersten Menschenverirrung“ 13 zu helfen, die das Schauspiel darbietet. Räuber Moor ist ja nicht nur ein gemeiner Verbrecher – „Menschlichkeit und Erhabenheit“ 14 sind Eigenschaften, die ihm durchaus nicht fremd sind und die auch die emotionale Rezeption dieser Figur bedingen: Wir sind geneigter den Stempel der Gottheit aus den Grimassen des Lasters herauszulesen, als ebendenselben in einem regelmäßigen Gemälde zu bewundern; eine Rose in der sandigten Wüste entzückt uns mehr als deren ein ganzer Hain in den hesperischen Gärten. Bei Verbrechern, denen das Gesetz als Idealen moralischer Häßlichkeit die Menschheit abgerissen hat, erheben wir auch schon einen geringern Grad von Bosheit zur Tugend, so wie wir im Gegenteil all unserm Witz aufbieten, im Glanz eines Heiligen Flecken zu entdecken. 15
Allen seinen Irrungen und Wirrungen zum Trotz besitzt Karl von Moor eine moralische Integrität, die sich gerade in seiner unstillbaren Sehnsucht nach jener Welt des Vaters am deutlichsten zeigt, in die er dann schließlich auch zurückkehrt. In diesem Sinne hat der Rezensent durchaus Recht, wenn er unterstreicht, dass die „gräßlichsten seiner Verbrechen […] weniger die Wirkung bösartiger Leidenschaften [sind] als des zerrütteten Systems der guten“. 16 Eigentlich nimmt die Tragödie des Karl Moor von einer ad hoc ausgelösten, aber in Wahrheit auf Trug fußenden Enttäuschung gegenüber der väterlichen Welt ihren Lauf. 17 Es ist – wie man noch in der ‚Selbstbesprechung‘ liest – „die Privaterbitterung gegen den unzärtlichen Vater“, die bei ihm „in einen Universalhaß gegen das ganze Menschengeschlecht“ ‚auswütet‘, sodass Karl in den Ausruf ausbricht „‚Reue und kein Erbarmen! – Ich
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NA 22, 118. NA 22, 119. Ebd. Ebd. NA 22, 120. Vor diesem Hintergrund bleibt es auch fraglich, ob es tatsächlich „derselbe Nihilismus“ sei, der beide Brüder Moor „ergreift“ (Safranski: Friedrich Schiller, S. 114). Es stimmt zwar, dass Karl „in die Desillusionierung stürzt“, während Franz „bei der Desillusionierung beginnt“ (ebd.); auch ist es durchaus stimmig, dass Franz – so auch unsere These – aus dem Nihilismus „ein moralisches Prinzip“ macht. Allerdings sind ‚Desillusionierung‘ und ‚Nihilismus‘ nicht gleichbedeutend. Außerdem ist der ‚Nihilismus‘, dem Karl womöglich „erleidet“ (ebd.), nicht mit dem ‚Nihilismus‘ seines Bruders zu verwechseln: Karls ‚Nihilismus‘ – der, folgt man Kondylis’ Definition, auch keiner ist – stellt bloß eine destruktive Reaktion auf ein erlittenes Unrecht dar in der grundsätzlichen Annahme, dass die Welt an sich ‚geordnet‘ wäre. Franz’ Nihilismus beruht dagegen auf der ‚Einsicht‘ in die Endlichkeit des Lebens und der Relativität aller Werte und stellt somit prinzipiell jede prästabilierte Ordnung von Natur und Gesellschaft in Frage.
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möchte das Meer vergiften, daß sie den Tod aus allen Quellen saufen‘“. 18 Im Vorbeigehen sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass es in Schillers „Selbstbesprechung“ der Räuber in dem hier erwähnten Kontext und nur in Bezug auf Karl Moor von „Universalhaß“ die Rede ist – darauf wird noch zurückzukommen sein. Aus einer moralischen Perspektive betrachtet, stellt nicht Karl von Moor, sondern Karls Bruder Franz die Figur dar, die, in einem Schauspiel, das nunmehr ‚Räuber‘ als Protagonisten hat, noch das Prinzip des Bösen zu verkörpern vermag – ja, eine Figur, welcher „der Part des schlechthin Üblen“ „im Pandämonium“ von Schillers Frühwerk „zugedacht“ zu sein scheint. 19 Daher wundert es kaum, dass auch der Rezensent der Räuber seine schärfste Kritik gegen den jüngeren Bruder Moor richtet, wobei er damit – und das ist der Punkt – immer wieder auch das Faszinierende dieses Charakters hervorhebt. Ein ‚Wagnis‘ sei Franz Moor, denn er sei mehr als das, was sowohl das Theater als auch die Natur verantworten könnten. 20 Für seine Entstehung glaubt der moralisierende Rezensent ausschließlich das „armselige Bedürfnis des Künstlers“ verantwortlich zu machen, der, „um sein Gemälde auszustaffieren, die ganze menschliche Natur in der Person eines Teufels, der ihre Bildung usurpiert, an den Pranger gestellt hat“. 21 Auf der einen Seite wird in der Rezension der geistige Zustand, auf dem Franzens moralische Verderbnis basiert, mit einem fieberhaften oder konvulsivischen Körperzustand verglichen; 22 andererseits wird aber betont, dass der jüngere Moor „schlechterdings kalt“ zu sein habe 23 und dass die „Raisonnements, mit denen er sein Lastersystem aufzustutzen versteht, das Resultat eines aufgeklärten Denkens und liberalen Studiums“ 24 darstellen. Gegenüber dem moralisierenden Rezensenten muss der ästhetisch bewanderte Kritiker zugeben, dass der Charakter des bösen Franz „ganz übereinstimmend mit sich selbst“ ist, ja, dass er „ein eigenes Universum“ darstellt 25 – ein „Universum“ für sich, das womöglich gerade als solches verdient, an anderen Kategorien als denjenigen der traditionellen Moral gemessen zu werden. Nicht von ungefähr wird Franz von Moor in der „Selbstbesprechung“ auch rhetorisch als etwas grundsätzlich Anderes, als ein Fremdkörper empfunden, der „jenseits der sublunarischen Welt“ 26 einzuquartieren wäre. Gegenüber diesem „Jüngling, aufgewachsen im Kreis einer friedlichen, schuldlosen Familie“, kann der Rezensent nicht umhin, seine ganze Befremdung an den Tag zu legen: „Woher kam ihm eine so herzverderbliche Philosophie?“. 27 Auf diese Frage scheint er offensichtlich keine rationale 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27
NA 22, 120. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 199. NA 22, 120f. NA 22, 122. NA 22, 121. NA 22, 130. NA 22, 123. Ebd. Ebd. NA 22, 122.
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Antwort geben zu können. Und doch kulminiert die ganze Selbstbesprechung in einer anderen Frage, die sowohl die moralisierenden als auch die ästhetisierenden Positionen der Schrift zusammenfasst: „[S]ündigt nicht der Dichter unverzeihlich gegen ihre [der Natur] ersten Gesetze, der dieses Monstrum der sich selbst befleckenden Natur in eine Jünglings-Seele verlegt?“. 28 Diese Frage betrifft letztlich nicht nur die Legitimität der Figur des Franz von Moor in der inneren „Oekonomie“ des Schauspiels, sondern prinzipiell die Freiheit des ästhetischen Spiels von allen ethischen Instanzen des gesellschaftlichen Systems. Die Frage stellt sich zum ersten Mal in dem Moment, da der Künstler erkennt, dass er gerade die ästhetische ‚Freiheit‘ des Dramas dafür verwenden kann, um jenseits des traditionellen ethischen Horizonts aus einer durchaus unsittlichen Figur ästhetischen Genuss zu schöpfen – ja dass sich die wohl kalkulierte, moralisch indifferente „Erotik der Rationalität“ eines Kunstwerks im Rahmen der Ästhetik des Erhabenen bestens vermarkten lässt. 29 Wir befinden uns hier im Zentrum des Themenkomplexes, den wir untersuchen wollen: Auf der einen Seite haben wir es mit der existenziellen Problematik des ‚Individuums‘ Franz von Moor zu tun – mit seiner thematischen und ästhetischen Bedeutung in den Räubern, mit dem Zusammenhang zwischen dieser Figur und der Anthropologie des frühen Schiller, mit Franzens allgemeiner Stellung in Schillers Frühwerk und schließlich noch: mit der Geburt seiner „herzverderbliche[n] Philosophie“ 30 aus dem Geist des Aufklärungsjahrhunderts. Andererseits sind wir in Schillers „Selbstbesprechung“ auch mit genuin (wirkungs-)ästhetischen Überlegungen konfrontiert, welche die moralisch indifferenten Positionen des Franz von Moor grundsätzlich teilen, ja genau in dieser Figur ihren Ausgangspunkt haben und schließlich darin auch die größten Potentialitäten sowie die größten Erfolgschancen des Künstlers gegenüber dem Publikum der Kunstrezipienten erkennen. Mit anderen Worten: Die Figur des Franz Moor fasst existenzielle und ästhetische Fragen in ein „eigenes Universum“ 31 zusammen, das im kulturellen Kontext der Spätaufklärung zum neuen ästhetischen Referenzsystem für den Künstler wird. 32 Da sich dieses Referenzsystem jenseits der Grenzen der traditionellen Moral befindet, ist es durchaus ratsam, auch in der Analyse der Figur des Franz von Moor, entgegen der Opinio communis 28 29 30 31 32
NA 22, 121. Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 24. NA 22, 122. NA 22, 123. Auf den Zusammenhang, der zwischen der Figur des Franz Moor und dem „Wesen“ des Dichter-Ideals beim jungen Schiller besteht, hat Harald Steinhagen so gut wie im Alleingang in der deutschen Schiller-Forschung deutlich hingewiesen: „Franz Moors Plan, ‚den Körper vom Geist aus zu verderben,‘ d.h. durch genau kalkulierte äußere Eindrücke über die Einbildungskraft bestimmte Affekte zu erregen, die auf den schwächlichen Körper des alten Moor so erschütternd wirken, daß der Tod ohne sichtbare Gewaltanwendung eintritt, unterscheidet sich prinzipiell nicht vom Verfahren des Dramatikers; seine Ausführung ist ein ‚Originalwerk‘ wie das künstlerische Werk“, Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant, S. 153f.
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der Schiller-Forschung, auf moralische, der Logik von ‚gut‘ und ‚böse‘, ‚Hass‘ und ‚Liebe‘ unterstellte Kategorien zunächst einmal Abstand zu halten. Denn bereits beim frühen Schiller stellt die Frage nach Gut und Böse lediglich eine Funktion des ästhetisch Erhabenen dar – und nicht umgekehrt. Seit dem grundlegenden Aufsatz „Schillers ‚Räuber‘: Ein Experiment des Universalhasses“ von Hans-Jürgen Schings (1982) hat der Begriff des ‚Universalhasses‘ in der interpretatorischen Auseinandersetzung mit Schillers Drama durchaus Karriere gemacht. Diesen Begriff, den Schiller im besonderen Kontext der „Selbstbesprechung“ und nur mit Bezug auf Karl Moor verwendet, hat Schings vorsätzlich extensiv mit Bezug auf Schillers ganzes „Schauspiel“ verwendet und in einem präzisen kontrapunktischen Koordinatensystem sehen wollen, in dem „Philosophie der Liebe“ und „Tragödie des Universalhasses“ direkt einander opponieren. 33 Die R äuber seien somit „als rigorose Probe auf die Tragfähigkeit, auf die Belastbarkeit des Systems“ der Philosophie der Liebe zu verstehen, „als „experimentelle[r] Generalangriff auf das Konzept der ‚chain of love‘“, 34 wobei „sich das System der Vollkommenheit und der Liebe schließlich doch behauptet“. 35 In diesem extensiven Sinne hat der Begriff breite Verwendung in der Forschung gefunden und ist auch in die neuesten Studien eingegangen. 36 In grundsätzlicher Übereinstimmung mit Schings’ Interpretation hat auch Wolfgang Riedel in Schillers Frühwerk ein ‚Duell‘ aus der Distanz zwischen dem Julius der ‚Theosophie‘ und dem jüngeren Bruder von Moor sehen wollen: „Unabhängig von ihrer innerdramatischen Funktion, Franz’ Handlungen und Absichten zu motivieren“ – so Riedel –, „formulieren sie die denkbar schärfsten Antithesen zur Theosophie de s J ulius, fügen sich ihre Argumente zu einer systematischen Negation der philosophischen Basisoptionen des jungen Schiller selbst“. 37 Indes hat unsere bisherige Analyse gezeigt, dass es zumindest fraglich ist, ob die von Anfang an ‚sentimentalisch‘ 33
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So schreibt Schings: „Dem System der Liebe und der ‚chain of being‘ tritt das Drama des Universalhasses gegenüber – als Doppeldrama der Gebrüder Moor“, Hans-Jürgen Schings: Schillers „Räuber“: Ein Experiment des Universalhasses. In: Wolfgang Wittkowski (Hg.): Friedrich Schiller. Kunst, Humanität und Politik in der späten Aufklärung. Tübingen 1982, S. 1–25, hier S. 10. Zur goldenen „Kette der Wesen als Allegorie der Theodizee“ vgl. Alt: Begriffsbilder, S. 496–518. Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses, S. 94. Schings: Schillers „Räuber“: Ein Experiment des Universalhasses, S. 15, Fn. 71. Vgl. etwa Nikolas Immers Dissertation Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008 (darin: Kap. III/1: „Ungestillter Universalhaß. Die ähnlichunähnlichen Brüder von Moor“, S. 191–233) sowie Klaus Manger: Schillers dramatische Pointe – Schock oder Befreiung. In: Klaus Manger u. Gottfried Willems: Schiller im Gespräch der Wissenschaften. Heidelberg 2005, S. 107–137, hier S. 110. Für Safranski habe der junge Schiller „mit dem Körpermaterialismus seiner Zeit“ gekämpft. In der „Höhle der materialistischen und deterministischen Löwen“ habe er „die Freiheit mit seiner enthusiastischen Liebesphilosophie retten wollen“, Rüdiger Safranski: Schiller als Philosoph. In: Schiller als Philosoph. Eine Anthologie. Ausgewählt und mit einem Essay versehen von Rüdiger Safranski. Berlin 2005, S. 7–32, hier S. 10. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 199.
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angehauchte ‚Theosophie des Julius‘ tatsächlich zu den „Basisoptionen des jungen Schiller“ gehörte – was schon ein Blick in Schillers ‚Anthropologie‘ von seiner dritten medizinischen Dissertation an als zweifelhaft erscheinen lässt. 38 Die Polarisierung zwischen ‚Philosophie der Liebe‘ und „Tragödie des Universalhasses“ zwingt die Interpretation von Schillers Drama in eine moralisierende Richtung, von der aus schließlich auch das eigentlich Unerhörte an der Figur des Franz Moor kaum zu erfassen ist. Andererseits ist es Riedel selbst, der an derselben Stelle den Ton zu jener alternativen Interpretation des Textes angibt, die wir anstreben. Ohne eine moralisch zentrierte Perspektive konsequent zu verlassen, legt Riedel dann in seinem Aufsatz den Fokus auf die Folgen einer „monistischen Anthropologie, für die der Mensch nach Abzug der unsterblichen Seele nicht mehr sein kann als ein ‚Klumpen Fleisch‘“ 39 – nach der ausdrucksstarken Formel, die Franz Moor am Anfang des zweiten Aktes der Räuber prägt. 40 „Die Negation jeglicher Transzendenz bildet den Fokus dieser schwarzen Philosophie“: 41 Vor dem Hintergrund dieser Stellungnahme wundert es kaum, dass auch das neue Vokabular ( „Wille zur Macht“, „Nihilist“, „Annihilation“, „Gesetz des Stärkeren“, „Gleichgültigkeit des Zufälligen“, „psychophysiologisch“, „Verneinungsarbeit“), 42 dem wir auch in unserer Analyse begegnen, in Riedels Aufsatz Verwendung findet. 43 Einer Fußnote vertraut der Literaturwissenschaftler schließlich eine Intuition an, die in unserem Rahmen durchaus verdient, aufgegriffen zu werden: Ich vermute, daß Schiller die „Räsonnements“ seines Franz Moor ernster genommen hat als die meisten seiner Leser. Denn damit, daß er die Kritik seiner Jugendmetaphysik einem zur Perversion eines Philosophen stilisierten Denker in den Mund legte, war sie für ihn nicht abgetan. Er sah wohl selbst am besten, daß dies nur eine apotropäische Maßnahme war. 44
Franz von Moor „ernst zu nehmen“, bedeutet gerade, das ‚Unerhörte‘ an dieser Figur jenseits des moralischen Werturteils herauszuarbeiten und seine Bedeutung auch für Schillers spätere ästhetische Theorie hervorzuheben. Denn es ist durchaus 38
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Wie Riedel wiederum selbst implizit bekräftigt, indem er an anderer Stelle schreibt, dass Schiller schon ab seiner dritten Dissertation seinen „‚anthropologischen‘, medizinisch geprägten und das heißt realistisch ernüchterten Blick auf den Menschen […] nie wieder preisgegeben hat“, Riedel: Die anthropologische Wende. Schillers Modernität, S. 44. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 205. NA 3, 38. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 206. Ebd., S. 201f. u. 205f. Von einer „monstrueuse volonté de puissance“ sowie von „rationalité amorale“ und „nihilisme“ spricht auch Roland Krebs im Kapitel „Un cas exemplaire: Friedrich Schiller“ seiner der deutschen Rezeption des Helvétius gewidmeten Studie: Helvétius en Allemagne ou la tentation du matérialisme. Paris 2006, S. 223–265, hier S. 251 u. 254. Vgl. außerdem Luca Crescenzis Überlegungen zum ‚unzeitgemäßen‘ Schiller zwischen Ethik und Ästhetik im Aufsatz: La critica della morale e il martire della storia. Studi sui Briefe über Don Carlos. In: Giovanna Pinna, Pietro Montani u. Adriano Ardovino (Hg.): Schiller e il progetto della modernità. Roma 2006, S. 91–108. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 207, Fn. 30.
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anzunehmen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der völligen „Illusionslosigkeit in metaphysicis“, die Franz an den Tag legt, und der Entstehung von Schillers ästhetischer Theorie besteht, wie Riedel an demselben Ort betont: Eine Illusionslosigkeit in metaphysicis, die selbst in der Spätaufklärung ihresgleichen sucht und Schiller auch von dem, was die letzten Dinge betrifft, unentschiedenen Kant […] trennt, ist der philosophische Grund des innerweltlichen Idealismus seiner „klassischen“ Periode, der von Julius den menschenfreundlichen Enthusiasmus und die moralischen Energien, von Franz aber den Verzicht auf jede Transzendenz- und Immortalitätshoffnung übernimmt. Die ästhetische Utopie des Schönen (als eine Philosophie des möglichen Glücks) wie die Theorie des Erhabenen (als eine Philosophie angesichts des gewissen Todes) entfalten ihre unerhörte Humanität vor jenem Satz der „Räuber“, daß kein Gott sei. 45
Dass jener Satz und seine schwerwiegendste philosophisch-theologische Implikation, der Nihilismus, nicht nur am Anfang von Schillers Werk steht, sondern letztlich eine sowohl existenziell als auch ästhetisch relevante Frage aufwirft, die sich seit der Spätaufklärung dem christlichen Abendland stellt – dies wurde in unserem Rahmen bereits erwähnt und soll auch anhand der folgenden Analyse von Schillers und Alfieris Werken in den nächsten Kapiteln gezeigt werden. Zunächst sei der Fokus aber weiterhin auf Franz Moor gerichtet. „Ich will meinen Haß an eurem Untergang sättigen, die ganze Brut, Vater, Mutter und Tochter, will ich meiner brennenden Rache opfern“: 46 Man wäre fast versucht, diese Worte instinktiv dem jüngeren Bruder von Moor zuzuschreiben – der Figur, welcher „der Part des schlechthin Üblen“ sowohl in der ‚Tragödie des Universalhasses‘ als auch „im Pandämonium“ von Schillers Frühwerk „zugedacht“ sei. 47 Doch werden diese Worte nicht von Franz Moor, sondern vom Präsidenten von Walter in einem völlig anderen Kontext in Schillers „bürgerlichem Trauerspiel“ Kabale und Liebe (1784) gesprochen – die Regieanweisung lautet dabei „in Flammen“. Nichts dergleichen findet man dagegen in Franzens Äußerungen. Nichtsdestoweniger bemängelt der Rezensent in der „Besprechung“ der Räuber, wie schon erwähnt, dass Franz „durchaus anders sprechen“, ja „schlechterdings kalt sein“ sollte. 48 Wie ist also diese ‚Kälte‘ mit den Flammen des Hasses – wie ist sie mit der ‚Tragödie des Universalhasses‘ in Einklang zu bringen? Wenn man sich für einen Moment dem Bann des bösen Bruders Moor entzieht und Abstand von der Gestalt gewinnt, merkt man, dass Franz in Wirklichkeit keineswegs ‚hasst‘ – und dies selbstverständlich nicht, weil er ein moralisch ‚guter‘ Mensch, ja gar ein guter Christ wäre, sondern weil der Hass kostbare Kräfte zum Nachteil seiner ethisch und moralisch freilich verwerflichen Machtpläne in Anspruch nähme. Bereits sein erster Monolog am Ende der ersten Szene macht dies deutlich, wobei nicht zu übersehen ist, dass auch das offensichtliche Ressentiment, 45 46 47 48
Ebd. NA 5 N, 78. So die bereits zitierte Stelle aus Riedels Aufsatz: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 199. NA 22, 130.
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das Franz hier zunächst gegenüber jener Natur hegt, die sich an ihm grob vergangen habe, im Laufe des Selbstgesprächs grundsätzlich revidiert wird. Während der erstgeborene Karl – der „groß[e]“, der „herrlich[e]“, der „einzig[e]“ Sohn 49 – in seiner symbolischen Primogenitur in prinzipieller Eintracht mit sich selbst, mit der Ordnung des Vaters, der Natur und des Kosmos leben kann, ist Franz, der zweite und hässliche Sohn im Hause von Moor, derjenige, der in der natürlichen Ordnung der Dinge benachteiligt ist. Genau vor diesem Hintergrund lässt Franz hier zunächst seine Drohung erklingen: „Ich habe grosse Rechte“, so schimpft er lautstark, „über die Natur ungehalten zu seyn, und bey meiner Ehre! ich will sie geltend machen“. 50 Doch schon im drauf folgenden Absatz nimmt der zweitgeborene Moor seine Worte mit einem demonstrativen Gestus zurück: „Nein! Nein! Ich thu ihr [der Natur] Unrecht. Gab sie uns doch Erfindungsgeist mit, setzte uns nackt und armselig ans Ufer dieses grossen Ozeans Welt – Schwimme, wer schwimmen kan, und wer plump ist geh unter!“. 51 Das Ressentiment gegenüber der Natur, das Franz davor geäußert hat und das ihm eine Karriere als Hasser zuweisen würde, verliert seine Begründung in dem Moment, in dem Franz merkt, dass ihm erst der Ausgang aus der Natur wirklich das ‚Recht‘ gibt, die bestehende Ordnung ganz in Frage zu stellen und seine eigene Machtordnung kaltblütig durchzusetzen. Das, was Franz an dieser Stelle vor dem Hintergrund seines Jahrhunderts realisiert, ist, dass er gerade als Außenseiter des konstituierten Systems grenzenlos frei ist. Das eigentliche Skandalon dieser Figur ist somit ganz in dem Satz zusammengefasst, in dem Franz seinen persönlichen Benimmkodex aus seiner Position gegenüber der „Natur“, das heißt gegenüber der etablierten ‚Ordnung‘ im weitesten Sinne, heraus rechtfertigt: „Sie [die Natur] gab mir nichts mit“, sagt Schillers Figur lapidar an dieser Stelle und ergänzt: „wozu ich mich machen will, das ist nun meine Sache“. 52 Für diesen Satz, mit dem Franz die Logik der traditionellen Moral plakativ hinter sich wirft, erringt der jüngere Moor aus gesellschaftlicher Sicht bereits in der ersten Szene von Schillers Drama das Stigma eines „Monstrum[s]“. 53 Und doch gilt es, diese folgenreiche ‚Monstrosität‘ genau unter die Lupe zu nehmen, denn sie stellt das konsequente Ergebnis der erschütternden Erkenntnis dar, dass es für den Menschen keine metaphysische Rechtfertigung des Daseins gibt und dass sich das Leben in der Abfolge der Augenblicke unausweichlich und endgültig verliert. Einmal mehr hat man es hier mit der „elementaren Einsicht“ zu tun, dass Werte relativ sind und der Mensch als geistig-körperliche Einheit endlich ist. 49 50 51 52
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NA 3, 33. NA 3, 18. Ebd. Ebd. Zu diesem Aspekt wurde in der Forschung treffend bemerkt: „Der melancholische Zweifel, ob denn die Sinngarantie der göttlichen Ordnung auch die eigene Person mit einbeziehe, entfaltet eine nur schwer zu bändigende subversive Kraft, weil im 17. und 18. Jahrhundert die göttliche Ordnung zugleich staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen ihren Legitimationsanspruch verschaffte“, Immelmann: Der unheimlichste aller Gäste, S. 37f. NA 20, 121.
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Von dem ‚nihilistischen‘ Hintergrund, vor dem seine ‚Philosophie‘ steht, gibt Franz von Moor an mehreren Stellen in Schillers erstem Schauspiel Zeugnis. Bereits vor seiner unverblümten Verkündung vom Tod Gottes gegenüber Pastor Moser im letzten Akt 54 weiß Franz eine durchaus persönliche Definition der zumal in der deutschen Aufklärung hochgepriesenen ‚Bestimmung des Menschen‘ darzubieten: „[D]er Mensch entstehet aus Morast, und watet eine Weile im Morast, und macht Morast, und gährt wieder zusammen in Morast, bis er zuletzt an den Schuhsohlen seines Urenkels unflätig anklebt. Das ist das Ende vom Lied – der morastige Zirkel der menschlichen Bestimmung“. 55 In seinen praktischen Folgen betrachtet, bedeutet der geplante Mord an seinem Bruder nicht wirklich viel. Im Grunde genommen sei es, so Franz, als ob die Natur ‚vergessen‘ hätte, „einen Mann mehr zu machen“: „Es war etwas und wird nichts – Heißt es nicht eben so viel, als: es war nichts und wird nichts – und um nichts wird kein Wort mehr gewechselt“. 56 So spekuliert Franz, indem er nicht zuletzt versucht, eine rationale Rechtfertigung für seinen Mordplan zu finden. Ausgehend von dem Nichts, von dem das menschliche Leben kommt und in das es hinfließt, demaskiert Franz schon im ersten Akt als reine Konvention, was sich hinter jeglichem menschlichen ‚Wert‘ und jeglicher ethischen Instanz verbirgt – sei es ein „ehrlicher Name“, das „Gewissen“ oder die „Blutliebe“. 57 Aber damit nicht genug: Franz wird sich darüber klar, dass diese ‚Konvention‘ der „gemeinschaftliche[n] Pakta“ keinen trägen Ballast der Tradition darstellt, sondern direkt dem Schutz der etablierten Machtverhältnisse dient: In der That, sehr lobenswürdige Anstalten, die Narren im Respekt und den Pöbel unter dem Pantoffel zu halten, damit die Gescheiden es desto bequemer haben. Ohne Anstand, recht schnakische Anstalten! Kommen mir für, wie die Hecken die meine Bauren gar schlau um ihre Felder herumführen – daß ja kein Haase drüber sezt, ja beileibe kein Haase! – Aber der gnädige Herr gibt seinem Rappen den Sporn, und galoppirt weich über der Weyland Aerndte. Also frisch drüber hinweg! 58
Und so schließt sich der Kreis: Die Macht, welche die soziale Konvention dem hässlichen Zweitgeborenen abspricht und die den Inhalt der nunmehr in der reinen Immanenz zu erlangenden ‚Glückseligkeit‘ ausmacht, versucht Franz auf eigene Faust mit Hilfe seines „Erfindungs-Geist[es]“ 59 zu erlangen. So wird jene Macht zum erklärten Ziel seiner Pläne und schließlich zum eigentlichen Zweck seines Lebens. Alles, was Franz nun für die berechtigte Erfüllung seines ‚Glücks‘ braucht, weiß er schon in seinem festen Besitz: einen Machtplan, einen klaren Kopf und ein genügendes Quantum an Kraft. Sein Motto lautet dabei unmissverständlich: „Jeder hat gleiches Recht zum Grösten und Kleinsten, Anspruch wird an 54 55 56 57 58 59
NA 3, 121. NA 3, 95. Ebd. NA 3, 19. Ebd. Auf diese Textpassage kommen wir in diesem Kapitel noch zurück. NA 3, 18.
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Anspruch, Trieb an Trieb, und Kraft an Kraft zernichtet. Das Recht wohnet beym Ueberwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze“. 60 Es lohnt sich nebenbei darauf hinzuweisen, dass auch Franz – der hier gerade die Hybris des kraftvollen ‚Überwältigers‘ an den Tag legt – nicht immun gegen jene ‚Schranken der Kraft‘ ist, in denen er die einzig gültigen „Gesetze“ der Menschen betrachtet – darauf wird noch zurückzukommen sein. Der Ausgang aus der göttlichen Ordnung der Natur, der die gespenstische Gestalt des Nihilismus hervorgerufen hat – jene Gestalt, die noch Schillers Wollmar jedes Handeln unmöglich machte –, ermöglicht nun paradoxerweise dem kraftgeladenen Subjekt die Durchsetzung einer neuen, selbstbestimmten Machtordnung. Da das Leben für Franz seinen Sinn als reinen ‚Willen zur Macht‘ entfaltet, kann er entzückt ausrufen: „Frisch also! mutig ans Werk! – Ich will alles um mich her ausrotten, was mich einschränkt, daß ich nicht Herr bin. Herr muß ich seyn, daß ich das mit Gewalt ertrotze, wozu mir die Liebenswürdigkeit gebricht“. 61 Franz ist frei, um ‚Herr‘ zu werden – und Herr-Sein bedeutet schließlich, ‚Größe‘ zu erlangen. Dabei soll deutlich betont werden, dass das Instrument, dessen sich Franz in der Entfaltung seines ‚Willens zur Macht‘ bedient, nicht brachiale Gewalt ist – sondern ‚kalte‘ Rationalität. Der Zweitgeborene, der aus der Ordnung der Natur und der Gesellschaft herausgetreten ist, genießt sein Machtgefühl in dem Moment, da er der Natur und der Gesellschaft die geordnete Struktur seines Machtplans aufzwingt. Dank der ‚geistigen Natur‘ des Menschen vollzieht sich eine bedingte und nur diesseitige Revanche gegen die ‚tierische Natur‘, die ja einerseits ihren unveränderbaren Regeln gehorcht und sich selbst in der Zeitabfolge auslöscht, und doch andererseits in ihrer Gesetzmäßigkeit und Voraussehbarkeit rational beherrschbar ist. Es ist kein Zufall, wenn Franz in der ersten Szene des zweiten Aktes – nunmehr ungeduldig geworden, weil der erwartete natürliche Tod des Vaters doch nicht eintreten will – in die rhetorischen Fragen ausbricht: „Müssen denn aber meine Entwürfe sich unter das eiserne Joch des Mechanismus beugen? – Soll sich mein hochfliegender Geist an den Schneckengang der Materie ketten lassen?“. 62 Für die ‚Materie‘ hat Franz Moor offensichtlich nur Verachtung übrig – und das, auch wenn er in der Forschung als „Materialist“ par excellence gilt. 63 Doch stellt die ‚Materie‘ für Franz Moor nur das Rohmaterial dar, das der Geist für die eigenen immanenten Zwecke zu bearbeiten hat. Und wenn die Medizin lehrt, die „Bedingungen des Lebens zu verlängern“, so nimmt sich Franz wissenschaftlich vor, eine Behandlung zu entwickeln, welche die Bedingungen des Lebens gezielt „verkürzen“ soll. 64 „Ich möcht es machen wie der gescheide Arzt,“ – sagt er – „(nur 60 61 62 63 64
NA 3, 18f. NA 3, 20. NA 3, 38. Vgl. Gert Sautermeister: Die Räuber. Ein Schauspiel (1781). In: Luserke-Jaqui (Hg.): SchillerHandbuch. S. 1–45, hier insb. S. 21–30 sowie S. 40–44. NA 3, 38.
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umgekehrt)“. 65 Es stellt sich die Frage, ob diese Gedanken, die als „Inversionen des Franz Moor“ 66 im kulturellen Kontext der Aufklärung interpretiert wurden, sich außermoralisch nicht vielmehr als folgerichtige Kontinuitäten zu betrachten wären. Bei der Erfindung, Durchführung und Durchsetzung eines Plans erlebt das Ich die Übermacht der Ratio, die der Außenwelt die Logik der eigenen Ordnung, Symmetrie und Disziplin aufzuzwingen vermag. Vor diesem Hintergrund ist Franz beim Wort zu nehmen, wenn er ausruft: „[M]utig ans Werk!“, 67 oder wenn er sich anschickt, „zu Werk“ zu gehen 68 – dabei geht es immer und lediglich um die Realisierung des erdachten Projekts, ja um die ‚erhabene‘ Vollendung des geplanten „Werks“, wo der ästhetische Genuss, den die durchdachte Form verspricht, jeden moralischen Skrupel in den Hintergrund drängt. Erst vor diesem Hintergrund betrachtet, sind einige ‚Räsonnements‘ des Franz Moor in ihrer ganzen sowohl philosophischen als auch ästhetischen Tragweite zu interpretieren. 69 Am Anfang des zweiten Aktes sinnt Franz beispielsweise nach, wie der Tod des Vaters schneller herbeizuführen, ja wie seine „Natur“ „in ihrem eigenen Gange“ zu „beförder[n]“ sei: 70 Wer es verstünde, dem Tod diesen ungebahnten Weg in das Schloß des Lebens zu ebenen? – den Körper vom Geist aus zu verderben – ha! ein Originalwerk! – wer das zu Stand brächte! – Ein Werk ohne gleichen! – Sinne nach Moor! – das wär eine Kunst, dies verdiente dich zum Erfinder zu haben. 71
Am Ende desselben Monologs glaubt er die richtige Lösung, ja die formale Symmetrie seines Machtprojektes gefunden zu haben: „Triumf! Triumf! – Der Plan ist fertig – Schwer und Kunstvoll wie keiner – zuverläßig – sicher – denn spöttisch. des Zergliederers Messer findet ja keine Spuren von Wunde oder korrosivischen Gift“. 72 Wohl aus moralischer Perspektive hatte bereits der Rezensent in seiner 65 66 67 68 69
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Ebd. So Wolfgang Riedel im erwähnten Aufsatz: Die Aufklärung und das Unbewusste. Die Inversionen des Franz Moor, S. 198–220. NA 3, 20. NA 3, 39. „Franz Moor stürzt“ – so Harald Steinhagen zutreffend in der Forschung – „seinen Vater […] in die Hölle, um ihn zu vernichten; Schiller will seine Zuschauer durch den Fiesco begeistern und zum ‚Himmel erheben‘. Die Zwecke sind zwar inhaltlich entgegengesetzt; aber die Mittel, durch die jene bewirkt werden, sind identisch, d.h. sie sind neutral gegenüber äußeren Zwecken und werden dadurch autonom. Ihre Funktion liegt in ihrer bloßen Wirksamkeit als Mittel, konkret: in ihrer Macht über Menschen, gleichgültig zu welchen äußeren Zwecken. Sie sind nichts anderes als die hypothetischen Imperative der rein formalen Vernunft, die, losgelöst von jeglicher Moral und unfähig zu objektiven Zwecksetzungen, zum bloßen Herrschaftsinstrument ihres Subjekts wird“, Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant, S. 154. NA 3, 38. NA 3, 38f. NA 3, 40.
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Besprechung von Schillers Räubern darauf hingewiesen, dass die „untreue Seele“ des Franz Moor „geschmeidig in alle Masken“ „schlüpft“ und dass sie sich „in alle Formen“ „schmiegt“. 73 Nun kann man diese moralisch verfärbte Kritik in ihrer ästhetischen Bedeutung erfassen: Die verschiedenen Masken des Franz Moor, die moralisch gesehen reine Heuchelei bedeuten, sind nur als unterschiedliche Strategien zur Macht zu betrachten – sie stellen nichts als reine Widerspiegelungen von Franz Moors ‚Willen zur Macht‘ dar. Das Entscheidende ist dabei aber, was folgt: Nicht weil ein ‚Plan‘ in seinen Konsequenzen gut oder schlecht ist, vermittelt er ein Macht- und Glücksgefühl im agierenden Subjekt oder einen ästhetischen Genuss im rezipierenden Betrachter. Das „Werk“ entfaltet seine Wirkung ausschließlich aus seiner inneren rationalen Perfektion heraus, einer Perfektion, die auch für seinen (a-moralischen) Erfolg bürgt. In der rational vorgesehenen Ordnung bekommt somit auch das Leiden lediglich eine ästhetische Funktion zu spielen. Vor diesem Hintergrund kann Franz in seiner Machthybris behaupten: „Ich will euch die zakichte Sporen ins Fleisch hauen, und die scharfe Geisel versuchen“, 74 „ich will Wunder thun im Peinigen“: 75 Als „Sadismus ante l itteram“ ist dies alles zu betrachten, wie treffend in der älteren italienischen und deutschen SchillerForschung bemerkt wurde. 76 Im Rahmen einer rationalen Ordnung vermittelt auch das nach Plan zugefügte Leid einen hohen ästhetischen Genuss. Ganz präzis wird Schiller in den 1790er Jahren diese bereits in seinem Frühwerk in die theatralische Praxis umgesetzte Erkenntnis mit Blick auf die Ästhetik des Erhabenen festhalten: Die höchste Consequenz eines Bösewichts in Anordnung seiner Maschinen ergötzt uns offenbar, obgleich Anstalten und Zweck unserm moralischen Gefühl widerstreiten. Ein solcher Mensch ist fähig, unsre lebhafteste Teilnahme zu erwecken, und wir zittern vor dem Fehlschlag derselben Plane, deren Vereitlung wir, wenn es wirklich an dem wäre, daß wir alles auf die moralische Zweckmäßigkeit beziehen, aufs feurigste wünschen sollten. 77
Wenn man bedenkt, dass Schiller selbst in der ‚ästhetischen Ordnung‘ seiner Räuber seinem Leser und Zuschauer mit der Figur des Franz Moor nicht zuletzt diesen ästhetischen Genuss in hohem Maße darbietet, so wird auch die Tragweite der grundlegenden ästhetischen Frage klar, die diese Figur im Rahmen von Schillers Frühwerk aufwirft. In der Tat: „Die Vernunft im ästhetischen Gebrauch ist wie die im praktischen Gebrauch ein völlig wertneutrales Instrument, ein Herrschaftsinstrument“. 78 Und umso nachvollziehbarer erscheint nun auch das nicht nur rhetorische Unbehagen, das bereits der Rezensent der Räuber, wie wir uns erinnern, gegenüber der Figur des Franz von Moor geäußert hatte: „[S]ündigt nicht der Dichter 73 74 75 76 77 78
NA 22, 123. NA 3, 53. NA 3, 94. Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 24; Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant, S. 135–157. Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 145. Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant, S. 154.
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unverzeihlich gegen ihre [der Natur] ersten Gesetze, der dieses Monstrum der sich selbst befleckenden Natur in eine Jünglings-Seele verlegt?“. 79 Ein weiterer Aspekt soll an dieser Stelle noch behandelt werden. Es betrifft das Gespräch, das Franz Moor am Ende des Schauspiels mit Pastor Moser führt, sowie den Freitod des jüngeren Bruders Moor im fünften Akt. Das Ende des Franz Moor wurde gerne als Revanche der etablierten Regeln der Moral und des gesellschaftlichen Zusammenlebens gesehen. Es geschieht Folgendes: Im letzten Akt des Schauspiels träumt das gottlose „Monstrum“, ja der sadistische Tyrann Franz mitten in der Nacht vom Jüngsten Gericht, das ihm verkündet, dass es für ihn keine Vergebung geben wird. Franz, der offensichtlich seine Angst nicht (mehr) beherrschen kann, sieht sich verloren und verraten. Er lässt den Pastor rufen und noch bevor dieser erscheint, wird er von der Befürchtung geplagt, es möge doch einen „Rächer droben über den Sternen“ 80 geben. Der Ruf nach dem Pastor ist an sich schon ein Zeichen von Schwäche: Franz fängt an, nun doch noch vor der Religion zu „zittern“, 81 auch wenn er dem Pastor im Gespräch standzuhalten versucht. Der Pastor stellt ihm vor, was seine Seele nach dem Tod erwartet; im Bewusstsein seiner Todsünden und seines bevorstehenden Endes versucht Franz, seine Lage mit einem späten Bußakt zu retten. Aus Angst vor den Räubern, die auf Befehl seines Bruders das Schloss stürmen, nimmt er sich schließlich das Leben. Das ist das Ende des Franz von Moor in Schillers Schauspiel – wohl das einzige moralisch annehmbare Ende des „Monstrums“ Franz. Der Leser verabschiedet diese Figur in der Sicherheit der gebührenden Bestrafung im Jenseits, die durch ihren frevelhaften Selbstmord nur noch schärfer ausfallen muss. 82 Der Böse erfährt am Ende von Schillers Drama – und noch mehr in der Mannheimer Trauerspielfassung der Räuber – die gerechte, ja exemplarische Strafe, die ihm der Leser oder Zuschauer in Anbetracht des von ihm skrupellos zugefügten Leides von Anfang an gewünscht hat. Auch muss Schillers Rezipient eine gewisse Genugtuung empfinden, wenn er zusieht, wie der ungestrafte Tyrann und frevelhafte Verneiner Gottes am Ende doch Angst vor dem Tod, ja vor jener ewigen Verdamnis bekommt, die ihn erwartet, und schließlich gerade am verübten Übel zugrunde geht.
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NA 22, 121. NA 3, 120. Ebd. Gerade um dem Gerechtigkeitsgefühl des Zuschauers noch mehr Genüge zu leisten, wurde unter anderem das Finale des Schauspiels in der vom Intendanten des Mannheimer Theaters Dahlberg geforderten Überarbeitung des Stücks geändert: Hier wird Franz am Ende lebendig von Karls Räubern gefangen, so dass er dabei nicht nur eine gerechte Strafe im Jenseits zu fürchten hat, sondern auch schmerzvolle Vergeltung für seine Sünden schon im Diesseits erfährt: vgl. die Varianten zur dritten, 1782 erschienenen Fassung von „Die Räuber. Ein Trauerspiel von Friedrich Schiller. Neue für die Mannheimer Bühne verbesserte Auflage“, NA 3, 137–236. Zur Entstehungsgeschichte und den Änderungen der Räuber vgl. auch Alt: Schiller. Bd. I, S. 276–302, insb. S. 297–302.
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Indes ist es mehr als fraglich, ob Franzens Benehmen als Zeichen eines zu spät eintretenden, dafür aber echten Gefühls der Reue und Versöhnung oder bloß als Angst zu interpretieren ist. Auch von einer „Umkehrung oder Inversion des ‚umgekehrten Aufklärers‘“, ja von einer „unfreiwillige[n] Selbstwiderlegung“ im „Schlußakt des Franz-Dramas“ kann schwerlich die Rede sein. 83 Denn wenn man auch hier den gewohnten moralischen Blickwinkel verlässt, erkennt man, dass Franzens Schlussakt keine ‚Inversion‘ seines vorigen Benehmens darstellt, sondern in kohärenter Kontinuität dazu steht. Der Hintergrund, vor dem der Schlussakt des Franz-Dramas zu betrachten ist, ist hier einmal mehr derjenige der ‚Moral des Nihilismus‘ und nicht derjenige der traditionellen Moral – und das, obwohl religiöse Motive und biblische Topoi an dieser Stelle eine große Rolle spielen. Im vierten Akt des Schauspiels, in dem Moment, da Franz den Mord an seinem Bruder plant und sich ihn auch als ‚philosophisch‘ gerechtfertigt vorzustellen versucht, liest man: Ist die Geburt des Menschen das Werk einer viehischen Anwandlung, eines Ungefährs, wer sollte wegen der Verneinung seiner Geburt sich einkommen lassen an ein bedeutendes Etwas zu denken? Verflucht sey die Thorheit unserer Ammen und Wärterinnen, die unsere Phantasie mit schröcklichen Mährgen verderben, und gräßliche Bilder von Strafgerichten in unser weiches Gehirnmark drücken, daß unwillkürliche Schauder die Glieder des Mannes noch in frostige Angst rütteln, unsere kühnste Entschlossenheit sperren, unsere erwachende Vernunft an Ketten abergläubischer Finsternis legen. 84
Sinn für ‚Gut und Böse‘, Beachtung moralischer Normen sowie Angst vor dem Verstoß gegen sie macht Franz hier zu einer Frage der menschlichen Erziehung. Durch das Versprechen von Belohnung und Androhung von Strafe wird das Benehmen des noch wehrlosen Kindes systematisch gelenkt, wobei dieses damit auch zwischen ‚Gut‘ und ‚Böse‘ zu unterscheiden lernt. Die abschreckenden Bilder und Erzählungen, die das Kind verinnerlicht hat, beeinflussen unwillkürlich auch sein Verhalten als erwachsener Mensch – und zwar jedes Mal, wenn dieser Mensch einer bestimmten Lebenssituation nicht gewachsen ist und diese nicht rational zu beherrschen vermag. Das Wiederauferstehen jener ersten Bilder aus der Kindheit, die Beschäftigung mit ihren Inhalten und die Angst vor deren Folgen für das Leben des erschütterten Subjekts vermag zwar schon einiges über den emotionalen Zustand des Betroffenen selbst zu sagen – dafür nichts über die Echtheit oder Glaubwürdigkeit der Bilder selbst. Die Ängste, die Franz Moor im letzten Akt von Schillers Räubern plagen, haben ihren Ursprung in der christlich geprägten Kindheit und Jugend dieser Figur. Franz selbst macht dies mit bewunderungswürdiger psychologischer Einsicht deutlich. Doch die Frage, die uns dabei beschäftigen soll, ist eine andere: Warum lässt sich der kalte Franz von solchen Ängsten quälen, da er selbst besser weiß, wie sie 83 84
Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 207. NA 3, 95.
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entstehen und wo sie herkommen? Wieso ist Franz nicht mehr in der Lage, die Lebenssituation, in der er sich befindet, rational zu beherrschen? Wie erinnern uns: „Das Recht wohnet beim Ueberwältiger, und die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze“, sagt Franz lapidar bereits in der ersten Szene des Schauspiels. 85 Körper und Geist beeinflussen sich gegenseitig, tierische und geistige Natur des Menschen sind nicht voneinander zu trennen. Doch setzt die kaltblütige Durchführung eines erhabenen (Macht-)Plans voraus, dass sich tierische und geistige Natur des Menschen in einem Zustand des perfekten Gleichgewichts befinden, was bei Franz gegen Ende des Stücks offensichtlich nicht mehr der Fall ist. Vor diesem Hintergrund kann Franz im fünften Akt die ihn umgebende Wirklichkeit nicht mehr rational beherrschen, weil Körper und Geist bei ihm sozusagen außer Phase geraten sind. Dabei ist Franz offensichtlich selbst an jene „Schranken“ seiner „Kraft“ gekommen, die er bereits im ersten Akt für seine einzig gültigen „Gesetze“ erklärt hatte. 86 Tatsächlich verfügt Franz über keine Kraft mehr, die er noch in seine Machtpläne investieren könnte. Die existenzielle Angst befällt ihn nicht von ungefähr in der Nacht – in dem Moment, da er am schwächsten ist. Seine ‚Männlichkeit‘ schwankt. Mangel an Schlaf, Schwäche (Ohnmacht) und Krankheit werden auch in den letzten Dialogen der Figur mit dem alten Diener Daniel thematisiert: DANIEL. Oh ihr seyd ernstlich krank. FRANZ. Ja freylich, freylich! das ist alles. – Und Krankheit verstöret das Gehirn, und brütet tolle und wunderliche Träume aus – Träume bedeuten nichts – nicht wahr Daniel? Träume kommen ja aus dem Bauch, und Träume bedeuten nichts – ich hatte so eben einen lustigen Traum er sinkt unmächtig nieder [...] FRANZ richtet sich matt auf. Wo bin ich? – du Daniel? was hab ich gesagt? merke nicht darauf! ich hab eine Lüge gesagt, es sey was es wolle – komm! hilf mir auf! – es ist nur ein Anstoß von Schwindel – weil ich – weil ich – nicht ausgeschlafen habe. DANIEL. Wär nur der Johann da! ich will Hülfe rufen, ich will nach Aerzten rufen. FRANZ. Bleib! sez dich neben mich auf diesen Sopha! – so – du bist ein gescheuter Mann, ein guter Mann. Laß dir erzählen! DANIEL. Izt nicht, ein andermal! Ich will Euch zu Bette bringen, Ruhe ist euch besser. 87
Selbstverständlich versucht Franz mit den Hinweisen auf seine (angeblich momentane) physische Verfassung auch den Umstand zu vertuschen, dass er die Wirklichkeit nicht mehr unter Kontrolle hat. Und doch verraten seine Schwächeanfälle, dass er seine Machtpläne schwerlich länger aufrechterhalten kann. Franz steht am Ende seiner Machtkarriere: Seine anfängliche, durchaus symbolische Ohnmacht als 85 86
87
NA 3, 18f. Zu Recht weist auch Jürgen Daiber darauf hin, dass die Szenen im fünften Akt der Räuber zwischen Franz und seinem Diener Daniel „den Einfluß von Furcht und Gewissensangst auf den Körper [demonstrieren], wie ihn Schiller in seiner dritten Dissertation entwickelt, und den [der Mediziner Johann Friedrich] Zückert in seiner Abhandlung über die Leidenschaften mit der dem ärztlichen Stil eigenen Drastik ausführt“, Daiber: Figuren des Skeptizismus in der Anthropologie des jungen Schiller, S. 58. NA 3, 118.
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zweitgeborener Sohn im Hause Moor hat er im Schauspiel nach dem Grundschema des Erhabenen durch rationale Kraft in die Grundlage für jene Übermacht umzuwandeln gewusst, die seinem ‚Willen zur Macht‘ Genugtuung verschaffte. Doch mit der Zeit haben Körper und Geist, die anfangs noch „in der herrlichsten Blüte“ standen, 88 begonnen, ihren ‚Glanz‘ zu verlieren und sich gegenseitig zu hemmen. Die Kraft, die den rationalen Machtplan des Franz Moor unterstützte, steht nicht mehr zur Verfügung: Am Ende gerät die Figur in einen Zustand der Ohnmacht zurück, aus dem sie sich nicht mehr zu erholen vermag. Was dabei interessiert, ist die existenzielle Bedeutung dieses Kraftverlustes: In der immanenten Perspektive des Franz Moor, die wir dargestellt haben, verliert das Leben seinen eigentlichen Sinn, wenn keine Kraft mehr zur Verwirklichung des eigenen Machtplans zur Verfügung steht. Der Abgrund des Nichts, die Leere des Nihilismus tut sich an dieser Stelle unter den Füßen des Franz Moor auf. Dennoch hört der „Charakter“ dabei nicht auf, sich selbst treu zu bleiben, ja ein „eigenes Universum“ darzustellen. 89 „Ich kann nicht beten“, sagt Franz am Ende seiner Laufbahn, „Nein ich will auch nicht beten – diesen Sieg soll der Himmel nicht haben, diesen Spott mir nicht anthun die Hölle –“. 90 Für Franz kann es keine metaphysische Rettung mehr geben, so wie es keine menschliche Gerechtigkeit für denjenigen geben kann, der sich von Anfang an grundsätzlich und ausdrücklich geweigert hat, ihre Gesetze und ihre Ordnung anzuerkennen. Wenn die Kräfte schwinden und die heroische Moral des Nihilismus keinen Sinn mehr ergibt, so gehört das Leben ausgelöscht. Franz Moor greift nach seiner „goldene[n] Hutschnur“ und „erdrosselt sich“: 91 Der Selbstmord ist nichts Anderes als der letzte Akt im Leben dieses modernen Nihilisten, der im Kontext der Spätaufklärung Schillers Feder entsprungen ist. „Stirbt er nicht bald wie ein großer Mann, die kleine kriechende Seele!“: 92 Man hat den nachträglichen Spott des (Selbst-)Rezensenten der Räuber gerne als autoritative Bestätigung für die grundsätzliche Harmlosigkeit des „Monstrums“ Franz interpretiert. Hinter dieser „krebsartige[n] Verderbnis“ der Natur, 93 hinter seiner blinden Megalomanie und skrupellosen Machtgier stecke am Ende nichts Anderes als eine bemitleidenswerte menschliche Unzulänglichkeit, die nach ihrer einmaligen Niederlage, sei das sein Selbstmord oder seine Hinrichtung, ohne soziale Folgen bleibe. Ein läuternder Tod setze dem widernatürlichen Größenwahn des jüngeren Moor ein Ende – der Berg kreiße und gebäre eine Maus. Die Räuber, einschließlich ihres „Monstrum[s] der sich s elbst b efleckenden Natur“, 94 seien 88 89 90 91 92 93 94
Um hier eine Formel des Raphael zu verwenden – in deutlicher Entfernung von ihren Implikationen im originalen Kontext, NA 20, 114. NA 22, 123. NA 3, 126. Ebd. NA 22, 124. NA 22, 121. Ebd.
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somit getrost als ein Teil von Schillers „rigorose[r] Probe auf die Tragfähigkeit, auf die Belastbarkeit des Systems“ der Philosophie der Liebe aufzufassen. 95 Am Ende setze sich ja „das System der Vollkommenheit und der Liebe“ durch. 96 Es ist kein Zufall, wenn man den rhetorischen Ausruf des Rezensenten „stirbt er nicht bald wie ein großer Mann“ bei dieser Interpretation eher in den Hintergrund gerückt und den Akzent dagegen auf die spöttisch-abwertende Bezeichnung der Figur als „kleine kriechende Seele“ gesetzt hat. Indes lohnt es sich durchaus zu fragen: Stellt Franz vor dem historischen, philosophischen und sozialen Hintergrund des 18. Jahrhunderts bloß einen Einzelfall dar – eine jederzeit statistisch mögliche, von Schiller für ästhetische Zwecke gezielt ins Leben gerufene Devianz gegenüber der moralischen Norm? Eine Devianz, ja, eine ‚Inversion‘, die am Ende den status quo um kein Jota änderte und spätestens mit dem Tod der Figur endgültig beigelegt wäre? Der moralisierende Rezensent weiß, dass er die Brisanz des Falls Franz Moor in seiner Besprechung der Räuber relativieren muss. Sein Spott über den jüngeren Sohn der Grafenfamilie hat dabei nicht zuletzt diesen Zweck zu erfüllen. Indes ist darauf hinzuweisen, dass sich Schillers Selbstbesprechung auf die dritte BuchAusgabe der Räuber. Ein Trauerspiel von 1782 bezieht, in welcher der Selbstmord des Franz Moor gestrichen wurde. In dieser „neue[n], für die Mannheimer Bühne verbesserte[n] Auflage“ wird Franz am Ende der Handlung lebendig gefasst und von den Räubern dazu verurteilt, in demselben Turm zu „verfaulen“, in welchem er seinen Vater hatte einkerkern lassen. Nicht nur gelingt es Franz in der für die Mannheimer Bühne geänderten Fassung nicht, sich seiner irdischen Strafe zu entziehen. Auch sein Stolz wird am Ende nicht zuletzt bei seiner direkten Bitte um Hilfe an den Bruder vor den Augen der Zuschauer als gebrochen dargestellt. Festzuhalten ist, dass Schillers Figur hier von vornherein viel weniger brisant als in der Originalfassung der Räuber ist, denn hier hat das Wertesystem, das Franz von Anfang an verletzt hat, am Ende das letzte Wort über ihn. Umso bemerkenswerter ist es daher, dass der Rezensent, der in der ‚Besprechung‘ das ‚Monstrum‘ spötteln will, gerade dessen angebliche Größe anspricht – dabei mit ironischem Bezug auf einen Satz, den Franz in der Originalfassung unmittelbar vor seinem Selbstmord ausspricht: „Hier! Nimm diesen Degen. Hurtig! Stoß mir ihn rücklings in den Leib, daß nicht diese B uben k ommen un d t reiben i hren Spott a us m ir!“. 97 Damit die evozierte ‚Größe‘ des Franz Moor in ironischer Brechung überhaupt negiert werden kann, muss der argumentative Bezug derselben auf das ‚Monstrum‘ zunächst einmal als gegeben oder zumindest als plausibel aufgefasst werden. Wir wissen inzwischen, dass wir uns hier im Rahmen der Ästhetik des Erhabenen bewegen. Die Lebenserschöpfung der Figur am Ende des Stücks – ihre fröstelnde Angst vor 95 96 97
Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses, S. 94. Schings: Schillers „Räuber“: Ein Experiment des Universalhasses, S. 15, Fn. 71. NA 22, 124.
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der ewigen Verdammnis, seine halbherzige Reue, sein verspäteter und unsteter Wille, in den Schoß der Kirche zurückzukehren – legt bloß die „kleine kriechende Seele“ an den Tag. Doch welches Benehmen, welcher Willensakt des Franz Moor rechtfertigt konkret den ironischen Bezug des Rezensenten auf die ‚Größe‘ der Figur? Besteht diese angebliche ‚Größe‘ bloß im überstürzten Befehl an den Diener Daniel, er solle seinen Herrn noch schnell aus dem Leben befördern, damit ihm der Spott des eilenden Schweizer und seiner Leute erspart bleibe? Der Befehl an den Diener ist in der Originalfassung der Räuber nicht von ungefähr sehr eng mit dem plötzlichen Suizid der Figur verknüpft, der unmittelbar danach stattfindet. Die Streichung der Selbstmordepisode am Ende der Bühnenfassung – eine Streichung, die als Konzession an das allgemeine Gerechtigkeitsgefühl und an die moralischen Erwartungen des Publikums zu betrachten ist – löst diese Verknüpfung auf. Und dennoch scheint der Rezensent gerade das ursprüngliche Ende der Figur in seiner ‚Besprechung‘ vor Augen zu haben. Denn eigentlich ist es vor allem durch die Entscheidung für den Freitod, dass Franz „bald wie ein großer Mann“ stirbt: Die ‚erhabene Größe‘ des Franz Moor besteht in seiner Standhaftigkeit, sich selbst treu bis zur letzten Minute geblieben zu sein, das heißt vom ersten bis zum letzten Akt der Räuber kompromisslos „ein eigenes Universum“ 98 jenseits von Gut und Böse dargestellt zu haben. Es gibt, wie wir wissen, eine ‚erhabene Größe‘, die sich jenseits der Grenzen der Moral verortet 99 – und in dieser Hinsicht vermag die geänderte Fassung des Stücks diesem „Universum“ nicht gerecht zu werden. Dafür vermag es aber Schiller, nachdem er seinen Zuschauer durch die „höchste Konsequenz eines Bösewichts […] ergötzt“ hat, 100 gerade durch die deutliche Bestrafung des Bösen am Ende der überarbeiteten Fassung der Räuber die Wirkung des Sittlich-Erhabenen zu erzielen: Mit anderen Worten vermag er, „uns die moralische Zweckmäßigkeit in uns in ihrem vollesten Lichte zu zeigen“. 101 Aus diesem Blickwinkel sind die Brüder Moor in Schillers Räubern sehr weit voneinander entfernt. Dabei hilft es offensichtlich nichts, dass sie, in der plastischen Sprache des jüngeren Bruders gesprochen, aus „eben dem[selben] Ofen geschossen“ wurden. 102 Wohl kaum kann die Figur des Räubers Moor als die Neuigkeit von Schillers Stück betrachtet werden. Karls Rebellion gegen das etablierte System der Natur und der Gesellschaft basiert auf einem oberflächlichen Betrug; sie nimmt von einer verzweifelten Opposition ihren Lauf, die vor dem Hintergrund der traditionellen Werteordnung stattfindet und diese dabei am Ende gänzlich unberührt lässt. Zum ‚Räuber‘ wird Karl nur deswegen, weil das Gesellschaftssystem, das er im Ganzen anerkennt, ihm wider Erwarten jenen Platz verweigert, den er als gottgewolltes und gottgegebenes Recht, ja ganz im Sinne der Tradition als 98 99 100 101 102
NA 22, 123. Vgl. Zelle: Nachwort. In: Carl Grosse: Über das Erhabene, S. 81. Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 145. NA 20, 141. NA 3, 19.
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Selbstverständlichkeit beansprucht. Der durchaus auch metaphorische Kampf gegen den eigenen Vater fängt dabei nicht von ungefähr in dem Moment an, da Karl sich darüber klar wird, dass er – der Schöne, der Erstgeborene, das einstige Busenkind, der nun die eigenen Jugendfehler innigst bereut und eine „rührende Bitte“ 103 um „Verzeihung“ 104 an den Vater gerichtet hat – nicht mehr die eigenen Vorfahren in der natürlichen Reihenfolge der Generationen in Frieden und Eintracht wird ablösen können. Daher sein Akt der Rebellion. Doch selbst als ‚Räuber‘ sehnt sich Karl nicht selten nach seinem verlorenen ‚Zuhause‘; selbst seine Edeltaten spiegeln nichts als seine Sehnsucht nach dem ‚Platz an der Sonne‘ der Tradition wieder, für den er sich seit eh und je auserkoren sieht. Daher ist es nur zu konsequent, dass er die „allgemeinen Übel in der Welt, gegen die sein ‚unersättlicher Durst nach Verbesserung‘ gekämpft hat“ ziemlich ungeniert „vergißt“, sobald er „erkennt, dass er bloß getäuscht worden ist“. 105 Kein Wunder, dass er am Ende von Schillers Stücks zunächst zum Rächer des eingekerkerten Vaters wird und sich dann edelmütig vom Tagelöhner „mit eilf lebendige[n] Kinder[n]“ selbst „lebendig“ der zuständigen Obrigkeit (das heißt der konstituierten Ordnung) liefern lässt: 106 „Da die Welt für ihn wieder in Ordnung ist, hält er sie für schlechthin in Ordnung“ 107 – pointierter lässt sich das kaum formulieren. Ganz anders Franz Moor, die wahre Neuigkeit von Schillers Stück, dessen Selbstmord auf der interpretatorischen Ebene bestimmt mehr Fragen aufwirft als er auf den ersten Blick zu klären vermag. Die neuere Forschung ist gerne dem Wink des Rezensenten in der Selbstbesprechung im „Wirtembergischen Repertorium“ gefolgt und hat diese Figur als eine direkte Inversion alles dessen interpretiert, was dem jungen Schiller „Philosophie“ war: 108 Der ‚Anthropologe‘ und ‚philosophische Arzt‘ Schiller zeichne mit Franz Moor die Figur eines „‚umgekehrten Aufklärers‘“, der sein Wissen um den Menschen nicht zur Vervollkommnung, sondern gerade zur Verderbnis des Menschen selbst verwende. 109 Die Tatsache, dass bloß die Inversion eines traditionellen, im Zeichen des moralischen Guten stehenden Denkparadigmas zur Entstehung dieser Figur führen konnte, legt einerseits genug Zeugnis davon, dass der ‚Anthropologie‘ und dem philosophischen Studium des Menschen der Aufklärung ein Keim der moralischen Verderbnis innewohnt – eine Verdorbenheit, die systemisch präsent und freilich nicht durch den Selbstmord eines korrupten Einzelnen zu tilgen ist. Doch soll andererseits auch auf das destabilisierende Potential in p oliticis aufmerksam gemacht werden, das die Logik des Franz Moor in aller Virulenz an den Tag legt. Im Gegensatz zu den ‚Inversionen‘ 103 104 105 106 107 108 109
NA 3, 31. NA 3, 24. Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant, S. 146. NA 3, 135. Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant, S. 146. Vgl. Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 198. Vgl. ebd.
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des Räubers Karl finden diejenigen des jüngeren Bruders Moor nicht vor einem festen sozialen Hintergrund statt, den sie am Ende unberührt lassen, sondern sie stellen jede etablierte Ordnung von Anfang an radikal in Frage. Das eigentliche Skandalon des Franz Moor besteht nicht in der einfachen Inversion traditionell anerkannter Wert- und Moralparadigmen, sondern darin, dass er das Gewordene und Zufällige, ja das Relative jedes sozialen Paradigmas als bloße Konvention demaskiert, die Verbindlichkeit und Selbstverständlichkeit der „traditionellen Ordnungen des Handelns, des Wissens und des Glaubens“ 110 zurückweist und an ihrer Stelle einzig und allein die auf psychophysischer Kraft basierende Autorität der eigenen ‚männlich-heroischen Moral‘ anerkennt. Damit nicht genug: All dies tut Franz nur deswegen, weil er sich darüber klar geworden ist, dass er an der traditionellen Ordnung der Gesellschaft nichts zu gewinnen, ja daran nur zu verlieren hat. Nur wenn man sich die emanzipatorische Bedeutung vor Augen führt, welche die Ablehnung der Tradition für Franz besitzt, versteht man auch, aus welchem Blickwinkel die Figur bereits in der ersten Szene des Dramas das Beispiel des ‚Herren‘ bringt, der gewissenlos über der Ernte des Bauern galoppiert – es wurde in unserem Rahmen bereits zitiert: „[Ehrlicher Name und Gewissen] [k]ommen mir für, wie die Hecken die meine Bauren gar schlau um ihre Felder herumführen – daß ja kein Haase drüber sezt, ja beileibe kein Haase! – Aber der gnädige Herr gibt seinem Rappen den Sporn, und galoppiert weich über der Weyland Aerndte“. 111 An dieser Stelle mag Franz schon von ‚seinen‘ „Bauren“ reden – dabei handelt es sich eigentlich nur um die Bauern (und Felder), die seiner gräflichen Familie angehören und über die er, zumindest ohne Betrug, weder zum Zeitpunkt seines Monologs verfügt noch nach dem Tod seines Vaters verfügen wird, weil ihr Besitz traditionell nur demjenigen zusteht, der als Erster „aus Mutterleib gekrochen“ ist. 112 Das Beispiel, das Franz bringt, dient somit nicht dazu, ein lange ersessenes Recht noch einmal zu bekräftigen. Das revolutionäre Potential, das in den programmatischen Worten des Franz Moor steckt, gerät aus dem Blickfeld, wenn man hier den jüngeren Bruder Moor selbst als den ‚Herren‘ betrachtet, der jederzeit „weich über der Weyland Ernte“ galoppieren kann. Franz weiß nur zu gut, dass er bloß der Sohn des jetzigen sowie der Bruder des zukünftigen ‚Herren‘ ist. Was er in dieser Situation mit aller Kraft vermeiden will, ist just die Rolle des ‚Hasen‘ in jener Parabel übernehmen zu müssen, die er zu sich erzählt. Franz ist sich nämlich darüber klar, dass es „doch eine jämmerliche Rolle [ist], der Haase seyn [zu] müs-
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Daniel Fulda: Aufklärungsforschung als Aufklärungskritik. Die Entstehung der neugermanistischen ‚Geistesgeschichte‘ aus der Krise des Historismus. In: Georg Neugebauer, Paolo Panizzo u. Christoph Schmitt-Maaß (Hg.): ‚Aufklärung‘ um 1900. Die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte. München 2014 (Laboratorium Aufklärung, 32), S. 103– 123, hier S. 122. 111 NA 3, 19. 112 NA 3, 18.
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sen auf dieser Welt“ und dass „der gnädige Herr [...] Haa[s]en braucht!“. 113 Dabei bestreitet er auch nicht, dass es so sein soll – nicht um Gerechtigkeit geht es ihm ja. Was er nicht bereit ist zu akzeptieren, ist, sich zahm in eine soziale Ordnung zu fügen, die gerade für ihn keine Rolle als ‚Herrn‘ vorsieht. Das ist eine Bereitschaft, an dem es nicht nur dem jüngeren Bruder Moor offensichtlich mangelt, sondern die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf soziologischer Ebene durchaus nicht mehr als selbstverständlich gilt. Weist Schiller nicht gerade selbst auf diesen Umstand hin, wenn er in der „Vorerinnerung“ seiner Philosophischen B riefe Wissen und soziale Beweglichkeit, die für ihn seine Epoche kennzeichnen, direkt mit einander in Verbindung bringt? Dort liest man: In einer Epoche, wie die jezige, wo Erleichterung und Ausbreitung der Lektüre den denkenden Theil des Publikums so erstaunlich vergrößert, wo die glükliche Resignation der Unwissenheit einer halben Aufklärung Plaz zu machen anfängt und nur wenige mehr da stehen bleiben wollen, wo der Zufall der Geburt sie hingeworfen […]. 114
„Warum bin ich nicht der erste aus Mutterleib gekrochen? Warum nicht der Einzige?“ 115 – es besteht kein Zweifel: Schon am Anfang der Räuber legt Franz programmatisch fest, dass er nicht da bleiben will, wo ihn der Zufall seiner Geburt „hingeworfen“ hat. „Ich habe grosse Rechte, über die Natur ungehalten zu seyn, und bey meiner Ehre! Ich will sie geltend machen“: 116 Das ist eine existenzielle Einstellung, die grundsätzlich jeder einnehmen kann, der selbst und allein über die eigene Rolle innerhalb einer gesellschaftlichen Ordnung entscheiden will. Darin, dass Franz jedermann zeigt, dass es durchaus vertretbar ist, so zu denken wie er, besteht das Skandalon dieser Figur – einer Figur, in der sich letztlich relevante Deutungsparadigmen der Moderne widerspiegeln. Zu seinem sozialen Aufstieg macht sich Franz zweierlei zunutze: einerseits den „Erfindungs-Geist“ 117 – ein ‚Naturgeschenk‘, an dem es ihm, wie übrigens seinem jungen Autor nicht minder, offensichtlich nicht mangelt. Andererseits das ‚Wissen‘, nämlich die Kenntnisse der Mechanismen, welche Natur und Gesellschaft regeln. Schon lange hat die Schillerforschung die Wissensquellen des Franz Moor in einigen philosophischen Hauptwerken des französischen Materialismus erkannt, mit denen der junge Schiller bereits in seinen Jahren an der Karlsschule in Stuttgart nachweislich in Berührung kam. Das sind nicht zuletzt La Mettries L’homme machine (1748) und vor allem Helvétius’ De l’homme (1773). 118 In der neueren und 113 114 115 116 117 118
Vgl. Apparat: Überlieferung und Lesarten, NA 3, 357. NA 20, 107. NA 3, 18. Ebd. Ebd. Vgl. Schings: Philosophie der Liebe und Tragödie des Universalhasses, S. 71–95. Ausführlich zur Figur des Franz Moor vor dem Hintergrund der materialistischen Lehre des Helvétius: Panizzo: Die blendende Fleckenhaut des Tigers. In: Thomas Bremer (Hg.): Vernunft, Religionskritik, Volksglauben in der Aufklärung, S. 228–233.
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neuesten Forschung versäumt kaum ein Kritiker den Hinweis darauf, dass das (ruchlose) Benehmen des jüngeren Moor mit der Lehre der französischen Materialisten in Verbindung gebracht werden soll. Bezeichnend ist, dass eine inhaltliche Auseinandersetzung mit jener Lehre dabei in der Regel gemieden wird, sodass bereits die als suspekt geltende Nähe zum Materialismus nicht selten in einem bemerkenswerten Kurzschluss von wissenschaftlicher Analyse und moralischem Werturteil als selbstverständliche Begründung für die ruchlosen Handlungen des Franz von Moor präsentiert wird. 119 Während etwa die Wirkungsgeschichte des Helvétius in Deutschland, die Schings bereits 1977 als „dringendes Desiderat“ der Forschung bezeichnet hatte, 120 bisher so gut wie ungeschrieben geblieben ist, 121 führt der moralisch gefärbte Blick auf Franz Moor und auf den Materialismus nicht selten zum Missverständnis sowohl von Schillers Figur als auch der materialistischen Lehre – einer Lehre, die übrigens auch in der Forschung zunächst einmal bloß als „eine metaphysische Hypothese“ betrachtet werden sollte. 122 So wie beispielsweise keine direkte Korrelation zwischen Idealismus und gutem Handeln besteht, genau so wenig kann von einem direkten Verhältnis zwischen der materialistischen Lehre und der moralisch ruchlosen Lebensführung des Franz von Moor die Rede sein. Auch der am Ende selbstzerstörende ‚Nihilismus‘ des Franz Moor, den wir beschrieben haben, stellt keine konsequente Folge seines Materialismus dar, sondern resultiert aus der Reaktion gegenüber einer psychophysischen Kraftabnahme, welche die Realisierung der erstrebten Machtpläne gefährdet. Vor einer allzu schnellen Gleichsetzung von Materialismus, entgrenztem Eigennutz („Interesse“, „Bedürfnis“, „Selbstliebe“) hin zu einem ‚destruktiven Nihilismus‘ soll nur gewarnt werden: 123 Gerade das Gefühl der Selbstliebe, 124 das 119
Stellvertretend seien hier lediglich zwei Beispiele aus der neuesten Forschung erwähnt: Ernst Osterkamp: „Ganze Menschen hinzustellen“. Friedrich Schillers anthropologisches Theater. In: Ortrud Gutjahr (Hg.): „Die Räuber“ von Friedrich Schiller. Würzburg 2009, S. 61–75, hier S. 69f. sowie Peter-André Alt: „Ungeheuer mit Majestät.“ Ästhetik des Bösen in Schillers „Die Räuber“. In: ebd., S.105–123, hier S. 117 sowie 120–123. 120 Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 20. 121 Wie bereits im einführenden Kapitel dieser Untersuchung erwähnt, hat die französische Germanistik inzwischen einige Bruchstücke dieser Rezeptionsgeschichte geliefert: vgl. Gilles Darras: L’âme suspecte, le corps complice. L’anthropologie littéraire dans les premières œuvres de F. Schiller. Paris 2005 sowie Roland Krebs: Helvétius en Allemagne ou la tentation du matérialisme. Paris 2006. Zu diesem Thema vgl. auch neuerdings Roland Krebs zusammenfassend: Die radikale französische Philosophie im Spiegel der deutschen Aufklärungsliteratur. In: Michael Hofmann (Hg.): Aufklärung. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2013, S. 209–228. 122 Wie bereits der Physiologe und Physiker Hermann von Helmholtz, ein strenger Kritiker des Materialismus, in einer Rede aus dem Jahre 1877 ausführte. Vgl. Hermann von Helmholtz: Das Denken in der Medicin. In: Ders.: Reden und Vorträge. Braunschweig 1884, S. 165–193, hier S. 187. 123 „Moralische Argumente“ – so liest man in der Schiller-Forschung – würden „für Schiller den Materialismus als ernsthafte Möglichkeit aus[scheiden]: Er führt Schande und Frevel, Entwürdigung und Eigennutz, Trostlosigkeit, Verderbnis, Tyrannei, Egoismus, Drangsal, despotische Meinungen und bizarre Gebräuche in seinem Gefolge. Eindeutiger kann man das
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etwa bei Helvétius unbestreitbar eine große Rolle spielt als grundsätzliche anthropologische Veranlagung, Schmerz zu fliehen und Lust anzustreben, 125 hat nichts mit der Legitimation eines blinden Durchsetzungswillens zu tun und ist nur im breiten Rahmen einer Philosophie zu interpretieren, die sich schließlich nicht als Theorie der effizientesten Gewaltausübung versteht, sondern gerade das aufklärerische Thema der Erziehung des Menschen nach dem Motto „L’éducation peut tout“ 126 in ihren Mittelpunkt stellt. 127 Böse nicht mehr markieren“, Hans Rott: „Alle andere Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will“. Anmerkungen zu Schillers Philosophie des Geistes. In: Peter Philipp Riedl (Hg.): Schiller neu denken. Regensburg 2006, S. 69–89, hier S. 87. Vgl. hingegen: Panizzo: Die blendende Fleckenhaut des Tigers, hier insb. S. 228–233. 124 Zur „Apologie der Liebe“ und dem Streit zwischen dem „System des Eigennutzes“ und dem „System des Wohlwollens“ vgl. Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller, S. 176–182. Allgemein zu Schillers Verhältnis zur „Psychologia empirica“ im Kontext seiner Zeit vgl. auch: Ders.: Schiller und die popularphilosophische Tradition. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch. Stuttgart 1998, S. 155–166, hier insb. S. 158–164. „Für einen solchen altruistischen Naturtrieb,“ – so fasst Riedel an anderer Stelle zusammen – „der dem Egoismus beigesellt ist und ihn steuert, votierten […] Shaftesbury und die moral sense-Schule, Rousseau, in der deutschen Aufklärung Lessing und der junge Schiller (‚ich glaube an die Wirklichkeit einer uneigennützigen Liebe‘)“, Riedel: Homo natura, S. 214. Indes mag es dabei dahingestellt bleiben, ob das Bekenntnis des Julius aus Schillers Philosophischen B riefen als Glaubensbekenntnis des „jungen Schiller“ tout court zu interpretieren sei (und wenn ja: Wann und wie lange genau hat der ‚junge‘ Schiller diesen neuplatonischen Gedanken nachgehangen?) und ob der Dichter selbst vor dem Hintergrund des bereits sentimentalisch angehauchten Credos seiner literarischen Figur zu den erklärten Widersachern der „EgoismusAnthropologie“ des Helvétius gerechnet werden könne. 125 Im IV. Kapitel „Von der Selbstliebe“ im IV. Absatz des von Johann Claudius Hadrian Helvétius hinterlassenen Werkes vom Menschen, von dessen Geisteskräften, und von der Erziehung desselben. Breslau 1774. Bd. 1, S. 275f. liest man: „Der Mensch ist der Empfindung des physischen Vergnügens und des physischen Schmerzens unterworfen; dem zu folge meidet er den einen, und sucht das andre; und eben diesem beständigen Meiden und Suchen legt man den Namen Selbstliebe bey“, S. 275. Es sei im Vorbeigehen auf das besondere Echo hingewiesen, das Helvétius’ Worte in Schillers erster Dissertation zur Philosophie d er Physiologie (1779) erklingen lassen – in dieser Textpassage des frühen Schiller geht es gerade um das für die deutsche Aufklärung zentrale Thema der „Bestimmung des Menschen“: „Was den Menschen jener Bestimmung naher bringt, es sei nun mittelbar oder unmittelbar, das wird ihn ergözen. Was ihn von ihr entfernt, wird ihn schmerzen. Was ihn schmerzt, wird er meiden, was ihn ergözt, darnach wird er ringen. Er wird Vollkommenheit suchen, weil ihn Unvollkommenheit schmerzt; er wird sie suchen, weil sie selbst ihn ergötzt“, NA 20, 11. 126 So der Titel des ersten Kapitels im zehnten Abschnitt von Helvétius’ Schrift De l’homme, de ses facultés intellectuelles, et de son éducation. London 1773. Vgl. Inhaltsverzeichnis Bd. 1, S. XXXI. 127 Wenn Sigmund Freud 1915 festhält, dass „Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, […] uns sicher [macht], daß wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen“ (Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod. In: Ders.: Studienausgabe in zehn Bänden mit einem Ergänzungsband. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Bd. IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Frankfurt a.M. 2000, S. 33–60, hier S. 56), so stellt Helvétius bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts folgende rhetorische Fragen: „Wenn die Menschen, wie man vorgiebt, durch eine starke und gegenseitige anziehende Kraft, einer zu dem andern gezogen würden; hätte ihnen der himmlische Gesetzgeber wohl befohlen, einander zu lieben? hätte er ihnen wohlgeboten, Vater und Mutter zu ehren? Würde er es nicht der Natur überlassen haben, dafür
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Das Böse, das Franz tut, wird nicht aus der materialistischen Lehre geschöpft, sondern im Rahmen des ästhetischen Haushalts von Schillers Stück ausschließlich im eigenen Namen und auf eigene Rechnung hinzugefügt. Dabei stellt das ‚Böse‘ kein zwingendes, sondern bloß eines unter den möglichen Geprägen einer ‚heroischen Moral‘ dar, bei der der metaphysische Halt des Lebens als verloren gilt und das Leben selbst als unaufhaltsamer Prozess von Kräftesteigerung und Kräfteabnahme betrachtet wird. Jene vor dem Hintergrund der traditionellen Moral geführte Lektüre der Räuber, die der Selbstrezensent des Stücks bereits 1782 gezielt eingeleitet hat, übersieht somit zentrale Aspekte, die nicht nur bei der Interpretation von Schillers Erstlingswerk eine große Rolle spielen, sondern deren Analyse auch allgemein Bedeutendes zum Verständnis der ästhetischen Debatte im Jahrhundert der Aufklärung zu liefern vermag. Denn die in der Forschung geäußerte Vermutung, dass „Schiller die ‚Räsonnements‘ seines Franz Moor ernster genommen hat als die meisten seiner Leser“, 128 trifft durchaus ins Schwarze. Und der Fall dieser „kleine[n] kriechende[n] Seele“ 129 scheint auch für Schiller tatsächlich ernster zu sein, als man auf den ersten Blick vermuten würde – und auf jeden Fall ernster, als der Selbstrezensent gezielt glauben machen möchte. Wenn man bei der Analyse von Schillers Räuber einmal bereit ist, über das evangelische Motiv der Rückkehr des verlorenen Sohns und die exemplarische Bestrafung des Ruchlosen hinauszugehen, so vermag man hinter der Figur des Franz Moor die komplexe Problematik einer ‚heroischen Moral des Nihilismus‘ zu erkennen, bei der sich gewichtige existenzielle, politische und ästhetische Fragen miteinander verflechten – Fragen, die im Hintergrund von Schillers ganzem Werk stehen und deren Implikationen in den verschiedenen Phasen seines Œuvres jeweils mit mehr oder weniger Kraft in Erscheinung treten. Wie unsere Analyse im zweiten Hauptteil dieser Untersuchung deutlich machen wird, beseelt die ‚heroische Moral des Nihilismus‘, die Franz Moor als erster in Schillers Theater vertritt, auch weitere Figuren seiner folgenden Dramen. Womöglich sorgt diese Moral in Schillers Räuber für eine brisantere Wirkung, weil Franz in gewisser Hinsicht als ‚Privatperson‘, ohne eine öffentliche Rolle, im überschaubaren Kreis seiner Familie handelt. Vor dem Hintergrund der so unerbittlich wie unverhüllt dargestellten Logik, die sein unaufhaltsames Machtstreben gegen seine engsten Verwandten leitet und die am Ende der ersten Fassung des Schauspiels auch nicht exemplarisch bestraft wird, waren im kulturellen Kontext der Spätaufklärung Reaktionen der Abscheu schon vorprogrammiert. Offensichtlich unmoralisch, ja ‚ungeheuerlich‘ 130 musste die ‚Philosophie‘ des jüngeren eben so gut Sorge zu tragen, wie sie den Menschen ohne allen gesetzlichen Beystand zwingt, zu essen und zu trinken, so bald er hungrig und durstig ist, seine Augen dem Lichte zu öffnen, und seinen Finger vom Feuer zurückzuziehen?“, Helvétius: Vom Menschen. Bd. 1, S. 132. 128 Riedel: Die Aufklärung und das Unbewusste, S. 207, Fn. 30. 129 NA 22, 124. 130 Ein „Ungeheuer“ nennt Karl Philipp Moritz den „abscheuliche[n] Franz Moor“ in seiner Rezension „Noch etwas über das Schiller’sche Trauerspiel: Kabale und Liebe“, die im
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Bruders Moor auf das Publikum wirken. Vor diesem Hintergrund sollte auch die moralisierende Selbstbesprechung der Räuber die Rezeption des Stücks und seines ‚Monstrums‘ nachträglich in eine für den Autor günstigere Richtung zu lenken versuchen. 131 Dabei kann jedoch nichts darüber hinwegtäuschen, dass der junge Verfasser der Selbstbesprechung bereits weit über die moralische Position hinausgegangen war, die er darin instrumentell vertritt. In seinen folgenden Dramen schafft es Schiller, das ästhetische Wirkungspotential seines Franz Moor – das eigentliche Novum der Räuber – zu erschöpfen, ohne dabei direkt mit der traditionellen Moral, wie dagegen im Erstlingsdrama, auf Konfrontationskurs zu gehen. Das gelingt durch eine gezielte Abstandnahme von der jeweiligen Figur, welche die ‚männlich-heroische Moral des Nihilismus‘ vertritt. Erreicht wird das etwa dadurch, dass die Handlung in eine frühere Epoche verlagert wird, dass das ‚Böse‘ am Ende strenger bestraft bzw. das Gute besser belohnt wird, sowie dadurch, dass ein dezidiert politischer Blickwinkel bei der Gestaltung des dramatischen Stoffes eingenommen wird. Schließlich stellt die Politik gerade die Sphäre dar, in welcher Macht und Moral schon seit dem italienischen Cinquecento und den Staatstheorien Machiavellis getrennte Wege gehen – und auch im Theater des 18. Jahrhunderts konnte mit einer höheren Akzeptanz gegenüber jenen moralisch bedenklichen, dabei erhabene ‚Größe‘ beweisenden Handlungen gerechnet werden, die vordergründig als politisch motiviert zu betrachten waren. Aufgabe der weiteren Analyse wird es sein, die ‚Moral des Nihilismus‘ und deren Implikationen auch hinter den ‚politischen‘ Intentionen der handelnden Menschen auf Schillers Bühne herauszuarbeiten. Zunächst einmal wenden wir uns aber Vittorio Alfieri zu – und insbesondere der Begegnung des italienischen tragischen Dichters mit dem Nihilismus in seinen ‚politischen‘ Abhandlungen Della tirannide und Del principe e delle lettere.
September 1784 in der Königlichen privilegierten Berlinischen Staats- und gelehrten Zeitung erscheint. Vgl. Julius Braun (Hg.): Schiller und Goethe im Urtheile ihrer Zeitgenossen. Zeitungskritiken, Berichte und Notizen Schiller und Goethe und deren Werke betreffend, aus den Jahren 1773–1812. Eine Ergänzung zu allen Ausgaben der Werke dieser Dichter. Abt. 1: Schiller, Bd. 1. Leipzig 1882, S. 74–80, hier S. 75. 131 Alt: Schiller. Bd. I, S. 283.
II. Der große Mann als Schriftsteller und Tyrann. Vittorio Alfieris Abhandlungen Della tirannide und Del principe e delle lettere 1. Della tirannide 1.1. Der Tyrann und das Gesetz. Alfieris Della tirannide als politischer Traktat Im Jahre 1777 schrieb V i c t o r A l f i e r i sein Buch von der Tyrannei. Es war, obgleich zuletzt veröffentlicht, doch das erste Buch dieses starren, unbeugsamen Republikaners, dessen jugendliche freiheitsathmende Seele, empört von den Schreckensbildern der Tyrannei jener Zeiten, ihren Empfindungen jene Worte lieh, die wir jetzt beinahe nach einem Jahrhundert unseren Zeitgenossen wieder zurückrufen. 1
So die ersten Zeilen des Vorworts zur 1845 in Mannheim erschienenen Übersetzung von Alfieris Traktat Della Tirannide. Das kurze Zitat lässt bereits erkennen, dass der Herausgeber des Bandes, Freiherr von Fennberg, darum bemüht ist, den politischen Alfieri in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen: Der italienische Dichter wird zum „unbeugsamen Republikaner“ erklärt, ja als ein unbeirrbarer, vom Freiheitsideal erfüllter, erhabener Kämpfer gegen die „Tyrannei“ dargestellt. Man sollte den Herausgeber beim Wort nehmen, wenn er schreibt, dass die von ihm vorgelegte neue Übersetzung des Traktats das starke Freiheitswort des italienischen Dichters bei den deutschen Zeitgenossen in Erinnerung rufen soll. Wenn man bemerkt, dass die Übersetzung von Alfieris Text dem „hochverehrten, unglücklichen Landsmanne Professor Sylvester Jordan“ gewidmet ist – dem Staatsrechtslehrer an der Universität Marburg, der maßgeblich zur Erarbeitung der Kurhessischen Verfassung von 1831 beigetragen hatte, 1839 wegen angeblicher Beteiligung am Frankfurter Wachensturm von 1833 in Untersuchungshaft genommen und 1843 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt wurde – und dass sich das Vorwort vor allem mit der historisch-kontingenten politischen Situation des deutschen Vormärz und der erstrebten Einführung einer ‚Verfassung‘ befasst, 2 so ist auch die politisch-ideologische Motivation nachzuvollziehen, die den Herausgeber 1
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F[erdinand Daniel] Freiherr von Fennberg: Vorwort. In: Von der Tyrannei. Von dem Grafen Victor Alfieri. Neu übertragen und mit einem Vorwort begleitet von F[erdinand Daniel] Freiherr von Fennberg. Mannheim 1845, S. V–XXXXVIII, hier S. Vf. Soweit nicht anders angegeben, wird Alfieris Abhandlung Von d er T yrannei in unserem Rahmen aus dieser deutschen Übersetzung zitiert. Die Originalfassung des Traktats Della T irannide wird zitiert aus: Vittorio Alfieri: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 3: Scritti politici e morali. Bd. 1. Hg. v. Pietro Cazzani. Asti 1951, S. 1–109. Die Übersetzung von Textpassagen von Alfieris Werken aus der in den Fußnoten angegebenen italienischen Originalfassung ins Deutsche hat der Verfasser dieses Buches angefertigt. So liest man hier mit Bezug auf eine mögliche „Constitution für Preußen“: „Eine in einem deutschen Bundesstaate von Gottes und des Herrn Gnaden octroyirte Verfassung kann und wird nie den Wünschen und Bedürfnissen des Volkes entsprechen und darum auch nur Scheinwerk sein“, Freiherr von Fennberg: Vorwort, S. XXVII u. XXVIIIf.
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von Alfieris Abhandlung beseelt. Dass der Akzent dabei auf den ‚politischen‘ Alfieri – den „Mi r ab e au Italiens“ 3 – gesetzt wird, kann nicht wundern. Die kritische Gesamtausgabe von Vittorio Alfieris Werken, die „Edizione nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri“, auch „edizione astese“ genannt, wurde zum zweihundertsten Geburtstag des 1749 geborenen Dichters initiiert. Seit 2004 ist die Nationalausgabe vollständig. Der 1951 von Pietro Cazzani herausgegebene Band III. der Asteser Ausgabe versammelt unter der Überschrift „Scritti politici e morali“ die größeren Abhandlungen Della Ti rannide und Del P rincipe e d elle Lettere sowie Alfieris Dialog La Virtù sconosciuta und seinen Panegirico di Plinio a T rajano. Man mag sich mit der gewählten Überschrift von „politischen und moralischen Schriften“, unter welcher 1966 und 1984 zwei weitere Bände der Nationalausgabe erschienen, zufriedengeben und die relative Unbestimmtheit dieser Definition nicht weiter problematisieren. Während jedoch mehrere Werke Alfieris, die in den Bänden der „scritti politici e morali“ der ‚Asteser Ausgabe‘ veröffentlicht wurden, durchaus in Kontinuität zur Moralistik der Aufklärung gesehen werden können, ist ihr ‚politischer‘ Anteil schwieriger zu umreißen: Vor dem Hintergrund der Alfieri-Forschung seiner Zeit weist der Herausgeber des Bandes bereits 1951 in seiner Einführung darauf hin, dass die im 19. Jahrhundert erschienenen Ausgaben Alfieris Prosa-Werke unter der Bezeichnung „Opere varie filosofico-politiche“ zusammenzufassen pflegten – Werke, die, wie Cazzani hinzufügt, „wir heute eher moralischen als politischen oder philosophischen Charakters definieren können“. 4 Von der Überbewertung, die das Politische im Werk Alfieris allgemein im 19. Jahrhundert erfuhr, wurde somit zweihundert Jahre nach Alfieris Geburt, und nicht ohne Grund, Abstand genommen. Ausgehend von dieser Abstandnahme lohnt es sich dennoch, gerade das ‚Politische‘ bei Alfieri zunächst unter die Lupe zu nehmen und zu versuchen, es so deutlich wie möglich zu konturieren. Insbesondere ist es lohnend, nach der ‚politischen Qualität‘ von Alfieris größeren Abhandlungen über die „Tyrannei“ und „den Fürsten und die Wissenschaften“ zu fragen – Schriften, auf die sich auch der Mythos des „Freiheitsdichters“ Alfieri ab dem 19. Jahrhundert nicht unwesentlich stützte. Wie ‚politisch‘ ist Alfieris Tirannide tatsächlich? Die Entstehungsgeschichte von Alfieris erster Abhandlung ist relativ verwickelt. Wie bereits erwähnt, wurde Alfieris Schrift im Jahre 1777, wenn nicht gerade „in einem Zuge“, wie der Dichter in seiner späten Vita schrieb, so doch in knapp fünf Wochen in Siena verfasst. 5 Erst fast zehn Jahre nach der ersten Niederschrift wurde der Text – zu der von Alfieri Ende der 1780er Jahre geplanten Gesamtausgabe seiner Werke – nicht nur stilistisch verbessert, sondern auch inhaltlich erweitert, dabei aber nicht in seinen Leit3 4 5
Ebd., S. VIII. An dieser Stelle liest man weiterhin: „Alfieri ist als Mensch eben so groß wie Politiker, und sein ganzes Leben erinnert an strenge republikanische Einfachheit“, ebd. Pietro Cazzani: Introduzione. In: Alfieri: Scritti politici e morali. Bd. I, S. IX–XXXVII, hier S. IX. Ebd., S. XIV.
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gedanken verändert. Gedruckt wurde die Abhandlung zuerst 1790 bei Beaumarchais in Kehl, jedoch mit falschem Erscheinungsjahr 1809; die gedruckten Exemplare wurden allerdings nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Unter gänzlich veränderten politischen Bedingungen und explizit gegen den Willen des Autors wurde die Abhandlung dann erst im Jahr 1800/1801 in der Ausgabe der Pariser Drucker Molini veröffentlicht. Alfieris Traktat Della tirannide besteht aus zwei Büchern. Wie der Autor in der Einleitung zum zweiten Buch schreibt, befasst sich das wesentlich längere erste Buch mit „Ursachen und Mittel[n] der Tyrannei“ sowie mit den „ihr entspringenden Wirkungen“; 6 im zweiten Buch setzt sich der Autor hingegen damit auseinander, „auf welche Weise man die Tyrannei ertragen, wenn man sich ihr zu unterwerfen gesonnen, oder wie man dies Joch abwerfen kann, wenn man es nicht ertragen will“. 7 Diese Worte verraten bereits den Grundtenor von Alfieris Schrift – einer Abhandlung, die, ähnlich wie die weitere Abhandlung über den ‚Fürsten und die Wissenschaften‘, sicher weniger als ‚politologisches‘, sondern vielmehr als ‚publizistisches‘ Werk zu betrachten ist 8 – darauf wird noch zurückzukommen sein. Gleichwohl ist es zunächst nicht ohne Nutzen, gerade diese ‚politologischen Aspekte‘ in den Blick zu nehmen und dabei die Vor- und Nachteile einer betont politischen Lektüre von Alfieris Traktat herauszuarbeiten. Wenn man von jener im Kontext der europäischen Spätaufklärung ganz und gar originellen Widmung von Alfieris Abhandlung an die „gö t t l i c h e Fr e i h e i t “ 9 – statt, wie sonst üblich, an eine „mächtige Person“, das heißt an einen „Fürsten“ oder an einen seiner „Satelliten“ – absieht, mit der das erste Buch der Tirannide ansetzt, wird der Leser von Alfieris Schrift gleich in den ersten zwei Kapiteln mit zwei definitorischen Fragen konfrontiert: Was ist der „Tyrann“ – und was die „Tyrannei“? Im ersten Kapitel skizziert der Autor in groben Zügen die Verwendung der Termini „Tyrann“ und „König“ von der Antike bis zu seiner Gegenwart und stellt dabei fest, dass „Tyrann“ der Name war, „mit dem die alten Griechen […] diejenigen bezeichneten, die wir heut zu Tage ‚Könige‘ nennen“. 10 Der synonymische Charakter dieser Bezeichnungen sei dann „im Laufe der Zeit“ verloren gegangen und der „Name“ „Tyrann“ sei „fluchwürdig“ geworden: So fühlten sich selbst die Fürsten, die im 18. Jahrhundert tyrannisch herrschen, „zutiefst beleidigt,
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Alfieri: Von der Tyrannei, S. 286f. „Ho ragionato nel passato libro, quanto più seppi brevemente, delle cagioni e mezzi della tirannide; e accennata ho di volo una minima parte degli effetti che ne derivano“, Alfieri: Della tirannide, S. 88. Ebd. „Più brevemente ancora ragionerò, in questo secondo libro, dei modi con cui si possa sopportar la tirannide volendola, o non volendola, scuoterla“, ebd. Wie in der neuen Forschung auch Arnaldo Di Benedetto festhält, vgl.: Dal tramonto dei lumi al Romanticismo. Modena 2000, S. 76. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 2. „DIVINA LIBERTÀ“, Alfieri: Della tirannide, S. 7. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 8. „TIRANNO, era il nome con cui i Greci (quei veri uomini) chiamavano coloro che appelliamo noi re“, Alfieri: Della tirannide, S. 10.
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wenn man sie Tyrannen nennt“; 11 und so sei man im Jahrhundert der Aufklärung bereit, diejenigen „Könige und Fürsten“ zu bezeichnen, die zwar auch, wie die Tyrannen, über „Leben, Güter und Ehre“ der Untertanen „nach ihrem Gutdünken schalten können, dieselben jedoch deßungeachtet ihren Unterthanen belassen, oder sie ihnen nur unter einem Anschein und Schleier der Gerechtigkeit nehmen“. 12 Die schiere Tatsache, dass Fürsten – obwohl sie gleich den Tyrannen „mit völliger Straflosigkeit Alles rauben können“ – dies womöglich nicht tun, reiche somit im absolutistischen Herrschaftssystem an sich schon aus, sie für „wohlwollend“ und „gerecht“ zu halten. 13 Der Umstand, dass ein Machthaber nach eigenem Belieben nicht von seiner unbegrenzten Gewalt Gebrauch macht, kann allerdings für Alfieri kein Kriterium darstellen, um sinnvoll zwischen ‚Fürsten‘ und ‚Tyrannen‘ zu unterscheiden. Um eine deutliche Trennungslinie zwischen beiden Begriffen zu ziehen, schlägt der Autor deshalb einen durchaus modernen Maßstab vor, der auf eines der politischen Hauptwerke des 18. Jahrhunderts verweist, und ohne das auch die Abhandlung Della t irannide schlichtweg undenkbar wäre. Diesen Maßstab stellt das Verhältnis von Fürst oder Tyrann zum Gesetz dar; und das politische Hauptwerk, das aus Alfieris Seiten stets mehr oder minder im Gegenlicht herauszulesen ist, ist, wie naheliegend, Montesquieus Abhandlung De lʼesprit d es l ois (1748). 14 Vor dem Hintergrund von Montesquieus Traktat und der darin theoretisierten Gewaltenteilung kann Alfieri nicht nur behaupten, dass der „Königsname“ nur den wenigen Machthabern zuerkannt werden soll, die den Gesetzen untergeordnet und somit „die ersten, rechtmäßigen und alleinigen Vollstrecker der bestehenden Gesetze“ sind. 15 Auch die besonders prägnante Definition von Tyrannei, mit der das zweite Kapitel der Abhandlung ansetzt, verdankt sich dem grundlegenden Gedanken der Gewaltenteilung aus Montesquieus Schrift: 11
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„Divenne un tal nome, coll’andar del tempo, esecrabile […]. Quindi ai tempi nostri, quei principi stessi che la tirannide esercitano, gravemente pure si offendono di essere nominati tiranni“, Alfieri: Della tirannide, S. 10. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 10f. „Tra le moderne nazioni non si dà dunque il titolo di tiranno, se non se (sommessamente e tremando) a quei soli principi, che tolgono senza formalità nessuna ai lor sudditi le vite, gli averi, e l’onore. Re all’incontro, o principi, si chiamano quelli, che di codeste cose tutte potendo pure ad arbitrio loro disporre, ai sudditi non dimanco le lasciano; o non le tolgono almeno, che sotto un qualche velo di apparente giustizia“, Alfieri: Della tirannide, S. 10. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 11. „E benigni, e giusti re si estimano questi, perché, potendo essi ogni altrui cosa rapire con piena impunità, a dono si ascrive tutto ciò ch’ei non pigliano“, Alfieri: Della tirannide, S. 10. Zu Alfieris Rezeption von Montesquieus Abhandlung in der Tirannide sowie allgemein zu Alfieris ideologischer Nähe zum zeitgenössischen französischen Konstitutionalismus (etwa Condorcet und Mably) vgl. Giuseppe Randos Kapitel: „La Tirannide di Vittorio Alfieri e la crisi del dispotismo illuminato“. In: Ders.: Alfieri europeo. Le „sacrosante“ leggi. Scritti politici e morali – Tragedie – Commedie. Soveria Mannelli 2007, S. 19–76 sowie Ders.: Alfieri costituzionalista (tra politica, teatro e letteratura). Reggio Calabria 2015. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 12. „Il nome di re […] si dovrebbe dare a quei pochi, che […] altro non sono in una data società che i primi e legittimi e soli esecutori imparziali delle già stabilite leggi“, Alfieri: Della tirannide, S. 10f.
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Tyrannei sollte ohne Unterschied jede Regierung genannt werden, deren mit der Ausführung der Gesetze betrautes Oberhaupt, solche schaffen, vernichten, verletzen, auslegen, hemmen, aufheben oder auch nur ungestraft dieselben verspotten kann. […] Eben so wird auch jene Regierung zur Tyrannei, in welcher derjenige, der die Gesetze schafft, sich auch mit derem Vollzuge befassen kann. 16
„Infrangi-legge“ – wörtlich „Gesetzesbrecher“ – nennt Alfieri den Machthaber, der über dem Gesetz steht. Dabei ist es völlig belanglos, ob er „erblich oder gewählt, Usurpator oder gesetzlich, gut oder schlecht, einer oder mehrere“ ist. 17 Nichts übrig hat Alfieri für ‚aufgeklärte Monarchen‘ sowie für die vermeintliche ‚Milde‘ oder gar für den angeblich zu preisenden ‚Großmut‘ eines Herrschers etwa im Sinne von Metastasios 1734 geschriebenem Melodram La c lemenza d i Ti to; 18 keinen Unterschied macht er zwischen ‚legitimem König‘ und ‚usurpatorischem Tyrannen‘; als nichtig wertet er der Umstand, dass ein einziges Individuum oder doch eine kleine Gruppe von Aristokraten, wie etwa in der oligarchischen Republik Venedigs, die ganze Macht innehat. Stattdessen verwirft Alfieri in seiner Abhandlung Della tirannide jede mögliche Form von ‚Absolutismus‘, was in seinen Augen die Negation schlichtweg der ausnahmslosen Verbindlichkeit des Gesetzes darstellt. Sein Fazit fällt dabei lapidar aus: Jeder, der die „effektive Kraft“ besitzt, das Gesetz zu brechen, ist ein „Tyrann“; „jede Gesellschaft, die dies duldet, ist Tyrannei; jedes Volk, das dies erträgt, ist sclavisch“. 19 Doch ist sich Alfieri darüber klar, dass der ‚Tyrann‘ als ‚Gesetzesbrecher‘ par excellence bloß die Speerspitze eines komplexen Machtsystems darstellt und dass er, so mächtig auch immer er sein mag, ohne faktische Unterstützung seiner ‚Satelliten‘ sowie der oberen Stände nichts vermögen würde. Und so gibt Alfieris Abhandlung über die tirannide in einzelnen Kapiteln eine Antwort auf folgende entscheidende Frage: Welche sind die „Mittel“ 20 der Tyrannei – auf welchen Grundpfeilern basiert das mächtige Gebäude des Absolutismus? Das erste Buch macht folgende Akteure namhaft: den „ersten Minister“, das „Kriegswesen“, die „Religion“ (den Klerus) und den „Adel“. Es versteht sich: Es handelt sich dabei um die engsten Verbündeten des Tyrannen und damit um geschworene Todfeinde der ‚Freiheit‘ – deshalb gedenkt der Autor, in seiner Schrift mit ihnen aufs Schärfste ins Gericht zu gehen. 16
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Alfieri: Von der Tyrannei, S. 15f. „Tirannide indistintamente appellare si debbe ogni qualunque governo, in cui chi è preposto alla esecuzion delle leggi, può farle, distruggerle, infrangerle, interpretarle, impedirle, sospenderle; od anche soltanto deluderle, con sicurezza d’impunità“, Alfieri: Della tirannide, S. 11. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 15f. „E quindi, o questo infrangi-legge sia ereditario, o sia elettivo; usurpatore, o legittimo; buono, o tristo; uno, o molti“, Alfieri: Della tirannide, S. 11. Zur politischen Bedeutung der „poetischen Gerechtigkeit“ und der zeittypischen „Tragödie mit glücklichem Ausgang“ im italienischen Settecento vgl. Mattioda: Introduzione, S. 43–48. Vgl. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 16 (die Übersetzung wurde hier leicht verändert). „[C]hiunque ha una forza effettiva, che basti a ciò fare, è tiranno; ogni società, che lo ammette, è tirannide; ogni popolo, che lo sopporta, è schiavo“, Alfieri: Della tirannide, S. 11. Alfieri: Della tirannide, S. 88.
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Schon die ersten Worte des Kapitels über den primo m inistro führen die rhetorische Vehemenz vor Augen, mit der Alfieri dem Machtsystem der Tyrannis begegnet. So liest man hier: „Unter den furchtbarsten öffentlichen Uebeln, die der Ehrgeiz in der Tyrannei hervorbringt, muß das Amt des öffentlichen Ministers […] gezählt werden“. 21 Vom Tyrannen ausgewählt und in absoluter Abhängigkeit von dessen Gunst und Vertrauen wird der „erste Minister“ schon als Person für Alfieri kaum besser sein können als der absolutistische Herrscher selbst; darüber hinaus wird er in seinem Geltungsdrang in „der Fähigkeit wie dem Triebe, Böses zu stiften“, den Despoten gar „noch weit übertr[e]ff[en]“. 22 Zweites polemisches Ziel stellt auf Alfieris Seiten die „Miliz“ dar, denn Lohnsoldaten stehen ja gerade zur Verteidigung von Tyrannen und erstem Minister zur Verfügung. Für Alfieri muss ihr „Interesse“ notwendig mit demjenigen des Tyrannen Hand in Hand gehen, weil dieser die Lohnsoldaten „ernährt“ und „sie in ihrer stolzen Faulheit pflegt“. 23 Je mehr sie das Volk unterdrücken, desto mehr „geachtet“ und „gefürchtet“ werden sie und als desto „notwendiger“ betrachtet. Doch am Maßstab des höchstmöglichen öffentlichen Wohls gemessen, müssen auch die weiteren zwei politischen Akteure der Tyrannei – der Klerus und der Adel – in Alfieris Augen kläglich scheitern. Bereits der Ansatz des Kapitels „Von der Religion“ weist explizit auf die politisch stabilisierende und konsolidierende, ja den machtpolitischen Status quo bewahrende Funktion hin, welche die Verwaltung des Glaubens innerhalb des etablierten Herrschaftssystems ausübt: Was immer für eine Meinung der Mensch über Dinge, die über sein Verständnis hinausreichen, wie Seele und Gottheit z. B. sind, sich auch selbst oder durch fremden Einfluß angeeignet haben mag, so pflegt dieselbe doch stets eine der festesten Stützen der Tyrannei zu sein. 24
Bei seiner scharfen Verurteilung der religiösen Dinge hat Alfieri vor allem den katholischen Glauben im Visier – besser gesagt, die weltliche Macht der katholischen Kirche. Wenn das Christentum allgemein in der Abhandlung schon eine wenig schmeichelhafte Würdigung erfährt – „Die christliche Religion“, so liest man hier, „die jene von beinahe ganz Europa ist, ist schon an sich selbst dem freien Leben nicht sehr günstig“ –, so wird die römisch-katholische Konfession gar lapi-
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Alfieri: Von der Tyrannei, S. 97. „E fra le più atroci calamità pubbliche, cagionate dall’ambizione nella tirannide, si dee, come atrocissima e massima, reputar la persona del primo ministro“, Alfieri: Della tirannide, S. 34. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 98. „[…] di gran lunga lo supera nella capacità desiderio e necessità del far male“, Alfieri: Della tirannide, S. 34. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 117f. „[…] il tiranno che li pasce e che la loro superba pigrizia vezzeggia“, Alfieri: Della tirannide, S. 39. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 130. „Quella qualunque opinione che l’uomo si è fatta o lasciata fare da altri, circa alle cose che egli non intende, come sarebbero l’anima e la divinità; quell’opinione suol essere anch’essa per lo più uno dei saldissimi sostegni della tirannide“, Alfieri: Della tirannide, S. 43.
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dar als „durchaus unverträglich“ mit einem freien Leben bezeichnet. 25 Zu bemerken ist, dass theologische oder dogmatische Fragen, etwa die „Transubstantiation“ oder den Glauben an die „Dreieinigkeit“ betreffend, 26 bei diesem Urteil so gut wie keine Rolle spielen. Was Alfieri an dieser Stelle interessiert, sind Figuren, Institutionen, Sakramente und Glaubensaspekte, die einen direkten, in seinen Augen negativen Einfluss auf das „freie politische Leben“ ausüben. Dabei handelt es sich insbesondere um den „Papst, die Inquisition, das Fegefeuer, die Konfession, die Ehe als unauflösliches Sakrament und das Zölibat der Geistlichkeit“– „sechs Ringe der heiligen Kette“, die für Alfieri entscheidend dazu beitragen, die „weltliche“ Kette der Tyrannei zu verhärten. 27 Kein Wunder: Anstatt den Menschen einen religiösen „Fanatismus“ für das freie Leben einzuflößen, habe man in Alfieris Augen aus eigenem „Nutzen“ eine „Religion und einen Gott“ hervorgerufen, die stets befahlen, „Knechte zu sein“. 28 Doch damit nicht genug. „Man muß diese Klasse nicht minder als die der Priester, als eines der größten Hindernisse politischer Freiheit und als eine der mächtigsten und dauerhaftesten Stützen der Tyrannei betrachten“: Die Rede ist an dieser Stelle von der „müßig[en] und unnütz[en]“ „Menschenklasse“, in deren Mitte der Graf Alfieri selbst aufwuchs: dem „Adel“. 29 Verhängnisvoll sei es für ein „freies Volk“, eine solche ‚Menschenklasse‘ „in seinem eigenen Schoße“ zu erschaffen; geradezu letal sei es dann, dieses „Werkzeug der Knechtschaft“ „erblich“ zu perpetuieren, denn der „erbliche Vorrang der wenigen muss in diesen das Streben nach Bewahren und Verstärken hervorrufen, das ungleich und gegensätzlich zum allgemeinen Streben ist“. 30 Es ist kein Zufall, wenn sich das Kapitel, das demjenigen über den „Adel“ vorausgeht, mit der „falschen Ehre“ beschäftigt. Alfieri, der sich hier explizit auf Machiavellis und Montesquieus Überlegungen über die politische Rolle des Adels in den verschiedenen Staatsformen beruft, 31 lehnt in direkter Entgegensetzung zu Montesquieu die begrenzende Funktion des
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Alfieri: Von der Tyrannei, S. 133. „La cristiana religione, che è quella di quasi tutta la Europa, non è per sè stessa favorevole al viver libero: ma la cattolica religione riesce incompatibile quasi col viver libero“, Alfieri: Della tirannide, S. 43. Alfieri: Della tirannide, S. 45f. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 139. „Ma, IL PAPA, ma, LA INQUISIZIONE, IL PURGATORIO, LA CONFESSIONE, IL MATRIMONIO FATTOSI INDISSOLUBILE SACRAMENTO e IL CELIBATO DEI RELIGIOSI; sono queste le sei anella della sacra catena, che veramente a tal segno rassodano la profana, che ella di tanto ne diventa più grave ed infrangibile“, Alfieri: Della tirannide, S. 46. Alfieri: Della tirannide, S. 51. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 185f. „Havvi una classe di gente, che fa prova e vanto di essere da molte generazioni illustre, ancorché oziosa si rimanga ed inutile. Intitolasi nobiltà; e si dee, non meno che la classe dei sacerdoti, riguardare come uno dei maggiori ostacoli al viver libero, e uno dei più feroci e permanenti sostegni della tirannide“, Alfieri: Della tirannide, S. 58. Alfieri: Della tirannide, S. 61. Vgl. das Kapitel „La ‚repubblica‘ di Vittorio Alfieri“ in Arnaldo Di Benedettos bereits zitiertem Buch Dal tramonto dei lumi al Romanticismo, S. 75–118, hier insb. S. 83–85.
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Adels 32 – als positiven „pouvoir intermédiaire“ im staatlichen System einer Monarchie „bien réglé[e]“ 33 – gegenüber dem König entschieden ab. Aufs Schärfste verwirft er auch Montesquieus Auffassung von der „Ehre“ („honneur“) als politischer „Triebfeder“ des öffentlichen Handelns in der Monarchie – einer Staatsform, die zwingend Auszeichnungen, Vorrechte und Rangunterschiede vorsehe – „des prééminences, des rangs, et même une noblesse d’origine“ heißt es bei Montesquieu. 34 Bei Alfieri wird umgekehrt Montesquieus „Ehre“ als „falsche Ehre“ demaskiert, denn sie stelle ein Verlangen dar, das „nicht die Tugend des Geehrten und das Gemeinwohl des Ehrenden zur Grundlage hat“. 35 Tyrann, erster Minister, Militär, Klerus und Adel bilden in Alfieris Analyse der Tyrannis ein festes Machtagglomerat, das skrupellos partikulare Interessen zu Ungunsten des Gemeinwohls verfolgt und durchsetzt. Im 18. Jahrhundert stellt das von Alfieri beschriebene Machtsystem wohlgemerkt keine politische Ausnahme dar, sondern vielmehr die europaweit geltende Regel: Bereits am Ende des ersten Kapitels bemerkt der Autor in diesem Sinne, ihm begegneten „fast überall Sklavengesichter“, wo er „nur in Europa [s]eine Blicke hinwende[t]“. 36 Und die Alternative? Die so gut wie einzige historisch gegebene Alternative stellt im damaligen politischen Kontext die englische parlamentarische Monarchie dar, die Alfieri explizit aus der „Classe“ der „erblichen Tyrannei[en]“ ausschließt, auf die er sonst „alle gegenwärtigen Regierungen Europaʼs“ zurückführt. 37 An dieser Stelle lohnt es sich jedoch explizit darauf hinzuweisen, dass Alfieri, wie im Übrigen andere Autoren seines Jahrhunderts, 38 nicht zwischen „parlamentarischer Monarchie“ und „Republik“ unterscheidet oder, besser gesagt, auch diese Form der „Monarchie“ als „Republik“ betrachtet. Vor diesem Hintergrund mag es kaum überraschen, dass das Wort ‚Republik‘ auch die richtige Antwort auf die indirekte Frage darstellt, die 32
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Zu Montesquieus „Vorstellung über die erwünschte Rolle des Adels innerhalb der gemäßigten monarchischen Verfassung“ vgl. Panajotis Kondylis: Montesquieu und der Geist der Gesetze. Berlin 1996, hier S. 37. Charles-Louis de Secondat Montesquieu: De l’esprit des lois (1748). Paris 1961, 2 Bde. Vgl. hier und bei den folgenden Zitaten Bd. I., Livre III „Des principes des trois gouvernements“. Ebd. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 170. „Ed il falso distinguerò dal vero, falsa chiamando quella brama d’onore, che non ha per ragione e per base la virtù dell’onorato, e l’utile vero degli onoranti“, Alfieri: Della tirannide, S. 54. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 13. „Ma siccome per quanto io stenda in Europa lo sguardo, quasi in ogni sua contrada rimiro visi di schiavi“, Alfieri: Della tirannide, S. 11. Alfieri: Della tirannide, S. 13. „Im frühen 18. Jahrhundert hatte dies beispielsweise bereits Scipione Maffei behauptet; im Contrat s ocial (II, 6) hatte Rousseau die These vertreten, dass die Monarchie, wenn von Gesetzen getragen, eine Republik darstelle; im Dictionnaire p hilosophique hatte Voltaire Polen, Schweden und England als ‚Republiken unter einem König‘ bezeichnet (Lemma Patrie); und Gabriel Bonnot de Mably hatte seinerseits vor allem mit Bezug auf Schweden den Begriff monarchie républicaine geprägt. Wie Montesquieu in einer damals unveröffentlichten pensée gemeint hatte, betreffe ‚die politische Freiheit die Monarchien wie die Republiken‘“, Di Benedetto: Dal tramonto dei lumi al Romanticismo, S. 87f. (Übers. P.P.). Vgl. dazu auch Rando: Alfieri europeo, S. 27f.
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den Titel des letzten Kapitels von Alfieris Tirannide ausmacht: „Durch was für eine Regierung die Tyrannei am besten ersetzt werden würde“. 39 Doch auf der Suche nach einer näheren Definition dieser ‚Republik‘, die als Regierungsform die Tyrannei ersetzen soll, stößt man an die Grenzen von Alfieris Abhandlung – zumindest, wenn man sie aus einem betont politologischen Blickwinkel betrachtet. Im letzten Kapitel seiner Schrift verweigert Alfieri eine explizite Antwort auf die Frage, durch welche Regierung die Tyrannei am besten zu ersetzen wäre – ja, er überlässt gar die Suche nach einer solchen Antwort zunächst einmal kommenden und beleseneren Italienern; 40 er macht sie dann ideell zum Gegenstand für eine noch zu schreibende Abhandlung mit Titel „D e l l a R e p u b b l i c a“; 41 oder er lässt sie am Ende gar ex negativo von seinen vorigen Ausführungen über die Tyrannei vom Leser selbst ableiten. 42 Dass Alfieri die Antwort auf diese Frage offen lässt, muss allerdings nicht unbedingt als Manko bewertet werden: Schließlich hatte sich der Autor in seinem Traktat das Ziel gesetzt, nicht das staatliche Fundament der Republik darzustellen, sondern – wie bemerkt wurde – die „Machtlogik der Herrscher in seiner Zeit bloßzulegen“ oder besser gesagt die „grundlegend tyrannische Natur des aufgeklärten Despotismus“ im 18. Jahrhundert zu enttarnen. 43
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Alfieri: Von der Tyrannei, S. 330. „Con qual governo gioverebbe più di supplire alla tirannide“, Alfieri: Della tirannide, S. 102. Vgl. Alfieri: Della tirannide, S. 103. Ebd. Ebd., S. 105. Vgl. Rando: Alfieri europeo, S. 67 u. 75.
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1.2. Jenseits des Politischen. Der große Mann und die Psychologie der Macht Nominell ist Alfieris politischer Kosmos in der Tyrannis manichäisch zweigeteilt: Auf der einen Seite steht das absolutistische Herrschaftssystem der Tyrannis mit seinem Machthaber und dessen Satelliten; auf der anderen Seite die „Republik“ unter dem Primat des Gesetzes. Doch während die Tyrannis in Alfieris Ausführungen als historisches Phänomen konkret dargestellt wird, bleibt die vom Autor erstrebte ‚Republik‘ nebulös – letzten Endes ein freiheitlicher Mythos, der sich vor allem aus Mustern der Antike speist und für den die Gegenwart des Dichters so gut wie kein markantes Exempel liefert. Es ist kein Zufall, wenn in der Abhandlung letztlich nur von „Athen“, „Sparta“, „Rom“ und „andere[n] echte[n] und aufgeklärte[n] Republiken“ 44 die Rede ist. 45 Spürbar wird in Alfieris Schrift das „Misstrauen, den aufgeklärten Despotismus in kurzer Zeit tilgen zu können“. 46 Man geht nicht zu weit, wenn man behauptet, dass Alfieri, trotz seiner deutlichen konstitutionalistischen Position im Traktat und der Befürwortung der Republik als Staatsform, der Tyrannis im Endeffekt kein umfassendes, alternatives ‚politisches System‘ entgegenzusetzen weiß – oder hier zumindest entgegensetzen will. In unserem Rahmen soll das nicht bedeuten, dass wir darum bemüht wären, jene im 20. Jahrhundert etwa von Benedetto Croce, Umberto Calosso und Natalino Sapegno vertretene These neu zu beleben, nach welcher Alfieri grundsätzlich ein antipolitisch gestimmter Autor gewesen sei. 47 Wir können mit Giuseppe Rando durchaus behaupten, dass Alfieri „ein überzeugter, radikaler Verfechter der ‚Souveränität des Gesetzes‘ [war], legalistisch überzeugter vielleicht als jeder andere italienische Autor aller Zeiten“. 48 Nichtsdestoweniger gilt es zu betonen, dass Alfieris Modernität nicht ganz in der Sphäre der Politik aufgeht: In der Auseinandersetzung mit dem Traktat Della T irannide muss bald klar werden, dass hier Aspekte auf dem Spiel stehen, die sich außerhalb der strikten Grenzen des Politischen verorten – Aspekte, die überdies keine sekundäre Rolle in Alfieris Tragödien spielen, wie noch zu sehen sein wird. Um sich diesen Sachverhalt zu vergegenwärtigen, braucht man hier nur einen Perspektivenwechsel auf den Traktat vorzunehmen: Von Alfieris Entgegensetzung von ‚Tyrannei‘ und ‚Republik‘ hin zu den Personen des ‚Tyrannen‘ und des ‚freien Menschen‘. Nur oberflächlich stehen sich in Alfieris Abhandlung zwei alternative Staatssysteme gegenüber: hier die erstrebte ‚Republik‘, dort die verhasste ‚Tyrannis‘. Näher betrachtet, führt Alfieri vor allem einen Konflikt zwischen zwei Akteuren in 44 45
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Alfieri: Della tirannide, S. 47. Ob selbst die (andererseits viel gelobte) parlamentarische Monarchie Englands in Alfieris Kategorie der „echten Republiken“ subsumiert werden kann, muss nicht zuletzt wegen der vom Autor scharf kritisierten Rolle fraglich bleiben, die der Adel darin spielt. Vgl. das Kapitel „Vom Adel“, Alfieri: Della tirannide, S. 61. Rando: Alfieri europeo, S. 67 (Übers. P.P.). Vgl. ebd., S. 13. Ebd.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-010
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seinem Traktat vor. Einerseits steht somit die Person des ‚Tyrannen‘ symbolisch für das ganze staatliche Lastersystem des Absolutismus. Diesem Tyrannen setzt Alfieri dann andererseits bloß die „frei[e] und hochherzig[e] Natur“ einiger „Weniger“ entgegen, die, „würdig unter einer freien Regierung geboren zu werden“, dennoch „unter der Tyrannei“ leben und dabei fähig sind, „deren ganze Last zu empfinden“. 49 Die Quintessenz jener „Wenigen“, die sozusagen wirklich um den ‚Tyrannen‘ wissen, kristallisiert sich am Ende in Alfieris „liberʼuomo“ 50 heraus – jener Hypostase, von der im Kapitel „Wie man in der Tyrannei leben kann“ im zweiten Buch der Tirannide die Rede ist. Und so entsteht jener eigentliche personifizierte Gegensatz, auf dem Alfieris Abhandlung basiert und der nicht von ungefähr in der Grundstruktur des dargestellten Konfliktes auf das Schema von Alfieris Tragödien verweist: Auf der Bühne des Traktats 51 treten sich hier „tiranno“ und „liberʼuomo“ als regelrechte Antipoden gegenüber – wobei Gemeinsames diese Figuren durchaus miteinander verbindet. Man wird hier gut beraten sein, genau diesen Gegensatz in der weiteren Analyse in den Mittelpunkt zu stellen. Allgemein hat man Alfieris ‚politische Ausführungen‘ nicht als sonderlich originell betrachtet. Mit gewissem Recht wurde behauptet, dass man „vor allem in der französischen Aufklärung, eingeschlossen der Encyclopédie, und (weniger) in der englischen Aufklärung […] die Wurzel vieler Ideen entdecken [kann], die in Della tirannide Ausdruck finden“. 52 „Ganz alfierisch“ sei dabei allerdings „der Drang und die gesamte Kohärenz, mit denen sie neu gedacht und ausgedrückt werden“. 53 Als durchaus originell erscheint indes auch die psychologische Perspektive, die Alfieri in seinem Traktat wählt und die vor dem Hintergrund seiner Fokussierung auf die Personen des ‚Tyrannen‘ und des ‚freien Menschen‘, also jenseits der politischen Staatstheorien im engsten Sinne, betrachtet werden soll. Nicht von unge49
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Alfieri: Von der Tyrannei, S. 290–292. „Io dunque parlerò a quei pochissimi, che degni di nascere in libero governo fra uomini, si trovano dalla sempre ingiusta fortuna, direi balestrati, in mezzo ai turpissimi armenti di coloro, che nessuna delle umane facoltà esercitando, nessuno dei dritti dell’uomo conoscendo, o serbandone, si vanno pure usurpando di uomini il nome. […] Dico per tanto; che allorché l’uomo nella tirannide, mediante il proprio ingegno, vi si trova capace di sentirne tutto il peso, ma per la mancanza di proprie ed altrui forze vi si trova ad un tempo stesso incapace di scuoterlo“, Alfieri: Della tirannide, S. 89. „Hat sich nun ein solcher Mensch, wie es nur seine Pflicht ist, von ihnen [den Höfen] gänzlich entfernt und fühlt er sich rein und unbefleckt, so wird er sich weit höher achten, als wenn er unter einer freien Regierung geboren wäre, da er selbst in einer sklavischen Regierung sich frei zu machen gewußt hat“, Alfieri: Von der Tyrannei, S. 293. „Debitamente così, ed in tempo, allontanatosi l’uomo da esse, sentendosi egli purissimo, verrà ad estimare sè stesso ancor più che se fosse nato libero in un giusto governo; poiché liber’uomo egli ha saputo pur farsi in uno servile“, Alfieri: Della tirannide, S. 90. In seiner neuen Studie Il t empo della T irannide betrachtet Valter Boggione Alfieris Traktat geradezu als eine „Tragödie“: In der Abhandlung werde eine viel stärker theatralische als argumentative „Rhetorik der Übertreibung“ gezielt eingesetzt, vgl. Valter Boggione: Il tempo della Tirannide. Milano 2012, S. 25. Di Benedetto: Dal tramonto dei lumi al Romanticismo, S. 89 (Übers. P.P.). Ebd.
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fähr werden wir dann genau diesen ‚Personen‘ an zentraler Stelle in Alfieris Tragödien wieder begegnen. Es ist nicht übertrieben, Alfieris Della t irannide vor allem als „eine scharfe psychologische Studie“ zu bezeichnen. 54 Denn Alfieri befasst sich hier nicht nur mit den politischen „Mitteln“ der Tyrannis, von denen bereits die Rede war, sondern auch mit den „Ursachen“ und den „Wirkungen“ des Despotismus 55 – was schließlich auf eine Untersuchung der psychologischen Bedürfnisse von Herrscher und Untertanen sowie ihrer emotionalen, wiederum psychologisch gesteuerten Reaktionen hinausläuft. Und so setzen sich einige Kapitel des ersten Buchs – wie bereits ihre Titel festhalten – mit folgenden seelischen Regungen und Gefühlen in der ‚Tyrannis‘ auseinander: „Furcht“, „Niederträchtigkeit“, „Ehrgeiz“ und „falscher Ehre“, [Liebe zu] „Gattin und Nachkommenschaft“, „Liebe gegen sich selbst“, „Liebe zum Tyrannen“, „Liebe des Tyrannen zu den Untertanen“. 56 Im Hinblick auf die Bedeutung, die Alfieri der „Furcht“ als durchdringendem Gefühl in der Tyrannis beimisst, lohnt es sich hier, insbesondere auf das entsprechende dritte Kapitel der Abhandlung näher einzugehen. Seine Analyse „della paura“ („Von der Furcht“) ordnet Alfieri direkt nach den ersten zwei Abschnitten seines Traktats ein, die sich definitorisch mit dem „Tyrannen“ und der „Tyrannei“ auseinandersetzen. Bekannt sind hier sowohl der theoretische ‚Stichwortgeber‘ dieser Betrachtungen – Montesquieu – 57 als auch die Umdeutung, welche die ursprünglichen Inhalte bei Alfieri erfahren. 58 Daher sei hier lediglich kurz zusammengefasst: Montesquieu hatte behauptet, dass – mit Alfieris Worten – „Grundlage und Triebfeder der Monarchie die Ehre sei“ 59 und dass die Grundlage der Tyrannis dagegen die ‚Furcht‘ darstelle: „Comme il faut de la vertu dans une république, et dans une monarchie de l’honneur, il faut de la crainte dans un gouvernement despotique“. 60 Indem Alfieri die „monarchie“ im Sinne Montesquieus selbst als „gouvernement despotique“ auffasst, erklärt er auch die crainte der despotischen Regierungen zur allgemeinen Grundlage auch der existierenden Monarchien seiner Zeit. Die ‚Furcht‘ wird damit zum umfassendsten und durch54 55 56
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Attilio Momigliano: Storia della letteratura italiana. Dalle origini ai nostri giorni. Milano u. Messina 1968, S. 385. Alfieri: Della tirannide, S. 88. „Paura“ (Kap. III.), „viltà“ (Kap. IV.), „ambizione“ (Kap. V.), „falso onore“ (Kap. X.), „[Amore] della moglie e della prole“ (Kap. XIV.), „amor di sé stesso“ (Kap. XV.), „[amore del] tiranno“ (Kap. XVI.), [amore del] tiranno [per] i suoi sudditi“ (Kap. XVII.). Wie in anderen Kapiteln seiner Abhandlung nimmt Alfieri auch hier offensichtlich eine Berichtigung von Montesquieus Thesen über Furcht, Ehrgeiz, Ehre, Adel, Luxus und Erziehung vor, vgl. Rando: Alfieri europeo, S. 34. Vgl. dazu Gabriella Fenocchio: Alfieri. Bologna 2012 (Profili di storia letteraria), S. 71–81, sowie Rando: Alfieri europeo, S. 34–61. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 31. „Disse il dotto Montesquieu, che base e molla della monarchia ella era l’onore“, Alfieri: Della tirannide, S. 16. Montesquieu: De l’esprit des lois. Bd. I., Livre III, chapitre IX „Du principe du gouvernement despotique“, S. 150f.
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dringendsten Gefühl in der Tyrannis: 61 Entscheidend ist hier allerdings, dass Alfieri nicht nur Montesquieus Begriff der ‚monarchie‘ unter seine Kategorie der Tyrannei subsumiert, sondern dass er auch den Tyrannen zum freilich nicht bemitleidenswerten Opfer jener ‚Furcht‘ werden lässt, der eigentlich, wie man zunächst glauben möchte, nur die Untertanen unterworfen sein sollten. Bemerkenswert ist der Perspektivenwechsel, den Alfieri hier vornimmt. Montesquieu hatte die ‚Furcht‘ als Gewaltinstrument dargestellt, mit dem der Fürst und seine Satelliten Selbstachtung und Mut der Untertanen zur Verteidigung der eigenen Macht brechen können und sollen: „Le pouvoir immense du prince y passe tout entier à ceux à qui il le confie. Des gens capables de s’estimer beaucoup euxmêmes seraient en état d’y faire des révolutions. Il faut donc que la crainte y abatte tous les courages, et y éteigne jusqu’au moindre sentiment d’ambition“. 62 In seiner Abhandlung unterscheidet dagegen Alfieri explizit zwischen zwei „Arten“ der Furcht, die wohl ungleiche „Gründe“ und „Wirkungen“ vorweisen: zwischen der „Furcht der Unterdrückten“ und der „Furcht des Unterdrückers“. 63 Nachdem der Autor einführend auf die an sich selbstverständliche ‚Furcht‘ der ersten eingegangen ist, unterstreicht er deutlich, dass auch der Tyrann gegen die in seinem Reich herrschende Furcht nicht immun ist – ganz im Gegenteil: Der Unterdrücker jedoch fürchtet nicht weniger, denn in ihm entsteht begreiflicherweise die Furcht aus dem Bewußtsein der eigenen wirklichen Schwäche, so wie der erborgten, übermäßigen und eingebildeten Gewalt. Er schaudert in seiner eigenen Burg zusammen […], wenn er erwägt, welchʼ namen- und grenzenlosen Haß, ihm seine grenzenlose Gewalt erwecken muß. 64
Das Machtsystem der Tyrannis schürt damit eine Spirale der Furcht, die jede einzelne Existenz betrifft. Der Tyrann, das heißt die Instanz, von der die Furcht ausgeht, stellt dabei keine Ausnahme dar: Auch wenn er eine schier unbegrenzte Macht genießt und über dem Gesetz steht, ist er für Alfieri selbst der Macht der Furcht unterworfen.
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Vgl. dazu auch Fubini: Ritratto dell’Alfieri e altri studi alfieriani, S. 27. Montesquieu: De l’esprit des lois. Bd. I., Livre III, chapitre IX „Du principe du gouvernement despotique“, S. 150f. Alfieri: Della tirannide, S. 16f. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 33f. „Ma, teme altresì l’oppressore. E nasce in lui giustamente il timore della coscienza della propria debolezza effettiva, e in un tempo, dell’accattata sterminata sua forza ideale. Rabbrividisce nella sua reggia il tiranno […] allorché si fa egli ad esaminare quale smisurato odio il suo smisurato potere debba necessariamente destare nel cuore di tutti“, Alfieri: Della tirannide, S. 17. An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass dem Motiv des labyrinthischen „Königspalastes“ in Alfieris tragischem Theater eine Bedeutung zukommt, die weit über das Politische hinausgeht. Denn Alfieris Königspalast stellt nicht nur den Mittelpunkt der politischen Machtausübung dar, sondern er bildet auch – so könnte man es zugespitzt formulieren – einen Ort tragischer existenzieller Einsamkeit. Vgl. dazu auch Anna Barsotti: Alfieri e il teatro tragico. In: Roberto Alonge u. Guido Davico Bonino (Hg.): Storia del teatro moderno e contemporaneo. Bd. II: Il grande teatro borghese. Settecento – Ottocento. Torino 2000, S. 189–240, hier insb. S. 236–238.
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Bereits im dritten Kapitel der tirannide findet jene bezeichnende Polarisierung von ‚tiranno‘ und ‚liberʼuomo‘ statt, der wir bereits begegnet sind. Hier, in seiner Analyse der „Furcht der Unterdrückten“, wendet Alfieri seine Aufmerksamkeit auf die „Besten unter den Menschen“, an deren Benehmen in der Tyrannis er schließlich seinen Maßstab ausrichtet. Von Interesse ist die Definition, die Alfieri von diesen Menschen gibt; unter den „Unterdrückten“ seien sie „jene wenigen Männer, deren angeborene Kraft, gewähltere Erziehung und eine gewisse Erhabenheit des Geistes, so wie endlich eine geringere Abhängigkeit, sie besser die Wahrheit unterscheiden lehren und sie nicht gleich den gewöhnlichen Menschen in blinder Furcht vergehen lassen sollten“. 65 In unserer Analyse von Alfieris Abhandlung Del p rincipe e d elle l ettere wird zu sehen sein, was es mit diesen „wenigen Männer[n]“ und insbesondere mit Alfieris, in unserem Rahmen kaum zu überschätzender Auffassung einer „angeborene[n] Kraft“ im Detail auf sich hat. Zunächst einmal sei nur Folgendes festgehalten: Bei diesen „Wenigsten, eines besseren Looses Würdigen“ 66 handele es sich um Menschen, die von den Missständen der Tyrannis wissen. Diese Menschen „sehen täglich [den] Lauf der Dinge“ in der Willkürherrschaft, und wenn sie dabei nur „seufzen und schweigen“, dann gibt es für Alfieri nur einen Grund: Das geschieht „[e]inzig und allein aus Furcht“. 67 Überflüssig zu betonen, dass der Prototyp jenes ‚liberʼuomo‘, der erst im zweiten Buch von Alfieris Abhandlung beim Namen genannt wird, für Alfieri genau unter diesen Menschen zu finden ist. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat es jedoch vermutlich nicht viele Menschen gegeben, die Alfieris Definition entsprachen. Wenn man zunächst einmal von der ‚angeborenen Kraft‘ absieht, die von der Natur wohl gleichmäßig unter die sozialen Stände verteilt wird, und wenn man auch das vorab vage Kriterium einer „Erhabenheit des Geistes“ zunächst einmal beiseitelässt, so konnten sich zu Alfieris Zeiten nur die Wenigsten einer ‚vornehmen Erziehung‘ und einer ‚finanziellen Unabhängigkeit‘ erfreuen. Welcher soziale Stand hier Alfieri vor den Augen schwebt, ist nicht schwierig nachzuvollziehen. Doch kann das soziale Milieu von Alfieris „freiem Menschen“ auch indirekt ermittelt werden. Im zweiten Buch legt der Dichter einen einzigen „Hauptgrundsatz“ für jenen Menschen fest, der die „ganze Last“ der Tyrannei fühlt und deren „Joch“ aber nicht abschütteln kann: Er soll vor allem zum „Hof“ deutlich auf Distanz gehen. So liest man hier:
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Alfieri: Von der Tyrannei, S. 37f. „E scegliamo nella tirannide quei pochi uomini, a cui e la robustezza delle fibre, e una miglior educazione, e una certa elevazion d’animo […] e in fine una minor dipendenza, dovrebbero far conoscere più il vero, e lasciarli tremare assai meno che gli altri“, Alfieri: Della tirannide, S. 18. Alfieri: Della tirannide, S. 18. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 40. „[T]utto ciò veggono palpabilmente ogni giorno quei pochi enti pensanti, che la tirannide non ha potuti impedire; e in ciò vedere, sommessamente sospirando, si tacciono. Ma, perché si tacciono? per sola paura“, Alfieri: Della tirannide, S. 18.
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[Jener Mensch hat] stets vom Tyrannen fern zu bleiben, ebenso wie von dessen Satelliten, seinen schändlichen Auszeichnungen, seinen ungerechten Aemtern, den Lastern, Verführungen und Bestechungen derselben, ja selbst von den Mauern, dem Boden und der Luft sogar, und Allem, was ihn umgiebt. 68
Soziologisch mag man sich fragen, wer im späten 18. Jahrhundert überhaupt dem Tyrannen und der Welt des Hofes nahe kommen durfte – nur ein solcher Mensch hätte sich ja Alfieris „Hauptgrundsatz“ pragmatisch zu Eigen machen können. Dabei ist es wiederum nicht schwer zu erkennen, dass Alfieri hauptsächlich sich selbst und den eigenen Stand als Referenzpunkt für seine Betrachtungen annimmt. Doch ergiebiger als die Beschäftigung mit der soziologischen Frage ist im Hinblick auf den Gegensatz von ‚tiranno‘ und ‚liberʼuomo‘ die Analyse der Passage, in welcher der Begriff des „freien Menschen“ zum einzigen Mal in Alfieris Traktat fällt. Zusammenfassend ist der ‚liberʼuomo‘ in Alfieris Vorstellung derjenige Mensch, der, im Gegensatz zu den anderen ‚Mit-Unterdrückten‘, das Joch der Tyrannis zu fühlen vermag, es dennoch nicht abschütteln kann und sich dadurch ‚frei macht‘, dass er die „pestilenzialische Atmosphäre der Höfe“ meidet. 69 Dies tue er „nicht so sehr, [um] seine eigne Sicherheit, als die Achtung seiner selbst und die Unbeflecktheit seines Rufes [zu] suchen“. 70 Ein solcher Mensch kann sich für Alfieri „weit höher achten, als wenn er unter einer freien Regierung geboren wäre, da er selbst in einer sklavischen Regierung doch gewusst hat, liberʼuomo zu werden“. 71 Der ‚freie Mensch‘ – ein Begriff, der übrigens in der Originalfassung der Abhandlung von 1777 noch nicht vorlag 72 und erst in den späteren Überarbeitungen zu dem für das Jahr 1789 geplanten Druck eingefügt wurde – stellt daher in Alfieris Duktus keinesfalls einen vom Ideal getragenen Freiheitskämpfer oder einen politisch agierenden Revolutionär dar, der unermüdlich und unverhüllt gegen das tyrannische Machtsystem opponieren würde. Sein „eifriges Streben“ beschränkt der Dichter im Traktat Della t irannide auf den „Ruhm“, den er sich durch „das Denken, das Sagen und das Schreiben“ 73 erwerben könne – ein fundamentaler Gedanke, der in der Abhandlung Del P rincipe e d elle L ettere gerade im Mittel68
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Alfieri: Von der Tyrannei, S. 292. „[D]ee allora un tal uomo, per primo fondamentale precetto star sempre lontano dal tiranno, da’ suoi satelliti, dagli infami suoi onori, dalle inique sue cariche, dai vizj, lusinghe, e corruzioni sue, dalle mura terreno ed aria perfino, che egli respira, e che lo circondano“, Alfieri: Della tirannide, S. 89f. Ebd. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 293. „[I]n questa sola lontananza ricerchi un tal uomo non tanto la propria sicurezza, quanto la intera stima di se medesimo, e la purità della propria fama“, Alfieri: Della tirannide, S. 90. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 293. Die Übersetzung wurde hier leicht verändert. Vgl. die entsprechende Transkription von Alfieris Manuskripten aus der Biblioteca MediceaLaurenziana in Florenz in: Vittorio Alfieri: Appendice: Della tirannide. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 3: Scritti politici e morali. Bd. 1. Hg. v. Pietro Cazzani. Asti 1951, S. 325–371, hier S. 363. Vgl. Alfieri: Della tirannide, S. 90.
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punkt stehen wird. Dabei ist anzumerken, dass ‚Denken, Sagen und Schreiben‘ bei Alfieri zunächst keinen Eingriff in die Realität bedeuten und vor allem als ‚Refugium‘, ja als Zufluchtsort vor der tyrannischen Beklemmung dargestellt werden. Wendungen wie „zur eigenen Erleichterung“ schreiben, als „edler Ersatz für die Demütigung des Dienens“ oder um sich zunächst „Luft zu verschaffen“, die man nicht von ungefähr im Traktat liest, bestätigen das. 74 Damit soll deutlich unterstrichen werden, dass Alfieris liberʼuomo in diesem Kontext keinesfalls denjenigen Menschen darstellt, der einen offenen politischen Kampf gegen den Tyrannen führt, geschweige denn denjenigen, der alle Mit-Unterdrückten vom Joch der Tyrannei bereits befreit hätte. Der liberʼuomo ist insofern ‚frei‘, als er den Tyrannen als Wurzel allen Übels erkennt und für sich entscheidet, sich so weit wie möglich von ihm und vom unheilstiftenden Zentrum der absolutistischen Macht fernzuhalten. Wenn man diesen einsichtigen und besonders stark fühlenden, in der Tyrannis lebenden Menschen aus einem rein politischen Blickwinkel betrachtet, dann erscheint sein revolutionäres Potential allerdings als sehr gering. Aus einem breiteren Blickwinkel heraus betrachtet, stellt dieser liberʼuomo jedoch – stellvertretend für den besseren Teil der Menschheit, der frei entscheidet, sich dem Lauf der Dinge zu entziehen, da er sie nicht ändern zu können glaubt – den Gegenpol nicht nur zum Tyrannen dar, sondern prinzipiell zu jeder Gewalt, die als bedrückende Einschränkung der eigenen existenziellen Freiheit empfunden wird. Mutatis mutandis könnte man sich hier an Schillers Spruch aus dem späten Essay Ueber das Erhabene erinnert fühlen: „Alle andere Dinge müssen; der Mensch ist das Wesen, welches will“. 75 So gesehen erfahren die Termini liber’uomo und tiranno eine beträchtliche Bedeutungserweiterung, die zunächst etwas willkürlich anmuten mag – Argumente zur Unterstützung dieser Interpretation sind allerdings in Alfieris Traktat nicht schwer zu finden, wie im Folgenden noch zu sehen sein wird.
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Vgl. ebd. NA 21, 38.
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1.3. Tiranno und liber’uomo: Ein Konflikt zwischen Wesensverwandten Bei der Auseinandersetzung mit Alfieris Abhandlung Della tirannide ist in unserem Rahmen zwischen zwei Interpretationsebenen zu unterscheiden, die jeweils privilegiert werden können: eine engere ‚politische‘ und eine allgemeinere ‚psychologische‘. Die politische Interpretation stellt dabei die selbstverständlichere dar und speist sich aus den Argumenten, die wir anfangs analysiert haben: Vor dem Hintergrund der politischen Debatten, die in der französischen und englischen Aufklärung geführt werden – vor dem Hintergrund insbesondere von Montesquieus Werk De lʼesprit des lois erklärt der antikonformistische Graf Vittorio Alfieri dem europaweit herrschenden Absolutismus, den er ausnahmslos als ‚Tyrannei‘ verstanden wissen will und durchaus auch in den sogenannten ‚aufgeklärten Monarchen‘ verkörpert sieht, den Krieg. Der modernen Tyrannei setzt er das Modell „aufgeklärter“ antiker Republiken wie Athen, Sparta und Rom entgegen; 76 das Credo, zu dem er sich bekennt, bezeugt den unverletzlichen Primat des ‚Gesetzes‘. Alfieris Konstitutionalismus und Legalismus können nicht überschätzt werden: Mit gutem Grund kann man behaupten, dass der Dichter aus Asti der „‚erste moderne Autor‘ der italienischen Literatur“ 77 – ja, der „politischste und innovativste Schriftsteller seiner Zeit war“. 78 In Alfieris Traktat sind indes etliche Aspekte herauszuarbeiten, die zwar durchaus auch von der Modernität dieses Autors zeugen, denen aber die betont politische Deutung der Abhandlung nicht gerecht zu werden vermag. Denn der als kompromisslos dargestellte politische Widerspruch zwischen vorhandenem Absolutismus und zu realisierendem Konstitutionalismus unter dem Primat des Gesetzes verliert seine Schärfe, wenn er in der Abhandlung in dem eigentümlichen Gegensatz von ‚Tyrann‘ und ‚freier Mensch‘ Gestalt annimmt. Dabei ergeben sich unter anderen folgende Fragen: Wie ist die betont psychologische Perspektive von Alfieris Analyse im Traktat Della tirannide zu deuten? Warum setzt sich Alfieri hier insbesondere auch mit der Furcht des Tyrannen auseinander, wo dieser letztlich nur das politische Feindbild schlechthin verkörpert, das es zu bekämpfen, ja zu beseitigen gilt? Weshalb psychologisches Interesse für ein „modernes Monstrum“ 79 bezeugen, wenn es eigentlich ganz getilgt werden soll? Und glaubt Alfieris liberʼuomo nicht im Grunde seines Herzens, dass die ‚Tyrannei‘ letzten Endes untilgbar ist? Versteht Alfieri unter ‚Tyrannei‘ lediglich eine verwerfliche ‚politische Staats76
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Es sei hier nur am Rande angemerkt, dass Schiller dagegen das ‚tyrannische‘ Sparta dem ‚freiheitlichen‘ Athen in seiner Jenaer Vorlesung über die Gesetzgebung des Likurgus und Solon (1789, erschienen 1790) entgegensetzen wird. Vgl. dazu Paolo Panizzo: Paradigmi dell’antico e libertà moderna. La l egislazione di L icurgo e Solone di Friedrich Schiller. In: Maria Carolina Foi (Hg.): Diritto e letterature a confronto. Paradigmi, processi, transizioni. Trieste 2016, S. 39–52. Rando: Alfieri europeo, S. 11 (Übers. P.P.). Ebd., S. 13 (Übers. P.P.). „[M]ostro moderno“, Alfieri: Della tirannide, S. 10.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-011
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form‘, von deren Machtzentrum man nur fern bleiben sollte – oder ist sie nicht vielmehr mit einer besonderen Auffassung der conditio hum ana überhaupt am engsten verknüpft? Warum räumt Alfieri angesichts der „Schlechtigkeit der Zeiten“ seinem ‚freien Menschen‘ nicht die Möglichkeit ein, sich „durch thatkräftiges Handeln“ „Ruhm“ zu erwerben? 80 Warum schreibt er in der Widmung seines Werkes „an die Freiheit“, dass er selbst „nur darum schrieb“, weil seine „trüben, traurigen Zeiten [ihm] nicht zu handeln erlaubten“, und dass er „bei jeder wirklichen dringenden Nothwendigkeit augenblicklich die Feder verlassen würde, um unter [dem] edlen Banner [der Freiheit] das Schwert zu führen“? 81 Wie ist der paradoxe, am Ende des Traktats geäußerte Wunsch zu interpretieren, „daß der Tyrann sich allen möglichen Ausschweifungen hingeben und jedes Maaß überschreiten möchte, um sobald als möglich seinen Sturz und mit ihm auch den der Tyrannei herbeizuführen“ – der Wunsch also, dass der Tyrann selbst sozusagen aus Gefälligkeit die eigene Katastrophe beschleunigen möge, da der „allgemeine[-] Wille[-] und die allgemeine Meinung“, die ihn sonst stürzen könnten, an sich „nur langsam und zweifelhaft umgeändert werden können“? 82 Viele Interpreten, welche die betont politischen Thesen in Alfieris Abhandlungen eher in den Hintergrund drängten – oder ganz und gar von einem ‚antipolitischen Alfieri‘ 83 sprachen –, mögen in ihrer Auseinandersetzung mit dem italienischen Grafen diese und ähnliche Fragen vor Augen gehabt haben. In Poesia e non poesia wies beispielsweise Benedetto Croce – der Alfieri hier übrigens „als am engsten verwandt mit den zeitgenössischen Stürmern und D rängern Deutschlands“ 84 präsentiert – bereits 1923 darauf hin, dass der „politische Inhalt“ von Alfieris „frenetischem Hass gegen die Tyrannei“ letztlich ‚unbestimmt‘ bleibt: Das Streben nach Freiheit und das Verabscheuen der Tyrannei riefen in seiner Einbildungskraft ein fürchterliches Phantom hervor, den Tyrannen, der kein poetisches Phantom darstellt, sondern einen Alptraum der Leidenschaft, eine Art Verdichtung der schwärzesten Bosheit des Menschen, die – man weiß nicht warum, oder vielleicht doch nur aus unbezwinglicher Anziehungs- und Anhäufungskraft – in einem Individuum stattfindet. 85
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Alfieri: Von der Tyrannei, S. 293. Alfieri: Della tirannide, S. 90. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 3. „[I]o, che per nessun’altra cagione scriveva, se non perché i tristi miei tempi mi vietavan di fare; io, che ad ogni vera incalzante necessità, abbandonerei tuttavia la penna per impugnare sotto il tuo nobile vessillo la spada“, Alfieri: Della tirannide, S. 7f. Alfieri: Von der Tyrannei, S. 343. „[C]he non vi essendo alla tirannide altro definitivo rimedio che la universal volontà e opinione; e non potendosi questa cangiare se non lentissimamente e incertamente pel solo mezzo dei pochi che pensano, sentono, ragionano, e scrivono; il più virtuoso individuo, il più costumato, il più umano, si trova pur troppo sforzato a desiderar nel suo cuore, che i tiranni stessi, coll’eccedere ogni ragionevole modo, più rapidamente e con maggior certezza cangino questa universal volontà e opinione“, Alfieri: Della tirannide, S. 106. Rando: Alfieri europeo, S. 13. Croce: Alfieri, S. 7 (alle Übers. P.P.). Ebd., S. 9.
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Tatsächlich: Erst eine Deutung, welche die Termini ‚Tyrann‘ und ‚freier Mensch‘ bei Alfieri viel breiter auffasst als nur in ihrer eng politischen Bedeutung, macht letztlich einige Einblicke in das Werk dieses Dichters überhaupt möglich – Einblicke, die sich spätestens bei der Analyse seiner Tragödien als unverzichtbar erweisen. In dieser Hinsicht konnte bereits die ältere Alfieri-Forschung Grundlegendes herausarbeiten, indem sie die eminent politische Deutung von Alfieris Werk, welche die Interpreten des 19. Jahrhunderts vorgezogen hatten, allmählich öffnete und den Konflikt zwischen ‚Tyrann‘ und ‚freier Mensch‘ sukzessive, dabei jedoch nur punktuell, in eine existenzielle Dimension übersetzte. In Bezug auf Alfieris Figur des ‚Tyrannen‘ schrieb etwa Mario Fubini bereits 1937 Folgendes: Indem er sie in einer Figur verkörpert, projiziert Alfieri in den von ihm beschriebenen Tyrannen all die Kräfte, die dem Individuum feindselig gegenüberstehen. Und seine Analyse, wenn überhaupt von einer Analyse die Rede sein kann, ist weder eine politische noch eine juristische, sondern eine psychologische, in welcher ihm, wie man spürt, die Erfahrung zu Hilfe kommt, die er nicht von der Welt, sondern vielmehr von sich selbst hat – dies gilt sowohl, wenn er den Willen zur Allmächtigkeit des Tyrannen schildert als auch, wenn er die Demütigung und das Leiden derjenigen darstellt, die sich von ihm unterdrückt fühlen. 86
Wie bereits erwähnt, mag man aus gutem Grunde von einer pauschalen Unterbewertung des Politischen bei Alfieri, insbesondere im Hinblick auf seine erste Abhandlung Della tirannide abraten: In dieser Hinsicht bedarf Fubinis Interpretation von Alfieris Werk (und Croces Deutung nicht weniger) einer gezielten Korrektur. Doch die vorgeschlagene Erweiterung des interpretatorischen Horizonts, mit welcher man in älteren Studien nicht zuletzt einer gewissen Oberflächlichkeit in politicis bei Alfieri abzuhelfen glaubte, erweist sich auch dort als produktiv, wo das Politische bei Alfieri, wie in unserem Fall, ganz und gar nicht unterschätzt wird. Vor dem Hintergrund der älteren Alfieri-Forschung wurde auch in einigen neueren Studien erkannt, dass sich eine umfassendere Deutung von Alfieris Konflikt zwischen tiranno und liberʼuomo in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem piemontesischen Dichter als durchaus interpretatorisch fruchtbar erweist. So schreibt etwa Arnaldo Di Benedetto in aller Deutlichkeit: „Beim Asteser Dichter hat die Tyrannei einen metaphysischen Grund; sie fußt weniger in einer politischen Ordnung als in der begrenzten Natur des Menschen“. 87 An anderer Stelle betont derselbe Literaturwissenschaftler, dass die „Alptraum-Figur des Tyrannen […] bei Alfieri vor allem als poetisches Phantom [entsteht]“, 88 wobei im Übrigen die Kategorie des Poetischen, von der Croce Alfieri ja getrennt wissen wollte, 89 ihren interpretatorischen Rang zurückbeansprucht: Für Di Benedetto sollte Alfieris ‚Tyrann‘ gerade als „poetischer Mythos“ 90 interpretiert werden. 86 87 88 89 90
Mario Fubini: Vittorio Alfieri. Il pensiero, la tragedia. Firenze 1937, S. 29 (Übers. P.P.). Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 10 (alle Übers. P.P.). Di Benedetto: Il dandy e il sublime, S. 17. Vgl. das Alfieri gewidmete Kapitel in: Croce: Poesia e non poesia, S. 7–20. Di Benedetto: Dal tramonto dei lumi al Romanticismo, S. 90.
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Somit werden hier sowohl das in unserem Rahmen durchaus zentrale Thema der „begrenzten Natur des Menschen“ deutlich unterstrichen als auch der „metaphysische“, die letzten Zusammenhänge des Seins betreffende Grund der Problematik richtig erkannt, die Alfieris Figur des Tyrannen widerspiegelt. Der ganzen Tragweite dieser Gedanken wurde in der Auseinandersetzung mit Alfieri allerdings in weiteren Analysen bis dato keine Rechnung getragen. Auf diesen Anmerkungen soll hier aufgebaut werden. Denn erst wenn man zum einen die strikt politische Dimension von Alfieris Werk transzendiert und zum anderen konsequent aus einem existenziellen Blickwinkel auf Alfieris TyrannisKomplex schaut: Erst dann wird deutlich, dass sich Alfieris Konflikt zwischen tiranno und liber’uomo eigentlich um das neue Selbstverständnis des modernen Menschen dreht, ein Selbstverständnis, das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsteht und sich zwischen der Hybris einer auf Energie basierenden, zur neuen Moral avancierten heroischen ‚Männlichkeit‘ und der Erkenntnis des unvermeidbaren Verlusts schöpferischer Kraft ins sinnlose Nichts verorten lässt. Erst vor diesem Hintergrund erklärt sich dann die eigentümliche Wesensverwandtschaft, die den tiranno und den liber’uomo entgegen aller Erwartung bei Alfieri miteinander verbindet – eine Wesensverwandtschaft, die im Gegenlicht zu Alfieris psychologischer Reflexion über die Furcht des Tyrannen im Traktat rekonstruiert werden kann. Wir erinnern uns an die Bedeutung, welche die ‚Furcht‘ des Unterdrückten und des Herrschers in Alfieris Abhandlung Della t irannide spielt. Knapp anderthalb Jahrzehnte nach der ersten Fassung des Traktats erzählt Alfieri in seiner Vita eine bemerkenswerte Episode aus seiner Jugendzeit an der „Accademia Reale“ in Turin. Der elfjährige Vittorio wird von einem „älteren Mitschüler“, der ihm „an Kraft und mehr noch an Eselei überlegen war“, 91 von Zeit zu Zeit dazu genötigt, seine „schriftlichen Aufgaben“ an seiner Stelle zu erledigen. Zwei „Spielbälle“ bilden die hierfür in Aussicht gestellte Belohnung; zwei „Kopfnüsse“ den Preis für eine mögliche Verweigerung. Vittorio entscheidet sich nachvollziehbar für die ersteren und erledigt die jeweilige Arbeit mehrmals fleißig und gewissenhaft, was dem Mitschüler viel Erfolg und Beifall bringt. Bis der elfjährige Junge – dessen „Bedarf an Bällen vollständig gedeckt“ ist und er nicht nur „der Mühen überdrüssig“ ist, sondern sich auch noch darüber ärgert, dass sich der Mitschüler mit seinen „Federn schmückte“ 92 – anfängt, gezielt grobe Fehler in die Ausarbeitung hinzustreuen,
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Alfieri: Vita. Mein Leben, S. 62. „In quegli spessi e lunghi intervalli in cui per via di salute io non poteva andare alla scuola con gli altri, un mio compagno, maggiore di età, e di forze, e di asinità ancor piú, si faceva fare di quando in quando il suo componimento da me“, Alfieri: Vita, S. 32. Alfieri: Vita. Mein Leben, S. 62f. „Con tutto ciò, dopo avergli fatto molte composizioni, e sazio di tante palle, e noiato di quella fatica, e anche indispettito un tal poco che colui si abbellisse del mio […]“, Alfieri: Vita, S. 33.
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was bald die entsprechende Wirkung zeigt. Bemerkenswert ist aber die Reaktion des Mitschülers, die Alfieri in der Vita festhält: Jener aber, wiewohl er sich öffentlich so verhöhnt, und mit Gewalt in seine angeborne Eselshaut gekleidet sah, unterstand sich doch nicht, eine offenbare Rache an mir zu nehmen; er ließ mich nicht mehr für sich arbeiten, und unterdrückte seine Wuth, damit ich nicht durch Entdeckung der ganzen Sache ihn noch mehr beschämen möchte. 93
Der Mitschüler, der Vittorio erpresst hatte, fürchtet somit selbst, dass sein Opfer reden möge, was zur Folge hätte, dass der Erpresser vom Regen in die Traufe geraten könnte. Doch die Befürchtung, Vittorio könnte die volle Wahrheit sagen und den Mitschüler ganz der Lächerlichkeit preisgeben, ist gegenstandslos, denn der junge Alfieri verharrt in seinem Schweigen – und nicht ohne Grund: „Auch der Anblick jener über mein Haupt geschwungenen Faust [hielt mich] in den Schranken der Mäßigung, denn sie schwebte mir beständig vor“. 94 Die Lehre, die sich aus der Episode ziehen lässt, hält Alfieri am Ende knapp und bündig fest: „Daraus lernte ich schon damals, dass es gegenseitige Furcht sei, was die Welt regiert“. 95 Mit Recht hat man in diesen Worten, die obendrein im geschichtlichen Kontext der Französischen Revolution geschrieben werden, „das Zeichen für eine breitere Auffassung“ erkannt, die prinzipiell und „nicht nur auf das System der tyrannischen Macht zu beziehen ist“. 96 Auch ist es angebracht, jene totalitäre Kraft der Furcht, auf der Alfieri jede Machtbeziehung auf Erden gegründet sieht, mit einer allgemeinen „Weltanschauung“ in Zusammenhang zu bringen, die – wie in der Forschung bemerkt wurde – keinen „Erlösungsschimmer“ 97 kennt. Das ist hier ein entscheidender Punkt. Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man geglaubt, Alfieris Weltanschauung mit dem Begriff des ‚Pessimismus‘ am leichtesten beikommen zu können. „Pessimismo alfieriano“ lautet nicht zufällig der Titel des ersten Kapitels im ersten Teil von Fubinis Studie Vittorio Alfieri. Il pensiero – la tragedia aus dem Jahr 1937, in welchem man unter anderem Folgendes liest: Sein Pessimismus ging nicht aus der Überzeugung hervor, dass die Glückseligkeit unerreichbar ist, sondern aus der Sorge um die Größe, das heißt um jene volle und ganzheitliche Behauptung
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Zitiert sei diese Passage aus der älteren, besonders bildkräftigen Übersetzung von Alfieris Vita durch Ludwig Hain: Denkwürdigkeiten aus dem Leben Vittorio Alfieri’s. In zwei Theilen / von ihm selbst geschrieben. Nach der ital. Orig.-Ausg. von Ludwig Hain. Cölln 1812. Erster Theil, S. 61. „Costui dunque, vistosi così sbeffato in pubblico, e rivestito per forza della sua natural pelle d’asino, non osò pure apertamente far gran vendetta di me; non mi fece più lavorare per lui, e rimase frenato e fremente dalla vergogna che gli avrei potuta fare scoprendolo“, Alfieri: Vita, S. 33. Alfieri: Denkwürdigkeiten, S. 62. „Ed io verisimilmente era anche contenuto nei limiti della discrezione, da quella vista della mano alzatami sul capo, che mi rimaneva tuttora sugli occhi“, Alfieri: Vita, S. 33. Alfieri: Denkwürdigkeiten, S. 62. „Onde io imparai sin da allora, che la vicendevole paura era quella che governava il mondo“, Alfieri: Vita, S. 33. Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 24 (alle Übers. P.P.). Ebd.
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der menschlichen Person, die er in sich und in den Anderen von innerlichen und äußerlichen Hindernissen verwehrt und begrenzt fühlte. 98
Auf Alfieris „Sorge um die Größe“ und auf ihre außerordentliche Bedeutung beim piemontesischen Dichter wird im Kapitel über den Traktat Del p rincipe e d elle lettere ausführlich zurückzukommen sein. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Fubini hier weiterhin Alfieris existenzielle „Unruhe“ gerade mit der „Ruhelosigkeit“ in Verbindung bringt, welche die „Romantiker“ charakterisieren wird – „das ist die Qual jenes Menschen, der sich viel größer als die Welt fühlt, in der er zu leben hat und in der er nicht glaubt, seine einzigartige und tiefste Kraft zum Ausdruck bringen zu können“. 99 Die Deutung Alfieris als eines Vorläufers der Romantiker soll hier nicht wundern: Hatte nicht Benedetto Croce Alfieri wenige Jahre vor Fubinis Untersuchung direkt mit den deutschen Zeitgenossen des Sturm und Drang in Zusammenhang gebracht und ihn einen „protoromantico“ genannt? Wohl übrigens einen protoromantico sui generis, wie man ergänzen muss, dem „grundlegende Zeichen“ der Romantiker selbst fehlten wie etwa „die religiöse Unruhe nach dem Zweck und Wert des Lebens, das Interesse für die Geschichte und das Wohlgefallen an den besonderen und realistischen Aspekten der Dinge“. 100 Vor dem Hintergrund seines ‚Pessimismus‘ wurde Alfieri jedenfalls als Vorläufer der italienischen Romantiker des 19. Jahrhunderts betrachtet, und auf diese Weise konnte sein Name in der italienischen Literaturgeschichte in einem Zuge mit demjenigen Leopardis genannt werden. Man hat womöglich geglaubt, unserem Autor einen Gefallen zu erweisen, indem man ihn zum Vorläufer einer späteren literarischen Epoche erklärt hat. Darüber hinaus hat man damit für diesen unkonventionellen Grafen einen klar definierten Platz in der italienischen Literaturgeschichte zu entdecken vermocht – was natürlich auch eine gewisse interpretatorische Bequemlichkeit sicherstellte. Die Tatsache, dass Alfieri zum ‚Protoromantiker‘ erklärt wurde, was ihn ja ins 19. Jahrhundert hinein projizierte, lenkte allerdings die Aufmerksamkeit von den zentralen Fragen ab, was es tatsächlich mit Alfieris ‚Pessimismus‘ auf sich habe und wie dieser gerade vor dem Hintergrund des 18. Jahrhunderts – zu der Zeit also, da er sich bei diesem Autor offenbart – zu erklären ist. Erst eine Antwort auf diese Fragen verspricht daher, weiterführende interpretatorische Perspektiven zu eröffnen. Im Einklang mit Umberto Calosso, dem Autor der Monographie zur „Anarchie von Vittorio Alfieri“ (1924), 101 schreibt Fubini selbst, dass es „keine Ideen oder keine Mythen bei Alfieri gibt, die nicht auf die Schriften der Aufklärung zurückgeführt werden könnten“. 102 Es lohnt sich, diesen Hinweis und seine Implikationen 98 99 100 101
Fubini: Vittorio Alfieri. Il pensiero, la tragedia, S. 11 (alle Übers. P.P.). Ebd. Croce: Alfieri, S. 8f. (Übers. P.P.). Vgl. Umberto Calosso: L’anarchia di Vittorio Alfieri. Discorso critico sulla tragedia alfieriana. Bari 1924. 102 Fubini: Ritratto dell’Alfieri, S. 32 (Übers. P.P.).
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ernst zu nehmen, und sich dabei klarzumachen, dass dies in besonderem Maße bei der Auseinandersetzung mit Alfieris Figur des Tyrannen gelten muss. Nicht im 19., sondern im 18. Jahrhundert sind die philosophischen und kulturellen Wurzeln von Alfieris Werk zu finden; und im Jahrhundert der Aufklärung ist auch nach dem geistigen Boden zu suchen, der Alfieris ‚Pessimismus‘ genährt hat. 103 Denn jedes Mal, da man historisch mit einem klaren politischen Feindbild konfrontiert wurde – seien dies die ausländischen Mächte im italienischen Risorgimento oder das faschistische Regime im 20. Jahrhundert – hat man bei Alfieri die strikte Entgegensetzung von (negativem) Tyrannen und (positivem) liberʼuomo als unbeirrbarem ‚Freiheitskämpfer‘ hervorgehoben und dabei die politisch betonte Deutung seines Werks und seines Freiheitsbegriffs bevorzugt. Die offensichtliche Faszination – ja die regelrechte Sympathie für den Tyrannen, die zwar weniger im Traktat Della t irannide, dafür umso deutlicher in der Abhandlung Del p rincipe e d elle lettere sowie in Alfieris Theater zu verspüren ist, musste aber in all diesen Fällen nicht von ungefähr in den Hintergrund gedrängt werden. Doch jenseits der unmittelbar politischen Deutung stellen Alfieris ‚Freiheitsbegriff‘ und sein Bannerträger, der liberʼuomo, im Traktat Della tirannide vor allem eine Chiffre dar, die für den Freiheitsdrang jenes Menschen steht, dem jegliche Grenze eine existenzielle Zwangsjacke bedeutet. Das Bewusstsein für jene Grenze ist ein geistiges Produkt des 18. Jahrhunderts, das wir bereits beim frühen Schiller am Werk gesehen haben. Sein Ursprung ist in der restlosen und wertfreien „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ 104 zu verorten, die den Menschen einerseits zum unbestrittenen Herrn über die eigene Existenz macht, andererseits seine konstitutionelle Begrenztheit, seine unüberwindbare Endlichkeit und unabwendbare Vergänglichkeit unmissverständlich und hoffnungslos entlarvt – Juliusʼ Fazit über den Menschen in Schillers Philosophischen B riefen kommt hier wieder in Erinnerung: „Dieser Gott ist in eine Welt von Würmern verwiesen“. 105 Vor diesem Hintergrund können Alfieris tiranno und liberʼuomo interpretatorisch aus ihrem unmittelbaren Zusammenhang im Traktat gelöst und nach ihrem symbolischen Wert befragt werden. Hinter dem psychologischen Interesse, das Alfieri im Traktat Della tirannide auch für den Tyrannen zeigt, steckt schließlich das Bewusstsein, dass tiranno und liberʼuomo nicht so weit von einander entfernt 103
Vor dem philosophischen und kulturellen Hintergrund des 18. Jahrhunderts ist daher auch der Einfluss zu analysieren, den Montaignes Essais – wie in der neueren Forschung behauptet wurde – auf Alfieris „anthropologischen Pessimismus“ ausgeübt haben sollen. Vgl. dazu Marco Cerrutis Überblick zu den Neuerscheinungen über das Thema des „Alfieri politico“, in: Ders.: Le rose di Aglaia. Classicismo e dinamica storica fra Settecento e Ottocento. Alessandria 2010, S. 169–178, hier S. 172. Zu Alfieris Rezeption des „sehr vertrauten“ Montaigne (wie es in der Vita heißt) vgl. neuerdings Lionello Sozzi: Alfieri e Montaigne. In: Carla Forno u. Chiara Cedrati (Hg.): Alfieri fra Italia ed Europa. Letteratura–Teatro–Cultura. Modena 2011, S. 7–22. 104 Kondylis: Die Aufklärung, S. 490. 105 NA 20, 112.
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sind, wie es vorab den Anschein hatte. Ganz im Gegenteil: Man übertreibt nicht, wenn man behauptet, dass nicht nur der ‚freie Mensch‘, sondern auch der ‚Tyrann‘ die Selbstprojektion eines neuen Menschentypus darstellen, der zwischen beiden Polen der modernen, kraftbasierten ‚menschlichen Bestimmung‘ schwankt – zwischen aktiver ‚Übermacht‘ und passiver ‚Ohnmacht‘, ja zwischen dem entgrenzten Streben nach ‚Größe‘ und der abgründigen Sinnlosigkeit des ‚Nichts‘. Seinem Namen zum Trotz stellt Alfieris liberʼuomo keinesfalls einen bereits von allen Fesseln befreiten Menschen dar. Alfieri nennt diesen Menschen einen freien, weil er sich in einem Kontext der existenziellen Einschränkung programmatisch vornimmt, ein Projekt der uneingeschränkten Selbstbestimmung zu verfolgen. Derjenige Mensch, der den Gegenpol von Alfieris ‚freiem Menschen‘ darstellt, weil er am wenigsten der Einschränkung des eigenen Willens durch äußere Umstände ausgesetzt ist, ist gerade der ‚Erzfeind‘ des ‚freien Menschen‘, nämlich der Tyrann. Dieser personifiziert zunächst das politische Joch, das der freie Mensch qualvoll zu tragen hat. Gleichzeitig ist er jedoch auch das Beispiel für die minimale Bezwingung des eigenen Willens und stellt somit das existenzielle Muster dar, nach dem der liberʼuomo in der Verwirklichung seines Projekts der bedingungslosen Selbstbestimmung trachten muss. Daher rühren demnach sowohl die Faszinationskraft dieser Figur als auch das psychologische Interesse, das Alfieri ihr entgegenbringt. Wie das Freiheitsideal stellt auch die Tyrannis ein Projekt des Willens dar, das Kraft verbraucht und jedenfalls ‚Furcht‘ vor den Folgen eines möglichen Scheiterns auslöst. Aus einem politischen Blickwinkel heraus betrachtet, könnte man meinen, dass sich der „freie Mensch“ in Alfieris Tirannide mit der Vertreibung des Tyrannen, der Herstellung des Primats des Gesetzes und der Gründung einer republikanischen Staatsform begnügen würde. Aus einer philosophischweltanschaulichen Perspektive heraus erscheint dagegen das Trachten nach Freiheit des liberʼuomo als unstillbar: Vor dem Hintergrund eines – soweit von Kraft unterstützten – unendlichen Willens muss er schließlich jede Einschränkung, egal welcher Natur, als einen unerträglichen Gewaltakt gegen das eigene Selbst, ja gegen das eigene Projekt einer ‚männlich-heroischen‘ Selbstbestimmung betrachten. Daher auch folgende prinzipielle Fragen: Wird der liberʼuomo im Hinblick auf seinen unaufhaltsamen Willen zur ‚Freiheit‘, der sich ja prinzipiell als ‚Wille zur Macht‘ entpuppt, früher oder später nicht gegen jedes geltende ‚Gesetz‘ opponieren? Wird er am Ende nicht selbst die existenziellen Grenzen des Todes als intolerable Restriktion des eigenen Willens betrachten – einer Restriktion, der man noch den selbstgewählten Suizid als letzten Willensakt wird entgegensetzen müssen? Wenn es durchaus plausibel ist zu behaupten, dass die Tyrannis bei Alfieri einen „metaphysischen Grund“ besitzt und „in der begrenzten Natur des Menschen“ fußt, 106 so sind die erwähnten Fragen vor dem beschriebenen Hintergrund positiv zu beantworten. Und auch die Frage nach der Qualität von Alfieris ‚Pessimismus‘ 106
Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 10 (Übers. P.P.).
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kann in diesem Rahmen geklärt werden. Denn der Gedanke der „begrenzten Natur“ stellt im geistigen Kontext des Jahrhunderts der Aufklärung nicht die Grundlage für eine pessimistische Einstellung gegenüber der tatsächlichen Erreichbarkeit der Glückseligkeit für den Menschen dar – eine Auffassung, die auf die spätere Epoche der Romantik vorausweisen soll. Der Gedanke der konstitutiv begrenzten Natur des Menschen bringt Alfieri vielmehr mit der Problematik des Nihilismus in Berührung, welcher der Dichter nur den zunächst moralisch-indifferenten, kraftgestützten Freiheitsdrang des eigenen Willens entgegenzusetzen weiß. Und so wird das Koordinatensystem von Nihilismus und heroischem Streben nach ‚erhabener Größe‘ deutlich, in dem Alfieris Figuren des tiranno und des liberʼuomo zu verorten sind. Nur innerhalb dieses Koordinatensystems ist letztlich auch eine bemerkenswerte Passage aus Benedetto Croces bereits erwähntem Aufsatz aus Poesia e non poesia zu verstehen, in welcher der Autor im Zusammenhang seiner allgemeinen Beschäftigung mit Alfieris Werk auf die Figur des „Übermenschen“ zu sprechen kommt: Am Ende bewundert Alfieri seine Tyrannen, er sympathisiert mit ihnen. […] Auch bestaunt und bewundert er nicht nur die Tyrannen hohen Gemüts, wie Cäsar, den er dennoch unerbittlich mit dem Beil schlägt; sondern auch die tückischsten, die grausamsten, die düstersten. [...] […] denn ein Dichter des Sturm u nd Drang [wie Alfieri] konnte nicht umhin, die Figur des Übermenschen (ein Wort und ein Begriff, die eben zu der Zeit entstanden) an die Spitze seines Gemüts zu stellen. Eher seine beherrschenden Tyrannen als seine rechtschaffenen (dabei stark doktrinär und oft mittelmäßigen) Verfechter der Freiheit sollten ihm als Übermenschen erscheinen – und ihn gerade als solche anziehen. 107
Die „Sympathie“ für den Tyrannen, die auch Croce bei Alfieri feststellt und auf die wir zurückkommen werden, beruht auf der Erkenntnis einer grundsätzlichen Affinität des Dichters sowohl mit seinen Tyrannen als auch mit seinen Freiheitskämpfern – einer Affinität, die der Leser von Alfieris Tirannide zunächst im Hinblick auf den hier geäußerten Hass gegen den absolutistischen Herrscher als inkonsequent einstufen muss. Doch vor dem auf den vorigen Seiten beschriebenen Hintergrund lassen sich nicht nur bestimmte oberflächliche Inkongruenzen in Alfieris Abhandlung Della t irannide klären. Auch die Wesensverwandtschaft des Grafen Alfieri selbst mit seinen ‚Tyrannen‘ – eine Affinität, die bereits Goethe in einem Brief vom 3. Dezember 1812 an Zelter unterstrichen hatte: „Er haßte die Tyrannen, weil er sich selbst eine Tyrannen-Ader fühlte“ 108 –, findet hier den geistigen Rahmen, in dem sie fruchtbar interpretiert werden kann. Erst vor dem Hintergrund des Nihilismus und mit Bezug auf das voluntaristische Projekt einer Selbstbestimmung des modernen Menschen lässt sich der grundlegende und implikationsreiche Konflikt zwischen Tyrannen und freiem Menschen in Alfieris Abhandlung Della t irannnide plausibel deuten. Ein weiterer Schritt 107 108
Croce: Alfieri, S. 12 (Übers. P.P.). Goethe: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1799 bis 1832 (MA, Bd. XX.I, S. 296).
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erweist sich hier allerdings als notwendig. Denn es reicht nicht, den ‚Tyrannen‘ im Grafen Vittorio Alfieri auszumachen, wie es bereits Goethe seinerzeit tat. Man muss auch den Schriftsteller im liberʼuomo erkennen – besser gesagt: Man muss die Rolle herausarbeiten, welche die Sphäre der Ästhetik im oben beschriebenen Koordinatensystem von Streben nach erhabener Größe und Nihilismus bei Alfieri spielt. Das soll nun im nächsten Kapitel über Alfieris Abhandlung Del principe e delle lettere versucht werden.
2. Del principe e delle lettere 2.1. Alfieris Kampfansage an das Mäzenatentum und ihre Brüche Mit einem signifikanten Beispiel aus Deutschland sei hier ex positivo angefangen. Auf Vermittlung seiner Freundin Charlotte von Kalb darf Friedrich Schiller am 26. Dezember 1784 vor dem versammelten Hof in Darmstadt aus dem entstehenden Manuskript des Don K arlos lesen. Dank einer glücklichen Fügung weilt der Weimarer Herzog Carl August seit Anfang Dezember 1784 als Gast bei der landgräflichen Familie in Darmstadt und wohnt Schillers Lesung bei. Allgemein findet der Auftritt des Dichters gute Resonanz, und in einer am Tag nach der Lesung stattfindenden Audienz ernennt Carl August den Autor des Karlos als Zeichen seiner Wertschätzung zum „Weimarischen Rat“. Wenige Monate später, im März 1785, veröffentlicht Schiller den ersten Akt seines Don Karlos in der neu gegründeten Rheinischen Th alia und ergreift dabei die Gelegenheit, seine Dankbarkeit gegenüber dem „neuen Verehrer in Weimar“ 1 in einer überaus leidenschaftlichen Widmung kundzutun: Durchlauchtigster Herzog, Gnädigster Herr, unvergeßlich bleibt mir der Abend, wo Eure Herzogliche Durchlaucht Sich gnädigst herabließen, dem unvollkommenen Versuch meiner dramatischen Muse, diesem ersten Akt des Dom Karlos, einige unschäzbare Augenblicke zu schenken, Theilnehmer der Gefühle zu werden, in die ich mich wagte, Richter eines Gemähldes zu sein, das ich von Ihresgleichen zu unterwerfen mir erlaubte. Damals, gnädigster Herr, stand es noch allzu tief unter der Vollkommenheit, die es haben sollte, vor einem fürstlichen Kenner aufgestellt zu werden – ein Wink Ihres gnädigsten Beifalls; einige Blicke Ihres Geistes, Ihrer Empfindung, die ich verstanden zu haben mir schmeichelte, haben mich angefeuert es der Vollendung näher zu bringen. Sollten Sie, Durchlauchtigster Herzog, den Beifall, den Sie ihm damals schenkten, auch jezt nicht zurücknehmen, so habe ich Muth genug, für die Ewigkeit zu arbeiten. Wie theuer ist mir zugleich der jezige Augenblick, wo ich es laut und öffentlich sagen darf, daß Karl August der edelste von Deutschlands Fürsten, und der gefühlvolle Freund der Musen, jetzt auch der meinige seyn will, daß Er mir erlaubt hat, Ihm anzugehören, daß ich Denjenigen, den ich schon lange als den edelsten Menschen schäzte, als meinen Fürsten jetzt auch lieben darf. Ich ersterbe mit unbegrenzter Verehrung Eurer Hochfürstl. Durchl. Mannheim, den 14ten des Lenzmonats 1785.
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unterthänigst gehorsamster Friderich Schiller. 2
Vgl. Peter-André Alts Kommentar in der Ausgabe von Schillers sämtlichen Werken in 5 Bänden, auf der Grundlage der Textedition v. Herbert G. Göpfert, hg. v. Peter-Andre Alt, Albert Meier u. Wolfgang Riedel. München 2004. Bd. II, S. 1095. NA 41/IIA, 259f.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-012
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Der biographische Hintergrund, vor dem Schiller seine enthusiastische Widmung an den Weimarer Herzog richtet, ist bekannt und braucht in unserem Rahmen nicht erneut dargelegt zu werden. 3 Hier soll Schillers Widmung an den Herzog Carl August – nur eine unter den unzähligen Widmungen eines Schriftstellers an einen Fürsten im 18. Jahrhundert – lediglich jene diametral entgegengesetzte Position gegenüber dem Mäzenatentum noch stärker hervorheben, die Vittorio Alfieri eben in den selben Jahren in seinem Traktat Del principe e delle lettere vertritt. 4 Wenn der piemontesische Dichter bereits seine Abhandlung Della t irannide entgegen dem Brauch seiner Zeit demonstrativ der „gö t t l i c h e [ n ] Fr e i h e i t “ 5 zugeeignet hatte, widmet er nun mit gleichem Gestus die drei Bücher seiner zweiten Abhandlung Del principe e delle lettere erstens „den Fürsten, welche die Wissenschaften nicht schützen“, 6 zweitens „den wenigen Schriftstellern, welche sich nicht protegiren laßen“, 7 und drittens „den Schatten der alten freien Schriftsteller“ – in der Hoffnung, diese mögen nicht nur „unumstößliche Gründe“, sondern auch „männliche[n] Muth“ inspirieren, um das „allgemeine knechtische Absurdium“ zu widerlegen, „daß die Wissenschaften ohne fürstlichen Schutz weder bestehen noch sich vervollkommnen können“. 8 Das Mäzenatentum, ja das Verhältnis von Literatur und Macht oder besser gesagt von Schriftsteller und Machthaber steht im Mittelpunkt von Alfieris Traktat. Die Abhandlung schließt an die zeitgenössische Debatte an, welche die französi3 4
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Vgl. etwa den bereits zitierten Kommentar von Peter-André Alt in der Ausgabe von Schillers sämtlichen Werken in 5 Bänden. Bd. II, S. 1232. Alfieris zweite ‚politische‘ Abhandlung hatte eine relativ komplizierte Entstehungsgeschichte: Begonnen wurde sie 1778 kurz nach der Niederschrift der ersten Fassung des Traktats Della tirannide (1777). Erst im Jahr 1786 wurde sie nach einigen Unterbrechungen und mehrfacher Überarbeitung abgeschlossen. Es folgte die Revision für die im Schicksalsjahr 1789 geplante Ausgabe in der Buchdruckerei des mit Alfieri befreundeten Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais in Kehl. Hier wurde der Traktat 1789 schließlich gedruckt – allerdings mit Vorausdatierung auf das Jahr 1795. In unserem Rahmen wird die Originalfassung des Traktats Del p rincipe e delle lettere zitiert aus: Vittorio Alfieri: Del Principe e delle Lettere. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 3: Scritti politici e morali. Bd. 1. Hg. v. Pietro Cazzani. Asti 1951, S. 111– 254. Soweit nicht anders angegeben, wird die deutsche Übersetzung des Traktats aus folgender Ausgabe zitiert: Vittorio Alfieri: Der Fürst und die Wissenschaften. Aus dem Italienischen übersetzt von Friedrich Buchholz. In Verbindung mit der Deutschen Schillergesellschaft hg. v. Enrica Yvonne Dilk u. Helmuth Mojem. Göttingen 2011. Zur Entstehungsgeschichte von Alfieris Traktat vgl. hier auch Arnaldo Di Benedettos Nachwort „Schreiben in Zeiten der Tyrannei“, S. 167–194, hier insb. S. 167. „DIVINA LIBERTÀ“, Alfieri: Della tirannide, S. 7. Alfieri: Fürst, S. 7. „Ai principi, che non proteggono le lettere“, Alfieri: Del principe, S. 117. Alfieri: Fürst, S. 28. „Ai pochi letterati, che non si lasciano proteggere“, Alfieri: Del principe, S. 137. Alfieri: Fürst, S. 93. „Alle ombre degli antichi liberi scrittori“. „[P]oichè da voi soli, dalla energia dell’animo e dell’opere vostre, dalla forza primitiva dei lumi con che rischiaraste i contemporanei vostri ed i posteri, io spero trarre argomenti invincibili, che mi vagliano a combattere e distruggere questo universale servile assurdo: «Che le lettere, non possono, nè perfezionarsi, nè sussistere, senza protezion principesca»“, Alfieri: Del principe, S. 197.
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schen philosophes Mitte des 18. Jahrhunderts angeregt und zu der etwa Charles Pinot Duclos mit seinen Considérations su r l es mœurs d e ce si ècle (1751) sowie Jean le Ronde d’Alembert mit seinem Essai sur la société des gens de lettres et des grands, sur la réputation, sur les mécènes et sur les récompenses littéraires (1753) entschieden beigetragen hatten. 9 Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass Alfieris Schrift mehrere polemische Themen und Argumente wieder aufgreift, die bereits d’Alembert in seinem Essay aufgeführt hatte 10 – etwa das Warnen vor den Gefahren des Mäzenatentums, 11 das Werben für den resoluten Verzicht des Schriftstellers auf „Belohnungen“, 12 das Plädieren für „Freyheit, Wahrheit und Armuth“ 13 des homme d e l ettres und die Theorie des ‚Naturtriebes‘, der allein den „großen Mann“ 14 schaffen würde. 15 Doch während sich die philosophes in der Frage nach dem heiklen Verhältnis zwischen „Gelehrten“ und „Großen“ allgemein als versöhnend gezeigt hatten – beispielsweise war d’Alembert schließlich bereit, den Umgang zwischen Schriftsteller und Machthaber gutzuheißen, wenn das Verhältnis zwischen beiden Akteuren vor dem Hintergrund einer tatsächlichen „Gleichheit“ stattfindet 16 –, so teilt Alfieri dagegen den Kosmos seiner Abhandlung radikal in zwei entgegengesetzte Sphären auf: hier der ‚Schriftsteller‘, der „größte Mensch“ überhaupt; dort der ‚Fürst‘, der „niedrigste“. 17 Dazwischen darf nichts sein, da jeder Kontakt oder jeder Kompromiss zwischen beiden Welten letztlich eine Verunglimpfung des Schriftstellers bedeuten würde. Indes wird im Folgenden auch klar zu sehen sein, dass die Sphären der Macht und der Literatur in Alfieris Traktat nicht so undurchlässig sind, wie es nach einer ersten Lektüre der Abhandlung erscheinen könnte – dass sich nämlich die Laufbahnen von ‚Fürst‘ und ‚Schriftsteller‘ in Alfieris Kosmos öfter kreuzen, als der Dichter selbst auf Anhieb bereit ist zuzugeben. Doch zunächst sei vor dem Hintergrund der oberflächlichen, strikten Entgegensetzung von Fürst und Schriftsteller in Alfieris Traktat auf die zentralen Thesen der Abhandlung eingegangen. 9
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Es ist anzunehmen, dass gerade d’Alemberts Essai auch die wichtigste Inspirationsquelle für Alfieris Traktat dargestellt hat. Vgl. Di Benedetto: Dal tramonto dei lumi al Romanticismo, S. 91 sowie Randos Kapitel: „Poetica e politica nel trattato Del p rincipe e delle lettere“. In: Ders.: Alfieri europeo, S. 165–174, hier S. 168f. Vgl. Franz Brunetti: Introduzione. In: Jean-Baptiste d’Alembert: Saggio sui rapporti tra intellettuali e potenti. Hg. v. Franz Brunetti. Torino 1977, S. VII–LVII, hier S. XLVIIIf. „Eine der vornehmsten Unbequemlichkeiten bey dem Umgange der gelehrten mit den Großen, und dennoch eins der vornehmsten Mittel, wodurch sie Achtung und Ansehen zu bekommen hoffen, die rasende Sucht des Beschützens, die unter uns die sogenannten Mäzenen erzeugt“, so Jean le Ronde d’Alembert: Versuch über den Umgang der Gelehrten und Großen; über den Ruhm, die Mäcenen, und die Belohnungen der Wissenschaften. Leipzig 1775, S. 67. Ebd., S. 81. Ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 82. Vgl. Rando: Alfieri europeo, S. 169. Vgl. d’Alembert: Versuch über den Umgang, S. 52–60. Alfieri: Fürst, S. 44. „[C]ome e fin dove il più sommo uomo possa assoggettare se stesso al più infimo“, Alfieri: Del principe, S. 152.
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Wer ist Alfieris „Fürst“ genau? Bereits in Della tirannide hatte der Dichter darauf hingewiesen, dass die „Gegenstände“, die von den Namen definiert werden, „zu jeder Zeit und zu jedem Ort verschiedene Gestaltungen annehmen“, 18 wobei er selbst eine für seine Zeit geltende Definition der „Tyrannei“ aufgestellt hatte. 19 Am Anfang seiner Abhandlung Del p rincipe e delle l ettere bietet Alfieri nun in gleicher Weise eine zeitgemäße Definition der zwei Begriffe, die den „Dreh- und Angelpunkt“ seines Traktats 20 darstellen. Das Wort „principe“ bezeichne demnach denjenigen Menschen, „der das kann, was er will, und das will, was ihm beliebt; und der von seinem Verfahren keinem Rechenschaft ablegt, weil keiner vorhanden ist, der ihn von seinem Wollen abzubringen, oder sich seinem Können und Wollen zu widersetzen vermag“. 21 Ausgehend von dieser Definition des Machthabers – des ‚Antagonisten‘, wenn man so will, gegen den sich sein Traktat richtet –, legt Alfieri ex negativo die Bedeutung der lettere (‚Wissenschaften‘) 22 fest. So schreibt er: „Aber was sind nun die wahren Wissenschaften? Es ist sehr schwer, sie gut zu definieren; aber gewiß sind sie etwas, das der Denkungsart, dem Geist, der Fähigkeit, den Beschäftigungen und Wünschen des Fürsten schnurstracks entgegen läuft“. 23 Diametral entgegengesetzt stellt Alfieri dementsprechend auch die Zwecke und die Interessen dar, die der „Fürst“ und der „wahre Schriftsteller“ jeweils verfolgen: Der Fürst will und muß wollen, daß seine Unterthanen verblendet, unwissend, niederträchtig, betrogen und unterdrückt seyen; denn wären sie es nicht, so würde er aufhören zu existiren.
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Alfieri: Della tirannide, S. 9. Vgl. ebd., S. 11f. Gleich am Anfang des zweiten Kapitels des Traktats liest man: „Vor allen Dingen scheint mir zum vollkommenen Verständniß des Folgenden nothwendig, die beiden Wörter, um welche sich diese Abhandlung, wie um eine Axe, dreht, genau zu definiren“, Alfieri: Fürst, S. 8. „Ma, prima d’ogni altra cosa, per intendersi, e spiegarsi, mi par necessario il definire esattamente le due parole, che saranno per così dire il continuo perno di questo trattato“, Alfieri: Del principe, S. 119. Alfieri: Fürst, S. 8 (Hervorhebung im Original). „Colui, che può ciò che vuole, e vuole ciò che più gli piace; nè del suo operare rende ragione a persona; nè v’è chi dal suo volere il diparta, nè chi al suo potere e volere vaglia ad opporsi“, Alfieri: Del principe, S. 119. Zur Verwendung der Termini lettere, letteratura und letterato in Alfieris Abhandlung vgl. Di Benedettos bereits zitiertes Nachwort „Schreiben in Zeiten der Tyrannei“ zur deutschen Übersetzung von Friedrich Buchholz. In: Alfieri: Der Fürst und die Wissenschaften, hier insbesondere S. 178–184. (Die italienische Originalfassung des Nachwortes wurde mit dem Titel „Lettere, scienze e arti in tempi di tirannide“ veröffentlicht in: Simone Messina u. Paola Trivero (Hg.): Metamorfosi dei Lumi. 6: Le belle lettere e le scienze. Torino 2012, S. 209– 228). Wie Di Benedetto ausführt, entsprechen die Begriffe lettere, letteratura und letterato in Del principe e delle lettere „dem allgemeinen Begriffsfeld von ‚wissenschaftlicher Bildung‘“, S. 178. Friedrich Buchholz übersetzt demnach den Begriff „lettere“ schon im Titel der Abhandlung mit „Wissenschaften“. Alfieri: Fürst, S. 9. „Ma, che sono elle le vere lettere? Difficilissimo è il ben definirle: ma per certo elle sono una cosa contraria affatto alla indole, ingegno, capacità, occupazioni, e desiderj del principe“, Alfieri: Del principe, S. 120.
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Der Schriftsteller will und muß wollen, daß seine Schriften der möglich-größten Anzal von Menschen Licht, Wahrheit und Vergnügen gewähren. 24
Angesichts der strukturellen Verschiedenheit und konstitutiven Unvereinbarkeit von Machthaber und homme des l ettres 25 könnte man fragen, wieso es überhaupt dazu kommen könne, dass principe und lettere in Kontakt miteinander treten. Alfieris Antwort ist dabei eindeutig: „Der Wunsch nach unverdientem Ruhm in den Fürsten und der Wunsch nach falschen Ehrenbezeugungen und verbotenen Glücksgütern in den Schriftstellern“ 26 führen allzu oft beide Akteure verhängnisvoll zu einander. Das ist allerdings noch nicht alles: Auf der Seite des Fürsten ist für Alfieri auch kaltes politisches Kalkül im Spiel. Denn eigentlich gelte es für den Machthaber, einen gefährlichen Widersacher seiner uneingeschränkten Gewalt möglichst unschädlich zu machen. Bei der Lektüre von Alfieris Traktat muss somit bald klar werden, dass der Autor vor dem Hintergrund des absolutistischen Herrschaftssystems seiner Zeit den „wahren Wissenschaften“ 27 eine grundsätzliche subversive Kraft zuspricht – eine Kraft, die der Fürst daher aus leicht verständlichen Gründen um jeden Preis wird neutralisieren wollen. Diese Kraft ist für Alfieri den ‚erhabenen Schriftstellern‘ angeboren: „Die größten Schriftsteller“ sind – wie er schreibt – „[…] niemals Pflanzen auf dem Boden einer monarchischen Verfaßung gewesen. Freiheit gibt ihnen Entstehung, Unabhängigkeit, Erziehung, Furchtlosigkeit, Größe“. 28 Nur in der ‚Freiheit‘ könne somit der große Schriftsteller gedeihen. Doch Freiheit reimt sich mit Wahrheit: Und ausschließlich dieser sei der echte letterato verpflichtet, was ihn notwendigerweise auf direkten Kollisionskurs mit dem Herrscher bringen müsse. Vor dem beschriebenen Hintergrund sollte der ‚Fürst‘, wie Alfieri weiter argumentiert, im Grunde genommen die Literatur gänz24
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Alfieri: Fürst, S. 11. „Vuole, e dee volere il principe, che siano ciechi, ignoranti, avviliti, ingannati ed oppressi i suoi sudditi; perchè, se altro essi fossero, immediatamente cesserebbe egli di esistere. Vuole il letterato, o dee volere, che i suoi scritti arrechino al più degli uomini luce, verità, e diletto“, Alfieri: Del principe, S. 122. Am Ende des zweiten Buches fasst Alfieri seine Hauptthese folgendermaßen zusammen: „Alle Gründe […], welche ich bisher beigebracht habe, scheinen mir sich in diesem einzigen zu vereinigen: daß Fürst und Gelehrter, Regierungskunst und Schriftstellerey und der Zweck der einen und der andern so himmelweit voneinander verschieden und so schnur stracks entgegen gesetzt sind, daß sich Beschützer und Beschützter durchaus nicht nähern können, ohne daß der physisch Schwächere darunter leide und dabei nachgebe“, Alfieri: Fürst, S. 92. Interessanterweise übersetzt Friedrich Buchholz an dieser Stelle Alfieris Bezeichnung „il più debole“ (der ‚Schwächere‘ von beiden Kontrahenten) sinngemäß mit den Worten „der physisch Schwächere“. Es wird noch zu sehen sein, welche Rolle gerade die ‚physische Kraft‘ nicht nur in Alfieris Traktat, sondern auch allgemein im ganzen Werk des italienischen Dichters spielt. Alfieri: Fürst, S. 12. „[D]esiderio di gloria non meritata, nei principi; desiderio di falsi onori e di ricchezze non lecite, nei letterati“, Alfieri: Del principe, S. 122. Alfieri: Fürst, S. 154. Im Original ist an dieser Stelle von „sublimi lettere“ die Rede, vgl. Alfieri: Del principe, S. 253. Alfieri: Fürst, S. 10. „Quindi è, che i sommi letterati […] non sono stati mai pianta di principato. La libertà li fa nascere, l’indipendenza gli educa, il non temer li fa grandi“, Alfieri: Del principe, S. 121.
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lich verhindern oder gar vertilgen, wenn das ihm nur möglich wäre. Da sich der Machthaber jedoch darüber klar ist, dass sich ein solches Vorhaben konkret nicht realisieren lässt und dass ihm sowohl die Vernachlässigung als auch die offene Verfolgung der Literatur viel Schaden bringen würden, entscheide er sich pragmatisch dafür, den Schriftsteller zu fördern – und ihm genau dadurch seinen Stachel zu nehmen. Hierin würde schließlich die Machtstrategie des Mäzens bestehen. In seiner Abhandlung wird Alfieri nicht müde, auf den vielfachen Vorteil hinzuweisen, den der Fürst vom Schutz der Literatur zieht. Dabei profitiere der Herrscher am meisten von der Förderung der großen Schriftsteller: Wenn er schon von den mittelmäßigen letterati jene unverdiente „gloriola“ 29 bezieht, die seiner Eitelkeit und Überheblichkeit schmeichelt, so ermöglicht ihm der Schutz der großen Schriftsteller, just jene bei ihnen angeborene „kostbare freie Galle“ zu domestizieren und unschädlich zu machen, die sich ausschließlich nach der Wahrheit richtet und „allein die Mutter eines jeden schönen Werkes ist“. 30 Im politischen Herrschaftssystem der Tyrannis, sei es in der Antike, sei es im absolutistischen Fürstenstaat seiner Zeit, kommt für Alfieri durch das Mäzenatentum ein fatales Abhängigkeitsverhältnis zwischen principe und letterato zu Stande – ein Verhältnis, das auf einem verwerflichen do ut des basiert: Was kann der Fürst dem Schriftsteller geben? Ehrenstellen, Worte, Reichthümer; lauter Dinge, die ihn nichts kosten, da er sie im Überfluß besitzt; und die durchaus keinen Geist erfordern, wenn es darauf ankommt, sie andern zu ertheilen. […] Und was giebt der Schriftsteller dem Fürsten dafür? Lob, wenn er ein Dichter; Lügen, wenn er ein Geschichtsschreiber; verkehrte Begriffe, wenn er ein Philosoph; Ränke, wenn er ein Politiker ist; kurz, welches Fach des menschlichen Wissens er auch bearbeiten mag, […] der Gelehrte kann dem Fürsten nicht anders gefallen und seine Schuld nicht anders abtragen, als wenn er die Wahrheit und folglich den Vortheil Aller, entweder ganz oder zum Theil, dem Glanz und der Übermacht eines Einzigen aufopfert. 31
Alfieris Diagnose des Mäzenatentums könnte nicht klarer ausgedrückt sein: Der Fürst und Gönner ‚hemmt‘, indem er ‚beschützt‘; 32 er ‚entehrt‘, indem er zu Dank verpflichtet; 33 er korrumpiert und ‚würdigt herab‘, indem er beschenkt. 34 Spätestens an dieser Stelle lohnt es sich allerdings darauf hinzuweisen, dass Alfieris 29 30 31
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Alfieri: Fürst, S. 13. „Glorietta“ Alfieri: Del principe, S. 123. Alfieri: Fürst, S. 13. „[…] quella preziosa libera bile, che sola è madre d’ogni bell’opera“, Alfieri: Del principe, S. 123. Alfieri: Fürst, S. 44f. „Che può egli dare il principe allo scrittore? onori, parole, ricchezze; cose tutte, che da lui possedute in copia, nulla gli costano, e nessuno ingegno richiedono per darle altrui […] Che dà egli in contraccambio al principe lo scrittore? s’egli è poeta, lodi; se istorico, menzogne; se filosofo, falsità; se politico, inganni: e così, di qualunque altra provincia egli sia, […] il letterato a ogni modo non può mai piacere, nè guadagnarsi, nè scontare il suo debito col principe, se non sacrificando o interamente o in parte la verità, e quindi l’utile di tutti, al lustro e al soverchiante potere di un solo“, Alfieri: Del principe, S. 152. Alfieri: Del principe, S. 211. Ebd., S. 135. Ebd., S. 125.
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Kritik nur den negativen Einfluss des Mäzenatentums auf die Schreibkunst direkt in den Fokus nimmt – die ‚Wissenschaft‘, die für ihn am allerhöchsten ist. 35 Denn von dem Begriff lettere schließt Alfieri die Naturwissenschaften explizit aus 36 und ist dabei gar gerne bereit, für diesen Teil der ‚Wissenschaften‘ einen Vorteil beim „fürstlichen Schutz“ anzunehmen. 37 Das gleiche gelte im Übrigen für alle Künste außer der Schreibkunst. In seiner Abhandlung unterscheidet Alfieri strikt zwischen den letterati „mit [T]inte und Feder“, 38 ja mit „Papier, [T]inte und Genie“ 39 und den anderen artisti (Malern, Bildhauern, Architekten und Musikern). Dabei besagt er, dass die Künste dieser Letzteren gar „Aufmunterung und Vervollkommnung“ vom fürstlichen Schutz bekämen, ohne dass ihre Schöpfer dafür ihren „Ruf“ einbüßen müssten. 40 Einmal mehr wird klar, dass der fürstliche Schutz des Schriftstellers für Alfieri den eigentlichen Stein des Anstoßes darstellt und dass die Abhandlung Del p rincipe e delle l ettere auf keine allgemeine Darstellung des Konfliktes zwischen den Künsten oder Wissenschaften und der politischen Macht hinausläuft, sondern gerade eine gar überzeitlich-metaphysische Konfrontation zwischen dem Schriftsteller und dem Fürsten als „große Männer“ im Zeichen der Macht inszeniert. 41 Um das verhängnisvolle Verhältnis zwischen principe und letterato im Fürstenstaat seiner Zeit zu brechen – ein Verhältnis, dessen Vorteile für den Fürsten Alfieri im ersten Buch seines Traktats beschreibt und dessen Nachteile für den Schriftsteller er im zweiten Buch unterstreicht – setzt der piemontesische Dichter gerade auf die wenigen Schriftsteller, die sich im Absolutismus nicht schützen lassen, ja auf diejenigen, die sich schon finanziell leisten können, die domestizierende Gunst des Fürsten zurückzuweisen. Kein Wunder: Dabei denkt Alfieri hauptsächlich an Angehörige des Adels oder – wie er hinzufügt – an Menschen, die, „wenn gleich von niedriger Geburt, sich in ihren Umständen befinde[n] und so denk[en], wie sie denken sollten“. 42 Das seien schließlich Leute, die „mehr Zeit und Mittel haben zu lesen, zu sprechen, zu reisen, zu sehen und folglich auch eine gewiße Geisteskraft zu erwerben“. 43 Unter den „Unabhängigen und Begüterten“, 44 35
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Vgl. das fünfte Kapitel des zweiten Buches mit dem Titel „Von dem wesentlichen Unterschied zwischen Gelehrten und Künstlern in Hinsicht auf fürstlichen Schutz“, Alfieri: Fürst, S. 47–54; „Differenza totale che passa, quanto alla protezion principesca, fra i letterati e gli artisti“, Alfieri: Del principe, S. 154–160. Vgl. Alfieri: Del principe, S. 207f. Ebd., S. 155. Ebd. Ebd., S. 158. Ebd., S. 159. Auf diesen zentralen Aspekt kommen wir im Folgenden ausführlich zurück. Alfieri: Fürst, S. 131. „[…] benchè umilmente nato si trova pure nelle stesse loro circostanze, e pensa come il dovrebbero i nobili“, Alfieri: Del principe, S. 232. Alfieri: Fürst, S. 132. „[…] perchè hanno l’ozio ed i mezzi per leggere, parlare, viaggiare, vedere, e quindi anche un pocolino pensare“, Alfieri: Del principe, S. 233. Alfieri: Fürst, S. 131. „[I]ndipendenti ed agiati“, Alfieri: Del principe, S. 232.
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die im Fürstentum sind und nichts mit dem jeweiligen Hof zu tun haben wollen, stellt sich Alfieri eine Minderheit von wahren, leidenschaftlichen Schriftstellern vor, die bereit sein sollten, ihre Gegenwart für das „künftige[-] Vaterland[-]“ zu opfern. 45 Diese Schriftsteller sollten demnach dahin auswandern, wo bereits ‚Freiheit‘ herrscht, und von dort aus kraft ihres Intellekts und ihrer Feder dem fürstlichen Herrschaftssystem regelrecht den Krieg erklären. In Alfieris Utopie würden diese „wenigen großen und unbefleckten Seelen“ von ihrem „freiwilligen und edlen Exil aus“ „Wahrheiten herdonnern“, 46 während eine „kleine Republik von denkenden und lesenden, aber nicht-schreibenden Aufgeklärten“ im Fürstentum weiterleben sollte – bis die entscheidende Wende kommen würde: Diese kleine Republik in der Monarchie, ist eben so bescheiden, als vorsichtig, und liest, folgert und denkt nur für sich und abgesondert von dem profanen Haufen. So oft sie in ihrem Mittel einen wirklich großen Mann entdeckt, schickt sie ihn ins Ausland, um von dort aus die reine und göttliche Wahrheit in überzeugenden, energischen und gefälligen Schriften zu lehren. 47
Der von Alfieri in Aussicht gestellte Ertrag eines solchen konspirativen Unternehmens wäre nichts weniger als der Sieg über den Fürstenstaat und die entsprechende Verklärung der einstigen „Sclaven in Bürger“: 48 „Eine solche Gesellschaft würde sich nach und nach mit unwiderstehlicher Macht fortpflanzen und die wahre gesetzliche und siegreiche Vernichterin aller willkürlichen Macht werden“. 49 Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten muss fraglich bleiben, ob Alfieri wirklich glaubte, seine utopische repubblichetta dei nobili letterati 50 könnte je zum erwünschten politischen Erfolg führen. Wenn man in der Auseinandersetzung mit Alfieris Abhandlung Del p rincipe e d elle l ettere den Akzent auf den politischen Charakter derselben zu setzen versucht, sollte der mangelnde politische Pragmatismus der darin vorgeschlagenen Maßnahmen, wie im Übrigen im Traktat Delle tirannide, jedenfalls etwas ernüchternd wirken. 51
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Alfieri: Fürst, S. 133. „Futura lor patria“, Alfieri: Del principe, S. 233. An dieser Stelle liest man in Alfieris Original „tuonare verità“, Del principe, S. 234. Friedrich Buchholz übersetzt dagegen mildernd „die Wahrheit nach allen Seiten hin […] verbreiten“, Alfieri: Fürst, S. 133. Alfieri: Fürst, S. 134. „Questa repubblichetta nel principato, da principio modesta e discreta, legge, ragiona, e pensa fra sè, rimota affatto dal volgo profano: ogniqualvolta fra essa nasce e si scuopre un vero uomo grandissimo, ella lo invia fuori del chiuso a predicar da lontano senza riguardo nessuno la schietta e divina verità, per mezzo di convincenti, energici, ed eleganti scritti“, Alfieri: Del principe, S. 234. Alfieri: Fürst, S. 138. „[S]chiavi in cittadini“, Alfieri: Del principe, S. 238. Alfieri: Fürst, S. 135. „Una tal società a poco a poco propagandosi con irresistibile progresso, dev’essere a lungo andare la vera legittima e vittoriosa annullatrice d’ogni arbitraria potestà“, Alfieri: Del principe, S. 235. Alfieri: Del principe, S. 237. Giuseppe Rando nennt „Alfieris Alternative zur kulturellen Politik der Aufklärung“ eine „empörte und aristokratische Religion der Literatur“, deren Termini allerdings „durchaus abstrakt“ bleiben. Rando: Alfieri europeo, S. 169 (Übers. P.P.).
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Doch nicht nur auf Alfieris Utopie einer politisch destabilisierenden, „kleine[n] Republik der aufgeklärten Edlen“ 52 im Fürstenstaat, sondern auch auf andere, zum Teil als oberflächlich oder gar als widersprüchlich bewertete Thesen und Argumente des piemontesischen Grafen wurde in der Rezeptionsgeschichte der Abhandlung über den Fürsten und die Wissenschaften immer wieder kritisch hingewiesen. In einem kurzen Essay aus dem Jahr 1942 mit Titel „Sul trattato ‚Del principe e delle lettere‘ di Vittorio Alfieri“ – einem Essay, der auch in der neusten Forschung als der insgesamt bedeutendste Beitrag zu Alfieris Abhandlung bezeichnet wurde 53 – machte Benedetto Croce deutlich, dass Alfieris Schrift zwar als Ausdruck der Verachtung ihres Autors gegenüber dem Hofleben des 18. Jahrhunderts zu betrachten, dass sie allerdings in ihrer „theoretischen Substanz“ nicht immer stichhaltig argumentiert sei. 54 Etwa die von Alfieri undifferenziert als ‚an sich negativ‘ statuierte Bewertung des fürstlichen Schutzes hält Croce für nicht überzeugend. Denn als Übel möge man zwar den Schutz betrachten, der darauf abzielt, abhängig zu machen, oder der zu „Schmeicheleien und Lügen“ treibt; doch nicht die Protektion, die ‚edle‘ und ‚würdige‘ Ziele verfolge. 55 Ebenfalls unannehmbar ist für Croce die von Alfieri bereits im Traktat Della tirannide behauptete Gleichsetzung von Fürst und Tyrann – eine Gleichsetzung, die übersehen wolle, dass der Fürst, im Gegensatz zum Tyrannen, dank seiner „Vermittlung zwischen den sozialen Schichten“ das Gemeinwohl fördere und dies in bestimmten historischen Momenten auch besser erreiche als demokratische Regimes. 56 Als unvertretbar betrachtet Croce außerdem jene Wertunterscheidung zwischen lettere und Künsten sowie Naturwissenschaften, die Alfieri vor dem Hintergrund eines als „nichtig oder weniger eng“ angenommenen „Verhältnis[ses]“ der letzteren zur „Freiheit“ treffen zu können glaubt. 57 Einer scharfen Kritik unterzieht Croce letztlich auch Alfieris Idee jener „kleinen Republik in der Monarchie“, 58 die für den piemontesischen Autor schließlich auch die politische Wende zur ersehnten „Freiheit“ 59 in seinem Jahrhundert bringen soll. Für Croce stellt Alfieris Plan eben nichts weiter als eine „Utopie“ 60 dar, die der Graf durch eine „Ausweitung von sich selbst und des eigenen Charakters, sowie der eigenen Geschichte und Lebensweise zur gesellschaftlichen Institution“ forme – einer „ausgesprochen fragilen Instituti-
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Alfieri: Fürst, S. 137. „[R]epubblichetta dei nobili letterati“, Alfieri: Del principe, S. 237. Vgl. Di Benedetto: Lettere, scienze e arti in tempi di tirannide, S. 211. Benedetto Croce: Sul trattato „Del principe e delle lettere“ di Vittorio Alfieri. In: La critica. Rivista di Letteratura, Storia e Filosofia diretta da B. Croce 40 (1942), S. 331–337, hier S. 331. Ebd., S. 332. Vgl. ebd. Ebd., S. 334f. Alfieri: Del principe, S. 234. Ebd., S. 239. Croce: Sul trattato, S. 333 (alle Übers. P.P.).
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on“ übrigens, die der Fürst in der politischen Praxis jederzeit unterbinden und zerschlagen könne. 61 Nicht ohne Grund unterstreicht Croce in seinem Essay nur einige der fraglichsten oder gar widersprüchlichsten Thesen und Argumente in Alfieris Traktat Del principe e d elle l ettere – auf weitere kritische Punkte der Schrift werden wir im Folgenden noch hinweisen. Nicht zuletzt im Hinblick auf die theoretisch unsicheren Stellen in Alfieris Abhandlung und dabei auf die Radikalität der darin vertretenen Thesen mag man bei einem Gesamturteil der Schrift versucht sein, den Akzent auf die „konsequente Position“ des Autors „als moralische[r] Instanz“ vor dem Hintergrund seiner Epoche zu verschieben 62 und Alfieri vor allem „als unbequeme, mahnende Stimme aus ferner Zeit“ darzustellen, die „ganz und gar Unmodernes, jedoch Hochoriginelles und Unerwartetes zu künden“ wisse. 63 Indes lohnt es sich, gerade das ‚Moderne‘ an Alfieris Abhandlung, sowie allgemein an diesem Autor, nicht vorschnell preiszugeben – und dies obendrein, um sich dafür lediglich mit der ostentativen ‚moralischen Unerbittlichkeit‘ des piemontesischen Schriftstellers zufrieden zu geben. Um den modernen Grundcharakter des Traktats Del p rincipe e d elle l ettere zu ermitteln, ist es notwendig, nicht etwa bei der von Alfieri imaginierten „kleinen Republik“ der Edlen zu verbleiben als vermeintlichem positivem Inhalt der Schrift, sondern ganz andere Wege zu beschreiten – Wege, die allerdings durchaus schon in der Abhandlung vorgezeichnet sind. Im Endeffekt gilt es hier, das Hauptanliegen von Alfieris Traktat auszumachen, was angesichts der darin vorgeschlagenen, auffällig naiven Befreiungsutopie aus den Fesseln fürstlicher Macht offensichtlich nicht in den Bereich des Politischen situiert werden kann. Die Behauptung, Alfieris Traktat würde „ganz und gar Unmodernes“ verkünden, wäre womöglich vertretbar, wenn die Schrift im Kampf gegen den Absolutismus zukunftsoptimistisch auf eine Literatenrepublik von Edelleuten vertrauen würde. Dem ist allerdings nicht so. Denn zum einen ist Alfieris Zäsur zwischen Fürst und Schriftsteller in der Abhandlung lange nicht so scharf konturiert und konsequent, wie es zunächst den Anschein hat. Zum anderen ist auch eine optimistische Vision in die Zukunft, die von den lettere und den letterati getragen wäre, im Traktat gar nicht eindeutig zu ermitteln. Indem man sich auf die eminent politischen Aspekte von Alfieris ‚Kampf‘ gegen den Fürsten konzentriert, läuft man daher Gefahr, gerade die originellsten Züge des Traktats Del principe e delle lettere zu übersehen. Züge, die bei der Analyse der vielen Unstimmigkeiten und Widersprüche in Alfieris Argumentation im Gegenlicht präzis rekonstruiert werden können und die am Ende die vordergründige, schwarz-weiß gemalte Entgegenset61 62 63
Ebd. Helmuth Mojen: Buchholz’ Alfieri. Zur deutschen Übersetzung. In: Alfieri: Fürst, S. 195–205, hier 204f. Ebd., S. 205.
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zung von Herrscher und Schriftsteller verwischen. Denn „[h]immelweit von einander verschieden“, ja „schnur stracks entgegen gesetzt“ 64 sind für Alfieri der Fürst und der Schriftsteller. Und doch zeigt sich im Traktat, dass beide Kontrahenten nicht so weit auseinander sind, dass sie sich dabei an mehreren Stellen nicht die Hand reichen könnten. Der Figur, die die Rolle des Antagonisten in Del principe e delle lettere übernimmt, nähert sich Alfieri wie in Della t irannide von der psychologischen Seite her – als ob er ihre Denkweise und ihre Äußerungen wie in einem dramatischen Dialog voraussehen und festlegen möchte. Im ersten Buch des Traktats „versetz[t]“ sich Alfieri vorsätzlich „in die Denkungsweise des Fürsten“, 65 um aus dessen Blickwinkel die Pro- und Contra-Argumente zum Mäzenatentum zu erläutern. Dabei gibt Alfieri nicht nur die Gedankengänge des Fürsten in eigenen Worten wieder, 66 sondern er lässt den Herrscher auch direkt das Wort ergreifen – wie zum Beispiel in folgender Textpassage: „‚Mögen sie mich‘, wird der Fürst sagen, ‚mündlich tadeln; sie werden es mit Maaß und Bescheidenheit thun. Aber wenn ich sie nicht unterdrückte, wegjagte und kränkte; so würden sie [mich] in ihren Schriften tadeln, was noch weit ärger seyn würde‘“. 67 Alfieris rhetorische Strategie der Einfühlung in die Psychologie des Fürsten mag man vor dem Hintergrund seiner antiphrastischen Lektüre von Machiavellis Principe interpretieren: So wie bereits Machiavelli, nach Alfieris ‚obliquer‘, das heißt ‚republikanischer‘ Deutung des Florentiners, 68 den Blickwinkel des Fürsten eingenommen habe, um die Korruption und Skrupellosigkeit des Machthabers noch besser zu demaskieren, lässt nun 64 65 66
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Alfieri: Fürst, S. 92. „[…] essendo cose in tutto diverse e direttamente opposte“, Alfieri: Del principe, S. 196. Alfieri: Fürst, S. 8. „[P]ensare del principe“, Alfieri: Del principe, S. 118. Im zweiten Kapitel des ersten Buches liest man beispielsweise: „Und daraus schließt der Fürst, ohne alle Anstrengung des Kopfes, daß der erste aller Menschen allein derjenige sei, der die größere Anzahl anderer Menschen unterwirft und beherrscht“ Alfieri: Fürst, S. 9. „[Q]uindi, senza sforzo veruno d’ingegno, il principe fra sè stesso conchiude, (e ottimamente conchiude) che l’uomo veramente sommo è quel solo, che comanda e atterrisce un maggior numero d’altri uomini“, Alfieri: Del principe, S. 119f. Alfieri: Fürst, S. 15. „Ma, dirà il principe: «Mi biasimino in voce costoro; poco, e sommessamente il faranno: ma, se io non gli opprimessi, o cacciassi, o affliggessi, mi biasimerebbero in iscritto, il che sarebbe assai peggio»“, Alfieri: Del principe, S. 125. In Alfieris Del principe e delle lettere liest man beispielsweise folgende Auslassung über den florentinischen Autor des Traktats De p rincipatibus: „Und doch wird Machiavelli – von den Fürsten proscribirt, weil sie ihn nicht lesen können, ohne sich vor sich selbst zu schämen, und von den Völkern wenig gelesen, weil sie ihn nicht verstehen – von allen in der Regel für einen Lehrer der Tyrannei, der Laster und der Herabwürdigung gehalten“, Alfieri: Fürst, S. 77. „Eppure, il Machiavello, proscritto dai principi per mera vergogna di sè stessi, e dai popoli poco letto e niente meditato, volgarmente viene da tutti creduto un vile precettore di tirannia, di vizj, e di viltà“, Alfieri: Del principe, S. 182. Zu Alfieris Machiavelli-Rezeption vgl. Arnaldo Di Benedettos Aufsatz: „Il nostro gran Machiavelli“: Alfieri e Machiavelli. In: Ders.: Dal tramonto dei lumi al Romanticismo, S. 119–135 sowie Enrico Mattioda: Machiavelli nei trattati politici. In: Gino Tellini u. Roberta Turchi (Hg.): Alfieri in Toscana. Firenze 2002, S. 411–426. Alfieris Machiavelli-Rezeption thematisiert auch Valter Boggione neuerdings in seiner Monographie: Il tempo della Tirannide. Milano 2012.
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Alfieri in seinem Kampf gegen das Mäzenatentum den Fürsten selbst die Überlegungen und Gründe anführen, die aus seiner Sicht für den Schutz der Künste und Wissenschaften sprechen, um diese schließlich noch deutlicher zu verurteilen. Doch in seiner Abhandlung zeigt der piemontesische Dichter am Ende ein so ausgeprägtes Interesse für die Psychologie seines ‚Antagonisten‘, dass es deutlich weit über die im Traktat vertretene, manichäische Entgegensetzung von Fürst und Schriftsteller hinausweist. Etwa präsentiert Alfieri das durchdringende Gefühl der Furcht, mit dem wir uns in unserer Analyse des Traktats Della tirannide auseinandergesetzt haben, auch in Del principe e d elle lettere als geradezu allgegenwärtig im Fürstentum. Denn dort, wo es keine Republik gibt, zittere der Machthaber nicht weniger als die Untertanen – und gerade die gegenseitige Furcht verwandle den Fürsten und die Schriftsteller für Alfieri schließlich in „Beschützer und Schützlinge“. 69 Doch während die Beschäftigung mit der Furcht der Untertanen in Alfieris antityrannischen Abhandlung(en) als selbstverständlich erscheint, verrät die Auseinandersetzung mit der Furcht und der Einsamkeit des Fürsten das Interesse des Autors für den äußersten Grenzbereich der Macht, den der Herrscher verkörpert. Einige Sätze aus der Abhandlung – etwa: „Beschützen und mächtig s eyn, sind Synonima. Macht verursacht immer Furcht“ 70 – sind vor diesem Hintergrund zu betrachten. Und dies gilt übrigens auch für das, was folgende Auslassungen betrifft: Der Fürst steht „in der Mitte der Menschen […] wie ein Löwe unter einer Herde Schafe stehen würde“; er ist „durch keine andere Bande an die Gesellschaft gefeßelt, als die eines Herrn an seine Sclaven“ und hat „weder Superioren, noch seines Gleichen, noch Verwandte, noch Freunde“. 71 Offensichtlich steht hier der ‚Fürst‘ als reine Chiffre der Macht – ja steht die imaginierte Einsamkeit des Machtmenschen gerade im Mittelpunkt von Alfieris Definition, wobei man sich ausgehend von einer betont politischen Deutung des Traktats zumindest fragen sollte, inwieweit eine solche Definition des Fürsten Alfieris Kampf gegen das Mäzenatentum zu unterstützen vermöchte. Ähnliches ließe sich auch in Bezug auf die Textstelle sagen, in der Alfieri den Fürsten, verstanden wiederum als zeitlose Chiffre für eine uneingeschränkte Macht, gar als ‚laufenden Widerspruch‘ beschreibt: Diese [europäischen] Sitten [der neueren Zeiten], von welchen der Fürst keine Ausnahme machen kann, weil er darinn geboren und erzogen wird, bilden ihn zu einem Wesen, das durchaus mit sich selbst in Widerspruch steht. In Wahrheit, er vereinigt die größten und dauerndsten Widersprüche in sich. Er möchte wohl und möchte auch nicht; er ist grausam und menschlich;
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„[P]rotettori e protetti“, Alfieri: Del principe, S. 133. Alfieri: Fürst, S. 107. „Il proteggere è sinonimo del potere; l’assai potere cagiona sempre il timore“, Alfieri: Del principe, S. 211. Alfieri: Fürst, S. 8. „Costui, che in mezzo agli uomini sta come starebbe un leone fra un branco di pecore, non ha legami con la società, se non quelli di padrone a schiavo; non ha superiori, nè eguali, nè parenti, nè amici“, Alfieri: Del principe, S. 119.
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Despot und Privatmann und tausend andere Dinge, die bunt durcheinander gemischt, sich selbst befehden. 72
Welches pragmatische Bedürfnis hat Alfieri, eine solche Definition des Fürsten als „grausam“ und „menschlich“ zugleich zu geben? Was bringt ihm eine solche Betrachtung konkret im Kampf gegen den absolutistischen Herrscher und das Mäzenatentum? Was verrät sie vielmehr von dem eigenen Interesse des Autors für die Sphäre der ‚Macht‘? Immer wieder stößt man in Del p rincipe e d elle l ettere auf Textstellen, in denen die von Alfieri so deutlich mit schwarz-weißer Tinte gemalte Entgegensetzung von Fürst und Schriftsteller im Gegenlicht eine breite Skala von grauen Tönen aufweist. Gleich am Anfang des Traktats behauptet Alfieri beispielsweise lapidar, dass „wirklich […] nie ein Fürst ein wahrer Gelehrter gewesen [ist], oder hat es je seyn können“, 73 um dann in Bezug auf das zentrale Thema der Unabhängigkeit des Schriftstellers Folgendes zu bemerken: Fürsten würden […] vermöge ihrer vollkommenen Unabhängigkeit von irgend einem Individuum, welches mächtiger ist, als sie, vorzugsweise die guten Schriftsteller einer Nation seyn. Kein Rückblick, keine Klugheit, keine Furcht würde sie zwingen die Wahrheit zu verschweigen oder zu verunstalten. 74
Zwar entschuldigt sich Alfieri gleich im Anschluss an diese Textpassage für seine – wie er sie nennt – „schimärische Voraussetzung“, bei der es ihm „blos um ein Beispiel zu thun“ gewesen sei. 75 Und dennoch spiegelt Alfieris Vereinigung von Fürst und Schriftsteller in eine einzige Person nicht nur eine bloß momentane Lust des Autors am Paradoxon wider. An mehreren Stellen seiner Abhandlung kann Alfieri den politischen und den literarischen Menschen – sei es auch nur um den Primat des letzteren zu bekräftigen – nicht auseinanderhalten, auch wenn er stets demonstrativ auf die grundsätzliche Unvereinbarkeit der beiden schwört. Doch wenn der Fürst und der Schriftsteller für Alfieri grundsätzlich unterschiedlich sind – wenn der Schriftsteller „das Höchste in dem was Menschen erreichen können“
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Alfieri: Fürst, S. 20f. „[Q]uesti stessi costumi, dai quali non può andare esente il principe, poichè vi è nato egli pure, lo costituiscono un ente, che non si accorda mai con se stesso. Ed in fatti, egli riunisce contradizioni massime e perenni; egli vorrebbe e non vorrebbe; egli è feroce, ed umano; despota, e privato; e mille altre cose miste, e contrarie tutte fra loro“, Alfieri: Del principe, S. 130. Alfieri: Fürst, S. 10. „[E] in fatti nessun principe non fu mai vero letterato, nè lo può essere“, Alfieri: Del principe, S. 120. Alfieri: Fürst, S. 30. „[I] principi, dico, mediante la loro totale indipendenza, e mediante il nontimore di verun altro individuo più potente di loro, potrebbero senza dubbio essere gli scrittori per eccellenza: perchè nessun rispetto, prudenza, o timore gli sforzerebbe a tacere, o ad alterare la verità“, Alfieri: Del principe, S. 139. Alfieri: Fürst, S. 31. „[M]i si perdoni una tale chimerica supposizione, da me introdotta come un semplice esempio“, Alfieri: Del principe, S. 140.
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darstellt, wogegen der Fürst „das kleinste Product der Natur“ ist 76 –, warum beschäftigt sich der Autor im zweiten Buch von Del principe e d elle lettere mit der Frage, „Wer ist größer: ein großer Schriftsteller, oder ein größer Fürst“? 77 Weshalb schreibt er, dass ausgerechnet zwei Könige, Romulus und Numa Pompilius, das heißt Roms erste zwei sagenhaften Herrscher sowie Lucius Iunius Brutus, der erste, ebenfalls sagenhafte Konsul der römischen Republik nach dem Sturz des Lucius Tarquinius Superbus, Roms letzten etruskischen Königs, „unter anderen Umständen, die größten Schriftsteller würden gewesen seyn“? 78 Warum zählt er zu den „verschiedenen Gattungen von großen Männern […], welche uns bekannt sind: Schöngeister [letterati], wissenschaftliche Köpfe [scienziati], Politiker, Gesetzgeber, Künstler, Feldherrn, Sectenstifter, Heilige“ explizit auch die „Fürsten“ selbst? 79 Und letztlich: Wenn Alfieri schreibt, dass der wahre Schriftsteller bei der Lektüre der „erhabensten Stellen der erhabensten Schriftsteller“ unvermittelt „in seinem Herzen einen gewißen edlen und hochherzigen Unwillen bemerkt, der ohne ein Kind des Neides zu seyn, noch etwas mehr bezeichnet als bloße Nacheiferung“ 80 – warum nennt er als Beispiele für Menschen, die jenen erhabenen „Unwillen“ gespürt haben sollen, just Alexander, Cäsar und Cicero, 81 also keine ‚reinen Schriftsteller‘, 82 sondern ausgerechnet politische Akteure – oder gar regelrechte tyrannische Herrscher, die Alfieri in Del p rincipe e d elle l ettere sonst verabscheut? 83 Hinter Alfieris Auseinandersetzung mit dem ‚Tyrannen‘ und dem ‚Fürsten‘ in seinen größeren Traktaten steckt etwas mehr als der Abscheu vor einem politischen Gegner, den es um jeden Preis zu besiegen gälte. Alfieris offensichtliches Interesse für den Herrscher erklärt sich, wenn man seinen ‚Tyrannen‘ wie seinen ‚Fürsten‘ 76
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Alfieri: Fürst, S. 44. „Quegli, se veramente degno è di un tal nome, dev’essere l’apice della possibilità umana; questi, se nato è ed educato al trono, dev’essere il più picciolo prodotto di essa“, Alfieri: Del principe, S. 152. Alfieri: Fürst, S. 68. „Qual sia maggior cosa; o un grande scrittore, o un principe grande“, Alfieri: Del principe, S. 174. Alfieri: Fürst, S. 115. „[C]iò viene a dire, che costoro, in altre circostanze trovatisi, sommi scrittori si sarebbero fatti“, Alfieri: Del principe, S. 218. Alfieri: Fürst, S. 122f. „Annoverate ho finora tutte le diverse classi di uomini sommi, che siano da noi conosciute: letterati, scienziati, politici, legislatori, artisti, capitani, capi-setta, santi; e per anche v’ho incluso i principi stessi“, Alfieri: Del principe, S. 224. Alfieri: Fürst, S. 125. „[M]a, se egli, in vece della semplice maraviglia, si sente a quella lettura accendere nel cuore come da improvvisa saetta un certo sdegno generoso e magnanimo che in nulla sia figlio d’invidia, e che pure denoti assai più che emulazione“, Alfieri: Del principe, S. 227. Alfieri: Del principe, S. 227. Wie Demosthenes, der an derselben Stelle ebenfalls zitiert wird, stellt Cicero zwar auch in Alfieris Augen den berühmtesten Redner dar, der für die Freiheit kämpft. Allerdings ist und bleibt Cicero für Alfieri ein „consularischer Schriftsteller“ („scrittor-consolo“), der geglaubt habe, „daß ein Consul größer sey, als ein vollkommener Schriftsteller“, und der somit in gewisser Weise die lettere verraten hat. Alfieri: Del principe, S. 194. Auf diesen bezeichnenden Widerspruch weist auch Giorgio Bàrberi Squarotti hin: vgl. Lo spettacolo del tiranno, S. 110.
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als Widerspiegelung einer existenziellen Möglichkeit betrachtet, zu der sich der moderne ‚Schriftsteller‘ (Alfieri) unwiderstehlich hingezogen fühlt. 84 Die Deutungen, die bei der Analyse von Alfieris Del principe e d elle lettere den Akzent auf den ‚politischen‘, mit der Feder für die Freiheit kämpfenden ‚Schriftsteller‘ setzen – und dabei einen möglichst scharf konturierten Antagonisten brauchen, um diese Interpretation zu plausibilisieren –, kommen daher spätestens an der Stelle zu kurz, wo die Grenzen zwischen Fürst und Schriftsteller im Traktat durchlässig werden. Oder dort, wo Alfieri selbst den Erfolg der Befreiungsmission, die der Schriftsteller berufen sein soll zu vollziehen, implizit als reine Chimäre darstellt – was in der Abhandlung nicht selten vorkommt. Denn während Alfieri etwa im letzten Buch seines Traktats die eigene Utopie bereits in seinem Jahrhundert als zum Greifen nah beschreibt – so liest man hier: Ein „neues literärisches Jahrhundert, welches größer werden kann, als jedes andere, halt’ich [für] so gut als geboren“ 85 –, wird die allgemeine Gefahr, die für den Fürsten aus den Schriftstellern und ihren „Schriften […] in der Person ihrer verschiedenen Leser“ 86 hervorgeht, im achten Kapitel des ersten Buches als sehr gering eingestuft. Was die Schriftsteller betrifft, so mache sie nicht nur ihr „weichliches und sitzendes Leben […] sehr wenig geschikt [...], große Thaten zu versuchen oder auszuführen“. Schon die Tätigkeit des Schreibens an sich würde für Alfieri auch ihren „Unwillen größtentheils schwäch[en] und verringer[n]“. 87 Was ihrerseits die Leser anbelangt, so fragt sich Alfieri, wer konkret in seinem – hier einmal mit Schillers Karl Moor gesprochen: – „Tintengleksenden Sekulum“ 88 zum Lesen komme, und stellt dabei fest, dass das aufklärende und subversive Potential der lettere im absolutistischen Regime seiner Epoche, pragmatisch betrachtet, so gut wie keine Möglichkeit hat, seine Wirkung zu entfalten: Es lesen […] in einer monarchistischen Verfaßung nur die wenigen Menschen, welche in Städten eingeschloßen sind und unter diesen auch nur die kleinere Anzal derselben; d. h. die sehr wenigen, welche keine Kunst oder Gewerbe zu treiben brauchen, um subsistiren zu können, 84
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Es lohnt sich darauf hinzuweisen, dass sich jenes zwiespältige Verhältnis des Schriftstellers zu dem Machtmenschen, das sich hier profiliert, vom „Fürsten“ im 18. Jahrhundert, über die Figur Napoleons im 19. bis hin zum ‚großen Diktator‘ Adolf Hitler im 20. Jahrhundert mühelos verfolgen lässt. Zum „Mythos-Napoleon“ vgl. Barbara Beßlich: Der deutsche NapoleonMythos. Literatur und Erinnerung. 1800 bis 1945. Darmstadt 2007. Zum „großen Diktator“ als „Bruder“ bei Thomas Mann vgl. auch Paolo Panizzo: Künstler, Genie und Demagoge. Thomas Manns Essay Bruder Hitler. In: Tim Lörke u. Christian Müller (Hg.): Thomas Manns kulturelle Zeitgenossenschaft. Würzburg 2009, S. 13–27. Alfieri: Fürst, S. 144. „Un tale moderno secolo letterario, che può diventare maggiore d’ogni altro, io lo reputo già bello e nato“, Alfieri: Del principe, S. 244. Alfieri: Fürst, S. 16. „[I] loro scritti nella persona dei diversi loro lettori“, Alfieri: Del principe, S. 126. Ebd. „[O] sia, perchè la loro vita molle e sedentaria li rende poco atti all’eseguire, o tentare azioni grandi; o sia, perchè lo sfogo del comporre indebolisce nella massima parte e minora il loro sdegno“, ebd. NA 3, 20. Ein „Jahrhundert, wo so viel gelesen und geschrieben wird“, bezeichnet Alfieri das 18. Jahrhundert im Traktat Del principe e delle lettere, S. 126.
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welche sich um kein Amt bewerben, und – von keinem Vergnügen verlockt, von keinem Laster zerstreut, von keinem Neid gefoltert, von keiner gelehrten Prahlerey irre geführt; aber voll von einer gewissen zum Nachdenken hinleitenden Melancholie – in den Büchern eine angenehme Unterhaltung für ihre Seele und einen kurzen Ersatz für das menschliche Elend suchen, welches vielleicht von denen am lebhaftesten gefühlt wird, die das wenigste davon leiden. Und solche Leser – und nur solchen kann ich den Namen der Leser zugestehen – könnte der Fürst fürchten? 89
Wenn man die Figur des letterato im Traktat Del p rincipe e d elle l ettere idealistisch zum Modell eines ‚Freiheitskämpfers mit der Feder‘ stilisiert – eines ‚großen Mannes‘, der in der Lage sein soll, alle Ketten der Tyrannei zu durchbrechen und tatsächlich das „Seculum der U nabhängigkeit“ 90 einzuleiten –, wird man in der Schrift vom Autor selbst eines Besseren belehrt: „In Wahrheit, Junius Brutus, Pelopidas, Wilhelm Tell, Wilhelm von Nassau, Washington und andere große Männer, welche wichtige Revolutionen entwarfen und ausführten, waren niemals Gelehrte von Profeßion“. 91 Als ob diese Bemerkung an sich nicht Anlass genug zur Frage gäbe, was unter den hier von Alfieri beschriebenen, pessimistischen Prämissen dann konkret von der Mission seines „nicht protegirte[n] Schriftsteller[s]“ 92 zu erwarten sein soll, äußert sich der Autor an derselben Stelle außerdem auch skeptisch gegenüber den Effekten der allgemeinen ‚Lichtverbreitung‘ in seinem Jahrhundert: „Ich glaube vielmehr, und die That zeigt es bis jezt nur allzu oft und allzu wahr, daß die vervielfältigte und unter einer Menge von Menschen zerstückelte Aufklärung, sie weit mehr schwatzen, weit minder fühlen und beinah gar nicht handeln macht“. 93 Mehr denn je erscheint Alfieris ‚Befreiungsideal‘ bereits in den Augen des Autors als ein frommer Betrug. Doch auch in diesem Fall lohnt es sich, nicht Alfieris Widerspruch im Rahmen seines Traktats punktuell unter die Lupe zu nehmen, sondern sich vielmehr auf die Elemente zu konzentrieren, die dieser bezeichnende Widerspruch in Alfieris Argumentation verrät. Denn in der zitierten Textpassage ist die von Alfieri aufgestellte Entgegensetzung durchaus signifikant: Auf der 89
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Alfieri: Fürst, S. 17. „Leggono adunque veramente nel principato i pochi uomini rinchiusi nelle città; e fra questi, il minor numero di essi; cioè quei pochissimi, che non bisognosi di esercitare arte nessuna per campare, non desiderosi di cariche, non adescati dai piaceri, non traviati dai vizj, non invidiosi dei grandi, non vaghi di far pompa di dottrina, ma veramente pieni di una certa malinconia riflessiva, cercano ne’ libri un dolce pascolo all’anima, e un breve compenso alle umane miserie; le quali forse assai più vivamente vengono sentite da chi il minor danno ne sopporta. E così fatti lettori (a questi soli attribuisco io un tal nome) che non sono uno in dieci mila, spaventare potrebbero il principe?“, Alfieri: Del principe, S. 126f. Alfieri: Fürst, S. 144. „SECOLO DELLA INDIPENDENZA“, Alfieri: Del principe, S. 244. Alfieri: Fürst, S. 17. „Ed in fatti; Giunio Bruto, Pelopida, Guglielmo Tell, Guglielmo di Nassau, Washington, e altri pochi grandi che idearono od eseguirono rivoluzioni importanti, non erano letterati di professione“, Alfieri: Del principe, S. 127. Alfieri: Fürst, S. 92. „[S]crittore sprotetto“, Alfieri: Del principe, S. 195. Alfieri: Fürst, S. 18. „Crederei anzi, (e l’effetto finora me lo dimostra vero, pur troppo!) che i lumi moltiplicati e sparpagliati fra i molti uomini, li facciano assai più parlare, molto meno sentire, e niente affatto operare“, Alfieri: Del principe, S. 127.
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einen Seite stehen hier das starke ‚Fühlen‘ und das tatkräftige ‚Handeln‘, die als betont positiv und wünschenswert dargestellt werden; auf der anderen Seite steht das ‚Schwatzen‘, das heißt das folgenlose Reden, das konstitutiv nutzlos sei und höchstens dem gesellschaftlichen Vergnügen diene. Wenn man darüber reflektiert, wird hier genau das Muster wiederholt, auf dem die grundsätzliche Entgegensetzung von „protegirten“ und „unprotegirten“ Schriftstellern in Alfieris Traktat basiert: hier der erhabene Schriftsteller, der eine „kräftige und entflammte Natur“ aufweist; 94 dort der „Schriftsteller der sich beschützen lässt“, der „entweder keine eigene Kraft [hat …;] oder er hat sie und gebraucht sie nicht, und verdient alsdann als ein Verräther an der Wahrheit, der Kunst und sich selbst“ verachtet zu werden. 95 Nach demselben Muster unterscheidet Alfieri in seiner Schrift konsequent auch zwischen der ‚energischen‘ „wahre[n] Litteratur“ 96 und der „feine[n] und zarte[n]“ 97 – das heißt ‚eleganten‘ – „Hoflitteratur“: 98 „Der herrschende Character aller Geistesproducte, welche unter einer monarchistischen Verfaßung zu stande kommen, muß also nothwendig mehr die Eleganz des Ausdrucks als die Erhabenheit und Stärke des Gedankens seyn“. 99 Die Adjektive, mit denen Alfieri bereits am Anfang seines Traktats die ‚wahren‘ Schriftsteller, ja die „Verkündiger der Wahrheit“ 100 beschreibt, verdienen es in unserem Rahmen, besonders hervorgehoben zu werden: Diese seien „männlicher, wahrhaftiger, eindringender und heftiger“ als die „Schriftsteller[-] monarchischer Verfaßung“ 101– dafür würden diese zu Meistern einer „leere[n] Eleganz“ werden. 102 In der Auseinandersetzung mit Alfieris Abhandlung Del principe e delle lettere erweist sich die Kategorie der erhabenen ‚Größe‘ und ‚Stärke‘ einmal mehr als besonders aufschlussreich – ja, sie stellt den bedeutendsten Maßstab dar, vor dessen Hintergrund der Autor grundsätzlich seine Urteile fällt. Genau diese Kategorie in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen, ermöglicht daher auch dem Interpreten, den Überblick über Alfieris sonst nicht immer stringenten Traktat wiederzugewinnen.
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Alfieri: Fürst, S. 35. „[F]orte ed infiammata natura“, Alfieri: Del principe, S. 144. Alfieri: Fürst, S. 154. „Il letterato che proteggere si lascia, o egli propria forza non ha, ed è nato allora per essere letterato di principe; o l’ha, e non l’adopera, e traditor del vero, dell’arte, e di sè, tanto più merita allora vitupéro, quanto era maggiore la gloria che egli acquistata sarebbesi sentendo e adoprando la sua propria forza“, Alfieri: Del principe, S. 253f. 96 Alfieri: Fürst, S. 20. „[V]era letteratura“, Alfieri: Del principe, S. 129. 97 Alfieri: Fürst, S. 96. „[S]ottili e delicati modi“, Alfieri: Del principe, S. 201. 98 Alfieri: Fürst, S. 13. „[L]etteratura cortigiana“, Alfieri: Del principe, S. 123. 99 Alfieri: Fürst, S. 10. „L’indole predominante nelle opere d’ingegno nate nel principato, dovrà dunque necessariamente essere assai più la eleganza del dire, che non la sublimità e forza del pensare“, Alfieri: Del principe, S. 120f. 100 Alfieri: Fürst, S. 11. „[T]uoni di verità“, Alfieri: Del principe, S. 121. 101 Alfieri: Fürst, S. 10. „[L]etterati di principe“, Alfieri: Del principe, S. 121. 102 Alfieri: Fürst, S. 37. „[V]uota eleganza“, Alfieri: Del principe, S. 145.
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2.2. Die Dekadenz der absolutistischen Kultur und die erhabene Größe des stark-fühlenden Mannes Eleganz, Vergnügen 103 sowie Schlaffheit und Verderbniß 104 stellen in Alfieris Abhandlung negativ konnotierte Begriffe dar, die eindeutig mit dem Wirkungsbereich des ‚Fürsten‘ in Zusammenhang gebracht werden. 105 Es ist mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass die Beziehung zwischen principe und lettere für Alfieri eine verwerfliche Liaison im Zeichen eines sowohl politischen als auch insgesamt kulturellen Verfalls darstellt – einer Dekadenz, die der Autor in seiner zyklischen Geschichtsauffassung 106 in jeder historischen Epoche, und selbstverständlich am meisten in der eigenen feststellt. Wenn „alle Tage wiederkehren, welche einmal da gewesen sind“ 107 – wenn „alles was vorhanden sein konnte, auch wiederkehren kann [und wird]“, 108 so schlüge jedes Mal, da ein geschichtlicher Zyklus zu seinem Ende neigt, unweigerlich die Stunde des ‚Fürsten‘. Dieser stellt für Alfieri allerdings nicht nur den mehr oder weniger passiven Ausdruck der dekadenten Zeit dar, in der er „geboren und erzogen“ wird. 109 Das regelrechte Verbrechen, dessen Alfieri den ‚Fürsten‘ beschuldigt, ist vorsätzlich: Sein Mäzenatentum ist nicht nur ein Produkt verfallener Sitten, sondern es stellt einen zentralen Bestandteil seiner kühl kalkulierten Strategie zur Macht dar. Der Fürst, „der die Wissenschaften durch seinen Schutz verhindert und hemmt, versteht sein Handwerk und kennt seine
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Alfieri: Del principe, S. 203. Alfieri: Fürst, S. 34. „[C]orruzione dei costumi“, „snervatezza degli animi“, Alfieri: Del principe, S. 142. 105 Für Alfieri existiert allerdings auch eine Form der ‚Eleganz‘, die kein Synonym für ‚Schwäche‘ und ‚Dekadenz‘ darstellt, sondern ganz im Gegenteil aus der ‚Stärke‘ hervorgeht: „Doch das dreifache, überwiegende Beispiel Dante’s, Petrarca’s und Boccaccio’s, welche unter keinem Fürsten blühten, ist mehr als jedes andere dazu gemacht, diese Frage zu entscheiden. Zum Coloß erwuchs die toscanische Sprache unter den Händen dieser großen Männer, welche keinen andern Antrieb hatten, als ihr Genie und auf keine Weise beschützt wurden. Die größte Eleganz und Zartheit vereinigte sich mit der größten Kürze und Stärke“, Alfieri: Fürst, S. 100. „Ma questo triplice incalzante esempio di Dante, Petrarca, e Boccaccio, che non fiorirono sotto nessun principe, più che niun altro è atto a terminar la questione. La lingua toscana si è fatta colossale in mano di questi tre grandi, che per proprio impulso scrivevano, e non protetti: nelle loro mani riuniva questa lingua in sè stessa la maggiore eleganza e delicatezza alla maggior brevità ed energia: ed ecco che la toscana, come la greca, perfezionavasi senza macchia di protezione. Ma nei due secoli susseguenti l’italiana letteratura essendo dai protettori traviata, poco o nulla si accrebbe la lingua quanto alla nuda eleganza, e tutto perdè quanto al sugo, brevità, e robustezza“, Alfieri: Del principe, S. 204. 106 Zu der zyklischen Auffassung der Geschichte, die im 18. Jahrhundert nicht selten vertreten wurde und die der piemontesische Dichter mit Machiavelli teilt, vgl. Di Benedetto: Dal tramonto dei lumi al Romanticismo, S. 133–137. 107 Alfieri: Fürst, S. 137. „[T]utti i giorni già stati, ritornano“, Alfieri: Del principe, S. 237. 108 Alfieri: Fürst, S. 153. „[S]tante che tutto ciò che ha potuto essere, può ritornare e sarà“, Alfieri: Del principe, S. 252. 109 Alfieri: Fürst, S. 21. „[N]ato […] ed educato“, Alfieri: Del principe, S. 152.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-013
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eigene Schwäche“; 110 durch seine Beschützung unterminiert er mit wohl berechneter Absicht die lettere als „Verkündiger[innen] der Wahrheit“ 111 von innen heraus, indem er sie zu reinen Unterhaltungsinstrumenten degradiert. Als „Feindinnen der Wahrheit“ und „Verfälscherinnen politischer Ideen“ 112 würden sie dann entschieden zum kulturellen Verfall beitragen. Indem sich die Schriftsteller des 18. Jahrhunderts beschützen lassen, akzeptieren sie für Alfieri, jene Rolle zu übernehmen, die zwei Jahrhunderte vor ihnen die „Hofnarren“ 113 im Fürstentum gespielt hatten. Kein Zweifel: Für Alfieri wissen Mäzene ganz genau, was sie für die Konsolidierung ihres Machtsystems tun, wenn sie die Literatur „mehr auf das bloße Vergnügen hin [leiten], als ihre Nützlichkeit erhöhe[n]“. 114 Die ‚Eleganz‘, die Alfieri bei einigen „Schriftstellern monarchischer Verfaßung“ wie „Horaz, Virgil, Ovid, Tibull, Ariost, Tasso, Racine“ 115 nicht leugnen kann, interpretiert er nicht zufällig als Synonym für Weichlichkeit, Leere und Verderbnis der Sitten. 116 Vor dem beschriebenen Hintergrund lässt sich gut verstehen, auf was Alfieri hinaus will, wenn er auf die Frage, warum der ‚freie‘ Lucrez und der ‚nicht-freie‘ Virgil „in Hinsicht des Flußes, der Harmonie und Mannigfaltigkeit des Versbaus“ 117 so unterschiedlich gewesen seien, sowohl die Antwort der modernes als auch der anciens aufführt. Welcher Ursache ist diese „ungeheure Verschiedenheit“ zwischen beiden Autoren zuzuschreiben? „Der ausgebildeteren Sprache werden die Neueren sagen. Der Verderbniß der Sitten, der Schlaffheit der Gemüther und dem großartigen Einfluß der unumschränkten Gewalt, würden die Alten geantwortet haben“. 118 Die „Alten“, die Alfieri an dieser Stelle zu Wort kommen lässt, sind allerdings nicht die Schriftsteller einer zeitlich undifferenzierter ‚Antike‘, sondern nur diejenigen, die am Höhepunkt der antiken Kultur „in Republiken geboren“
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Alfieri: Fürst, S. 154. „Il moderno principe dunque, il quale proteggendo le lettere le impedisce, fa l’arte sua, e la propria debolezza appieno conosce“, Alfieri: Del principe, S. 253. 111 Alfieri: Fürst, S. 11. „[T]uoni di verità“, Alfieri: Del principe, S. 121. 112 Alfieri: Fürst, S. 38. „[N]emiche di verità“, „falisificatrici delle politiche idee“, Alfieri: Del principe, S. 146. 113 Alfieri: Fürst, S. 14. „[B]uffoni“, Alfieri: Del principe, S. 124. 114 Alfieri: Fürst, S. 99. „[…] assai più deviate al mero diletto, che non accresciutele col farle più utili“, Alfieri: Del principe, S. 203. 115 Alfieri: Fürst, S. 10. Alfieri: Del principe, S. 121. 116 Vgl. beispielsweise Alfieri: Del principe, S. 141f. Der leeren und schlaffen Eleganz, in der sich die Verweichlichung der Sitten widerspiegelt, setzt Alfieri seine „männlich-energetische“ bzw. „männlich-vitale Tragödienkunst“, ja sein „maskulin-erhabene[s] Tragödienverständnis“ entgegen. Vgl. dazu die bereits in den einführenden „Koordinaten“ zitierte Forschungsliteratur, dabei insb.: Winckler: Körper, Revolution, Nation, S. 175–190; Mattioda: Introduzione, S. 12 sowie Perdichizzi: Lo scrittore tribuno e la tragedia eroica di Vittorio Alfieri, http://laboratoireitalien.revues.org/680 (1.12.2017). 117 Alfieri: Fürst, S. 34. „[…] nella fluidità, armonia, e varietà del verseggiare“, Alfieri: Del principe, S. 142. 118 Alfieri: Fürst, S. 34. „[A]lla ripulitura della favella, risponderanno i moderni: alla corruzione dei costumi, avrebbero risposto gli antichi; alla snervatezza degli animi, alla pestifera influenza di una assoluta dominazione“, Alfieri: Del principe, S. 142.
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wurden 119 – und die somit nicht die Phase der kulturellen Dekadenz miterlebten und „von dem verpestenden Einfluß der monarchischen Verfaßung befleckt“ wurden. 120 Zusammenfassend hält Alfieri im zweiten Buch seines Principe fest, dass „die Vollkommenheit der Wissenschaften in Hinsicht auf Eleganz […] weit leichter unter einem verderbten und nicht freien, als unter einem freien und gesunden Volk entstehen könne“, 121 wobei vor allem das Adjektiv „gesund“ besondere Aufmerksamkeit verdient. Hier, wie übrigens in Alfieris gesamter Abhandlung, besitzt das Adjektiv „gesund“ („sano“) eine moralische Konnotation. Chiastisch setzt Alfieri hier, wörtlich übersetzt, einem „Volk mit verdorbenen Sitten und nicht frei“ ein „freies und gesundes Volk“ entgegen. ‚Gesund‘ weist allerdings auch auf sein Gegenteil ‚krank‘ hin, und es lohnt sich durchaus, vor dem Hintergrund von Alfieris zyklisch-organischer Geschichtsauffassung den direkten Zusammenhang zwischen moralischem und organischem Verfall hervorzuheben, der im Traktat durchaus besteht. In der Auseinandersetzung mit Alfieris Abhandlung Del principe e delle lettere erbringen zwei Feststellungen, deren Tragweite bis dato in der Forschung nicht erkannt wurde und die wir nun vor dem Hintergrund des bisher Gesagten machen können, einen deutlichen interpretatorischen Gewinn: Zum einen, dass der piemontesische Dichter der eigenen Epoche, das heißt der Epoche des Absolutismus, eine unbarmherzige Diagnose des politischen sowie gesamtkulturellen Verfalls stellt; zum anderen, und komplementär, dass das Gegenmittel gegen die diagnostizierte Dekadenz – auch dort, wo Alfieri verstärkt mit traditionellen moralischen Kategorien argumentiert – in Wirklichkeit in der Sinnlichkeit der „großen Männer[]“ 122 erkannt wird. Nicht anders ist die Bedeutung zu interpretieren, die Alfieri in seinem Traktat einigen Begriffen beimisst wie dem „forte sentire“ (unterschiedlich übersetzt mit „lebendige[m] Gefühl“, „stärkere[m] Gefühl“, „lebhafte[m] Gefühl“), 123 der „forza“ („Stärke“), 124 der „energia greca“ (der „griechischen Energie“), 125 dem „impulso naturale“ (dem „natürlichen Antrieb“), 126 oder dem „tacito e vivissimo sentimento delle proprie forze“ („dem stillen [und] lebhaften Gefühl eigener Kräfte“). 127 Es bleibt zu fragen, vor welchem philosophischen Hintergrund
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Alfieri: Del principe, S. 180. Alfieri: Fürst, S. 79. „[C]ontaminata […] dalla pestifera influenza del principato“, Alfieri: Del principe, S. 184. 121 Alfieri: Fürst, S. 37. „Finisco dunque col dire; che, a parer mio, la perfezione delle lettere quanto all’eleganza (che è pur troppo sempre quella che intendiamo noi) più facilmente può nascere fra un popolo di costumi corrotti e non libero, che non fra un popolo libero e sano“, Alfieri: Del principe, S. 145. 122 Alfieri: Fürst, S. 122. „[U]omini sommi“, Alfieri: Del principe, S. 224. 123 Vgl. Alfieri: Fürst, S. 25, 51, 97. 124 Ebd., S. 135. 125 Ebd., S. 129. 126 Ebd., S. 122. 127 Ebd., S. 126.
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Alfieri im Traktat Del p rincipe e d elle l ettere von den erwähnten Begriffen Gebrauch macht. Der theoretische Mittelpunkt von Alfieris Traktat Del principe e delle lettere ist leicht ermittelt: Er ist in den zwei einander folgenden und sich ergänzenden Kapiteln des dritten Buches zu erkennen, die den Titel „Von dem natürlichen Antrieb“ und „Von dem künstlichen Antrieb“ tragen. Wie in der Forschung angemerkt wurde, bringt Alfieri an dieser Stelle „seine Poetik des Erhabenen und des forte sentire“ zum Ausdruck. 128 Dass es sich allerdings hinter Alfieris Auslassungen in den benannten Kapiteln etwas mehr verbirgt als reine poetologische Betrachtungen, gilt es hier herauszuarbeiten. 129 Alfieris Hauptthese mag an dieser Stelle schnell zusammengefasst werden: „[A]lle die verschiedenen Gattungen von großen Männern“ – die Klasse der ‚Fürsten‘ wird dabei ausdrücklich einbegriffen! – haben im „natürlichen Antrieb“ die „erste Basis“ für ihre Größe. 130 Wenn man sich fragt, wodurch sich dieser ‚Antrieb‘ auszeichnet, so gibt Alfieri eine bemerkenswerte Definition des ‚natürlichen Antriebes‘ – eine Definition, die der Autor in seinem Text auch graphisch hervorhebt: Dieser Antrieb ist: Ein Kochen des Herzens und des Geistes, das keine Ruhe und keine Rast gestattet; e in u nersättlicher D urst zu ha ndeln und Ruhm zu e rwerben; e ine A nsicht d er Dinge, vermöge welcher man das bereits Geschehene für nichts und das was noch geschehen soll für Alles h ält, ohne gleichwohl v on d em einmal g efaßten Vorsatz abzugehen; ein entschlossenes Wollen und ein unwiderstehlicher Drang unter den besten der Erste oder gar nichts zu seyn. 131
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Santato: Introduzione, S. 9–29 (Übers. P.P.). Alfieris Thematisierung des „impulso naturale“ und des „forte sentire“ ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatte um den Unterschied zwischen dem Schönen und dem Erhabenen zu verorten. Diese Debatte wurde bekanntlich von Edmund Burkes Essay A Ph ilosophical Enquiry i nto t he Origin o f our Ideas o f the Sublime a nd B eautiful (1757) maßgeblich beeinflusst, ein Essay, der 1765 in französischer und 1773 in deutscher Übersetzung erschien. Auch wenn die Frage, ob Alfieri Burkes Enquiry direkt bekannt gewesen sei, noch offen ist (Burkes Name findet in Alfieris Schriften keine Erwähnung), ist dennoch festzustellen, dass Alfieris Auffassung des Erhabenen in einer Linie mit der „physiologischen Perspektive des britischen Theoretikers“ steht, wie neuerdings auch Sabrina Ferris angemerkt hat. Vgl. Sabrina Ferri: Vittorio Alfieri’s Natural Sublime: The Physiology of Poetic Inspiration. In: European Romantic Review 23/5, Oktober 2012, S. 555–574, hier S. 559. Für einen Überblick über die in der Alfieri-Forschung vertretenen Positionen zur Beziehung zwischen Burke und Alfieri verweise ich ebenfalls auf Ferris Aufsatz (hier insb. S. 555f.). Allgemein zur Bedeutung der ästhetischen Kategorie des sublime in der zweiten Hälfte des italienischen Settecento vgl. Mattioda: Introduzione, S. 59–64. 130 Alfieri: Fürst, S. 122f. „Annoverate ho finora tutte le diverse classi di uomini sommi, che siano da noi conosciute […] Ma, di quanti ne ho annoverati, di tutti dico, che sommi veramente non furono mai, nè sono, nè saranno, nè potranno mai essere in nessuna delle nomate classi coloro, che a divenir sommi non avranno avuto per prima base l’impulso naturale“, Alfieri: Del principe, S. 224f. 131 Alfieri: Fürst, S. 123. „È questo impulso, un bollore di cuore e di mente, per cui non si trova mai pace, nè loco; una sete insaziabile di ben fare e di gloria; un reputar sempre nulla il già fatto, e tutto il da f arsi, senza p erò mai d al p roposto rimuoversi; u na i nfiammata e risoluta
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„Dieser göttliche Antrieb ist etwas, das jeder Mensch gebraucht, um ein wirklich großer Mann zu werden“, 132 so Alfieri weiter – wobei der Dichter dann gleich hinzufügt, dass nicht jeder, der diesen Antrieb besitzt, auch immer wirklich ‚groß‘ zu werden vermag. Denn „durch Zeitumstände, widrige Schicksale und tausend andere Ursachen“ könne der Antrieb „geschwächt, von seinem Ziel abgeleitet, verwandelt und wohl gar ganz ausgelöscht werden“. 133 Die Forschung hat in dem „impulso naturale“ die Grundlage von Alfieris ‚Poetik des Erhabenen‘ erkannt: Wie treffend bemerkt wurde, stellt der Begriff ‚sublime‘ durchaus ein „Schlüsselwort“ in Alfieris Denken dar 134 – ein Schlüsselwort, das mit Alfieris Credo des „forte sentire“ am engsten verknüpft ist. Nicht von ungefähr wurde als eine der bedeutendsten Quellen 135 von Alfieris Del p rincipe e d elle l ettere – und darüber hinaus von Alfieris Denken – der wirkungsmächtige Traktat Peri hypsous („Über das Erhabene“) des Pseudo-Longinus ermittelt, den der Autor laut dem 1797 abgefassten Catalogo de ’ libri d i Vittorio Alfieri d a A sti in der 1748 in Bologna erschienenen Übersetzung von Anton Francesco Gori besaß. 136 Bereits in dem antiken Traktat des Pseudo-Longinus finden sich tatsächlich mehrere der zentralen Thesen, die Alfieri in Del principe e d elle lettere aufstellt – man denke zum Beispiel an die Unterscheidung zwischen ‚erhabener‘ und ‚eleganter‘ Literatur, an die Betrachtung des erhabenen Schriftstellers als „Quasi-Gott“, an die Auffassung des erhabenen Stils als Widerspiegelung eines großen Gemüts, 137 an die Verfallsdiagnose der neueren Zeiten 138 und letztlich an die engste Verknüpfung, die zwischen politischer Freiheit und der Entstehung eines ‚erhabenen Geis-
voglia e necessità, o di esser primo fra gli ottimi, o di non essere nulla“, Alfieri: Del principe, S. 225. 132 Alfieri: Fürst, S. 123. Alfieri: „Questo divino impulso è una massima cosa, senza la quale nessun uomo può farsi sommo davvero“, Alfieri: Del principe, S. 225. 133 Ebd. 134 Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 18. 135 Als weitere Quellen nennt Di Benedetto außerdem folgende Texte: Das Kapitel VIII,4 aus Claude-Adrien Helvétius’ Werk De l’Homme (1773); die Artikel Génie (1757) und Sublime (1765) der Encyclopédie und schließlich Saverio Bettinellis Essay Dell’entusiasmo delle belle arti (1769), vgl. Di Benedetto: Schreiben in Zeiten der Tyrannei, S. 180. 136 Vgl. Fenocchio: Alfieri, S. 53 sowie Raffaele Gaetano: Giacomo Leopardi e il sublime. Soveria Mannelli 2012, S. 291. Zum Einfluss des antiken Traktats auf Alfieris Tragödientheorie und auf die ausgeprägte stilistische „Schroffenheit“ des italienischen Tragödiendichters vgl. Bernhard Huss: Sublimität und Tragödie bei Vittorio Alfieri. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 62/4 (2012), S. 391–418. 137 Zu den hier erwähnten Aspekten vgl. ausführlicher Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 18– 20. 138 Der Titel des letzten Kapitels der antiken Schrift lautet in der deutschen Übersetzung von Johann Georg Schlosser aus dem Jahr 1781 wie folgt: „Warum es in den neuern Zeiten so wenige erhabene Genies giebt“, vgl. Longin: Vom Erhabenen. Mit Anmerkungen und einem Anhang von Johann Georg Schlosser. Leipzig 1781, S. 254.
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tes‘ besteht. 139 Vor dem Hintergrund der offensichtlichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Peri hypsous und dem Traktat Del principe e d elle lettere vermag eine traditionellere Lektüre von Alfieris Abhandlung den Akzent gerade auf die poetologischen Aspekte der Schrift zu setzen und den „natürlichen Antrieb“ als Voraussetzung für jenen „erhabenen Stil“ zu betrachten, in welchem sich der erhabene Geist des Schriftstellers selbst reflektieren würde. 140 Die „Gleichsetzung“ von erhabenem Stil und erhabenem Geist 141 stelle gar ein „Leitmotiv“ des Traktats Peri hypsous dar und würde von Alfieri etwa in folgender Textpassage aus seinem Kapitel über den ‚künstlichen Antrieb‘ im Principe „entschieden bekräftigt“: 142 [D]ie Wirkung einer Wahrheit, welche durch die energische Feder eines freien und von seinem natürlichen Antriebe beseelten Schriftstellers, in ihr gehöriges Licht gestellt wurde, [kann] durchaus nicht mit der Wirkung einer Wahrheit verglichen werden, welche durch die furchtsame Feder eines abhängigen, von seinem künstlichen Antrieb mehr zu Boden gedrückten, als bewegten Schriftstellers angedeutet, verdorben, unter tausend Schlangenwindungen halb gesagt und durch tausend Unwahrheiten zurückgenommen wurde. 143
Doch den antiken Traktat Vom Erhabenen und Alfieris Del principe e delle lettere interpretatorisch, und nicht nur motivisch, in eine Reihe zu stellen, ist nur in einem festen dichtungstheoretischen Rahmen und aus einer moralischen Perspektive möglich, das heißt wenn man die Rolle des erhabenen Stils im Dienste der ‚Wahrheit‘ auch beim piemontesischen Dichter in den Vordergrund rückt und letztlich den Blickwinkel auf den ‚Schriftsteller‘ (Alfieri) vor allem als „moralische Instanz“ 144 richtet. Es fehlt sicherlich nicht an Anhaltspunkten für diese Deutung – eine Deutung, über die übrigens breiter Konsens in der Forschung herrscht. Aller139
Ebenfalls im letzten Kapitel des Peri h ypsous liest man folgende Passage, die gleichwohl in Alfieris Abhandlung Del principe e delle lettere ihren Platz finden könnte: „Ist es etwa wahr, was man gewöhnlich sagt, daß die Demokratie die beste Mutter der großen Geister ist? Daß sie nur unter ihr gelebt, und mit ihr gestorben sind? Denn […] die Freyheit giebt den großen Seelen ihre Lebenskraft, und spornt sie an, sich einander zu übertreffen, und den ersten Preis zu erhalten […] Zu unsern Zeiten aber werden wir mit unsern ersten Empfindungen schon zu der Knechtschaft unserer Verfassung gewöhnt, und von der Wiege an immer mit den Sitten und der Denkungsart, die sie erfordert, umgeben, ohne jemals die schönste, die edelste Quelle der Beredtsamkeit, die Freyheit, geschmeckt zu haben“, ebd., S. 255f. 140 In diesem Sinne würde Alfieri einen „entscheidenden Beitrag“ leisten zur „Gründung des romantischen Mythos des Schriftstellers“ als eines Menschen „von außerordentlicher Geistesgröße, der die Leidenschaften, die er in seinen Figuren darstellt, vor allem in sich selbst erlebt“. Darin sei eine Wiederaufnahme des Pseudo-Longinus zu erkennen, Santato: Introduzione, S. 27 (Übers. P.P.). 141 Bei Santato ist an anderer Stelle von der „grandezza morale del libero scrittore“ die Rede. Vgl. Guido Santato: Lo stile e l’idea. Elaborazione dei trattati alfieriani. Milano 1994, S. 125. 142 Ebd. (Übers. P.P.). 143 Alfieri: Fürst, S. 129. „Così, non può esser mai paragonabile l’effetto d’una verità fortemente lumeggiata dalla energica penna di un libero scrittore acceso e sforzato dal naturale suo impulso, all’effetto di una verità debolmente accennata, guasta, e in mille tortuosi giri ravvolta e affogata tra mille falsità dalla timida penna di un dipendente scrittore, strascinato più assai che spinto dall’artificiale suo impulso“, Alfieri: Del principe, S. 230. 144 Mojen: Buchholz’ Alfieri, S. 205.
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dings wird dabei offensichtlich, wie im bisher Gesagten bereits angemerkt, nur eine Seite von Alfieris Abhandlung Del p rincipe e d elle l ettere in den Fokus genommen. Denn überzeugend mag diese Interpretation zwar bei Textpassagen wirken wie dem zuletzt angeführten, oder überall dort, wo Alfieri in seinem Traktat stark polarisiert und die entgegengesetzten Fronten klar markiert. Als unzulänglich erscheint diese Interpretation allerdings schon in Anbetracht der Tatsache, dass Alfieri gerade die ‚Fürsten‘ – die zunächst als ausgesprochene Feinde der ‚Wahrheit‘, ja als regelrechte Emissäre des „Irrthums und Betrugs“ dargestellt werden 145 – doch letztlich auch zu den „großen Männern“ hinzuzählt, deren Größe selbst auf dem „natürlichen Antrieb“ basiere. Um diese und ähnliche Widersprüche in Alfieris Traktat zu lösen, gilt es offensichtlich, andere Forschungswege zu beschreiten. Dabei kann es sich als fruchtbar erweisen, gerade Alfieris Begriff des „forte sentire“ schärfer in den Fokus zu nehmen und den „impulso naturale“ nicht ausschließlich in Bezug auf den ‚erhabenen Stil‘ zu betrachten. Die Rolle, welche die Leidenschaften und insbesondere das „forte sentire“ bei Alfieri spielen, stellt im kulturellen Kontext des 18. Jahrhunderts durchaus keine Ausnahme dar. Die Theorie der „passion f orte“ entwickelt sich im französischen 18. Jahrhundert, 146 und zwar im Rahmen einer allgemeinen „Freisprechung und Aufwertung“ 147 der Leidenschaften, die etwa in Denis Diderot einen entschiedenen Befürworter hat. So liest man beispielsweise gleich am Anfang von Diderots frühen Pensées Philosophiques: On croirait faire injure à la raison, si l’on disait un mot en faveur de ses rivales ; cependant il n’y a que les passions, et les grandes passions, qui puissent élever l’âme aux grandes choses. Sans elles, plus de sublime, soit dans les mœurs, soit dans les ouvrages ; les beaux-arts retournent en enfance, et la vertu devient minutieuse. 148
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Alfieri: Fürst, S. 42. „[E]rrore“, „inganno“, Alfieri: Del principe, S. 150. Zum Konzept der „passions fortes“ und seine Entwicklung durch Diderot und Helvétius vgl. Michel Delon: L’idée d’énergie au tournant des Lumières. 1770–1820. Paris 1988, darin insb. Kap IV: „Passions et paroxysmes“, S. 349–400. Zum möglichen Einfluss von Montaignes Betrachtungen über die „force naturelle“ und die „naturelle impulsion“ auf Alfieris „impulso naturale“ vgl. Angelo Fabrizi: Alfieri e Montaigne. In: Annali Alfieriani IV (1985), S. 53–87 (auch in: Ders.: Le scintille del vulcano. Ricerche sull’Alfieri. Modena 1993, S. 145–194). In Bezug auf Fabrizis Aufsatz hält auch Guido Santato den Zusammenhang zwischen Montaignes Betrachtungen und Alfieris Begriff des „impulso naturale“ für „mehr als wahrscheinlich“, vgl. Santato: Lo stile e l’idea, S. 81. Edoardo Costadura hat allerdings angemerkt, dass Fabrizi „die zentrale Frage nach der Funktion“ von „Montaigneschen Themen in Alfieris Werk“ außer Acht lässt, Costadura: Der Edelmann am Schreibpult, S. 249. Auch in unserem Rahmen gilt es zu unterstreichen, dass es primär auf die Rezeption und Funktionalisierung von Montaignes Begriffen bei Alfieri im veränderten philosophischen und kulturellen Kontext des späten 18. Jahrhunderts ankommen soll. 147 Vgl. Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 104f. (Übers. P.P.). 148 Denis Diderot: Pensées philosophiques. In: Ders.: Œuvres complètes de Diderot. Revues sur les éditions originales comprenant ce qui a été publié à divers époques et les Manuscrits inédits conservés à la Bibliothèque de l’Ermitage, notices, notes, table analytique; étude sur Diderot. Hg. v. J. Assézat. Repr. Nendeln 1966. Bd. 1, S. 123–155, hier S. 127.
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Auffällig ist auch in diesem Fall die direkte Beziehung, die im Kontext einer utilitaristischen Ethik zwischen den starken Leidenschaften des Einzelnen und der Erhebung des Geistes zur Realisierung großer Werke besteht. Doch wenn man genau nach der theoretischen Folie sucht, vor der Alfieris Auffassung des „forte sentire“ zu verorten ist, so soll diese viel mehr als bei Diderot bei einem anderen Protagonisten der Rehabilitierung der Sinnlichkeit im französischen 18. Jahrhundert zu finden sein: bei Claude-Adrien Helvétius. 149 Im sechsten Kapitel der dritten Abhandlung von Helvétius’ Werk De l’Esprit – ein Kapitel, das den bezeichnenden Titel trägt „De la puissance des passions“ – liest man Grundlegendes: „Les passions, sont ce que, dans le physique est le mouvement; il crée, anéantit, conserve, anime tout, & sans lui tout est mort“. 150 Die ‚Bewegung‘ wird somit hier als das an sich Gute bewertet: Man übersieht die Tragweite von Helvétius’ Auslassung, wenn man außer Acht lässt, dass der französische Philosoph hier, die Rehabilitation der Sinnlichkeit fest im Visier, zunächst einmal die Bewegung an sich gutheißt – nicht die Konsequenzen, die aus jener Bewegung entstehen können. Als ‚moralisch gut‘ ist somit prinzipiell selbst die ‚Bewegung‘ zu betrachten, die zu einem ‚unmoralischen‘ Ziel führt. Und tatsächlich: Unter den Beispielen, die seine These bekräftigen sollen, nennt Helvétius in demselben Kapitel Dicaearchus von Ätolien, einen „général“ des Königs Philippos V. von Makedonien, der während des zweiten makedonischen Kriegs (200–197 v. Chr.) „él[è]ve, en présence de son armée, deux autels, l’un à l’Impiété, l’autre à l’Injustice, y sacrifie, & marche contre les Cyclades“. 151 Der antike Geschichtsschreiber Polybios beschreibt die frevelhaften Unternehmungen des Piraten Dicaearchus in seinem Hauptwerk Historíai und hält dabei fest, dass Dicaearchus schließlich für seine Schandtaten mit dem Leben bezahlte: Er wurde von den Ägyptern gefangen und starb in Alexandria unter Folter. 152 Doch war auch Dicaearchus für Helvétius von ‚starker Leidenschaft‘ beflügelt – denn „ce sont, en effet, les passions seules qui, portées à ce degré de force, peuvent exécuter les plus grandes actions, & braver les dangers, la douleur, la mort & le ciel même“. 153 Bei der Definition der „passion f orte“, die Helvétius wiederum in diesem Kapitel gibt, ist insbesondere der Blickwinkel hervorzuheben, der hier eingenommen wird, nämlich der Blickwinkel des ‚stark fühlenden Subjekts‘: „J’entends, par ce mot de passion forte, une passion dont l’objet soit si nécessaire à notre bonheur, que la vie nous soit insupportable sans la possession de cet objet“. 154 Es ist überflüssig, darauf hinzuweisen, dass der ‚Moralist‘ 149 150 151 152
Vgl. Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 29. Claude Adrien Helvétius: De l’esprit. À Paris, chez Durand, Libraire, 1758, S. 297. Ebd., S. 298. Polibio: Storie, XVIII, 54 8–11, zit. aus: Rita Scuderi: Filippo V e Perseo nei frammenti diodorei. In: Cinzia Bearzot u. Franca Landucci (Hg.): Diodoro e l’altra Grecia. Macedonia, Occidente, Ellenismo nella Biblioteca storica. Atti del convegno, Milano, 15–16 gennaio 2004. Milano 2005, S. 383–405, hier S. 390. 153 Helvétius: De l’esprit, S. 298. 154 Ebd.
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Helvétius – ja, der „gute[] Moralist[]“ Helvétius 155 – hier durchaus nicht darum bemüht ist, das Streben nach Glück des Einzelnen gegen die Interessen der Gesellschaft auszuspielen, sondern dieses in der Natur begründete Streben des Menschen gerade zum Nutzen der Gesellschaft zu funktionalisieren. Hervorzuheben ist hier nur die Tatsache, dass die (starken) Leidenschaften, die Helvétius ausnahmslos gutheißt, für ihn die moralische Welt allein in Bewegung setzen und dass der Mensch erst dank dieser Bewegung sein Glück schöpfen und alles Große erreichen kann: Ce sont, en effet, les fortes passions, qui, plus éclairées que le bon sens, peuvent seules nous apprendre à distinguer l’extraordinaire de l’impossible que les gens sensés confondent presque toujours ensemble ; parce que, n’étant point animés de passions fortes, ces gens sensés ne sont jamais que des hommes médiocres. 156
Das Außerordentliche braucht eine starke Bewegung, es braucht eine mächtige Leidenschaft – alles, was diese Bewegung hindert, fördert umgekehrt die Mittelmäßigkeit. Um sich zu vergegenwärtigen, welche Wurzeln die dargelegten Theorien bei Alfieri schlagen und wie diese Gedanken seine Auffassung des Schriftstellers beeinflussen, sei hier lediglich folgende Textpassage aus Del principe e d elle lettere zitiert: Um ein lebhaftes Gefühl in dem Herzen seines Lesers zu erregen, muß der Schriftsteller selbst vorher sehr lebhaft gefühlt haben. Es ist unmöglich, dasjenige stark auszudrücken, was man schwach empfunden hat. Ein Gedanke, welcher schwach ausgedrückt ist, weil er nicht stark empfunden wurde, kann auf den Leser niemals einen nur mittelmäßigen Eindruck machen. 157
„Denn einen Gott nenne ich den am stärksten fühlenden Menschen“ 158 wird Alfieri noch in einem Brief vom 10. Dezember 1796 an Teresa Regoli Mocenni schreiben. Man hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Alfieris Auffassung des „forte sentire“ ihre Prämissen in der „sozialen und utilitaristischen Moral“ des französischen 18. Jahrhunderts, und „insbesondere bei Helvétius“ hat. 159 Trotzdem hat man dann in der Alfieri-Forschung versäumt, sich mit den letzten Konsequenzen dieser Erkenntnis zu befassen: Man hat gerade die Rolle übersehen, welche die physische ‚Kraft‘, die ‚Energie‘ und die ‚Stärke‘ in Alfieris Auffassung des Erhabenen spielen; man hat außer Acht gelassen, dass Alfieris ‚Pessimismus‘ gerade mit der Auf155 156 157
Nietzsche: Menschliches allzu Menschliches II, KSA 2, 652. Helvétius: De l’esprit, S. 304. Alfieri: Fürst, S. 64. „A voler fare vivamente sentire altrui, bisogna che vivissimamente senta lo scrittore egli primo: non si può mai fortemente esprimere ciò che debolmente si sente: un pensiero espresso debolmente perchè non è fortemente sentito da chi il concepisce, non potrà mai fare neppure una mediocre impressione in colui che lo legge“, Alfieri: Del principe, S. 170. 158 „[C]he Dio chiamo io l’uomo vivissimamente sentente“, Vittorio Alfieri: Epistolario. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. II. Hg. v. Lanfranco Caretti. Asti 1981, S. 197f., hier S. 198. 159 Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 105 (Übers. P.P.).
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fassung jener ‚Leidenschaft‘ als ‚Bewegung‘ zu tun hat, die für das Subjekt nicht unendlich sein kann; man hat es schließlich vorgezogen, mit traditionellen moralischen Kategorien zu argumentieren und dabei die eigentümliche Verbindung des moralisch Guten mit dem männlich Starken bei Alfieri gerne ignoriert. Doch damit hat man sich letztlich auch die Möglichkeit versperrt, einen wesentlichen Zug von Alfieris ‚Modernität‘ vor dem europäischen Hintergrund des 18. Jahrhunderts zu erkennen und wissenschaftlich aufzuwerten. In der Tat lohnt es sich, auf den Zusammenhang zu insistieren, der zwischen der ‚Stärke‘ und dem ‚Erhabenen‘ bei Alfieri besteht. Das vorletzte Kapitel des Traktats Del principe e delle lettere betitelt Alfieri „Aufforderung, Italien von den Barbaren zu befreien“ 160 – ein bemerkenswerter Titel, der allerdings einen klaren historischen Bezug hat, wie Alfieri selbst in einer Anmerkung zum gewählten Titel ausführt: Denn „so überschrieb der göttliche Machiavelli das letzte Capitel seines Fürsten“. 161 Mit dem historischen Beispiel des Machiavelli im Rücken scheint Alfieris ‚politisches Projekt‘ am Ende der Abhandlung konkrete Konturen zu nehmen – dabei gelte es vor allem, die korrupte politische Formel des Absolutismus zu beseitigen und eine neue republikanische Renaissance europaweit einzuleiten. Ausgangspunkt dieser Renaissance soll für Alfieri erneut Italien sein, und zwar deswegen, weil dieses Land in der eigenen Dekadenz fast seinen Tiefpunkt 162 erreicht habe und nun nichts anders könne als emporzusteigen: „Unter allen Sclavenländern Europa’s entdecke ich keins, welches, meiner Einsicht nach, bei einer veränderten Gestalt der Wissenschaften, eine neue politische Gestalt leichter annehmen könnte, als unser Italien“. 163 Doch der Weg zur neuen Größe lasse sich nicht mit leeren Worten beschreiten – man brauche vor allem ‚starke Leidenschaften‘. Die lange und erfolgreiche Geschichte Italiens beweise, dass „unter seinen Bewohnern zu allen Zeiten eine weit größere Menge von jenen Feuerköpfen („bollenti animi“) vorhanden gewesen sey, welche, vom natürlichen Antriebe beseelt, in großen Unternehmungen Ruhm suchten“. 164 Italien sei die letzte Hoffnung zur Wiedergeburt des dekadenten Europa. Doch ist durchaus bezeichnend, dass Alfieri hier zur Bekräftigung seiner These folgende Bemerkung gleich noch hinzufügt:
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Alfieri: Fürst, S. 150. „ESORTAZIONE A L IBERAR LA ITALIA DAI BARBARI“, Alfieri: Del principe, S. 249. 161 Ebd. 162 „An der äußersten Gränze seines Nichts“ muss Italien für Alfieri „nothwendig in Kurzem rückwärts gehen“, Alfieri: Fürst, S. 153. „[E] al colmo della sua nullità essendo giunta quasi oramai la moderna Italia, non potrà fra breve se non retrocedere“, Alfieri: Del principe, S. 252. 163 Alfieri: Fürst, S. 150. „Ma, tra quante schiave contrade nella Europa rimiro, nessuna al nuovo aspetto delle lettere potrebbe più facilmente (a parer mio) assumere un nuovo aspetto politico, che la nostra Italia“, Alfieri: Del principe, S. 249f. 164 Alfieri: Fürst, S. 151. „[F]ra i suoi abitatori vi è stata in ogni tempo una assai maggior copia di quei bollenti animi, che spinti da impulso naturale la gloria cercavano nelle altissime imprese“, Alfieri: Del principe, S. 250.
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Italien, am äußersten Rande seiner Schlechtigkeit und seines Nichts, zeiget und beweiset – darf ich es sagen? – durch die schrecklichsten Verbrechen, die man tagtäglich in seinem Schooß begehen sieht, daß es noch jetzt, mehr als irgend ein anderes Land von Europa, einen Überfluß an jenen warmen und brausenden Seelen hat, denen zur Vollendung großer Tathen nur Spielraum und Mittel fehlten. 165
Dabei handelt es sich um eine durchaus bemerkenswerte Auslassung, die all jenen Interpreten nicht wenige Schwierigkeiten bereiten muss, die übersehen, dass der Aspekt der physischen Stärke – mit all den damit verbundenen moralischen Konsequenzen – als geradezu konstitutiv in Alfieris Auffassung des ‚Erhabenen‘ zu bewerten ist. 166 Und tatsächlich: Bereits in einem älteren Aufsatz macht Arnaldo Di Benedetto darauf aufmerksam, dass Alfieri die Verbindung zwischen „Energie und Verbrechen“ 167 mit dem Marquis de Sade teilt. 168 Dabei zitiert Di Benedetto folgende Passage aus De Sades Philosophie d ans l e B oudoir, in der die Begriffe Grausamkeit, Energie und Tugend in eine Reihe gestellt und direkt der als korrupt betrachteten ‚Zivilisation‘ entgegengesetzt werden: „La cruauté n’est autre chose que l’énergie de l’homme que la civilisation n’a point encore corrompue: elle est donc une vertu et non pas un vice“. 169 Doch obwohl auch Alfieri Energie und Verbrechen miteinander verbindet, so bleibe der piemontesische Graf nach Di Benedetto weniger konsequent als De Sade: Alfieri weise dabei zwar „eine Unfähigkeit“ auf, „der gedanklichen Ebene [wirklich] auf den Grund zu gehen“ – dies stelle allerdings auch ein „Zeichen für eine andere [das heißt höhere] Moralität“ bei ihm dar. 170 Indes mag man zwar zustimmen, dass Alfieri womöglich eine ande165
Alfieri: Fürst, S. 151. „Che più? la moderna Italia, nell’apice della sua viltà e nullità, mi manifesta e dimostra ancora (e il deggio pur dire?) agli enormi e sublimi delitti che tutto dì vi si van commettendo, ch’ella, anche adesso, più che ogni altra contrada d’Europa, abbonda di caldi e ferocissimi spiriti, a cui nulla manca per fare alte cose, che il campo ed i mezzi“, Alfieri: Del principe, S. 250. 166 Es hat etwas zu bedeuten, wenn Alfieri noch in seinem in den 1790er Jahren verfassten Misogallo Folgendes festhält: „Negli uomini in generale, principalmente amiam noi il forte sentire, che è il fonte verace d’ogni bene buono, come altresì d’ogni male buono; che io avrò pur la temerità di dar questo epiteto al male, allorchè egli, da passioni ardenti ed altissime procreato, si fa di altissimi effetti cagione“ (Dt.: In den Menschen allgemein mögen wir vor allem die starke Empfindungsfähigkeit [„forte sentire“], die den wahren Ursprung jedes trefflichen Guten sowie jedes guten Bösen darstellt; denn ich bin so verwegen, dem Bösen dieses Beiwort zu geben, wenn es – von den höchsten und heißesten Leidenschaften gezeugt – die höchsten Wirkungen verursacht“), Alfieri: Il Misogallo, S. 207 (Übers. P.P.). Das Konzept eines „guten Bösen“ übernimmt Alfieri von Machiavelli, vgl. dazu: Fubini: Vittorio Alfieri. Il pensiero – la tragedia, S. 12–18. 167 Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 107 (Übers. P.P.). 168 Nur nebenbei sei daran erinnert, dass Giuliano Baioni ungefähr zur gleichen Zeit wie Di Benedetto in seiner Analyse von Schillers Räubern auf den „Sadismus ante l itteram“ des deutschen Dichters hinweist. Vgl. Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 24. 169 Marquis de De Sade: La philosophie dans le boudoir. In: Œuvres complètes du Marquis de Sade, éd. établie sur les orig. imprimés ou ms., accompagnée d’études de plusieurs écrivains et précédée de la vie de l’auteur, avec un examen de ses ouvrages, par Gilbert Lely. Paris 1966. Bd. III, S. 437. 170 Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 107 (Übers. P.P.).
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re Moralität als de Sade hatte. 171 Allerdings vermag das Argument der andersartigen Moralität dabei dennoch nicht zu erklären, wieso der Dichter in seinem Traktat Del principe e d elle lettere überhaupt im positiven Sinne auf die Verbindung von Energie und Verbrechen zu sprechen kommt. Dies erscheint dagegen als folgerichtig, wenn man sich darüber klar wird, dass Alfieri vor dem Hintergrund der sensualistischen und utilitaristischen Philosophie seines Jahrhunderts die ‚Energie‘, von der sich das „forte sentire“ speist, zur ersten Voraussetzung für jegliches erhabene Werk des Menschen erklärt. Gegen die Dekadenz seiner Zeit setzt Alfieri auf die noch nicht korrumpierte ‚Kraft‘ – sei diese gar auch diejenige, die sich in verbrecherischen Taten widerspiegelt, weil jede ‚Kraft‘ prinzipiell kein ‚Laster‘, sondern eine ‚Tugend‘ darstellt. Vor diesem Hintergrund ist offensichtlich auch folgende Bemerkung aus dem vorletzten Kapitel von Alfieris Del principe e delle lettere zu verstehen, in der der Autor die Bewohner Italiens gerade in ihrer bloßen ‚Natur‘ – als „Pflanzen“ – in Betracht zieht: Italien ist in jeder Rücksicht gewesen, was bisher kein anderes Land der Erde war. Dies beweiset, daß seine Bewohner, als bloße Pflanzen betrachtet, von größerer innerer Kraft waren; und Pflanzen gedeihen auf demselben Boden immer gleich, wenn sie auch die Hand des [niederträchtigen] Gärtners in unnatürliche Gestalten zwingt. 172
Gescheit gelenkt, mag diese ‚Kraft‘ eine epochale Wende und eine neue Renaissance einleiten – nicht überflüssig zu wiederholen, dass diese an sich moralisch indifferente ‚Kraft‘ die erste Voraussetzung für Alfieris ‚Utopie‘ darstellt. Ein sittliches Programm wird hier unmittelbar von einer physischen Bedingung abhängig gemacht. Wenn man so will: Erst kommt die Kraft, dann kommt eine männlich-heroische Moral. Ein weiteres grundlegendes Missverständnis gilt es hier auszuräumen. Es betrifft die scheinbar widersprüchliche Beziehung, welche die Figuren des Fürsten und des Schriftstellers bei Alfieri verbindet. Schon früh hat man in der Auseinandersetzung mit Alfieri erkannt, dass eine manichäische Interpretation der von diesem Autor aufgestellten Entgegensetzung von principe und letterato nicht immer aufschlussreich ist. Wie in unserem Rahmen schon erwähnt wurde, schrieb bereits Johann Wolfgang von Goethe im Jahr 1812, dass Alfieri die „Tyrannen [haßte],
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Auch ist Alfieri bestimmt nicht mit einem „Ästheten oder einem Übermenschen des letzten 19. Jahrhunderts und des ersten 20. Jahrhunderts“ zu verwechseln, der sich am Schauspiel schöner Delikte oder einzigartiger und schuldhafter Leidenschaften erfreuen könnte, vgl. Fubini: Vittorio Alfieri. Il pensiero – la tragedia, S. 15. 172 Alfieri: Fürst, S. 151. „L’Italia è dunque stata sotto tutti gli aspetti ciò che non sono finora mai state l’altre regioni del globo. E ciò attesta, che gli uomini suoi, considerati come semplici piante, di più robusta tempra vi nasceano: e le piante, nello stesso terreno, rinascono pur sempre le stesse, ancorchè per alcun tempo le disnaturi a forza il malvagio cultore“, Alfieri: Del principe, S. 250f.
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weil er sich selbst eine Tyrannen-Ader fühlte“. 173 Und mehr als ein Jahrhundert später wies auch Benedetto Croce in Italien darauf hin, dass Alfieri seine ‚Tyrannen‘ „bewundere“, ja dass er gar mit ihnen „sympathisier[e]“. 174 Das vereinfachende theatralische Schema des positiven ‚Protagonisten‘, dem sich sein negativer ‚Antagonist‘ strikt entgegensetzen soll, 175 funktioniert in der Auseinandersetzung mit Alfieris Werk nicht zwingend. Der Leser von Alfieris Del p rincipe e d elle lettere wird im Traktat mit folgenden beiden gegensätzlichen Positionen konfrontiert: Auf der einen Seite begegnet er dem ‚Fürsten‘ als dem „niedrigsten“ 176 unter den Menschen – ja als der Chiffre für jene ‚Schwäche, Furcht und Falschheit‘, welche die exakte Kehrseite der höchsten Tugenden, nämlich „Stärke, Freimüthigkeit und Wahrheit“, 177 des „erhabene[n] Schriftsteller[s]“ darstellen. Auf der anderen Seite stellt Alfieri seinem Leser dennoch einen ‚Fürsten‘ vor, der ganz wie der erhabene Schriftsteller vom „natürlichen Antrieb“ getragen wird – und der damit ganz und gar zu den „großen Männern“ hinzugezählt werden muss, die für Alfieri „zum Handeln geboren“ wurden. 178 Doch wie kann der ‚niedrigste‘ aller Menschen gleichzeitig zu den ‚größten‘ zählen? Auch diese Frage hat die Forschung versucht, vor allem mit moralischen Argumenten zu beantworten, was wiederum zu nicht ganz zufriedenstellenden Ergebnissen geführt hat. Aus gutem Grunde hat beispielsweise Di Benedetto zunächst darauf hingewiesen, dass der „liber’uomo“, den wir in unserer Auseinandersetzung mit Alfieris Traktat Della t irannide kennengelernt haben, bei Alfieri im Wesentlichen mit dem „freien Schriftsteller“ der Abhandlung Del principe e delle lettere identisch ist. 179 Doch zur Beziehung zwischen tiranno und libero scrittore hat der italienische Literaturwissenschaftler dann Folgendes angemerkt: Tyrann und freier Schriftsteller stellen die zwei höchsten, im Guten und im Bösen komplementär antithetischen Möglichkeiten menschlicher Bekundung: hier der „größte Mensch“, dort der „niedrigste“. Es versteht sich, warum fast kein Schriftsteller für Alfieri frei genug sein konnte; und ihm fast kein König als tyrannisch genug erschien. Hierin begründet liegt auch jene geheime Verbindung zwischen Schriftsteller und Tyrann, die so oft bei ihm bemerkt wurde (wie übrigens bei einem anderen Dichter der Freiheit: Schiller). 180
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Goethe: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter (MA, Bd. XX.I, S. 296). Croce: Alfieri, S. 12 (Übers. P.P.). Darauf weist etwa Franz Brunetti hin: Zwischen dem Protagonisten und dem Antagonisten sei bei Alfieri „keine Vermittlung“ möglich, vgl. Introduzione, S. XLVIII. 176 Alfieri: Fürst, S. 44. „[C]ome e fin dove il più sommo uomo possa assoggettare se stesso al più infimo“, Alfieri: Del principe, S. 152. 177 Wie man im dritten Buch der Abhandlung liest, Alfieri: Fürst, S. 135. Alfieri: Del principe, S. 235f. 178 Alfieri: Fürst, S. 126. „E così ogni grande, che è nato per fare“, Alfieri: Del principe, S. 227. 179 Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 26. 180 Ebd., S. 26f. – alle Übers. P.P. In runden Klammern wurde hier die Fußnote 18 auf S. 27 wiedergegeben.
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Der Verweis auf die Verwandtschaft zwischen Alfieri und Schiller ist an dieser Stelle nicht zu überschätzen – er führt ja direkt ins Herz der Frage, mit der wir uns in unserem Rahmen auseinandersetzen. Doch auch wenn Di Benedetto richtig erkennt, dass die „geheime Verbindung“ zwischen dem italienischen und dem deutschen Dichter auch mit der gemeinsamen Faszination durch die moralisch ambivalente Sphäre der ‚Größe‘ und der ‚Macht‘ zu tun haben muss, vermag er am Ende mit Hilfe traditioneller moralischer Argumente keine plausible Erklärung dafür zu geben. Denn wenn Alfieri in den letzten Zeilen seines Traktats Del principe e d elle l ettere zusammenfassend festhält, dass „alle moralische Wahrheit durch sich selbst eine abgesagte Feindin der unumschränkten Macht ist“, 181 und wenn der freie Schriftsteller vor diesem Hintergrund nur Abscheu für den Tyrannen übrig haben sollte, wird es nicht ersichtlich, warum der erhabene Schriftsteller (Alfieri) dem „niedrigsten“ aller Menschen, dem Fürsten, die „paradoxe Größe des Bösen“ 182 – wie Di Benedetto es will – zuerkennen sollte. Wenn Alfieri in seiner Auseinandersetzung mit der absolutistischen Macht tatsächlich und konsequent einen moralischen Maßstab anlegte, dann müsste es für ihn keine – so ‚paradox‘ wie man will, doch am Ende positiv konnotierte – ‚Größe des Bösen‘ geben. Denn ‚groß‘ müsste aus einem moralischen Blickwinkel nur ein Prädikat des Guten darstellen. Und so bleibt die Frage, wie der „niedrigste“ der Menschen bei Alfieri auch ‚groß‘ sein könne, an dieser Stelle mehr denn je offen. Eine plausible Antwort ist allerdings zum Greifen nah, sobald man bereit ist, die traditionelle moralische Interpretation ein wenig in den Hintergrund zu rücken. Zunächst einmal soll darauf hingewiesen werden, dass Alfieri selbst für ein Missverständnis sorgt, indem er denselben Begriff principe benutzt, um eigentlich zwei unterschiedliche ‚Fürsten‘ zu bezeichnen: einmal den Fürsten als kranken Träger und Überträger von Korruption; einmal den Fürsten als starken, vom „natürlichen Antrieb“ gestützten ‚Mann‘ und ‚Machtmenschen‘, der „zum Handeln geboren“ wurde und ‚Großes‘ anstiften kann. Während der erste ‚Fürst‘ in Alfieris Argumentation den negativen Gegenpol des erhabenen Schriftstellers darstellt – „Dieser, wenn er für den Thron geboren und erzogen wurde, muß das kleinste Product der Natur seyn und es beynah’ immer bleiben“ 183 –, steht der zweite für den ‚großen Einzelnen‘, der den „natürlichen Antrieb“ mit dem erhabenen Schriftsteller teilt und daher konsequent zu den „großen Männern“ hinzugezählt werden kann, selbst wenn die „Gattung“ der Fürsten „so viel andere große Männer jeder Art verhindert und vernichtet“. 184 Der springende Punkt ist somit nicht, ob einem un181
Alfieri: Fürst, S. 154. „[E] ogni moral verità essendo per se stessa nemica d’ogni potere illegittimo“, Alfieri: Del principe, S. 254. 182 Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 105. 183 Alfieri: Fürst, S. 44. „[Q]uesti, se nato è ed educato al trono, dev’essere il più picciolo prodotto di essa; e lo è quasi sempre“, Alfieri: Del principe, S. 152. 184 Alfieri: Fürst, S. 123. „[P]er quanto mai possa esser grande questa specie, che tanti grandi uomini d’ogni sopraccennato genere impedisce e distrugge“, Alfieri: Del principe, S. 224.
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differenzierten ‚Fürsten‘ eine Größe des Bösen zuzusprechen wäre. Jedes Mal, da es, nicht zuletzt durch den Einsatz von protegierten, ‚dekorativen‘ Schriftstellern, um die Konsolidierung einer korrupten absolutistischen Macht geht, verurteilt Alfieri mit der Figur des ‚Fürsten‘ den politischen und kulturellen Stillstand der jeweils in den Fokus genommenen Epoche im Ganzen. Dort, wo es bei Alfieri vom Fürsten als ‚großen Mann‘ die Rede ist, wird dagegen vor allem das in der Natur des großen Mannes verankerte Potential an erhabenen Taten und Werken jenseits der strikten Grenzen der traditionellen Moral verherrlicht. Wenn Alfieri „nicht nur die Tyrannen hohen Gemüts [bestaunt und bewundert], wie Cäsar, den er dennoch unerbittlich mit dem Beil schlägt; sondern auch die tückischsten, die grausamsten, die düstersten“, 185 wie bereits Benedetto Croce angemerkt hatte, so liegt dies im gerade Gesagten begründet. Das gilt übrigens nicht nur in der Auseinandersetzung mit den Figuren antiker ‚Machthaber‘, sondern auch mit einigen modernen ‚Tyrannen‘: Das Sonett CLXII Il gran Prusso tiranno, al qual dan fama, 186 in dem sich Alfieri mit der „hohen, erhabenen und nicht königlichen“ (also für den Autor positiven) Ruhmbegierde des preußischen Herrschers Friedrich II. auseinandersetzt, endet nicht von ungefähr mit dem Vers: „Doch würdig wär’ er [der „preußische Tyrann“!] vielleicht gewesen, nicht als König geboren zu werden“. 187 Denn auch in Friedrich II. erkennt Alfieri schließlich den ‚großen Mann‘ – den Mann, der der König allerdings vor allem dadurch hätte sein können, wenn er, wie der Trajan von Alfieris Panegirico di P linio a T rajano, den Mut gehabt hätte, auf seinen Thron ganz zu verzichten. Weitere Beispiele ließen sich an dieser Stelle anführen – einige von ihnen werden in der Analyse von Alfieris Tragödien zu nennen sein. Entscheidend ist hier allerdings vor allem hervorzuheben, dass sich die mehrmals betonte Verwandtschaft zwischen Schriftsteller und Fürsten bei Alfieri selbstverständlich nicht auf den ‚Fürsten‘ als Prototypen des ‚niedrigsten‘, das heißt des dekadenten Menschen bezieht, sondern nur den als ‚großen Mann‘ verstandenen ‚Fürsten‘ anbelangt. Diese ‚Verwandtschaft‘ spielt sich im Register des Erhabenen ab, dem Alfieri – wohl nicht im Alleingang in seinem Jahrhundert – die eigentümlichen Merkmale einer modernen und säkularisierten ‚Tugend‘ zuspricht, und das heißt eigentlich: „Bewegung, Stärke, Wille, Energie, Macht“. 188 Ein naturgestütztes, voluntaristisches Moment rückt hier somit nachdrücklich in den Mittelpunkt: Hinter Alfieris impulso naturale und forte sentire – hinter der heißesten Leidenschaft und dem stärksten Gefühl, die nach ‚Größe‘ streben – macht sich jenes Thema einer ‚heroisch-männlichen Moral‘ bemerkbar, das im engsten Zusammenhang mit der Problematik des Nihilismus steht.
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Croce: Alfieri, S. 12. Alfieri: Rime, S. 435–437 (Übers. P.P.). Ebd. Wie Giuliano Baioni auch in Bezug auf den frühen Goethe feststellt, vgl. Baioni: Il giovane Goethe, S. 5.
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Erst wenn man zwischen dem Fürsten als dem „niedrigsten“ Menschen und dem Fürsten als „großem“ Mann zu unterscheiden lernt, ist man in der Lage, nicht nur Alfieris Argumentation im Traktat Del principe e d elle lettere zu folgen, sondern auch die oft als ambivalent betrachtete Rolle fruchtbar zu deuten, die der ‚Tyrann‘ in seinen Tragödien zu spielen bekommt. Wie bereits im vorigen Kapitel erwähnt, hat man in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Alfieri zu Recht darauf hingewiesen, dass der Konflikt zwischen principe und letterato nicht „in der Geschichte oder in der Gesellschaft“ wurzelt, sondern vielmehr „in der Natur der Menschen und der Dinge“ – wobei dieser Konflikt gar eine „metaphysische Dimension“ gewinne. 189 Den Rahmen dieser überzeitlichen Dimension herauszuarbeiten, bedeutet vor allem, das Herz von Alfieris Reflexion zu treffen – einer Reflexion, die nicht primär politisch motiviert ist, sondern aus einer tragischen Weltdeutung hervorgeht. An dieser Stelle sei kurz rekapituliert: Der freie Schriftsteller und der Fürst als „großer Mann“ finden im „natürlichen Antrieb“ einen gemeinsamen Nenner. Der ‚Fürst‘, der in diesem Teil von Alfieris Argumentation in Betracht kommt, ist nicht der korrupte, willensschwache Mensch, der als Chiffre für die politische und kulturelle Dekadenz des absolutistischen Machtsystems interpretiert wird. Vielmehr stellt er den ‚großen Einzelnen‘ dar, ja der „Große, welcher zum Handeln geboren ist“. 190 Entscheidend ist hier zu fragen, warum Alfieri die Figur des großen Fürsten braucht, das heißt welche Funktion diese Figur in seiner Gegenüberstellung mit dem erhabenen Schriftsteller übernehmen soll. Wenn der natürliche Antrieb den freien Schriftsteller und den großen Fürsten zu außerordentlichen Menschen macht, so könnte man meinen, der erhabene Schriftsteller wäre bei Alfieri der ebenbürtige Widerpart des außerordentlichen Herrschers, dessen Macht auf der geschichtlichen Ebene keine Grenzen kennt. Dabei würde es sich ja um einen Kampf zwischen ebenbürtigen Titanen handeln – einen Kampf, bei dem der Schriftsteller erst die Möglichkeit bekäme, die Qualität seiner Würde im eigenen Machtbereich in aller Deutlichkeit an den Tag zu legen. 191 Doch der Konflikt zwischen principe und letterato scheint noch tiefer zu sitzen, ihre Verwandtschaft noch enger zu sein, so dass es notwendig ist, einen Schritt weiter zu gehen, um ihr Verhältnis bei Alfieri überhaupt in seiner ganzen Tragweite deutlich zu machen. Hierzu ist es lohnenswert, den Machtwillen des ‚großen Menschen‘ in den Fokus zu nehmen und dabei den erhabenen Schriftsteller selbst (und somit nicht den Fürsten) als Ausgangspunkt für Alfieris Reflexionen zu interpretieren. Im Traktat Del principe e delle lettere liest man, dass der „Zweck des Fürsten und das Endziel
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Brunetti: Introduzione, S. L. Ähnliches liest man wie erwähnt bei Di Benedetto: Alfieris ‚Tyrannis‘ habe einen „metaphysischen Grund“ und fuße „in der begrenzten Natur des Menschen“, Le passioni e il limite, S. 10 (alle Übers. P.P.). 190 Alfieri: Fürst, S. 126. „E così ogni grande, che è nato per fare“, Alfieri: Del principe, S. 227. 191 Dieser Ansicht ist Giorgio Bàrberi Squarotti: Lo spettacolo del tiranno, S. 110.
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seiner Kunst […] unbegränzte und ewige Macht“ sei. 192 Wenn man diesen Gedanken von einer historischen in eine überzeitliche Ebene übersetzt, findet man sich hier gar mit der Frage nach den Grenzen der menschlichen Machtentfaltung überhaupt, ja mit den prinzipiellen Grenzen der menschlichen Freiheit konfrontiert – Grenzen, denen der absolutistische Herrscher genau wie der Schriftsteller ausgesetzt ist. Vor diesem Hintergrund ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass der ‚Tyrann‘ bei Alfieri vor allem eine Selbstprojektion des erhabenen Schriftstellers darstellt, der sich in seinem unermüdlichen Streben nach Größe nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Machtausübung überhaupt fragt. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt hier somit nichts weniger als die Frage nach den Grenzen der menschlichen ‚Größe‘ tout c ourt, die letztlich auch das männliche Streben des von dem „natürlichen Antrieb“ beseelten Menschen rechtfertigen soll. Auf seinen ‚Fürsten‘, ja auf seinen ‚Tyrannen‘ kommt der Schriftsteller Alfieri vor allem deswegen, weil er diese Figur bei der Beantwortung der existenziellen Frage nach der ‚Freiheit‘ des Menschen im Sinne seiner potentiellen Entfaltungsmöglichkeit braucht. Das ist der geheime Kern von Alfieris Reflexion über die ‚Macht‘, und erst vor diesem Hintergrund kann mit Giorgio Bàrberi Squarotti Folgendes festhalten werden: Der Tyrann ist gerade deswegen die typische Figur von Alfieris literarischem Werk, weil die Analyse und Darstellung seiner ungeheuerlichen, unterjochenden Gewalt die einzige adäquate Weise darstellt, in der die Ungeheuerlichkeit von Inbrunst und innerlicher Verzweiflung des Schriftstellers analysiert und zum Ausdruck gebracht werden kann. 193
Aus diesem Blickwinkel spielt der ‚Tyrann‘ bei Alfieri den Gegenpart in einem Diskurs, der sich allerdings primär um den Schriftsteller als ‚großen Mann‘ und um die Grenzen seiner Machtentfaltung dreht. Daraus wird die allgemeine Funktion verständlich, die der ‚Tyrann‘ in Alfieris Reflexion einnimmt: Er verkörpert auf beispielhafte Weise die „Maßlosigkeit der Macht“ überhaupt, wobei diese Macht – wie Bàrberi Squarotti wiederum zu Recht behauptet – „sich jenseits der politischen Ordnung, ja des Staats selbst, verortet und soweit geht, nicht einmal vor den Gesetzen der Natur halt zu machen als Folge einer Krankheit, die dem Tyrannen eignet und dabei, wie sich herausstellt, der Macht selbst innewohnt“. 194 Damit treffen wir den Kern der Problematik, die um den Fürsten als ‚großen Mann‘ bei Alfieri kreist. Alfieris ‚Fürst‘ stellt die Selbstprojektion eines ‚erhabenen Schriftstellers‘ dar, der vor dem philosophischen Horizont seines Jahrhunderts das Endliche und das Relative im menschlichen Leben entdeckt hat und sich in einem Gedankenexperiment die prinzipielle Frage nach den absoluten Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Entfaltung stellt. Der ‚Fürst‘ verkörpert dabei 192
Alfieri: Fürst, S. 11f. „Si propone il principe per fine dell’arte sua la illimitata ed eterna potenza“, Alfieri: Del principe, S. 122. 193 Bàrberi Squarotti: Lo spettacolo del tiranno, S. 111 (alle Übers. P.P.). 194 Ebd.
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die rein theoretische, zunächst moralisch indifferente Chiffre der möglichst ungehinderten, ja ‚freien‘ Lebensentfaltung des modernen Menschen – er symbolisiert ein unaufhaltsames, männlich-heroisches Machtstreben, das nicht nachlässt, so lange es von physischer Kraft beseelt wird. Wenn der schwache und dekadente Fürst, den Alfieri in Del principe e d elle lettere brandmarkt, den prototypischen absolutistischen Herrscher des 18. Jahrhunderts darstellt, den es politisch zu besiegen gilt, steht der ‚Fürst als großer Mann‘ in Alfieris Schrift symbolisch für eine Daseinsproblematik, die nicht auf politischem Weg, etwa durch die Aufhebung der Monarchie und die Einführung der republikanischen Staatsform, gelöst werden kann. Wenn man einmal zwischen beiden ‚Fürstenfiguren‘ zu unterscheiden lernt, lösen sich auch die meisten widersprüchlichen Aspekte von Alfieris Traktat auf. Entscheidend ist dabei, die gedanklichen Ebenen auseinanderzuhalten, auf welchen Alfieris Beschäftigung mit dem Fürsten stattfindet – nicht zuletzt deswegen, weil auf jeder Ebene unterschiedliche moralische Maßstäbe gelten. Wie bereits deutlich gemacht wurde, verortet sich Alfieris Auseinandersetzung mit dem Fürsten als ‚großem Mann‘ jenseits der traditionellen Moral, was selbstverständlich mitnichten bedeutet, dass der Autor prinzipiell jedes Verbrechen guthieße. Daher ist auch der Interpret gut beraten, in der Auseinandersetzung mit Alfieris ‚Fürsten‘ als ‚großem Mann‘ einen Blick jenseits jener Moral einzunehmen, das heißt zunächst konsequent auf traditionelle moralische Kategorien zu verzichten. Man nehme beispielsweise folgende Stellungnahme zur Figur des Tyrannen bei Alfieri aus dem bereits zitierten, ansonsten sehr aufschlussreichen Aufsatz Bàrberi Squarottis über das „Spektakel des Tyrannen“: „Das ist die Erfahrung der Grenze, die der Mensch bei der krankhaften und pathologischen Ausübung heroischer Fähigkeiten erreicht“. 195 Der Satz erweist sich als irreführend, denn er suggeriert, man könne prinzipiell einen moralischen Grad festlegen, um eine ‚gesunde‘ „Ausübung heroischer Fähigkeiten“ strikt von einer ‚krankhaften‘ oder ‚pathologischen‘ zu unterscheiden. 196 An dieser Stelle begegnet man somit jener schwarz-weißen Entgegensetzung zwischen ‚gutem‘ Schriftsteller und ‚schlechtem‘ Fürsten wieder, die schließlich nicht plausibel erklären kann, warum Alfieri in seiner Abhandlung den Protagonisten und den Antagonisten im Zeichen der ‚Größe‘ vereint. Außerdem: Wenn man unbedingt an der Unterscheidung zwischen Krankhaftem und Gesundem festhalten wollte, so müsste man aus Alfieris ‚Sympathie‘ für den Tyrannen schließen, dass der Autor das ‚Krankhafte‘ als eine immer latente Gefahr auch für den großen Schriftsteller gehalten hätte. Doch hier soll es vor allem nicht darum gehen, ein moralisches Urteil über Alfieris ‚Fürsten‘ als großen Einzelnen zu fällen, sondern die Rolle zu 195 196
Ebd. Außerdem ist erneut darauf hinzuweisen, dass das Kriterium, nach welchem ‚krank‘ und ‚gesund‘ bei Alfieri voneinander unterschieden werden, nicht moralischer, sondern vor allem physischer Natur ist.
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rekonstruieren, die diese zentrale Figur beim italienischen Dichter spielt, sowie die Qualität jener ‚heroischen Moral‘ zu definieren, die der ‚Fürst‘ in der Abhandlung Del principe e delle lettere verkörpert. Mit gutem Grund kann man behaupten, dass Alfieris Reflexion über den Themenkomplex der ‚Größe‘ und ‚Gewalt‘ auch sein Theater entscheidend mitprägt. Vor dem Hintergrund dieser Reflexion lassen sich auch zwei weitere entscheidende Aspekte erklären, mit denen man in der Auseinandersetzung mit Alfieris Werk stets konfrontiert wird: dem angeblichen ‚Pessimismus‘ dieses Autors und seinem Selbstverständnis als Dichter im Gegenlicht zur politischen Macht.
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2.3. Ein „unwiderstehlicher Drang unter den Besten der Erste oder gar nichts zu seyn“. Der große Schriftsteller und das Nichts Eine kurze Betrachtung, die in Benedetto Croces bereits erwähntem Essay über Alfieris Abhandlung Del principe e delle lettere enthalten ist, verdient es, in unserem Rahmen wieder aufgegriffen zu werden: Alfieri, der weder skeptisch noch pessimistisch war und dem es – wie man in seinem ganzen Werk spürt – nicht an dem Vertrauen auf die Kraft der Tugend mangelte, sammelte beim Theoretisieren und Philosophieren dieses Traktats ganz wenig davon, wenn er dazu geneigt war, sich auf die seltenen hof-fernen Edlen zu verlassen – Menschen, die über Hab und Gut verfügten und damit unabhängig sein konnten –, die sich gegen den Willen und die Macht des Fürsten ganz dem Werk freier Schriftsteller, Erzieher und Antreiber des eigenen Volkes widmen würden. 197
Einmal mehr nimmt Croce an dieser Stelle Alfieris Utopie der repubblichetta dei nobili l etterati 198 aufs Korn, die er für einen lediglich „vorläufigen und fragilen Notbehelf“ 199 hält. Doch weit mehr als das, was diese Betrachtung über Alfieris Traktat besagt, verrät sie eigentlich von dem, was Croce offensichtlich in der Abhandlung Del principe e d elle lettere am stärksten vermisst: jenes „Vertrauen auf die Kraft der Tugend“, das in Alfieris Werk für ihn sonst so präsent sei. Indes ist es fraglich, ob Del principe e delle lettere eine Ausnahme in Alfieris Werk darstellt. Oder ob umgekehrt das „Vertrauen auf die Kraft der Tugend“, das Croce sonst so stark beim piemontesischen Dichter wahrnehmen will, bei Alfieri auch wirklich so gegenwärtig war. Croces entschiedener Bemerkung, Alfieri sei „weder skeptisch noch pessimistisch“, scheint jedenfalls auch ein gewisser Charakter der Selbstversicherung anzuhaften. Wie bereits erwähnt, liefert Alfieris Werk jedoch nicht wenige Anhaltspunkte, die es ermöglichen, Croces Perspektive ganz umzukehren: also nicht – wie Croce das wollte –, dass Alfieri allgemein viel „Vertrauen auf die Kraft der Tugend“ gehabt habe und dies Vertrauen dennoch in Del principe e delle lettere nicht richtig zum Zug gekommen sei; sondern vielmehr, dass sich Alfieri allgemein ganz klar über die eindeutigen Grenzen jener „Kraft der Tugend“ war und dass sich dies auch in der Abhandlung Del principe e delle lettere widerspiegelt. Dass der ‚Pessimismus‘ bei Alfieri allgemein „starke Wurzeln“ 200 geschlagen habe, behauptete der Literaturwissenschaftler Mario Fubini bereits in den 1930er Jahren. In dem „Pessimismo alfieriano“ betitelten Kapitel seiner schon erwähnten Monographie Vittorio Alfieri. Il pensiero – la tragedia zitiert Fubini zur Unterstützung seiner Argumentation unter anderem Alfieris Sonett XXIX. Cose omai viste... aus dem Jahr 1794, das mit folgenden Versen ansetzt: 197 198 199 200
Croce: Sul trattato „Del principe e delle lettere“, S. 334 (alle Übers. P.P.). Alfieri: Del principe, S. 237. Croce: Sul trattato „Del principe e delle lettere“, S. 333. Vgl. Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 11.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-014
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Bereits Gesehenes, und zur Genüge Wiedergesehenes wirst du immer wieder sehen, solltest du auch tausend Jahre leben; Lerne, höre, denke, erfinde oder schreibe gar, nie wirst du einen Schritt über den Menschen hinaus kommen. 201
In diesem Sonett – so Fubini – habe Alfieri wie an keiner anderen Stelle seines Werks so deutlich den wahren Grund für seine Schwermut erkannt, der in seinem grenzenlosen „Verlangen nach Größe‘‘ bestehe: Jenes ungestillte Verlangen nach Größe, das ihn dazu getrieben hatte, sich zunächst „einzigartig unter den Menschen“ zu machen, und dann die eigenste Welt in den „Wüsten“, jenseits der menschlichen Gemeinde, zu suchen, ließ ihn hinter der Menschheit das unerreichbare Phantom des Übermenschen erahnen, was ihm die Freude am Leben selbst entzog, indem es ihm die Inbrunst für das übermenschliche Leben einflößte. 202
Man würde zu kurz greifen, wenn man versuchte, Alfieris Sonett vor dem Hintergrund der allgemeinen Desillusionierung des Autors nach den historischen Ereignissen der frühen 1790er Jahre in Frankreich zu deuten. Denn das ‚Verlangen nach Größe‘, das auch Fubini als entscheidendes Element zum Verständnis von Alfieris ‚Pessimismus‘ hervorhebt, ist auch in Alfieris Werk der 1780er Jahre fest verankert, wie bereits in unserer Auseinandersetzung mit dem Traktat Del p rincipe e delle lettere deutlich gemacht werden konnte. Was hier allerdings noch offen bleiben muss, ist die Frage, wie der eigentümliche Dualismus von Übermenschentum und Pessimismus bei Alfieri zu erklären ist: Stellt jenes Übermenschentum, wie Fubini vorschlägt, lediglich ein von Anfang an zu hoch gesetztes Ziel dar und der ‚Pessimismus‘ wiederum die natürliche Reaktion auf die eigentlich sehr vorhersehbare Unerreichbarkeit jenes Ziels? In seinem 1924 erschienenen Essay zur „Anarchie von Vittorio Alfieri“ schreibt Umberto Calosso, dass Alfieris Auffassung „einen spontanen und unaufhaltsamen pessimistischen Sprung von der Philosophie des 18. Jahrhunderts hin zu einem individuellen Aufstand“ darstelle. 203 In seiner Rezension von Calossos Buch (1925) fügt Mario Fubini in Bezug auf die von Alfieri herbeigesehnte „Republik“ hinzu, dass dieser „wunderbare Staat“ eigentlich jeder „Grundlage“ entbehre – ja, dass hinter Alfieris Denken gar „das Nichts“ stecke. Beim piemontesischen Dichter sei, so Fubini, „der scheinbare Optimismus nicht in der Lage, den trostlosesten Pessimismus zu verschleiern“. 204 Es ist kein Zufall, wenn sich diese auf Alfieris ganzes Werk bezogene Worte durchaus auch auf den Traktat Del principe e d elle lettere anwenden lassen, wo jene widerspruchsvolle Mischung von ‚Utopie‘ und 201
„Cose omai viste, e a sazietà riviste, / Sempre vedrai, s’anco mill’anni vivi: / E studia, e ascolta, e pensa, e inventa, e scrivi, / Mai non fia, ch’oltre l’uom passo ti acquiste”, Alfieri: Rime, S. 567f. (Übers. P.P.). 202 Fubini: Vittorio Alfieri. Il pensiero – la tragedia, S. 10 (alle Übers. P.P.). 203 Zitiert aus: Mario Fubini: „Alfieri anarchico?“. In: Ders.: Ritratto dell’Alfieri e altri studi alfieriani. Firenze 1951, S. 265–268, hier S. 266 (Übers. P.P.). 204 Ebd., S. 267.
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‚Pessimismus‘ zu finden ist, auf die wir bereits hingewiesen haben. Doch nachdem man entgegen Croces Position festgestellt hat, dass Alfieris Werk deutliche pessimistische Züge aufweist, tut man gut daran, den ‚pessimismo alfieriano‘ genauer zu definieren: Erweist sich die Kategorie des Pessimismus im Falle des piemontesischen Dichters wirklich als tragfähig? Kann es überhaupt hier von einem ‚Pessimismus‘ die Rede sein, der das 19. Jahrhundert vorwegnehmen würde? Dass kein Geringer als Arthur Schopenhauer „mit sicherem Geschmack“ Vittorio Alfieri dem Landsmann Schiller vorgezogen habe, 205 stellt schließlich keinen Garantieschein für die Qualität von Alfieris ‚Pessimismus‘ dar – das scheint vielmehr auf die idealistische Rezeption des deutschen Klassikers im 19. Jahrhundert hinweisen zu wollen. Um an dieser Stelle einen Schritt weiterzukommen, ist es notwendig, den Fokus der Aufmerksamkeit von Alfieris ‚Pessimismus‘ hin auf die angesprochene Problematik des ‚Nichts‘ zu verschieben. Denn das, was in der Forschung bisher außer Acht gelassen wurde, ist, dass jenes ‚Nichts‘, das auch Fubini hinter Alfieris politischer Utopie entdeckt, auf der Daseinsebene die konstitutive Kehrseite von Alfieris erhabenem ‚Streben nach Größe‘ darstellt. In diesem Sinn sollte man Alfieri beim Wort nehmen, wenn er in der bereits zitierten Definition des „natürlichen Antriebes“ im Traktat Del p rincipe e delle l ettere sagt, dass der „natürliche Antrieb“ ein „entschlossenes Wollen und e in unw iderstehlicher D rang“ darstellt, „unter den besten der Erste oder gar nichts zu seyn“. 206 Der „natürliche Antrieb“, der für Alfieri die „erste Basis der Größe“ 207 darstellt, ist ein ‚Drang‘, der keine Grenzen kennt. Alfieris Formel „unter d en b esten d er Erste [...] zu seyn“ enthält offensichtlich kein konkret zu erreichendes Ziel und vermag konstitutiv bloß eine Ahnung des vom Autor gemeinten Strebens ins Unermessliche zu vermitteln. Nicht ohne Ursache beinhaltet diese Formel lediglich agonistische Kraft, Energie und Bewegung. Jede Abweichung von der höchstmöglichen Leistungskraft kommt dabei einer Niederlage gleich: Das optimistische, männlich-heroische Streben zum Höchsten, das kein Mittelmaß kennt, ist ständig mit dem eigenen Scheitern konfrontiert, das genauso wenig Kompromisse duldet. Wenn die Kraft nicht ausreicht, um stets über sich selbst und die anderen hinauszugehen, schwindet auch der Sinn des Strebens – ins Nichts. Dies bedeutet, dass ein deutlicher pessimistischer Ton bei Alfieri jedes Mal zu vernehmen ist, wenn das Streben des großen Mannes in seiner utopischen Projektion mit den Grenzen der tierischen Natur des Menschen konfrontiert wird. Der ‚Pessimismus‘ stellt aber keine allgemeine Lebensauffassung des italienischen Dichters dar, sondern lediglich einen Widerschein der Entgegensetzung von ‚Macht‘ und ‚Ohnmacht‘ als der grundsätzlichen Möglichkeiten, die der Überfluss oder der Mangel an physischer Kraft nach sich ziehen. Vor die205 206
Vgl. Di Benedetto: Le passioni e il limite, S. 9. Alfieri: Fürst, S. 123. „[U]na infiammata e risoluta voglia e necessità, o di esser primo fra gli ottimi, o di non essere nulla“, Alfieri: Del principe, S. 225. 207 Alfieri: Fürst, S. 123. „[…] coloro, che a divenir sommi non avranno avuto per prima base l’impulso naturale“, Alfieri: Del principe, S. 225.
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sem Hintergrund wird auch die ganze Tragweite des Satzes deutlich, mit dem Alfieri im Juli 1778 seinen Traktat Del principe e delle lettere ansetzt: „Die Macht regiert die Welt, nicht das Wissen“. 208 Einen weiteren entscheidenden Aspekt gilt es noch hervorzuheben. Mit der Daseinsproblematik des ‚großen Mannes‘ – zwischen dem sinnstiftenden „gränzenlosen Bestreben, sich selbst durch den Ruhm zu frommen“ 209 und der Sinnlosigkeit des Scheiterns ins Nichts – kommt Vittorio Alfieri in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weder als ‚Edelmann‘ noch als republikanisch gesinnter ‚Verfechter der Freiheit‘, ja weder als ‚Staatstheoretiker‘ noch gar als ‚patriotischer Bürger‘ des zukünftigen vereinten Italiens in Berührung. Ihren Nährboden findet Alfieris Auseinandersetzung mit dem ‚großen Mann‘ zunächst in den lettere („Wissenschaften“) und hat dann gerade in Alfieris Selbstbewusstsein als eines modernen Schriftstellers ihren Dreh- und Angelpunkt. Zentral ist somit hier vor allem nicht der Machtbereich der Politik, sondern derjenige der Ästhetik: Hier wird Alfieri auch mit der existenziellen Problematik konfrontiert, die sich dann in seiner eigentümlichen Entgegensetzung von Schriftsteller und Tyrann offenbart. Denn gerade hier, in der Ästhetik, können sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Allerhöchste und das Nichts am bequemsten die Hand reichen. Wir erinnern uns, dass das ‚forte sentire‘ für Alfieri die conditio sine qua non zum Entstehen jedes großen Mannes darstellt – einen „Gott“ nennt er gar „den am stärksten fühlenden Menschen“. 210 Darüber hinaus wird klar, dass der ‚große Mann‘ für Alfieri gerade im ‚erhabenen Schriftsteller‘ seinen Höhepunkt erreicht, denn – wie der Autor im Traktat Del principe e delle lettere weiter ausführt – „in dem Vollender einer erhabenen Unternehmung seh’ ich […] einen großen Menschen; aber in dem erhabenen Erfinder und Darsteller derselben glaub’ ich deren zwei wahrzunehmen“. 211 In den Mittelpunkt rückt hier das schwindelerregende Gefühl der Übermacht, das jener moderne Schöpfer zu spüren bekommt, der sich in seinem Schaffensprozess nur nach der Logik der eigenen psychophysischen Kraft richtet und sich dabei aller Grenzen entledigt fühlt. Wie zu Recht bemerkt wurde, begegnet man hier dem „Allmachtsanspruch“ eines Autors, der sich in seinem Schöpfungsakt nicht mehr bloß als „Ausleger von Geschichte und Mythos“ betrachtet, sondern selbstbewusst 208
Vittorio Alfieri: Del principe e delle lettere (Erste Fassung). Zitiert aus: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 3: Scritti politici e morali. Bd. 1. Hg. v. Pietro Cazzani. Asti 1951, S. 373–447, hier S. 381. Selbstverständlich setzt Alfieri am Anfang seiner Abhandlung vor allem die (negativ konnotierte) ‚forza‘ des Fürsten dem (positiv konnotierten) ‚sapere‘ der Literatur entgegen. In der Abhandlung zeigt sich dennoch, dass die ‚forza‘ tatsächlich die Welt regiert – einschließlich der ‚Welt‘, in welcher der ‚Schriftsteller‘ berufen ist, als ‚großer Mann‘ tätig zu werden. 209 Alfieri: Fürst, S. 123. „[…] da questo immoderato amore di giovare a se stesso con la gloria“, Alfieri: Del principe, S. 225. 210 Alfieri: Epistolario. Bd. II, S. 198 (Übers. P.P.). 211 Alfieri: Fürst, S. 51. „Onde io nell’esecutore di una impresa sublime ci vedo un grand’uomo; ma nel sublime inventore e descrittore di essa, a me pare di vedercene due“, Alfieri: Del principe, S. 158.
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als „Manipulator, Umwandler [und] Gestalter“ 212 derselben agiert. Es ist tatsächlich nicht zu leugnen, dass eine „Intention demiurgischer Allmacht“ 213 in der Art und Weise zu verspüren ist, in der Alfieri seine Figuren und Themen behandelt. Das bleibt auch nicht ohne Folgen. Denn die Tatsache, dass der moderne Künstler nach eigener Willkür über Leben und Tod seiner Figuren herrscht und sich in seinem Schaffensprozess despotisch gegenüber der überlieferten Tradition zeigt, bringt ihn in gefährlich-faszinierende Nähe zu seinem politischen Antagonisten, dem Tyrannen, der gerade über jene grenzenlose Übermacht in p oliticis verfügt, die der moderne Künstler in aestheticis für sich beansprucht. Hierin liegt schließlich das widerspruchsvolle Verhältnis zwischen Fürsten und Schriftsteller bei Alfieri begründet. Und vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum Alfieri zwar prinzipiell nach der Überwindung des absolutistischen Machtsystems seiner Zeit trachtet, wohingegen er dem einzelnen Herrscher, wenn er ihn als ‚großen Mann‘ ins Auge fasst, immer wieder seine Bewunderung nicht entziehen kann. In seiner Intoleranz gegenüber jeglichem Hindernis, das sich seiner Machtausübung stellt, muss der prometheische Künstler mit Schauder seine allzu nahe Verwandtschaft mit dem Antagonisten in politicis erkennen – kein Wunder, wenn sich diese Figur bei ihm zu einer regelrechten Obsession steigert. Diese Obsession steht aber nicht bloß als Chiffre für ein ungelöstes politisches Problem. Sie muss in einem viel breiteren Sinn betrachtet werden als Zeichen für jene Daseinsproblematik des modernen Künstlers, die wir in unserer bisherigen Analyse zwischen dem Streben nach erhabener Größe und dem Rückfall ins Nichts verortet haben. Man kann mit Bàrberi Squarotti durchaus darin übereinstimmen, dass „die ungeheure Leidenschaft des wahren Schriftstellers sich ausschließlich von den höchsten Beispielen für die Leidenschaft der Macht und der Größe speisen kann“, und dies nicht zuletzt deswegen, „weil der Schriftsteller dabei denselben Willen ausübt, über jede Grenze (und jedes Modell) hinauszugehen, der dem höchsten Fürsten zuerkannt wird“. 214 Wenn das die Phase des entgrenzten Machtstrebens auf den Punkt bringt, so soll andererseits daran erinnert werden, dass Alfieris Formel „unter de n b esten d er Erste [... ] zu se yn“ 215 eigentlich das ‚Streben‘ selbst als ‚Ziel‘ beinhaltet – kein Wunder, wenn jedes vorläufige Ziel, das mit heroischem Impetus erreicht wird, keine Genugtuung, sei es für den Tyrannen, sei es für den Schriftsteller, auslöst, sondern ganz im Gegenteil bloß auf weitere und größere zu erlangende Ziele verweist. Der ‚natürliche Antrieb‘ stellt für Alfieri ja „eine Ansicht der Dinge [dar], vermöge w elcher ma n d as bereits G eschehene f ür n ichts u nd d as w as noch g e-
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Barberi Squarotti: Lo spettacolo del tiranno, S. 127 (alle Übers. P.P.). Es sei hier vermerkt, dass Barberi Squarotti als Einziger in der Forschung auf diesen fundamentalen Aspekt in Alfieris Werk hinweist. 213 Ebd. 214 Ebd., S. 129. 215 Alfieri: Del principe, S. 225.
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schehen soll f ür A lles hält“ 216: Solange das kraftbasierte Streben anhält, auf das sich die entgrenzte Machtentfaltung stützt, mag das ‚große Individuum‘ zukunftsfroh seinem Werk nachgehen und dabei den aktiven Teil seiner heroischen Moral des Nihilismus ausüben. Doch mit welchen Konsequenzen ist zu rechnen, wenn die Kraft zu schwinden anfängt und sich die unüberhörbare Frage nach dem Sinn des Strebens selbst stellt? Es ist nicht ohne Grund, wenn die Freiheitskämpfer am Ende von Alfieris Tragödien oft angesichts des Triumphs der tyrannischen Gewalt die Sinnlosigkeit ihres Opfers selbst erkennen müssen. Gute Gründe gibt es dennoch auch dafür, dass der Tyrann an derselben Stelle nicht selten erkennen muss, dass ihn sein skrupellos erkämpfter Sieg am Ende nicht glücklich gemacht hat – hinter jedem Feind, der besiegt wird, mag es schließlich weitere unzählige geben, die bereit sind, ihn um seine erhabene ‚Größe‘ zu bringen. Und der Schriftsteller? Als idealistischer Freiheitskämpfer, der nach dem „strahlenden Ruhm“ „beim großem Nutzen […] für alle Menschen“ trachtet, 217 muss er zugestehen, dass – wie man im Traktat Del principe e delle lettere wörtlich liest – „große Männer, welche wichtige Revolutionen entwarfen und ausführten, [...] niemals Gelehrte von Profeßion“ waren. 218 Als „großer Mann“ teilt der Schriftsteller andererseits die existenzielle Problematik des Fürsten, der in der Ausübung seiner unbeschränkten Macht nur die Alternative kennt, entweder „unter den besten der Erste oder gar nichts zu seyn“. 219 Es wird deutlich zu machen sein, dass sich die Auseinandersetzung mit Alfieris Theater vor dem hier beschriebenen Hintergrund als ausgesprochen fruchtbar erweist. Denn nicht in der traditionellen Moral, sondern gerade in der ästhetischen und philosophisch-existenziellen Problematik des ‚großen Mannes‘ und seiner heroischen ‚Moral des Nihilismus‘ liegt schließlich auch die Modernität von Alfieris Theater im europäischen Vergleich begründet.
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Barberi Squarotti: Lo spettacolo del tiranno, S. 129 (Übers. P.P.). Alfieri: Fürst, S. 29. „[…] per quel sommo utile, che dai loro scritti ne può ridondare agli uomini tutti“, Alfieri: Del principe, S. 138. 218 Alfieri: Fürst, S. 17. „[…] pochi grandi che idearono od eseguirono rivoluzioni importanti, non erano letterati di professione“, Alfieri: Del principe, S. 127. 219 Alfieri: Del principe, S. 225.
III. Resümee Das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abzeichnende Umschlagen des alten „heroische[n] Stoizismus“ in den „modernen heroischen Nihilismus“ 1 stellt eine wesentliche geistesgeschichtliche Etappe der europäischen Aufklärung dar, für die Schillers und Alfieris Tragödien Zeugnis ablegen. Die Untersuchung setzt sich mit der ‚heroischen Moral‘ auseinander, die Schillers und Alfieris tragische ‚Helden‘ in ihrem Streben nach erhabener Größe vor dem Hintergrund des Nihilismus an den Tag legen. Das ‚Erhabene‘ und das ‚Nichts‘ stellen dabei das Koordinatensystem dieser neuen ‚heroischen Moral‘. Der erste Hauptteil der Untersuchung befasst sich mit den ästhetischen Prämissen der heroischen Moral des Nihilismus bei Schiller und Alfieri. Das verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einen werden hier blinde Flecken der geläufigen moralischen und politischen Forschungsansätze in der kritischen Literatur über beide Autoren aufgezeigt. Zum anderen wird die zentrale Rolle hervorgehoben, welche insbesondere die ästhetische Kategorie des Erhabenen bei der neuen ‚Moral‘ zu spielen bekommt. Der neue ‚Heroismus‘, den die ‚Moral des Nihilismus‘ zeitigt, fußt auf ‚ästhetischen‘ Grundlagen – darin besteht schließlich auch der springende Punkt von Schillers und Alfieris parallelen Laufbahnen als tragischen Dichtern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die ‚heroische Moral des Nihilismus‘ entsteht in dem Moment, da die metaphysischen Postulate der antik-christlichen Menschen- und Weltdeutung infolge der konsequent verstandenen „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr glaubwürdig erscheinen. Wie sich rekonstruieren lässt, steht der Bruch mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele bereits am Anfang von Schillers und Alfieris dichterischer Laufbahn. Dies bedeutet allerdings mitnichten, dass bei diesen Autoren traditionelle Werte und Denkschemata schlagartig und restlos ‚überwunden‘ wären: Schließlich stellt das antik-christliche Menschen- und Weltbild in der Spätaufklärung das allgemeine kulturelle Referenzsystem des Abendlandes für jeden anthropologischen Diskurs dar. Mit ‚Kontinuitäten‘ ist daher zunächst einmal bei beiden Autoren zu rechnen, wobei ‚Diskontinuitäten‘ gegenüber der antik-christlichen Tradition am Ende die Oberhand gewinnen. Denn die dann am tragischen Helden dargestellte heroische Moral geht von der „elementare[n] Einsicht“ hervor, dass Werte relativ sind und der Mensch sterblich ist. 2 Vor dem Hintergrund der abendländischen Metaphysik lassen sich zunächst einige dichterische, literarische und medizinische Werke des frühen Schiller verstehen (Kap. I.1.) – von den ersten Gedichten Der Abend (1776) und Die Eroberer (1777) bis hin zur Ode An die Freude (1785); von der ersten Dissertation Philosophie der Physiologie (1779), über die ‚Festreden‘ des jungen Eleven an der Karls1 2
Riedel: Die Freiheit und der Tod, S. 71. Kondylis: Gedanken und Sprüche, S. 189.
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schule (1779/80) bis hin zur „Theosophie des Julius“ (1786). Stets zentral bleibt dabei der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele, die auch die erste Voraussetzung für die vom jungen deutschen Dichter mehrmals thematisierte Frage nach der ‚menschlichen Bestimmung‘ darstellt. Spätestens mit Schillers dritter medizinischer Dissertation Versuch über de n Z usammenhang de r t ierischen N atur des Menschen mit seiner geistigen (1780) rückt allerdings die ‚Endlichkeit‘ des Individuums an die Stelle der metaphysischen ‚Unendlichkeit‘ der menschlichen Seele (Kap. I.2.). In Schillers „philosophischen Erzählungen“ Der Spaziergang unter den Linden (1782) und Der J üngling un d de r G reis (1782) sowie in den Gedichten Freigeisterei a us Le idenschaft (1786) und Resignation (1786) erfolgt eine bittere Abrechnung mit der unüberwindbaren Vergänglichkeit des einzelnen Menschen. Wenn das „Universum“ in der ersten medizinischen Dissertation noch als das „Werk eines unendlichen Verstandes“ präsentiert wurde, 3 so erscheint nun die Natur aus dem Blickwinkel des sterblichen Individuums als „ein unflätiges Ungeheuer, das von seinem eigenen Kot, viele tausendmal aufgewärmt, sich mästet“ (Der Spaz iergang u nter de n Linden). 4 Der spätere heroische Nihilismus findet bereits an dieser Stelle sein neues anthropologisches Referenzsystem: Die ‚Natur‘ als ein begrenztes Quantum an Kraft, die Entgegensetzung von kraftvoller Jugend und ermattetem Alter, den Zusammenhang zwischen Machtsteigerung und Glückseligkeit. Die erschütternde Begegnung mit dem Nihilismus macht Schillers Julius in den Philosophischen B riefen (Kap. I.3.): Nachdem er kraft der Vernunft zur Überzeugung gelangt ist, dass ihm die „ganze Schöpfung“ gehöre und er sie „ganz […] genießen“ könne – genau da wird er sich des „unglückselige[n] Widerspruch[s] der Natur“ bewusst: Der Mensch ist „in einer Welt von Würmern verwiesen“. 5 Sowohl die „Theosophie des Julius“ als auch die nach 1780 verfassten Werke, die in Kontinuität mit der antik-christlichen Tradition stehen, sind aus einer sentimentalischen Perspektive heraus zu deuten – sie wurden aus dem Gefühl eines unüberwindbaren Verlustes heraus geschrieben. Mit der Figur des Franz Moor lässt der frühe Schiller in seinem Erstlingsdrama Die Räuber erstmals auch die ‚heroische Moral des Nihilismus‘ auf die Bühne treten (Kap. I.4.). Nicht die konstitutive Bosheit, sondern das ‚Erhabene‘ an dieser Figur stellt – so unsere These – die entscheidende Neuigkeit von Schillers Drama dar. Auch der böse Franz wirkt ‚erhaben‘, weil er in seinem grenzenlosen Streben nach Macht und Größe dem grundlegenden ästhetischen Schema entspricht, das Schiller dann in den 1790er Jahren – dabei bereits in der Abhandlung Über d en Grund des V ergnügens an t ragischen G egenständen – präzis beschreiben wird: Seine anfängliche Ohnmacht als zweitgeborener, von der Natur stiefmütterlich behandelter Sohn der gräflichen Familie Moor vermag er, aus eigener Kraft heraus 3 4 5
NA 20, 10. NA 22, 74f. NA 20, 112.
Resümee Resümee
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in Übermacht zu verwandeln. Wie sich rekonstruieren lässt, stellt auch seine Bestrafung am Ende des Dramas in Schillers Augen hauptsächlich kein ‚moralisches Gericht‘ dar, sondern vor allem eine weitere, dem Künstler zur Verfügung stehende Wirkungsmöglichkeit im Sinne des Sittlich-Erhabenen. Damit stellt auch die Moral hier vor allem ein Mittel zu einem ästhetischen Zweck dar. Die Räuber sind daher nicht vor dem traditionellen moralischen Hintergrund der Philosophie der Liebe als Schillers „Experiment des Universalhasses“ zu verstehen (Hans-Jürgen Schings), sondern sie zeugen vielmehr von dem Primat des Ästhetischen über das Moralische, der schon beim frühen Schiller volle Geltung behält. Der frühe deutsche Dramatiker ist sich bereits der Sterblichkeit des Menschen und der Relativität der Werte völlig bewusst: Die theatralische Laufbahn des Franz Moor, die sich zwischen Erhabenem und Nichts erstreckt, steht nicht von ungefähr am Anfang von Schillers dramatischem Werk und nimmt dabei zentrale Merkmale seiner späteren tragischen Helden vorweg. Eine ähnliche Schärfung des Blicks für die Bedeutung des Ästhetischen erweist sich auch in der Auseinandersetzung mit Alfieris Werk als notwendig. Insbesondere die Rolle des Politischen gilt es beim italienischen Tragiker zu relativieren. Eine eingehende Beschäftigung insbesondere mit den längeren, in den 1770er und 1780er Jahren verfassten Traktaten Della tirannide (Kap. II.1.) und Del principe e delle lettere (Kap. II.2.) erscheint daher in unserem Rahmen als durchaus sinnvoll. ‚Kontinuitäten‘ – etwa mit den zeitgenössischen Theorien des französischen Konstitutionalismus, mit Autoren wie Montesquieu, Mably und Condorcet – können auch bei Alfieri leicht ermittelt werden (Kap. II.1.1.). Mit gutem Grund kann man behaupten, dass das ‚Gesetz‘ in Mittelpunkt von Alfieris Argumentation im Traktat Della t irannide steht und dass der Piemonteser Graf „ein überzeugter, radikaler Verfechter der ‚Souveränität des Gesetzes‘ [war], legalistisch überzeugter vielleicht als jeder andere italienische Autor aller Zeiten“ (Giuseppe Rando). 6 Vor dieser Folie bietet sich der ‚Tyrann‘ als „Gesetzesbrecher“ 7 par excellence geradezu an, zum erklärten Feind stilisiert zu werden: Hier das ‚Gesetz‘, dort der ‚Tyrann‘. Wie sich zeigen lässt, besteht allerdings die eigentliche Neuigkeit von Alfieris Abhandlung nicht in dem Widerspruch zwischen Tyrann und Gesetz, den der Dichter hier vor dem Hintergrund des damals europaweit herrschenden Absolutismus aufstellt. Sie besteht vielmehr in dem ausgesprochenen Interesse, das Alfieri für den Tyrannen und für die Psychologie der Macht in seiner Schrift bekundet (Kap. II.1.2.). Das führt letztlich zu der tatsächlichen zentralen Gegenüberstellung der Abhandlung zwischen tiranno und liber’uomo (Kap. II.1.3.) – Figuren, die allerdings weniger politisch als vielmehr philosophisch-existenziell zu verstehen sind als wesensverwandte Personifikationen der höchsten menschlichen Freiheit, nach der jeder große Mann streben kann. 6 7
Rando: Alfieri europeo, S. 13 (Übers. P.P.). „Infrangi-legge“, Alfieri: Della tirannide, S. 11.
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Resümee Erster Teil
In seiner zweiten Abhandlung Del p rincipe e d elle l ettere nennt Alfieri den liber’uomo, wie nachzuweisen ist, bei seinem eigentlichen Namen: letterato, Schriftsteller. (Kap. II.2.). Die Gegenüberstellung lautet nun: Fürst und Schriftsteller – und damit rückt hier die Beziehung zwischen Macht und Künstlertum direkt in den Mittelpunkt des Traktats. Wenn man Alfieris Fürst und Schriftsteller als strikte Entgegensetzung betrachtet, so stellt der Fürst den zu bekämpfenden Mäzen dar, der nur darum die lettere protegiert, weil er sie damit unschädlich machen will (Kap. II.2.1.). Dabei steht der ‚Fürst‘, selbst korrupt, an der Spitze eines korrupten und dekadenten Machtsystems, von dem sich der Schriftsteller für Alfieri fernhalten sollte. Doch philosophisch-existenziell aufgefasst, zählt Alfieri auch den „Fürsten“ in seiner Abhandlung zu den „großen Männern“, die zum Handeln geboren wurden. Das stellt keinen Widerspruch dar, wenn man den besonderen Blickwinkel des Schriftstellers berücksichtigt: In Alfieris Traktat wird der ‚Fürst‘ schließlich – so die hier vertretene These – auch zu einer Selbstprojektion des erhabenen Schriftstellers, der im unermüdlichen Streben nach Größe die grundsätzliche Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Machtausübung stellt (Kap. II.2.2.). Auch der moralisch verwerfliche ‚Fürst‘ kann groß und erhaben sein. Entscheidend ist hier wiederum die psychophysische Kraft, auf die sich das Projekt zur Größe stützt – und nicht die Moralität des Projekts selbst. „Unter den Besten der Erste oder gar nichts zu seyn“ – so lautet hier lapidar die Alternative (Kap. II.2.3.). Als ‚Schriftsteller‘ ist auch Alfieri über die traditionelle Moral hinaus. Im zweiten Teil der Untersuchung soll dargelegt werden, dass auch die ‚heroische‘ Moral seiner tragischen Helden – wie derjenigen Schillers – sich in dem neuen Koordinatensystem zwischen Erhabenem und Nichts verortet.
ZWEITER TEIL Die heroische Moral des Nihilismus in Schillers und Alfieris Tragödien
I. Verschwörungen 1. Die Konspiration als Kunstwerk. Schillers Verschwörung des Fiesko Eleonora gewidmet Wer von uns sah ohne Beben zu, wen durchdrang nicht lebendige Glut zur Tugend, brennender Haß des Lasters, als, aufgeschröckt aus Träumen der Ewigkeit, von den Schrecknissen des nahen Gerichts umgeben, Franz v on M oor aus dem Schlummer sprang, als er, die Donner des erwachten Gewissens zu übertäuben, Gott aus der Schöpfung leugnete und seine gepreßte Brust, zum lezten Gebete vertrocknet, in frechen Flüchen sich Luft machte? – – 1
Offensichtlich hat Schiller gewusst, was er tat, als er 1802 seine am 26. Juni 1784 vor der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft in Mannheim gehaltene Rede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? in gekürzter Form und mit dem geänderten Titel Die Sc haubühne al s m oralische A nstalt be trachtet in den Band seiner Kleineren prosaischen Schriften übernahm. Der geänderte Titel markiert eine bedeutende Zäsur im Sinne der Autonomieästhetik: Schillers Mannheimer Rede verfolgte noch das Ziel, die ‚Schaubühne‘, nicht zuletzt gegen Rousseau, 2 als moralisch privilegierten Ort für die soziale „Bildung des Verstandes und des Herzens“ durch „edelst[e] Unterhaltung“ zu präsentieren 3 – zur Zeit dieser Rede galt die Schaubühne ja allgemein eher als eine ‚Anstalt‘ billiger und moralisch dubioser Zerstreuung. Im Jahr 1802 konnte der Autor dagegen rückblickend bereits im geänderten Titel auf jene Unterwerfung unter einen moralischen Zweck direkt hinweisen, die der in seiner frühen Rede herbeigesehnte Bund zwischen Schaubühne, Religion und Gesetze implizierte: 4 Die Schaubühne war darin eben als ‚moralische Anstalt‘ betrachtet worden, eine Perspektive, die der Dichter nun nicht mehr einzunehmen brauchte. Vor diesem Hintergrund ist auch die eminent moralische Lektüre des Falls Franz Moor kaum überraschend, die Schiller in der anfangs zitierten Passage der Mannheimer Rede vom Selbstrezensenten der Räuber übernimmt 5 und der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft situationsgerecht darbietet. Doch wäre es naiv zu glauben, dass Schiller in den 1780er Jahren unerschütterlich an den Thesen festgehalten hätte, die er in der Mannheimer Rede aufstellt; ja, dass dramaturgische Theorie und theatralische Praxis in der damaligen Produktion des jungen Dichters Hand in Hand gingen. Der junge Autor, der 1784 vor dem Publikum der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft auf die moralische Wirkung ex negativo seines Franz Moor schwor, wusste bereits allzu gut, dass das Publikum 1 2 3 4 5
NA 20, 92. Vgl. Alt: Schiller. Bd. I, S. 378. NA 20, 90. Vgl. NA 20, 91. Vgl. etwa NA 22, 124.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-016
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nicht unbedingt aus „lebendige[r] Glut zur Tugend“ 6 von der perfekten Darstellung des Lasters gefesselt wird, sondern zunächst einmal im Banne der an sich moralisch-indifferenten inneren Kohärenz, ja der stringenten Logik steht, die dem perfekten Uhrwerk des dargestellten Guten wie des Bösen innewohnt. 7 Und beiläufig gesagt: Das neue Gesellschaftsmitglied musste sich wohl darüber klar sein, dass es für ihn nur kontraproduktiv gewesen wäre, wenn er in seiner Antrittsrede zur Aufnahme in die Gesellschaft gerade auf jene ästhetische und moralisch indifferente Wirkung explizit hingewiesen hätte, die potentiell jede Theaterfigur in einer wohlgeratenen szenischen Verflechtung auslösen kann. Dabei lohnt es sich daran zu erinnern, dass der Antrittsredner im Juni 1784 eine durchaus turbulente Zeit hinter sich hatte: In die zwei Jahre vor seiner Rede fielen seine Flucht aus Stuttgart, die enttäuschten Hoffnungen am Mannheimer Theater, das ‚Exil‘ in Bauerbach sowie schließlich die feste Anstellung als Bühnenautor in Mannheim. 8 Erst seine vom Intendanten des Nationaltheaters, von Dalberg, unterstützte Aufnahme in die Mannheimer Deutsche Gesellschaft am 10. Januar 1784 ermöglichte dem jungen Autor, zum Bürger der Kurpfalz erklärt zu werden – was ihm nicht zuletzt den Schutz des Landesherrn gegen den württembergischen Herzog sicherte. 9 Ende April 1783, einige Monate nach Schillers Flucht aus Stuttgart, erschien zur Frühjahrsmesse das „republikanische Trauerspiel“ Die Verschwörung d es Fiesko z u G enua. Die ersten Aufführungen des Stücks in Bonn und Frankfurt stießen auf mäßiges Interesse, während die speziell zur Mannheimer Inszenierung überarbeitete Version des Dramas Anfang 1784 gar für einen Misserfolg sorgte. Abgesehen von seiner schwankenden Theaterrezeption ist Fiesko in Schillers früher Produktion als signifikanter einzustufen als das ungefähr zur selben Zeit geschriebene, im April 1784 uraufgeführte Drama Kabale und L iebe. Dieses letzte Stück ordnet sich mit einigen Eigenmerkmalen 10 in das modische Genre des ‚bürgerlichen Trauerspiels‘ à la Emilia G alotti ein, eine im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts beliebte Gattung, die nicht zuletzt jenen relativ leichten Publikumserfolg in Aussicht stellte, den auch der sich in chronischer finanzieller Notlage befindende Schiller dringend brauchte. 11 Unweigerlich in die vorhersehbare 6 7
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NA 20, 92. Vgl. die entsprechenden Textpassagen in den bereits zitierten Aufsätzen von Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 22–25 u. Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant, S. 153f. Alt: Schiller. Bd. I, S. 302–328. Ebd., S. 377. Helga Meise: Kabale und Liebe. Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen (1784). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 65–88, hier S. 76f. In seinem Brief vom 8. Februar 1784 an den Theaterregisseur Gustav Friedrich Wilhelm Großmann schreibt Schiller in einem Postskriptum: „Ich darf hoffen, daß es [das Stück Kabale und Liebe] der teutschen Bühne keine unwillkommene Acquisition seyn werde, weil es durch die Einfachheit der Vorstellung, den wenigen Aufwand von Maschinerei und Statisten, und durch die leichte Faßlichkeit des Plans, für die Direction bequemer, und für das Publicum genießbarer ist als die Räuber und der Fiesko“ (NA 23, 131f.). Schillers Worte sind vor dem
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Katastrophe führt auch hier wie bei Lessing ein sich vor allem auf der moralischen Ebene abspielender Konflikt zwischen Bürgertum und Aristokratie – zwischen der proverbialen Integrität und Unschuld einer Bürgertochter und der gemeinen Korruption und Skrupellosigkeit aristokratischer Intriganten. 12 Während Kabale u nd Liebe programmatisch den Geschmack des bürgerlichen Theaterpublikums zu befriedigen sucht, 13 ist bei der Verschwörung d es F iesko eher das Signum des jungen Dichters der Räuber wieder zu erkennen: Sowohl das stark geprägte Interesse für den Themenkomplex der ‚Macht‘ und der ‚erhabenen Größe‘ im Spannungsverhältnis zwischen Politik und Ästhetik als auch bedeutende Merkmale von Schillers dramaturgischer Praxis der frühen 1780er Jahre treten hier eindeutiger in Erscheinung. Doch nicht der Popularitätsgrad des Genres oder des behandelten Themas an sich, sondern gerade die unterschiedliche Rolle, welche die Moral jeweils in der Darstellung des tragischen Konflikts spielt, soll hier als das entscheidende Merkmal betrachtet werden. Denn wenn das ‚bürgerliche Trauerspiel‘ im Laufe des 18. Jahrhunderts, wie erwähnt, zu einem sehr beliebten Genre aufsteigt, so stellen Verschwörungsgeschichten zur selben Zeit eine nicht minder populäre Gattung dar. 14 In einem Brief vom 6. Oktober 1787 an den Verleger Crusius in Leipzig und mit Bezug auf seinen Beitrag über die Niederländische R ebellion unt er P hilipp dem Z weyten schreibt Schiller selbst, dass Geschichten von Verschwörungen, Rebellionen und Meutereien zu dieser Zeit „gleichsam Mode und Waare für den Plaz“ darstellten. 15 Man mag sich fragen, warum dem in dieser Zeit so ist – warum solche Geschichten in der Lage sind, das Interesse des zeitgenössischen Publikums anzustacheln, und ob es gerade ein Zufall ist, dass dieses Interesse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so sehr ausgeprägt ist. Gleichwohl mag man fragen, in welchem Verhältnis traditionelle Moral und Ästhetik bei der künstlerischen Aufbereitung einer Verschwörungsgeschichte stehen oder welche ästhetischen Freiheiten die Behandlung eines solchen Sujets dem Künstler selbst gewährt.
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Hintergrund der Kritik zu verstehen, die Großmann 1783 gerade an jenen „dramaturgischen Freiheiten“ von Schillers Fiesko ausgeübt hatte, welche die Aufführung des Stücks beträchtlich erschwerten. Dazu Alt: Schiller. Bd. I, S. 329f. Ob es sich dabei dennoch so eindeutig sagen lässt, dass Schillers Stück sowohl „die bürgerliche Familie“ als auch „die Revolution“ vorwegnimmt (Meise: Kabale und Liebe, S. 79), ist allerdings fraglich. In diesem ‚unpolitischen‘ Sinne kann man Kabale und Liebe doch ein „demagogisches Drama“ (E. Auerbach) nennen – und zwar nicht, weil es „ein[en] Dolchstoß in das Herz des Absolutismus“ darstellte, wie Korff es wollte, sondern vielmehr, weil es deutlich mit dem Erwartungshorizont des Theaterpublikums spielt. Vgl. Helmut Koopmann: Friedrich Schiller. 1759–1794. Stuttgart 1977, S. 46. Zu diesem Thema vgl. neuerdings Torsten Hahn: Das schwarze Unternehmen. Zur Funktion der Verschwörung bei Friedrich Schiller und Heinrich von Kleist. Heidelberg 2008. Vgl. dazu außerdem Peter-André Alt: Dramaturgie des Störfalls. Zur Typologie des Intriganten im Trauerspiel des 18. Jahrhunderts. In: Internationales Archiv für die Sozialgeschichte der Literatur 29/1 (2004), S. 1–28. NA 24, 160.
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So wie die Theaterform des ‚bürgerlichen Trauerspiels‘ ist auch die literarische Bearbeitung oder dramaturgische Inszenierung von Verschwörungen, Rebellionen und Meutereien in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst einmal dazu bestimmt, die Erwartungen und Bedürfnisse nach spannender Unterhaltung einer in diesen Jahrzehnten immer breiter werdenden Öffentlichkeit zu befriedigen, eines Publikums, das in nuce, wie treffend bemerkt wurde, bereits alle Merkmale trägt, welche die anonyme und standardisierte Masse der modernen Kunstkonsumenten kennzeichnet. 16 Dass jenes steigende Bedürfnis nach Unterhaltung, das den Kunstbetrieb beflügelt, auch die Tätigkeit des Künstlers steuert und bedingt, überrascht kaum. Doch auch im Kampf gegen das moderne Phantom des ennui – der komplementären Gegen- und Begleiterscheinung einer immer aktiver, produktiver und rascher werdenden Gesellschaft 17 – stehen dem Künstler mehrere Waffen zur Verfügung. Nicht selten holt sich der Künstler im 18. Jahrhundert sein Rüstzeug direkt aus dem Arsenal der Geschichte – einem virtuellen Ort, in dem es von Verschwörern und Rebellen geradezu wimmelt. Der Künstler wirbt um die Gunst seines Publikums, indem er eine ‚wahre Geschichte‘ darbietet – eine historisch überlieferte Begebenheit, deren jeweils zur dramatischen Überarbeitung verwendeten Quellen er durchaus zur gezielten Steigerung des Echtheitseffekts auch explizit angeben kann. 18 Der Umstand, dass jeder ‚wahren Geschichte‘ ein publikumswirksamer Appeal eigen ist, ist ja auch im 18. Jahrhundert bekannt. Und doch: Was ist wirklich ‚wahr‘ an einer ‚wahren Geschichte‘? Es stellt sich hier die grundsätzliche Frage nach der Beziehung zwischen ‚historischer Tradierung‘ und ‚ästhetischer Darstellung‘, ja zwischen ‚Inhalt‘ und ‚Form‘, wobei sich äußere Form und inhaltliche Wiedergabe unvermeidlich gegenseitig bedingen. 19 Im Grunde genommen präsentiert sich jede historische Überlieferung notwendigerweise in einem ‚ästhetischen Ornat‘ – mit all den hermeneutischen Implikationen, die sich daraus ergeben. Doch ist man insbesondere bei Verschwörungs- und Komplott-Geschichten oft damit konfrontiert, dass die historischen Quellen, nicht zuletzt auf Grund der selbstverständlichen Verpflichtung der Verschwörer zur strikten Geheimhaltung 16 17
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Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 19. Vgl. Martina Kessel: Langeweile. Zum Umgang mit Zeit und Gefühlen in Deutschland vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2001; Reinhart Koselleck: Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a.M. 2000 und Stefanie Stockhorst: Zeitkonzepte. Zur Pluralisierung des Zeitdiskurses im langen 18. Jahrhundert. Zur Einführung: Von der Verzeitlichungsthese zur temporalen Diversität. In: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des Achtzehnten Jahrhunderts 30 (2006), S. 157– 164. Vgl. beispielsweise Schillers Vorrede zur Verschwörung d es Fiesko, die mit folgenden Angaben ansetzt: „Die Geschichte dieser Verschwörung habe ich vorzüglich aus des Kardinals von Retz Coniuration du Comte Jean Louis de Fiesque, der Histoire des Coniurations, der Histoire de Gènes und Robertsons Geschichte Karls V. – dem 3ten Theil – gezogen“, NA 4, 9. Zum ambivalenten Verhältnis von Geschichtsschreibung und Kunst ab dem 18. Jahrhundert vgl. Daniel Fulda: Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860. Berlin u. New York 1996 (European cultures, 7).
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ihrer Umsturzpläne, naturgemäß lückenhaft sind, so dass der Dramatiker bei der künstlerischen Systematisierung der darzustellenden Ereignisse an mehreren Stellen einfach freie Hand hat – und selbstverständlich gerne davon Gebrauch macht. In der „Erinnerung an das Publikum“ zur Uraufführung des Fiesko in Mannheim schreibt Schiller deutliche Worte über die dramaturgischen „Freiheiten“, die er sich in seinem Drama gegenüber den historischen Quellen genommen habe: „[E]ine einzige grose Aufwallung, die ich durch die gewagte Erdichtung in der Brust meiner Zuschauer bewirke, wiegt bei mir die strengste historische Genauigkeit auf“ 20 – eine Stellungnahme, die zwar hier primär dazu dient, eine mögliche Kritik gegen sein jüngstes Stück vorwegzunehmen und dadurch zu entschärfen, die aber auch Schillers grundsätzliche Haltung gegenüber den von ihm verwendeten Quellen offen legt. Nicht nur die generelle Unabhängigkeit gegenüber den historischen Begebenheiten bei der Einordnung und Gestaltung des Plots gewährt dem Künstler in der Auseinandersetzung mit einer überlieferten Verschwörungsgeschichte einen beträchtlichen Freiraum. Über freie Spielräume verfügt der Dramatiker auch bei der stets heiklen Positionierung seines Kunstwerks gegenüber der souveränen Macht, die nicht zuletzt den langen Arm des Zensors zur Selbstverteidigung steuert. Verschwörungsgeschichten stellen naturgemäß subversive Momente und nicht selten geradezu frevelhafte Handlungen dar. Dabei kann der Erzähler oder Dramatiker allerdings für sich bestimmen, ob die dargestellten Ereignisse als subversiv oder gar als frevelhaft auf das Publikum wirken oder umgekehrt als legitime politische Mittel zu einem höheren Zweck in Erscheinung treten sollen. 21 Der Dramatiker kann seinen Stoff etwa aus dem Blickwinkel eines Machthabers darstellen, der einen Verschwörungsversuch erleidet, ohne dabei das Leben zu verlieren. Das ist zum Beispiel bei Mozarts opera s eria L a c lemenza di T ito von 1791 der Fall – einer Oper, die auf einem Libretto des italienischen Hofdichters Pietro Metastasio basiert und wohl ein im 18. Jahrhundert an Höfen nicht selten gestimmtes Hohelied auf die Herrschertugend der Großmut darstellt. Oder der dramatische Schriftsteller präsentiert seinen Stoff aus dem umgekehrten Blickwinkel, das heißt als einen heldenhaften Freiheitskampf gegen einen tyrannischen Herrscher und seine Nachkommenschaft, wobei in diesem Fall ein mehr oder minder offenkundiges, von einem Machthaber unschuldigen Menschen zugefügtes Unrecht den dargestellten Akt politischer Revolte rechtfertigen soll. Die künstlerische Darbietung einer Verschwörung ist per se keinesfalls als politisch revolutionär oder gar subversiv zu 20 21
NA 4, 271. In der Schiller-Forschung hat Maria Carolina Foi diesem Thema grundlegende Studien und Aufsätze gewidmet. Vgl. etwa Maria Carolina Foi: La giurisdizione delle scene. I drammi politici di Schiller. Macerata 2013; Dies.: La buona causa e i mezzi ignobili. In: Friedrich Schiller: Don Carlos. Hg. v. Maria Carolina Foi. Venezia 2004, S. 11–47 sowie Dies.: Recht, Macht und Legitimation in Schillers Dramen. Am Beispiel von Maria Stuart. In: Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, S. 227–242.
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betrachten. Im Gegenteil kann sie durchaus stabilisierend auf den politischen status quo wirken, und zwar nicht nur, wenn der gefällige Dramatiker den Blickwinkel eines ‚tugendhaften‘ Machthabers wählt, sondern auch, wenn er offensichtliches Unrecht zur Legitimation einer destabilisierenden Aktion darstellt oder wenn er gar den vorhandenen politischen Unmut seiner Zuschauer auf der Bühne ästhetisch sublimiert – und ihn dadurch gleichsam entschärft. Zugespitzt formuliert: ‚Erhabene Größe‘ können der gute Verschwörer wie der böse Herrscher, der gute Herrscher wie der böse Verschwörer zeigen. Einmal mehr ist gerade die autonome Perspektive von Interesse, von der aus der Dramatiker seine Verschwörungsgeschichte inszeniert, sowie die Kunstgriffe und Tricks, die er in seiner Darstellung der Machtverhältnisse verwendet, damit sein dramatisches Werk auch ästhetisch wirkungsvoll und somit erfolgreich wird. 22 Im 18. Jahrhundert stellen Pläne, Ziele, Hoffnungen und Ängste von Intriganten und Verschwörern sowie ihrer prädestinierten Opfer ein erprobtes Heilmittel auch im Kampf gegen die Langeweile dar. Doch damit nicht genug: Wie richtig bemerkt wurde, sorgen Verschwörungsgeschichten nicht nur für spannende Unterhaltung, sondern sie ermöglichen dem Kunstrezipienten auch, sich „mit gutem Gewissen durch schaurige Vorfälle unterhalten zu lassen“, 23 wobei sich das ‚Böse‘, ja das moralisch Verwerfliche tout c ourt in besonderem Maße in der Lage zeigt, eine geradezu unwiderstehliche Anziehungskraft auszuüben. So bekommt auch das ‚Böse‘ im 18. Jahrhundert jenseits des ethischen Horizonts der Epoche eine rein ästhetische Rolle zu spielen, die es stets zu berücksichtigen gilt. Denn in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts wird es im stark anwachsenden Kunstbetrieb immer deutlicher, dass auch Gewalt, Grausamkeit und Leid ästhetisches Vergnügen erzeugen und dass sie zu diesem Zweck gezielt eingesetzt werden können – ohne dabei im Übrigen das tradierte Wertesystem im Geringsten zu gefährden, wenn die Figur des ‚Bösen‘ am Ende ihrer fiktionalen Laufbahn für ihre Straftaten, ja für ihre ‚Sünden‘, vor Gott und den Menschen konsequent bestraft wird. Der heilsgeschichtliche Rahmen, der im Drama des Barock noch eine starke zentripetale Kraft ausübte und durchaus in der Lage war, auch das im Stück enthaltene ‚Böse‘ in der Logik eines alles durchdringenden, höheren Zwecks aufgehen zu lassen, 24 vermag in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht mehr, dem Kunstwerk einen einheitlichen Sinn zu verleihen. Im Laufe des Jahrhunderts der Aufklärung bricht der geschlossene Horizont der christlichen Weltanschauung allmählich auf und die Zuversicht auf die vereinheitlichende Kraft einer allmächti22
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Was für den Dramatiker wiederum nichts Anderes bedeutet, als dem Schema des Erhabenen zu folgen: zunächst einmal – mit dem Schiller der 1790er Jahre gesprochen – das konsequente und moralisch-indifferente Spektakel der „Zweckmäßigkeit“ zu inszenieren; dann „die moralische Zweckmäßigkeit in uns“ zu befriedigen. Vgl. Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 136 u. 141. Vgl. Hahn: Das schwarze Unternehmen, S. 27. Vgl. ebd., S. 12f.
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gen Vorsehung lässt langsam nach. Es ist kein Zufall, wenn das Drama der Spätaufklärung auch ein verändertes Verhältnis der Protagonisten zum Problem der ‚Kontingenz‘ widerspiegelt, ja wenn es eine neue existenzielle Haltung des Individuums zum Möglichen, Planbaren und Zufälligen im Leben erkennen lässt. Diese Haltung stellt nicht von ungefähr eine der Signaturen dieser Umbruchsepoche dar. 25 Auch vor dem Hintergrund eines neuen Umgangs mit der ‚Kontingenz‘ und ihrer ‚Steuerungsmöglichkeiten‘ erweisen sich Verschwörungsgeschichten, in einer für die Moderne durchaus signifikanten Verflechtung von existenziellen und ästhetischen Implikationen, als besonders geeignet, die Erwartungen des zeitgenössischen Publikums zu befriedigen. Schließlich ist das, was bei der künstlerischen Inszenierung dieser Geschichten auf der Bühne dargestellt wird, nicht nur für rein politische Akteure relevant, sondern es liefert viel prinzipieller auch ein allgemeines Beispiel, wie das moderne Individuum durch gezielte Ausübung der eigenen Freiheit, im weitesten Sinne aufgefasst, das eigene ‚Schicksal‘ sinnvoll gestalten kann, nachdem für ihn existenziell kein einheitlicher Sinnhorizont mehr gegeben ist. Dass die Sphären des Lebens und der Kunst genau an diesem Punkt augenscheinlich in Berührung kommen – dies vermögen Verschwörungsgeschichten sehr deutlich zu zeigen. Auf der politischen Ebene setzen hier die agierenden Figuren, ob Verschwörer oder Machthaber, eine Maske auf, um die eigenen Interessen besser durchzusetzen oder den eigenen Machtbereich zu sichern. Auf der ästhetischen Ebene ist der Dramatiker andererseits selbst dazu berufen, gerade die innere Logik der politischen Macht, die er darstellt, zu durchdringen, um auch den eigenen ‚Plan‘, das eigene ‚Kunstwerk‘ zum Erfolg zu bringen. Nur ‚Zweckmäßigkeit‘ führt sowohl zum politischen als auch zum ästhetischen Erfolg – jene ‚Zweckmäßigkeit‘, in der Schiller später auch die „allgemeine Quelle jedes, auch des sinnlichen Vergnügens“ 26 erkennen wird. Doch allgemein betrachtet und jenseits von Schillers späterer Theorie und Poetik der dramatischen Kunst ist ‚Zweckmäßigkeit‘ zunächst a-moralisch, das heißt moralisch indifferent, 27 so dass etwa die durchdachten Pläne eines blutrünstigen Bösewichts zur Durchsetzung eines kriminellen Ziels an sich genauso gut eine Quelle des ästhetischen Vergnügens darstellen wie die ausgewogenen Bemühungen einer schönen Seele um die Rettung gefährdeten menschlichen Lebens. Ob Herrscher, Verschwörer oder Dramatiker – wer Erfolg haben will, der muss zunächst im jeweiligen Machtbereich ‚autonom‘, das heißt ohne Rücksicht auf traditionelle moralische Normen und Werte, handeln und wirken. Auf europäischer Ebene stellt die Logik der politischen Macht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – in dem Moment, da etwa in Deutschland auf philosophischer Ebene eine starke Debatte über die metaphysisch begründete „Bestim25 26 27
Vgl. ebd., S. 10–12. Vgl. Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 136. Vgl. Steinhagen: Der junge Schiller zwischen Marquis de Sade und Kant, S. 154.
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mung des Menschen“ geführt wird – bereits und zunehmend offensichtlich eine Logik der kalten Betrachtung und des zielgerichteten Kalküls dar, eine Logik, die gegenüber den Normen der traditionellen Moral an sich völlig indifferent ist und welche die Kraft dieser Normen auf der praktischen Ebene höchstens weiter ausnützt, um die eigenen Zwecke noch besser durchsetzen zu können. 28 Instrumente zur Macht stellen hier lediglich ein klarer Kopf und eine möglichst hohe Dosis an Durchsetzungskraft dar – ‚Zweckmäßigkeit‘ ist hier ja angesagt. Dabei wird die Perspektive zunehmend individualistischer: Die gottgewollte Ordnung der Kette der Wesen und die gesellschaftliche Ordnung, die sich daraus ergibt, verliert allmählich an Verbindlichkeit, und das Individuum muss nun immer mehr allein und auf eigene Rechnung um jene ‚Freude‘ kämpfen, die, zumindest in den philosophischen Debatten dieser Jahre immer noch, als ausschließlich kollektive Teilhabe des Menschen am ewigen Fest der Schöpfung dargestellt wird. Es ist kein Zufall, wenn die Sphären der Politik und der Ästhetik, ja die Sphären der Macht und des Scheins im 18. Jahrhundert so nahe aneinanderrücken. Das ist als Folge des progressiven Verbindlichkeitsverlustes zu betrachten, den die Normen und Werte der traditionellen Moral, zumindest in ihrem Anspruch auf Einheitlichkeit und Allgemeingültigkeit, in diesem Jahrhundert erfahren. Und tatsächlich: Je ‚autonomer‘ die Politik vom Cinquecento an wird, desto williger bedient sie sich des ästhetischen Scheins, um ihre Zwecke zu erzielen. Und umgekehrt: Je ‚autonomer‘ die Ästhetik im Laufe des 18. Jahrhunderts wird, desto williger macht sie sich gerade Machtstrategien zu eigen, um ihre Erfolge zu erzielen. Eine neue Moral ist hier offensichtlich am Werk. Vor dem Hintergrund des wechselseitigen Verhältnisses von Ästhetik und Politik im 18. Jahrhundert ist die Analyse von Schillers Verschwörung d es Fiesko zu Genua zu verorten. Die Forschung hat sich schon lange bemüht, in den frühneuzeitlichen Verhaltenstheorien und Klugheitslehren für den Hofmann, in den unterschiedlichsten Fürstenspiegeln sowie in den Schriften und Traktaten über Staatskunst aus dem 16. und 17. Jahrhundert mögliche Quellen für Schillers ‚politische‘ Helden ausfindig zu machen. Immer wieder werden in der Forschungsliteratur Autoren wie Baldassarre Castiglione, Diego de Saavedra Fajardo, Baltasar Gra28
Die Trennung von Moral und Politik – wie Panajotis Kondylis treffend bemerkt hat – bedeutet bereits seit der Renaissance keineswegs, dass „die beiden sich nicht in der Praxis kreuzen, auch wenn sie als Haltungen gegensätzlich sind, im Gegenteil: Die Moral ist eine Größe, die die Politik ausloten muß, umgekehrt trifft dies nicht zu. Daraus folgt, daß die Politik die Moral nicht immer mit Füßen treten muß, sie kann ihr sogar unbedingt folgen, wenn dies der beste Weg ist, ihre Ziele zu erreichen“, Panajotis Kondylis: Machiavelli. Berlin 2007, S. 29. Die politische Ausnutzung der Moral kann daher im 18. Jahrhundert bereits auf eine Jahrhunderte lange Tradition zurückblicken. Glaubt man, dass die katholische Kirche in der Ausübung ihrer weltlichen Macht in der Renaissance keine Trennung von Moral und Politik gekannt hätte, so irrt man gewaltig: „[D]ie Politik in der italienischen Renaissance [ist] eine durch und durch weltliche Größe, die von der katholischen Kirche auch so betrachtet wird; die Kirche lässt die gregorianischen Reformen still beiseite und verfolgt ihre politischen Ziele, ohne sich noch allzu sehr auf ihre göttliche Legitimation zu berufen“, ebd., S. 15.
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cián, Niccolò Machiavelli sowie Jean Bodin und Thomas Hobbes erwähnt. 29 Von Schillers Fiesko wird tout court behauptet, er habe „Machiavellis Lehren gründlich studiert“ 30 – und übrigens: Auch „Franz Moor, […] der Präsident Walter und sogar der zwiespältige Idealist Posa“ erwiesen sich „als kundige Leser des Principe“. 31 Doch bei der entscheidenden Frage, ob Schiller die politischen Staats- und Verhaltenslehren der Frühen Neuzeit aus erster Hand gekannt habe, muss man sich zunächst mit dem bescheidenen Resultat begnügen, dass „eine direkte Rezeption […] weder für Machiavelli noch für Gracián oder einen anderen namhaften Autor belegt“ ist – wobei ein „breiter Strom indirekter Vermittlung vorauszusetzen“ sei. 32 Wie dem auch sei – die Frage nach Schillers direkter oder indirekter Kenntnis der frühneuzeitlichen Staatstheorien bleibt selbstverständlich nicht nur für eine reine Quellenforschung relevant. Noch relevanter erscheint jedoch die Frage, aus welchem Blickwinkel der frühe Schiller auf die Sphäre der Politik geschaut hat. Und um diese grundlegende Frage zu beantworten, ist es notwendig, einmal mehr den Primat des Ästhetischen 33 in Schillers Œuvre hervorzuheben. Schillers komplexes Verhältnis zur ‚Politik‘ erscheint verständlicher, wenn man sich zunächst darüber klar wird, dass das Interesse des Dichters für die Sphäre der Macht nicht primär politisch begründet ist – was man allzu schnell vor dem Hintergrund der Rezeption des Dichters im 19. Jahrhundert glauben möchte –, sondern im Wesentlichen ästhetisch motiviert ist. Schiller beschäftigt sich nicht als Staatstheoretiker, sondern als Schriftsteller und Dramatiker mit der Sphäre der Politik: 34 Seine genuin ästhetische Reflexion über die Wirkungsmechanismen der Theaterkunst führt ihn wie kaum einen anderen Dichter der deutschen Spätaufklärung dazu, die eigentümliche Wechselbeziehung zu erkennen, die zwischen Ästhetik und Politik als Folge ihrer beider progressiven Autonomisierung von der traditionellen Moral besteht. Mit anderen Worten: Im kulturellen Kontext der 29
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Vgl. etwa Kurt Wölfel: Machiavellische Spuren in Schillers Dramatik. In: Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack (Hg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen 1990, S. 318–340; Peter-André Alt: Machtspiele. Die Psychologie des politischen Dramas in Schillers Don Karlos. In: Christine Maillard (Hg.): Friedrich Schiller. Don Carlos. Théâtre, psychologie et politique. Strasbourg 1998, S. 117–141; Alt: Schiller. Bd. I, S. 340; Daniel Fulda: Tradition und Transformation des frühneuzeitlichen Politikverständnisses in der Verschwörung des F iesko z u G enua. In: Bernd Rill (Hg.): Zum Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension. München 2009, S. 25–34. Alt: Schiller. Bd. I, S. 343f. Ebd. Auch für Norbert Oellers hat Fiesko „wohl Machiavellis Principe gelesen, doch fehlt ihm die ‚virtù‘, um konsequent handeln zu können“, Norbert Oellers: Schiller. Elend der Geschichte, Glanz der Kunst. Stuttgart 2005, S. 145. Fulda: Tradition und Transformation, S. 34. Zur Dialektik von Verstellung und Durchschauen im 18. Jahrhundert auch in Bezug auf Schillers Fiesko vgl. Ders.: Wissen und Nicht-Wissen von anderen Menschen. Das Problem der Gemütererkenntnis von Gracián bis Schiller. In: Hans Adler u. Rainer Godel (Hg.): Formen des Nichtwissens der Aufklärung. München 2010, S. 483–504. Vgl. Middel: Schiller und die Philosophische Anthropologie, S. 2. Was sich im Übrigen auch von Alfieri sicher sagen lässt.
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Spätaufklärung wird sich Schiller – zieht man auch nur sein theatralisches Werk in Betracht – wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor über die ästhetischen Implikationen der politischen Machtausübung klar. Dabei gilt sein Interesse allerdings nicht der Staatskunst, sondern der Theaterkunst – es gilt primär nicht der politischen, sondern der theatralischen Praxis. Daher ist hier auch keine in sich geschlossene Reflexion über die Staatskunst zu erwarten sowie keine Antwort auf die bei ihm erst nach 1789 entscheidend werdende Frage, ob und wie das politische Handeln auch ethisch sein könne, ja, ob und wie das strategische ‚Spiel zur Macht‘ in der Lage sei, sich in ein ethisch-ästhetisches Spiel mit gesellschaftsbindenden Folgen zu verwandeln. 35 Wenn man vor dem beschriebenen Hintergrund in der Auseinandersetzung mit Schillers Dramen stets ein besonderes Augenmerk auf die ästhetische Seite legt, so wird bald auch jenes bemerkenswerte Geflecht von Ästhetik und Politik, ja von Schein und Machtausübung auf einmal verständlicher, mit dem sich auch der Leser und Zuschauer von Schillers Verschwörung des Fiesko immer wieder konfrontiert sieht. Das Spannungsverhältnis von „Freiheitsheld und Tyrann“ 36 bei Fiesko und die damit verbundenen, durchaus problematischen Implikationen in politicis wurden in der neueren Schiller-Forschung punktuell beschrieben. An diese Forschungsergebnisse kann auch in unserem Rahmen direkt angeknüpft werden. Doch wenn man Schillers dramaturgisches Interesse am darzustellenden politischen Stoff deutlicher in den Blick nimmt, so vermag man auch die Forschungsperspektive entschieden zu erweitern. Und auch wenn bereits Schillers Bezeichnung des Fiesko als „republikanisches Trauerspiel“ vor allem den politischen Stoff des Dramas in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt, sind sowohl die Stärken als auch die durchaus charakteristischen Schwächen des Titelhelden am Ende nicht politisch, sondern primär ästhetisch motiviert. Schon beim ersten Aufgehen des Vorhangs wird die Bedeutung klar, die gerade das ästhetische Spiel, ja das „Spiel im Spiel“ 37 in Schillers Fiesko besitzt. Es ist durchaus bezeichnend, dass Schillers Leser und Zuschauer gleich in der ersten Szene des Stücks in einen Maskenball eingeführt wird, der im Hause des Titelhel35
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Vgl. dazu Daniel Fulda: Komödiant vs. Kartenspieler? Differenz und Zusammenwirken von ästhetischem und strategischem Spiel bei Schiller. In: Peter-André Alt, Marcel Lepper u. Ulrich Raulff (Hg.): Schiller, der Spieler. Symposion zum 250. Geburtstag. Göttingen 2013, S. 19–44. Vgl. dazu neuerdings auch Paolo Panizzo: Schiller e la storia come soggetto sublime. Convergenze e divergenze tra la Antrittsvorlesung e il saggio Über d as E rhabene. In: PROSPERO. Rivista di letterature e culture straniere. Monographische Ausgabe zum Thema „Letteratura e Storia“. Hg. von Henry Pageaux, XXI (2016), S. 35–55. In seinem Aufsatz: Schillers Fiesko: Freiheitsheld und Tyrann. In: Schiller und die höfische Welt, S. 341–358, hat Peter Michelsen fundamentale Bemerkungen zu Schillers zweitem Drama geliefert, die dann auch von anderen Interpreten weitgehend übernommen wurden: Vgl. etwa Rolf-Peter Janz: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua. In: Walter Hinderer (Hg.): Schillers Dramen. Stuttgart 1992, S. 68–104 sowie Alt: Schiller. Bd. I, S. 334–351. Nikola Roßbach: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel (1783). In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 53–65, hier S. 62.
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den stattfindet. Symbolisch stehen die geladenen Gäste dabei offensichtlich nicht für jene geschlossene Gemeinschaft der vernünftigen Wesen, die sich selbst als Mittelpunkt der göttlichen Schöpfung im Jahrhundert der Aufklärung feiert. 38 Keinesfalls erscheinen die maskierten Einzelnen bei Lavagna als ein in den italienischen Cinquecento zurückprojizierter, repräsentativer Teil jener idealen menschlichen Gesellschaft der ‚Millionen‘, die in der vielleicht schönsten Utopie des 18. Jahrhunderts als miteinander „umschlungen“ 39 vorgestellt werden. Und keinesfalls schlürfen sie dabei am Becher jener ‚Freude‘, die Schiller noch Mitte der 1780er Jahre in seiner berühmten Ode feiert. 40 Bei Lichte besehen ist den bei Fiesko versammelten Gästen nur der Umstand gemeinsam, dass sie eine Maske tragen. Hinter dieser Maske verbirgt sich jedoch keine zusammenhängende Menschheit, die sich an einem gemeinsamen ‚galanten‘ Gesellschaftsspiel beteiligt, sondern nur eine vollkommen atomisierte Ansammlung von Menschen, wo jedes Individuum nicht in existenzieller Gemeinschaft mit den anderen, sondern umgekehrt im Kampf gegen die Ansprüche der Mitmenschen versuchen muss, das eigene private Interesse im völligen Alleingang durchzusetzen. 41 Nicht im Hinblick auf die res publica, sondern nur auf Grund privater Leidenschaften, denen jeder geradezu ausgeliefert zu sein scheint, handelt jeder Teilnehmer an Fieskos Maskenball. Am Versiertesten in der gegebenen Situation, ja am Gewandtesten in der feinen Kunst der Selbstverhehlung und des Durchschauens aller „Konkurrenten und Mitspieler“ 42 erweist sich erwartungsgemäß der Titelheld und Gastgeber – die Figur, die sich hier nicht zufällig am wenigsten von den eigenen Leidenschaften steuern lässt, ja die sich diesen gegenüber am kältesten zeigt. Während alle Gäste eine Maske sozusagen unmittelbar über dem eigenen Gesicht tragen, so dass der in Fragen von Trug und Schein bewanderter Gastgeber leichtes Spiel hat, seine Gäste nach wenigen Äußerungen wortwörtlich zu ‚demaskieren‘ und bei ihren eigentlichen Namen zu nennen 43 – während alle Gaste nur eine Maske tragen, besteht die besondere Fertigkeit des Grafen Lavagna gerade darin, bereits in der ersten Szene des Dramas 38
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Gebrochen wird hier somit mit einem grundlegenden Paradigma des Erhabenen in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts – man denke an Klopstocks berühmte Ode Der Frühlingsfeier (1759/71). Zum Erhabenen in Klopstocks Ode vgl. Paul Böckmann: Die Sprache des Erhabenen in Klopstocks „Frühlingsfeier“. In: Ders.: Formensprache. Studien zur Literarästhetik und Dichtungsinterpretation. Hamburg 1966, S. 98–105. Schiller: An die Freude, NA 1 169–172, hier S. 169; NA 2i, 185–187, hier S. 185. Ebd. Dass dies auch den alten Erzrepublikaner Verrina betrifft, wird spätestens im zwölften Auftritt klar, in dem der alte Patriot „Vaterherz“ und „Bürgerpflicht“ in einem Atemzug erwähnt und damit deutlich macht, dass er eigentlich nicht in der Lage ist, zwischen privater und öffentlicher Ebene zu unterscheiden – was dem Kampf um die Republik nur schaden kann (NA 4, 35). Fulda: Komödiant vs. Kartenspieler, S. 35. „Eine männliche Antwort, und – das ist Verrina!“, rät Fiesko im siebten Auftritt aus, NA 4, 22. Im darauffolgenden Auftritt wird Scipio Bourgognino erkannt, bevor er seinen Namen nennt, NA 4, 24.
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(mindestens) eine doppelte Maske zu tragen. Wenn der Titelheld seine „weiße Maske“ 44 abnimmt und seine Gäste demnach das ‚wahre‘ Gesicht des Grafen vor sich zu haben glauben, so hat Fiesko schon lange seine zweite Maske aufgelegt, nämlich die Maske des „Epikuräer[s]“. 45 Die Irritation, welche dieses auslöst, wird dabei an der wiederholten Frage des Verrina deutlich: „Ist das deine wahre ernstliche Meinung?“. 46 Verrina will nicht glauben, dass Fiesko nicht mehr an der Zukunft der Republik Genua interessiert ist, wie er eben nur vortäuscht – zumal er bereits früh erkannt hat, dass Fiesko „seine Freunde geschwinder in ihren Masken [findet], als sie ihn in der seinigen“. 47 Doch am Ende hält auch Verrina Fieskos zweite Maske für sein ‚wahres Gesicht‘. Die erste Manipulation des Grafen erweist sich im Drama auf doppelte Weise als erfolgreich: Von den anderen Figuren auf der Bühne wird Fiesko in Schillers Stück für einen dekadenten Epikureer gehalten; das Publikum der Verschwörung ahnt dagegen – spätestens vom achten Auftritt an, in dem Fiesko Bourgognino direkt auffordert, zu „überlegen“, warum „Fiesko so und nicht anders handelt“ 48 –, dass etwas mit dem angeblichen Epikureismus des Grafen nicht stimmig ist. In Schillers Drama stellt sich Fiesko bewusst für die gute Sache der Republik als verloren dar. Doch dabei besteht sein wahrer Kunstgriff darin, sich prinzipiell für jede ‚Sache‘ als verloren zu präsentieren, um somit schon im Vorfeld die Gefahr zu neutralisieren, von den anderen Konkurrenten und Mitspielern als mögliche aktive Widersacher des republikanischen Ideals verstanden zu werden. Absolute Passivität und Ohnmacht in politicis wird hier strategisch vorgetäuscht: Von einem „gesunkene[n] Sohn der Republik“, 49 für den Fiesko hier gehalten wird, könne ja keine Gefahr ausgehen; für einen solchen ‚Sohn‘ sollte man höchstens Verachtung übrig haben. Dennoch erahnt das Publikum an dieser Stelle schon, dass sich Fiesko hier strategisch als schwächer zeigt als er in Wirklichkeit ist, um seine Interessen und Ziele am Ende umso kräftiger und stringenter durchzusetzen. Die Maske des dekadenten Epikureers eignet sich perfekt zu diesem Zweck – über die theatralische Wirkung dieses Kunstgriffs mag sich Schiller wohl im Klaren gewesen sein. Doch auch über die dramaturgische Bedeutung in Schillers Stück hinaus gibt die ‚Maske‘ des Epikureers – nun mal abgesehen davon, dass sie bei Schiller von einem Vertreter einer der ältesten aristokratischen Familien nicht nur Genuas, sondern ganz Italiens getragen wird 50 – auch einen soziologischen Typus wider, 44 45 46 47 48 49 50
NA 4, 15. NA 4, 21. NA 4, 23f. NA 4, 22. NA 4, 25. NA 4, 23. Andrea Lercari: La nobiltà civica a Genova e in Liguria dal Comune consolare alla Repubblica aristocratica. In: Marino Zorzi, Marcello Fracanzani u. Italo Quadrio (Hg.): Le aristocrazie cittadine. Evoluzione dei ceti dirigenti urbani nei secoli XV-XVII. Padova 2009, S. 227–362, hier S. 258.
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der in einer bestimmten Phase der italienischen Renaissance durchaus nicht nur am gesellschaftlichen Rande zu finden war. Ein knapper Exkurs dazu mag an dieser Stelle angebracht sein, um historisch-politische Aspekte deutlich zu machen, die Schiller allerdings beim Verfassen seines Dramas so gut wie kaum interessiert haben mögen. Wenn man etwa die florentinische Republik am Ende des Quattrocento in Betracht zieht, so stellt man fest, dass „die Schicht der müßiggehenden Privatiers, der oziosi und scioperati, [...] in der Zeit Lorenzos de’ Medici voll herausgebildet“ war, ja dass die „Privatiers [...] nun den Kern, den wichtigsten Teil des Bürgertums“ darstellten. 51 Erkennt man gerade im ‚Bürger‘ den gesellschaftlichen Hauptträger der Erneuerungen, welche die Renaissance nach sich zog – denn „[a]ls Typus war der Bürger ein Revolutionär, insoweit als sein praktisches Handeln es erforderlich machte, die mittelalterliche Lebenseinstellung und Weltanschauung zu verwerfen“ 52 –, so kann man gegenüber dem späteren Konservativismus jener im Laufe der Zeit sozial aufgestiegenen und bis zu Privatiers gewordenen ‚Bürger‘ durchaus den Schluss ziehen, dass die Renaissance „dem Bogen der gesellschaftlichen Klasse [folgte], die sie geprägt hatte – sie begann republikanisch und endete höfisch“. 53 Wenige Jahrzehnte nach dem Tod des Lorenzo il Magnifico in Florenz schickt sich in Genua die Familie Doria an, sich als Erbdynastie innerhalb der Regierung der Seerepublik zu etablieren. Im Jahre 1528 hatte Andrea Doria eine Verfassungsreform verabschieden lassen, die Genua in eine aristokratische Republik verwandelte. Diese Verfassung sah die jährliche Erhebung von ‚Bürgern‘ in den Adelstand – ehemalige populares, vorwiegend aus Händlern und artifices bestehend – wegen „Verdienste oder Reichtums“ 54 vor, so dass nuovi nobili ohne adlige Abstammung an die Seite der alten Adelsfamilien gestellt wurden. Im Jahre der Verschwörung ist Genua somit bereits seit fast zwei Jahrzehnten eine ‚aristokratische Republik‘, an deren Regierung sich das neu geadelte Bürgertum beteiligt. Andrea Dorias antifranzösische Allianz mit Karl V., die den Genuesern zunächst „Freiheit und Souveränität“ sichert, kommt eher den finanziellen Interessen der nobili vecchi entgegen; 55 die mehrheitlich an gewerbliche und kommerzielle Interessen gebundene nobili nuov i streben dagegen danach, Genua in den französischen Einflussbereich zurückzuführen. Kein Wunder, wenn die Verschwörung des philofranzösischen Grafen Fieschi im Jahre 1547 vor allem im Lager der nobili nuovi, der geadelten Bürger, die meiste Unterstützung erfährt. 56 Historisch betrachtet, stellt dies jenen sozialen Hintergrund in Genua um die Mitte des 16. Jahrhunderts dar, vor dem auch die Bedeutung des gehobenen Bür51 52 53 54 55 56
Kondylis: Machiavelli, S. 21. Ebd., S. 12. Ebd., S. 22. Lercari: La nobiltà civica a Genova e in Liguria, S. 257. Ebd., S. 240. Ebd., S. 258.
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gertums in der „aristokratischen Seerepublik“ unter Andrea Doria deutlich wird. Doch: Wenn dies auf der historischen Ebene die Prämissen für die konservative Wende von Genuas Bürgertum erklärt sowie die sozialen Voraussetzungen auch für jene epikureische Einstellung zum Leben plausibilisiert, die bei Schiller der stockaristokratische Graf Fiesko 57 vortäuscht, so ist deutlich darauf hinzuweisen, dass dies alles in Schillers Verschwörungsdrama nur eine zweitrangige Rolle spielt. Bei Schiller sind lediglich die gegebenen politischen Machtverhältnisse zwischen den entgegengesetzten Fronten in der Hafenstadt im Jahr der Verschwörung 1547 von Bedeutung – und diese Verhältnisse sind klar: Trotz der Beteiligung der nobili vecch i und nuovi an der Regierung der aristokratischen Republik hält Andrea Doria – de facto, wenn nicht de jure – seit 1528 die politische Führung in Genua fest in der Hand. Im Jahre 1547 ist der 1466 geborene Andrea allerdings bereits ein betagter Mann, so dass der politische Wechsel als unmittelbar bevorstehend erscheint. Kaum überraschend, dass andere, alte und neue, Genueser Adelsfamilien Ansprüche auf die politische Macht in der Republik erheben. Dabei ist allerdings Andrea Dorias Neffe Giannettino schon dafür prädestiniert, das politische Erbe des „Liberator et Pater patriae“ Andrea anzutreten – offensichtlich versucht die an der Macht stehende Familie Doria, eine Erbherrschaft in Genua zu errichten. Vor diesem historischen Hintergrund sollen nun einige in unserem Kontext entscheidende Fragen gestellt werden: Sind Genueser Adelsfamilien prinzipiell gegen die erbliche Befestigung der politischen Macht durch die Dorias? Oder richtet sich ihre Reaktion vielmehr gegen die Person des voraussichtlichen Nachfolgers? Von welchen hintergründigen Interessen wird die Verschwörung gegen die Dorias womöglich geleitet? Sind hier, emphatisch gesagt, die Schicksale der ‚Republik‘ Genua und ihrer ‚Werte‘ im Spiel – oder lediglich die Ersetzung der alten politischen Führung durch eine neue (Erb-)Herrschaft mit unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Akzentsetzung? Es versteht sich von selbst, dass wir weniger an der Beantwortung dieser Fragen aus einer historischen Perspektive heraus interessiert sind als vielmehr im Hinblick auf die Bearbeitung des geschichtlichen Stoffes in Schillers Trauerspiel. In unserem Rahmen kulminieren daher die oben erwähnten Fragen in folgender zentraler und in der Forschung kontrovers diskutierter quaestio: Handelt Schillers Fiesko – aber man könnte hier leicht auch jeden weiteren Mitverschwörer miteinbeziehen – eher als ‚Freiheitskämpfer‘ der Republik oder als möglicher zukünftiger ‚Tyrann‘?
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Es sei hier einmal explizit darauf hingewiesen, dass die titanische Figur des Fiesko, so wie sie aus der Feder des deutschen Dichters fließt, erst vor der Folie jener durchaus bürgerlichen Werte zu deuten ist, die letztlich nicht nur das Antlitz der Renaissance, sondern auch des 18. Jahrhunderts prägten. Nicht zu leugnen ist der bürgerliche Charakter von Schillers Figur – und zwar auch, wenn der historische Fiesko der Vertreter einer angesehenen aristokratischen Familie ist und es selbstverständlich auch bei Schiller bleibt.
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Auf die Frage, ob Schillers Figur, vereinfacht gesagt, eher in eigener Sache oder zugunsten der Republik kämpft, hat die neuere Forschung eine ziemlich klare Antwort gegeben – darauf, dass man bisher nicht alle Konsequenzen aus dieser Antwort gezogen hat, wird im Folgenden zurückzukommen sein. Dem „Verhältnis von Freiheitsheld und Tyrann“ in Schillers Drama hat beispielsweise Peter Michelsen einen grundlegenden Aufsatz gewidmet, in dem die strukturelle Selbstbezogenheit von Fieskos Agieren unterstrichen wurde. Dabei hat Michelsen deutlich gemacht, dass Schillers Held letztlich „allein im Namen des eigenen Freiheitsbedürfnisses“ die ‚Freiheit‘ fordere, das heißt im Namen „des Anspruchs, den eigenen Willen so groß und mächtig wie möglich ausströmen zu lassen“. 58 Anders ausgedrückt: „Das Spiel mit den Idealen republikanischer Machtteilung bedeutet nur den Vorwand für die Verwirklichung eigener Herrschaftsinteressen“. 59 Hier lohnt es sich durchaus, weniger auf die allgemeine politische Situation in Genua zu achten als vielmehr das emanzipatorische Potential aufs Korn zu nehmen, das die Verschwörung gegen die Dorias einzig und allein für das Leben von Schillers Fiesko besitzt. Aus der Nähe betrachtet, findet hier erneut ein Schema Anwendung, das wir bereits in unserer Analyse der Räuber am Werk gesehen haben. Wie im Falle des Franz Moor, mit dem auch Fiesko nicht von ungefähr in der Forschung in Zusammenhang gebracht wurde, 60 haben wir es bei Schillers Titelgestalt mit einer Figur zu tun, die gegen ein auch symbolisch zu verstehendes Machtsystem opponiert, von dem sie von vornherein ausgeschlossen ist. Gerade um jene Macht, die ihm nicht zusteht, um jeden Preis zu erreichen, ja zu ertrotzen, macht sich Fiesko auf alles gefasst, und jedes Hindernis, egal welcher Natur, das er auf seinem Weg findet, führt lediglich zu einer Steigerung seines Willens zur Macht. Auf diese Weise wiederholt sich in Schillers zweitem Drama der in den Räubern dargestellte und vor allem von der Figur des Franz Moor verkörperte Kampf gegen die Sphäre des Vaters mit all ihren symbolischen Implikationen. Gesellschaftlich betrachtet ist Schillers Fiesko ein Außenseiter der Macht, der sich nur aus sich selbst heraus durchsetzen muss. Existenziell stellt er aber schon den Typus jenes modernen Menschen dar, für welchen die etablierte Ordnung Gottes, der Natur oder der Gesellschaft keinen Platz vorsieht und dessen Schicksal niemandem als ihm allein überlassen bleibt. In seinem unstillbaren Durst nach sozialem Aufstieg und nach ‚Größe‘ mag sich ein solcher Mensch nur schwerlich der Gewalt der republikanischen Gesetze unterordnen; kaum vorstellbar, dass er innerhalb des sanktionierten Rahmens dieser Gesetze etwa für jenes Amt des „Dogen“ bloß kandidieren möchte, das in Genua seit 1528 jedes zweite Jahr neu besetzt wurde. Schillers Fiesko 58 59 60
Michelsen: Schillers Fiesko, S. 344. Alt: Schiller. Bd. I, S. 340. Vgl. etwa Michelsen: Schillers Fiesko, S. 345 u. Janz: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, S. 71. Vgl. dazu außerdem Dirk Oschmann: Friedrich Schiller. Köln, Weimar u. Wien 2009, S. 28–33.
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handelt nie als möglicher ‚Amtsträger‘, ja als ‚Staatsmann‘, er opponiert nicht vor dem Hintergrund eines höheren Gerechtigkeitssinnes gegen die von den Dorias der Stadt zugefügten Machtmissbräuche. Wie treffend bemerkt wurde, findet zwar Fieskos Staatsstreich in Dorias Usurpation einen Anlass. Doch gründet sich seine Entscheidung, sich gegen die Dorias zu verschwören, einzig und allein auf seinen „Willen zur Macht“. 61 Wenn dem so ist, dann ist es kaum verständlich, wieso die Forschung darauf beharrt hat, gerade von der politischen Seite aus an die Frage heranzugehen, ob Schillers Fiesko eher ‚Freiheitskämpfer‘ oder ‚Tyrann‘ sei. Diese Frage soll hier primär anders beantwortet werden als vor dem Hintergrund frühneuzeitlicher Staatstheorien und durch den dabei unvermeidlichen Verweis auf Machiavelli. Was es mit dem Schwanken von Schillers Titelhelden zwischen Verzicht auf Alleinherrschaft und Streben nach Herzogswürde auf sich hat, wurde in der Forschung genau auf den Punkt gebracht – es sei hier kurz in Erinnerung gerufen: Die moralische Würde des auf die Alleinherrschaft verzichtenden Republikaners und die kriminelle Triebkraft des nach der Herzogswürde greifenden Usurpators erscheinen als zwei politisch konträre Lösungen, die aber jeweils der Bestätigung der eigenen Überlegenheit dienen sollen. […] Die Anpassung an die republikanische Ordnung oder deren Überwindung im Staatsstreich bilden dabei nur verschiedene Techniken der unbeschränkten Verwirklichung des Ich. Ihr gemeinsames Merkmal scheint der Verzicht auf eine moralische Bindung des politischen Verhaltens. Noch die freiwillige Entsagung wird von Fiesko nicht als sittlicher Akt, sondern als Element der heroischen Selbstdarstellung aufgefaßt. Letzthin schafft sie nur eine andere Form der Alleinherrschaft, denn der ‚glücklichste Bürger‘ Genuas bliebe, was auch der Herzog sein möchte: eine Ausnahmeerscheinung. 62
Nur weil der Graf Lavagna als primär politischer Akteur überbewertet wurde, hat die Forschung geglaubt, ihn vor dem Hintergrund von Machiavellis Anleitungen für den principe betrachten zu müssen. Auch wenn es zunächst etwas frappierend erscheinen mag, hat Fieskos implizite Lossagung von jeglichem moralischen Prinzip nichts mit der von Machiavelli theoretisierten Trennung von Moral und Politik zu tun. Denn bei Machiavelli hat die Trennung von Moral und Politik selbst insofern eine durchaus ethische Komponente, weil sie auf nichts anderes als auf das gute Regieren eines Landes, ja auf „das Wohl des Staates und des Vaterlandes“ 63 abzielt – wo der ‚Staat‘ wohlgemerkt „als Wert von Anfang an über das Individuum“ steht. 64 Gerade diese ethische Dimension fehlt aber Schillers Titelhelden vollkommen. In Schillers Stück steht einmal mehr das ‚große‘, ‚geniale‘ Individuum im Rampenlicht, während das Wohl des Staates – und dessen ‚Freiheit‘ – nur den Vorwand zu Fieskos Selbstinszenierung darstellen. Wenn „List und Gewalt oder deren Mischung“ bei Machiavelli „weder Selbstzweck noch ein Anlaß [sind], 61 62 63 64
Vgl. Janz: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, S. 70f. Alt: Schiller. Bd. I, S. 340f. Kondylis: Machiavelli, S. 115. Ebd., S. 126.
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seine Fähigkeiten zur Schau zu stellen“; 65 wenn sie „unvermeidliche Mittel zur Erlangung bestimmter Ziele“ 66 sind, so stellen List und Gewalt in Schillers Drama lediglich ein zu jeder Zeit einsatzbereites Instrumentarium dar, dessen sich Fieskos individualistischer Wille zur Macht unbeschränkt bedienen kann – und sich jederzeit auch wirklich bedient. Es ist daher nicht übertrieben zu behaupten, dass das Herz von Schillers Fiesko nicht im 16., sondern vielmehr im 18. Jahrhundert schlägt. In seinem Streben nach Macht mag der principe der Renaissance allemal politisch scheitern, doch keinesfalls existenziell. In seinem Kampf um die Macht, hinter welchem sich der Wille zur sinnergebenden Selbstgestaltung verbirgt, realisiert dagegen das geniale Individuum, das der frühe Schiller auf die Bühne bringt, vor allem, wenn nicht ausschließlich, sich selbst. In seinem Durchsetzungs- und Anerkennungsdrang muss dieses Individuum jede soziale Regel sowie jede Norm der traditionellen Moral als eine Zwangsjacke interpretieren, die seine psychophysische Freiheit bei der Entfaltung seiner subjektiven Potentialitäten nur zu hemmen vermag – kein Zufall, dass sich Schillers Fiesko in seiner Herrschervision im dritten Akt „den geharnischten Riesen Gesez“ vorstellen wird, wie er ihn neutralisiert „tief unten“ „am Gängelbande“ lenkt. 67 Wenn sich die Politik in der Renaissance in gewisser Hinsicht von der Moral emanzipiert und dabei eine neue Ethik im Hinblick auf das Wohl des Staates begründet wird, so nimmt das geniale Individuum im 18. Jahrhundert ebenfalls von den moralischen Werten der Tradition, die ihn als Subjekt hemmen, implizit oder explizit, friedlich oder gewalttätig Abschied und gründet dabei jedoch im Alleingang eine neue, kraftbasierte und stark subjektivistische Moral – eine männlich-heroische Moral. Wohl mag betont werden, dass sich in beiden Fällen – in der Renaissance wie im 18. Jahrhundert – ein Befreiungsakt gegenüber der Sphäre der traditionellen, christlichen Moral vollzieht. Doch ist das polemische Ziel schon alles, was diesen beiden ‚Befreiungen‘ gemeinsam ist. In Schillers Werk steht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht die politische, sondern vor allem die existenzielle Sphäre des Menschen im Mittelpunkt der dargestellten ‚Rebellion‘. Hier zwingt der Verbindlichkeitsverlust der christlichen Metaphysik selbst zur Suche nach einem neuen existenziellen Sinn, der sich wiederum in der möglichst wirksamen Machtentfaltung des agierenden Subjekts widerspiegelt. Daher ist die Emanzipation von der moralischen Sphäre beim frühen Schiller nur sekundär politisch. Auch im Fiesko ist sie primär ästhetisch begründet, und zwar in doppelter Hinsicht: Im Sinne der existenziellen Selbstinszenierung zur Größe von jedem im Stück agierenden ‚Kraftmenschen‘ – das heißt werkimmanent – sowie im Sinne der theatralischen Wirkung des Stücks selbst, das jene Inszenierung publikumswirksam auf die Bühne bringt – das heißt wirkungsästhetisch. 65 66 67
Ebd., S. 137. Ebd. NA 4, 67.
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Vor dem hier beschriebenen Hintergrund kann auch der Held von Schillers zweitem Drama produktiv interpretiert werden – der Held, den wir nicht von ungefähr vor einigen Seiten noch in seiner Verkleidung als Epikureer verlassen haben. Doch nicht nur diese Maskierung des genuesischen Grafen, sondern überhaupt die insgesamt kaum zu überschätzende Rolle des ‚ästhetischen Scheins‘ in der Verschwörung des F iesko z u G enua lässt sich vor dem Hintergrund des bisher Gesagten fruchtbar analysieren. Im zweiten Akt, nachdem Giannettino bei der demonstrativ gesetzwidrigen Ernennung von Lomellin zum Prokurator die „Liebe der Genueser“ 68 zur Familie Doria aufs Spiel gesetzt hat, „stürzen“ zunächst einige Repräsentanten des beleidigten Adels und dann zwölf Handwerker in den Palazzo der Lavagna, um dem Grafen den eigenen Unmut kundzutun. Fiesko wittert bald, dass das „Stroh der Republik [...] in Flammen“ ist. 69 Dabei geht es ihm jedoch keinesfalls darum, an irgendeinem revolutionären Unternehmen teilzunehmen, das in der Lage wäre, das von Giannettino Doria zugefügte Unrecht zu vergelten sowie die Schicksale der Republik in eine andere Richtung zu lenken. Fiesko denkt nicht einmal daran, das „fort[zu]führen“, was er nicht „anfing“. 70 Die „Empörung“ der Bürger der Stadt will er gerne für seine Zwecke instrumentalisieren; der ganze Ertrag des ‚Befreiungsaktes‘ soll ja zunächst ihm zukommen: „[D]ie Verschwörung muß meine sein“. 71 Nicht ohne Grund versteht sich Fiesko von Anfang an bei der Aufführung des mehraktigen Entmachtungsdramas der Familie Doria sowohl als tyrannischer Regisseur wie auch als stets in neuen Rollen auftretender Hauptdarsteller. Gegen Ende des zweiten Aktes steht die Bühne ‚Genua‘ zum Konspirationsversuch bereit, und Fiesko kann nun die Szene als Hauptverschwörer betreten, wie er selbst unmissverständlich zu verstehen gibt: Izt Doria mit mir auf den Kampfplaz! Alle Maschinen des grosen Wagestüks sind im Gang. Zum schaudernden Konzert alle Instrumente gestimmt. Nichts fehlt, als die Larve herabzureissen, und Genuas Patrioten den Fiesko zu zeigen. 72
Man begeht hier einen Kapitalfehler, wenn man glaubt, Lavagna wolle, Patriot unter Patrioten, sein ‚wahres Gesicht‘ zeigen – und das wäre hier das Gesicht des überzeugten Republikaners und Freiheitskämpfers. Die zitierte Textstelle suggeriert wohl diese Interpretation. Inzwischen wurde jedoch deutlich gemacht, dass Graf Lavagna mehrere ‚Larven‘ aufeinander trägt, die alle auf ihre Art einen bestimmten ‚Fiesko‘ zeigen, sodass es auch an dieser Stelle überhaupt nicht sicher sein kann, welchen ‚Fiesko‘ der Titelheld seinen „Patrioten“ eigentlich vorstellen möchte. Republikaner oder Tyrann – beide Möglichkeiten stehen hier noch ganz offen. 68 69 70 71 72
NA 4, 53. NA 4, 47. Ebd. (Hervorh. im Original). Ebd. NA 4, 59.
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Hinter dem dekadenten Epikureer steckt eigentlich ein kühner Tatmensch, der sich – wenn die Zeiten endlich dafür reif sind – anschickt, skrupellos in die Wirklichkeit einzugreifen. Es ist kein Zufall, wenn sich Fiesko bereits in den ersten Szenen des zweiten Aktes beim Mohren Hassan erkundigt, ob Genuas Meinung über ihn letztlich Freiräume für „Thaten“ 73 offenlasse. Auch ist es keine rhetorische Floskel, wenn er die zu ihm geeilten Handwerker fragt, ob er ihr Zutrauen durch „Thaten verdienen“ könne. 74 Noch völlig im Banne von Fieskos Maskierung als Epikureer, gänzlich ohne den verdeckten Aktionsmenschen erkannt zu haben, versuchen die um Verrina versammelte Doria-Gegner den Grafen Lavagna für ihre Sache (zurück) zu gewinnen. Um Fieskos angeblich abgekühlten republikanischen Freiheitsdrang erneut zu befeuern, glaubt der ältere Republikaner Verrina Mittel und Wege zu kennen. Lavagna sei nämlich, wie er sagt, „ein Anbeter der Kunst“ und „erhiz[e] sich gern an erhabenen Szenen“. 75 So wird ein Stelldichein beim Grafen organisiert, bei dem auch ein von Verrina besoldeter Maler zugegen sein soll, der – so die nicht gerade schmeichelhaften Worte des Republikaners – „seine ganze Kunst verschwendet, den Sturz des Appius Klaudius fresco zu mahlen“. 76 Der „Anblick“ dieser erhabenen Szene solle, so sein Ziel, Fieskos „Genius wieder aufwek[en]“. 77 Es ist zu vermuten, dass der Maler Romano sein Sujet nicht nur als ‚Fresko‘, sondern auch auf einem Gemälde dargestellt haben mag, das somit auch in den Palast des Grafen Lavagna tatsächlich zu „bringen“ sei. Die angehenden Verschwörer vertrauen sich hier jedenfalls – vielleicht in Ermangelung besserer Argumente – der stimulierenden Kraft der Kunst an. Die Szene bei Fiesko mit dem Maler Romano am Ende des zweiten Aktes nimmt die später in der ästhetischen Debatte des Fin de siècle in der Nachfolge Nietzsches virulente Frage vorweg, ob die künstlerische Darstellung handlungsfördernd oder handlungshemmend wirke, ja ob sie als Stimulans zur Tat oder doch als kraftverzehrendes Aktionssurrogat zu betrachten ist. „Fieskos Antwort auf die Präsentation des Bildes überrascht die Verschwörer nicht wenig“ 78 – und einen Teil der Forschung anscheinend nicht weniger. 79 Doch in der entgegengesetzten Reaktion von Fiesko und Verrina auf 73 74 75 76 77 78 79
NA 4, 43. NA 4, 49. NA 4, 36. Ebd. Ebd. Alt: Schiller. Bd. I, S. 339. Die Szene wurde gerne als vermeintliche Abwertung des ästhetischen Scheins gegenüber der politischen Tat interpretiert – ja mit Benno von Wiese gar als direktes Zeichen für Schillers Hoffnung, die von ihm bloß in aestheticis dargelegte Rebellion möge in die Wirklichkeit übergehen. In diesem Sinne schreibt Vittorio Hösle: „Die Szenen [am Ende des zweiten Aktes] gehören sicher zu den intellektuell faszinierendsten im Stück, ja im ganzen Œuvre Schillers, und es ist schwer, sie nicht reflexiv zu lesen: Schiller wird gehofft haben, dass sein Drama einen zeitgenössischen Fiesco inspiriere oder, noch besser, dass ein solcher sein Drama gar nicht benötige. Da die Kritik an der Defizienz der Kunst gegenüber der Wirklichkeit im Rahmen der Kunst selbst erfolgt, soll der Zuschauer wohl mit einem realen revolutionären
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Romanos „Tableau“ über die Geschichte der Virginia lässt Schiller letztlich zwei konkurrierende Grundeinstellungen gegenüber jeder künstlerischen Repräsentation zum Vorschein kommen: die schöpferisch-aktive Einstellung des Künstlers und den empfänglich-passiven Modus des Kunstrezipienten. Verrina hat noch den dekadenten Epikureer und Genussmenschen Fiesko im Hinterkopf, als er behauptet, Lavagna sei ein „Anbeter der Kunst“. 80 Es mag durchaus sein, dass Verrinas Definition, wörtlich genommen, auf Fiesko zutrifft; dies bedeutet allerdings nicht zwingend, dass ihm jene rezeptiv-passive Einstellung gegenüber der Kunst eigen sei, die ihm Verrina – dabei von Fiesko selbst getäuscht – unterstellt. So ist es in einem gewissen Sinne richtig, und nicht unbedingt als rhetorische Übertreibung zu verstehen, 81 dass Fiesko „den Künstler als Künstler“ 82 überbietet, wenn er überheblich und abschätzend zum Maler Romano den in der Forschung vielzitierten Satz spricht: „Ich habe gethan, was du – nur mahltest“. 83 Hier findet keine „Widerlegung der Kunst durch das Leben“ statt. 84 Denn nicht der Primat des Lebens gegenüber der Kunst wird hier behauptet, sondern nur der Primat einer Kunstauffassung, die den Akzent auf den aktiven Schaffensprozess legt, im Gegensatz zu dem veranschaulichend-dekorativen Kunstverständnis, in dem vor allem das fertige, zu verbrauchende künstlerische Produkt im Mittelpunkt steht. Nur auf diese Weise löst sich der scheinbare Widerspruch, der aus dieser Passage entsteht, wenn man merkt, dass sich Schiller hier gegenüber dem historischen Fiesko eigentlich genau in der gleichen Position befindet wie der Maler Romano gegenüber Virgina und Appius Klaudius in seinem ‚republikanischen Trauerspiel‘. Denn wie sollte man sich einen jungen Schiller vorstellen, der zu sich spricht: „In deinem ‚republikanischen Trauerspiel‘ stellst du bloß eine Geschichte dar. Der historische Fiesko hat dagegen Geschichte gemacht!“. Mit gewisser Berechtigung kann man hingegen annehmen, dass sich der junge Schiller nicht zu den bloß dekorativen Künstlern in der Art von
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Impetus aus dem Theater stürmen“, Vittorio Hösle: Psychologie des Spielers und Ethik des Vabanque-Spiels. Zu Friedrich Schillers Die V erschwörung des Fiesko zu G enua. In: Gabriele von Sivers u. Ulrich Diehl (Hg.): Wege zur politischen Philosophie. Festschrift für Martin Sattler. Würzburg 2005, S. 41–64, hier S. 61. Fieskos Worte wurden aber auch als Hinweis auf eine Verschmelzung von Politik und Kunst im Sinne einer weltverändernden ‚Staatskunst‘ aufgefasst – einer Staatskunst, die wohl ebenfalls unter dem Primat des Politischen steht. So schreibt Walter Müller-Seidel: „Fiesko läßt erkennen, daß er selbständige Kunst so wenig anerkennt wie sein Rivale Andreas Doria; auch für ihn ist Regierung ein Kunstwerk. Sein Hang zum Totalitären ist unübersehbar. Kunst soll sein, aber nicht in den Formen des bloß Fiktiven, sondern als etwas, das zur Wirklichkeit hinzukommt und sie verschönern hilft. Indem er sie in die Praxis einverleibt, entsteht das eigentümliche Gebilde der Staatskunst, für das ein Staatsdenker wie Machiavelli offen und empfänglich war, und wo in der neueren Schillerforschung von Ästhetisierung der Politik gesprochen wird, wird zumeist auch sein Name genannt“, Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik, S. 91. NA 4, 36. Alt: Schiller. Bd. I, S. 339. Michelsen: Schillers Fiesko, S. 356. NA 4, 62. Alt: Schiller. Bd. I, S. 339.
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Romano hinzuzählte. Daher kann hier von keiner direkten Entgegensetzung von Kunst und Leben die Rede sein: Für Schiller gibt es offensichtlich doch eine (geniale) ‚Kunst‘ der Aktion, die Hand in Hand mit dem Leben geht. Und kein Zweifel: In seinen Augen stellt das eine ganz anders geartete Kunst dar als diejenige Romanos – es ist ja gerade seine Kunst. Wenn man sich ex negativo ein Bild von dieser Kunst machen will, so braucht man sich nur Romanos dekorative Malerei sowie ihre Wirkung auf Verrina in Schillers Stück näher anzuschauen. Im ‚republikanischen Trauerspiel‘ ist bereits Fieskos scharfe Kritik an Romanos Kunst unmissverständlich: Tritt her Mahler! […] Du pralst mit Poetenhize, der Phantasie marklosem Marionettenspiel, ohne Herz, ohne Thatenerwärmende Kraft; Stürzest Tyrannen auf Leinwand; – bist selbst ein elender Sklave? Machst Republiken mit einem Pinsel frei; – kannst deine eignen Ketten nicht brechen? 85
„Der Schein weiche der That“ – so Fieskos Diktum an dieser Stelle. Die tathemmende Illustration soll sich in Aktion verwandeln. Auf der einen Seite droht Romanos illustrativer Umgang mit der Geschichte die aktive Umsetzung heroischer Taten zu hemmen; 86 auf der anderen Seite ist Romano selbst, seinem Stolz zum Trotz, 87 nur ein williger Diener eines ‚Herren‘ sowie eines Kunstsystems, in dem die Kunst dazu berufen ist, Fertigprodukte zum ästhetischen Verbrauch zu liefern. Mit den Worten „ich habe längst einen Maler im Solde“ 88 hatte Verrina am Ende des ersten Akts den ‚freien‘ Künstler Romano eingeführt. Das Vorzeigen des Gemäldes über die Geschichte der Virginia war Teil einer Strategie zur Wiedergewinnung des Grafen Lavagna für die republikanischen Ideale. Nun: Als ‚Stratege‘ lässt Verrina augenscheinlich nicht wenig zu wünschen übrig, wenn er dann so schnell selbst zum Opfer seiner eigenen Strategie wird. Allerdings ist das auch nicht ohne Ursache. Denn die Reaktion des Verrina beim Anblick von Romanos ‚Tableau‘ zeigt geradezu paradigmatisch, inwiefern diese dekorative Kunst in der Lage ist, eine durchaus depotenzierende Wirkung auszuüben. Romanos Malerei setzt Verrina rasch in einem Zustand der „Begeisterung“, 89 in dem er nicht nur seinen ursprünglichen Plan, sondern auch gleich sich selbst geradezu vergisst. Fiesko hat dabei leichtes Spiel, ihn indirekt zu verhöhnen, indem er zum Maler sagt: „Ihre Kunst macht diesen alten Mann zum bartlosen Träumer“. 90 Doch so schnell wie Verrinas Begeisterung gestiegen ist, ebenso rasch, nach einem einzigen Satz des Fiesko, lässt sie nach: „[E]rschöpft“ – wie die Regieanweisung exakt anmerkt – bringt Schillers Erzrepublikaner hier seine ganze Wehr- und Harmlosig85 86 87 88 89 90
NA 4, 61. Vgl. Janz: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, S. 75. Vgl. Romanos Beschreibung in Schillers Personenliste des Stücks: „Romano. Mahler. Frey, einfach und stolz“, NA 4, 12. NA 4, 36. NA 4, 60. NA 4, 61.
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keit zum Ausdruck: „Wo bin ich? Wo sind sie hingekommen? Weg wie Blasen? Du hier Fiesko? Der Tyrann lebt noch Fiesko?“. 91 „Ueber vielem Sehen hast du die Augen vergessen“, 92 lautet dabei Fieskos lapidare Erwiderung, und auch Bourgognino wittert bald, dass Verrinas Plan, Lavagna für die gute Sache wiederzugewinnen, kläglich gescheitert ist. 93 Der Erzrepublikaner Verrina steht als ein geschwächter, eigentlich unzuverlässiger alter Mann da, dessen moralische Autorität im Ernstfall offensichtlich kaum zu gebrauchen ist. Dagegen hat Lavagna inzwischen die ganze Situation durchschaut und sich dabei auf seine Weise als einzig möglicher Anführer der Verschwörung gegen die Dorias profiliert. 94 Fiesko weiß das nur allzu gut: Ein großes Herz sowie die Fähigkeit, sich für die Sache der ideellen ‚Freiheit‘ zu begeistern, erweisen sich als unzureichende Voraussetzungen, um im entscheidenden Kampf um die Macht ans erstrebte Ziel zu gelangen. Die ganze Metaphorik der Textpassage spricht eine deutliche Sprache: Auf der einen Seite steht ein Maler, dessen „Mark“ „erschöpft“ sei, sowie ein ‚erschöpfter‘ alter Mann, der beim Anblick illustrativer Malerei zum „bartlosen Träumer“ geworden ist und sich lediglich für wenige Augenblicke gegen die dargestellten Helden auf einer Leinwand stürzen kann. 95 Auf der anderen Seite steht, sicher auf den Beinen und im Herzen, ein männlich-genialer Tatmensch, der „die Verschwörung zum künstlerischen Akt“ erklärt. 96 Wenn traditionelle moralische Prinzipien – wenngleich bloß diejenigen eines ‚Republikaners‘, der jedoch nicht das eigene Leben, sondern lediglich dasjenige seiner Tochter als Preis der zu erreichenden politischen Freiheit aussetzt – hier eher als Sache des geschwächten Alters vorgestellt werden, so hat Fiesko im Gegensatz dazu vor allem das vorzuweisen, was die anderen Figuren offensichtlich nur als eigenen Mangel kennen: höchste psychophysische Kraft als Grundlage für eine neue männlich-heroische Moral. Genau auf dieser Grundlage basiert offensichtlich auch die bemerkenswerte Beziehung, die Fiesko zum Mohren Hassan pflegt, dem „kriminellen Helfer“, dem sich der Graf Lavagna einzig „unverstellt anzuvertrauen wagt“. 97 Wenngleich dem Grafen geistig unterlegen, ist Hassan wie Fiesko ein skrupelloser Intrigant zur Macht, dem allerdings jeder Sinn für ‚erhabene Größe‘ fehlt. Das Verhältnis dieser Figuren zueinander entwickelt sich lediglich vor dem Hintergrund eines solipsistisch-amoralischen Machtstrebens, das sich in der Lage erweist, beiden Existenzen 91 92 93 94 95
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Ebd. Ebd. „Verrina, ist das deine gehofte herrliche Wirkung?“, ebd. Nur in diesem beschränkten Sinne, und nicht allgemein (Alt: Schiller. Bd. I, S. 345), ist daher Verrina in Schillers Stück als eigentlicher „Widerpart Lavagnas“ zu verstehen. NA 4, 60f. Die Episode, in der Verrina gegen Romanos Gemälde „haut“, mag in Plutarchs Biographie des Aratos von Sikyon ihr Vorbild haben, vgl. Luca Zenobi: Schiller e Plutarco: dai Räuber al Themistokles-Entwurf. In: Paolo Chiarini u. Walter Hinderer (Hg.): Schiller und die Antike. Würzburg 2008, S. 207–222, hier S. 214. Janz: Die Verschwörung des Fiesco zu Genua, S. 75. So Alt: Schiller. Bd. I, S. 337.
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gänzlich zu durchdringen. 98 Auch wenn es bei manchen Szenen anders erscheinen könnte, schreckt auch Fiesko (wie Hassan) vor nichts und niemandem zurück – weder vor Werten, noch vor Personen. Wer vorschnell bereit ist zu glauben, dass dies für Fiesko zumindest in Bezug auf seine Frau Leonore nicht zuträfe, wird bitter enttäuscht. Auch Leonore – die im Stück ja, wie schon Amalia in den Räubern, jene traditionelle moralische Position vertritt, die sich allerdings im Kampf um Macht und Größe vorsätzlich als unbrauchbar erweist 99 – wird von Fiesko bloß als Machtinstrument eingesetzt. Ihre partielle Revanche 100 erfährt sie immer aus wirkungsästhetischen Gründen, 101 bis schließlich der (wohl unabsichtlich) an ihr verübte Mord geschieht, den Fiesko jedoch, nach einigen wenigen apokalyptischen Szenen der schmerzlichen Betroffenheit, prompt als letzten „Wink“ einer im Übrigen ihm selbst verdächtig ähnlichen „Vorsehung“ interpretiert – einer ‚Vorsehung‘, die ihn zum weiteren Kampf aufmuntern wolle: Höret, Genueser – die Vorsehung, versteh ich ihren Wink, schlug mir diese Wunde nur, mein Herz für die nahe Größe zu prüfen? – Es war die gewagteste Probe – izt fürcht ich weder Quaal noch Entzüken mehr. Kommt. Genua erwarte mich, sagtet ihr? – Ich will Genua einen Fürsten schenken, wie ihn noch kein Europäer sah –– Kommt! –– 102
Wenn man am Ende des zweiten Akts bereit ist, der Rede des angeblich ‚entsagenden‘ „glücklichste[n] Bürgers“ Genuas Fiesko zu vertrauen, so ist man vor dem hier beschriebenen Hintergrund schlecht beraten. Denn dort, nach dem entscheidenden Gespräch mit den Genuesern um Verrina, da Fiesko die Maske des Epikureers fallen lässt und seine selbstgefällige Entschleierung als mächtigster und subtilster Intrigant theatralisch inszeniert, denkt der allein gebliebene Graf Lavagna an die zwei Möglichkeiten, die sich ihm als Anführer der kurz bevorstehenden Verschwörung anbieten: „Republikaner F iesko? Her zog F iesko?“. 103 Soll der Graf seine Stadt von seinem Tyrannen befreien oder ihn nach Möglichkeit und Kraft nur 98
Dass Hassan etwas anderes als dieses Prinzip repräsentierte – dass im exotischen Mohren etwa allgemein der „Wankelmut des Volkes“ zu sehen wäre, das „im Ausnahmezustand seine Fronten ständig wechselt“, erscheint nicht besonders plausibel, vgl. ebd., S. 344. 99 Es ist kein Zufall, dass das Gespräch, das Leonore am Ende des vorletzten Aktes mit ihrem machtbesessenen Gemahl führt, in der so einfachen wie ausschlaggebenden Mahnung kulminiert „Entsage!“, NA 4, 101. Doch ist es reine Utopie zu erwarten, dass Fiesko plötzlich nach einem Prinzip handeln würde, das gerade das Gegenteil seiner männlich-heroischen Moral beinhaltet: „Lebe wol!“ lautet seine bezeichnende Antwort an Leonore; „Ewig – oder Genua liegt Morgen zu deinen Füssen“, NA 4, 102 – was eigentlich bedeutet: zu seinen. Der machtbesessene Intrigant vermag offensichtlich jede Rechnung nur mit ‚Macht‘ zu berechnen – unerheblich dabei, ob mit bereits verfügbarer oder nur zukünftiger, virtueller Macht. 100 Vgl. das Gespräch zwischen Fiesko und Leonore im vierzehnten Auftritt des IV. Aktes, da Fiesko seiner von ihrer gemeinsamen Liebe schwärmenden Frau „kraftlos“ um den Hals fällt – um gleich nach dem „Kanonenschuß“, der den letzten Akt der Verschwörung einläutet, ‚loszuspringen‘, NA 4, 101f. 101 Auf Schillers „‚dramaturgische Zweckhaftigkeit‘“ weist auch Peter Michelsen deutlich hin, vgl.: Schillers Fiesko, S. 347f. 102 NA 4, 115f. 103 NA 4, 64.
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ersetzen? Das Selbstgespräch gipfelt in den bekannten Schlussworten des Aktes: „Ein Diadem erkämpfen ist gros. Es wegwerfen ist göttlich. entschlossen. Geh unter Tyrann! Sei frei Genua, und ich sanftgeschmolzen dein glüklichster Bürger!“. 104 Wie man allerdings weiß, handelt es sich dabei um pathetische Worte, die ihre Gültigkeit lediglich in der flüchtigen Zeitspanne zwischen „Nacht“ und „Morgendämmerung“, 105 das heißt in der knappen Zeit einer verkürzten Nachtruhe beanspruchen können. Hervorzuheben ist, dass Fiesko in der Schlussszene des zweiten Akts alleine auf der Bühne steht, sodass „Verstellung“, wie bei anderen Szenen des Fiesko, „unsinnig“ erscheinen könnte. 106 In diesem Sinne wurde auch in der Forschung darauf hingewiesen, dass selbst Schillers Lehrer Abel davon überzeugt gewesen sei, „dass sich die ‚ächte Gesinnung‘ eines Menschen dann zeige, wenn er sich unbeobachtet glaubt“. 107 Zu unterstreichen ist dabei allerdings, dass Schillers Helden nie alleine auf der Bühne bleiben, weil sie immer bewusst vor den Augen eines Publikums agieren, das stets zu erobern ist, sodass ‚Verstellung‘ nie unsinnig ist – ja, nie ohne ästhetischen Sinn bleibt. Nichtsdestoweniger muss man hier nicht unbedingt nochmals auf Fieskos feine Verstellungskunst rekurrieren, um jene vorläufige Entscheidung des Helden, Genuas „Diadem“ göttlich wegzuwerfen, fruchtbar zu interpretieren. Denn es mag sein, dass Fiesko zu diesem Zeitpunkt wirklich „entschlossen“ 108 ist, auf das befreite Genua zu verzichten und dessen „glücklichster Bürger“ zu werden. Doch spricht einiges dafür, dass diese flüchtige ‚Entschlossenheit‘ gerade mit dem Zeitpunkt zu tun hat, da der Titelheld diesen Satz spricht. Denn auf den Gedanken, er könnte auf die vom Tyrannen befreite Stadt verzichten, kommt Fiesko nicht zufällig gerade in dem Moment, da seine Kräfte nachlassen. Wenn sich Fiesko selbst in der vorangegangenen Szene gegenüber den Republikanern um Verrina als „Löwe“ 109 bezeichnet, so wird der Leser oder Zuschauer dann am Ende des zweiten Akts in gewisser Hinsicht mit den Abendstunden dieses eigentümlichen Raubtiers konfrontiert, da sich auch der König der Tierwelt Genuas aus Erschöpfung bereit zeigt, seine ins Fleisch der Welt geschlagenen Krallen ein wenig zurückzuziehen. Nur wenige Stunden Schlaf und der mit frischer Energie aufgeladene ‚Löwe‘ zeigt sich am Anfang des III. Aktes wieder kampfbereit. Fieskos prometheisches Ich tritt hier erneut in den Mittelpunkt – ja, es tut das mit einer solchen Kraft, dass Schillers Held dabei gar das Bedürfnis verspürt, sich „im Offenen dehnen“ zu müssen 110 – so, als ob seine Person gar 104 105 106 107 108
Ebd. Vgl. NA 4, 65f. Vgl. Fulda: Tradition und Transformation, S. 30. Ebd. Wie die Regieanweisung vermerkt – dabei jedoch vor allem in Bezug darauf, wie der Text an dieser Stelle zu sprechen sei, NA 4, 64. 109 NA 4, 62. 110 NA 4, 66.
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plastisch nicht in der Lage wäre, seine wiedererstarkte Subjektivität ganz zu erfassen. Für ein Werk, das den Untertitel „Ein republikanisches Trauerspiel“ trägt, fällt die allgemeine Bilanz vor dem oben dargestellten Hintergrund durchaus ernüchternd aus. Republikanische Ideale werden hier anscheinend entweder einem geschwächten älteren Mann oder einem momentan erschöpften Machtstrebenden überlassen. Kein Zweifel: Nicht die entsagende Formel „Ein Diadem erkämpfen ist gros. Es wegwerfen ist göttlich.“ 111 fasst den Charakter von Schillers Fiesko zusammen. Ganz wiederzufinden ist der Graf Lavagna hingegen allein in jenem Selbstgespräch in der Morgendämmerung, das ein für allemal auch die moralische Position seines Handelns gegenüber den Werten der traditionellen Moral klärt: Daß ich der gröste Mann bin im ganzen Genua? und die kleineren Seelen sollten sich nicht unter die Große versammeln? – aber ich verleze die Tugend? steht still. Tugend? – der erhabene Kopf hat andre Versuchungen als der gemeine – Solt er Tugend mit ihm zu theilen haben? – Der Harnisch, der des Pygmäen schmächtigen Körper zwingt, solte der einem Riesenleib anpassen müssen? 112
Also spricht Fieskos männlich-heroische Moral des Nihilismus vor den Hintergrund von Schillers Jahrhundert. Bekanntlich sind solche wirkungsvollen Äußerungen, die im Zeichen ‚erhabener Größe‘ stehen, keine Seltenheit im Frühwerk des Dichters. Der Vergleich mit dem jüngeren Bruder Moor aus den Räubern drängt sich hier geradezu auf. Nicht von ungefähr wurde Fiesko in der Forschung auch als ein „ins Positive gewendete[r] Franz“ 113 betrachtet. Betont wurde dabei, dass Franz „aufgrund seiner hinterhältigen Ränke als ein wahrer Teufel dargestellt“ 114 werde, während Fiesko – „ungeachtet seiner ganz ähnlichen Machenschaften“ 115 – nicht als negative Figur gelte. Im Falle Fieskos solle der Zuschauer „vor schauriger Bewunderung erbebe[n]“. 116 Man kann diesen Beobachtungen aus der Forschungsliteratur im Ganzen zustimmen, jedoch mit der nicht unbeträchtlichen Präzisierung, dass der Zuschauer – das wurde im Rahmen unserer bisherigen Analyse deutlich gemacht – nicht umhin kann, auch Franz eine gewisse ‚schaurige Bewunderung‘ entgegenzubringen. Darauf, dass auch das Böse eine durchaus starke ästhetische Wirkung ausüben kann, wurde hier mehrmals hingewiesen. Fiesko ist insofern ein „ins Positive gewendete[r] Franz“, weil er von vornherein die Rolle des Protagonisten, und nicht des Antagonisten, in Schillers Stück zu spielen bekommt. Doch genau dies beschränkt letztlich den ästhetischen Spielraum dieser Figur und beeinflusst auch die Rezeption von Schillers Titelhelden. Während Franz, der am Ende seiner unmoralischen Laufbahn, nach den Regeln des 111 112 113 114 115 116
NA 4, 64. NA 4, 67. Michelsen: Schillers Fiesko, S. 345. Ebd. Ebd. Ebd.
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Sittlich-Erhabenen, von Pastor Moser für seine ‚Sünden‘ moralisch in Rechenschaft gezogen wird und eine weitere, das Stück abrundende ästhetische Wirkung ausübt, ist Fiesko, der ins Positive gewendete Intrigant, dazu verurteilt, entweder heldisch zu siegen – oder gleichwohl heldisch zu scheitern. Wenn er siegt, ist man bereit, ihm im Gegenzug für die erlangte erhabene Größe die Verletzung des moralischen Gesetzes zu verzeihen. Wenn er scheitert, muss er doch zumindest die Regeln der moralischen Ordnung triumphierend hinter sich lassen. Und genau das ist hier der Punkt: Denn beides geschieht in Schillers Fiesko, wenn man die Originalfassung in Betracht zieht, eben nicht. Im Gegensatz zu Karl Moor in den Räubern wird Fiesko hier keinesfalls zum Rächer des moralischen Gesetzes. Und die Verletzung der moralischen Norm führt ihn nicht zum erhofften Sieg, ja zu der mit tyrannischer Hartnäckigkeit narzisstisch angestrebten Macht. Am Ende von Schillers Stück kommt es schlichtweg nicht zu der „grose[n] Aufwallung“ in der „Brust [der] Zuschauer“, 117 von der in der „Erinnerung an das Publikum“ zur Uraufführung des Fiesko in Mannheim die Rede war – wobei auch der untragische Schluss der Bühnenfassung mit Fieskos Verzicht auf die Herzogskrone dann ebenfalls keine große „Aufwallung“ bewirkt, auch wenn er die wohl unhistorische und in letzter Minute eintretende ‚moralische Größe‘ des Helden bestätigt. Es wäre naiv, mit dem über den Misserfolg seines Stück enttäuschten Dichter zu glauben, dass das Mannheimer Publikum den Fiesko einfach nicht ‚verstanden‘ hätte. Naiv zu glauben, dass „Republikanische Freiheit [...] hier zu Lande ein Schall ohne Bedeutung, ein leerer Name“ sei, ja dass „in den Adern der Pfälzer [...] kein römisches Blut“ flösse 118 – übrigens genau in dem Publikum, in dessen Adern anscheinend wohl genug römisches Blut floss, als es darum ging, Schillers Räuber zur Premiere am 13. Januar 1782 in Mannheim zu bejubeln. Bei der Rezeption von Schillers Fiesko ist man nicht mit einer politischen Unzulänglichkeit konfrontiert. Nicht politisch, sondern ästhetisch begründet, ist letztlich das Scheitern eines Stücks, das seinen titanischen Helden am Ende mit seinem hypertrophen Selbst ertrinken lässt – und zwar in Anwesenheit eines „verschworne[n] R epublikaner[s]“, 119 der zu guter Letzt gerade zum „Wolf Doria“ 120 „geh[t]“, 121 dem alten, verhassten Machthaber Genuas, den er das ganze Stück lang erbittert versucht hat, aus ‚Tyrannenhass‘ zu stürzen. Nur so viel an dieser Stelle zum ästhetischen Scheitern von Schillers „republikanischem Trauerspiel“. Auf andere Fragen sei hier abschließend die Aufmerksamkeit gerichtet: Was hat es mit dem persönlichen Scheitern des Titelhelden auf der textimmanenten Ebene des Stücks auf sich? Wieso soll gerade Fiesko, der rücksichtslose, titanisch handelnde und dabei stets kalt kalkulierende Machtspieler, 117 118 119 120 121
NA 4, 271. Wie Schiller am 5. Mai 1784 seinem späteren Schwager Reinwald mitteilt, NA 23, 137. NA 4, 11. NA 4, 119. NA 4, 121.
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am Ende so kläglich versagen? Wieso die Regie des eigenen Machtstücks so phrasenhaft verlieren? Wenn Fiesko virtù, und zwar gerade im amoralischen Sinn der Renaissance, 122 nicht mangelt – ist es dann fortuna, die imponderable Macht, die ihm den Rücken kehrt? 123 Oder ist Fieskos Ende die konsequente Folge eines sich zum Schluss als unzulänglich und fehlerhaft erweisenden Kontingenzmanagements – somit eine unverzeihliche, mit dem Tod zu bestrafenden Leichtsinnigkeit für einen modernen Machtstreber, der wie kaum einer wissen sollte, dass er niemals auf eine höhere Vorsicht vertrauen darf und dagegen in seiner grenzenlosen Selbstbezogenheit immer auf der Lauer sein muss? 124 Beide hier erwähnten Hypothesen vermögen durchaus einige Aspekte von Fieskos unrühmlichem Tod zu klären. Im Hinblick auf die Szene, die mit dem fatalen Sturz ins Wasser des neuen Herzogs von Genua endet, ist auch eine weitere Erklärung denkbar. Denn nachdem Fiesko seinen ‚Sieg‘ erreicht hat: Kommt ihm dabei nicht gerade jene psychophysische Kraft abhanden, die ihm einzig und alleine zum „Purpur“ 125 verholfen hatte? Bei dem bewirkten und erreichten Sturz der Dorias: Löst sich für Fiesko nicht gerade auch der Sinn seiner Existenz auf? Muss nicht das Nachlassen der Spannung dabei einem Zustand der psychophysischen Erschlaffung Platz machen, in dem sich auch das prometheische Ich des Helden zu verlieren droht? „Izt sind wir fertig“, 126 sagt Verrina zu Fiesko in der vorletzten Szene des Stücks. Fiesko habe sein Ziel erreicht – durch sein „Bubenstük“ 127 sei er zum neuen Herzog von Genua geworden. An dieser Stelle vermag der alte Verrina jedoch den siegreichen Fiesko zu seinem ersten Gnadengestus als Herrscher Genuas zu bewegen. Hier, am Ende von Schillers Verschwörung, willigt Fiesko auf Verrinas Antrag ein, nicht nur „die Galeerensklaven zu erlösen“, 128 sondern auch seinen Gnadenakt selbst den Betroffenen kundzutun. Die Szene erinnert nicht von ungefähr an die Episode, in welcher Franz Moor in den Räubern nach dem Pastor ruft: Das machtbesessene Selbst, welches das ganze Stück hindurch die Fäden des Spiels fest in der Hand gehalten hat, ordnet sich zum ersten Mal einem fremden Willen unter. „Mann, du bist schröklich“ – sagt Fiesko dabei zu Verrina –, „aber ich weis nicht, warum ich folgen mus“. 129 Und so begibt er sich zu dem „Meer“ 122 123 124
Vgl. Kondylis: Machiavelli, S. 12f. Vgl. Michelsen: Schillers Fiesko, S. 351–355. Genau im Sinne der hier vertretenen These schreibt Michelsen: „Die Vorstellung, die sich hier durchsetzt, ist nur möglich, kann überhaupt nur aufkommen infolge der Loslösung des Menschen von den Bindungen überpersönlicher Art, auf Grund der Tatsache, heißt das, daß der Mensch als Richtschnur für sein Handeln keine andere Instanz mehr als sich selbst anerkennt. So ist das autonome, das sich aufraffende, strebende Individuum eines ohne Grenzen, das mit sich über sich selbst hinaus will“, ebd., S. 353. 125 NA 4, 120. 126 NA 4, 119. 127 Ebd. 128 NA 4, 120. 129 Ebd.
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hin, das bald sein Grab wird. Von entscheidender Bedeutung ist hier, dass Fiesko dem Spiel eines anderen folgt – ja folgen „muß“, wo das Modalverb gerade jenen geschwächten Zustand der Unterordnung deutlich zum Ausdruck bringt, in dem sich Schillers kurz vor dem Tod stehender Protagonist befindet. So bleibt am Ende nur festzuhalten, dass Fiesko beim allerersten Mal, da er die Regie der Handlung aus den Händen verliert, den eigenen Tod findet – eine bemerkenswerte Laufbahn, die in Schillers Stück paradigmatisch für die Existenz eines titanischen Selbst steht, das am Ende von der eigenen psychophysischen Kraft verlassen wird, sei es, weil es von seiner Natur nicht mehr unterstützt wird, oder weil das erreichte Ziel die Spannung sinken lässt, die zuvor seinem Leben einen Sinn gegeben hatte. Im Kontext der restlosen und wertfreien „Rehabilitierung der Sinnlichkeit“, 130 im immanenten Zirkel der Kräftesteigerung und Kraftabnahme und dessen existenziellen Implikationen lässt sich auch der freilich ästhetisch schwache Schluss von Schillers Verschwörung d es Fiesko durchaus fruchtbar interpretieren. Man mag sich dabei fragen, ob nicht gerade im Spiegel dieser Interpretation auch die eigentliche ‚Modernität‘ von Schillers Stück und dessen Protagonisten am besten zu erkennen ist – die ‚Modernität‘ einer ‚Verschwörung‘ in a estheticis, deren politischer Teil vor allem eine Funktion der zu erzielenden ästhetisch-dramatischen Wirkung darstellt.
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Kondylis: Die Aufklärung, S. 490.
2. Die Moral des Siegers, der stets die Geschichte schreibt. Alfieris Congiura de’ Pazzi So war der Plan der Verschwornen, und das Zeichen zur Ermordung der beiden Brüder [Medici] sollte seyn, wenn der Priester, der das Hochamt hielte, beim zweiten Klange des Glöckchens die Hostie nehmen würde. Der Erzbischoff von Pisa wollte indeß mit seinen Leuten und mit Jakob Poggio sich des Stadtpallastes bemächtigen, die Rathsherren, die sich ihm widersetzen würden, umbringen lassen, und nach dem Tode der beiden Medici sollte der Rath gezwungen werden, die Regierung zum Vortheil der Verschwornen einzurichten. 1
Diese Passage entstammt einer Geschichte der Verschwörung der Pazzi, die im Jahre 1788 in einem Sammelband in Leipzig erscheint. Das Werk trägt den Titel Die G eschichte de r m erkwürdigsten R ebellionen und V erschwörungen a us de n mittlern und neuern Zeiten. Der Herausgeber des Bandes heißt Friedrich Schiller. Der Beitrag über die italienische Verschwörung wird dabei anonym mit dem Titel Die Verschwörung der Pazzi wider die Medici in Florenz im Jahre 1478 gedruckt; hinter dem anonymen Autor verbarg sich allerdings Schillers Schwager Wilhelm Reinwald. In unserem Rahmen wurde bereits Schillers Interesse für Geschichten von Verschwörungen und Rebellionen in den 1780er Jahren unterstrichen – zu einer Zeit, da diese Geschichten „gleichsam Mode und Waare für den Plaz“ darstellten, wie Schiller selbst im Oktober 1787 an den Verleger Crusius schreibt. 2 Dafür, dass Schillers Satz zu dieser Zeit, und überhaupt im 18. Jahrhundert, nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch auf der italienischen Halbinsel volle Gültigkeit beanspruchen kann, lassen sich einschlägige Beispiele anführen. Die Rolle der Verschwörung im italienischen Theater des 18. Jahrhunderts kann man anhand der Analyse mehrerer Dramen herausarbeiten, von Giovanni Vincenzo Gravinas Tragödie Appio Claudio (1712) über Durante Durantis Tragödie Virginia (1764) bis hin zu Francesco Saverio Salfis Melodrama Clitennestra (1801). 3 Vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt in Bezug auf das bereits angesprochene ästhetische Wirkungspotential dieser Geschichten überrascht es kaum, dass auch Vittorio Alfieri schon früh auf das Sujet einer ‚Verschwörung‘ aufmerksam wurde und dann bis zu seiner Tragödie Bruto secondo (1789) gar eine explizit gegen die Regeln der Tradition verstoßende „Dramaturgie der Verschwörung“ auf offener Bühne entwickelt als blutige „Handlung mit einem ausgeprägt visuellen Ausgang“. 4
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[Anonym]: Die Verschwörung der Pazzi wider die Medici in Florenz im Jahre 1478. In: Die Geschichte der merkwürdigsten Rebellionen und Verschwörungen aus den mittlern und neuern Zeiten. Bearbeitet von verschiedenen Verfassern, gesammelt und herausgegeben von Friedrich Schiller. Leipzig 1788, S. 226–274, hier S. 256f. NA 24, 160. Dem Thema „Verschwörungen“ zwischen 1700 und 1801 gewidmet ist Beatrice Alfonzettis Studie Congiure. Dal poeta della botte all’eloquente giacobino (1701–1801). Roma 2001. Ebd., S. 161 (Übers. P.P.).
https://doi.org/10.1515/9783110624090-017
Verschwörungen AlfierisCongiura Congiura de’ Pazzi Pazzi Alfieris de’
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1777 lernt Vittorio Alfieri in Siena den kunst- und literaturinteressierten Kaufmann Francesco Gori Gandellini kennen, der ihm die Lektüre der Werke Machiavellis aufs Wärmste empfiehlt und ihn dabei auch auf die vom Florentiner nacherzählte Geschichte der ‚Verschwörung der Pazzi‘ als geeignetes Sujet für eine Tragödie aufmerksam macht. Über diese denkwürdige Episode in der Geschichte der Stadt Florenz berichtet Machiavelli ausführlich in den ersten neun Kapiteln des VIII. Buches seiner postum erschienenen Historiae Fiorentinae (1532). Was die historische ‚Verschwörung der Pazzi‘ anbelangt, über die im Übrigen in den letzten Jahren durch die Entschlüsselung neuer Quellen ein weiteres bedeutendes Kapitel geschrieben wurde, 5 so stößt man hier im ‚republikanischen‘ Florenz der zweiten Hälfte des Quattrocento auf ähnliche politische und soziale Verhältnisse wie in dem ‚republikanischen‘ Genua, in dem einige Jahrzehnte später die Verschwörung der Familie Fieschi stattfinden wird. Man schreibt in Florenz das Jahr 1478. Seit 1434, mit der Rückkehr des verbannten Cosimo de’ Medici (1389–1464, auch ‚der Alte‘ oder pater p atrie genannt) in die Stadt, ist die Macht über die ‚Republik‘ de f acto in der Hand der Bankiersfamilie Medici. In Florenz haben die Medici das errichtet, was man zutreffend eine ‚Kryptosignorie‘ nennen kann: 6 Formal bleiben die republikanischen Institutionen unangetastet – sowohl Cosimo als auch seine Nachfolger verzichten weitgehend auf öffentliche Ämter; im Hintergrund lenken sie dennoch die politischen Schicksale der ‚Republik‘, und das vor allem durch das konsequente und systematische Betreiben ihrer Klientelpolitik. Man hat es hier mit einer Bankiersfamilie zu tun, die sich mit der Zeit als Erbdynastie an der Spitze der florentinischen Regierung etabliert hat. In Alfieris Tragödie La congiura de ’ Pazzi hält Lorenzo de’ Medici selbst die historischen Etappen des politischen Aufstiegs seiner Familie im Gespräch mit seinem Bruder Giuliano fest: Lorenzo.
Cosmus schon, Stellt sich als Mittelpunkt des Staates dar, Und Alles jauchz’t, als Vater froh ihm zu. Nichts oder wenig nur trug unser Vater Pietro zur Vollendung des so fein Begonnenen Gewebes bei […], Doch, daß in der Herrschaft Dem Vater er, und wir Pietro folgten, War schon ein mächt’ger Schritt, denn so gewöhnten Die Bürger an die erbliche Regierung Sich unvermerkt. Jetzt, da mit jedem Tag Die Feinde sich zerstreuen, schwächen, oder Zu Grunde gehen, da, zu gehorchen endlich 5 6
Vgl. Lauro Martines: April Blood. Florence and the Plot against the Medici. London 2003. Vgl. Nicolai Rubinstein: The government of Florence under the Medici (1434 to 1494). Oxford 1966 sowie Furio Diaz: Il Granducato di Toscana: I Medici. Torino 1987 (Storia degli stati italiani dal Medioevo all’Unità), S. 1–37.
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Die Freunde sich gewöhnen, oder doch Bequemen müssen, da jetzt zur Vollendung Des großen Werks, von Cosmus kühn begonnen, Uns Alles mahnt, wär’ Zögern Feigheit nur. 7
Wir erinnern uns: „Die Schicht der müßiggehenden Privatiers […] war in der Zeit Lorenzos de’ Medici voll herausgebildet“, ja „er selbst war ein angesehenes Mitglied dieser Schicht“, die „tonangebend für den Konservativismus, das Wiedererstarken feudaler Elemente“ in dieser Zeit war. 8 Die sprudelnde Quelle der Innovation und der Dynamik, welche den unaufhaltsamen Aufstieg des Bürgertums ermöglicht hatte, versiegt allmählich, je mehr sich die neue gesellschaftliche Klasse an der Macht befestigt: Kein Wunder, wenn die Renaissance – „dem Bogen der gesellschaftlichen Klasse [folgend], die sie geprägt hatte“ – „republikanisch“ begann und „höfisch“ endete, wie wir es oben schon einmal zitiert hatten. 9 Seit 1469 ist Lorenzo de’ Medici (1449–1492) – ein Enkel des Cosimo, wegen seiner großzügigen Förderung der schönen Künste später „Il Magnifico“ genannt – Stadtherr von Florenz; sein Bruder Giuliano (1453–1478) ist Mitregent. 1469 heiratet Lorenzos und Giulianos Schwester Bianca den jungen Guglielmo, einen Spross der mächtigen florentinischen Bankiersfamilie de’ Pazzi. 10 Unter dem toskanischen Himmel fehlt es selbstverständlich nicht an entgegengesetzten Interessen, an mehr oder minder offenen Machtansprüchen und gar an regelrechten Feindschaften. Eine starke Rivalität besteht zwischen Lorenzo und dem damaligen Papst Sixtus IV. – und dies offensichtlich nicht auf Grund gewichtiger Differenzen in theologicis. Der Papst hatte an der Grenze zur florentinischen Republik, bei der Festung Imola, eine aggressive Territorialpolitik verfolgt, die von der Pazzi-Bank mitfinanziert und von Florenz vehement kontrastiert wurde. Das kirchliche Oberhaupt hatte dabei der Medici-Bank sehr lukrative Rechte an der päpstlichen Vermögensverwaltung entzogen und sie der Familie Pazzi zugesprochen, was den Pazzis nicht zuletzt das Monopol über die Alaunminen im Kirchenstaat sicherte – Alaun stellte ein wichtiges Beizmittel in der Textilfärberei dar. Gegen den Widerstand der Medici hatte der Papst außerdem Francesco Salviati, 7
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Vittorio Alfieri: Die Verschwörung der Pazzi. Tragödie von Alfieri. Frei bearbeitet. In: Alfieri’s sämtliche Schauspiele; frei bearbeitet. Gotha 1825. Zweites Bändchen, S. 15. Soweit nicht anders angegeben, wird die deutsche Übersetzung von Alfieris Tragödie im Folgenden aus der angeführten Ausgabe zitiert. „Acchiuse / Già Cosmo in sè la patria tutta, e funne / Gridato padre ad una. O nulla, o poco, / Pier nostro padre alla tessuta tela /Aggiunse […;] ma intanto / Ei succedendo a Cosmo, e a Piero noi, / Si ottenne assai nell’avvezzar gli sguardi / Dei cittadini a ereditario dritto. / Dispersi poscia, affievoliti, o spenti / I nemici ogni dì; sforzati, e avvezzi / Ad obbedir gli amici; or, che omai tutto / Di Cosmo a compier la magnanim’opra / C’invita, inciampo or ne faria viltade?“, Vittorio Alfieri: La congiura de’ Pazzi. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 20: Tragedie. Edizione critica. Bd. XII. Hg. v. Lovanio Rossi. Asti 1968, S. 37f. Kondylis: Machiavelli, S. 21f. Ebd. Bei Alfieri heiratet Bianca den jungen Raimondo, dessen Vater Guglielmo heißt.
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Verschwörungen AlfierisCongiura Congiura de’ Pazzi Pazzi Alfieris de’
einen weitläufigen Verwandten der Pazzis, im Jahre 1474 zum Erzbischof von Pisa ernannt, woraufhin Lorenzo der Stadt Pisa, die territorial unter seiner Macht stand, befohlen hatte, Salviati von seinem Bischofssitz auszusperren. Schließlich hatte Lorenzo im Jahre 1477 ein rückwirkendes Erbschaftsgesetz erlassen, welches verhinderte, dass der Reichtum der Familie Pazzi aus einem erwarteten Erbe weiter wachsen würde. Vor diesem historischen Hintergrund kommt es in Florenz zum Plan einer Verschwörung gegen die Medici. Die Hauptverschwörer sind der Erzbischof Salviati und einige Mitglieder der Familie de’ Pazzi. Am 26. April 1478, während der Ostermesse im Dom Santa Maria del Fiore, wird Giuliano de’ Medici von einer Gruppe Verschwörer, darunter zwei Priestern, niedergestochen. Giuliano verblutet auf dem Boden der Kathedrale, während sein Bruder Lorenzo dem Anschlag verwundet entkommt. Der Versuch der Verschwörer, das Amt des Gonfaloniere und der Regierung zu besetzen, wird vereitelt. Der Aufstand scheitert: Wenn die Verschwörer im Vorfeld auf die Unterstützung der Bevölkerung gehofft hatten, so schlägt sich das Volk nach dem frevelhaften Mord im Dom – und nachdem bekannt wird, dass Lorenzo den Anschlag überlebt hat – auf die Seite der Familie Medici. Die Verschwörer und Salviati, obwohl Erzbischof, werden an den Mauern des Palazzo della Signoria erhängt. Jede Spur des Namens der Familie Pazzi wird in der Stadt getilgt. Alfieri, der möglicherweise auch Voltaires Schilderung der Geschichte der Pazzi-Verschwörung im Essai sur les mœurs et l’esprit des nations gekannt hat, 11 konnte seiner Lektüre von Machiavellis Istorie nicht nur die Darstellung der historischen Fakten des Jahres 1478 entnehmen, sondern auch jene negative Einschätzung der ‚Verschwörung‘ als politisches Kampfmittel gewinnen, die nicht von ungefähr auch in seinen parallel zur Congiura niedergeschriebenen Traktat Della tirannide einfließt. 12 Bei Machiavelli liest man eindeutige Worte über die Grenzen der ‚Verschwörung‘ als politisches Mittel zur Macht: Seit dem Siege des Jahres Sechsundsechzig […] vereinte sich die gesamte Gewalt so sehr in den Händen der Medici und diese stiegen zu solcher Autorität, daß die Misvergnügten entweder in diese Verhältnisse sich ruhig fügen, oder, wollten sie eine Aenderung herbeiführen, dies heimlich und mittelst Verschwörungen versuchen mußten. Solche Mittel aber, da sie selten von Erfolg begleitet sind, stürzen meist ihre Urheber ins Verderben, während sie die Größe der Bedrohten sichern. 13
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Vgl. Di Benedetto: Dal tramonto dei lumi al Romanticismo, S. 130f. Vgl. Kap. V. „Bis zu welchem Grade man die Tyrannei ertragen kann“ im zweiten Buch von Alfieris Traktat Della tirannide, Alfieri: Della Tirannide, S. 92–96, hier insb. S. 95. Niccolò Machiavelli: Niccolò Machiavelli’s Florentinische Geschichten. Übersetzt von Alfred Reumont. Leipzig 1846. Bd. 2, S. 233. „Ma, dopo la vittoria del ’66, si ristrinse in modo lo stato tutto a’ Medici, i quali tanta autorità presono, che quelli che ne erano mal contenti conveniva o con pazienza quel modo del vivere comportassero, o, se pure lo volessero spegnere, per via di congiure e secretamente di farlo tentassero: le quali perché con difficultà succedono, partoriscono il più delle volte a chi le muove rovina, e a colui contro al quale sono mosse grandezza“,
Verschwörungen Congiura de’ Alfieris Congiura de’ Pazzi
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Auch wenn Machiavelli mit diesen Worten seine Schilderung der PazziVerschwörung in seinen Istorie erst einleitet, hat er hier offensichtlich schon den historischen und politischen Ausgang des versuchten Aufstandes im Blick: Tatsächlich stellte die Pazzi-Verschwörung eine Konspiration dar, die historisch betrachtet durchaus „ihre Urheber ins Verderben“ stürzte und die Größe des entkommenen Opfers noch vermehrte. Darüber hinaus wirft Machiavellis negatives Urteil über die Zweckmäßigkeit der ‚Verschwörung‘ als politisches Kampfmittel bereits an dieser Stelle einen negativen Schatten auf die Familie Pazzi (und auf Salviati) selbst – als die wahren Anstifter des gescheiterten Anschlags auf die legitimen Machthaber der Stadt. Dementsprechend positiv fällt auch Machiavellis Fazit über die historische Figur des Lorenzo de’ Medici am Ende des achten Buches der Historiae Fiorentinae aus. Nach Beendigung des Krieges gegen Sarzana im Jahre 1487 und bis zum Tod des Erlauchten im Jahre 1492 hätten die Florentiner „in größtem Glück“ gelebt: „Denn seitdem die Waffen ruhten, wozu Lorenzo durch Staatsklugheit und Autorität es gebracht hatte, richtete er seine Gedanken darauf, sich und die Stadt groß zu machen“. 14 Im Zeichen der ‚Größe‘ – einer Größe, die der Stadtherr für sich und für Florenz angestrebt habe – steht somit der historische Lorenzo in Machiavellis historiographischer Darstellung, in der schließlich ein durchaus positives historisches Bild des Erlauchten überliefert wird. Was die Episode der Pazzi-Verschwörung im Besonderen angeht, sei letztlich hervorgehoben, dass Machiavellis Darstellung, wörtlich genommen, den Spruch bestätigt, dass die Geschichte stets von den Siegern geschrieben wird. 15 In unserem Rahmen ist das von Machiavelli vermittelte historische Bild sowohl der Pazzi-Verschwörung als auch des Lorenzo de’ Medici durchaus relevant, um sich im Kontrast dazu die gewichtigen Abweichungen zu vergegenwärtigen, die Vittorio Alfieri, ausgehend von seiner ‚republikanischen‘ bzw. ‚obliquen‘ Deutung des florentinischen Geschichtsschreibers, in seiner Congiura de ’ Pazzi vollzieht. Bei Alfieri sind es zunächst einmal die Mitglieder der Familie Pazzi, also die Anstifter der Verschwörung, welche die in der Tragödie positiv besetzte Rolle der ‚Freiheitskämpfer‘ einnehmen; ihre Antagonisten und Widersacher, die Brüder Medici, und dabei insbesondere Lorenzo, stilisiert Alfieri dagegen zu hassenswerten ‚Tyrannen‘. Somit sind die Fronten in Alfieris Tragödie zunächst einmal klar: Auf der einen Seite stehen Guglielmo und Raimondo de’ Pazzi sowie der Erzbi-
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Niccolò Machiavelli: Istorie fiorentine. In: Machiavelli. Enciclopedia machiavelliana. Istituto dell’Enciclopedia italiana fondata da Giovanni Treccani. Roma 2014, S. 265–506, hier S. 476. Ebd., S. 305f. Hierbei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die ‚republikanische‘ Deutung von Machiavellis historiographischem Werk, die auch Alfieri teilt, im 18. Jahrhundert durchaus verbreitet war und dass dabei auch das Urteil über die Machtausübung der Familie Medici in Florenz in dieser Interpretation entsprechend negativ ausfällt, vgl. Guido Mazzoni: L’influenza di Machiavelli sulla Congiura de’ P azzi di Alfieri. In: Emanuella Scarano u. Donatella Diamanti (Hg.): Riscrittura, intertestualità, transcodificazione. Atti del Seminario di Studi di Pisa, gennaio-maggio 1991. Pisa 1992, S. 231–260, hier S. 250f.
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Verschwörungen AlfierisCongiura Congiura de’ Pazzi Pazzi Alfieris de’
schof Salviati; auf der anderen Seite Lorenzo und Giuliano de’ Medici. Zwischen die entgegengesetzten Parteien stellt Alfieri lediglich Bianca de’ Medici, die Schwester der ‚Tyrannen‘, die jedoch Raimondo de’ Pazzi geheiratet und ihm bereits einige Kinder geboren hat. Weitere Personen, ausgenommen stummer ‚Soldaten‘, gibt es in Alfieris Congiura nicht. Ähnlich wie in unserer Analyse von Schillers Fiesko ist es hier notwendig, den Fokus von Alfieris Interesse am historischen Stoff seiner Tragödie herauszuarbeiten – ein Interesse, das sich wiederum nicht primär im Bereich des Politischen oder Moralischen, sondern des Ästhetischen verorten lässt. Wie es sich in der Analyse der Congiura de’ Pazzi bald klarstellt, stehen weder Machiavellis allgemeine historische Darstellungen noch seine staatstheoretischen Überlegungen bei Alfieri im Mittelpunkt. Das Florenz des Quattrocento fungiert hier lediglich als historische Kulisse, vor der ein besonders ausgeprägter und existenziell gefärbter Konflikt um die Macht zwischen herausragenden Individuen stattfindet – ein Konflikt zwischen ‚großen Männern‘ der Renaissance, die sich allerdings nicht, wie Machiavelli es wollte, zwar jenseits moralischer Normen, jedoch stets zu Gunsten des übergeordneten Gemeinwohls bekämpfen, sondern sich skrupellos bekriegen, weil sie sich bereits über jede Regel erhaben wähnen und erst in einem Kampf der Extreme und Superlative existenziell aufzugehen glauben. Letztlich dreht sich Alfieris Tragödie genau um diese Art von Machtkampf, nämlich um ein solipsistisches Streben nach Macht, das die Existenz der Figuren gänzlich durchdringt und das eigentlich jenseits von jeder sozialen Dimension ausgetragen wird. Alfieris entschiedene Autonomiebehauptung gegenüber seiner historischen Quelle, inbegriffen seiner Umpolung des herkömmlich positiv besetzten historischen Bildes von Lorenzo de’ Medici, ist daher vor diesem Hintergrund zu interpretieren. Denn nicht um ein bedeutendes Ereignis in der florentinischen Geschichte des Rinascimento oder gar allgemein um das historische Gedächtnis Italiens geht es hier vorrangig, sondern vor allem um einen Konflikt zwischen in der Renaissance agierenden ‚Titanen‘, die dennoch in ihrem maßlosen Drang, der Welt die Form des eigenen Willens aufzuzwingen, ihre eigentliche Herkunft aus dem späten 18. Jahrhundert verraten. Den in Alfieris Congiura de’ Pazzi existenziellen Machtkonflikt zwischen ‚Tyrannen‘ und ‚Freiheitskämpfern‘ in den Fokus der Analyse zu nehmen, ermöglicht es, nicht nur bedeutende Aspekte dieses Werks ins rechte Licht zu rücken – etwa die in der Tragödie mehrmals angesprochene Entgegensetzung von Kraft und Schwäche, die Vater-Sohn-Beziehung im Hause Pazzi, die Rolle Biancas als weiblicher Kontrastfigur von integrer Menschlichkeit im Gegensatz zur hinterlistigen und verlogenen Welt der politisch intrigierenden Männer –, sondern auch den pessimistischen Grundton einer Tragödie zu markieren, in welcher der zum Scheitern verurteilte Kampf gegen die ‚Tyrannei‘ am Ende, im offenen Widerspruch zum Schema des ‚Sittlich-Erhabenen‘, auch in seiner symbolischen Bedeutung als moralisch überlegenem Willensakt desavouiert wird.
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Ins Herz des Konflikts, der in Alfieris Tragödie dargestellt wird, führt ohne Umschweife bereits das allererste Gespräch zwischen dem älteren Guglielmo de’ Pazzi und seinem Sohn, dem jungen Raimondo. Das Eröffnungsgespräch der Tragödie soll zwar auch die historisch-politischen Koordinaten des dargestellten Konflikts deutlich machen. Doch eigentlich steht das Politische hier nur vordergründig im Mittelpunkt, denn dabei lernt man vor allem die Protagonisten der Tragödie kennen, das heißt ihre Geschichte, ihren Charakter sowie ihre grundsätzliche Haltung unter dem tyrannischen Joch jener Medici, die erst im zweiten Aufzug als ihre Antagonisten die Bühne betreten. Am Anfang von Alfieris Tragödie steht das Pathos der Pazzis – zusammen mit jenem Gefühl der Ohnmacht gegenüber den Tyrannen, das der junge Raimondo nicht länger bereit ist zu erleiden:
Raimond. Ertragen immer, immer dulden nur! Sonst keinen andern Rath vermag mein Vater Mir zu ertheilen? Ist er mit der Knechtschaft Schon so vertraut, daß er der Medizäer Schmachvolles, drückendes, verderblich’s Joch nicht mehr empfindet? 16
Die Tragödie setzt offensichtlich mitten in einem Gespräch an, in dem ein besorgt und machtlos wirkender Vater darum bemüht ist, das erhitzte Gemüt seines aufgebrachten, nach ‚Freiheit‘ strebenden Sohnes zu kühlen. Schwere Beleidigungen hätten die Medici der Pazzi-Familie zugefügt: Güter hätten sie ihnen „geraubt“, die Gesetze gar geändert, um sie zu verletzen. Nun schickten sie sich an – wie man höre –, Raimondo zu allem Überfluss die „Senatorwürde“ zu entziehen, die sie ihm, dem jungen Raimondo, einst verliehen hatten. Durchaus relevant ist das anfängliche Gespräch zwischen Vater und Sohn in Alfieris Congiura nicht zuletzt deswegen, weil darin die unterschiedliche, altersbedingte Lebenseinstellung von Guglielmo und Raimondo offen thematisiert wird, wobei das Thema der Kraft eine zentrale Rolle spielt. Wie kommt es, so wundert sich der junge Raimondo, dass sein Vater bereit sei, seinen Nacken unter das Joch der Medici zu beugen – gerade er, der seinem Knaben noch die Freiheit älterer Zeiten hoch zu preisen und die neueren Zeiten mit Nachdruck zu beklagen pflegte? In Alfieris Tragödie legt Guglielmo von Anfang an die eigene Ohnmacht gegenüber der politischen Lage der Stadt an den Tag: „Ach, was kann ich tun?“ fragt er rhetorisch. Zu dieser bedauernswürdigen Lage sei es „endlich durch die Zwietracht / Der Bürger von Florenz gekommen“ 17 – jeder Versuch einer politischen Veränderung würde am Ende 16
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Alfieri: Verschwörung, S. 3. „Soffrire, ognor soffrire? Altro consiglio / Darmi, o padre, non sai? Ti sei tu fatto / Schiavo or così, che del medíceo giogo / Non senti il peso, e i gravi oltraggi, e il danno?“, Alfieri: Congiura, S. 25. Ebd. „Ma pur, che fare degg’io? Ridotti a tale / Ha il parteggiar i cittadini di Flora“, ebd.
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nur die Macht der Tyrannen verstärken. Doch nicht nur plädiert Guglielmo an dieser Stelle für die Erhaltung des status quo in der Überzeugung, dass jedes aktive Eingreifen noch Schlimmeres nach sich ziehen würde. Vielmehr zeigt sich Guglielmo hier auch darüber im Klaren, dass man für jedes große Werk vor allem Kraft braucht – jene Kraft, über die das Alter nicht mehr in vollem Maße verfügt, sodass es schon von Natur aus zunehmend ‚konservativ‘ werden muss: Guglielmo. Es gab, ich läugn’es nicht, einst eine Zeit, Wo ich erzürnt, unbiegsam, stolzen Geistes, Gold, Ehre, Leben aufgeopfert hätte, Um nur, im allgemeinen Untergang Zugleich die neuen Zwingherrn zu begraben. Dem jungen Feuerkopf [scheint] Alles leicht; [und so war ich]. 18
Im Verlauf der Jahre sei es anders gekommen, wie Guglielmo seinem Sohn berichtet. Da Guglielmo bei einem erklärten Kampf gegen die neuen Tyrannen nur „schwachen und vergebnen Widerstand“ hätte leisten können, habe er entschieden, seinen Sohn Raimond mit Bianca de’ Medici zu verbinden und seine Familie dadurch zumindest vor den härteren Schlägen der florentinischen Machthaber selbst in Schutz zu nehmen. Mit einem bezeichnenden Hinweis auf sein Alter schließt Guglielmo das Gespräch am Ende des ersten Auftritts ab: „Hör’ mich, mein Sohn, vertraue der Erfahrung / Des grauen Haupts“. 19 Sein Rat für den Sohn lautet dabei: schweigen und ertragen – nicht zuletzt deswegen, weil „die fürchterlichste Rach’ […] stets die Tochter / Des tiefsten Schweigens“ sei und die Zeiten für eine solche noch nicht reif seien. Und wenn man lernen wollte, wie man hasst – so Guglielmos prägnante Bemerkung am Ende des Dialogs mit dem Sohn –, so sollte man sich an den freundlichen Gesichtern ein Beispiel nehmen, welche die Tyrannen gerade ihnen, den Pazzis, zu zeigen pflegten. Der junge Raimondo – jener prädestinierte ‚Freiheitsheld‘ von Alfieris Tragödie, in dessen früher Jugend sein Vater bereits die Keime „ungebundner Freiheit“ 20 entdeckt hatte – ist allerdings allzu ungeduldig, das Joch der Medici abzuschütteln. Im Rat des Vaters will er nun lediglich den verängstigten Konservativismus eines geschwächten alten Mannes widerspiegelt sehen. Eindeutig kommt die scharfe Entgegensetzung von starker Jugend und geschwächtem Alter in dem kurzen Selbstgespräch an den Tag, das Raimondo führt, nachdem er seinen Vater verabschiedet hat: 18
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Alfieri: Verschwörung, S. 4. „Tempo già fu, nol niego, ov’io pien d’ira, / D’insofferenza, e d’alti spirti, avrei / Posto in non cal ricchezze, onori, e vita, / Per abbassar nuovi tiranni insorti / Su la comun rovina: al giovenile / Bollor tutto par lieve; e tale io m’era“, Alfieri: Congiura, S. 26. Alfieri: Verschwörung, S. 7. „Odimi, o figlio: / Ed al bianco mio crine, ed alla lunga / Esperienza or credi […/] Alta vendetta, / D’alto silenzio è figlia“, Alfieri: Congiura, S. 29. Alfieri: Verschwörung, S. 5. „D’impaziente libertade i semi“, Alfieri: Congiura, S. 27.
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Raimond. Dahin, o Vater, ist’s mit mir gekommen, Daß du zum Lehrer, in der Kunst zu dulden, Dich mir erbietest! Bist du noch derselbe, In dem einst seinen eifrigsten Vertreter Das Vaterland verehrte. – Ach wie macht Des Alters Eis zur Knechtschaft so geschickt! — Ha, lehrt fortan das Leben nichts als zittern, Gehorchen, dulden, schweigen, dann will ich, Statt dieser losen niederträcht’gen Künste Die bittre Kunst zu sterben lieber lernen. 21
In Raimondos Worten und in der in Alfieris Tragödie dargestellten Entgegensetzung der Generationen spiegelt sich der Grundcharakter der Modernität wider, die verstärkt als Epoche der Jugend in Erscheinung tritt – einer ‚Jugend‘, in der sich die kraftbasierte, psychophysische Koordination als Wert durchzusetzen anfängt und die „Erfahrung des grauen Haupts“ spiegelbildlich in den Hintergrund gedrängt wird. Es wird noch zu sehen sein, dass auch Raimondos hauptsächlicher Antagonist Lorenzo de’ Medici bei Alfieri vor allem, und nicht von ungefähr, als starker junger Mann in Erscheinung tritt. Doch Raimondos kurzes Selbstgespräch am Anfang von Alfieris Tragödie verrät weiterhin Grundlegendes – und das nicht ohne Absicht. Die ersten Worte des zu sich selbst sprechenden Sohnes nach dem Treffen mit dem entmutigten Vater lauten: Raimond. ...Ich wage nicht, mich ganz ihm zu vertrauen... Erwarten will ich Salviati’s Rückkunft Fürerst. Der Vater ahnet keinen meiner Entworfenen Pläne, weiß nicht, daß für jetzt Besänftigung nicht, nein Erbitterung Der Unterdrücker nur zum Ziele führt. 22
Wenn man bei der Lektüre des ersten Auftrittes gemeint hatte, Raimondo wäre ein jugendlich-impulsiver, dabei argloser und von einem reinen Ideal der Freiheit gänzlich erfüllter Bürger Florenz’, so muss man in der weiteren Auseinandersetzung mit Alfieris Tragödie bald das eigene Urteil revidieren. Denn am Anfang der Congiura de ’ Pazzi, da Raimondos Dialog mit seinem Vater stattfindet, laufen seine Verschwörungspläne bereits auf Hochtouren. Jenes Gefühl der Ohnmacht 21
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Alfieri: Verschwörung, S. 8. „Ahi padre! a me tu mastro / Or del soffrir ti fai? Se’ tu quel desso, / Di cui non ebbe il difensor più ardente / La patria un dì? Quanto in servir fa dotto / La gelida vecchiezza! — Ah! se null’altro, / Che tremare, obbedir, soffrir, tacersi, / Col più viver s’impara; acerba morte, / Pria che apparar arte sì infame, io scelgo“, Alfieri: Congiura, S. 29. Alfieri: Verschwörung, S. 8. Die Übersetzung der ersten Zeile wurde hier leicht verändert. „... Non oso in lui fidarmi... A queste rive / Torni Salviati pria. — De’ miei disegni / Nulla il padre penétra: ei non sa, ch’oggi, / Più che placargli, inacerbir mi giova / Questi oppressori“, Alfieri: Congiura, S. 29.
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Verschwörungen AlfierisCongiura Congiura de’ Pazzi Pazzi Alfieris de’
gegenüber den florentinischen Tyrannen, das vor allem die Worte des alten Guglielmo an den Tag legen, hat der junge Raimondo bereits für sich in ein Gefühl der Übermacht gegenüber dem Geschlecht der Medici verwandelt – ein Gefühl, das sich bereits in einen regelrechten konspirativen Plan gegen die Unterdrücker übersetzt hat. Raimondo ist zwar von einer buchstäblichen Freiheitswut erfüllt, in der seine ganze Existenz aufgeht. Das bedeutet allerdings mitnichten, dass er naiv in seinen Kampf gegen die neuen Unterdrücker der Stadt Florenz ziehen würde. All seine Schachzüge sind ganz im Gegenteil aufs Genaueste durchgeplant und auf Erfolg abgestimmt – einen Erfolg, der nicht ohne massive Zuhilfenahme der Sphäre des Scheins gesichert werden kann. Dementsprechend verlogen und künstlich ist, wie sich bald herausstellt, auch ein größer Teil von Raimondos erstem Gespräch mit seinem alten Vater. Wenn ihn dieser zur besonnenen Mäßigung gegenüber den Tyrannen gemahnt hat, so weiß Raimondo bereits allzu genau, dass er Florenz’ Machthaber vielmehr erbittern muss, damit die Willkür der voraussehbaren Bestrafung dann zur politischen Rechtfertigung der bereits geplanten subversiven Aktion verwendet werden kann. 23 Spätestens bei der Lektüre des zweiten Auftritts des ersten Aktes wird klar, dass der anfängliche Monolog zwischen Vater und Sohn für den letzteren einen instrumentellen Charakter besitzt, denn fern von einem fairen Austausch im Zeichen des Wahrhaften dient das Gespräch Raimondo vielmehr dazu, die Vertrauenswürdigkeit seines Vaters und vormaligen heißen Freiheitskämpfers und Patrioten auf die Probe zu stellen. Nach dem Gespräch entscheidet sich Raimondo pragmatisch dazu, den Vater nicht in die bereits geschmiedeten Verschwörungspläne einzuweihen, wobei er hier paradoxerweise den alten Guglielmo genau beim Wort nimmt, der ihn soeben darauf hingewiesen hatte, dass „die fürchterlichste Rache“ „stets die Tochter des tiefsten Schweigens“ zu sein pflegt. 24 Im dritten Akt tritt der nach seiner päpstlichen Audienz in Rom zurückgekehrte Mitverschwörer Erzbischof Salviati auf und bringt im Gespräch mit Raimondo seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass der alte Guglielmo noch nicht in die Umsturzpläne eingeweiht worden sei: Salviati. Was sagst du mir? – Guglielmo weiß Noch nichts? – Was morgen er mit Tages Anbruch Vollenden soll, das brauche, meinst du wohl, Er jetzt bei Sonnenuntergange noch Nicht zu erfahren? 25
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Vgl. Alfieri: Congiura, S. 29. Alfieri: Verschwörung, S. 7. „Alta vendetta, / D’alto silenzio è figlia“, Alfieri: Congiura, S. 29. Alfieri: Verschwörung, S. 29. „Oh! che mi narri? / Nulla Guglielmo sa? Ciò ch’ei pur debbe / Compiere al nuovo sol, ti par ch’ei l’abbia / Ad ignorare, al sol cadente?“, Alfieri: Congiura, S. 52.
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Dabei weiß Raimondo sehr wohl, dass der „greise Vater“ der einzige ist, der – wie er sagt – „dem Unternehmen [...] Gewicht zu geben“ vermöge; alle Vorbereitungen auf den Anschlag seien bereits getroffen, doch niemand wisse, „wem, wo, wenn’s“ gelten soll – und „dürfe[] es auch nicht wissen“. 26 Mit Bezug auf diese Textpassage wurde in der Forschung behauptet, Raimondo mache sich hier einen von Machiavellis Leitsätzen zu eigen. Denn in den Discorsi sei zu lesen, dass die Mitverschwörer nicht früher mit den genauen Umsturzplänen vertraut zu machen seien, als diese wirklich in die Tat umgesetzt werden sollen, damit sie konkret keine Zeit hätten, an der Erhebung zu zweifeln oder gar die Hauptverantwortlichen zu verraten. 27 Wenn man sich die Brisanz vergegenwärtigt, die jedem subversiven Plan per se innewohnt, ist auch Machiavellis eindringliche Mahnung zur Vorsicht und Verschwiegenheit nicht schwer nachzuvollziehen. Doch besitzt Machiavellis Leitsatz ganz allgemeinen Wert und lässt sich als pragmatische Regel bei allen Konspirationen, und ohne Rücksicht auf die einzelnen Mitbeteiligten, anwenden. In Alfieris Congiura hat man es dagegen mit einem spezifischen Einzelfall zu tun, wobei sowohl Raimondo als auch Salviati der Überzeugung sind, dass Guglielmo gar der einzige sei, der dank seines Ansehens den geplanten Aufstand nobilitieren könne. Durchaus signifikant ist daher, dass Raimondo im Gespräch mit Salviati genau das Alter und die Schwäche des Vaters wiederum als Gründe angibt, warum es allzu riskant gewesen wäre, Guglielmo bereits früher in die schon geschmiedeten Komplottpläne einzuweihen: Raimond. Glaubst du denn, daß man Es wagen dürf’, ein solch Geheimniß preisZugeben, daß wir einem Manne, zwar Freisinnig von Natur, doch schwach vor Alter, Wär’s auch nur über Nacht zur Ueberlegung Es anvertrauen dürften? Wen’ge Stunden Nur hält die kühne Flamm’ in den erschlafften Blutleeren Adern nach; die Ueberlegung Kehrt bald zurück, und Unentschlossenheit Folgt ihr, man zögert, schwankt, die Aengstlichkeit Steckt schnell die Adern an, und unter Furcht Und Zweifel flieht die Zeit, der Zorn verraucht, Der Aufschlag scheitert, und dem Unterdrückten Bleibt nichts zurück als ew’ger Knechtschaft Schande. 28
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Alfieri: Verschwörung, S. 29. „Presto il mio braccio è da gran tempo: ed altri / Ne ho presti, assai: ma, chi ferir, nè dove, / Come, o quando, non san; nè saper denno. / Manca a tant’opra il più: l’antico padre, / Guglielmo, quei che avvalorar l’impresa / Sol può, la ignora“, Alfieri: Congiura, S. 51. Mazzoni: L’influenza di Machiavelli, S. 246. Alfieri: Verschwörung, S. 29f. „E pensi, / Che un tanto arcano avventurar si deggia? / Che ad uom, (nato feroce, è ver) ma fatto / Debol per gli anni, ad accordar pur s’abbia / Una notte ai pensieri? Oltre a poche ore / Bollor non dura entro alle vuote vene; / Tosto riede prudenza; indi
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Die höchste Konsequenz bei der Anordnung der eigenen Pläne und Intrigen setzt höchste psychophysische Kraft voraus: Und größte Stärke sowie höchste Zweckmäßigkeit in der Durchsetzung der eigenen Pläne stellen offensichtlich das Koordinatensystem dar, in dem Raimondo das eigene Handeln verortet. Moralische Skrupel, welche die tatkräftige, auf Erfolg abzielende Umsetzung des vorgenommenen Plans hindern könnten, werden systematisch in den Hintergrund gedrängt. Nur folgerichtig ist es daher, dass sich Raimondo im anfänglichen Dialog mit seinem Vater metaphorisch eine ‚Maske‘ aufsetzt und sich vor ihm regelrecht verstellt. Und nur zu konsequent, dass er kurz danach auch seine Frau Bianca offensichtlich belügt, indem er ihr versichert, er sei zwar nicht „heiter“, sie dürfe dennoch „keinen Ausbruch gewaltsamer Pläne fürchten“. 29 Es mag sein, dass nur eine verdorbene Zeit und ein verdorbener Staat – wie Raimondo im dritten Akt selbstgerecht argumentiert – daran schuld seien, dass es „zu großen Zwecken des Trugs bedarf!“. 30 Bezeichnend ist allerdings, dass Alfieri seinen Freiheitshelden hier – wie an anderer Stellen in dieser Tragödie 31 – explizit auf die eigentümliche Dichotomie von traditionellem moralischem Gefühl und zweckmäßigem Handeln hinweisen lässt und dass sich seine Figur dann durchaus bereit zeigt, das Moralische auf dem Altar des Pragmatischen zu opfern. Was schon an dieser Stelle auffällt, ist jedenfalls die Bedeutung, die Alfieri von Anfang an den Themen der Jugend und der Kraft in seiner Tragödie beimisst. Spiegelbildlich zum ersten Aufzug setzt auch der zweite Akt von Alfieris Congiura de’ Pazzi mitten in einem Gespräch an. Auf die Bühne treten nun Florenz’ ‚Tyrannen‘ Lorenzo und Giuliano de’ Medici. Giuliano plädiert für Umsicht und Mäßigung in der Machtausübung über die Stadt – schließlich liege „das Joch“ noch nicht so fest, dass sich die Brüder Medici erlauben könnten, unverhüllt als „Fürsten“ zu regieren. 32 Lorenzos Vertrauen auf die eigene Stärke und Gewalt („possanza“) kennt dagegen keine Grenzen. Selbstvertrauen ist ja das A und O von Lorenzos allgemeiner Machteinstellung, die von Anfang an geradezu plakativ in Alfieris Tragödie an den Tag gelegt wird. Warum Mäßigung und Milde zeigen? – fragt Lorenzo, indem er ein Argument von Alfieris Abhandlung Della t irannide umkehrt und von der Warte des Machthabers aus präsentiert: Wenn die Unter-
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incertezza, / E lo indugiare, e il vacillare, e il trarre / Gli altri in temenza; e fra i timori e i dubbi / L’impresa, il tempo si consuma, e l’ira, / Per poi restar con ria vergogna oppressi“, Alfieri: Congiura, S. 52. Alfieri: Verschwörung, S. 12. Alfieri: Congiura, S. 33. Alfieri: Verschwörung, S. 31. Alfieri: Congiura, S. 53. In demselben Auftritt etwa vertraut Raimondo dem Erzbischof Salviati an, dass es ihm schmerze, sich „zu einem solchen edlern Unternehmen […] solcher niedern Mittel zu bedienen“: Er müsse sowohl die Hilfe Roms, das heißt die Hilfe des Papstes („des Mittelpunktes der ärgsten Sklaverei“) annehmen als auch die ihm „wiederfahrne Schmach“ (also private Ressentiments) zum „Vorwand der allgemeinen Rache“ verwenden, damit die dekadenten Mitbürger, die kein offenes Ohr mehr für das Größte hätten, überhaupt mobilisiert werden können. Vgl. Alfieri: Verschwörung, S. 32. Alfieri: Congiura, S. 54. Alfieri: Verschwörung, S. 14. Alfieri: Congiura, S. 37.
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drückten nicht ‚sklavisch‘ wären – wenn sie wirklich „Männer“ wären, von denen eine konkrete Gefahr ausgehen könnte –, wie hätten sie selbst, die Medici, dann in Florenz zu dem werden können, was sie tatsächlich geworden sind? 33 Lorenzo. Des Henkersbeil bediente Sich Sylla wohl in Rom, hier wär’ zu viel Die Ruthe schon. Meine Stimme reicht aus, Um sie zittern zu machen. 34
Der erste Auftritt des zweiten Aufzugs dient offensichtlich dazu, sowohl das grenzenlose Selbstvertrauen des Lorenzo darzustellen als auch die resolute Geringschätzung zu unterstreichen, mit der er der Bürger Florenz’, und besonders des Hauses Pazzi, gedenkt. Auffällig ist das Leitmotiv von Lorenzos selbstsicherer Stärke, das sich wie ein roter Faden durch die ganze Tragödie durchzieht – von seinem ersten Auftreten, über das überlebte Attentat bis hin zu seinem Siegesbild, mit dem Alfieris Congiura bezeichnend abschließt. Was uns aber hier am meisten interessieren sollte, ist nicht der Umstand, dass Lorenzos kraftbasierte Überheblichkeit in Alfieris Tragödie himmelschreiend ist, sondern vielmehr, dass sie am Ende keine moralische Kompensation nach dem ästhetischen Schema des SittlichErhabenen findet, ja ganz umgekehrt gerade als solche offene Bewunderung erfährt. 35 Im Vergleich zu seinem Bruder Giuliano, der stets zur Milde und Umsicht ermahnt, erscheint Alfieris Lorenzo eher impulsiv sowie stets selbstsicher und angstfrei. In seine Tragödie übernimmt Alfieri die Charakterbeschreibung der Brüder Medici, die Machiavelli in seiner Geschichte vo n F lorenz dargeboten hatte: Wie beim Geschichtsschreiber prägnant zu lesen, sei Lorenzo „durch Jugend und Macht angespornt“ gewesen, während der bedachtsame Giuliano befürchtet habe, „sie würden Alles verlieren, weil sie nach zu vielem strebten“. 36 In der Forschung 37 wurden Giuliano und Lorenzo wiederholt als Verkörperung jener zwei Eigenschaften und Fähigkeiten interpretiert, die für Machiavelli den idealen ‚Fürsten‘ kenn33 34
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Ebd. Alfieri: Verschwörung, S. 16. Die Übersetzung der letzten Zeile der zitierten Passage wurde hier verändert. „La scure in Roma / Silla adoprò; ma qui, la verga è troppo: / A far tremarli, della voce io basto“, Alfieri: Congiura, S. 38. Vgl. weiter unten die Bemerkung des Guglielmo de’ Pazzi in Bezug auf den ‚Tyrannen‘ Lorenzo: „Hoher Muth“ [„alti sensi“] würde den Herrscher „begeistern“; er sei „würdig“, „kein Tyrann zu seyn“, Alfieri: Verschwörung, S. 52. Alfieri: Congiura, S. 71. Machiavelli: Niccolò Machiavelli’s Florentinische Geschichten. Bd. 2, S. 235. „Della qual cosa Giuliano de’ Medici molte volte con Lorenzo suo fratello si dolse, dicendo come e’ dubitava che, per volere delle cose troppo, che le non si perdessero tutte. Non di meno Lorenzo, caldo di gioventù e di potenza, voleva ad ogni cosa pensare, e che ciascuno da lui ogni cosa ricognoscesse“, Machiavelli: Istorie fiorentine, S. 477. Vgl. beispielsweise Mazzoni: L’influenza di Machiavelli, S. 260; Di Benedetto: Dal tramonto dei lumi al Romanticismo, S. 83f. sowie Boggione: Il tempo della Tirannide, S. 75f.
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zeichneten. Denn wie man im Principe liest, sollte sich der Fürst bei der Ausübung seiner Macht am Tierreich ein Beispiel nehmen: Er müsse – nach der berühmten Formel Machiavellis – „Fuchs sein, um die Schlingen zu erkennen, und Löwe sein, um die Wölfe zu schrecken“. 38 So gesehen, stelle der bedachtsame und zurückhaltende Giuliano in Alfieris Congiura den „Fuchs“ dar, während der junge, starke und impulsive Lorenzo als „Löwe“ in Machiavellis Sinne in Betracht käme. Bei der allgemeinen Analyse von Alfieris Congiura sind dennoch Zweifel an der wirklichen Tragfähigkeit des genannten Interpretationsvorschlags zu äußern, und das, auch wenn Raimondo selbst bei Alfieri punktuell Giuliano einen „Fuchs“ und Lorenzo einen „Löwen“ nennt. 39 Denn zunächst einmal muss man feststellen, dass Giulianos Umsicht ihm am Ende nicht gerade weiterhilft, wenn just er – der vermeintliche ‚Fuchs‘ – bei der Konspiration das Leben verliert. Darüber hinaus wird der ‚Löwe‘ Lorenzo, der die Verschwörung der Pazzi überlebt, in der Tragödie nicht nur als stark und selbstsicher, sondern auch und offensichtlich als gescheit dargestellt. Schon im ersten Gespräch mit dem Bruder mahnt Giuliano aus Gründen der politischen Klugheit dazu, sowohl die eigene Macht als auch das RachePotential der Feinde nicht auf die Probe zu stellen. Bezeichnend ist die Antwort, die Alfieri hier in den Mund des angeblichen ‚Löwen‘ Lorenzo legt: „Daß ich vernünft’gen Gründen stets / Mich füge, werde auch diesmal ich beweisen“. 40 Das Gleichnis mit Machiavellis Löwen legt gerade dort seine Unzulänglichkeit an den Tag, da es offensichtlich der auffälligen emotionalen Distanziertheit und Kälte des Lorenzo nicht gerecht zu werden vermag. Denn oberflächlich betrachtet erscheint Lorenzo anfänglich zwar viel impulsiver als Giuliano, dennoch ist jeder seiner Schachzüge, ähnlich wie diejenigen Raimondos, der aber dann wegen seiner letzten pragmatischen Entscheidung die Partie verliert, stets wohlkalkuliert und niemals übereilt. Mit gutem Grund kann man sagen, dass Alfieris Lorenzo schließlich als ein ‚kluger Löwe‘ dargestellt wird, das heißt als eine wohlgeratene Mischung aus den besten Eigenschaften der Tierarten, die der ideale Fürst für Machiavelli in sich vereinigen sollte. Daher tut man gut daran, beim Anbetracht dieses ‚Löwen‘ nicht den in ihm versteckten ‚Fuchs‘ zu übersehen, zumal man sonst auch jenen grundlegenden Charakterzug dieser Figur allzu schnell aus den Augen verliert, der in der letzten Szene der Tragödie am deutlichsten in Erscheinung tritt: seine sowohl auf Stärke als auch auf Kalkül basierende Grausamkeit. Den Ermahnungen seines Bruders zum Trotz hat Lorenzo entschieden, die Familie Pazzi zu demütigen und den „wilden“ Raimondo abzusetzen. 41 Lorenzo hat 38
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Niccolò Machiavelli: Der Fürst. München 2008, S. 66. „[B]isogna adunque essere golpe a conoscere e’ lacci e lione a sbigottire e’ lupi“, Niccolò Machiavelli: Il principe. In: Machiavelli. Enciclopedia machiavelliana, S. 1–51, hier S. 34. Vgl. Mazzoni: L’influenza di Machiavelli, S. 260. Alfieri: Verschwörung, S. 25. „Alla ragion mi soglio / Arrender sempre; e di provartel spero. – –“, Alfieri: Congiura, S. 46. Alfieri: Congiura, S. 40.
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nicht aus einer Laune heraus seine Entscheidung getroffen, sondern er verfolgt vielmehr dabei eine klare Strategie. Den „wildempörten jungen Aufruhrstifter“ will er nicht kurzerhand beseitigen lassen – was er ja könnte –, sondern ihm durch seine Entehrung eine doppelte Schmach zufügen: Der verfeindete und abgesetzte Sprössling der Pazzi-Familie solle auch zum Gespött derjenigen werden, an dessen Spitze er war, seitdem ihm Lorenzo die Senatorwürde verliehen hatte. 42 Giuliano protestiert vehement gegen das Vorhaben des Bruders: Von einem „schwer beleidigten Feind“, den man am Leben lässt, gehe eine kaum zu überschätzende Gefahr aus. Die Forschung hat darauf hingewiesen, dass sich Giuliano hier erneut eine Maxime aus der Feder Machiavellis zu Eigen machte. 43 Denn in den Istorie fiorentine ist zu lesen, man müsse „Mächtige („uomini gr andi“) entweder nicht anrühren, oder, wenn man sie einmal angetastet hat, sie aus dem Wege schaffen“. 44 An dieser Stelle ist allerdings nicht müßig hervorzuheben, dass sich Alfieris Giuliano hier allgemein auf „beleidigte Feinde“ bezieht, während Machiavelli explizit „große Männer“ in den Fokus nimmt. Nichtsdestoweniger kann man Machiavellis Bezug auf „große Männer“ auch für Giulianos Behauptung als implizit gelten lassen – mit dem bemerkenswerten Ergebnis, dass ein Gegner hier offensichtlich dem Feind das Prädikat der ‚Größe‘ zuspricht. Wie ist aber dann diese ‚Größe‘ zu verstehen? Das ist ein zentraler Punkt, den wir im Auge behalten sollten. Denn eben auf die Qualität dieser ‚Größe‘ kommt es schließlich an – einer Größe, die sowohl Raimondo, den ‚Freiheitshelden‘, als auch Lorenzo, den ‚Tyrannen‘, in Alfieris Tragödie kennzeichnet und sich wiederum jenseits von Gut und Böse verortet. Wenn man das Motiv der ‚Größe‘ in Alfieris Congiura de’ Pazzi verfolgt, wird bald klar, dass die Tragödie grundsätzlich auf dem Konflikt zwischen dem Protagonisten Raimondo und dem Antagonisten Lorenzo basiert – zwischen zwei rivalisierenden ‚großen Männern‘, denen doch mehr gemeinsam ist, als man zunächst vermuten würde. Im zweiten Aufzug der Tragödie findet ein Gespräch zwischen Guglielmo und Raimondo Pazzi auf der einen Seite und Giuliano und Lorenzo Medici auf der anderen Seite statt. In Alfieris Congiura geraten Raimondo und Lorenzo an dieser Stelle zum ersten Mal aneinander. Raimondo verfolgt hierbei seinen Plan, die Machthaber nach Möglichkeit zusätzlich zu verbittern, damit er dann genau ihre voraussichtliche strafende Maßnahme als Argument für eine Erhebung gegen sie instrumentalisieren kann. Mit herausfordernder Haltung erklärt sich Raimondo gegenüber den Tyrannen bereit, über sein (erhabenes) „Denken“ bzw. „Empfinden“ („sensi“) 45 Rechenschaft zu geben. Durchaus bezeichnend ist Lorenzos Ent42 43 44
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Ebd. Vgl. Mazzoni: L’influenza di Machiavelli, S. 244. Machiavelli: Niccolò Machiavelli’s Florentinische Geschichten. Bd. 1, S. 313. „[…] perché gli uomini grandi o e’ non si hanno a toccare o, tocchi, a spegnere“, Machiavelli: Istorie fiorentine, S. 383. Alfieri: Congiura, S. 41.
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gegnung hierauf, in der er das hohe Empfinden des widerspenstigen jungen Pazzi implizit anerkennt, doch diesem letztlich von oben herab eine pragmatische Lektion darüber erteilt, auf was sich seine ‚erhabene Größe‘ eigentlich stütze und was Machtausübung wirklich bedeute: Lorenzo. Wir kennen ihn [deinen Bürgersinn] Bereits zur Gnüge, aber lehren will Ich [dich], daß, um dem Mächtigen zu trotzen, Neid allein noch nicht genug – daß hohe Kühnheit, Und neben dieser Kraft dazu gehört! Ist dies bei Dir – sag an? 46
Hoher Mut und vor allem Kraft: An dieser Stelle weiß Lorenzo nicht nur die grundlegenden Stützpunkte seiner ‚erhabenen Größe‘ in aller Deutlichkeit beim Namen zu nennen, sondern er zeigt sich dann auch über das konkrete Machtpotential seines Gegners völlig im Klaren: „Seine Kühnheit, seine Kräfte, / Die Mittel, Alles ist hinlänglich mir / Bekannt“. 47 In Wirklichkeit scheint Lorenzo zu diesem Zeitpunkt die Kühnheit seines Feindes ein wenig zu unterschätzen. Denn im Hintergrund ist der mutige Raimondo schon lange rastlos bemüht, gerade seine Mittel, und dadurch seine Durchsetzungskraft, zu vergrößern und zu verstärken. Von Interesse ist hier allerdings, dass Protagonist und Antagonist in Alfieris Tragödie verdächtig ähnlich argumentieren und dass ihr Handeln eigentlich von eben denselben Werten beseelt ist: von männlicher Kühnheit und Kraft. Der Mut, oder besser gesagt die Kühnheit stellt Raimondos und Lorenzos ersten und gemeinsamen Wert dar, der dazu berufen ist, gerade den unaufhaltsamen Aktivismus beider Figuren zu beflügeln. Diesem Aktivismus stehen in Alfieris Congiura allerdings sowohl der alte Guglielmo als auch der umsichtige Giuliano skeptisch gegenüber, sodass Raimondo und Lorenzo gegen das Zögern von Vater und Bruder jeweils Front machen müssen. Bezeichnend ist dabei, dass beide Figuren mit dem lateinischen Sprichwort Fortes fortuna adiuvat argumentieren – „Kühner Muth, des Starken / Schwert, Schild und Führer, dieser wird uns schützen“, sagt zunächst Lorenzo. 48 Um den Vater endgültig von seinen Umsturzplänen zu überzeugen, sagt dann Raimondo im dritten Aufzug: „Große Mittel stehn / Uns zu Gebote, wie du siehst, doch größer / Als sie ist unser Muth. Erhaben wird / Der Ausgang – unsrer würdig seyn!“. 49 46
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Alfieri: Verschwörung, S. 19f. Die Übersetzung der zitierten Passage wurde zum Teil verändert. „Son noti a me i tuoi sensi. — / Ma, vo’ insegnarti, che ad urtar coi forti / Pari vuolsi all’invidia aver l’ardire; / E, non men pari all’alto ardir, la forza. / Di’; tal sei tu?“, Alfieri: Congiura, S. 42. Alfieri: Verschwörung, S. 24. „Io ne conosco appieno / L’ardir, le forze, i mezzi“, Alfieri: Congiura, S. 45. Alfieri: Verschwörung, S. 18. „Ardir cel guarda: / Ardir, che ai forti è brando, e mente, e scudo“, Alfieri: Congiura, S. 40. Alfieri: Verschwörung, S. 41. „Gran mezzi / Abbiam, tu il vedi; e ancor più ardir che mezzi: / Sublime il fin, degno è di noi“, Alfieri: Congiura, S. 61.
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Der zweite grundlegende Wert, auf den Raimondos und Lorenzos ‚Größe‘ nicht verzichten kann, ist die Kraft. Im vierten Aufzug, kurz bevor der Konflikt eskaliert, versucht Giuliano noch mit dem alten Guglielmo zu vermitteln. Das Gespräch bestätigt, wenn es noch nötig wäre, ein Zweifaches: Zum einen, dass die Tragödie von den zwei Hauptfiguren Raimondo und Lorenzo abhängt; und zum anderen, dass Protagonist und Antagonist als ‚große Menschen‘ durchaus ähnlich veranlagt sind. Wenn ‚Größe‘ mit Jugend, starkem Fühlen und heißem Empfinden zu tun hat, so sagt Giuliano: „In Raimond’s Herzen kocht furchtbarer Zorn. / Der Jugend Feuer’, das Gefühl der Macht durchglüht Lorenzo“ 50 – wobei er hier in Bezug auf seinen Bruder genau die Formel verwendet, die Machiavelli in seinen Istorie f iorentine zur Charakterisierung des Lorenzo dargeboten hatte. 51 Doch Giuliano geht in seinem Vergleich von Lorenzo und Raimondo noch weiter: „Ich weiß es, fester / Steht nicht der Fels im Meer als Raimond’s und Lorenzo’s Wille“. 52 Beide stehen sich auf gleicher Augenhöhe gegenüber und ihre resolute Entschlossenheit stellt selbst einen Teil ihrer Größe dar. Giulianos Fazit über Lorenzo und Raimondo lautet schließlich: „Gleich an Seelenstärke / Sind sie[,] nur an Gewalt sich ungleich“. 53 Das ist schließlich keine geringe Würdigung des jungen Pazzi – eine Würdigung, die wohlgemerkt just vom Erzfeind kommt. In Alfieris Tragödie wird diese Würdigung aber interessanterweise bald erwidert. In demselben vierten Aufzug der Tragödie fühlt sich auch Guglielmo in Bezug auf den ‚Tyrannen‘ Lorenzo zu der folgenden, durchaus bemerkenswerten Äußerung bewegt: „Hoher Muth („alti sensi“) / Begeistert ihn, er wäre würdig, kein / Tyrann zu seyn“. 54 Das ist wiederum kein geringes Lob, das von einer Figur kommt, die zu diesem Zeitpunkt von der Richtigkeit der konspirativen Pläne gegen die ‚Tyrannei‘ der Medici überzeugt ist und sich dabei anschickt, aktiv daran teilzunehmen. Wenn sich Giuliano nur für die Größe des Bruders und Guglielmo nur für diejenige des Sohnes aussprechen würden, könnte man leicht meinen, dass jene ‚Größe‘ jeweils auch als ‚gut‘ oder ‚böse‘ angesehen wird, je nachdem sie sich auf den Repräsentanten der eigenen oder doch der entgegengesetzten Partei bezieht. Dem ist allerdings in Alfieris Tragödie gerade nicht so. Denn hier hat man es interessanterweise mit Erzfeinden zu tun, die jeweils die ‚Größe‘ des Gegenparts attestieren, wobei gerade das ‚Gute‘ der einen spiegelbildlich die Niederlage und den Tod, das heißt das Böse schlechthin, der anderen bedeutet. Es gibt offensichtlich – und das ist hier 50 51 52 53 54
Alfieri: Verschwörung, S. 47. „Alta ira bolle / Nel tuo Raimondo: assai Lorenzo è caldo / Di giovinezza e di possanza“, Alfieri: Congiura, S. 67. Lorenzo sei – so Machiavelli wörtlich – „caldo di gioventù e di potenza“, vgl. Mazzoni: L’influenza di Machiavelli, S. 247. Alfieri: Verschwörung, S. 49. „So, che non è più saldo in onda scoglio, / Di quel che sieno in lor proposto immoti“, Alfieri: Congiura, S. 69. Alfieri: Verschwörung, S. 49. „E Lorenzo e Raimondo: han pari l’alma; / La forza no: ma pari è il temer nostro“, Alfieri: Congiura, S. 69. Alfieri: Verschwörung, S. 52. „D’alti sensi è costui; non degno quasi / D’esser tiranno“, Alfieri: Congiura, S. 71.
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gerade der springende Punkt – in dieser Tragödie aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ‚Größe‘, die kein positives Urteil im traditionellen moralischen Sinne impliziert. Eine ‚erhabene Größe‘, die sich ausschließlich an der psychophysischen Koordination des Einzelnen oder an dessen Potentialität zur konkreten Realisierung seines kühnen Plans messen lässt, und nicht an der moralischen Güte oder Schlechtigkeit des geplanten Aktes oder gar seiner Folgen. Daher kommt es nicht von ungefähr, dass Giuliano die ‚Größe‘ des jungen Raimondo just in dem Moment würdigt, da er sein Potential als Verschwörer gegen die Medici – also gegen sich selbst! – für ausreichend hält. Nicht zufällig kommt dann auch Guglielmos Würdigung des Lorenzo – des ‚Tyrannen‘! – just in dem Moment, da er die feurigen Kampfworte des Machthabers gegen „Roms treulose[] Priesterkaste“ 55 vernommen hat, mit der sich der florentinische ‚Kryptofürst‘ offen auf dem Schlachtfeld messen will. Das Potential zur Tat, ja der Wille zur unbedingten Unterwerfung der Welt unter die eigene Macht steht hier im Mittelpunkt. Die erhabene ‚Größe‘, die den Figuren zugesprochen wird, entspricht dabei nicht der traditionellen Moralität der geplanten Aktion oder eines jeden Ideals, das angeblich dahinter steckt, sondern sie ist der Größe der Macht selbst gemäß, welche die Figuren von sich selbst heraus auszuüben trachten. Heroische ‚Männlichkeit‘ lautet hier offensichtlich die einzige ‚Moral‘. Um außerordentliche Macht auszuüben, bedarf es allerdings einer außerordentlichen Kraft bzw. Gewalt („forza“). Mag auch die psychophysische Kraft von Raimondo und Lorenzo gleich sein, so unterscheidet Protagonist und Antagonist von Alfieris Tragödie die ungleiche äußerliche „forza“, über die sie verfügen. „Ach an Zorn / Gebricht’s uns nicht, es fehlt uns nur Gewalt“, 56 erkennt auch der alte Guglielmo pragmatisch im dritten Aufzug. Doch das, was Guglielmo zum Zeitpunkt dieser Aussage noch nicht weiß, ist allerdings, dass Raimondo in Sachen der ‚Kraft‘ oder ‚Gewalt‘ schon Vorarbeit geleistet hat. Raimondo selbst erinnert seinen Vater daran, dass er nicht umsonst „vierzehn Monden“ in Rom bei Papst Sixtus IV. und in Neapel bei Ferdinand I. verbracht hat. Die äußere Gewalt, die der Pazzi-Partei noch fehlt, soll aus diesen beiden Städten – und insbesondere aus Rom – kommen. Im dritten Aufzug von Alfieris Tragödie kehrt der Erzbischof Salviati von seiner diplomatischen Mission in Rom nach Florenz zurück. Seine Sendung war erfolgreich, die Verschwörung könne nun mit der erhofften Unterstützung rechnen. Denn König Ferdinand habe ein Heer besoldet, das schon kampfbereit an den Grenzen der Florentischen Republik stehe. Der Heilige Vater segne seinerseits das Vorhaben und legitimiere es politisch mit der ganzen Überzeugungskraft des christlichen Glaubens. Die Legitimierung des geplanten Aufstandes durch die 55 56
Alfieri: Verschwörung, S. 51. „La schiatta infida die roman pastori“, Alfieri: Congiura, S. 71. Alfieri: Verschwörung, S. 35. „[I]n noi non manca / Il furor no; forza ne manca; e forza / Or ci abbisogna, o sofferenza“, Alfieri: Congiura, S. 36.
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höchste religiöse Instanz stellt insbesondere einen Aspekt dar, der in unserer Analyse nicht unterschätzt werden sollte, zumal seine Brisanz in Alfieris Tragödie direkt thematisiert wird. Die Figur Salviatis – just die Figur eines Erzbischofs – legt in der Congiura de’ Pazzi paradoxerweise jenes seit der Renaissance geltende Prinzip der strikten Trennung von Moral und Politik deutlich an den Tag, das auch die katholische Kirche in der Durchsetzung ihrer politischen Ziele am strengsten verfolgte. Wenn man glaubt, dass der Erzbischof als Kirchenfürst – hierbei im schrillsten Gegensatz zu Lorenzo, Giuliano und Raimondo – Skrupel moralischer Natur bei der Durchsetzung eines subversiven, mehrfachen Mordplans hegen möge, wird man bald in Alfieris Tragödie eines Besseren belehrt. Denn der Erzbischof ist gerade derjenige, der im Kreis der Verschwörer am stärksten dafür plädiert, den geplanten Mord an einem heiligen Ort durchzuführen, und zwar wenn die Ostermesse in der Kathedrale ihren Höhepunkt erreicht hat – das heißt, wenn die Hostie konsekriert wird. Offensichtlich stellen traditionelle moralische Kriterien für Salviati lediglich eines der strategischen Instrumente dar, die im konstitutiv moralindifferenten Kampf um die Macht eingesetzt werden können – doch mehr auch nicht. In Alfieris Tragödie wird dies vor allem an der Stelle deutlich, da es für Raimondo darum geht, den alten Guglielmo – nicht zufällig die einzige Figur neben Bianca, der auch moralisches Bedenken in der Congiura äußert – für die gute Sache der Verschwörer zu gewinnen. Salviatis Worte an Raimondo könnten die instrumentelle Bedeutung nicht deutlicher an den Tag legen, welche der Glaube und die Autorität der katholischen Kirche in den Augen dieses Erzbischofs besitzen. Da kein Geringerer als der Papst hinter der Verschwörung gegen die Medici stehe, erhält Raimondo folgenden Ratschlag von Salviati: Salviati.
Lege nur, Den Vater zu gewinnen, auf den Willen Des heil’gen Rom’s ein mächtiges Gewicht; Denn auf das Herz des Greises üben noch Die Vorurtheile, mit der Muttermilch Ihm eingeflößt, ihr altes Vorrecht aus. 57
Wir erinnern uns, dass Franz Moor in jener Szene aus Friedrich Schillers Räuber, in der er die prägnante Formel des „morastige[n] Zirkels der menschlichen Bestimmung“ 58 prägt, auch mit „Ammen und Wärterinnen“ hart ins Gericht ging. Diese seien schuld daran, „unsere Phantasie mit schröcklichen Mährgen [zu] verderben, und gräßliche Bilder von Strafgerichten in unser weiches Gehirnmark [zu] drücken, daß unwillkürliche Schauder die Glieder des Mannes noch in frostige 57
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Alfieri: Verschwörung, S. 32. „Fia di gran peso a indur Guglielmo il sacro / Voler di Roma: in cor senil possenti / Que’ pensier primi, che col latte ei bevve, / Son vie più sempre“, Alfieri: Congiura, S. 54. Schiller: Die Räuber, NA 3, 95.
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Angst rütteln, unsere kühnste Entschlossenheit sperren, unsere erwachende Vernunft an Ketten abergläubischer Finsternis legen“. 59 In Alfieris Congiura de’ Pazzi findet die Umkehrung derselben Perspektive statt – vom Blickwinkel derjenigen dargestellt, welche die geistige Gewalt der Kirche erleiden, hin zu denjenigen, die jene Gewalt ausüben. Ohne mit der Wimper zu zucken, spricht sich Salviati dafür, die geistige Knechtung durch die Religion, die er als solche erkennt, für die eigene Zwecke auszunützen. Doch damit nicht genug. Salviati macht hier auch das Kriterium namhaft, nach dem die Kirche von Rom historisch jede Unternehmung zwischen ‚gut‘ und ‚böse‘ unterschieden habe: „Was Rom, von unsrer Väter frommem Glaube / Das heilige genannt, für seine Macht / Gefährlich hielt, erklärte klüglich es / Für ruchlos, was ihm nützlich war / Für heilig“. 60 Nur das Verhältnis der Mittel zu ihrem Zweck entscheidet am Ende, was ‚gut‘ und was ‚böse‘, ja, was ‚ruchlos‘ und was ‚heilig‘ ist – ‚moralisch‘ ist in dieser Hinsicht nur das, was einen konkreten Vorteil verspricht und die eigene Macht steigert. Salviatis durchaus moderne Logik, die seine ‚Moral‘ bestimmt, kennt somit keine Tabus, ja sie macht konstitutiv vor nichts und niemandem Halt – kein Heiligtum ist heilig genug, wenn es mit einem strategischen Nachteil verbunden ist. Derselben Logik und Moral folgend, ist Raimondo überzeugt, dass es keinen strategisch günstigeren Ort („loco […] adatto“) 61 zum Mord von Giuliano und Lorenzo gebe als die Kathedrale. Im vierten Aufzug zeigt sich allerdings der alte Guglielmo darüber entsetzt, den Anschlag „im Heiligthume“ verüben zu wollen und also „die Altäre mit Menschenbluthe zu beflecken“. 62 Salviati, der offensichtlich eine durchaus eigensinnige Auffassung des Christentums als der ‚Religion der Liebe und Vergebung‘ vertritt, hält entgegen, dass „man der Gottheit [k]ein angenehmeres Opfer bringen [könne], als Tyrannenblut“. 63 Darüber hinaus sei Tyrannenblut eigentlich kein Menschenblut – Tyrannen stellten vielmehr „Ungeheuer“ dar, denn es sei gerade der „Zwingherr“ derjenige, der sich eigentlich von Menschenblut „nährt“. 64 Auf Guglielmos Entgegnung, der „Pöbel“ möge die Freveltat doch zutiefst verabscheuen und gegen die Verschwörer Front machen, antwortet Raimondo, sie hätten bereits die „Verfügung / getroffen, daß im Augenblick der That / Des heil’gen Vaters Nahm’ [sic!], als Billigers / Derselben, durch den Tempel schalle“. 65 Was frevelhaft ist, entscheide ja in höchster und heiligster Instanz 59 60 61 62 63 64 65
Ebd. Alfieri: Verschwörung, S. 32. „Ognor dagli avi nostri / Roma creduta, a suo piacer nefande / Nomò le imprese a lei dannose; e sante, / Quai che si fosser, l’utili“, Alfieri: Congiura, S. 54. Alfieri: Congiura, S. 75. Alfieri: Verschwörung, S. 56. „[N]el sacro“, „[D]i umano sangue / Contaminar gli altari…“, Alfieri: Congiura, S. 74. Alfieri: Verschwörung, S. 56. „Umano sangue / Quel de’ tiranni? Essi di sangue umano / Si pascon, essi. E a cotai mostri asilo / Santo v’avrà?“, Alfieri: Congiura, S. 75. Ebd. Alfieri: Verschwörung, S. 57. „Ordine demmo, / Che al punto stesso, in cui trarremo il ferro, / Di Roma eccheggi entro il gran tempio il nome“, Alfieri: Congiura, S. 75.
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der Papst; und keine Tat könne am Ende wirklich frevelhaft sein, wenn sie der Papst unterstütze. Im Folgenden verabreden Alfieris Verschwörer, dass der Anschlag gegen die Medici in der Kathedrale gerade in dem „heil’ge[n] Augenblick“ verübt werden soll, in dem „von oben“ – so der Text – „geheimnißvoll, durch eifrige Gebete / Bewegt, der Gottmensch in die Hostie / Herab sich senkt“ – also im höchsten Augenblick, in dem sich die Transubstantiation vollzieht. 66 Literaturgeschichtlich betrachtet, ist das schockierende Motiv eines an einem heiligen Ort ausgeführten Mordes nicht neu. In der Literatur deutscher Sprache findet man es beispielsweise bereits in Gryphius’ Trauerspiel Leo A rmenius. E in Fürsten=Mörderisches / T rawer=Spiel / ge nant (1650). Hier mengen sich Verschwörer, als Priester verkleidet, unter die Teilnehmer des Mitternachtsgottesdienstes und strecken den betenden Kaiser von Constatinopel Leo V. nieder. Wie man in der Vorrede des Trauerspiels „an den Leser“ liest, ergreift der sterbende Kaiser das Kreuz – „eben dasselbe“ Kreuz wohlbemerkt, „an welchem unser Erlöser sich geopffert“. 67 Die Welt als Schauplatz der Eitelkeit, die Vergänglichkeit menschlicher Sachen, das wahre Leben erst im Jenseits – wie man weiß, handelt es sich dabei um Topoi des barocken Trauerspiels. 68 Bei Gryphius ist es allerdings gerade die christliche Perspektive, welche die von ihm dargestellte Geschichte erst sinnvoll macht. Ganz anders bei Alfieri: In der Congiura de’ Pazzi zielt sogar Erzbischof Salviatis Berufung auf Gott und auf das päpstliche Wort bloß darauf, seine Mitverschwörer, und dabei insbesondere Guglielmo, zusätzlich zum Handeln zu motivieren. Religion und Moral werden hier bloß als Instrumente zu einem übergeordneten Zweck dargestellt: An sich sind sie bloß Teil einer Strategie zur Macht – und sonst nichts. Dass der Wertehorizont des Barockzeitalters in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts weit überschritten wurde und dass neue Werte sich nunmehr endgültig durchgesetzt haben – dies zeigt die Szene in Alfieris Congiura de’ Pazzi am deutlichsten, in welcher der alte, schwache und zögernde Guglielmo, von Raimondo und Salviati eigens dazu angefeuert, seine Einwilligung zum Verschwörungsplan gibt. Man wohnt hier einer symbolischen Abdankungsfeier bei, in der sich das Alter vor der Jugend und deren ‚heroisch-männlichen Moral‘ verneigt. So sagt Guglielmo zu seinem Sohn Raimondo: Guglielmo.
Erhabenes Gemüth! Bewundrung, Hoffnung, edle Schaam, 66
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Alfieri: Verschwörung, S. 59f. „A sguaïnar fia cenno, / Ed al ferire, il sacro punto, in cui, / Tratto dal ciel misterïosamente / Dai susurrati carmi, il figliuol Dio / Fra le sacerdotali dita scende“, Alfieri: Congiura, S. 77f. Andreas Gryphius: Leo Armenius. In: Ders.: Dramen. Hg. v. Eberhard Mannack. Frankfurt a.M. 1991 (Bibliothek deutscher Klassiker, 67), S. 9–116, hier S. 12. Vgl. dazu Robert J. Alexander: Das deutsche Barockdrama. Stuttgart 1984 sowie Joachim Harst: Heilstheater. Figur des barocken Trauerspiels zwischen Gryphius und Kleist. München u.a. 2012.
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Wuth, Rache, hast in mir du aufgeregt. Des Greises Weisheit, Männerkraft und Feuer Des Jünglings sind in dir vereint; du sollst Mir Lehrer, Führer, heilger Leitstern seyn. 69
Die Jugend fasst die Vorteile des Alters zusammen und beseelt sie mit frischer Kraft, sodass sich der Vater getrost dem Sohn auch symbolisch als dem eigenen „Lehrer, Führer“, ja „heilge[n] Leitstern“ unterwerfen kann. Was Alfieri indes deutlich macht, ist auch, dass Raimondo, das „erhabene Gemüth“, vom Anfang der Tragödie an das klare Ziel verfolgt, seinen Vater für die eigene Unternehmung zu gewinnen, und dass Guglielmo, der Vater, in dieser Hinsicht lediglich ein Mittel zu einem übergeordneten Zweck des Sohnes darstellt. Alfieris Congiura zeigt nicht nur, dass jeder moralische Wert relativ ist und auf dem Altar der Macht geopfert werden kann, sondern auch, und das ist das Entscheidende, dass diese Denk- und Handlungsweise sowohl bei den ‚Tyrannen‘ als auch bei den ‚Freiheitshelden‘ eine nunmehr etablierte Praxis darstellt. So überrascht es kaum, dass sich Protagonisten und Antagonisten in Alfieris Tragödie als regelrechte Meister der Verstellungskunst ausweisen – und zwar sowohl gegenüber ihren Feinden als auch der eigenen Familie, weil die Logik der Macht, die sich des ästhetischen Scheins bedient, nunmehr ihre ganze Existenz durchdrungen hat. So verstellt sich Raimondo nicht nur, wie ja zu erwarten, gegenüber den Medici, sondern auch gegenüber dem eigenen Vater und der eigenen Frau. 70 Der umsichtige Giuliano simuliert seinerseits anhaltend vor den Pazzi, er versucht aber auch im Alleingang, gewissermaßen hinter dem Rücken seines Bruders Lorenzo, mit Guglielmo zu vermitteln. 71 Lorenzo belügt seine Schwester Bianca so offensichtlich wie kaltblütig etwa bezüglich der von ihm selbst beschlossenen Absetzung von Raimondo. 72 Gleichfalls verstellt sich auch der alte Guglielmo gegenüber seiner Schwiegertochter Bianca, nachdem er in Raimondos Verschwörungspläne eingeweiht wurde. 73 In einer machtbesessenen Männerwelt, in der jeder bloß als Mittel zum Zweck betrachtet wird, stellt Bianca – auf offener Bühne – ein Zweifaches fest: Einerseits, dass sie selbst als Braut des Raimondo bloß ein zahmes Instrument zu den politischen Zwecken ihrer Brüder gewesen sei: „Ach zu gut gewahr ich’s jetzt, / Wie auf verschied’nen Wegen einen Zweck / Man zu erreichen suchte. Euern Plänen / Werd’ ich geopfert. Friedens=stifterin / Sollt’ ich nicht seyn, nur
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Alfieri: Verschwörung, S. 41. „... Grande hai l’animo tu. — Nobil vergogna, / Maraviglia, furor, vendetta, speme, / Tutto hai ridesto in me. Canuto senno, / Viril virtude, giovenil bollore, / E che non hai? Tu a me maestro, e duce, / E Nume or sei“, Alfieri: Congiura, S. 61. Vgl. etwa Aufzug I., Auftritt II. und III. Vgl. Aufzug IV., Auftritt II. und III. Vgl. Aufzug II., Auftritt V. Vgl. Aufzug III., Auftritt III.
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Werkzeug eurer Rache“. 74 Andererseits, dass ihr Mann im Hinterhalt ihre Brüder ermorden will: „Grausame, / nur Falschheit athmende Gemüter!“ […] „Nur offner Rache hielt ich fähig ihn, / Nie schändlichen Verrath’s“. 75 Vor dem beschriebenen Hintergrund bleibt es fraglich, ob die von Alfieri dargestellten Mitglieder der Familie Pazzi tatsächlich, wenn ihre ‚Verschwörung‘ gegen die Medici von Erfolg gekrönt worden wäre, je zu den Garanten jener ‚Freiheit‘ hätten werden können, für die sie in der Tragödie zu kämpfen behaupten. Denn zu eng sind die Parallelen zwischen Alfieris Figuren des Raimondo und des Lorenzo, um nicht den Verdacht aufsteigen zu lassen, die Pazzi hätten bei einem Sieg über die Medici womöglich bloß deren (Fürsten-)Herrschaft über Florenz ersetzt. Fakt ist allerdings, dass die Konspiration der Pazzi am Ende scheitert – und zwar wegen einer taktischen Fehlentscheidung, die Alfieri erneut auf offener Bühne von seinen Figuren treffen lässt. In seinen Istorie f iorentine erzählt Machiavelli, dass der condottiere und Kriegsmann Giovan Battista Montesecco bei der Umsetzung der congiura gegen die Medici die Aufgabe bekommen hatte, Lorenzo de’ Medici zu ermorden. Doch Giovan Battista weigerte sich schließlich, eine solche Tat im Dom Santa Maria del Fiore durchzuführen, um dabei nicht „Verrath mit Tempelschändung zu verbinden“. 76 Machiavellis Kommentar in Bezug auf die Bedeutung dieses Vorfalls für die geplante Aktion ist eindeutig: Dies legte den Grund zum Mislingen des ganzen Unternehmens. Denn da die Zeit drängte, waren sie genöthigt, dies Geschäft dem Messer Antonio von Volterra und dem Priester Stefano zu übertragen, die beide von Natur, wie wegen ihres Mangels an Uebung in Führung der Waffen, dazu völlig untauglich. Denn wenn zu irgendeiner Tat Seelenstärke und Entschlossenheit, Erfahrung und Todesverachtung erfordert werden, so ist es bei einer solchen der Fall. 77
Der starke condottiere Montesecco musste in letzter Minute von den Hauptverschwörern mit zwei Geistlichen, Antonio Maffei da Volterra und Stefano Bagnoni, ersetzt werden. Im entscheidenden Moment konnten die Streiche der beiden Geist-
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Alfieri: Verschwörung, S. 27. „Ah! ben mi avveggio or come / Per vie diverse ad un sol fin si corra. / Vittima fui di vostre mire; io il mezzo / Fui, non di pace, d’indugio a vendetta“, Alfieri: Congiura, S. 49. Alfieri: Verschwörung, S. 70f. „Alme feroci! / Cor simulati! io non credea che tale...“, „D’alta vendetta io ti credea capace; / Non mai di un vile tradimento, mai...“, Alfieri: Congiura, S. 88f. Machiavelli: Niccolò Machiavelli’s Florentinische Geschichten. Bd. 2, S. 242. Machiavelli: Istorie fiorentine, S. 479. Machiavelli: Niccolò Machiavelli’s Florentinische Geschichten. Bd. 2, S. 242. „Il che fu il principio della rovina della impresa loro: perché, strignendoli il tempo, furono necessitati dare questa cura a messer Antonio da Volterra e a Stefano sacerdote, duoi che, per pratica e per natura, erano a tanta impresa inettissimi: perché, se mai in alcuna faccenda si ricerca l’animo grande e fermo, e nella vita e nella morte per molte esperienze risoluto, è necessario averlo in questa, dove si è assai volte veduto agli uomini nelle arme esperti e nel sangue intrisi lo animo mancare“, Machiavelli: Istorie fiorentine, S. 479f.
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lichen allerdings Lorenzo nur „unbedeutend am Halse“ verwunden. 78 Das, was Machiavelli als fatale Fehlentscheidung der Verschwörer darstellt, wird von Alfieri im Kern übernommen und dabei vereinfacht in die Tragödie eingearbeitet. Im vierten Aufzug, wenige Stunden vor dem Anschlag, erfährt Guglielmo de’ Pazzi, dass der Erzbischof Salviati entschieden hat, seine „Priesterhand“ mit dem „unreinen Blut“ 79 des Lorenzo zu beflecken. „Des schrecklichsten?“, fragt der alte Pazzi instinktiv. Doch interessanter noch als Guglielmos Bestürzung über die Kühnheit und Skrupellosigkeit des Geistlichen ist die Erklärung, die Raimondo dem Vater für diese Entscheidung gibt: Raimondo. Gefällig ihm zu seyn, Ließ ich die Wahl ihm. — Lieber hätt’ ich mir Den Stärkeren gewählt, doch überlegt’ ich, Daß sicher der feigherz’ge Giuliano Mit einem Panzerhemde sich aus Furcht Bekleidet hat; drum übernahm ich gern Den schwersten Stoß. 80
Während der zweite Teil von Raimondos Äußerung eine strategische Überlegung enthält und sich in eine Linie mit der Denkart und mit dem allgemeinen Benehmen dieser Figur in Alfieris Tragödie stellen lässt, enthalten seine ersten Worte Überraschendes: Die Entscheidung, von der das Schicksal der Verschwörung abhängt, wird offensichtlich aus Gründen getroffen, bei denen zwischenmenschliche Beziehungen eine prioritäre Rolle spielen gegenüber der strikt unpersönlichen und folgerichtigen Entsprechung der Mittel zu den verfolgten Zwecken. Im Kreis der Hauptverschwörer wird Salviati somit die Möglichkeit eingeräumt, den Mord von Lorenzo für sich in Anspruch zu nehmen – und zwar abgesehen davon, ob er der selbstgewählten Aufgabe wirklich gewachsen ist. Es ist bezeichnend, dass Alfieri seinen Raimondo zunächst sagen lässt, er habe sich gegenüber Salviati „gefällig“ zeigen wollen, und dann, er habe den möglicherweise „schwersten Stoß“ gegen Giuliano übernommen. Was man dabei als strategischen Schachzug interpretieren könnte, klingt nach der ersten Äußerung des Raimondo lediglich als Ausrede. Es bleibt nur festzustellen, dass die erste Entscheidung, die Raimondo in Alfieris Tragödie einem anderen überlässt und ‚aus Gefälligkeit‘ – oder gar aus ‚Menschlichkeit‘? – hinnimmt, ihn dann um den Erfolg bringt; dass ja das erste Mal, da Raimondo nicht das Spiel der Verschwörung selbst führt, ihn am Ende geradezu 78 79 80
Machiavelli: Niccolò Machiavelli’s Florentinische Geschichten. Bd. 2, S. 244. Machiavelli: Istorie fiorentine, S. 480. Alfieri: Verschwörung, S. 58. „[V]ittime impure“, „Il più feroce?“, Alfieri: Congiura, S. 76f. Alfieri: Verschwörung, S. 59. „Io ’l volli in ciò pur compiacer, bench’io / Prescelto avrei d’uccidere il più forte. / Ma pur pensai, che al certo il vil Giuliano / Di ascosa maglia il suo timor vestiva; / Onde accettai, come più scabra impresa, / Io di svenarlo“, Alfieri: Congiura, S. 77.
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das Leben kostet. Kurz vor der Stunde X stehen jedenfalls männliche ‚Kraft‘ und ‚Stärke‘ einmal mehr im Mittelpunkt der Überlegungen der Hauptverschwörer. Guglielmo muss selbst zugeben, dass Raimondos Entscheidung, ihn vom Anschlag in der Kathedrale auszuschließen, weise ist: „Leicht könnte dieser Arm vor Alter zittern […] / Wohl hast Du Alles überlegt, und klüglich!“. 81 Ziemlich paradox ist daher die Tatsache, dass sich Raimondo gerade in derselben Szene in Bezug auf Salviatis ‚Kraft‘ so sehr und so folgenreich verschätzt. Dabei könnte man meinen, dass die menschliche ‚Schwäche‘, die Raimondo hier gegenüber Salviati an den Tag legt, für Alfieri ein konstitutives Element der sittlich-erhabenen ‚Größe‘ dieser Figur darstellt. Der Schluss der Tragödie spricht allerdings eine andere Sprache: Die einzige ‚Größe‘, die hier erhalten bleibt, ist nicht die Größe eines sittlicherhabenen Freiheitshelden, sondern gerade die männlich-erhabene Größe eines siegenden ‚Tyrannen‘. Im fünften Aufzug schlägt die Stunde der Wahrheit. Der Anschlag gegen die Medici, den Alfieri nicht auf der Bühne, sondern nur hinter den Kulissen durchführen lässt, 82 scheitert. Raimondo tötet Giuliano und verwundet sich dabei selbst tödlich. Bianca hört die Rufe „Tod dem Verräther!“ 83 und fragt: „Wer ist der Verräther?“, worauf der sterbende Raimondo lakonisch antwortet: „Verräter ist stets der, der unterliegt“ 84 – die Geschichte wird ja stets von den Siegern geschrieben. In diesem Augenblick tritt Lorenzo, der wahre Sieger von Alfieris Tragödie, auf die Bühne. „Ganz einer andern Kraft bedurft’es wohl / Mich zu ermorden“, lauten unter anderem seine Worte an den verwundeten Raimondo. 85 Der junge Pazzi erfährt dabei, dass Salviati und viele Verschwörer bereits tot sind. Lorenzo habe nur seinem Vater (noch) den Tod erspart – und nicht ohne Absicht: „Den Vater nur hab’ ich verschont, damit / Er bei dem Anblick deines Todes, eh’ / Das Schwert ihn trifft, zwiefache Strafe leide“. 86 Alfieri macht hier deutlich, dass auch die Grausamkeit und der Sadismus ante litteram des Lorenzo einem klaren Plan folgen – ganz wie seine Machtausübung nichts dem Zufall überlässt. Mit seinen letzten 81
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Alfieri: Verschwörung, S. 58. „Vero è, pur troppo, che per molta etade / Potria tremulo il braccio, il non tremante / Mio cor smentire […] [B]en tu pensasti, ben provvedesti a tutto“, Alfieri: Congiura, S. 76. In seinen kritischen Bemerkungen über seine Tragödie weist Alfieri darauf hin, dass die „Katastrophe“ der Congiura notwendig in einem Gotteshaus stattfinden musste und dass er sie darum nicht auf der Bühne darstellen dürfte. Dies habe ihn weit von seiner üblichen Darstellungsweise entfernt, denn prinzipiell sei er stets dafür, alles „vor die Augen“ zu stellen, was sich auch stellen könne, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 105. Zur Darstellung von Bluttaten auf offener Bühne im 18. Jahrhundert vgl. auch Beatrice Alfonzettis bereits zitierte Studie: Congiure. Dal poeta della botte all’eloquente giacobino (1701–1801). Alfieri: Verschwörung, S. 73. „‚Al traditore, al traditor; si uccida‘. / Qual traditore?...“, Alfieri: Congiura, S. 91. Alfieri: Verschwörung, S. 73. „Il traditor,… fia… il vinto“, Alfieri: Congiura, S. 91. Alfieri: Verschwörung, S. 74f. „[E], a uccider me, ben altra / Alma era d’uopo“, Alfieri: Congiura, S. 93. Alfieri: Verschwörung, S. 75. „[I]l padre / Sol ti serbai, perché in veder tua morte, / Pria d’ottener la sua, doppia abbia pena“, Alfieri: Congiura, S. 93.
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Kräften stößt sich Raimondo den Dolch in die eigene Brust, um Lorenzo am eigenen Leib zu beweisen, dass der Tyrann nicht mehr leben würde, wenn er, und nicht Salviati, den Mordauftrag ausgeführt hätte. Indes bleibt es fraglich, ob Raimondo, der Verlierer, zuletzt noch dadurch seine moralische Überlegenheit gegenüber Lorenzo zeigt. 87 Denn in Alfieris Tragödie läuft die Zuspitzung des Kampfes zwischen Raimondo und Lorenzo letzten Endes auf eine private Fehde zwischen Titanen hinaus, sodass auch Raimondos Suizid schließlich keinen heroischen Exitus im Namen eines Freiheitsideals darstellt, sondern vielmehr als der letzte Willensakt eines hypertrophen Selbst erscheint, das den entscheidenden Machtkampf gegen ein stärkeres Individuum verloren hat. Die einzige ‚erhabene Größe‘, die sich historisch etabliert, ist die Größe des Siegers, wie bereits der desillusionierte Raimondo in Alfieris Tragödie kurz vor seinem Tod zu sagen weiß. 88 Die letzte Sentenz der Tragödie legt der italienische Dichter jedoch dann nicht zufällig in den Mund des Siegers Lorenzo: „Die Zeit allein wird herausstellen, dass ich kein Tyrann gewesen – und dass sie [die Pazzi] aber Verräter waren“: 89 Raimondo, der angebliche ‚sittlich-erhabene‘ Freiheitsheld, der in Alfieris bemerkenswerter tragedia di libertà 90 den Schaden hat, braucht letztlich für den Spott der Geschichte nicht zu sorgen. Im Juni 1783 liest Alfieri aus seiner noch nicht gedruckten Tragödie La congiura de’ Pazzi vor einem „hoch qualifizierten Publikum“ 91 in Padua vor. In Padua lernt er auch den Dichter und Gelehrten Melchiorre Cesarotti persönlich kennen, 92 den er bereits als Autor der Aufsehen erregenden Übersetzung von Macphersons The Works of Ossian hochschätzt. Am 19. September 1783 schreibt Cesarotti dann einen Brief an Alfieri, 93 in dem er sich mit der Congiura de’ Pazzi kritisch auseinandersetzt. Dabei hebt er insbesondere zwei kritische Aspekte hervor, die wir zuletzt im Kontrast als kennzeichnend für die traditionelle moralisch zentrierte Interpretation von Alfieris Tragödie betrachten können. Zum einen betont Cesarotti, dass die Medici historisch nicht nur in Florenz, sondern in ganz Italien vor allem 87
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Auch wenn Mario Fubini sowohl den pessimistischen Grundtenor von Alfieris Congiura betont als auch die grundsätzliche Verwandtschaft von Raimondo mit jenen vielen Tyrannen aus Alfieris Feder hervorhebt, („die sich beim Anblick von Taten übermenschlicher und unmöglicher Größe begeistern“), interpretiert er schließlich Raimondos Suizid innerhalb des traditionellen Schemas des Sittlich-Erhabenen als „Besiegelung“ seiner „moralischen Überlegenheit“, vgl. Fubini: Vittorio Alfieri. Il pensiero – la tragedia, S. 142 u. 150 (Übers. P.P.). Alfieri: Verschwörung, S. 73. „Il traditor,… fia… il vinto“, Alfieri: Congiura, S. 91. „E avverar sol può il tempo / Me non tiranno, e traditor costoro“, Alfieri: Congiura, S. 94 (Übers. ins Deutsche P.P.). Von seiner „dritten“ „tragedia di libertà“ spricht Alfieri in Bezug auf Timoleone in seinem Parere sulle tragedie; die ersten zwei ‚tragedie di libertà‘ sind Virginia und La congiura de’ Pazzi, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 118. Guido Santato: Cesarotti e Alfieri. In: Quaderni Veneti 1/2 (2012), S. 167–186, hier S. 173. Zur schwankenden Beziehung zwischen Alfieri und Cesarotti vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 173–177.
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Ruhm ernteten. Und außerdem sei Lorenzo kein Tyrann, sondern der „Perikles von Florenz“ gewesen, während die Pazzi „niemals als Freiheitshelden betrachtet wurden“. 94 Zum anderen unterstreicht er, dass die „Umstände“, unter denen die subversive „Aktion“ stattfand, in höchstem Maße abstoßend seien – denn ein Papst, der einen Mord befürwortet, und ein Prälat, der den Meuchelmördern ihre Skrupel nimmt und nicht davor zurückschreckt, die Kirche zum Schauplatz für diese verabscheuenswerte Gräueltat vorzuschlagen, müssten am Ende nur Entsetzen auslösen. 95 Vor diesem Hintergrund rät Cesarotti dem Autor der congiura, die Tragödie konsequent zu überarbeiten und dabei „das Augenmerk von den Pazzi auf die Medici“ zu verschieben. Offensichtlich sollen die Medici für Cesarotti vor allem als Opfer der Verschwörung in Erscheinung treten – nach einem Muster, das etwa in Metastasios Melodram La cl emenza di Ti to von 1734 Anwendung findet. Keinen Hehl macht der italienische Gelehrte letztlich von den moralischen Zwecken, welche die nach seinem Empfinden überarbeitete Tragödie verfolgen soll: Sie soll „den Missbrauch der Religion, die patriotische Heuchelei und die Schwärmerei verabscheuen lassen“. 96 Im Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist die von Cesarotti vorgeschlagene Quadratur des Kreises in Bezug auf Alfieris Congiura de ’ Pazzi als signifikant zu betrachten, zumal sie indirekt gerade ein sittliches ‚Defizit‘ in Alfieris Werk feststellt. In seinem Brief geht Cesarotti nicht über die bereits fest etablierte Tradition hinaus: Die heroische Moral des Nihilismus, die Alfieris Figuren offensichtlich beseelt, bringt er hier mit einer fehlerhaften Behandlung des Sujets in Verbindung, die gezielt zu kompensieren sei. Was Cesarotti bemängelt und korrigiert sehen möchte, lässt sich allerdings als ein strukturelles Merkmal von Alfieris Congiura betrachten. Weder eine politische noch eine moralisch zentrierte Interpretation vermögen schließlich dieser Tragödie ganz gerecht zu werden, weil sie sowohl die innerliche Verwandtschaft der entgegengesetzten Hauptfiguren im Zeichen der männlich-erhabenen Größe übersehen als auch die Tragweite des immer wieder rekurrierenden Motivs der Kraft in der Tragödie unterschätzen. Die Themen der ‚politischen Freiheit‘ und der ‚sittlich-erhabenen Größe‘ sind in Alfieris Congiura einer anderen Frage untergeordnet, mit der der Autor seine Hauptfiguren vor allem konfrontiert: Mit der Frage nach den äußersten Grenzen eines titanischen Willens zur Macht. Im Mittelpunkt dieser ‚Verschwörung‘ aus der italienischen Renaissance stehen nicht von ungefähr herausragende Figuren, die in ihrem moralisch indifferenten Machtkampf ihren existenziellen Wert auf dem Prüfstand erproben. Nach der Logik der Machtsteigerung geht nur derjenige als Sieger hervor, der vom Anfang bis zum Ende von seiner psychophysischen Koor94 95 96
Melchiorre Cesarotti: Lettera sulla „Congiura de’ Pazzi“. In: Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 501–505, hier S. 504 (alle Übers. P.P.). Vgl. ebd. Ebd., S. 505.
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dination getragen wird und schließlich am Leben bleibt, um die Welt weiterhin nach dem eigenen Willen umzuformen. So gesehen, stellen die Schranken der Kraft auch in dieser Tragödie das einzige Gesetz dar, an das sich die Hauptfiguren halten. Das ästhetische Formprinzip ist dabei funktional zur erstrebten Machtsteigerung. Alfieris Congiura de’ Pazzi, welche die lustvolle Steigerung der Kräfte der Protagonisten bei der Durchsetzung ihres jeweiligen Machtplans darstellt, schließt nicht von ungefähr mit den zwei entgegengesetzten Polen des höchsten menschlichen Machtstrebens: mit dem überheblichen Sadismus des Siegers und der desillusionierten Rückkehr ins Nichts des Verlierers. 97
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In Bezug auf Giuliano und Lorenzo sagt Raimondo im zweiten Akt lapidar: „Essi son tutto; / E nulla noi“ – „Alles sind sie; / Und wir nichts“, Alfieri: Congiura, S. 42 (Übers. P.P.). Die Laufbahn des Raimondo geht von der anfänglichen Ohnmacht gegenüber den Medici, über die Übermacht des versuchten Aufstandes hin zur Ohnmacht des von ihm erlittenen Scheiterns – in gewisser Hinsicht wird Alfieris Protagonist vom anfänglichen Nichts wiederum ins Nichts des Suizids geführt.
II. Dom Carlos 1. Der Marquis und der Infant. Macht und Ohnmacht des Künstlers in Schillers Don Karlos Don Karlos, ein „Familiengemählde in einem fürstlichen Hauße“. Don Karlos, ein „Machwerk“. Bekanntlich handelt es sich hierbei um zwei Definitionen, die Schiller von seinem erst später so untertitelten „dramatische[n] Gedicht“ gegeben hat. Die erste Bezeichnung findet sich in einem Brief vom 7. Juni 1784 an den Mannheimer Theaterintendanten von Dalberg; 1 die zweite ebenfalls in einem Brief – einem Brief jedoch, den Schiller ein volles Jahrzehnt später, am 4. September 1794, an seinen Freund Christian Gottfried Körner schreibt. 2 Die erste Definition entstammt somit der frühen Entstehungsphase des Werks, während die zweite eine rückblickende, verbitterte Bilanz unter stark veränderten historischen Bedingungen darstellt. Auch wenn die genannten Briefe zeitlich sehr voneinander entfernt sind, lohnt es sich dennoch, Schillers darin enthaltene Stellungnahmen zum Karlos miteinander in Zusammenhang zu bringen. Gesetzt, dass Schiller ein gewisses Recht hatte, sein Don K arlos nachträglich ein ‚Machwerk‘ zu nennen: Warum wurde das ursprünglich geplante ‚Familiengemälde‘ zu einem solchen ‚Machwerk‘ – zu einem schließlich vom Urheber selbst für fragwürdig und stümperhaft gehaltenes Erzeugnis? Die neue Forschung hat deutlich darauf hingewiesen, dass Schillers frühe Bezeichnung des Don Karlos als „Familiengemählde“ weniger als „Hinweis auf die inhaltliche Anlage des Entwurfs“ gedeutet werden soll. 3 Im Hintergrund dieser Formulierung stehe vielmehr das von Diderot in der Studie De l a poé sie dramatique von 1758 begründete ‚Tableau-Prinzip‘, eine „Technik der dramatischen Porträtkunst, die jede Szene in ein geschlossenes Bild verwandelt“. 4 Entscheidend sei also nicht primär der Stoff – wohl ein „Familienrührstück“ 5 in Schillers ursprünglicher Konzeption –, sondern die gewählte Darstellungsform des „Tableau“ – oder des „Gemäldes“, wie Lessing Diderots Begriff 1760 übersetzte. Das stelle eine Form dar, die Schiller „im Interesse einer abgetönten Figurenpsychologie“ genutzt habe. 6 Das Ergebnis: Locker mit einander verbundenen Szenen, dafür eine ausgeprägte psychologische Ausdifferenzierung – so könnte man hier zusammen1 2 3
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NA 23, 144. NA 27, 38. „An eine Beschränkung auf den im Stoff beschlossenen Privatkonflikt dürfte Schiller auch im Frühjahr 1786 kaum gedacht haben“, Alt: Schiller. Bd. I, S. 441. Vgl. dazu auch Matthias Luserke-Jaqui’s Artikel Don Karlos – Briefe über Don Karlos. In: Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 92–109, hier insb. S. 106. Alt: Schiller. Bd. I, S. 441. Luserke-Jaqui: Don Karlos – Briefe über Don Karlos, S. 106. Alt: Schiller. Bd. I, S. 441.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-018
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fassend festhalten. Und dem mag man auch so zustimmen. Die Forschungsliteratur ergänzend, bleibt dennoch zu fragen, ob nicht die programmatische Betonung der einzelnen Sinneinheiten in Schillers Drama sich am Ende doch zu Ungunsten des Ganzen niederschlug, sodass die seit dem Erscheinen des Dom Karlos oft festgestellte mangelnde Einheit des Werks schließlich gerade in der Anwendung des Tableau-Prinzips ihren Ursprung haben könnte. Neben dieser Erklärung für die auffällige Uneinheitlichkeit des Don K arlos könnten auch zwei ergänzende Gründe geltend gemacht werden. Zum einen, dass diese Uneinheitlichkeit mit der langen Entstehungsgeschichte des Werks – und den im Laufe der Zeit vorgenommenen, gravierenden Akzentverschiebungen in den Rollen etwa der Titelfigur und ihres Kindheitsfreundes Marquis Posa 7 – zu tun hat. Zum anderen, dass Schillers Hauptzweck beim Verfassen seines Karlos von vornherein gerade nicht die Einheitlichkeit seines Stücks, sondern vor allem die „höchste Wirkung“ jeder einzelnen Szene gewesen ist. 8 In der Tat: Vor dem Hintergrund übergeordneter anthropologischer Ideale, mit denen Schiller manchmal ein wenig unkritisch in Verbindung gebracht wird, wurde in der neuen Forschung die Frage nach der Einheit des Stücks kurzerhand für „akademisch“ 9 erklärt und in den Hintergrund gedrängt. Indes erscheint die Beschäftigung mit dieser Frage – derselben übrigens, die Schiller 1788 nach der Veröffentlichung der ersten Buchausgabe dazu veranlasste, auch seine Briefe über Don Carlos zu verfassen – ganz im Gegenteil als besonders fruchtbar, denn sie vermag zweifellos eine Konstante von Schillers Arbeitsweise am Don Karlos deutlich vor Augen zu führen: Dass der Dichter, hier vielleicht noch ausgeprägter als bei anderen, früheren Werken, stets darum bemüht war, hauptsächlich die ästhetische Wirkung jeder einzelnen Szene des Dramas zu maximieren – sollte dies auch bedeuten, die Folgerichtigkeit und 7
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Gleich im ersten seiner Briefe über D on Karlos hält Schiller rückblickend fest: „An den verschiedenen Schicksalen, die während dieser Zeit über meine Art, zu denken und zu empfinden, ergangen sind, mußte notwendig auch dieses Werk teilnehmen. Was mich zu Anfang vorzüglich in demselben gefesselt hatte, tat diese Wirkung in der Folge schon schwächer und am Ende nur kaum noch. Neue Ideen, die indes bei mir aufkamen, verdrängten die frühern; Karlos selbst war in meiner Gunst gefallen, vielleicht aus keinem andern Grunde, als weil ich ihm in Jahren zu weit vorausgesprungen war, und aus der entgegengesetzten Ursache hatte Marquis Posa seinen Platz eingenommen“, NA 22, 138. „Dem Dichter kömmt es darauf an, die höchste Wirkung die er sich denken kann, zu erreichen“ – so Schiller 1786 in einer am Ende des zweiten Aktes des Don K arlos eingefügten Anmerkung in der „Thalia“, NA 6, 495. Dieses primäre Ziel – ein Ziel, das wohl auch der Autor des Dom Karlos anstrebte – solle der Dichter, wie Schiller hier unterstreicht, über jede gattungstheoretische Grenze hinaus verfolgen. In unserem Rahmen lohnt es sich darauf hinzuweisen, dass Schiller auch hier – wie vormals in der unterdrückten sowie in der veröffentlichten Vorrede zu den Räubern – vor allem darum bemüht ist, mögliche Kritiken an seinem Stück auf Grund von Verstößen gegen Gattungsregeln vorzubeugen. So wie es dort geheißen hatte, dass Die R äuber „niemals das Bürgerrecht auf dem Schauplatz bekommen“ würden (NA 3, 243), so heißt es hier, dass „der Dom Karlos kein Theaterstük werden“ könne, NA 6, 495. Luserke-Jaqui: Don Karlos – Briefe über Don Karlos, S. 108.
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Plausibilität des Ganzen an einigen Stellen zu gefährden. Wenn man von diesen Prämissen ausgeht, so ist es nur zu konsequent, dass, während das kräftige Pathos und die stets ausdrucksstarke Sprache von Schillers Figuren den Leser innerhalb der einzelnen Szenen fesseln und hinreißen, man in der diachronischen Abfolge der Auftritte oft vergeblich nach den Gründen sucht, welche ihre Worte und Handlungen plausibilisieren sollten. Diese Beobachtung mochte bereits der Generalsuperintendant Christian Viktor Kindervater gemacht haben, der 1788 eine ausführliche, sowohl ehrliches Lob als auch entschiedenen Tadel austeilende Besprechung von Schillers 1787 erschienenen Dom Karlos in Göschens Kritischen Uebersicht der neusten schönen Litteratur der Deutschen veröffentlichte. 10 Was diese frühe Rezension angeht, ist die Schiller-Forschung meistens dem Wink von Christian Gottfried Körner gefolgt, der bereits in einem Brief vom 3. Oktober 1788 an den Dichter die Besprechung „im Kritischen Journale, das bey Göschen herauskommt“, ein „elend[es] […] Geschwätz“ genannt hatte. 11 Der Kommentar zu Schillers Briefe über Don Karlos in der Nationalausgabe vermerkt, Körner habe die Rezension „etwas scharf, aber nicht ganz mit Unrecht“ 12 so bezeichnet. Auch in der neuesten Forschung wird weiterhin am Wert der frühen Rezensenten von Schillers Karlos gezweifelt: Indem die ersten Rezensenten des Karlos, darunter Kindervater, etwa „die ‚Freyheit aller Menschen‘ lediglich auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen analysieren“, würde „die utopische Brisanz der politischen Einstellung des Marquis Posa depotenziert“; 13 darüber hinaus würde Kindervater Schillers „‚verschwenderische‘ Verwendung geschichtsphilosophischer Gedankengänge“ zurückweisen, „da diese in dem theologisch fundierten Weltbild des Rezensenten […] als nicht realisierbar“ erschienen. 14 Sowohl einem etwas vorschnellen Urteil der kritischen Unzulänglichkeit angesichts Posas ‚politischer Utopie‘ als auch einem pauschalen und kurzerhand zum Argument erhobenen Ideologieverdacht gegenüber dem Rezensenten kann entgegengehalten werden, dass Kindervater bereits am Anfang seiner Rezension ohne Rekurs auf hochtrabende Formulierungen die Kriterien deutlich macht, nach welchen sich seine Besprechung des Don Karlos richten wird. „Nach was soll […] das Stück beurtheilt werden? unstreitig nach den Regeln des Trauerspiels“, 15 schreibt der Rezensent; kurz danach heißt es außerdem: „[wir] werden […] untersuchen müssen, ob Einheit des Interesse [sic], und ob Wahrheit da ist; ob alles so motivirt erscheint, wie es motivirt seyn mußte, ob die Charaktere wahr, mannigfal10 11 12 13 14 15
Vgl. NA 7/II, 536–554. NA 33/I, 235. NA 22, 389. Holger Bösmann: Projekt-Mensch. Anthropologischer Diskurs und Moderneproblematik bei Friedrich Schiller. Würzburg 2005, S. 73f. Ebd. NA 7/II, 537. Kindervaters Betrachtungen richten sich hier polemisch gegen Schillers bereits erwähnte „Anmerkung“ in der Thalia, die besagte, sein Dom Karlos könne „kein Theaterstük werden“, NA 6, 495.
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tig und individualisirt sind“. 16 Anschaulichkeit und Plausibilität des Dargestellten in dem zu rezensierenden Werk werden von Kindervater als zentrale Kriterien in den Vordergrund gerückt; und nach eben denselben Kriterien richtet sich dann auch der Rezensent grundsätzlich in der eigenen Argumentation. Vor diesem Hintergrund vermag Kindervaters angebliches „Geschwätz“ noch heute einen doch brauchbaren Einstieg in die literaturwissenschaftliche Analyse von Schillers Drama zu gewähren. Denn zum einen vermittelt die Besprechung auf direkte Weise die kritische Stimme eines Zeitgenossen und macht auf die möglichen Stärken und Schwächen aufmerksam, wie sie bereits bei der Veröffentlichung der Buchausgabe von Schillers Werk hervorgehoben wurden. Zum anderen ermöglicht sie in der Auseinandersetzung mit diesem Werk sowohl Schillers nachträgliche Selbstinterpretation der Briefe über Don Karlos zunächst einmal auszuklammern – „Briefe“, die selbst eine von außen provozierte, rechtfertigende Antwort des Dichters auf seine Kritiker darstellten 17 und deren Argumentation sich übrigens auch als weit weniger selbstständig erweist als man gemeinhin bereit ist anzuerkennen – als auch von den gewohnten Bahnen der neuen Schiller-Forschung über den Don K arlos einstweilen abzusehen, dabei insbesondere von der Rolle von Schillers ‚Anthropologie‘ sowie von den politisch zentrierten Interpretationen um die zentrale Figur des Marquis Posa und deren brisantes Verhältnis zum Illuminatenorden. Vor der Folie von Kindervaters Rezension soll in unserem Rahmen das Augenmerk vor allem auf zwei Figuren in Schillers Drama gerichtet werden, Figuren, die wir dann nicht bloß im Zeichen einer zeittypisch empfindsamen, brüderlichen Freundschaft interpretieren werden: den titelgebenden Protagonisten Karlos und den Malteserritter Marquis Posa. Unser Ziel ist es, zunächst deutlich zu machen, mit welchen Engpässen die betont politische Interpretation von Schillers Drama unvermeidlich konfrontiert ist, sobald man die Aufmerksamkeit nicht auf einzelne ‚Gemälde‘ und auf prinzipiell aufgefasste Willenserklärungen der Figuren, sondern auf die diachronische Abfolge der Auftritte lenkt. In einem zweiten Schritt soll dann zu zeigen sein, in wie weit sich eine betont ästhetische, um die Figur des schöpferischen ‚Kraftgenies‘ kreisende Deutung von Schillers Stück, sowie seiner Briefe über Don Karlos, am Ende als fruchtbarer erweist als die in der Forschung am meisten vertretene ‚politische‘ Interpretation des Don Karlos. In einem Brief vom 14. April 1783 am Wilhelm Reinwald schreibt Schiller, sein Karlos habe „von Shakespears Hamlet die Seele – Blut und Nerven von Leisewitz’ Julius, und den Puls von [ihm]“. 18 Wollte man einmal diese frühe Stellungnahme von ihrem historischen Hintergrund lösen und prinzipiell nehmen, so würde man nach der Lektüre der 1787 erschienenen Buchausgabe des Dom Karlos möglicherweise berechtigte Zweifel an ihrer Stimmigkeit bekommen. Am titelgeben16 17 18
NA 7/II, 537. Vgl. dazu den entsprechenden Kommentar in der Nationalausgabe, NA 22, 388f. NA 23, 81.
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den Protagonisten würde man wahrscheinlich im Ganzen nicht nur die Tiefe von Hamlets Seele vermissen, sondern auch Julius’ südländisch-heißes ‚Blut‘ und die starken ‚Nerven‘ bemängeln, die zum tatkräftigen Handeln nötig sind. Nur bei dem – hier wohl als besonders ‚hoch‘ anzunehmenden – ‚Puls‘ des Charakters fände man wahrscheinlich eine gewisse Bestätigung. Denn „gleich von Anfange des Stücks an“ zeigt sich Karlos – wie Kindervater in seiner Rezension vermerkt, und das sei, wie er schreibt, „der gelindeste Ausdruck“, den man gebrauchen könne – wie ein ausgesprochen „leidenschaftliche[r] junge[r] Mensch[-]“, welcher der „Vernunft“ nicht richtig „mächtig“ sei. 19 Diese Entgegensetzung von ‚Leidenschaft‘ und ‚Vernunft‘, bei der Karlos in Schillers Drama wohl so gut wie ausschließlich den ersten Pol repräsentiert, ist in der Auseinandersetzung mit dieser Figur stets im Hinterkopf zu behalten. 20 Denn allzu bald entpuppt sich der zunächst besonders umsichtige und bedächtige Infant, den man in der ersten Szene des Dramas in einem heiklen Gespräch mit dem Beichtvater des Königs erlebt, in Wirklichkeit als ein ‚unbesonnener‘ ‚Knabe‘, 21 der den eigenen Leidenschaften passiv unterworfen ist und schließlich keinerlei politisches Bewusstsein besitzt. 22 Wenn „Posas Mission“, wie auch geschrieben wurde, „auf die politische Erziehung des Infanten“ abzielt, 23 so hat man in Anbetracht der Figur des Karlos berechtigten Grund davor zu warnen, dass sich jene Mission leicht als eine „Arbeit für mehr als ein Jahrhundert“ erweisen könnte. 24 Der Marquis Posa, Karlos einstiger Spielgefährte, der sich nach langer Zeit Philipps Sohn gleich als „Abgeordneter der ganzen Menschheit“ 25 vorstellt, mag im zweiten Auftritt des Dramas womöglich dem Leser noch unbekannte Gründe haben, um in Karlos den „löwenkühne[n] Jüngling“ 26 zu erwarten, den dieser dann an keiner Stelle von Schillers Drama darstellt. Augenfällig ist jedoch schon hier das grundsätzliche Missverhältnis zwischen dem von Posa feierlich proklamierten Humanitätsideal und jenem engsten Horizont der unglücklichen Liebe zur Stiefmutter, in dem der Infant noch bis zum Schluss gefangen bleibt. Ungewollt ins Komische gleitet dabei schon jene erste 19 20 21
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NA 7/II, 538. Am 13. Juni 1787 schreibt Schiller selbst an Friedrich Schröder, Karlos habe „mehr Genie als Cultur, mehr Leidenschaft als Welt“, NA 24, 100. Einen „Unbesonnene[n]“ (NA 6, 40) nennt Elisabeth den Stiefsohn, der sich ihr im fünften Auftritt des ersten Aktes unerwartet zu Füßen wirft. Einen „Knaben“ nennt der König „[s]ein[en] Infant[en]“ (NA 6, 54) in der darauffolgenden Szene. In unserem Rahmen wird Schillers Dom Karlos nach der Erstausgabe von 1787 zitiert: Dom Karlos. Infant von Spanien, von Friedrich Schiller. Leipzig, bei Georg Joachim Göschen 1787, NA 6, 5–339. „Das politische Bewußtsein, das Karlos fehlt, weist Posa hingegen im Übermaß auf“ – so Peter-André Alt in: Schiller. Bd. I, S. 443. Ob dies tatsächlich bei Posa der Fall ist, wird im Folgenden noch zu untersuchen sein. Ebd. Um hier eine bekannte Formulierung Schillers zu gebrauchen, die jedoch aus dem unterschiedlichen Kontext des Briefes vom 13. Juli 1793 an den Prinzen von Augustenburg entstammt, NA 26, 264. NA 6, 16. Ebd.
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Tirade des Malteserritters ab, die in folgendem, zum moralischen Widerspruch herausfordernden Satz gipfelt: Auf Kaiser Karls glorwürdʼgem Enkel ruht die letzte Hoffnung dieser edeln Lande. Sie stürzt dahin, wenn sein erhabnes Herz vergessen hat für Menschlichkeit zu schlagen. 27
„Sie stürzt dahin“, 28 heißt die moralisch teilnahmslose Replik des Infanten, der die politischen Schicksale der „Flandrischen / Provinzen“ nicht weniger als die allgemeinen „Rechte / der hingestürzten Menschheit“ 29 hier in aller Deutlichkeit nur den persönlichen Rechten seines Herzens unterordnet: „Nur Thränen kann ich geben, / und Thränen brauchʼ ich für mich selbst. Verließ / der Himmel mich – was liegt an Nationen“ 30 – so Karlos’ ernüchternde Entgegnung. Wenn Posa im weiteren Dialog Karlos anspornend als „große[n] Mensch[en]“ anspricht – ja, gar als „vielleicht de[n] einz’ge[n], den / die Geisterseuche seiner Zeit verschonte“ –, so fragt der Infant mit einigem Grund, ob die Rede an dieser Stelle überhaupt von ihm sei. 31 Von dem „Abgeordnete[n] der ganzen Menschheit“, der ihm soeben den verzweifelten Hilferuf eines ganzen „unterdrückte[n] Heldenvolk[es]“ 32 übermittelt hat, verlangt der spanische Infant in rhetorischer Steigerung, jener solle aussprechen, „daß auf diesem großen Rund der Erde / kein Elend an das [s]eine gränze“ 33 – an den Umstand nämlich, dass der Infant seine Stiefmutter liebt. Kein Zweifel: Auf dem Ohr des ‚Politischen‘ ist der verliebte Prinz offensichtlich taub (geworden). Das Allerhöchste, nach dem er zu streben vermag, ist ein alleiniges Gespräch mit der Königin, und zwar „nur wenʼge Augenblicke, / nur so viel Zeit, als Menschen nöthig haben / mit Gott sich zu vergleichen“ 34 – was bei ihm, mit Kindervater zu mutmaßen, auf eine „kurze“ Zeit hinzuweisen scheint. 35 Dass der Prinz dann bereits im siebten Auftritt des ersten Aktes gegenüber Posa resolut behauptet: „Sage mir nichts mehr. / Ich bin entschlossen. Flandern sei gerettet“, 36 ändert entgegen dem Anschein gar nichts am oben dargestellten, politisch indifferenten Bild des Infanten. Das von Karlos so sporadisch wie pathetisch bekundete Interesse am Politischen ist und bleibt bei ihm immer ein bloßes Akzidens seiner Liebe zu Elisabeth. Folgerichtig, dass er seinen eben zitierten Satz mit der Bemerkung „Sie
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Ebd. Ebd. NA 6, 17. NA 6, 16. Ebd. „Sprichst du von mir? Du irrst dich, guter Mensch“, so Karlos wörtlich an dieser Stelle, NA 6, 17. NA 6, 16. NA 6, 21. NA 6, 22. NA 7/II, 538. NA 6, 56.
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will es: das ist mir genug“ 37 vervollständigt und dass es kurz danach gar heißt: „Ich fühle / in jeder Ader Gottheit – So viel konnte / der Anblick meiner Königinn“. 38 Man sollte sich daran gewöhnen, den extremen Stimmungsschwankungen von Schillers Prinzen stets eine gesunde Prise Skepsis entgegenzubringen und dabei insbesondere die ausgeprägte Begeisterungsfähigkeit des Infanten mitnichten als eine im Jüngling schlummernde, menschliche wie politische Potentialität deuten, sondern ganz im Gegenteil als Spiegelbild seiner grundsätzlichen, sowohl menschlichen als auch politischen Ohnmacht zu erkennen. Denn eigentlich ist jeder Bewegungstrieb, wie sich zeigt, in Schillers passivem Prinzen durch und durch fremdgesteuert – sei es von der Königin, sei es von Posa. 39 In das selbstvernichtende Gespräch mit König Philipp, das Schiller im zweiten Akt darstellt, geht Karlos gerade mit dem hochtrabenden, den ersten Akt abschließenden Satz an den Malteserritter „Jetzt zum König. / Ich fürchte nichts mehr – Arm in Arm mit dir – / so fodrʼ ich mein Jahrhundert in die Schranken“ 40 hin. Glaubt man hier dem Prinzen aufs Wort und fasst seinen Satz programmatisch auf, so stellt sein Vorhaben mit Sicherheit kein geringes Unterfangen dar. Indes zeigt sich allzu bald, dass der Umstand, dass Karlos – „wie er sich geniemäßig ausdrückt“ 41 – „erwacht“ sei und sich „fühle“, 42 gar nichts Konkretes für die ihm umgebende Welt zu bedeuten hat. König Philipp – der wohl das Metier des Herrschens und seine Tücken gut kennt, auch wenn er bei Schiller, wie sich spätestens in den letzten Szenen zeigt, alles andere als einen unbesiegbaren, Machiavellis ‚Fuchs‘ und ‚Löwen‘ in sich vereinigenden ‚Machtmenschen‘ darstellt – hat in seiner Audienz leichtes Spiel, die bloß auf Pathos setzenden Verstellungsversuche seines Sohnes 43 zu durchschauen und schmachvoll von sich zu weisen. Bereits bei den ersten Worten, die Karlos „im Ausdruck der höchsten Empfindung“, wie die Regieanweisung anmerkt, 44 an Phi37 38 39
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Ebd. Ebd. „Wie groß sind Sie, o Himmlische! – Ja alles, / was Sie verlangen, will ich thun! – auch sterben, / und, wenn Sie wollen, nimmer selig sein“ – so Don Karlos zur Königin im fünften Auftritt des ersten Aktes, NA 6, 49. Noch im zweiten Auftritt desselben Aktes verlangt der Marquis, der Infant möge versprechen, ohne den „Freund nichts zu beschließen“. Karlos’ Antwort lautet dabei: „Alles, alles, / was deine Liebe mir gebeut. Ich werfe / mich ganz in deine Arme“, NA 6, 24. NA 6, 61. Das pejorativ gebrauchte Adjektiv „geniemäßig“ rekurriert mehrmals in Kindervaters Besprechung von Schillers Dom K arlos; vgl. beispielsweise hier NA 7/II, 539 sowie S. 541 und 542. Von einem „äußerst romanhafte[n] Kraftgenie“ ist außerdem in Bezug auf Posa auf S. 549 die Rede. NA 6, 70. Der Leser des ersten Akts weiß, dass der Infant, der „zum König“ (NA 6, 61) eilt, einen vorbestimmten, mit Posa abgemachten ‚Plan‘ verfolgt. Als ‚Verstellungskünste‘ sind daher auch die Stellen zu beurteilen, in denen sich der Infant vornimmt, mit dem Vater die als unschuldig angenommene „Stimme der Natur“ (NA 6, 56) sprechen zu lassen. Denn auch diese ‚Stimme‘ stellt hier bloß ein Mittel zu einem übergeordneten Zweck dar. NA 6, 64.
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lipp richtet, sobald Vater und Sohn allein geblieben sind, entgegnet der König unmissverständlich: „Infant, dein Herz weiß nichts von diesen Künsten. / Erspare sie, ich mag sie nicht“. 45 Ein „Gaukelspiel“ 46 nennt der Monarch Karlos Aufforderung zur „Versöhnung“, die der Prinz äußert, indem er theatralisch seinem König und Vater „zu Füßen“ fällt. 47 „Bildest du / dir ein“, fragt Philipp kurz danach rhetorisch, „den schweren Zweifel Deines Vaters / mit schönen Worten zu erschüttern?“. 48 Bis der König schließlich, bei der entscheidenden „Bitte“ 49 des Infanten, er möge seinem Sohn die Führung des Heers nach Flandern anvertrauen, ein Urteil ausspricht, das wohl für den Infanten keine Berufung zulässt: „Du redest wie ein Träumender. Dieß Amt / will einen Mann und keinen Jüngling –“. 50 Nicht genug: In Anbetracht der Figur des Karlos, wie sie in Schillers Drama bis zu diesem Punkt dargestellt wird, muss sich auch der Leser zugestehen, dass die Reaktion des Königs auf Karlos’ Bitte vollkommen motiviert ist – oder mit Kindervaters pointierten Worten: Hier muß man sich fast wider Willen, auf die Seite des Vaters neigen; dieser mußte seinem mißtrauischen Charakter gemäß das Gesuch abschlagen, und der Zuschauer kann es an und für nicht mißbilligen, wenn ein solcher Brausekopf wie Karlos nicht Statthalter wird. 51
Die Audienz mit dem König wird für den Infanten zum kolossalen Fiasko – das von Karlos erzielte Ergebnis ist gerade umgekehrt proportional zum Pathos seiner Worte und Gesten. Es ist durchaus bezeichnend, dass der Jüngling, der sich von der „Weltgeschichte“, von „Ahnenruhm“, ja gar von der „des Gerüchtes donnernde[n] Posaune“ 52 gerufen fühlte, nun angesichts der väterlichen Verweigerung völlig außer Konzept gerät 53 und schließlich private Gründe für die Gewährung seiner Bitte geltend zu machen sucht. So drängt Karlos mit folgenden Worten in den König: „[V]ertrauen Sie mir Flandern. / Ich soll und muß aus Spanien. Ein Uebel, / das niemand ahndet, tobt in mir“, 54 wobei der politischen Befreiung der vielen Unterdrückten hier offensichtlich die Errettung des einen unglücklich Liebenden unterordnet wird. Wenn Posa bereits im ersten Akt von Karlos das Versprechen gefordert hatte, der Infant würde nichts ohne seinen „Freund“ „beschließen“, 55 so leuchtet spätes45 46 47 48 49 50 51 52 53
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Ebd. NA 6, 66. NA 6, 65. NA 6, 67. NA 6, 71. Ebd. NA 7/II, 540. NA 6, 70. Wenn man dies als Teil von Karlos’ ‚Strategie‘ interpretieren wollte, so würde man nur schwerlich erklären können, wieso der Infant an dieser Stelle „außer si ch“ gerät, wie die Regieanweisung vermerkt, NA 6, 74. NA 6, 73. NA 6, 24.
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tens an dieser Stelle ein, dass es sich dabei um keine übertriebene Vorsichtsmaßnahme des Maltesers handelte. Der im Kreis seiner Liebe gebannte Prinz braucht dringend einen Vormund. Dass dieser ihn selbst zur Mündigkeit zu erziehen gedenke – darauf sollte man jedoch nicht allzu schnell vertrauen. 56 Was im zweiten Akt des Dom Karlos geradezu evident wird, ist jedenfalls, dass man sich die ernstesten Sorgen um die ‚Menschenrechte‘ machen müsste, wollte man gerade Schillers Infant von Spanien großzügig zum „Anwalt von Menschenrechten“ 57 erhoben sehen. Nur noch zwei kurze Auftritte in demselben Akt und der Prinz, der sich noch in der Audienz mit dem Vater auf vehementeste Art Ruhm und/oder Errettung ausschließlich in Flandern versprochen hatte, denkt plötzlich gar nicht mehr daran, den „Himmel zu Madrid“ 58 zu verlassen. Wenn der Infant noch zu seinem Vater gesagt hatte, dass der Herzog von Alba nie ein „Mensch“ gewesen sei, 59 meint er nun zum Herzog selbst und „nicht mit Ironie“, wie die Regieanweisung vermerkt, dass jener „ein großer General“ sei und dass der König „ganz Recht“ habe, ihn und nicht den eigenen Sohn nach Flandern zu kommandieren. 60 Ein solcher plötzlicher Umschwung – wäre der Leser nicht bereits an solche Umkehrungen des jungen Infanten gewöhnt 61 – möchte zunächst überraschen. Doch das, was inzwischen passiert ist, ist eigentlich so klar wie einfach: Von einem Pagen hat der verliebte Prinz ein „Billet doux“ 62 erhalten, das er von der Königin geschrieben glaubt. Dies ist nun für ihn Grund genug, das alles, was „vorhin“ 63 war, unbedenklich hinter sich zu werfen – handelte es sich dabei auch um die höchsten Werte und Ideale jener „Bürger“, „welche kommen werden“. 64 Auch in diesem Fall hält bereits Kindervater nicht mit Unrecht Folgendes fest: Er [Karlos] erfährt […] vom Herzoge [von Alba], daß er nach Flandern abreisen werde, und die Nachricht ist Ihm, der zuvor so ungemein für die Befreyung der Niederländer glühte, daß er in jeder Ader Gottheit fühlte, nun ganz gleichgültig; so sehr hat ihn der Liebesbrief zur Menschheit wieder herabgestimmt! 65
Es muss wirklich eine Art ‚Wunder‘ geschehen, damit dieser politisch indifferente Prinz am Ende des Dramas doch – mit welcher Glaubwürdigkeit auch immer – den 56
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Wie dagegen in der Forschung auch der Fall ist: „Illuminatisch, dabei allerdings ein Streitpunkt innerhalb des Ordens, ist Posas Strategie auch in ihrem Hauptstück: dem Versuch, über die Fürstenerziehung zum Ziel zu kommen, in der Einflußnahme auf den Kronprinzen die Zukunft zu ‚pflanzen‘“, Hartmut Reinhardt: Don Karlos. In: Helmut Koopmann (Hg.): SchillerHandbuch. Stuttgart 1998, S. 379–394, hier S. 391. Vgl. Alt: Schiller. Bd. I, S. 435. NA 6, 73. NA 6, 71. NA 6, 84. Kindervater spricht dabei geradezu von „epileptischen Rückf[ä]ll[en]“, NA 7/II, 546. Ebd., S. 553. NA 6, 84. NA 6, 185. NA 7/II, 541.
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hohen politischen und moralischen Ruf verspürt, das „bedrängt[e] Volk“, das er nun ‚sein‘ nennt, „zu retten von Tyrannenhand“. 66 Und dieses ‚Wunder‘ vollzieht selbstverständlich die ‚Aufopferung‘ des Malteserritters Posa, den Schiller am Ende nicht bloß zu einem beliebigen Märtyrer der katholischen Kirche stilisiert, sondern zur Steigerung des ästhetischen Effekts gar direkt in die Fußstapfen Christi treten lässt – Posa der „Freund“, 67 der „Br[u]der“, 68 der „Göttlich[e]“, 69 „der große Todte“, 70 der für Karlos starb 71 und über dessen „Asche […] ein Paradies“ blühen soll. 72 „Madrid / sieht nur als König oder Nie mich wieder“, 73 sagt der geläuterte Infant im letzten Auftritt des Dramas zu seiner Stiefmutter, und diese zeigt sich tief beeindruckt: „O Karl! Was machen Sie / aus mir? – Ich kann – ich darf mich nicht / empor zu dieser Männergröße wagen“. 74 Doch vereitelt König Philipp unmittelbar danach wiederum den so schwärmerischen wie folgenlosen Befreiungsplan des Infanten – wirklich politisch aktiv vermag Karlos in Schillers ganzem Drama an keiner Stelle zu werden. Doch kehren wir zunächst noch zur Mitte des Dom Karlos zurück. Dass Posa den Infanten von Anfang an als Instrument zu den eigenen Zwecken einsetzt, liegt wohl sicherlich auch in der zielstrebigen Natur des Malteserritters begründet. Und doch, so möchte man ergänzen, auch in der in höchstem Maße unsteten Natur des jungen Prinzen, der sich als formloser Rohstoff nur zur Realisierung eines fremdbestimmten Gestaltungsplans tauglich erweist – und das auch nicht ohne Einschränkung, wenn man bedenkt, dass der Malteserritter im Stück gar den leidenschaftlichen Jüngling einkerkern lassen muss, damit der Infant seine Pläne nicht gefährdet. „Die gute Sache / wird stark durch einen Königssohn“, 75 sagt Posa zu Elisabeth im vierten Akt des Dramas, indem er die Königin in seine Pläne einweiht und sie dabei für die ihr vorbehaltene Funktion eines Überzeugungsinstruments gegenüber dem Infanten vorbereitet. 76 Posas Satz kann man an dieser Stelle jedoch auch in einem prinzipiellen Sinn deuten: „einen Königssohn“ mache die „gute Sache“ stark. Dass es sich dabei um den ‚Freund‘ Karlos oder um einen anderen („Schlafenden“), 77 ist ihm einerlei. Vor allem auf die Autorität eines legitimen Thronfolgers, dessen er sich bedienen will, kommt es Posa ja offensichtlich an. Welchen 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77
NA 6, 337. NA 6, 302. Ebd. NA 6, 336. NA 6, 335. Vgl. NA 6, 302. NA 6, 335. NA 6, 337. NA 6, 338. NA 6, 207. „Er [Karlos] sollte, war mein Plan“, sagt Posa zur Königin, „aus Ihrem Mund zum ersten mal sie [seine „Idee“, seinen großen Plan] hören“, NA 6, 208. Vgl. IV. Akt, sechsten Auftritt, NA 6, 221.
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instrumentellen Wert Karlos für Posa besitzt – das verrät nicht zuletzt ein im Vorbeilaufen gesprochener Satz des Malteserritters im erwähnten Dialog mit der Königin. Hier, im vierten Akt des Dramas, liest man: „Karlos dringt / auf Antwort, Ihro Majestät – Ich habʼ / ihm zugesagt, nicht leer zurückzukehren“. 78 Das stimmt: Im letzten Gespräch mit Karlos, das allerdings noch am Ende des zweiten Aktes stattfand, hatte Posa dem Infanten sein Wort gegeben, ein Gespräch zwischen ihm, dem Prinzen, und Elisabeth zu „befördern“. 79 Der Hintergrund war allerdings derjenige, dass Karlos den schriftlichen Beweis dafür in der Hand hatte, dass der König seine Gemahlin mit der Prinzessin Eboli hintergangen habe – was ihm bedeuten wollte, die Königin wäre also wieder „frei“. 80 Posa hatte dabei zwar den eigenhändigen Brief des Königs an die Prinzessin Eboli zerrissen, er hatte jedoch auch Karlos versprochen, ein Gespräch mit der Stiefmutter zu arrangieren, und vage auch von einem „wilde[n], kühne[n], glückliche[n] Gedanke[n]“ gesprochen, der in seiner „Phantasie“ gestiegen sei. 81 Die „Antwort“ von der Königin, auf die Karlos noch im vierten Akt „dringt“, dreht sich beim Prinzen daher noch vollkommen um das Thema der ‚Liebe‘ zu seiner Stiefmutter. 82 Und die gutgläubige Spannung des Infanten soll nun noch gezielt durch eine schriftliche Mitteilung der Königin erhöht werden. Indem der selbstsichere Drahtzieher Posa der Königin „seine Schreibtafel“ reicht, sagt er im Vorbeigehen: „Zwo Zeilen sind für jetzt genug – um seine / Erwartungen zu spannen – “. 83 Posa, der seinen gefügigen Kindheitsgefährten offensichtlich gut kennt, bekommt bald Recht: Elisabeths „Zeilen“ zeigen Wirkung. Der Prinz – ungeachtet der Tatsache, dass er noch gar nichts von den um ihn kreisenden Absichten und Plänen seines (und seines Vaters) 84 ‚Freundes‘ Posa ahnt – liest das von der Königin an ihn „Geschriebene“ mehrmals durch und bricht „entzückt und feurig“ in folgende Worte aus: Engel des Himmels! Ja! Ich will es sein – ich will – will deiner werth sein – Große Seelen macht die Liebe größer. Seiʼs auch, was es sei. Wenn Du es mir gebietest, ich gehorche. – – 85
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NA 6, 220. NA 6, 147. NA 6, 140. NA 6, 147. Vgl. dazu auch Karl S. Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa: Despot der Idee oder Idealist von Welt?. In: Ders.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen 1994, S. 133–164: „Karlos sucht diese Begegnung sehnlich, aber aus einem anderen – dem erotischen – Grunde, nicht etwa um sich von Elisabeth für die niederländische Sache begeistern zu lassen“, S. 153. NA 6, 210. „Ich will den Mann, den ich zum Freund gewählt, / beneidet sehn“, sagt der König im vierten Akt, NA 6, 234. An Posas Leiche wird Karlos im fünften Akt feierlich behaupten: „Der Todte war mein Freund“, NA 6, 302. NA 6, 218.
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Der Leser kann leicht nachvollziehen, was der Herzog Alba im vierten Akt meint, wenn er, die Verstellungskünste des Posa wider Willen anerkennend, „in t iefen Gedanken“ vor sich hin sagt: „Was gäbʼ ich jetzt / um einen Feind, wie der Infant gewesen“. 86 Im Vergleich zu Karlos muss Posa ja als ein viel gefährlicherer und tückischerer Feind erscheinen. Dennoch ist auch an dieser Stelle Vorsicht geboten, denn näher betrachtet lässt selbst der Malteserritter, verstanden als „der eigentliche Analytiker der Macht“ 87 in Schillers Drama, nicht wenig zu wünschen übrig. Der springende Punkt in der Analyse des ‚Machtstrategen‘ Marquis Posa besteht darin, dass Schillers Malteserritter bei seinem „gewagte[n] Spiel“ 88 am spanischen Hof so gut wie alles auf den ehemaligen Spielgefährten und nun in die Stiefmutter verliebten Titelhelden Karlos setzt, das heißt auf jene Figur, die sich im Drama am meisten handlungsunfähig, unbedacht und bloß den eigenen Emotionen ausgeliefert zeigt. Auf jene Figur letztlich, die er ja auch selbst über weite Teile der dargestellten Handlung – für die „gute Sache“? 89 Aus „Furcht vielmehr und Eigennutz“? 90 – nicht von ungefähr wie eine Marionette am eigenen Faden behandelt. Wie sich im vierten Akt zeigt, sieht Posas Plan vor, dass sich der Infant heimlich nach Flandern begeben und das Heer an Albas Stelle führen soll. Vor die Alternative gestellt, „großmüthig zu / vergeben oder zweifelhaft zu schlagen“, 91 würde sich der König in Posas Vorstellung dann für die erste Möglichkeit entscheiden. Posa hegt dabei keinen Zweifel: Karlos würde in Flandern geradezu „Wunder thun“ – so der Malteserritter entschieden zur Königin. 92 In seiner Besprechung des Dom K arlos versäumt es der Rezensent Kindervater nicht, die grundsätzliche Inkonsequenz und politische Unbedarftheit des angeblich erfahrenen und im Text viel gelobten Marquis mit Nachdruck zu unterstreichen: Karlos Wunder thun? der unbesonnene Jüngling, der noch keine Kenntniß von diesen Dingen hat, der einen seltsamen Streich über den andern begeht, der immer umherrast und tobt und sprudelt, immer die Leidenschaft nie die Vernunft hört, bald, wie er spricht, in jeder A der Gottheit fü hlt, den Niederländern zu helfen, und nach Empfang des irrigen Liebesbriefchen sich dieser Gottheit sowohl als seines gesunden Menschenverstandes wieder entäußert; der soll Wunder an der Spitze der Armee thun? Eher Tollkühnheit begehen, und sich und seine Armee zu Grunde richten! 93
„Darf man sich Dinge lassen weis machen, die ein einziger Blick auf den Infanten widerlegt?“ – fragt Kindervater rhetorisch nach wenigen Seiten – „Blos der Marquis will aus dieser Liebe Dinge entstehen lassen, die allen Glauben überstei-
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NA 6, 247. Luserke-Jaqui: Don Karlos – Briefe über Don Karlos, S. 102. NA 6, 266. NA 6, 207. NA 6, 147. NA 6, 208. Ebd. NA 7/II, 544f.
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gen“. 94 Wie die meisten Leser des Dom K arlos, die sich hauptsächlich auf die begrenzten Abläufe in den einzelnen Szenen oder ‚Gemälden‘ konzentrieren, hat auch die Königin inzwischen offensichtlich vergessen, dass jener Karlos, den auch sie nun so gerne an entscheidender politischer Stelle tatkräftig „handeln“ 95 sehen möchte, gerade derjenige Jüngling ist, der bei dem anfänglichen, so unerwarteten wie heiklen Treffen mit ihr in Aranjuez sich noch dann weigerte zu fliehen, als König Philipp höchstpersönlich die Bühne zu betreten drohte. 96 Nachdem nun Posa der Königin seinen Plan im vierten Akt deutlich gemacht hat, zeigt sich Elisabeth zuerst ein wenig zögerlich. Dann findet sie dennoch gleich entschiedene Worte der Begeisterung für das Vorhaben des Marquis: „Nein! Die Idee ist groß und schön – – Der Prinz / muß handeln“. 97 Und doch: Dass die Königin dies „lebhaft“ fühlt, wie sie dabei bekräftigt, 98 erhöht kaum die grundsätzliche Untauglichkeit des Prinzen für die Durchführung der ihm großzügig zugedachten Tat. Wenn man etwas Abstand von den ‚schönen Träumen‘ 99 des Marquis Posa nimmt und konkret seine „weltkluge Sorgfalt“ 100 sowie ihre realistische Aussicht auf Erfolg unter die Lupe nimmt, so wird klar, dass sich von Anfang an wenig Methode hinter seinen politischen Plänen verbirgt. Und genau so wenig Methode findet sich dann zum Schluss auch in Posas ‚Selbstinszenierung‘ „als Opfer, der dargebracht werden muss, um Karlos zu retten“. 101 Die grandiose Selbstaufopferung des Malteserritters ist wirkungsästhetisch motiviert und entspricht dabei einem Grundprinzip, das im Dom Karlos immer wieder zum Tragen kommt: „Immer soll Verwunderung, immer Staunen erregt werden“. 102 Allerdings reduziert sich die ästhetische Wirkung dieses ‚sittlich-erhabenen‘ Gestus erheblich, sobald man realisiert, dass Posas Tod zwar frei gewählt, jedoch im Drama jeder tragischen Notwendigkeit bar ist: Die Aufopferung des Marquis war an sich groß, edel, sie erweckt Bewunderung, und erinnert an den Orestes und Pylades. Aber dort war kein Ausweg weiter übrig, hier waren mehrere; mit einem Worte, in dem Benehmen des Marquis läuft so viel Tollkühnheit, so viel Willkühr, so viel Sonderbarkeit mit unter, daß diese Aufopferung, in Rücksicht der sie motivirenden und begleitenden Umstände, viel von der gehofften Bewunderung verliert. 103
Dennoch besteht kein Zweifel, dass Posa im Drama die Rolle eines durchaus positiven Charakters zukommt. Dass Schiller dann genau das, was er zunächst als die 94 95 96 97 98 99
NA 7/II, 549. NA 6, 209. Vgl. I. Akt, 5. Auftritt, NA 6, 49f. NA 6, 209. Ebd. „O meine Träume waren schön“ (NA 6, 268), erklärt Posa sehnsuchtsvoll im IV. Akt, da nunmehr klar geworden ist, dass sein „gewagtes Spiel“ für ihn „verloren“ ist, NA 6, 266. 100 NA 6, 287. 101 Luserke-Jaqui: Don Karlos – Briefe über Don Karlos, S. 105. 102 So in Kindervaters Besprechung, NA 7/II, 552. 103 Ebd., S. 550.
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‚schönen Träume‘ eines sittlich-erhabenen Malteserritters in seinem Drama dargestellt hat, schon bald nach der Veröffentlichung des Dom Karlos pejorativ im Zeichen eines „schwärmerische[n] Idealismus“ 104 auslegen wollte, ändert nichts an der Tatsache, dass Posa – trotz mancher Schwäche – als eigentlicher „Held[-] des Stückes“ 105 im Dom K arlos zu gelten hatte. 106 Es mag dahin gestellt bleiben, ob Schillers Figur vor dem Hintergrund ihres zweifelhaften machtpolitischen Durchsetzungsvermögens wirklich für einen „Robespierre [...] ante por tas“ 107 gehalten werden sollte. Mit Recht wurde jedenfalls behauptet, dass „der Marquis Posa der Briefe ein anderer ist als im Schauspiel“. 108 Es sollte kaum nötig sein, darauf hinzuweisen, dass die Briefe ü ber D on K arlos keine literaturwissenschaftliche Abhandlung darstellen. Darin verfolgt Schiller schließlich vor allem die zwei Ziele, die bereits von der älteren Forschung kenntlich gemacht wurden: Zum einen versucht er, jene „Einheit des Dramas“ zu „retten“, 109 welche die Rezensenten seines Karlos in Frage gestellt hatten. Zum anderen bemüht er sich darum, die verwirrende und verwirrte „Handlungsweise des Marquis Posa in den beiden Schlußakten verständlich zu machen“. 110 Beide Ziele glaubt der Dichter, insbesondere bei der Niederschrift des zweiten Teils seiner Briefe, am besten dadurch erreichen zu können, dass er den Marquis Posa in den eigentlichen Mittelpunkt seines Dramas rückt. Der Malteser sei es also, der zunächst einmal als Garant für die ‚Einheit‘ der dargestellten Handlung fungiere – alle Fäden liefen bei ihm zusammen. Darüber hinaus stelle Posa von Anfang an, so Schillers Argumentation weiterhin in den Briefen, nicht jene ausschließlich tadellose, ‚sittlich-erhabene‘ Figur dar, die mancher Rezensent 111 gerne an ihm gehabt hätte, sondern er vereinige vielmehr konsti104
Vgl. den Kommentar zu Schillers Briefen über D on K arlos in der Nationalausgabe, NA 22, 389. So nennt Schiller selbst seinen Marquis Posa im siebten seiner Briefe über Don Karlos, NA 22, 160. 106 Vgl. dazu auch Reinhardt: Don Karlos, S. 387–391. 107 Dieter Borchmeyer: Rhetorische und ästhetische Revolutionskritik. Edmund Burke und Schiller. In: Karl Richter u. Jörg Schönert (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozeß. Walter MüllerSeidel zum 65. Geburtstag. Stuttgart 1983, S. 56–80, hier S. 65. 108 Ebd. 109 Vgl. den Kommentar zu Schillers Briefen über D on K arlos in der Nationalausgabe, NA 22, 389. 110 Ebd. Dazu hält auch Karl S. Guthke Folgendes fest: „Schiller will hier [in den Briefen ü ber Don K arlos] darauf hinaus, daß das Drama Einheit besitze dadurch, daß Posas, des Weltbürgers, Mission das übergreifende Thema des Dramas sei; sein Urteil über Posas Charakter ergibt sich also aus dieser höchst problematischen angeblichen Intention der ‚Briefe‘, in denen er, wie er wußte, ‚eine schlimme Sache zu verfechten hatte‘ (NA 22, 389)“, Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 149. Um diese entscheidende Perspektive, in welcher der instrumentelle Wert der Briefe für Schiller selbst Berücksichtigung findet, sollte der lesenswerte Aufsatz von Luca Crescenzi ergänzt werden: Da Schiller a Nietzsche. Studi sui Briefe über Don Carlos. In: Paolo Chiarini u. Walter Hinderer (Hg.): Schiller und die Antike, S. 177–193. 111 Kindervater in primis: vgl. etwa NA7/II, 547–550. 105
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tutiv den „uneigennützigste[n], reinste[n] und edelste[n] Mensch[en]“ und den „selbstsüchtigste[n] Despot[en]“ 112 in sich. „Wahre Größe des Gemüts“ 113 lasse sich auch beim letztgenannten Menschentypus finden – ein bemerkenswerter Gedanke, der, wie wir wissen, auf die Ästhetik des Erhabenen verweist und auf den noch ausführlich zurückzukommen sein wird. Schillers Marquis Posa: ein sittlich-erhabener ‚Idealist‘, der „schlimme Mittel“ zu „gute[n]“ Zwecken einsetzt? 114 Oder ganz umgekehrt – ein kaltblütiger Despot, der den Menschen bloß zum Werkzeug seines Machtstrebens herabwürdigt? Egal auf welche Seite man sich hier vorzugsweise stellt, geht es dabei immer – und selbst bei Schiller, wenn man seine Briefe über Don Karlos in Betracht zieht – 115 um Fragen „der persönlichen wie auch politischen Moral“, ja um Fragen „nach einer moralischen Lehre oder politischen Philosophie“. 116 Was man unter diesem Blickwinkel in Schillers Don K arlos sucht, ist letztlich ein „Exempel so oder so“, 117 wobei das Werk vor allem als „eine Warnung oder ein Lehrstück“ interpretiert wird: 118 Darin findet man hauptsächlich „moralische Verurteilung oder um Verständnis werbende Aufklärung über die Bedingungen öffentlichen Handelns in den Verhältnissen des Absolutismus des 18. Jahrhunderts“. 119 Doch solange man Posa als wahrhaften oder bloß vorgetäuschten „Anwalt der Menschenrechte“ 120 betrachtet; solange man diesen Charakter vor allem als einen „strategisch denkende[n] Kopf“ 121 deutet, ja solange man sich um den „politischen Helden“ Posa streitet, 122 ist man nolens volens auch mit jenen frappierenden Widersprüchen in seiner ‚politischen Strategie‘ konfrontiert, auf die wir auf den vorigen Seiten ausgehend von Kindervaters früher Besprechung des Dom K arlos von 1787 hingewiesen haben. Trotz der Beliebtheit, der sich die ‚politisch‘ zentrierte Lektüre von Schillers Drama in der Forschung erfreut, ist diese selbstverständlich nicht die einzig mögli112
So Schiller im elften Brief über Don Karlos, NA 22, 170. Ebd. „Und kann / die gute Sache schlimme Mittel adeln?“ fragt die Königin bekanntlich den Marquis Posa, der sich anschickt, sie in seine ‚rebellischen Pläne‘ einzuweihen. Vgl. dazu auch Walter Müller-Seidel: Der Zweck und die Mittel. Zum Bild des handelnden Menschen in Schillers Don Carlos. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 188–221 sowie Foi: La buona causa e i mezzi ignobili, S. 11–47. 115 Wie zu Recht in der Forschung unterstrichen wurde, vgl. Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 140. 116 Ebd. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Müller-Seidel: Friedrich Schiller und die Politik, S. 110. 121 Alt: Schiller. Bd. I, S. 441. 122 „Marquis Posa ist der vielleicht umstrittenste politische Held der deutschen Bühnengeschichte“, Dieter Borchmeyer: „Marquis Posa ist große Mode“. Schillers Tragödie „Don Carlos“ und die Dialektik der Gesinnungsethik. In: Walter Müller-Seidel u. Wolfgang Riedel (Hg.): Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde, S. 127–144, hier S. 127. 113 114
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che. Und will man die Aktualität und Modernität dieses Dramas kenntlich machen, so ist man gut beraten, nach anderen Wegen zu suchen. Dabei lohnt es sich, zunächst einmal den „politischen Idealisten“ 123 Posa ein wenig in den Hintergrund zu drängen und eine Akzentverschiebung von der Sphäre der Politik hin zu derjenigen der Ästhetik zu wagen. Denn Schillers Interesse am Politischen ist hauptsächlich ästhetisch motiviert, und genau das erklärt schließlich auch manche Inkongruenzen in p oliticis, die der Don Karlos nicht von ungefähr mit der Verschwörung de s Fiesko gemeinsam hat. Es ist sehr zu begrüßen, dass es in der Schiller-Forschung der letzten drei Jahrzehnte mit Karl S. Guthke zumindest einen durchaus nennenswerten Versuch gab, 124 den Primat des Ästhetischen in der Analyse von Schillers Don K arlos zu behaupten. Auch hier hat man sich vor allem auf die Figur des Marquis Posa konzentriert, doch dabei auf ihre besondere „Tragik“ 125 – und nicht ohne gute Argumente hat man Schillers Malteserritter darin als eine ‚Künstler-Figur‘ gedeutet. In unserem Rahmen stellt dieser Beitrag ohne Zweifel einen fruchtbaren Ausgangspunkt dar, und zwar auch, wenn Guthke hier teilweise paradoxe Ergebnisse erzielt, weil er schließlich jene normativen Kategorien in der eigenen Analyse anwendet, deren Relativität er selbst so verdienstvoll am Beispiel des ‚Falls Posa‘ herausarbeitet. Doch nehme man zunächst einmal die brauchbaren Elemente aus Guthkes Deutung heraus. Sich auf den Künstler Posa zu konzentrieren, bedeutet gerade, grundsätzlich und möglichst konsequent jene „Verflechtung von Künstlertum und moralischer Fragwürdigkeit“ 126 zu analysieren, die zwar ein hintergründiges, doch keinesfalls nebensächliches Thema von Schillers Don Karlos darstellt. Die ‚moralische Fragwürdigkeit‘ entsteht aus der besonderen Qualität des hier in Frage stehenden ‚Künstlertums‘, hinter dem vor allem das geradezu rauschhafte Machtgefühl steckt, welches das ‚Künstler-Genie‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Augenblick seines schöpferischen Schaffens beflügelt. Es 123
Vgl. Walter Hinderer: Der schöne Traum der Freiheit – Zu Schillers politischen Vorstellungen. In: Alice Stašková (Hg.): Friedrich Schiller und Europa. Ästhetik, Politik, Geschichte. Heidelberg 2007, S. 37–58, hier S. 56. 124 Vgl. den bereits zitierten Aufsatz Karl S. Guthkes: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa. Zu Guthkes Beitrag bemerkte Helmut Koopmann bereits 1998 zu Recht Folgendes: „Der jüngste [Ansatz] stammt von Karl Guthke, der in Don Karlos das tragische ‚Charakterdrama um Posa‘ sieht, und daran ist überzeugend, daß er das Drama von den Gestalten her interpretiert, nicht von einer Ideologie oder einer Utopie her […] Guthkes Deutung führt aus dem nicht lösbaren Konflikt, ob das Drama nun ein politisches Schauspiel oder ein Familiengemälde sei, zunächst einmal heraus – und die Diskussion bedarf eines Neuansatzes, um zentrale Perspektiven zurückzugewinnen“, Helmut Koopmann: Politisches Drama oder nicht? Der Ärger mit Don Karlos und ein Versuch, einen neuen Zugang zu gewinnen. In: Christine Maillard (Hg.): Friedrich Schiller: Don Carlos. Théâtre, psychologie et politique. Straßburg 1998, S. 9–22, hier S. 14. 125 Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 140. 126 Ebd., S. 155.
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stimmt durchaus, wie bemerkt wurde, dass auch Posa „noch Stürmer und Dränger [ist], der die Selbstermächtigung übertreibt“. 127 Geradezu augenfällig und wohl vor diesem Hintergrund zu erklären ist die Künstlermetaphorik, der sich Schiller nicht zuletzt auf den zentralen Seiten seines Dom K arlos bedient, in denen sich König Philipp II. und Posa allein gegenüberstehen. Folgende rhetorische Frage stellt Schillers Malteser, indem er sich anschickt, jene nur dem ‚Zufall‘ zu verdankende, so unerwartete wie einmalige Möglichkeit zu „[n]ützen“, 128 von Angesicht zu Angesicht mit dem absoluten Monarchen zu sprechen: „Und was / ist Zufall anders, als der rohe Stein, / der Leben annimmt unter Bildners Hand?“. 129 Posas Worte an König Philipp in der gleich darauf anschließenden Audienzszene – Worte, die erklären sollten, warum der Marquis nicht „Fürstendiener sein kann“, und die an sich noch viel vermessener und respektloser gegenüber dem höchsten Vertreter der etablierten Macht sind als Posas berühmter Ausruf „Geben Sie / Gedankenfreiheit“ 130 – lassen dann wirklich keine Zweifel daran aufkommen, dass hier noch ein ‚Kraft-Genie‘ des Sturm und Drang auf offener Bühne das (große) Wort führt. Unverblümt von der „Schönheit meines Werks“ ist hier die Rede, und noch mehr: von „Selbstgefühl“, von der „Wollust des Erfinders“. 131 Was in der ganzen Passage im Mittelpunkt steht, ist wahrlich das „berauschend[e] Selbstgefühl des eigenmächtigen, ja selbstherrlichen Künstlers“. 132 Die Figur des Künstler-Genies ragt auch aus der weiteren Argumentation des Marquis Posa in der Audienzszene deutlich heraus – um sich dessen zu vergewissern, braucht man dabei bloß weiterhin auf die Künstlermetaphorik zu achten: Nicht meine Thaten – ihr Empfang am Throne soll meiner Thaten Endzweck sein. Mir aber, mir hat die Tugend eignen Werth. Das Glück, das der Monarch mit meinen Händen pflanzte, erschüf’ ich selbst, und Freude wäre mir und eigne Wahl, was mir nur Pflicht sein sollte. […] Können Sie in Ihrer Schöpfung fremde Schöpfer dulden? Ich aber soll zum Meißel mich erniedern, wo ich der Künstler könnte sein? – – 133
Erschaffen, Schöpfung, Schöpfer, Meißel, Künstler: Die in der Forschung gewöhnliche Betonung des Politisch-Moralischen in Posas Worten ist an dieser Stelle einmal mehr irreführend. Mit gutem Grund kann man mit Guthke behaupten, dass es nicht „genügt“, „diese Zeilen lediglich im Zusammenhang der zeitgenössischen 127 128 129 130 131 132 133
Reinhardt: Don Karlos, S. 391. NA 6, 176. NA 6, 177. NA 6, 191. NA 6, 181. Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 146. NA 6, 181.
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Staats- und Moralphilosophie zu lesen“. 134 Erst eine Lektüre, die vor dem Hintergrund der Genie-Epoche die heikle Beziehung zwischen Ästhetik und Moral ins Auge fasst, vermag Aspekte zu klären, die sonst in Schillers Don Karlos bloß als widerspruchsvoll erscheinen müssten. In der zitierten Passage hat Posas ‚Tugendbegriff‘ wenig mit Montesquieu und den „Tugenden des ‚hommes de bien‘“ zu tun, wie vor allem in der Forschungsliteratur durchgehend zu lesen ist, in der ein älterer Vermerk der Nationalausgabe übernommen wurde. 135 Die Tugend, von der Posa spricht, hat hier eher mit ‚Kraft‘ als mit der traditionellen ‚Moral‘ zu tun: „Ausschlaggebend ist“ dabei – wie Guthke zu Recht anmerkt – „vielmehr das ‚Selbstgefühl‘ des souverän schöpferischen Menschen, eben des Künstlers, der seine eigenen Visionen in die Wirklichkeit überträgt“. 136 Die „Tugend“, die für Posa einen „eignen Wert“ besitzt, 137 ist daher mit jenem zu verwirklichenden ‚Plan‘ aufs Engste in Zusammenhang zu bringen, den sich das ‚Künstler-Genie‘ zu realisieren vorgenommen hat. Doch nicht das einmal fertiggestellte Ergebnis, sondern der schöpferische Akt des Künstlers selbst steht hier im Mittelpunkt: ‚Gut‘ ist damit das, was den anvisierten Plan fördert; ‚schlecht‘, was sich dem Plan querstellt – mehr nicht. ‚Tugendhaft‘ ist damit prinzipiell die Aktivität, die Kraftausübung, die ‚Tat‘, und zwar gerade in dem punktuellen Augenblick, in dem der ‚Künstler‘ sein schöpferisches Tun vollbringt. ‚Tugendhaft‘ ist schließlich bei dieser ‚heroischen Moral‘ die unbegrenzte Entfaltung eines ‚Willens zur Macht‘. Nur zu bezeichnend, dass die Rede des Maltesers im Angesicht des Monarchen in einer von ihm imaginierten, regelrechten ‚Apotheose der Macht‘ 138 gipfelt: dann, Sire, wenn Sie zum glücklichsten der Welt Ihr eignes Königreich gemacht – dann reift Ihr großer Plan – dann müssen Sie – dann ist es Ihre Pflicht, die Welt zu unterwerfen. 139
Am Ende seiner Rede erhebt Posa somit nichts Geringeres als die ‚Unterwerfung der Welt‘ zur erhabenen ‚Pflicht‘ für den Monarchen. Man könnte fragen, wie man sich diese ‚Weltunterwerfung‘ konkret vorstellen sollte. Doch auf die implizite Steigerung von dem einen ‚Plan‘ zu einem neuen und dabei noch größeren soll hier vor allem ankommen: Denn Philipps Ziel ist es für Posa nicht, sein Königreich etwa zum glücklichsten der Welt zu machen – wobei dann auch hier dahingestellt bleiben sollte, wie dieses ‚Glück‘ genau zu quantifizieren wäre. Philipps Ziel, ja seine ‚Pflicht‘ ist es für den Malteser, die „Welt“ geradezu zu „unterwerfen“. Das, 134 135 136 137 138
Ebd. Vgl. NA 7/II, 428 sowie etwa Alt: Schiller. Bd. I, S. 445f. Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 146. NA 6, 181. Hans-Jürgen Schings hat hierbei von einem „geheimen Herrschaftswillen“ gesprochen, „der mit Posa förmlich durchgeht“, Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996, S. 121. 139 NA 6, 193.
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was am Ende von Posas Rede nicht von ungefähr bleibt, ist somit ein bloß utopischer Machtplan, ein unaufhaltsames Streben nach Macht. Und dies letztlich, wie es scheint, nur um des Strebens willens. Posas Worte gewähren somit Aufschluss über seine eigentliche heroische Moral – und nichts scheint den Malteser dabei so sehr zu beängstigen als die Entspannung, welche die konkrete Realisierung eines (Macht-)Plans unweigerlich nach sich zieht. Denn nur indem dieser neue Prometheus aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts seine Menschen ‚formt‘, ‚fühlt‘ er sich; nur im schöpferischen Akt vermag er die Quintessenz des Lebens zu erfassen; nur als formgebender Schöpfer fühlt er sich über die Welt ‚erhaben‘. Und nur das ist schließlich das ‚Erhabene‘, das ihm eigentlich am ‚Herzen‘ liegt. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch ein bezeichnender, doch nur scheinbarer Widerspruch klären, auf den in der Forschung wiederholt hingewiesen wurde. 140 Der Malteserritter Posa, der in der Audienz mit dem König gleich zweimal feierlich erklärt, nicht „Fürstendiener“ sein zu können, 141 lässt sich am Ende derselben Szene vom König „dennoch als königlicher Kammerherr, ja: als Spion in Dienst stellen“. 142 Mit seiner so gewagten wie effektvollen Ankündigung, ja, mit seiner „erste[n] große[n] These“, 143 nicht „Fürstendiener“ sein zu können, profiliert sich der Marquis Posa gegenüber König Philipp als „‚Freier‘, als ‚Philosoph‘, der über sich, über sein prinzipielles Verhältnis zur Monarchie ‚gedacht‘ hat“. 144 Sein lapidarer Satz dient ihm zunächst einmal zu dieser Profilierung – und dabei zeigen seine Worte durchaus die erwartete Wirkung. Wie die Regieanweisung vermerkt, tritt der König, nachdem Posa seinen effektvollen Satz gesprochen hat, „mit Verwunderung“ zurück. 145 Darüber hinaus kann Posas „These“ aber auch in einem prinzipiellen Sinn interpretiert werden, und zwar wie folgt: Der geniale Marquis kann deswegen nicht „Fürstendiener“ sein, weil er sich in seinem Wirkungskreis nur selbst als ‚Fürst‘, ja als ‚absoluter Herrscher‘ aufzufassen vermag. Seine rhetorische Frage an den König, ob er „fremde Schöpfer“ in seiner „Schöpfung“ dulden könne, 146 ist genau in diesem Sinne zu verstehen. ‚Fürstendiener sein‘ würde bedeuten, bloß zum Instrument, ja zum „Meißel“, in den Händen eines fremden ‚Schöpfers‘ zu werden. Doch genau das kann Posa, der tätig-schöpferische Mensch par excellence in Schillers Don K arlos, nicht akzeptieren. Zum ‚königlichen Kammerherrn‘ oder zum ‚Spion‘ kann Posa am Ende der Szene dagegen wohl werden, weil er sich dabei gar nicht als ‚Fürstendiener‘ auffasst, sondern glaubt, in dieser Rolle ausschließlich der eigenen ‚Schöpfung‘ noch besser dienen zu können. 140
Vgl. etwa Foi: La buona causa e i mezzi ignobili, S. 33 sowie Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 152. 141 NA 6, 180 u. 182. 142 Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 152. 143 Schings: Die Brüder des Marquis Posa, S. 112f. 144 Ebd., S. 113. 145 NA 6, 182. 146 NA 6, 181.
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Am Ende der Audienz bleibt Posa damit vor allem ein ‚aktiver Künstler‘, er versteht sich keinesfalls – und er soll auch keinesfalls so verstanden werden – als passiver ‚Fürstendiener‘. Dies führt allerdings zum Paradox, dass der Malteser, der sich in der Audienzszene vom König ‚anstellen‘ lässt, den Monarchen selbst zum eigentlichen ‚Fürstendiener‘ degradiert, das heißt zum bloßen ‚Meißel‘ bei der Ausführung seines schöpferischen Plans instrumentalisiert. Denn der Künstler Posa, der keine „fremde[n] Schöpfer“ in seiner „Schöpfung“ duldet, kann ja keinesfalls „Fürstendiener sein“. Dafür aber gewiss der alte König Philipp II.: Schillers Leser erlebt den zu seiner Zeit mächtigsten Monarchen der Welt sowohl als zeitweiligen Diener des „große[n] Künstler[s]“ 147 Posa als auch als festen Messdiener des katholischen Großinquisitors. Es ist sehr zu bedauern, und dabei doch sehr bezeichnend, dass Guthke die Implikationen seiner wichtigen Intuition zum Verhältnis zwischen Ästhetik und Moral in Schillers Don K arlos in seinem Aufsatz nicht konsequent herausgearbeitet hat und dass er sich hingegen, ausgehend von der Analyse der Figur des Marquis Posa und zurückgreifend auf Schillers spätere ästhetische Abhandlungen, um eine idealistische Quadratur des Kreises in aestheticis bemüht hat, in der die vermeintlich ‚erlösende‘, ideale „Vereinigung von Pflicht und Neigung“ in der Kunst zum entscheidenden Wertmaßstab erhoben wird. 148 So trifft Guthke auf der einen Seite den Nagel auf den Kopf, wenn er in Bezug auf den ‚Fall Posa‘ schreibt, dass niemand als der „Künstler“ darüber „entscheidet“, „was redlich, was Moral ist“. 149 Weil Guthke dennoch von einem normativen Wertehorizont ausgeht, kann er dann überhaupt in seinem Beitrag die prinzipielle Frage stellen, „ob [Posas] Künstlertum […] nicht die Grenzen des Humanen, Menschenwürdigen überschreite“ 150 – wohl im Glauben daran, dass transzendentale Landkarten zur Verfügung stünden, denen man entnehmen könnte, wo jene ewigen Grenzen verlaufen. 151 147 148
NA 6, 301. Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 146. Das führt zum paradoxen Ergebnis, dass Guthke, nachdem er die grundlegende „Verflechtung von Künstlertum und moralischer Fragwürdigkeit“ (S. 155) beim ‚Künstler‘ Posa richtig erkannt hat, dennoch weiterhin prinzipiell mit normativen Kategorien wie „falscher“ und „wahrer“ Künstler argumentiert (vgl. ebd., S. 149f.). Nur weil Guthke annimmt, dass der „wahre Künstler“ ‚menschlich‘ sein muss, kann er dann behaupten, dass Posa „menschlich“ „versagt“ (S. 154) – wie auch immer dieses Menschlich-Versagen zu bestimmen sei. Doch wenn Posa ein „gescheiterter Künstler“ (S. 160) ist, so fragt es sich prinzipiell, wie ein nicht gescheiterter Künstler aussehen soll – eine Frage, die eigentlich beim Schiller des Don K arlos, und vielleicht auch darüber hinaus, nicht so eindeutig zu beantworten ist, wie es zunächst den Anschein hat. 149 Ebd., S. 157. 150 Ebd., S. 153. 151 Ähnliches ließe sich über normative Betrachtungen über den „Menschen“ bei Schiller sagen, denen selbst in den aufschlussreichsten Werken der Schiller-Forschung immer wieder zu begegnen sind: „Posa ist nicht eine Person dieser Art [das heißt ein „Intrigan[t], wie Herzog Alba und die Prinzessin Eboli“], sondern eine tragische Person, weil es ihm trotz allem um die Rechtfertigung des Menschen geht, um die Idee des Menschen […] Es geht ihm also gleichermaßen darum, die Idee des Menschen wie die Praxis der Rebellion zu rechtfertigen“,
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Auf eine weitere Lücke von Guthkes Interpretation sei hier hingewiesen. Wie bei allen Deutungen, die – angefangen mit Schillers Briefen übe r D on K arlos – die Figur des Marquis Posa in den eigentlichen Mittelpunkt des Dramas drängen, muss sich der junge Don Karlos, der nolens volens den Titelhelden von Schillers Stück darstellt, auch bei Guthke mit einer äußerst stiefmütterlichen Behandlung begnügen. Doch während der extrem passive Prinz im Rahmen einer politisch betonten Deutung von Anfang an dazu verdammt ist, eine Randposition einzunehmen, vermag es eine ästhetisch zentrierte Interpretation durchaus, die Rolle von Schillers Titelhelden gebührend herauszustreichen. Denn wenn Schillers Malteserritter einmal als genialer Künstler aufgefasst wird, so muss auch die Figur von Posas Jugendfreund und Infanten Karlos in einem bestimmten Verhältnis zu eben diesem Künstlertypus stehen. Es mag oberflächlich stimmen, dass Karlos „weinerlich aus Selbstmitleid [ist] und [...] damit eine Schwundform aufrechter Empfindsamkeit [repräsentiert], wie sie für den Tränen- und Freundschaftskult des 18. Jahrhunderts kennzeichnend ist“. 152 Einige Stellen in Schillers Drama lassen sich dennoch erst fruchtbar interpretieren, wenn man sich über die weite Entfernung klar wird, die diesen Charakter vor allem vom empfindsamen ‚Liebeskult‘ und dessen sozialer Tragweite trennt. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Schillers Karlos nicht nur den eigenen Liebesgefühlen von Anfang an hoffnungslos ausgeliefert ist, sondern auch, dass der passive Prinz in jedem Augenblick als ein anderer Mensch erscheint, sodass seine feierlich und pathetisch ausgerufenen Pläne und Vorhaben oft höchstens die Länge einer einzigen Szene überdauern. Der Infant weist zwar noch einen empfindsamen Habitus auf, seine ‚Liebe‘ zur jungen Stiefmutter hat allerdings noch sehr wenig mit der Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts gemeinsam. Denn diese ‚Liebe‘ lässt sich eben nicht so sehr als ‚Kultur‘, sondern vielmehr als ‚Natur‘ deuten, nämlich als natürliche Anziehungskraft, ja als sinnlicher Eros, der hier nicht primär die Einheit von Mann und Frau als sozialrelevante Lebensgemeinschaft sichern soll, sondern vor allem nach individualistischer Glückserfüllung drängt. Zu instabil, zu selbstzentriert: zu ‚modern‘, 153 so könnte man gar sagen, sind die Liebesgefühle des Infanten, wie der Marquis Posa am Ende des zweiten Aktes, vorwurfsvoll gegenüber Karlos, feststellen muss: MARQUIS.
O wie schlecht habʼ ich bis jetzt auf deine Liebe mich verstanden.
Walter Müller-Seidel: Verschwörungen und Rebellionen in Schillers Dramen. In: Achim Aurnhammer, Klaus Manger u. Friedrich Strack (Hg.): Schiller und die höfische Welt. Tübingen 1990, S. 422–446, hier S. 435. 152 Luserke-Jaqui: Don Karlos – Briefe über Don Karlos, S. 98. 153 Folgende Äußerung Goethes notiert Riemer unter dem Datum des 24. März 1807 in seinem Tagebuch: „Die Liebe, wie sie modern erscheint, ist ein Gesteigertes“, Johann Wolfgang Goethe: Goethes Gespräche. Erster Theil. In: Ders.: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Hg. v. Ernst Beutler. Zürich 1948. Bd. 22, S. 444.
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[…]
Ja einst, einst warʼs ganz anders. Da warst du so reich, so warm, so reich! ein ganzer Weltkreis hatte in deinem weiten Busen Raum. Das alles ist nun dahin, von einer Leidenschaft, von einem kleinen Eigennutz verschlungen. Dein Herz ist ausgestorben. Keine Thräne, dem ungeheuern Schicksal der Provinzen nicht einmal eine Thräne mehr – O Karl, wie arm bist du, wie bettelarm geworden, seitdem du niemand liebst als Dich! 154
Vor dem Hintergrund der Gefühlskultur, die auch Posa im Übrigen für sich schon längst verabschiedet hat, beklagt der Marquis zu Recht den Umstand, dass Karlos’ „Herz“ tot ist, denn es vermag offensichtlich nicht mehr für das Gegenüber, für die Mitmenschen, für die Gemeinschaft der ‚schönen Seelen‘ zu schlagen. „Thränen“ hat Karlos ja für gar niemand mehr, er „brauche“ sie für sich selbst, wie er explizit bereits im ersten Akt behauptet. 155 Nur zu konsequent ist es daher, dass Posa dann seinem Jugendfreund vorwirft, nicht gar die Königin, sondern nur si ch se lbst zu lieben. Denn in Schillers Drama stellt Karlos einen selbstverliebten Narziss dar, der nur im höchsten ‚Augenblick‘ des Gefühls zu leben vermag und schließlich selbst in den Gezeiten seiner stürmischen Gefühle vergeht. Seine ‚Liebe‘, die Posa noch in den Dienst seines (Macht-)Ideals stellen möchte, kennt nichts außer dem fühlenden Subjekt und gilt in Wirklichkeit keiner Gesellschaft und keinem Menschen außer ihm selbst. Wenn Schillers ursprüngliches Interesse am Don-KarlosSujet vor der Folie von Saint-Réals nouvelle historique dem unglücklich verliebten Protagonisten galt, wie der Dichter in seinen Briefen nachträglich versichert, 156 so ist zu vermuten, dass diese „Gunst“ dabei doch weniger einem empfindsamen Charakter, 157 sondern vielmehr einem modernen homo eroticus galt. 158 Und wenn Marquis Posa im Laufe der Zeit Karlos „Platz“ bei Schiller einnahm, so mag eine politische Deutung des Stücks zwar eine vor allem politisch motivierte Verdrängung der unpolitischen Figur des Karlos vermuten 159 und dabei nicht ohne Gründe 154 155 156
NA 6, 145f. NA 6, 16. Die Textstelle wurde in unserem Rahmen bereits zitiert: „Was mich zu Anfang vorzüglich in demselben gefesselt hatte, tat diese Wirkung in der Folge schon schwächer und am Ende nur kaum noch. Neue Ideen, die indes bei mir aufkamen, verdrängten die frühern; Karlos selbst war in meiner Gunst gefallen, vielleicht aus keinem andern Grunde, als weil ich ihm in Jahren zu weit vorausgesprungen war, und aus der entgegengesetzten Ursache hatte Marquis Posa seinen Platz eingenommen“, NA 22, 138. 157 Wie Schiller doch noch in einem Brief vom 24. August 1784 an Dahlberg versichert, NA 23, 155. 158 Giuliano Baioni: Erotismo e malinconia. Considerazioni sul Werther. In: Paolo Amalfitano, Francesco Fiorentino u. Giuseppe Merlino (Hg.): Il romanzo sentimentale. Pordenone 1990, S. 125–136, hier S. 134. 159 Vgl. Schings: Die Brüder des Marquis Posa, S. 101f.
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behaupten, dass Schillers „Begegnungen mit den Illuminaten in Mannheim, Speyer und Heidelberg […] die plausibelste Erklärung für den neuen Ansatz [liefern]“. 160 Dafür mag eine ästhetische Deutung hingegen darauf hinweisen, dass sich Karlos und Posa in Schillers Werk komplementär zueinander verhalten und dass die Verschiebung von Schillers ‚Gunst‘ keine ‚Verdrängung‘ des unpolitischen Infanten zugunsten des politischen Idealisten, sondern vielmehr eine Umpolung von Schillers Interesse von dem passiven Liebenden hin zum aktiven, prometheischen Schöpfer darstellt. Wie bereits erwähnt, verkörpert Posa vor dem literaturgeschichtlichen Hintergrund des Sturm und Drang das aktivistische, selbstbewusste und zweckmäßig denkende Moment eines genialen, auf psychophysischer Koordination gegründeten Künstlertums. Schillers Marquis stellt mit anderen Worten das künstlerische Gestaltungsvermögen jenes ‚Originalgenies‘ dar, das sich selbst als sprudelnde Naturkraft auffasst – und genau als ‚Naturkraft‘ doch schließlich den ewigen Gesetzen dieser ‚Natur‘ unterworfen ist. Die Kehrseite jenes Gestaltungsvermögens und gleichzeitig dessen Voraussetzung stellt allerdings eine leidenschaftliche Empfindungsstärke dar, die ihren Mittelpunkt im „heilig glühend Herz[en]“ 161 des künstlerischen Genies hat. Empfindungsstärke und Gestaltungsvermögen gehören hier zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille, wobei die Seite des Herzens in Schillers Schauspiel offensichtlich Karlos Profil zeigt, die Kopfseite dagegen dasjenige des Marquis Posa. Vor dem Hintergrund der Genieästhetik kann Posas ‚Aktivismus‘, sein schöpferisches, moral-indifferentes Machtstreben, ja die von ihm verkörperte, schrankenlose und ‚erhabene‘ Übermacht als die komplementäre Kehrseite von Karlos’ ausgeprägter Leidenschaftlichkeit und grundsätzlicher Ohnmacht interpretiert werden. Karlos’ – wenn man so will – ‚weibliche‘ Empfindungsstärke korreliert somit in Schillers Drama mit dem ‚virilen‘ Gestaltungsvermögen des Marquis Posa, und so gesehen können Karlos und Posa pointiert als Verkörperung der Polarität von passivem „Eros“ und aktivem „Willen zur Macht“ gedeutet werden – jener zwei Momente, welche die „Grundstruktur des modernen Nihilismus“ 162 ausmachen. Vollkommen nutzlos sind Elisabeths und Posas im Laufe des Dramas wiederholte Aufmunterungen, Karlos möge sich „ermannen“, 163 ja ein „Mann“ sein. 164 Karlos, das passive erotische Prinzip, kann in Schillers Drama weder Pläne entwerfen noch handeln. Dafür vermag Karlos’ polarer Gegenpart, der Marquis Posa, kompromisslos nach einer männlich-heroischen Moral zu handeln – nur zu konsequent, dass sich der verliebte Infant nicht nur in einzelnen Szenen, sondern im ganzen Drama lediglich als „Wachs in Posas Hand“ zeigt. 165 „Wahre Größe des 160 161 162 163 164 165
Ebd. Goethe: Prometheus, MA I.I, S. 230. Baioni: Il giovane Goethe, S. 165f. NA 6, 48. NA 6, 293. Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 158.
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Gemüts“ 166 ist daher in Schillers Dom Karlos keinesfalls in der traditionell aufgefassten, sittlich-erhabenen „Männergröße“ 167 zu finden, welche Königin Elisabeth dem Infanten im letzten Auftritt des Dramas großzügig attestiert. Karlos mag nur im traditionellen Sinn des Sittlich-Erhabenen – und lediglich einen kurzen Augenblick lang, höchstens bis zu seiner unspektakulären Gefangennahme 168 – am Schluss „erhaben“ erscheinen. „Wahre Größe des Gemüts“, ja ‚wahres‘ Erhabene lässt sich dagegen beim Künstler Marquis Posa in Schillers Drama erkennen – vorausgesetzt, man ist bereit, das ‚Erhabene‘ von der traditionellen Moral zu trennen und dabei mit dem Schiller der Briefe über Don Karlos anzuerkennen, dass: Wahre Größe des Gemüts […] oft nicht weniger zu Verletzungen fremder Freiheit [führt], als der Egoismus und die Herrschsucht, weil sie um der Handlung, nicht um des einzelnen Subjekts willen handelt. Eben weil sie in steter Hinsicht auf das Ganze wirkt, verschwindet nur allzuleicht das kleinere Interesse des Individuums in diesem weiten Prospekte. 169
Schillers bemerkenswerte Betrachtung ist nicht nur auf seine Figur des Marquis Posa, sondern auch allgemein auf den modernen Künstler zugeschnitten. Vor dem Hintergrund eben dieser Überlegung lese man den erbitterten Vorwurf der Königin an die Adresse des Marquis Posa, der am Ende des vierten Aktes zugestehen muss, sein „gewagtes Spiel“ nunmehr „verloren“ zu haben: 170 KÖNIGINN.
Nein! Nein! Sie stürzten Sich in diese That, die Sie erhaben nennen. Läugnen Sie nur nicht. Ich kenne Sie, Sie haben längst darnach gedürstet – Mögen tausend Herzen brechen, was kümmert Sie’s, wenn sich Ihr Stolz nur weidet. O, jetzt – jetzt lern’ ich Sie verstehn: Sie haben nur um Bewunderung gebuhlt. 171
In seiner späteren Schrift Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (1792) wird Schiller ausführen, dass „das Gefühl des Erhabenen […] einerseits aus dem Gefühl unsrer Ohnmacht und Begrenzung [besteht], einen Gegenstand zu umfassen, anderseits aber aus dem Gefühl unsrer Uebermacht, welche vor keinen Grenzen erschrickt, und dasjenige sich geistig unterwirft, dem unsre sinnlichen Kräfte unterliegen“. 172 Giuliano Baioni hat deutlich darauf hingewiesen, dass es in Bezug auf die theatralische Wirkung vollkommen gleichgültig ist, ob das moralische Gesetz am Ende triumphiert: Nur auf das Überschlagen eines anfängli166 167 168 169 170 171 172
Schiller: Briefe über Don Karlos, NA 22, 170. NA 6, 338. Vgl. NA 6, 338f. NA 22, 170. NA 6, 266. NA 6, 273. NA 20, 137.
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chen Ohnmachtsgefühls in ein Gefühl der Übermacht komme es zunächst an. 173 Genau dies lässt sich an den Figuren des Infanten und des Marquis Posa in Schillers Drama beobachten und genau in diesem Sinne kann man schließlich von ‚Erhabenem‘ mit Bezug auf Schillers Malteserritter sprechen. Dies betrifft die wirkungsästhetische Seite des Erhabenen. In unserem Rahmen stellt der springende Punkt aber die grundsätzliche ‚Tragik‘ dar, die mit dem Marquis Posa als ‚Künstler-Figur‘ verbunden ist. Interessanter als Posas abschließendes moralisches Exempel – das heißt seine umständliche, im Zeichen Christi stehende, sittlicherhabene ‚Aufopferung‘ für Karlos –, ist die Frage nach den Gründen für das Scheitern seines großen ‚Plans‘, in „Karlos Seele / […] ein Paradies für Millionen“ zu schaffen. 174 An was scheitert eigentlich das ‚Kraft-Genie‘ Posa? Kein Zweifel: Die eigentliche Tragik der Figur wohnt gerade jenem Gefühl der ‚Übermacht‘ inne, das er in Schillers Drama von Anfang an verkörpert. Und niemand als der Marquis selbst vermag dies am Ende des Dramas genauer zu erkennen: MARQUIS.
Denn wer, wer hieß auf einen zweifelhaften Wurf mich alles setzen? Alles? So verwegen, so zuversichtlich mit dem Himmel spielen? Wer ist der Mensch, der sich vermessen will, des Zufalls schweres Steuer zu regieren, und doch nicht der Allwissende zu sein? 175
Auch wenn in der oben zitierten Passage die Rede von „Himmel“ und vom „Allwissende[n]“ ist – kurz danach wird Posa noch die „ew’g[e] Weisheit“ 176 und die „Vorsicht“ 177 anrufen –, sollte man sich hier nicht täuschen lassen. In Schillers Don Karlos stellt Posa konsequent einen Prometheus dar, der ‚Zeus‘ endgültig in seinen Himmel verbannt hat, um sich im eigenen Wirkungskreis mit höchstem Nachdruck als autonomer ‚Schöpfer‘ zu behaupten. Hinter den Begriffen „Himmel“, „Allwissende“, „Vorsicht“, die Schillers Malteserritter einfach der kulturellen Tradition entnimmt, steckt hier daher weder ein in der Stunde der Not wieder entdeckter, persönlicher „Gott“ noch ein reumütig anerkanntes, höheres Ordnungsprinzip, sondern hauptsächlich das klagende Bewusstsein eines gescheiterten Kraft-Genies für die eigene grundsätzliche und konstitutive Begrenztheit und Unzulänglichkeit. Diejenige Gestalt, die selbstsicher im dritten Akt des Don Karlos den Zufall als den „rohe[n] Stein“ definiert hatte, „der Leben annimmt unter Bildners Hand“, 178 173 174 175 176 177 178
Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 24. NA 6, 268. NA 6, 266. NA 6, 268. NA 6, 269. NA 6, 177.
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muss nun feststellen, dass es reine Vermessenheit des schöpferischen Menschen darstellt, den Zufall regieren zu wollen. Über die Übermacht seines ‚erhabenen‘ Gefühls als ‚Schöpfer‘ hatte Posa offensichtlich den Umstand aus den Augen verloren, dass der Wirkungskreis des Menschen auch dort endlich bleibt, wo er glaubt, sich auch das „geistig“ unterwerfen zu können, dem seine „sinnlichen Kräfte unterliegen“. 179 Bei seiner Niederlage, die seine Unzulänglichkeit, ja seine Unfähigkeit markiert, sein ‚Spiel‘ zu regieren, wird das Künstler-Genie plötzlich mit der sinnlichen Natur des Menschen und deren unerbittlichen Gesetzen konfrontiert. „Dieses Genie erweist sich letztlich als doch nicht gottähnlich“ 180 – man sollte sagen: Es erweist sich letztlich doch nicht als jener ‚Gott‘, den es in der Hybris seines schöpferischen Aktes darzustellen wähnte. „Komm, laß uns niedersitzen – / ich fühle mich erschöpft und matt“, 181 sagt der Marquis Posa zu Karlos im fünften Akt – kurz vor dem tödlichen „Schuß“, der ihm „gilt“. 182 Posas einstige ‚Übermacht‘, die seine ‚männlich-heroische Moral‘ beseelte, schlägt hier wieder in Ohnmacht zurück. Und sterile ‚Ohnmacht‘ ist nicht ohne Ursache das, was jenseits der traditionellen Moral am Ende von Posas künstlerischer Laufbahn in Schillers Don Karlos übrig bleibt.
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NA 20, 137. Guthke: Don Karlos. Der Künstler Marquis Posa, S. 160. NA 6, 293. NA 6, 298.
2. Alfieris Filippo: Der Tyrann als Regisseur und die Endlichkeit des menschlichen Dramas „Una sorta di fiaba dellʼorco“ 1 – Benedetto Croce mag gute Gründe gehabt haben, als er Vittorio Alfieris erste Tragödie Filippo 2 in einem Aufsatz aus dem Jahr 1948 „eine Art Oger-Märchen“ nannte, ein ‚Märchen‘, in dem die erschreckende Hauptrolle selbstverständlich vom Titelhelden und Tyrannen gespielt wird. Man könnte mit Recht versucht sein, Croces Bezeichnung „orco“ auch mit „Ungeheuer“ oder gar mit „Monstrum“ ins Deutsche zu übertragen, um dadurch nicht zuletzt eine gewisse Parallele zwischen Alfieris rätselhafter Figur mit Schillers Franz Moor noch deutlicher zu unterstreichen – jenem „Monstrum“, das fast zeitgleich mit Alfieris Filippo aus der Feder des jungen deutschen Dichters fließt. Man erinnert sich daran, dass der Selbstrezensent der Räuber die von ihm ins Leben gerufene Figur des jüngeren Bruders Moor lapidar ein „Monstrum der sich selbst befleckenden Natur“ 3 genannt hatte. In seiner Antwort auf einen am 20. August 1783 verfassten Brief des Dichters und Librettisten Ranieri de’ Calzabigi (1714–1795) verwendet auch der Autor des Filippo dieselbe Definition für seinen spanischen ‚Tyrannen‘: Sein Filippo sei ein „enimmatico mostro“, 4 ein „rätselhaftes Monstrum“ – und dabei doch ein „Mensch“, der nicht über die „Natur“ hinausgehe, auch wenn er über alle Maßen „ruchlos“ sei. Man hat es in den Räubern und im Filippo mit zwei ‚Monstren‘ und ihrem Bezug zur ‚Natur‘ zu tun und es ist auffällig, dass Schiller und Alfieri ähnlich argumentieren, wobei ihre Äußerungen im jeweiligen Kontext sehr unterschiedliche Absichten verfolgen. Während der (fiktiv) moralisierende Selbstrezensent der Räuber mit erhobenem Zeigefinger die frevelhafte Figur des Franz Moor an den Pranger stellt und dadurch nicht zuletzt das Interesse seiner Leser an seinem Werk gezielt anstachelt, bezieht Alfieri in seinem Gespräch mit dem italienischen Literaturfachmann für die ästhetische Glaubhaftigkeit seines ‚ruchlosen‘ Tyrannen Stellung. Die Figur des Franz Moor ist bei der Analyse von Alfieris Filippo im Hinterkopf zu behalten – und dies, auch wenn das Thema der Tragödie selbstverständlich eher den Vergleich mit Schillers Don Karlos nahe legt.
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Benedetto Croce: Note sulla letteratura italiana del settecento XXIII. Saluto a Vittorio Alfieri. In: Quaderni della „Critica“ diretti da B. Croce 12 (1948). S. 1–16, hier S. 9. Alfieris Filippo (Vittorio Alfieri: Filippo. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 6: Tragedie. Edizione critica. Bd. I. Hg. v. Carmine Jannaco. Asti 1952) wird nach den folgenden Übersetzungen in deutscher Sprache zitiert: Vittorio Alfieri: Philipp der Zweite. Tragödie von Alfieri. Frei bearbeitet. In: Alfieri’s sämmtliche Schauspiele; frei bearbeitet. Gotha 1825. Erstes Bändchen, sowie: Vittorio Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien. Trauerspiel. Übersetzt von Wilhelm v. Lüdemann. In: Vittorio Alfieri’s Trauerspiele. Aus dem Italienischen von Wilhelm v. Lüdemann, und Andern. Zwickau 1824. Erstes Bändchen. Schiller: Die Räuber, NA 22, 121. Vittorio Alfieri: Risposta dell’Alfieri al Calzabigi. In: Ders.: Parere sulle tragedie, S. 216–238, hier S. 220 (Übers. P.P.).
https://doi.org/10.1515/9783110624090-019
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Es hat seine Richtigkeit, wenn Alfieris Tragödie 5 im Gegensatz zu Schillers „Dramatische[m] Gedicht“ Don Karlos den Titel Filippo trägt. Denn der ‚Tyrann‘, die Personifikation des ‚Bösen‘, stellt tatsächlich den Dreh- und Angelpunkt von Alfieris Werk dar. Doch lohnt es sich auch in diesem Fall, dem grundlegenden ästhetischen Schema des Erhabenen in Alfieris Tragödie zu folgen, um dabei gerade die Grenzen der traditionellen moralischen Lektüre im Gegenlicht hervorzuheben. Die sittlich-erhabene Deutung teilt den Kosmos der Tragödie manichäisch in zwei Lager auf und gibt sich damit zufrieden, dass das Prinzip des Guten am Ende jedenfalls über das Böse triumphiert – wobei die Helden des Guten, die programmatisch moralisch überlegen sind, ihren sittlich-erhabenen Sieg mit dem Leben bezahlen müssen. 6 Von vornherein zugegeben, dass sich auch Alfieris Filippo grundsätzlich nach diesem vereinfachenden Schema interpretieren lässt und gewöhnlich auch interpretiert wurde: Durch was zeichnet sich die moralische Größe von Alfieris ‚sittlichen‘ Helden – Carlo, Isabella, Perez – aus? Kann sich der Leser oder Zuschauer von Alfieris Filippo wirklich mit der ihm am Ende dargebotenen moralischen Genugtuung zufrieden geben? Wenn Alfieri diese beim Verfassen seiner Tragödie im Blick hatte: Warum zeichnete er letztendlich das sittliche Profil seines moralisch guten Helden Carlo nicht deutlicher aus, anstatt ihn seinem Tyrannen so gut wie wehrlos auszuliefern? Und außerdem: Wird die ‚moralische‘ Lektüre dieser Tragödie dem rätselhaften Charakter von Alfieris ‚Tyrannen‘ im Kontext des ausgehenden Jahrhunderts der Aufklärung gerecht? Vermag sie etwa die offensichtliche ästhetische Faszination zu erklären, die von diesem skrupellosen und machtbesessenen Herrscher ausgeht? Von was zeugt eigentlich der grenzenlose Wille zur Macht von Alfieris Filippo – von diesem ersten Tyrannen im Werk des piemontesischen Dichters –, wenn man ihn nicht ausschließlich mit moralischen, sondern vor allem mit ästhetischen Kategorien zu interpretieren versucht? Es wird noch ausführlich zu zeigen sein, dass Alfieris Tragödie ihre volle ästhetische Wirkung entfaltet, auch wenn nicht der ‚sittliche‘ Held, sondern – und dabei geradezu programmatisch – ein gnadenloser Bösewicht von Anfang bis Ende jedes Geschehen auf der Bühne beherrscht. Doch man nehme zunächst gerade Alfieris Figur des positiven ‚Helden‘ Carlo unter die Lupe und versuche dabei, die Qualität seiner moralischen ‚Größe‘ zu bestimmen. Wie lernt der Leser zunächst die Figur des Infanten Carlo in Alfieris Tragödie kennen? Eine lobpreisende Beschreibung von Filippos Sohn legt Alfieri im aller5
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Einen durchaus lesenswerten Überblick über Entstehungsgeschichte und Motive dieser Tragödie, auch im kursorischen Vergleich mit Schillers Don C arlos, liefert Arnaldo Di Benedetto: Quasi una fiaba dell’orco. Storia e leggenda nel Filippo. In: Ders.: Il dandy e il sublime, S. 21–37. In seiner „Anthologie der italienischen Literatur“ schreibt etwa Attilio Momigliano: „Carlo und Isabella unterliegen der Gewalt, sind aber moralische Sieger: Das ist schließlich die übliche Position der Helden in Alfieris Tragödien – ganz egal, worin der Konflikt besteht“, Attilio Momigliano: Antologia della Letteratura Italiana. Bd. 2: Dal Cinquecento al Settecento. Messina 1945, S. 611 (Übers. P.P.).
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ersten Auftritt der Tragödie in den Mund von Isabella, Carlos ehemaliger Verlobten und nunmehriger Stiefmutter. In der völlig von Furcht durchtränkten Atmosphäre des „königlichen Palastes in Madrid“, in dem die Handlung laut Personenverzeichnis stattfindet, 7 traut sich die Königin im anfänglichen Selbstgespräch kaum, sich ihre immerwährende Liebe und Zuneigung für den nunmehrigen ‚Sohn‘ Carlo einzugestehen: Elisabeth (allein). Heraus aus meiner Brust auf einmal – Wunsch, Verstohlne, frevelhafte Hoffnung – Furcht –! Wie? Eidvergeßne – Gattin Philipps – Du, Du wagst es, Philipps Sohn zu lieben? – Doch Wer sah ihn je und hättʼ ihn nicht geliebt? Du kühnes Männerherz, du edler Stolz, Erhabner Geist in gefällʼger Form, Du reinste, schönste Seele –! 8
Isabella ist sich offensichtlich darüber klar, dass schon der bloße Verdacht, sie möge Filippos Sohn mit anderen als Mutteraugen ansehen, vernichtende Folgen am spanischen Hof nach sich ziehen würde. Verschweigen, verbergen, vortäuschen: Das ist alles, was Isabella offensichtlich in ihrer Lage tun kann. „Unselige“ – sagt sie sich gegen Ende ihres Selbstgesprächs – „kein Trost ist dir geblieben, / Als stille Thränen, und die Thränen sind / Verbrechen!“. 9 Man wird an die Formel aus Tacitus’ Annalen erinnert, nach welcher Frauen unter Tiberius „ob lacrimas incusabantur“, weil Tränen bereits als ein klares Zugeständnis zu einer schuldhaften Leidenschaft aufgefasst wurden. 10 Vor diesem Hintergrund ist zunächst von Carlos „kühne[m] Herz[en]“ und „erhabne[m] Geist“ in Alfieris Tragödie die Rede. Es bleibt dabei zu fragen, ob sich wirklich jenes „Herz“ als kühn, jener Geist als „erhaben“ im Stück erweist – und zwar nicht nur in den Worten einer ehemaligen Verlobten, sondern auch in den Taten eines mutig kämpfenden Helden. Kein tatkräftiger Held, sondern ein eher hoffnungslos und ohnmächtig liebender junger Mann tritt bereits im allerersten Gespräch zwischen Carlo und der Königin in Erscheinung. Auffällig ist hier, dass der Infant den vom Vater verschuldeten Verlust seiner ehemaligen Verlobten als eigentliche Ursache für sein Leiden
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Alfieri: Filippo, S. 16. Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 9. „Desio, timor, dubbia ed iniqua speme, / Fuor del mio petto omai. – Consorte infida / Io di Filippo, di Filippo il figlio / Oso amar, io?... Ma chi ’l vede, e non l’ama? / Ardito umano cor, nobil fierezza, / Sublime ingegno, e in avvenenti spoglie / Bellissim’alma“, Alfieri: Filippo, S. 17. Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 10. „Misera me! sollievo a me non resta / Altro che il pianto; ed il pianto è delitto“, Alfieri: Filippo, S. 17. Vgl. Arnaldo di Benedettos Kommentar in Vittorio Alfieri: Opere. Introd. e scelta di Mario Fubini, testo e commento a cura di Arnaldo Di Benedetto. Milano u.a. 1977. Bd. 1, S. 451Fn [La letteratura italiana / Storia e testi, 50].
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betrachtet 11 und dass ihm dies gar über alles weitere am spanischen Hof erlittene Unrecht als beklagenswert erscheint: Carlos. Wenn einst ich dem zurückgedrängten Strom Der Klage freyen Lauf nun ließe – o, Nicht über schmählich mir entrißne Ehre, nein, Nicht über meinen tiefgekränkten Ruf, Nicht über diesen unerhörten Haß, Dem unnatürlich sich die Vaterbrust erschloß, Nicht über dies – nein, über größre Kränkung Müßt’er [Filippo] mich klagen hören. – Alles nahm Er mir den Tag, da er mir Dich entriß! 12
Bezeichnender noch als die anfänglich dargestellte, absolute Ohnmacht des Infanten im königlichen Palast – was zunächst, wie wir wissen, dem ästhetischen Schema des Erhabenen konform ist – ist indes die resignierte Einstellung, die Carlo gegenüber der schrankenlosen Übermacht des tyrannischen Vaters bereits am Anfang der Tragödie charakterisiert. Spielraum zum aktiven Eingreifen glaubt Filippos Sohn von Anfang an schlichtweg nicht zu haben und die Möglichkeit einer Gegenwehr scheint er für sich nicht mal in Betracht zu ziehen. Als die Königin ebenfalls im anfänglichen Gespräch als ‚ersten und letzten‘ Liebesbeweis von ihrem Stiefsohn fordert, dass er fliehen, ja „sich dem grausamen Vater entzieh[en]“ möge, lautet seine resignierte Antwort: „Ach, Königin! Es ist unmöglich –“. 13 Offensichtlich kennt Carlo im Reich des Filippo keinen ‚Ausweg‘, weil er sich darüber klar ist, dass dem Tyrann bereits alle Wege und Auswege bekannt sind. Sein Schicksal – das „ja“ sein „einziges Verschulden“ darstelle, wie der Infant später sagen wird 14 – ist bereits am Anfang der Tragödie besiegelt: Es „wird niemals heiter sein können“, 15 wie seine mutlosen Worte dabei lauten. Doch wenn das Schicksal von vornherein vorbestimmt ist, wenn die Übermacht des Tyrannen vom ersten Auftritt an mit keiner Waffe zu schlagen ist – hat das Kämpfen in der Tragödie überhaupt noch Sinn? Und wenn Carlo nicht handelt, wie kann er überhaupt seine moralische Größe zeigen? In Alfieris Tragödie stellt Carlos Tatenlosigkeit eine Folge der Übermacht des Tyrannen dar; sie zeugt von der ‚Furcht‘, ja dem Terror, der das Machtsystem von Alfieris ‚Tyrannei‘ stets beglei11 12
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Vgl. Alfieri: Filippo, S. 20. Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 15f. „[M]a, se obliarlo / Un dì potessi, ed allentare il freno / Ai repressi lamenti; ei non mi udrebbe / Doler, no mai, nè dei rapiti onori, / Nè della offesa fama, e non del suo / Snaturato inaudito odio paterno; / D’altro maggior mio danno io mi dorrei.... / Tutto ei mi ha tolto il dì, che te mi tolse“, Alfieri: Filippo, S. 21. Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 19. „Oh donna!… ell’è impossibil cosa“, Alfieri: Filippo, S. 25. Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 43. „[V]oglia / Il mio destin (ch’è il sol mio fallo) a tale / Vergogna più non mi far scender mai“, Alfieri: Filippo, S. 44. So Carlo an Perez: „Ma il mio destin, (qual ch’egli sia) nol sai, / Ch’esser non può mai lieto?“, Alfieri: Filippo, S. 28.
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tet und das Blut in den Adern der Untertanen förmlich erstarren lässt. Da jede Handlung als Verbrechen gegen den Herrscher gedeutet werden kann, muss jeder Bürger tendenziell versucht sein, von jeglicher Handlung abzusehen, um sich von der ganz unvorhersehbaren Rache des Machthabers nach Möglichkeit in Schutz zu nehmen. Von seinem Vater in die Enge getrieben, der ihm in der Audienzszene im II. Aufzug vorwirft, dem niederländischen Abgesandten heimlich Gehör geschenkt zu haben, bricht Carlo selbst in folgende rhetorische Frage aus – eine Frage, die auf eine grundlegende Praxis in der Tyrannis hinweist: „Ist’s möglich, Vater? Alles also wird / Mir zum Verbrechen – alles – ausgelegt?“. 16 Tatsächlich: Alles wird in Alfieris Tyrannis als Verbrechen ausgelegt, selbst das, was am wenigsten plausibel erscheint. Denn wenn sich Filippos Anschuldigung an dieser Stelle zumindest noch auf einen Tatbestand stützt – wie Carlo offen zugibt, hat sein Treffen mit dem niederländischen Abgesandten wirklich stattgefunden, auch wenn die Zusammenkunft keinesfalls von verräterischen Hintergedanken motiviert gewesen sei –, ist die im vierten Aufzug von Filippo gegen Carlo erhobene Anklage wegen versuchten Vatermordes dagegen vollkommen gegenstandslos. Wie bald klar werden muss, ist nicht nur Filippos Wiedergabe der angeblichen Missetat im dritten Aufzug an sich schon wenig überzeugend. 17 Fraglich muss auch überhaupt und prinzipiell bleiben, ob just der passiv leidende Carlo, wie Alfieri ihn in seiner Tragödie durchgehend darstellt, je eines solchen Versuchs hätte fähig sein können. Wenn man Carlos Laufbahn eines ‚Helden‘ in Alfieris Tragödie Revue passieren lässt, stellt man bald fest, dass er auf die dargestellten Leidenschaften und Geschehnisse von vornherein keinen Einfluss hat, ja dass er ihnen vielmehr anhaltend unterworfen ist. Wie sich zeigt, ist er im ersten Aufzug hauptsächlich mit seiner unglücklichen Liebe zu Isabella beschäftigt – eine ‚schuldige‘ Neigung zu seiner Stiefmutter, die er am spanischen Hof wohl um jeden Preis verheimlichen muss; im zweiten Auftritt muss er sich gegen die Beschuldigung des Königs verteidigen, mit einem niederländischen Abgesandten gegen die spanische Krone konspiriert zu haben; im dritten Aufzug beschuldigt ihn in absentia der von Filippo einberufene „Rat des Gewissens“ des Verrats, des versuchten Vatermords und des Frevels – dabei wird für Carlo die Todesstrafe gefordert; im darauffolgenden Aufzug lässt der König selbst seinen Sohn wegen des angeblich versuchten Vatermords einsperren, der Rat fällt währenddessen sein Todesurteil; im letzten Auftritt wird ein von Isabella in die Wege geleiteter Befreiungsversuch des eingekerkerten Infanten vereitelt und die Katastrophe vollzieht sich. Vor diesem Hintergrund mag man Alfieris Carlo
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Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 40. „Padre, e fia che a delitto in me si ascriva / Ogni mia menom’opra?“, Alfieri: Filippo, S. 42. Ganz um die Unschlüssigkeit von Filippos Anklagen gegen seinen Sohn wird sich Perez’ Plädoyer für den Freund bei dem vom König später einberufenen ‚Rat des Gewissens‘ drehen. Darauf kommen wir im Folgenden zurück. Vgl. Alfieri: Filippo, S. 55f.
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nicht nur völlig zu Recht einen „Helden der Untätigkeit“ 18 bezeichnen, der dabei den ausdrücklichen Gegensatz zu Filippo, dem „grausamen und mächtigen Helden der Tat“, darstellt. 19 Vielmehr wird ersichtlich, dass der Infant von Alfieri gar als ein solcher passiver Held konzipiert wurde – was allerdings auf ästhetischer Ebene die Gelegenheiten verringert, bei denen er die Kraft seiner moralischen Größe offen zur Schau stellen kann. Seine ‚Größe‘ zeigt Carlo lediglich in seiner Reaktion auf Filippos Anklage im II. Aufzug, er sei ein Verräter, da selbst der König erkennen muss, dass „ein edler Stolz […] durch den Inhalt [s]einer Worte [weht]“. 20 Sittlich-erhabene Größe mag man außerdem nicht nur in seinem Versuch in extremis erkennen, Isabella von jeglicher Verantwortung zu entlasten, 21 sondern auch in dem (resignierten) Mut, mit dem der Infant auch Filippos Anschuldigung wegen versuchten Vatermordes zurückweist. 22 Ob er just hier – da „seine Niederlage vollzogen ist“ 23 – bestimmt „dem Vater überlegen“ sei, ja diesen gar „besiege“ und im „Stolz der eigenen [moralischen] Überlegenheit“ aufgehe, 24 muss allerdings fraglich bleiben. So wie fraglich bleiben muss, ob Carlos Worte dabei weniger als bloße „Worte“, sondern vielmehr als „Taten“ zu betrachten seien: 25 Fakt ist, dass die einzige Tat, die Carlo in Alfieris Tragödie wirklich vollzieht, lediglich im abschließenden Selbstmord besteht. 26 Da der grundsätzlich passive Infant kaum durch seine Taten den eigenen Großmut in Alfieris Tragödie zeigen kann, werden die weiteren positiv konnotierten Figuren Perez und Isabella nicht zuletzt dazu berufen, zu Carlos Vorteil zu handeln und dabei gewissermaßen mit ihrem sittlich-erhabenen Gemüt indirekt auch für die moralische Größe des Infanten zu bürgen. Während Carlo nach dem anfänglichen Gespräch mit Isabella in seiner Verzweiflung das eigene Schicksal als „grausam“ beklagt, 27 erbietet sich Perez gleich danach, für den „Freund“ 28 tatkräftig einzutreten:
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Und zwar „sowohl in der Liebe als auch in der Politik“, vgl. Vittore Branca: Introduzione al ‚Filippo‘. In: Vittorio Alfieri: Saul. Filippo. Introduzione e note di Vittore Branca. Milano 5 1990, S. 59–71, hier S. 63 (Übers. P.P.). Ebd. Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 41. „....Nobil fierezza ogni tuo detto spira....“, Alfieri: Filippo, S. 43. V. Aufzug, III. Auftritt. IV. Aufzug, II. Auftritt. Fubini: Vittorio Alfieri. Il pensiero – la tragedia, S. 82 (Übers. P.P.). Ebd. Ebd. Auf den letzten Auftritt des Filippo wird allerdings noch ausführlicher zurückzukommen sein. „Oh barbara mia sorte! / Felice io sono, e misero, in un punto….“ (Dt.: „Oh grausames Geschick! Wie selig bin ich – und wie elend zugleich....“), Alfieri: Filippo, S. 25 (Übers. P.P.). Carlo klagt an dieser Stelle darüber, dass es sein „Geschick“ sei, zur selben Zeit „selig“ und „elend“ sein zu müssen, denn Isabella hat ihm gerade zu verstehen gegeben, dass sie seine Liebe erwidert. Gleichzeitig hat sie ihn jedoch angefleht, jede Spur dieser schuldhaften Leidenschaft aus seiner Brust zu tilgen.
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Perez. Auf eine beßʼre Probe stellt dies Herz, Stellt diesen Arm! – Gebietet Carlos, welcher Gefahr ich trotzen soll! Zeig mir den Feind, Der am empfindlichsten euch kränkt! 29
Gleichfalls in demselben Auftritt, während sich Carlo nicht von ungefähr entschlossen zeigt, dem eigenen Vater lediglich sein „Schweigen“ entgegenzustellen, ist Perez gewillt, den absoluten Monarchen über den guten Glauben seines Sohnes „mit lauter Stimme“ aufzuklären. 30 Denn, wie dieser meint, Philipps „Zorn“ basiere auf „Irrthum“, der König sei bloß „Umgarnet von der Bosheit künstlichem / Gewebe“ der Hofleute. Doch: „Besser, als du glaubst, / kennt er die Wahrheit“, 31 lautet dabei Carlos nüchterne Erwiderung auf Perezʼ Worte. Gerade weil Carlo jenen Schwindel der absoluten Macht durchschaut hat, den der ‚Tyrann‘ verkörpert – ja gerade weil sich Carlo darüber klar ist, dass jede Reaktion angesichts der unstillbaren Machtbesessenheit des Despoten aussichtslos ist, wird er von vornherein in Alfieris Tragödie zur Tatenlosigkeit verurteilt. Spiegelbildlich kann sich Perez noch für seinen Freund tatkräftig einsetzen wollen, weil er sich noch grundsätzlich über die Qualität von Filippos ‚Willen zur Macht‘ täuscht: Nur weil er nicht realisiert, dass dieser ‚Tyrann‘, ja dieses „rätselhafte Monstrum“ 32 in seinem Machtstreben weit über jedem moralischen Prinzip und ‚Naturgesetz‘ steht, kann er noch glauben, dass Filippo schon „kraft der Natur“ 33 bereit sein könnte, ein Plädoyer zu Gunsten seines Sohnes zu hören. In seiner so redlichen wie naiven Überzeugung, dass „Wahrheit […] / Nie schädlich seyn [kann]“, 34 nimmt Perez im dritten Aufzug auch an dem vom König einberufenen „Rat des Gewissens“ teil, was übrigens seinen letzten Auftritt in Alfieris Tragödie darstellt, denn im fünften Akt wird man bloß von dem an ihm verübten Meuchelmord erfahren. Als Figur höchster Redlichkeit und Integrität scheut er hier nicht davor zurück, die Widersprüchlichkeit 28
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Carlos Freund Perez entspricht in gewisser Hinsicht der Figur des Marquis von Posa in Schillers Don C arlos. Wie in der Forschung hervorgehoben wurde, fehlt Alfieris Figur dennoch die „Komplexität und Höhe“ eines politischen Projekts, sodass sich ein Vergleich zwischen beiden Figuren nicht als besonders aufschlussreich erweist, vgl. Marziano Guglielminetti: Per un confronto fra il Filippo e il Don Karlos. In: Enrico Ghidetti u. Roberta Turchi (Hg.): Alfieri tragico (numero speciale di La Rassegna della Letteratura Italiana) CVII/2 (2003), S. 451–456, hier S. 451. Bereits Elisabetta Mensi stellte in ihrer Gegenüberstellung von Alfieris Filippo und Schillers Don Carlos aus dem Jahr 1922 fest, dass nur die „treue Freundschaft“ zu Filippos Sohn Perez und Posa eigentlich verbinde. Vgl. Elisabetta Mensi: Il Filippo dell’Alfieri e il Don Carlos dello Schiller. Firenze 1922, S. 84. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 13. „Il cor, la mano / Poni a più certa prova. Or di’; qual debbo / Per te affrontar periglio? Ov’è il nemico / Che più ti offende? parla“, Alfieri: Filippo, S. 26. Alfieri: Filippo, S. 27. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 13. „Più che non credi, il re sa il ver“, Alfieri: Filippo, S. 27. Alfieri: Risposta dell’Alfieri al Calzabigi, S. 220 (Übers. P.P.). So Perez wörtlich im Gespräch mit Carlo: „Ah! di natura è forza, / chʼei lʼoda“, Alfieri: Filippo, S. 27. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 37. „Il vero / Nuocer non de’. Chiesto n’è il ver; si dica“, Alfieri: Filippo, S. 52.
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und Verlogenheit der gegen Carlo gerichteten Bezichtigungen deutlich anzuprangern, ja, er geht so weit, sich für Carlos Unschuld mit seinem „Kopf“ zu „verbürgen“ und – „wäre dies nicht genug“, wie er emphatisch sagt – gar mit seiner „Ehre“. 35 Perezʼ moralische Überlegenheit, die auf Carlo zurückstrahlt, tritt am Ende des dritten Akts in den Mittelpunkt; selbst der König muss das erhabene Gemüt („quai sensi!“), ja den „kühnen Stolz“ („quale orgoglio bollente!“) dieser Figur bewundern – und sich dabei fragen, wie es möglich sei, dass ein solches Gemüt noch dort leben könne, wo er regiert. 36 Das ist eine der spärlichen Stellen, an denen sich das moralisch Gute nach dem Schema des Sittlich-Erhabenen in Alfieris Tragödie behauptet. Weitere Anhaltspunkte für eine moralische Lektüre von Alfieris Tragödie liefert darüber hinaus die Figur der Isabella. Außer in der Schlussszene, auf die noch zurückzukommen sein wird, stellt die Königin ihren Großmut in dem Moment unter Beweis, in dem sie im vierten Aufzug vom tückischen Minister Gomez erfährt, dass der „Rat des Gewissens“ den inzwischen eingekerkerten Carlo zum Tode verurteilt hat. Da sie glauben muss, dass sie allein noch Carlo zur Flucht überreden könne, entscheidet sie zu handeln und damit selbstlos ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Die Königin, die auf Gomezʼ vorgetäuschte Hilfsbereitschaft hereinfällt, fleht Filippos Minister an, sie zu Carlo in den Kerker zu führen. „Wer könnte seinen Arm / Zu einer solchen Edelthat verweigern!“, 37 ruft der hinterhältige Gomez aus, indem er sich anschickt, die betrogene Königin zu verraten. Beim darauffolgenden Treffen im fünften Aufzug erkennt Carlo gleich Isabellas fatalen Irrtum: „Leichtgläubʼge! Unvorsichtʼge! / Was thatet ihr? […] Selbst wenn dieser schrecklichste / Der Diener seines schrecklichen Gebieters, / Die Wahrheit euch eröffnet hat, so hat / Er mit der Wahrheit euch betrogen“. 38 Auch wenn die verhängnisvolle Naivität, mit der die Königin hier handelt, kaum von der Hand zu weisen ist, steht die Erhabenheit ihrer Gesinnung und ihres Versuchs, Carlos Leben zu retten, am Ende dennoch im Vordergrund – was schließlich ein positives Licht auch auf Carlo wirft, von dem der Leser annehmen muss, dass er als Mensch der edlen Bemühungen der Königin durchaus wert ist. Carlo, Perez, Isabella, das heißt die sittlich-erhabenen Helden in Alfieris Filippo, zeigen auf unterschiedliche Weise in der Tragödie, dass ihre moralische Größe 35 36
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„Sovra il mio capo il giuro; ove non basti, / Su lʼonor mio“, ebd., S. 56. Alfieri: Filippo, S. 59. Zu Recht hat Giuseppe A. Camerino darauf hingewiesen, dass Filippos Worte keinesfalls im Zeichen einer eintretenden ‚Reue‘ zu interpretieren sind. Vielmehr deuteten diese Worte auf Filippos grundsätzliche „Intoleranz gegenüber jedem Hindernis“ hin, das sich seinem „Streben nach absoluter Macht“ entgegenstellt, Giuseppe A. Camerino: Infelicità, innocenza, pietà: Il Filippo. In: Enrico Ghidetti u. Roberta Turchi (Hg.): Alfieri tragico, S. 439–450, hier S. 447 (Übers. P.P.). Alfieri: Philipp der Zweite, S. 61. „E chi potrebbe / Opra negar così pietosa?“, Alfieri: Filippo, S. 77. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 65. „Incauta! ahi troppo / Credula tu! che festi? […] / Se il ver ti disse / Dell’empio re l’empissimo ministro, / Ei col ver t’ingannò“, Alfieri: Filippo, S. 82.
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prinzipiell die Schranken jener tyrannischen Gewalt zu überwinden vermag, welche sie im königlichen Palast in Madrid erleiden müssen. Wenn man die traditionelle moralische Lesart der Tragödie verteidigen will, ist es notwendig, gerade die spärlichen und zum Teil idealistisch-naiven Edeltaten von Carlo, Perez und Isabella gegen das Tückische und Hinterhältige des tyrannischen Herrschers und seiner Helfer auszuspielen. Glaubt man dabei, dass der Sieg des Guten über das Böse das eigentliche Thema von Alfieris Filippo darstellt, übersieht man allerdings das eigentliche Novum von Alfieris Tragödie, das sich ganz um die rätselhafte Figur seines ersten ‚Tyrannen‘ dreht. Wie sich zeigt, geht es hier in primis nicht um die traditionelle moralische Entgegensetzung von Gut und Böse, sondern vor allem um den unersättlichen Willen zur Macht des Titelhelden und dessen faszinierende, über Gut und Böse erhabene, männlich-heroische Moral. 39 Dass man es in Alfieris Filippo mit einer Figur der besonderen Art – ja mit einem Protagonisten der Superlative zu tun hat, erkannte bereits der schottische Historiker und Essayist Thomas Carlyle. In seiner frühen Biographie The Li fe o f Schiller, a n E xamination of H is W orks (1825) stellt er einen knappen Vergleich zwischen Schillers Don Karlos und Alfieris Filippo und äußert sich dabei zusammenfassend über Alfieris Tyrannen wie folgt: „Alfieriʼs Filippo is perhaps the most wicked man that human imagination has conceived“. 40 Carlyles früher Einschätzung mag man grundsätzlich zustimmen. Doch mit der bloßen moralischen Feststellung, Alfieris Protagonisten sei am bösesten, ist es am Ende nicht getan – zu klären ist hierbei vielmehr, warum das europäische 18. Jahrhundert gerade eine solche Figur zeitigen konnte. Um Alfieris Titelhelden zu beschreiben, greift Ranieri de’ Calzabigi im bereits erwähnten Brief vom 20. August 1783 an Alfieri auf die Worte zurück, die Tacitus mit Bezug auf Tiberius in seinen Annalen verwendet: Aus dem Mund von Alfieris Protagonisten Filippo, dem „Tiberius Spaniens“, würde man somit „suspensa semper, et obscura verba“ hören; in ihm sähe man „den Menschen sine miseratione, sine ira“; und man fände ihn „immer obstinatum, clausumque, ne quo affectu perrumperetur“. 41 Es handelt sich um Worte, die gerade das wesentliche Charaktermerkmal der Kälte von Alfieris Figur unterstreichen, ein Charaktermerkmal, das mit dem ausgesprochenen Hang dieses Tyrannen zum Theatralischen in Zusammenhang steht und bei dem es sich lohnt, länger zu verweilen als es Calzabigi selbst in seinem Brief schließlich tut.
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Zu Recht weist auch Bartolo Anglani darauf hin, dass „Filippos tirannide die Manifestation eines Macht- und Gewaltinstinktes, ja eines Blutdurstes darstellt, der jedem historischen Ereignis vorausgeht“, Anglani: Alfieri e la profanazione del sacro, S. 450 (Übers. P.P.). Thomas Carlyle: The life of Friedrich Schiller. Comprehending an examination of his works. London 1825, S. 123. Ranieri de’ Calzabigi: Lettera di Ranieri De’ Calzabigi sulle prime quattro tragedie dell’Alfieri. In: Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 169–215, hier S. 193.
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Es ist durchaus bezeichnend, dass der Leser von Alfieris Tragödie den titelgebenden Protagonisten und Tyrannen am Anfang des zweiten Aktes kennenlernt, da er sich mit Hilfe seines treuesten Ministers Gomez anschickt, sein erstes ‚Schauspiel‘ zu veranstalten – ein Schauspiel, bei dem der Tyrann allerdings sowohl die Hauptrolle übernimmt als auch die strengste Regie führt. Von einem „große[n] Plan“, der dem Monarchen „den Busen schwellt“, 42 ist an dieser Stelle die Rede. Gomez soll, als einziger in Filippos hintergründige Verdächtigungen und Intentionen eingeweihter ‚Zuschauer‘, dem ad hoc durchgeführten, sich um Carlos kreisenden Gespräch des Königs mit seiner Frau Isabella beiwohnen. Dabei soll er „jede ihrer Mienen, / Den leisesten, den kleinsten ihrer Züge [belauschen]“, ja er soll – wie Filippos bildkräftiger Befehl wörtlich lautet – „seinen forschenden Scharfblick auf sie heften“. 43 Treffsicher appelliert Filippo hier an seinen Minister, dessen psychologischen Scharfblick er offensichtlich gut kennt und besonders zu schätzen gelernt hat: Darin besteht schließlich gerade jene Fähigkeit seines treuen Dieners, selbst die „verborgensten Gedanken“ des Herrschers zu lesen, um sie dann „still“ zu vollziehen, wie der Monarch dabei ausführt. 44 Der rasche Wortwechsel zwischen Filippo und Gomez in der ersten Szene des zweiten Aktes – der Tyrann betritt hier, wie gesagt, zum allerersten Mal die Bühne – macht das Koordinatensystem deutlich, in dem sich die Handlung entfaltet. Deutlich wird hier nicht nur die Angst, ja der Terror, den der Tyrann jedem anderen Menschen am spanischen Hof einflößt. Klar wird vielmehr schon hier auch das grundsätzlich Hinterlistige, Heimtückische und Verlogen-Theatralische des Monarchen, so dass jedes weitere Wort von ihm in der Tragödie als Teil eines inszenierten ‚Schauspiels im Schauspiel‘ erscheinen muss. Genau aus diesem Grund muss bald der Eindruck im Leser entstehen, Filippos Worte seien „suspensa semper, et obscura verba“, denn es ist programmatisch nie zu unterscheiden, ob seine Äußerungen im Sinne von Alfieris ‚Schauspiel‘ oder aber von Filippos strategischem ‚Schauspiel im Schauspiel‘ zu verstehen sind. Ästhetisch stellt dies allerdings kein Manko, sondern einen ausgesprochenen Mehrwert dar: Letztlich wird dadurch dem Leser von Alfieris Tragödie gerade der ästhetische Genuss gewährt, der in der erwartungsvollen Spannung darauf besteht, ob und wie das durchdachte und kaltblütig aufgeführte Schau- und Ränkespiel des Tyrannen am Ende von Erfolg gekrönt sein wird. Gleich nach dem kurzen Dialog mit Gomez geht das erste ‚Schauspiel‘ des Regisseurs Filippo über die Bühne. Der Leser muss zunächst darum bangen, dass die Königin, die Filippo hier aus dem Hinterhalt als „Richterin […] in des Sohnes
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Alfieri: Philipp der Zweite, S. 16. „[M]a in questo / Giorno, in cui volgo un gran pensiero in mente“, Alfieri: Filippo, S. 32. So Filippo im Originaltext: „[O]gni più picciol moto / Nel di lei volto osserva intanto, e nota: / Affiggi in lei l’indagator tuo sguardo“, Alfieri: Filippo, S. 32 (Übers. P.P.). Alfieri: Philipp der Zweite, S. 17. „Quello, per cui nel più segreto petto / Del tuo re spesso anco i voler più ascosi / Legger sapesti, e tacendo eseguirli“, Alfieri: Filippo, S. 32.
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Sache“ 45 zu Rate zieht, nicht der stets doppeldeutigen Sprache ihres tyrannischen Gemahls zum Opfer fällt. Isabella erschauert vor Entsetzen, als sie realisiert, dass Filippo sie – in ihrem Part als eine ‚Stiefmutter‘, die Carlos allerdings „mit Mutterliebe“ zu umfangen behauptet 46 – dazu ruft, über „das Schicksal“ seines leiblichen Sohnes zu „bestimmen“. 47 Überraschend wirkt zunächst der Umstand, dass sich Filippo hier gegenüber der Königin als ausgesprochen nachgiebig zeigt. Diese plädiert dafür, dass Carlo, den der König anschuldigt, mit den verhassten, rebellierenden Bataviern zu intrigieren, 48 zunächst selbst befragt werden soll: „Eröffnet / Ihm euer Ohr“, so Isabella, „den süßen väterlichen / Gefühlen euer Herz“. 49 Darauf Filippo: Das Herz Des Vaters für die Stimme der Natur Zu öffnen, ward euch vorbehalten. Euer Ist das Verdienst allein, kein Höfling macht’s Euch streitig! – Traurig Loos der Könige! Des Herzens heiligem Gefühl zu folgen, Es auszusprechen dürfen sie nicht wagen – Was sag’ ich, auszusprechen – anzudeuten Es nur, ist ihnen nicht erlaubt. – Zu schweigen, Sich zu verstellen, sind sie allzu oft Gezwungen. Doch bald kommt die Zeit, wo ich Des Herzens Stimme laut und öffentlich Kann sprechen lassen. Mehr als ihr es glaubt, Habt ihr durch eure Worte mir die Augen Geöffnet, und beinah halt’ ich den Prinzen Für schuldlos, weil ihr ihn für schuldlos haltet. – Er soll sogleich vor mir erscheinen, Gomez! 50
Will man seinen Worten glauben, so wäre der König also „gezwungen“, sich zu verstellen; es wäre ihm gar verwehrt, „[d]es Herzens heiligem Gefühl zu folgen“; die Stimme des (Vater-)Herzens endlich sprechen zu lassen, würde für ihn gar einen mehr als willkommenen, ja einen heiß ersehnten Befreiungsschlag bedeuten. 45 46 47 48 49 50
Alfieri: Philipp der Zweite, S. 19. „Ma, qual v’ha dubbio? imparzial consiglio / Chi più di te potria sincero darmi?“, Alfieri: Filippo, S. 33. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 18. „Pur di Filippo il figlio ami d’amore.... / Materno“, Alfieri: Filippo, S. 34. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 20. „….Misera me!... Vuoi, ch’io / Del tuo figlio il destino?...“, Alfieri: Filippo, S. 36. Alfieri: Filippo, S. 42. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 22. „[T]u schiudi / A lui l’orecchio, e il cor disserra ai dolci / Paterni affetti“, Alfieri: Filippo, S. 37. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 23. „....Opra tua degna, e di te sola, è questa; / Il far che ascolti di natura il grido / Un cor paterno: ah! nol fan gli altri. Oh trista / Sorte dei re! del proprio cor gli affetti, / Non che seguir, nè pur spiegar, ne lice. / Spiegar? che dico? nè accennar: tacerli, / Dissimularli, le più volte è forza. – / Ma, vien poi tempo, che diam loro il varco / Libero, intero. – Assai, più che nol pensi, / Chiara ogni cosa il tuo dir fammi…. Ah! quasi / Innocente ei mi par, poichè innocente / Credi tu il prence. – Ei tosto, o Gomez, venga“, Alfieri: Filippo, S. 38.
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Es ist lohnend, sich an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen, dass König Philipp, der hier spricht, eigentlich eine Figur darstellt, die für jeden Affekt unzugänglich ist – „ne quo affectu perrumperetur “. Was man hier erlebt, ist daher nichts Anderes als eine ‚Theaterrolle‘, die kaltblütig gespielt wird. Der König ist sich offensichtlich darüber klar, dass er sich gerade dadurch am besten zu verstellen vermag, dass er sich zum einen über die von der ‚Staatsräson‘ geforderten Verstellungskünste beklagt und zum anderen die unterdrückten Affekte seines Vaterherzens in pathetischen Worten instrumentell zur Geltung kommen lässt. In Wahrheit ist jede Konzession an die Königin im einstudierten Drehbuch vorgesehen. Welches Ziel der Monarch dabei in Wirklichkeit verfolgt, wird bald klar: Er verlangt, dass die Königin und Stiefmutter Philipps Anhörung des Sohnes, für die sie ja selbst plädiert, beiwohnt, damit sowohl er als auch Gomez die Möglichkeit haben, die ehemaligen Verlobten bei dieser Gelegenheit in aller Ruhe in ihrem womöglich verlegenen Benehmen zu beobachten. Wider Willen muss die Königin bei der Anhörungsszene schweigend zugegen bleiben. Die Anhörung schließt unerwartet mit Carlos Vergebung durch seinen Vater, der allerdings den Verdienst für diesen Gnadenakt ostentativ lediglich der vorausgegangenen, edlen Fürsprache der Königin für den Stiefsohn beimisst. Noch plakativer und dabei weiterhin doppeldeutig sind die Worte, die der König noch an dieser Stelle an Isabella richtet: Ihr seht, Gemahlin, daß ich euern Wünschen gern Mich füge, daß dem Sohn ich zu verzeihn Nicht nur, auch ihn zu lieben von euch lerne! […] Euch, nur euch allein hab’ ich Dies zu verdanken. – Euretwegen hab’ Ich meines Zornes Ausbruch unterdrückt, Mit sanften Vaterworten meinen Sohn Zur Besserung ermahnt. O, daß doch nie Mich dieser Schritt gereue! 51
Mit einer paradoxen Pointe befiehlt der Monarch den ehemaligen Verlobten am Ende dieser Szene, sie mögen sich in Zukunft öfter sehen, damit die Königin intensiv dazu beitragen könne, dass der Stiefsohn „im Guten immermehr / Erstarke“. 52 Was es hier wirklich mit Filippo auf sich hat, macht spätestens die letzte Szene des zweiten Aktes unmissverständlich deutlich, da der König und sein Minister, spiegelbildlich zur ersten Szene desselben Aktes, wieder unter sich allein sind und sich über das gerade Beobachtete austauschen können. Der Leser trifft hier auf ein 51
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Alfieri: Philipp der Zweite, S. 29. „Or vedi, o donna, / Che a te mi arrendo; e che da te ne imparo, / Non che a scusare, a ben amar mio figlio […] // Tel deggio, ed a te sola io ’l deggio. / Per te il mio sdegno oggi ho represso, e in suono / Dolce di padre, ho il mio figliuol garrito. / Pur ch’io pentir mai non men debba! – “, Alfieri: Filippo, S. 43. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 29. „Perché più ognor di bene in meglio ei vada“, Alfieri: Filippo, S. 44.
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sprachliches Meisterwerk des Lakonismus – zumal, wenn man daran denkt, dass diese Szene aus Alfieris Feder in der ersten Fassung aus vierundachtzig elfsilbigen Versen bestand und dass sie in der endgültigen Version lediglich drei enthält: 53 Filippo
Udisti? Udii.
Gomez Filippo Vedesti? Gomez Filippo
Dunque il sospetto?...
Filippo è ancor? Pensa....
Io vidi. Oh rabbia!
Gomez ….È omai certezza.... Filippo
E inulto
Gomez Filippo
Pensai. – Mi segui. 54
Am Ende des zweiten Aktes darf die Aufmerksamkeit des Lesers somit auf die folgenden Schachzüge des Tyrannen gespannt bleiben. Filippos peremptorische Äußerung „pensai“ – „Ich hab’s bedacht“ – verfolgt hier eigentlich das gleiche Ziel seiner anfänglichen, an Gomez gerichtete Bemerkung, ihm schwelle „ein großer Plan den Busen“. 55 Wie Filippos „großer Plan“ im zweiten Akt auf ein vom König selbst inszeniertes ‚Schauspiel‘ vorausweist, signalisiert auch sein „pensai“ am Ende des Aufzuges, dass das, was im dritten Akt folgen wird, wiederum als Teil einer wohl durchdachten Strategie des Machthabers zu interpretieren sein wird. Wie sich bald zeigt, werden die vom Dichter erweckten Erwartungen nicht enttäuscht. Als nächstes ‚Schauspiel im Schauspiel‘ wird der vom König einberufene ‚Rat des Gewissens‘ im dritten Akt aufgeführt, wobei der Machthaber erneut Regie und Hauptrolle für sich in Anspruch nimmt. Dabei hat sich Filippo vorgenommen, Carlo des versuchten Vatermordes zu beschuldigen. Das Talent des Machthabers für das Theatralische macht sich gleich zum Anfang der Szene wieder bemerkbar, 53 54
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Wie Vittore branca anmerkt, vgl. Vittorio Alfieri: Saul. Filippo. Introduzione e note di Vittore Branca. Milano 51990, S. 103. Alfieri: Filippo, S. 44f. „Philipp: Habt ihr’s gehört? / Gomez: Ich hab’s. / Philipp: Saht ihr’s? / Gomez: Ich sah’s. / Philipp: O Wuth! – So wäre mein Verdacht – / Gomez: Gegründet. / Philipp: Und / noch ungerächt ist Philipp? / Gomez: Eure Sorge, / Mein König! / Philipp: Ja, sie sey es. Folgt mir jetzt!“, Alfieri: Philipp der Zweite, S. 30f. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 16. „[M]a in questo / Giorno, in cui volgo un gran pensiero in mente“, Alfieri: Filippo, S. 32.
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da Filippo in dramatisierter, hoch pathetischer Sprache seinen bemitleidenswerten Zustand eines entkommenen Opfers und zugleich eines gezwungenen Anklägers des eigenen Sohnes darstellt: Wache! Niemand ist Der Zutritt hier verstattet. – Wen’ge nur, Doch Treue und Geprüfte, hab ich jetzt Um mich versammelt, Rath zu pflegen – ach – In einer unerhörten Sache! – Jeder Leih’ mir sein Ohr! – Doch welches bange Schrecken Ergreift mich, eh’ das erste Wort ich finde! Mein Blut erstarret in den Adern mir, Das Auge füllt mit einer Thräne sich. – Den herben Schmerz des Herzens auszudrücken, Versagt die Stimme zitternd mir beinahe Den Dienst – und dennoch muß ich sprechen – ja, Ich muß – das Vaterland gebeut’s – nicht ich! Wer glaubt es wohl, als Kläger tret’ich heut In eurer Mitte auf – denn Richter – dies Vermag ich nicht zu seyn – 56
Im gleichen pathetischen Duktus beschreibt Filippo Carlos „im dunklen Schatten / Der Nacht“ ausgeführten Vatermordversuch, wobei er nicht von ungefähr das historische Präsens, das auch in der hier zitierten deutschen Übersetzung wiedergegeben wird, verwendet, um den Unmittelbarkeitseffekt der vermeintlichen frevelhaften Handlung rhetorisch zu steigern: Schweigend nahet er dem stillen Gemach des Vaters, die ruchlose Hand Mit einem vatermörderischen Stahl Bewaffnet, und bedrohet schon von hinten Mein Leben. – Schon erhebet er den Arm, Schon zückt den Dolch er über seines Vaters Schutzlose Brust. 57
Der Leser mag zunächst geneigt sein zu glauben, dass das, was bei so viel Entrüstung und Pathos im feierlichen Rahmen eines berühmt-berüchtigten ‚Rats des Gewissens‘ vom König vorgetragen wird, auch vollkommen folgerichtig und plausibel sein soll. Dass dem offensichtlich nicht so ist – dass das Pathos von Filippos Rede umgekehrt proportional zur Stichhaltigkeit seiner Darstellung ist, macht 56
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Alfieri: Philipp der Zweite, S. 35. „Nessuno, olà, qui d’inoltrarsi ardisca. – / Pochi, ma giusti e fidi, oggi vi aduno / A insolito consiglio.... Ognun mi ascolti. – / Ma, quale orror pria di parlar m’ingombra! / Qual gel mi scorre entro ogni vena! Il pianto / Mi sta sul ciglio, e la debil mia voce, / Quasi del core i sensi esprimer nieghi, / Tremula ondeggia.... E il debbo io pur? sì, il debbo; / La patria il vuol, non io. – Chi ’l crederia? / Accusatore oggi fra voi mi seggo; / Giudice no, ch’esser nol posso“, Alfieri: Filippo, S. 50. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 36. „A far vendetta / Dei perdonati falli ei muove il piede / Ver le mie stanze tacito. La destra / D’un parricida acciaro armarsi egli osa. / A me da tergo ei già si appressa. Il ferro / Già innalza; entro al paterno inerme fianco / Già quasi il vibra…. “, Alfieri: Filippo, S. 51.
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Carlos Freund Perez unmittelbar danach auf offener Bühne deutlich. Folgt man der Anklage des Monarchen, so soll der Prinz zum einen versucht haben, den Vater zu ermorden; zum anderen soll er sowohl mit den Niederländern als auch mit den Franzosen intrigiert haben. Doch warum – so fragt Perez nicht ohne Evidenz – hätte er das eigene Reich, in dessen Besitz er durch die Beseitigung des Vaters gekommen wäre, mit den Niederländern und den Franzosen teilen wollen? Warum hätte er umgekehrt den Vatermord versucht, wenn er vorgehabt hätte, die spanische Krone mithilfe der Niederländer und der Franzosen zu erreichen? Warum hätte er außerdem seinen Mordversuch dann kurz vor dem entscheidenden Dolchstoß plötzlich scheitern lassen sollen, nachdem er sich dabei in einer solchen Weise bereits unwiderruflich kompromittiert hätte? 58 Offensichtlich geht es Filippo hier nicht darum, die einberufenen Räte mit stichhaltigen Beweisen von der Schuld seines Sohnes zu überzeugen. Auch, und das ist das Entscheidende, soll der offenbare Mangel an Stringenz des Tyrannen in diesem Fall mitnichten als Zeichen von Schwäche und Unzulänglichkeit gedeutet werden. Das eigentliche Spiel des Tyrannen – das sadistische Spiel der Übermacht, das Alfieri hier darstellt – wird mit den Mitteln des Erhabenen auf einer anderen Ebene ausgetragen: auf der ästhetischen. Ostentativ vertraut Filippo das Los seines Sohns, das er pathetisch dem eigenen gleichsetzt, 59 den Richtern an, die er einberufen hat. Wie alle am Rat Beteiligten jedoch wohl wissen, ist die Verhandlung von Anfang an manipuliert: Die ‚Richter‘ sind nichts weniger als autonom, und Filippo kann dabei nicht nur fest mit der bösen Absicht seines Ministers Gomez rechnen, sondern er kann sich auch blind auf den furchtsam-heuchlerischen Opportunismus der anderen Räte verlassen. Ein Paradebeispiel dafür ist in Alfieris Tragödie die Figur des Geistlichen Leonardo, der den vom Monarchen angeklagten Carlo auch des gotteslästerlichen Frevels beschuldigt und sich am Ende wie Gomez – und selbstverständlich im Sinne des Tyrannen – für die Todesstrafe des Angeklagten ausspricht. Der Regisseur und Schauspieler Filippo kann sich den ästhetischen Genuss leisten, der darin besteht, seine Untertanen als willige Marionetten im eigenen Theaterspiel agieren zu lassen: Der Monarch genießt umso mehr seine Allmacht, als er sich nicht um die Stichhaltigkeit seiner Darstellung zu kümmern braucht. Denn Filippo ist sich darüber im Klaren, dass er selbst die Indizien preisgeben könnte, die seine Darstellung unglaubwürdig machten. Kaum jemand würde sie gegen den absoluten Herrscher geltend machen wollen – und jedenfalls am Ende auch können. Was sich in aller Deutlichkeit zeigt, ist allerdings, dass keine Form von Widerstand, wäre es auch
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Vgl. Alfieri: Filippo, 55f. „Opra tremenda è questa; / Ben libratela, o giudici: da voi / Del figlio io chieggo,... e in un di me, sentenza.“, Alfieri: Filippo, S. 51. „Ein schrecklich Tagwerk ist’s – erwägt / Es wohl – von Euch, Ihr Richter, fordr’ich jetzt / Des Prinzen Urtheil und mein eigenes“, Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 51.
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nur der geringste, geduldet wird. Filippos Wille zur Macht verbietet nicht nur jede konkrete Einschränkung, sondern auch deren theoretische Möglichkeit. Noch bevor Filippo im zweiten Akt die Bühne betritt, ist in Alfieris Tragödie Carlos Todesurteil bereits gesprochen. Mitten im dritten Akt ist Filippo lediglich darum bemüht, dass Carlos Fall am spanischen Hof den Anschein bekommt, als ob der Monarch nicht für den Tod seines Sohnes verantwortlich wäre, ja, als ob Philipp als Vater und König dieses unerhörte Urteil vielmehr selbst über sich ergehen lassen müsste. Alfieris Tragödie lebt offensichtlich von der Spannung, die der durchdachte, ‚erhabene‘ Plan des Bösen erzeugt: Wie weit wird der Tyrann seine luzide Machtbesessenheit treiben? – fragt der Leser oder Zuschauer aus der ästhetischen Distanz, die seine leibliche Unversehrtheit garantiert. Wie wird der Tyrann seinen Plan konkret durchsetzen? Wird sich jemand doch noch trauen, gegen dieses machtbesessene „Monstrum“ zu opponieren? Wird sich die moralische Zweckmäßigkeit doch am Ende behaupten? Mit welchen Folgen? Das Schema des Sittlich-Erhabenen sieht eigentlich vor, dass das Wahre und Gute am Ende gerächt werden soll, auch wenn dies die Helden des Wahren und Guten mit dem Leben bezahlen müssen. Eine blasse Rache erfährt das Gute in Alfieris Tragödie im dritten Auftritt durch das moralische Engagement von Perez, der nicht davor zurückschreckt, den Monarchen, den er selbst für betrogen hält, über die Widersprüchlichkeit der Anschuldigungen gegen Carlo ‚aufzuklären‘. Doch stellt Filippo, den der Leser bereits aus dem aufschlussreichen Gespräch mit seinem skrupellosen Minister Gomez kennt, kein Opfer seiner Hofleute dar, sondern er ist vielmehr der allmächtige Regisseur eines Schauspiels, das er von der ersten bis zur letzten Szene fest im Griff hält. Daher muss Perez’ Versuch, den Monarchen ‚aufzuklären‘, schlichtweg naiv wirken. Und so erscheint schließlich Filippos überraschende Reaktion auf Perez’ Worte am Ende des einberufenen Gewissensrats interessanter als dessen Folgerungen und Argumente zu Carlos Verteidigung. Denn der Monarch, der gleich nach seiner pathetischen Anklagerede gegen den Sohn die „Richter“ ermutigt hatte, „kühnlich frei“ und ohne Rücksicht auf seine Vatergefühle die Wahrheit zu sprechen – „Der König nur, der Vater hört euch nicht“, 60 – freut sich nun wider Erwarten ausdrücklich nicht nur über Perez’ Wort des Erbarmens gegenüber Carlo, sondern er beruft sich dabei auch, und nicht ohne Hintersinn, just auf seine Vatergefühle: Philipp. So find’ich wenigstens bei einem noch Erbarmen! und – Erbarmen will ich üben. Denn Vater bin ich, und ich gebe dem Gefühl des Vaters nach. – Ich unterwerfe Mein Reich, mich selbst, dem unerforschlichen, 60
Alfieri: Philipp der Zweite, S. 37. „Qui non vi ascolta il padre; il re qui v’ode“, Alfieri: Filippo, S. 52.
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Dem heil’gen Rath der Vorsicht! Hat vielleicht Nach ihrer Weisheit sie beschlossen, Carlos Zum Werkzeug ihres Zornes gegen mich Zu machen; – nun so mag mein Reich – ich selbst Jedoch zuvor erst untergehen – doch er, Mein Sohn, er leb’ – ich sprech’ ihn frei! 61
Zweifellos unredlich sind offensichtlich die Vatergefühle, die Filippo an dieser Stelle unvermutet in der eigenen Brust wiederentdeckt, sowie das Erbarmen, das er gegenüber dem Sohn geltend machen will. Dass Filippos spät eintretendes Erbarmen suspekt ist – dies realisiert auch Perez, der nichtsdestoweniger bereit ist, im Angesicht des Königs die ganze ‚Wahrheit‘ zu sagen und das Fingierte an dem ‚Schauspiel‘ des Tyrannen, an dem er selbst teilnimmt, verwegen an den Pranger zu stellen: Perez. – [D]och was sag ich – ist Dem Himmel nur die Wahrheit offenbar? Les’ ich sie in den Zügen eines jeden Von diesen Männern nicht? – Doch Jeder schweigt. Denn ist, die Wahrheit hören und sie sagen Hier nicht schon längst das höchste Staatsverbrechen? 62
An dieser Stelle weist Filippo den kühnen Perez eindeutig in seine Schranken zurück. Im letzten Auftritt des dritten Aufzugs bestätigt er dann in einem Selbstgespräch indirekt, dass der ‚Rat des Gewissens‘ in Wirklichkeit dem von ihm geschriebenen Drehbuch folgt und dass die Justiz in seinem Machtbereich bloß eine Variable seines Willens zur Macht darstellt. „Hätt er vielleicht mein Inneres / Durchschaut?“ 63 – lautet die aufschlussreiche Befürchtung, die Alfieri in den Mund seines Tyrannen legt: Hat Perez die Maskerade des Monarchen durchschaut – hat er seine wahren Intentionen hinter dem aufgeführten Schauspiel erkannt und kann er sich überhaupt anmaßen, sich dadurch dem grenzenlosen Willen des Tyrannen quer zu stellen? Wie bereits erwähnt, wird die Figur des Perez nach diesem Auftritt die Bühne von Alfieris Stück nie wieder betreten. Nur die Nachricht des an ihm verübten Meuchelmordes wird dem sterbenden Carlo zur perfiden Steigerung seiner Qual am Ende noch übermittelt werden. Selbstverständlich stellt Perez an 61
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Alfieri: Philipp der Zweite, S. 43. „....Pietade al fine in un di voi ritrovo, / E pietà seguo. Ah! padre io sono; e ai moti / Di padre io cedo. Il regno mio, me stesso, / Tutto abbandono all’arbitra suprema / Imperscrutabil volontà del cielo. / Dell’ire forse di lassù ministro / Carlo esser debbe in me: pera il mio regno, / Pera Filippo pria, ma il figlio viva; / Lo assolvo io già“, Alfieri: Filippo, S. 57. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 44. „Ma che dich’io? soltanto al cielo?... / S’io volgo intento a me dattorno il guardo, / Non vegg io che ciascuno appien sa il vero? / Che il tace ognuno? e che l’udirlo, e il dirlo, / Qui da gran tempo è capital delitto?“, Alfieri: Filippo, S. 57. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 45. „Penetrato ei forse / Il cor mi avesse?...“, Alfieri: Filippo, S. 58f.
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keiner Stelle in Alfieris Tragödie eine konkrete Gefahr für Filippos absolute Herrschaft dar. Diese Figur zeigt allerdings einmal mehr, welche Qualität der entgrenzte Wille zur Macht von Alfieris ‚Tyrann‘ besitzt und liefert schließlich auch nützliche Anhaltspunkte für die Deutung der zum Teil überraschenden Reaktion des Monarchen am Ende der Tragödie. „Alles / Weiß hier der König“, 64 wird Carlo im letzten Aufzug zu Isabella sagen, die noch wähnen wird, dem eingekerkerten Prinzen hinter dem Rücken seines übermächtigen Vaters auf die Flucht verhelfen zu können. Alfieri insistiert auf die Allwissenheit seines Tyrannen Filippo – eine Allwissenheit, die er gerne auch für seine theatralischen Zwecke einsetzt. Mitten in der Nacht überrascht der von bewaffneten Soldaten begleitete Monarch im vierten Akt der Tragödie seinen auf eine Vertraute Isabellas wartenden Sohn. Filippo beschuldigt den Prinzen dabei des Vatermordversuchs und lässt ihn am Ende hinter Schloss und Riegel bringen. Hinter dem entrüsteten Einsatz des Tyrannen ist hier allerdings vor allem in aller Deutlichkeit sein sadistischer Hang zu erkennen. Derselbe Hang, der sich dann gleich auch in seiner doppeldeutigen Redeweise der Königin gegenüber widerspiegelt: Philipp. Ihr werdet blaß – Es zittert meine Gattin vor dem Anblick! Isabelle. Ich zittre? Philipp. Und nicht ohne Grund. – Dies Zittern Ist kein geringes Zeichen mir – von Liebe – Zu dem Gemahl, – für ihn erzittert ihr – Doch Königin, beruhigt euch, vorüber Ist die Gefahr. 65
Seinen theatralisch wirkungsvollsten Bühnenauftritt erlebt Filippo allerdings im fünften Akt von Alfieris Tragödie, und es ist kein Zufall, dass sich gerade an den letzten Auftritten von Alfieris Filippo sowohl die Unzulänglichkeit der traditionellen moralisch zentrierten Deutung des Dramas in besonderer Weise veranschaulichen als auch die wesentlich größere Tragweite einer vor dem Hintergrund einer heroischen „Moral des Nihilismus“ verorteten Interpretation plastisch verdeutlichen lässt. Im zweiten Auftritt des fünften Aktes findet ein letztes verstohlenes Gespräch zwischen Isabella und dem bereits eingekerkerten Infanten statt. Carlo hat soeben 64 65
Alfieri: Philipp der Zweite, S. 64f. „Filippo / Qui tutto sa“, Alfieri: Filippo, S. 81. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 52. „Filippo: La mia consorte impallidisce, e trema, / Nel veder trarre?... // Isabella: Io tremo? // Filippo: E n’hai ben donde. – / Il tuo tremar…. dell’amor tuo…. non lieve / Indizio m’è…. Pel tuo.... consorte or tremi: / Ma, riconforta il cor; svanì il periglio“, Alfieri: Filippo, S. 67.
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das Wort „Todesstunde“ gesprochen, als der absolute Monarch bei dem Laut wie heraufbeschworen in die Szene hereinbricht und die ehemaligen Verlobten bei ihrer unerlaubten Zusammenkunft in flagranti ertappt. Der Herrscher vervollständigt dabei auf seine Weise jenen unterbrochenen Satz „L’ora di morte....“, 66 den Carlo noch an Isabella gerichtet hatte, indem er sagt: „Erschienen ist sie schon die Todesstunde, / Verräther, dir sie anzukündigen, / Siehst Du mich hier!“. 67 Auch dank des Ministers Gomez, der seinen hinterhältigen Part mit Bravour gespielt hat, ist die Strategie des Tyrannen am Ende aufgegangen. Der Regisseur Filippo, der die ganze Tragödie hindurch seinem Sohn und seiner Frau aufgelauert hat, kann nun seine Maske als Schauspieler ablegen und seinen Sieg demonstrativ feiern. Was die hinter dem Rücken des Königs intrigierenden, ehemaligen Verlobten nun zu erwarten haben, wird sowohl ihnen als auch dem Leser schon beim theatralischen Erscheinen des Monarchen im fünften Auftritt unmittelbar klar. Was Filippo dagegen mit ihnen unmittelbar vorhat, erklärt der Monarch selbst zum allseitigen Verständnis: Bevor das „verbrecherisch[e] Paar“ stirbt, soll es sozusagen noch seine Wortrute zu spüren bekommen – es soll seine „zentnerschwere[n] Worte“ des „Zornes“ vernehmen und dem Tyrannen dabei den Genuss seiner Übermacht verschaffen. „Mich kützelt’s / Zuvor an eurer Scham mich noch zu weiden“, 68 sagt Filippo zu allem Überfluss explizit, wobei der klare sadistische Hang von Alfieris Tyrannen einmal mehr in den Mittelpunkt drängt. Man hat es hier mit dem ernsten Spiel eines satten Raubtiers zu tun, das dem Genuss der eigenen Macht noch beim Quälen seiner Beute frönt. Bei der Analyse von Filippos züchtigenden Worten an Carlo und Isabella verdient allerdings jene tiefe Einsicht besondere Aufmerksamkeit, die Alfieri in die Psychologie dieses ‚Raubtiers‘ – seines allerersten ‚Tyrannen‘ – gewährt. Filippos ‚Eifersucht‘, die man allzu schnell als Ursache und Trieb seines Rachedursts vermuten könnte, ist zunächst einmal einer näheren Betrachtung wert. Gleich am Anfang seiner Strafpredigt sagt Filippo, dass ihm wohl lange die „fragwürd’ge Flamme“ („orrida fiamma“) bekannt gewesen sei, die den Prinzen und seine Stiefmutter „vor Liebe“ und ihn selbst „vor Zorn“ („furor“) „verzehr[e]“. 69 Kurz danach heißt es: „Nicht / Beklagen, aber rächen will ich mich. / Vollständig, unerhört soll diese Rache / Auf euch Verbrecher fallen!“. 70 Filippos Wortwahl suggeriert zunächst, dass sich der ‚betrogene‘ Tyrann aus Eifersucht rächen wolle. Indes verschätzt man sich gewaltig in der Qualität von Filippos 66 67 68
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Alfieri: Filippo, S. 85. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 68. „Ora di morte è giunta: / Perfido, è giunta: io te l’arreco.“, Alfieri: Filippo, S. 85. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 69. „Mi giova intanto / Goder qui di vostr’onta“, Alfieri: Filippo, S. 86. „Indeß will ich mich freu’n / An Eurer Schmach – an Eurer Angst mich laben! –“, lautet die entsprechende Übersetzung in: Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 92. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 69. Alfieri: Filippo, S. 86. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 69. „Vendetta vuolsi; e avrolla io tosto; e piena, / E inaudita l’avrò“, Alfieri: Filippo, S. 86.
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Machtwillen, wenn man glaubt, dass der Monarch hier wie ein beliebiger hintergangener Ehemann „von Eifersucht gehetzt“ 71 wäre – ja, dass er nicht umhin könne, „seine ehelichen Rechte bis aufs Äußerste zu verteidigen – Rechte, die er seinerzeit mit einem Gewaltakt erworben“ habe. 72 Die Quelle von Filippos Rachedurst ist hingegen viel prinzipieller Natur: Erst wenn man sich klar macht, dass es hier primär weder um das Gefühl der ‚Liebe‘ noch um die Eifersucht auf einen jüngeren Rivalen geht, sondern um den Willen nach unbegrenzter Bestimmung über Andere, inklusive deren Gefühle, erklärt man sich auch die abschätzigen Worte, die Filippo an gleicher Stelle an seine Frau Isabella richtet: Verruchtes Weib! o glaube nicht, daß je Ich dich geliebet habe; glaube nicht, Daß eifersücht’ge Wuth gequält mich hat. Auf einen so verworfnen Gegenstand Kann Philipp’s hohe Liebe nimmer fallen; Wer sie verdient, kann nimmer ihn verrathen! Den König, den Geliebten nicht, hast Du In mir beleidiget; den heil’gen Namen Gemahlin hast du Schändliche beschimpft. Nie hab’ ich noch nach deiner Liebe mich Gesehnt; allein die Furcht vor meinem Zorn Hätt’ dein Gemüth so ganz erfüllen sollen, Um keiner andern Liebe Raum zu lassen. 73
Man mag sich fragen, warum Alfieris Filippo mit so klaren Worten deutlich machen will, dass es ihm eigentlich nicht um eine Frau – oder gar seine Frau – zu tun ist, sondern um ein Prinzip, und dass in seinem Fall von ‚Liebe‘ und ‚Eifersucht‘ in einem konventionellen Sinn nicht die Rede sein kann. Offensichtlich kann der tyrannische Regisseur nicht akzeptieren, dass Menschen, die seiner Macht unterworfen sind, autonom agieren – ja, dass sie sich gar Emotionen und Gefühle, welcher Art und Intensität auch immer, erlaubten, die von ihm selbst, dem absoluten Monarchen, absehen. So stellen die Träger dieser Gefühle am Ende bereits als 71 72
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Anna Chiarloni: Filippo e Don Carlos, S. 116 (Übers. P.P.). Ebd. Doch hat in der Alfieri-Forschung unter anderen Giuseppe Antonio Camerino deutlich darauf hingewiesen, dass die Eifersucht, die in der Nouvelle H istorique des Abbé Saint-Réal noch eine wichtige Rolle spielte, bei Alfieri „keinesfalls die entscheidende Leidenschaft der tragischen Handlung darstellt“, Giuseppe A. Camerino: Infelicità, innocenza, pietà: Il Filippo, S. 440 (Übers. P.P.). In seiner Betrachtung über seine Tragödien schreibt im Übrigen Alfieri selbst, dass Filippo „eifersüchtig ist, doch nicht aus Liebe“ und dass er vielmehr „hochmütig, rachsüchtig und grausam“ sei, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 84 (Übers. P.P.). Das Motiv der Eifersucht des Königs spielt dagegen weiterhin in Schillers Don C arlos eine wichtige Rolle. Vgl. dazu auch Di Benedetto: Il dandy e il sublime, S. 27f. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 69. „Iniqua donna, / Nol creder già, che amata io t’abbia mai; / Nè, che gelosa rabbia al cor mi desse / martíro mai. Filippo, in basso loco, / Qual è il tuo cor, l’alto amor suo non pone; / Nè il può tradir donna che il merti. Offeso / In me il tuo re, non il tuo amante, hai dunque. / Di mia consorte il nome, il sacro nome, / Contaminato hai tu. Mai non mi calse / Del tuo amor; ma albergare in te sì immenso / Dovea il tremor del signor tuo, che tolto / D’ogni altro amor ti fosse anco il pensiero. –“, Alfieri: Filippo, S. 86.
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solche die Macht des Tyrannen in Frage – was unweigerlich die vernichtende Reaktion des unbeschränkten Herrschers hervorruft. Die Macht des Tyrannen erstreckt sich nicht nur auf die Taten, sondern auch auf die Herzen der Menschen – jene Herzen, die Alfieris Filippo nicht von ungefähr stets durchschaut haben will. Vor diesem Hintergrund wird schließlich auch Carlos ‚Verbrechen‘ deutlich – ein ‚Vergehen‘, das nicht in die Tat umgesetzt zu werden braucht, weil es schon im Herzen des Infanten schändlich die Allmacht des Tyrannen in Frage gestellt hat. So sagt Filippo: Ich weiß, Wie weit ein jeder im Verbrechen ging! Zum väterlichen Bett’ erhobst Du [Carlo] kaum Den frevelhaften Wunsch – und lebtest Du, Wofern es anders wär’? – Doch sprich – entfloh Das Wort verruchter Liebe Deinem Mund – Und hat sie’ s nicht gehört? Nun, das genügt! 74
Aus demselben Grund kann Filippo selbstverständlich auch Isabella schuldig sprechen. Der Monarch gibt offen zu, dass er die Königin vom zweiten Akt an stets auf die Probe gestellt hat, indem er mit ihr „ad arte“, 75 „mit Vorbedacht“, von seinem Sohn gesprochen habe. Aus ihrer Reaktion habe er allzu wohl schließen können, was sie in ihrem Herzen verschlossen gehalten habe. An dieser Stelle bringt die Königin mit treffenden Adjektiven ihre Empörung gegenüber dem Monarchen zum Ausdruck: Sein Herz sei „unglaubwürdig“, „unaufrichtig“, „grausam“, „rabiat“. 76 Und in diesem Moment, da die Königin einsieht, dass ihr Gemahl ungerechter ist als ihre unterdrückte Leidenschaft, schöpft sie Kraft, um ihre Liebe zum Prinzen, jene doch aufrichtige Liebe, die sie davor selbst für sträflich gehalten hatte, endlich zuzugestehen. Der Leser kann sich dabei zwar mit der moralischen Würde der Königin zufriedengeben. Wenn er sich doch nicht gleich von der ‚Würde‘ der Königin blenden lässt, muss er dennoch feststellen, dass alles, was bis zu diesem Moment in Alfieris Tragödie geschehen ist, immer noch vom Regisseur Filippo bestimmt wurde. Denn selbst die Möglichkeit eines sittlich-erhabenen Gestus – Carlo versucht etwa selbstlos, Isabella das Leben zu retten, indem er die ganze Schuld auf sich nimmt; ihrerseits entscheidet Isabella, ihre Liebe zu gestehen und mit Carlo zu sterben – ist hier ausschließlich in einem von Filippo strikt definierten Rahmen gegeben.
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Alfieri: Philipp der Zweyte von Spanien, S. 93. „Fin dove ognun di voi / Giungesse, io ’l so; so, che innalzato ancora / Tu non avevi al talamo paterno / L’audace empio pensiere; ov’altro fosse, / Vivresti or tu?... Ma, dalla impura tua / Bocca ne uscì d’orrido amor parola; essa l’udía; ciò basta“, Alfieri: Filippo, S. 87. Alfieri: Filippo, S. 88. So Isabella im Original: „Stupore alto m’ingombra / Del non credibil tuo doppio, feroce, / Rabido cor“, ebd.
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Das sadistische Spiel des titelgebenden ‚Raubtiers‘, das Carlo im letzten Auftritt der Tragödie explizit einen „Tiger“ 77 nennt, ist aber zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch nicht zu Ende. „Bald wird sich’s zeigen“, so der Monarch mit herausfordernder Haltung, „Ob so kühn ihr seyd im Sterben als im Sprechen“. 78 Auch die Wahl des Mittels, mit dem sich Carlo und Isabella den Tod geben sollten – entweder mit Gift oder mit dem Dolch, mit dem Perez ermordet wurde –, ist in Filippos Drehbuch vorgesehen. Zwar überlasst Carlo dabei Isabella edelmütig den Becher mit dem Gift und entscheidet sich für den Dolch – und wählt wohl für sich einen viel schmerzvolleren Tod. Fakt ist dennoch, dass auch diese (Edel)Tat – die im Grunde die einzige ist, die dieser ‚Held der Untätigkeit‘ in Alfieris Tragödie vollzieht – in einem von Filippo festgelegten Rahmen ausgeführt wird. Noch mehr: Wie sich bald zeigt, ist auch Filippos Entscheidung, Carlo zuerst seine Todesart wählen zu lassen, weiterhin Teil einer präzisen Strategie. Nachdem sich der Prinz erdolcht hat, führt Alfieris Tyrann das aus, was er sich schon vor dieser Szene vorgenommen, und sich nicht hatte anmerken lassen. 79 Zur weiteren Steigerung der Qual sowohl des sterbenden Sohns als auch der Königin lässt er den Becher mit dem Gift unerwartet entfernen und befiehlt dabei, dass Isabella doch noch weiterleben soll – zumindest so lange, bis er sich nicht anders entscheiden werde. So sagt Filippo zu Isabella: Getrennt von ihm wirst deine Tage In Thränen du verleben. Weiden will Ich mich an deinem langen Schmerz. – Erst dann, Wenn der verbrecherischen Liebe Flammen In deiner Brust verloschen sind und dir Auf’s neu’ das Leben lächelt, dann will ich Den Tod dir geben, Buhlerin! 80
Kein anderer Satz als dieser vermag vielleicht die Psychologie von Alfieris ‚Tyrannen‘ besser zu veranschaulichen. Kein anderer Satz als dieser fasst den Schwindel von Filippos Machtwillen sowie sein ‚erhabenes‘ Streben besser zusammen, die ganze Welt in die Grenzen eines von ihm durchdachten Machtplans zu zwingen. So lässt sich feststellen, dass man bereits in Alfieris erster Tragödie bei dieser Figur einen festen Zielpunkt erreicht. Denn zum einen lässt Alfieris Tragödie im späten Jahrhundert der Aufklärung einen besonderen, nach absoluter Macht und Größe strebenden Menschentypus in Erscheinung treten – einen Menschentypus, der sich nicht von ungefähr vor dem Hintergrund jener heroischen ‚Moral des 77 78 79 80
„Oh! Possa / Mio sangue sol spegner la sete ardente / Di questo tigre!“, Alfieri: Filippo, S. 90. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 73. „Resta a veder, se nel morir voi siete / Forti, quanto in parlar.…“, Alfieri: Filippo, S. 89. Man kann daher nicht mit Di Benedetto sagen, dass Filippo hier „seine Absicht gewechselt“ hätte, Di Benedetto: Il dandy e il sublime, S. 35. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 75. „Da lui disgiunta, / Sì, tu vivrai; giorni vivrai di pianto: / Mi fia sollievo il tuo lungo dolore. / Quando poi, scevra dell’amor tuo infame, / Viver vorrai, darotti allora io morte“, Alfieri: Filippo, S. 91f.
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Nihilismus‘ erklären lässt, die sehr wohl bei der Endlichkeit des Menschen sowie von der „Relativität und Fiktivität aller Werte“ 81 ihren Ausgang nimmt. Zum anderen wird gerade an Alfieris Protagonisten – diesem kalt kalkulierenden Regisseur und Schauspieler – besonders deutlich, dass das entgrenzte Machtstreben, das mit dem Sinn für die unüberwindbare Sterblichkeit des Menschen korreliert, gerade die Rolle des Ästhetischen aufwertet, was schließlich auch die literarische Praxis und Einstellung des Autors und Theaterdichters selbst ab dem späten 18. Jahrhundert direkt hinterfragen muss. Den grenzenlosen Schwindel der Macht von Alfieris Filippo kennt man inzwischen zu Genüge. Am Ende seiner Tragödie hält der italienische Dichter allerdings noch einen signifikanten coup de théâtre bereit, der wiederum mit dem Machtstreben des Tyrannen in einem engen Zusammenhang steht. Das betrifft Isabellas Reaktion auf die perfide Entscheidung des Despoten, sie solle zunächst doch noch am Leben bleiben, nachdem Carlo tot ist. Denn erst wenn sie, wie Filippo sadistisch beteuert, sich nach dem Verlust ihres Geliebten mit dem Leben wird versöhnt haben, wird der Monarch auch endgültig ihre Todesstunde schlagen lassen. Nachdem Isabella die Tücke ihres Peinigers realisiert hat, bricht sie stotternd in folgende Worte aus: Ich soll An eurer Seite leben? Euern Anblick Ertragen? – Nimmermehr! – Willkommen Tod! – Das mir versagte Gift ersetz’ dein Dolch! 82
Unvermittelt stürzt sich Isabella auf Filippos Dolch und folgt somit ihrem geliebten Carlo in den Tod. In der Forschung – vor allem dort, wo an Benedetto Croces These angeknüpft wurde, Alfieri sei als ein „protoromantico“ zu betrachten – wurde auf das romantische Motiv des Liebestodes zurückgegriffen, um Isabellas Suizid zu deuten. Wie Porcia würde sich Isabella entleiben, „um nicht neben Brutus leben zu müssen“ – dabei, „wie Shakespeares Juliet und später Wagners Isolde“, würde sie doch „im Tod ihre fröhliche Identität einer Verliebten behaupten“. 83 Wenn man die lange Entstehungsgeschichte von Alfieris Tragödie zurückverfolgt, merkt man, dass das Motiv von Isabellas ‚Liebe‘ in der Schlussszene der früheren Fassungen durchaus eine bedeutendere Rolle spielte. 84 Auch lauten Isabellas allerletzte Worte in der endgültigen Fassung der Tragödie noch „Ich folge dir, geliebter Carlo“. 85 Was die letzte Fassung der Tragödie angeht, so bleibt allerdings fraglich, 81 82 83 84
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Kondylis: Die Aufklärung, S. 494. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 75. „Viverti al fianco?... io sopportar tua vista?... / Non fia mai, no.... Morir vogl’io.... Supplisca / Al tolto nappo.... il tuo pugnal.... “, Alfieri: Filippo, S. 92. Chiarloni: Filippo e Don Carlos, S. 120 (Übers. P.P.). Vgl. die „französische“ und „italienische Niederschrift“ in Prosa (Vittorio Alfieri: Filippo, S. 190–193), die erste Fassung in Versform (ebd., S. 274f.) sowie die zweite und dritte Fassung in Versform (ebd., S. 448–451). „Ti sieguo, amato Carlo….“, Alfieri: Filippo, S. 92.
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ob hier eher die Liebe zum Infanten die junge Isabella in den Tod drängt – oder ob nicht vielmehr ihr regelrechtes Entsetzen vor der Perspektive, neben Filippo, und dann nach dessen völligem Belieben, weiterleben zu müssen. Es steht jedoch fest, dass Isabella – vor die Alternative gestellt, mit Filippo zu leben oder gleich zu sterben – sich ohne zu zögern für den Tod entscheidet. Wie dem auch sei: Die Betrachtung von Isabellas ‚Liebe‘ zum Prinzen aus einer kritischen Distanz heraus ist jedenfalls zu begrüßen, weil sie es ermöglicht, mit anderen Augen auf die letzte Szene von Alfieris Tragödie zu blicken. Denn abgesehen davon, wie Isabellas Selbstmord zu begründen sei: Ihr Suizid ist die einzige ‚Tat‘ in Alfieris Tragödie, die explizit gegen den Willen des Tyrannen – ja, seiner ‚Allmacht‘ ganz zum Trotz – ausgeführt wird. Man könnte gar sagen: Ihr plötzlicher Selbstmord stellt die einzige Tat dar, die nicht in Filippos ‚Drehbuch‘ vorgesehen worden war. Der Regisseur Filippo, in dessen Mund Alfieri aus gutem Grund auch die allerletzten Worte seiner Tragödie legt, sagt zwar ganz zum Schluss, dass er (wörtlich) „volle schreckliche Rache“ 86 bekommen habe. Dennoch hatte er sich eigentlich bis kurz davor seine „volle Rache“ anders vorgestellt. Indem sich Isabella am Ende Filippos ‚Allmacht‘ doch entzieht, und sei es nur, um sich in den Tod zu stürzen, beweist sie, dass die menschliche ‚Allmacht‘ des Tyrannen als solche doch Grenzen kennt – ja kennen muss. Vor diesem Hintergrund wird die rhetorische Frage, die Filippo ganz zum Schluss von Alfieris Tragödie stellt, in ein durchaus anderes Licht gerückt. Zum ersten und zum letzten Mal stellt Alfieri hier seinen sonst äußerst selbstsicheren Tyrannen als einen in seinem Innersten betroffenen Menschen dar. Denn gleich nachdem Filippo festgestellt hat, dass er seine „volle Rache“ mit dem Tod beider Liebenden befriedigt habe, fragt er: „Doch – bin ich glücklich?!“. 87 Und bei dieser unerwarteten Frage am Ende von Alfieris Filippo lohnt es sich, auch in unserem Rahmen noch einen Augenblick zu verweilen. Die Gegenüberstellung der verschiedenen Textfassungen der Tragödie macht deutlich, dass Filippos Frage erst bei der zweiten versifizierten Fassung des Filippo eingeführt wurde. 88 In der ersten Fassung in Versform hatte der Tyrann noch das Blutbad explizit bereut, das er ja selbst zu verschulden hatte. Dabei hatte er moralisierend hinzugefügt, dass es wohl zutreffe, dass kein „Frieden aus Verbrechen“ entstehen könne. 89 In den letzten Fassungen seiner Tragödie hat Alfieri dagegen der späten Reue des Tyrannen offensichtlich weniger Platz einräumen wollen: Dieses Gefühl kann aus Filippos Betrachtung des angerichteten Blutbads und aus seiner rhetorischen Frage, ob er ‚glücklich‘ sei, lediglich herausgelesen werden.
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„Ecco, piena vendetta orrida ottengo;...“, ebd. Alfieri: Philipp der Zweite, S. 76. „Ma, felice son io?...“, Alfieri: Filippo, S. 92. Vgl. Alfieri: Filippo, S. 450. „Ah che purtroppo è ver, che mal s’ottiene / La pace dai delitti!“, ebd., S. 275.
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Es ist nicht ohne Interesse, dass Ranieri de’ Calzabigi gerade Filippos späte Betroffenheit gegenüber Isabellas und Carlos Tod in seinem Brief von 1883 über Alfieris erste vier Tragödien kritisierte. Was den Ausgang der Tragödie betrifft, hätte sich Calzabigi, wohl aus seiner moralischen Lektüre von Alfieris Tragödie heraus, gewünscht, dass Alfieris Filippo zum Schluss sozusagen – ‚Filippo‘ geblieben wäre: Dass er nämlich, wie er schreibt, seinen Minister Gomez entfernt und sich allein am „grausigen Spektakel des toten Sohnes und der toten Gattin“ 90 geweidet hätte; dass er frohlockend und wohlgefällig seine ungeheuerliche Rache mit grausamen höhnischen Worten befriedigt hätte; dass er Isabellas und Carlos Unschuld – sowie die Tatsache, dass er sie lediglich zum Opfer „seiner schwarzen Eifersucht“ gemacht 91 – offen erklärt hätte. Bei dem „entsetzlichen Charakter“ des Tyrannen hätte man somit „die letzten Pinselstriche“ 92 angesetzt: Man hätte diese Figur am Ende als noch verabscheuungswürdiger dargestellt – was der grausame Tyrann allerdings vollkommen verdient hätte. In seiner Antwort auf Calzabigis Brief geht Alfieri auf die aufgeworfenen Kritikpunkte, die auch andere Textpassagen betreffen, einzeln ein, 93 wobei er allgemein, bei allen rhetorischen Zugeständnissen, entschieden seine dramaturgischen Entscheidungen verteidigt. Was insbesondere den Ausgang seiner Tragödie anbelangt, hätten ihn Calzabigis Änderungsvorschläge, wie der Dichter schreibt, nicht überzeugen können: Auch wenn sich Filippo am Ende nicht über den Tod von Isabella und Carlo offen freue, was übrigens vom Theaterpublikum womöglich auch nicht toleriert würde, sei seine Grausamkeit evident, wenn man den Zeitpunkt berücksichtige, da seine ‚Reue‘ eintritt. Denn von den letzten fünf Versen, mit denen Filippo die Tragödie abschließt, stellten die ersten drei, so Alfieri weiter, „ein Drama der Reue“ dar. 94 Diese Verse habe er einführen wollen, um zu zeigen, dass Filippo, obwohl äußerst verwerflich, doch auch ein „Mensch“ sei. Dies sei notwendig, um nicht „aus der Natur auszutreten“. 95 Außerdem sei der Autor darum bemüht gewesen, Filippo als „unglücklich“ darzustellen – was man nur „unter dem stärksten Einfluss der Reue“ sein könne. Ganz zum Schluss sei Filippo dann wohl sich selbst treu geblieben: Nachdem er das von ihm selbst verursachte Blutbad halbwegs 96 bereut habe, drohe er Gomez an, auch sein Blut zu vergießen, würde dieser die Angelegenheit nicht für sich behalten. Mit Bezug auf Calzabigis und Alfieris kritische Betrachtungen über den Filippo sind zwei Aspekte hervorzuheben. Zum einen, dass Calzabigis Kritik, die auf einer moralisch zentrierten Lektüre von Alfieris Tragödie basiert, den Grundton 90 91 92 93 94 95 96
Ranieri de’ Calzabigi: Lettera, S. 205 (alle Übers. P.P.). Ebd. Ebd. Vgl. Alfieri: Risposta dell’Alfieri al Calzabigi, S. 220f. (alle Übers. P.P.). Ebd., S. 221. Ebd. Von „leggerissimo pentimento“ ist in Alfieris „Risposta“ die Rede, S. 221.
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des Meinungswechsels bestimmt. Zum anderen, dass Alfieri jenes Element der ‚Reue‘ des Filippo, das er in den früheren Fassungen der Tragödie viel deutlicher herausgestellt hatte, hier stark machen muss, um den von ihm konzipierten Ausgang der Tragödie im Rahmen von Calzabigis auf moralische Besserung ausgerichteter Kritik zu verteidigen. Stimmt es aber tatsächlich, dass man – wie Alfieri im Hinblick auf seinen Filippo apodiktisch behauptet – nur „unter dem stärksten Einfluss der Reue“ „unglücklich“ sein könne? Und passt jene Reue überhaupt zum sadistischen Regisseur und Schauspieler, den Alfieri am Beispiel des ‚Tyrannen‘ Filippo seine ganze Tragödie hindurch dargestellt hat? Gerade die letzten Textfassungen, in denen der Dichter die Reue seines Tyrannen in den Hintergrund gedrängt hat, laden dazu ein, in einer Zusammenschau der Figur des Filippo nach anderen Gründen für seine plötzlich eintretenden, dafür kaum einen Augenblick währenden Zweifel darüber zu suchen, ob ihn seine volle Rache wirklich ‚glücklich‘ gemacht habe. Filippos grenzenloses Machtstreben, das in unserem Rahmen hervorgehoben wurde – ja, jene uneingeschränkte Machtbesessenheit dieses Tyrannen, die offensichtlich weit über das Politische hinausgeht und bis ins Philosophisch-Existenzielle reicht, 97 deutet darauf hin, dass auch Filippos rhetorische Frage am Ende der Tragödie vor dem Hintergrund seines totalitären Machtverständnisses zu interpretieren ist. Was sich dabei resümierend feststellen lässt, ist Folgendes: In dem Augenblick, da Filippo die Frage nach dem Glücklich-Sein stellt, zeigt sich der Tyrann fraglos als „Mensch“ in der Natur, wie Alfieri an Calzabigi geschrieben hatte. Doch bedeutet dies nicht, dass er nun ein ‚schuldbewusster‘ Mensch wäre, sondern vielmehr, dass er sich dabei zum ersten Mal in Alfieris Tragödie als ein durchaus fehlbares, endliches, strikten Grenzen unterworfenes Wesen auffasst. Der strenge Regisseur, der das ganze Schauspiel seines Lebens mit eiserner Faust beherrscht hat, stößt am Ende von Alfieris Tragödie an seine Grenzen. Bereits mit Isabellas Suizid muss er seine erste Niederlage einstecken – offensichtlich konnte sich das sadistische Kalkül und der Machtwahn des Tyrannen dabei mehr vorstellen, als das, was er dann wirklich zu realisieren vermochte. Aber die eigentliche Grenze, mit der Filippo zum Schluss konfrontiert wird, stellt der Tod dar. Denn der Tod, selbst der Tod des Feindes, setzt dem uneingeschränkten Machtwillen des Tyrannen eine notwendige, natürliche Grenze: Mit dem Tod des Opfers endet paradoxerweise auch der Machtbereich seines Peinigers. Der sich allmächtig wähnende Regisseur, der die erhabene Gewalt eines großen Plans in seinen Gedanken weit mehr vergrößern kann als in der den Gesetzen der Natur unterworfenen Wirklichkeit, muss zusehen, wie das von ihm geführte ‚Schauspiel‘ doch nicht unendlich sein kann. Da nur die Steigerung der Macht für ihn Glück bedeutet, muss der Tyrann selbst die Frage stellen, ob er dort glück97
Zu Recht wurde in der Forschungsliteratur behauptet, dass Filippo jenen principe im Sinne Machiavellis verkörpert, der allerdings kein „Mittel“ zum Aufbau des Staates darstellt, sondern sich selbst zum „Zweck“ geworden ist, Barsotti: Alfieri e il teatro tragico, S. 217 (Übers. P.P.).
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lich sei, wo eine viel stärkere Naturmacht als er offensichtlich die Regie führt. So schließt Alfieris Filippo mit einer unerwarteten und dabei durchaus signifikanten Wendung ab: In der Tragödie, in der ein tyrannischer Regisseur seine erhabene Übermacht zelebriert und sie dabei an den anderen Figuren sadistisch auslebt, bleibt zum Schluss allein seine grundsätzliche Ohnmacht gegenüber den unbezwingbaren Grenzen der Natur in der Bühnenmitte.
III. Königin Maria Stuart 1. Die unheroische Moral des romantischen Nihilismus. Schillers Maria Stuart „Lo Schiller, nei suoi drammi ammirati, nel Wallenstein, nella Stuarda, nel Tell, non è altro che un Alfieri raffreddato, composto, temperato, colto, riflessivo, non più poeta; e all’Alfieri poetico è strettamente affine nei sui drammi giovanili […]“. 1 Einen geradezu ‚unpoetischen‘ Dichter, und das heißt einen „kühlen, gefassten, gemäßigten, kultivierten, besonnenen Alfieri“ nennt Benedetto Croce in Poesia e non poesia den deutschen Autor der „bewunderten Dramen“ Wallenstein, Maria Stuart, Wilhelm Tell. Offensichtlich nimmt Croce an dieser Stelle den ‚klassischen‘ Schiller aufs Korn; mit dem durchaus positiv verstandenen „poetischen Alfieri“, den Croce interessanterweise als einen italienischen ‚Stürmer und Dränger‘ versteht, sei Schiller dagegen in seinen Jugenddramen aufs Engste verwandt gewesen. Das, was Croce an den Werken des späten deutschen Theaterdichters feststellt und dabei kurzerhand für ‚undichterisch‘ erklärt, ist gerade jene „klassische Mäßigung“ 2, die in der Forschungsliteratur gerne mit dem „Humanitätsideal der Weimarer Klassik“ 3 in Zusammenhang gebracht wird. Von der augenfälligen ‚Mäßigung‘ des ‚klassischen‘ Schiller soll auch in unserer Beschäftigung mit den späten Dramen Wallenstein (1800) und Maria St uart (1801) ausgegangen werden, wobei die zuletzt verfasste Maria Stuart, die als das „am strengsten gebaute“ Drama Schillers gilt, 4 zuerst behandelt werden soll. Die Auseinandersetzung mit diesem Werk, in dessen Mittelpunkt zwei Frauengestalten stehen, erweist sich auch als ein brauchbarer Einstieg in die Analyse der Wallenstein-Trilogie, in der sich der ‚klassische‘ Schiller mit der historischen Figur eines Mannes, Feldherrn und Generals und mit einem verwickelten Geflecht von Machtansprüchen befasst. Wenn die „Deuter“ der Maria Stuart von Schillers „Handlungsführung mit ihrer formal-artistischen Technik der vielleicht allzu kalkulierten Parallelisierung, Kontrastierung und Symmetrierung von Szenen, Personen, Wechselreden und 1 2 3
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Croce: Alfieri, S. 20. Paul Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen. Berlin 2004, S. 301. Ebd., S. 302. Zum Humanitätsideal der Weimarer Klassik vgl. neuerdings auch: Volker C. Dörr u. Michael Hofmann (Hg.): „Verteufelt human“? Zum Humanitätsideal der Weimarer Klassik. Berlin 2008. So bereits Benno von Wiese im Jahr 1959 in Deutschland (zitiert aus: Gert Vonhoff: Maria Stuart. Trauerspiel in fünf Aufzügen (1801). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): SchillerHandbuch, S. 153–168, hier S. 161). Auch der Vater der italienischen Germanistik Ladislao Mittner, der sich allgemein sehr kritisch gegenüber Schillers Werk in seiner mehrbändigen Geschichte der deutschen Literatur zeigt, nennt Maria S tuart geradewegs „das Meisterwerk von Schillers klassischem Theater“, Ladislao Mittner: Storia della letteratura tedesca. II. Dal pietismo al romanticismo (1700–1820). Torino 1971. Bd. 2, S. 592.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-020
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Positionen“ in „die Irre geführt“ wurden 5 – und wenn auch der Umstand, dass „nahezu sämtliche Figuren“ in Schillers Trauerspiel „mit zwei Zungen sprechen“, 6 bei den Interpreten reichlich für Verwirrung gesorgt hat, so vermag das in unserem Rahmen bereits in Bezug auf Karlos und Posa angewandte Deutungsschema von ‚Eros‘ und ‚Wille zur Macht‘ – oder ‚Macht‘ und ‚Ohnmacht‘ 7 – auch in diesem Fall durchaus Licht in zentrale Aspekte von Schillers spätem Trauerspiel zu bringen – in primis, was die Königinnen und ‚Schwestern‘ als einzelne Hauptfiguren sowie was ihr gegenseitiges Verhältnis anbelangt. Insbesondere gilt es hier, von dem größten Teil jener Interpreten der Maria Stuart deutlich Abstand zu nehmen, die, meist mit christlichen Deutungsmustern bewaffnet, sich Schillers Trauerspiel zugewendet und dabei versucht haben, die Quadratur des Kreises zwischen Schillers ‚klassischem‘ Drama und dessen ästhetischen Theorien zu erzielen. 8 Kein Wunder: In den einflussreichsten Studien über Schillers spätes Trauerspiel 9 wurde nicht selten eine forcierte Übersetzung der christlichen Elemente der Maria Stuart in Schillers säkularisiertes Konzept der ‚schönen Seele‘ sowie in seine Theorie des (Sittlich-)Erhabenen vorgenommen. Folgerichtig führte nach diesen Deutungsprämissen der dargebotene Spagat zwischen christlicher Welt- und Lebensanschauung und klassischer ‚ästhetischer Erziehung‘ – ein Spagat, der nur um den Preis gelingen kann, dass man die „geistige Natur des Menschen“ implizit oder explizit über seine „tierische“ einstuft – 10 zu einer ideologisch-idealisierten Lektüre der Maria Stuart als „Erlösungsspiel“, 11 bei der sich Religion und Ästhetik einvernehmlich die Hand reichten. 12 Die bereits von Schiller unterstrichene Eignung des Maria 5 6 7 8
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Karl S. Guthke: Maria Stuart. Die Heilige von „dieser“ Welt. In: Ders.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen 1994, S. 207–235, hier S. 212. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 497. Vgl. Baioni: Il giovane Goethe, S. 164f. So stellt Karl S. Guthke im Schiller-Jahr 2005 Folgendes fest: „Besonders haben neuere Arbeiten sich auf diesen Bahnen mit Marias oft so genannter Schlußapotheose beschäftigt, und zwar speziell unter dem Blickwinkel von Schillers theoretischen Schriften über die ästhetische Erziehung und das Erhabene und deren Potential für das dramatisch Tragische“, vgl. Guthke: Zehn Jahre später: Schiller im Schiller-Jahr. In: Ders.: Schillers Dramen. Idealismus und Skepsis. Tübingen 22005, S. 305–340, hier S. 331. Genannt seien an dieser Stelle die auch in Gert Vonhoffs Artikel: Maria Stuart. Trauerspiel in fünf Aufzügen (1801) mehrfach zitierten Aufsätze von Karl S. Guthke: Maria Stuart. Die Heilige von „dieser“ Welt sowie von Gert Sautermeister: Maria Stuart. Ästhetik, Seelenkunde, historisch-gesellschaftlicher Ort. In: Walter Hinderer (Hg.): Schillers Dramen. Neue Interpretationen. Stuttgart 1979, S. 174–216. Und zwar, wenn nicht gerade auch dort, wo die Interpreten – Schillers Wink im Brief vom 18. Juni 1799 an Goethe folgend – mit Nachdruck daran erinnern, dass Maria ein „Mensch von Fleisch und Blut“ ist, ja wo sie ihre „Begierde[], Zwecke[] und Gemeinheiten noch auf dem Weg zum Schafott“ deutlich hervorheben, um nicht das ‚Verklärte‘, sondern „auch“ [!] das „[M]enschlich-[A]llzumenschlich[e]“ an ihr zu unterstreichen, vgl. Guthke: Zehn Jahre später, S. 220 u. 330. Vgl. Guthke: Maria Stuart, S. 232. „Durch die Synthese von stoischer Haltung, Kantischem Freiheitsideal und katholischer Religiosität“, so Barbara Neymeyr in der jüngsten Forschung, erreiche „Schiller am Ende des Dramas eine ästhetische Intensivierung, die sein Konzept des Erhabenen noch potenziert“,
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Stuart-Stoffes zur „Euripidischen Methode“ 13 und die nur hintergründige Bedeutung des Handlungsgeflechts hat die Aufmerksamkeit der Forschung unweigerlich auf den im „Innern“ der Figuren ausgetragenen „Konflikt“, 14 ja auf ihre Psychologie gelenkt. Bei der Lektüre der Maria St uart als „Charakterdrama“ 15 hat man geglaubt, vor allem auf die Frage eingehen zu müssen, ob die Protagonistin allmählich oder plötzlich in den „geläuterten Zustand“ 16 am Ende ihrer irdischen Laufbahn gelange – hierbei handele es sich um einen moralisch beispielhaften „Gestus des Verzichts im Horizont der Märtyrertradition“. 17 „Charakterentwicklung“ oder „Charakterbruch“? 18 Sind Maria und Elisabeth nicht vielmehr „gemischt[e] Charakter[e]“? 19 Wie in der Forschungsliteratur beteuert wurde, sei jedenfalls das, was „von der genauen Erfassung der Natur des Charaktergeschehens abhängt“, nichts weniger als „die Frage nach Schillers Optik des Menschlichen und seinen Möglichkeiten“. 20 Hier sei gar nichts Geringeres als „Schillers Anthropologie“ 21 im Spiel. Was insbesondere die Titelheldin betrifft, so wurde vor allem Interesse daran gezeigt, dass sie, die „Heilige von ‚dieser‘ Welt“, 22 sich am Ende von allen „sinnlich-physischen Zwängen“ 23 befreie. Vor diesem Hintergrund wurde behauptet, dass in Schillers Trauerspiel die „Vollkommenheit der schönen Seele als menschliche Möglichkeit“ gefeiert werde, was „noch das Publikum ästhetisch erziehe“. 24 Hier schließe sich der Kreis geradezu perfekt, wobei Schiller
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Neymeyr: Stoisches Ethos, S. 922f. Dem klassischen Dichter würde somit förmlich, wie man meinen möchte, die (ästhetische) Quadratur des (ethischen) Kreises gelingen. Vgl. Schillers Brief vom 26.4.1799 an Goethe, NA 30, 45. Guthke: Maria Stuart, S. 207. Vonhoff: Maria Stuart, S. 157–160. Ebd., S. 157. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 506. Vonhoff: Maria Stuart, S. 157. Guthke: Zehn Jahre später, S. 330. Vgl. die 1998 erschienene Fassung von Guthkes Aufsatz: Maria Stuart. Die Heilige von „dieser“ Welt. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 452. Ebd. Guthkes paradoxe Formulierung, in der das ‚dieser‘ nicht von ungefähr in Anführungsstriche gesetzt wurde, drückt auf geradezu paradigmatische Weise die Verlegenheit des Interpreten aus, der die Bedeutung von Schillers Trauerspiel für das ‚Irdische‘ zu retten versucht, nachdem er sonst eine geradewegs mit christlichen Kategorien geführten Deutung des Stücks dargeboten hat. Vonhoff: Maria Stuart, S. 158. So Guthke (Maria Stuart, S. 232) in Bezug auf Gert Sautermeisters Studie: Maria Stuart. Ästhetik, Seelenkunde, historisch-gesellschaftlicher Ort. Bereits 1971 spricht Sautermeister von der „paradiesische[n] Wirkung des Kunstschönen auf den Zuschauer“: „Die Kunst soll vollbringen, was die Politik aus sich selbst heraus nicht vermag: die Verwandlung des Zuschauers durch das Schöne. Durch die Vollkommenheit der Heldin wie durch die Symbolik kostbarer und religiöser Gegenstände erzeugt die Kunst das Bild einer schönen, versöhnten Welt, die, jenseits des geschichtlichen Lebens Marias angesiedelt, doch insgeheim auf das geschichtliche Leben des Zuschauers zurückwirken soll“, Gert Sautermeister: Idyllik und Dramatik im Werk Friedrich Schillers. Zum geschichtlichen Ort seiner klassischen Dramen. Stuttgart 1971, S. 215.
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„diese Vollkommenheit nur an der Schwelle des Todes [zeige] im paradoxen Moment, wo Sein in Nichtsein übergeht“. 25 Wenn man indes solche anspruchsvollen Formulierungen auf ihre Stichhaltigkeit überprüft, wird man bald enttäuscht. Denn das zum Beispiel, was man im zuletzt zitierten Textausschnitt rein spekulativ als einen ‚paradoxen Moment‘ benennt (den Tod), ist in Wahrheit ein durchaus konstitutives Moment des Lebens und nicht im Geringsten, weder von der Natur noch von der Religion aus betrachtet, als ‚paradox‘ zu bezeichnen. Nicht genug: Dass das, was im Moment des Todes passiert, einen Übergang ins „Nichtsein“ darstelle – daran ist, zumindest im Rahmen des in Schillers Stück in Frage kommenden katholischen Credos, ziemlich zu zweifeln. Und schließlich: Dass der späte Schiller seine ‚ästhetische Erziehung‘ gerade an einem katholischen, im festen Glauben an das ewige Leben im Jenseits vollbrachten Lebensverzicht übe, will nicht zuletzt angesichts von Schillers alles andere als geradlinigem Verhältnis zur christlichen Religion 26 auch nicht als stichhaltig erscheinen. Wenn man dennoch solche Deutungen unkritisch gelten lassen und von ihnen ausgehen will, so mag man dann mit gewissem Recht an Maria Stuart bemängeln, Schiller „versäume es, indem er den Weg aus diesem Leben zeige, einen Weg zu einem verantwortungsbewußten Leben im Hier und Jetzt zu weisen“. 27 Solchen kritischen Bemerkungen wurde lediglich so gelassen wie oberflächlich entgegengehalten, es sei „wohl […] gerechter, zu erkennen, daß Schiller gerade in dieser Paradoxie von Vollendung und Tod seine tragische Sicht aufs neue bewährt“. 28 Wenn man sich indes nicht mit diesen und ähnlichen Deutungen von Schillers ‚Tragik‘ begnügen will und wenn man außerdem mehr hinter dem ‚Tragischen‘ bei Schiller vermutet als etwa bloß eine „Negation des ästhetischen Zustands“, 29 so ist man gut beraten, sowohl religiöse als auch kunstreligiöse Interpretationen der Maria Stuart zunächst einmal in den Hintergrund zu drängen und von einer konsequenten ‚Rehabilitation der Sinnlichkeit‘, mit all ihren Konsequenzen, auszugehen. Denn erst wenn man den ‚Tod‘, und dabei auch denjenigen der schottischen Königin in Schillers Trauerspiel, wirklich ernst nimmt, kann man sich – so will es scheinen – ein schärferes Bild des Tragischen auch beim späten Schiller verschaffen. 25 26
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So Guthke zu Sautermeisters Interpretation der schottischen Königin als „schöne Seele“, Maria Stuart, S. 232. Vgl. Norbert Oellers: Schiller und die Religion. In: Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, S. 165–186 sowie neuerdings ausführlich Cordula Burtscher: Glaube und Furcht. Religion und Religionskritik bei Schiller. Würzburg 2014. So Guthke (Maria Stuart, S. 232) mit Bezug auf Oskar Seidlins „Vorwurf“ in: Schiller: Poet of Politics. In: Amos Leslie Wilson (Hg.): A Schiller Symposium. Austin/Texas 1960, S. 29–48. Ebd. Vgl. Bernhard Greiners Aufsatz: Tragödie als Negativ des „ästhetischen Zustands“. Schillers Tragödienentwurf jenseits des „Pathetischerhabenen“ in Maria Stuart. In: Matthias LuserkeJaqui (Hg.): Friedrich Schiller. Dramen. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2009, S. 135– 156.
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„Ich bin die Schwache, sie die Mächt’ge“ 30 – das bekennt Maria Stuart bereits im ersten Aufzug von Schillers Trauerspiel. Kurz vor ihrer entscheidenden Begegnung mit der englischen Königin und ‚Schwester‘ 31 Elisabeth im dritten Aufzug warnt auch der Graf von Shrewsbury: „Sie ist die Mächtige – demüthigt euch!“. 32 Als Maria dann zum ersten Mal „dem gespannten Blick der Elisabeth“, wie die Regieanweisung vermerkt, 33 tatsächlich begegnet, bricht sie in folgenden Ausruf aus: „O Gott, aus diesen Zügen spricht kein Herz!“. 34 Aus den hier zitierten Sätzen könnte man leicht auf eine grundsätzliche Entgegensetzung von unbarmherziger „Macht“ (Elisabeth) und gefühlvoll-menschlicher Ohnmacht (Maria) in Schillers Trauerspiel schließen – im Endeffekt hätte man es hier lediglich mit einem weiblich gekleideten Tyrannen und seinem prädestinierten weiblichen Opfer zu tun. Doch der Anschein täuscht. Denn in Wahrheit gehört es zu Schillers bemerkenswertesten Kunstgriffen in diesem späten Trauerspiel, die Sphäre der aktiven politischen Macht und Entscheidung einer gemäßigten, weiblichen Figur anvertraut zu haben – einer Figur, die sich nicht nur als vollkommen unfähig gegenüber jeder großen Tat erweist, sondern sich auch ihrer politischen Unzulänglichkeit im Stück vollkommen bewusst wird und diese direkt zur Sprache bringt. Konstitutiv hat Königin Elisabeth somit nichts mit den aktiven ‚Machtmenschen‘ ausnahmslos männlichen Geschlechts gemein, an die Schiller die Leser und Zuschauer seiner vor 1789 verfassten Dramen gewohnt hatte. Und wenn er, der ehemalige Stürmer und Dränger, hier ‚gefasst‘ und ‚kühl‘ wirkt, wie Croce es wollte, dann passiert das zunächst einmal deswegen, weil er in seiner Maria Stuart die Sphäre der aktiven, politischen Machtausübung vorsätzlich mit weiblicher Passivität koloriert und dabei entschieden entkräftet. Um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur kurz in Schillers Stück umzusehen. Denn geradezu auffällig ist es, dass wahre politische Macht auch in diesem Stück im Hintergrund weiterhin ausschließlich männlich dekliniert wird: Es sind nur männliche Figuren, die entweder nach einer „kühnen That“ dürsten (Mortimer) 35 oder glauben, tatsächlich eine „wundergroße That“ vollbracht zu haben (Leicester); 36 es ist ein Mann (Burleigh), der die englische Königin politisch an die Hand nimmt und ihr pragmatisch erklärt, dass sie gegenüber der Stuart „den Streich erleiden oder führen“ muss. 37 Seine englische Königin lässt Schiller offen 30 31
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NA 9.I, 43. In Schillers Trauerspiel nennt Maria die Rivalin Elisabeth mehrfach „Schwester“, vgl. etwa NA 9.I, 14 u. 31 sowie im zentralen Gespräch mit der Königin von England, S. 97. Die historische Elisabeth war allerdings weder Marias ‚Schwester‘ noch ihre ‚Tante‘, wie irrtümlich im Kommentar der Ausgabe von Schillers sämtlichen Werken in 5 Bänden (auf der Grundlage der Textedition von Herbert G. Göpfert hg. v. Peter-André Alt, Albert Meier u. Wolfgang Riedel, München 2004. Bd. II, S. 1259) angemerkt, sondern Marias Cousine zweiten Grades. NA 9.I, 94. NA 9.I, 96. Ebd. NA 9.I, 82. NA 9.I, 132. NA 9.I, 56.
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bekennen, dass sie ihrem Volk nur ein „Weib“ sei, und dies, wie sie nicht ohne Ursache hinzufügt, auch wenn sie „doch“ „meinte“, „regiert / Zu haben, wie ein Mann, und wie ein König“. 38 Wäre dies noch nicht genug, so muss Elisabeth, die angebliche Tyrannin in Schillers Trauerspiel, am Höhepunkt des zentralen Gesprächs mit der Stuart im dritten Aufzug gar von der Rivalin vernehmen, dass der „Thron von England […] durch einen Bastard / Entweiht“ 39 und sie, Lady Maria, hier eigentlich König 40 sei. Im zweiten Aufzug weist Elisabeth folgende Bemerkung Talbots in Bezug auf Maria aufs Schärfste zurück: „Denn ein gebrechlich Wesen ist das Weib“. 41 „Das Weib ist nicht schwach“, erwidert sie entschieden, „Es giebt starke Seelen / In dem Geschlecht“: 42 Doch bereits die Tatsache, dass sich die Königin hier gezwungen sieht, die ‚Stärke‘ ihres Geschlechts offen zu verteidigen – und wohl vor allem mit Rücksicht auf sich selbst und nicht auf Maria –, sollte allerdings Grund zum Nachdenken geben. Denn mit Königin Elisabeth bringt Schiller in Maria Stuart eine Herrscherin auf die Bühne, die zwar die dunklen Seiten der politischen Machtausübung kennenlernt, an keiner Stelle jedoch jene berauschende Hybris der Tat und Macht genießt, die der frühe Dichter dagegen, wie vorläufig auch immer, den männlichen Protagonisten und Antagonisten seines Theaters gewährt hatte. Deutungen, die das im weitesten Sinne des Wortes verstandene ‚Politische‘ in Schillers Maria St uart in den Mittelpunkt rücken, 43 sind daher konstitutiv mit einer ganzen Reihe von ‚Ambivalenzen‘ 44 und ‚Teufelskreisen‘ 45 konfrontiert. Und da die regierende Königin Elisabeth, die negativ besetzte Antagonistin der Titelfigur, 46 selbst politische Macht und Ohnmacht bei Schiller 38 39 40
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NA 9.I, 52. NA 9.I, 104. Zu Marias Verwendung der männlichen Form ‚König‘ an dieser Stelle, mit der sie „die Rolle eines de lege et natura gesicherten Monarchen“ beanspruche, vgl. Peter-André Alt: Klassische Endspiele. Das Theater Goethes und Schillers. München 2008, S. 146f. NA 9.I, 59. Ebd. Zu den bedeutendsten Aspekten der politischen Interpretation von Schillers Maria Stuart vgl. das Unterkapitel „Herrschaft und Öffentlichkeit. Elemente politischen Handelns“ in: Alt: Schiller. Bd. 2, S. 498–505. Vgl. etwa Hofmann: Schiller. Epoche – Werk – Wirkung, S. 162; Barone: Schiller und die Tradition des Erhabenen, S. 306; Barbara Neymeyr: Macht, Recht und Schuld. Konfliktdramaturgie und Absolutismuskritik in Schillers Trauerspiel Maria Stuart. In: Günter Sasse (Hg.): Schiller. Werk-Interpretationen. Heidelberg 2005, S. 105–136, hier S. 118. Vgl. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 503. „Die zum Tode verurteilte ist die moralische Siegerin“, hielt bereits Hermann August Korff in der älteren Forschungsliteratur fest – (Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. II Teil. Zit. aus: Christian Grawe (Hg.): Friedrich Schiller. Maria Stuart. Erläuterungen und Dokumente. Stuttgart 1999, S. 184): Dem ist zuzustimmen, und wäre es nur aus dem Grund, dass Elisabeth, im Gegensatz zu ihrer ‚Schwester‘, am Ende von Schillers Trauerspiel doch einfach am Leben bleibt. Denn auch hier gilt grundsätzlich Burleighs Maxime aus dem ersten Akt der Maria Stuart: „Die Meinung hält es / Mit dem Unglücklichen, es wird der Neid / Stets den obsiegend Glücklichen verfolgen“, NA 9.I, 46.
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erfährt, erweist sich auch der polare Schematismus ‚Macht-Ohnmacht‘ bei einer politisch zentrierten Analyse dieses Trauerspiels als wenig ertragreich. Dabei mag man sich zwar mit der zusammenfassenden These zufriedengeben, Schillers Drama präsentiere, „ähnlich wie schon der Wallenstein, eine Anatomie sozialen Handelns, die die Deformation des Individuums durch die Zwänge der Politik offen legt“ 47 – was ja in Bezug auf alle politischen Akteure in Schillers Maria Stuart gesagt werden könnte. Bei solchen Betrachtungen bliebe allerdings festzulegen, wo konkret jenes hier wertend vorausgesetzte ‚integre Individuum vor der Politik‘ zu verorten wäre, das sich dann zu allem Unglück im Politischen ‚deformierte‘. 48 Wie schon in den vorigen Kapiteln, so gilt es auch hier in der Auseinandersetzung mit Schillers Maria Stuart neue Deutungswege zu versuchen. Und wenn man nicht aus einem moralisch-politisch zentrierten Blickwinkel auch auf dieses Trauerspiel hinschaut und eine primär ästhetische Interpretation wagt, so erweist sich auch jenes Schema ‚Macht-Ohnmacht‘, das man vorschnell geneigt war zu verabschieden, doch als ein wirkungsvolles heuristisches Instrument. Denn über ihre politische Rolle hinaus verkörpern auch die Protagonistin Maria und ihre Antagonistin Elisabeth bei Schiller grundsätzlich jene zwei polaren Momente der ohnmächtigen Passivität und des machtvollen Strebens, in denen wir mit Giuliano Baioni bereits die „Grundstruktur des modernen Nihilismus“ 49 erkannt haben: Auf der einen Seite, bei Maria, steht ‚Eros‘; auf der anderen, bei Elisabeth, der ‚Wille zur Macht‘. Vor dem Hintergrund dieser klaren Entgegensetzung werden nun nicht nur die Hauptmerkmale von Schillers königlichen Rivalinnen deutlich gemacht werden – etwa Elisabeths grundsätzliche Enthaltsamkeit sowie Marias reizvolle Schönheit. Vor diesem Hintergrund wird auch neues Licht in den abschließenden „eucharistische[n] Akt“ des Trauerspiels, versehen „mit den Requisiten einer pathetisch grundierten ästhetischen Inszenierung“, 50 zu bringen sein. Der Anfang soll hier mit Elisabeth gemacht werden. Wie bereits in Bezug auf diese Figur gesagt wurde: Wenn es darum ginge, die politische Tragweite von Elisabeths ‚Willen zur Macht‘ in absoluten Zahlen zu bewerten, dann hielte der ‚Wille zur Macht‘ dieser ‚Tyrannin‘ so gut wie keinem Vergleich mit früheren Figuren männlichen Geschlechts aus Schillers Feder stand wie Franz Moor, Fiesko, dem Marquis Posa oder gar dem immerhin ‚weinenden‘ Monarchen Philipp II. Doch das, was an diesem femininen, erst in Schillers Spätwerk zu begegnenden ‚Willen zur Macht‘ interessiert, ist der Umstand, dass er in dieser Form eine Kritik 47 48
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Alt: Schiller. Bd. 2, S. 498f. Ähnlich idealistisch spricht Barbara Neymeyr in Bezug auf Schillers Maria Stuart von einer ‚verkümmerten‘ „Bereitschaft zu authentischen menschlichen Begegnungen“, gar von „charakterlichen Depravationen“ sowie von einer „weitreichende[n] Pervertierung der zwischenmenschlichen Beziehungen durch die Machtposition der [englischen] Monarchin“, Neymeyr: Macht, Recht und Schuld, S. 113f. Baioni: Il giovane Goethe, S. 164f. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 508.
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am schrankenlosen Machtdrang früherer Figuren mit impliziert. Denn gerade hier werden jene anthropologischen Grenzen – „die Werte sind relativ und der Mensch ist sterblich“ 51 – in aller Deutlichkeit sichtbar, welche Schillers Sturm und DrangFiguren in ihrem Macht- und Größenwahn nicht erkennen konnten oder wollten. Man nehme beispielsweise Elisabeths durchaus einfühlsame Reaktion auf den Brief, mit dem die in England gefangen gehaltene Maria Stuart „um die Vergünstigung“ bittet, „das Angesicht / Der Königin zu sehen“. 52 Die Textpassage sei hier ganz zitiert: ELISABETH. (nachdem sie den Brief gelesen, ihre Thränen trocknend). Was ist der Mensch! Was ist das Glück der Erde! Wie weit ist diese Königin gebracht, Die mit so stolzen Hoffnungen begann, Die auf den ältsten Thron der Christenheit Berufen worden, die in ihrem Sinn Drei Kronen schon auf’s Haupt zu setzen meinte! Welch andre Sprache führt sie jetzt als damals, Da sie das Wappen Englands angenommen Und von den Schmeichlern ihres Hofs sich Königin Der zwei brittann’schen Inseln nennen ließ! – Verzeiht, Mylords, es schneidet mir ins Herz, Wehmuth ergreift mich und die Seele blutet, Daß Irdisches nicht fester steht, das Schicksal Der Menschheit, das entsetzliche, so nahe An meinem eignen Haupt vorüberzieht. 53
Auf Elisabeths mitleidsvolle Worte versetzt der tief bewegte Talbot: „O Königin! Dein Herz hat Gott gerührt, / Gehorche dieser himmlischen Bewegung!“. 54 Indes wäre es irreführend, mit Talbot zu glauben, dass Elisabeths Worte vor allem herzliches Mitleiden mit Maria ausdrückten. Denn wie wäre es dann zu erklären, dass dieselbe Königin just in der darauffolgenden Szene dem jungen Mortimer explizit den Meuchelmord an der Stuart, ihrer „blut’ge[n] Feindin“, 55 in Auftrag gibt? Wieso käme jene „himmlische Bewegung“ hier so plötzlich ins Stocken? Wenn Elisabeths oben zitierte Worte Mitleid ausdrücken, dann keinesfalls mit ihrer ‚Schwester‘ Maria, sondern hauptsächlich – mit sich selbst. Denn eigentlich beklagt Elisabeth bei der Lektüre von Marias Brief vor allem die Tatsache, dass das „Glück auf Erde“ unstet ist, ja dass sich „Irdisches“ dem Willen und den Anstrengungen des Menschen entzieht und dass das ‚Schicksal‘ ‚entsetzlich‘ ist, weil es sich jedenfalls mächtiger zeigt als der mächtigste Mensch je auf Erden sein kann. Es gilt zu betonen, dass solche Betrachtungen bei Elisabeth weder sporadisch noch 51 52 53 54 55
Kondylis: Gedanken und Sprüche, S. 189. NA 9.I, 64. NA 9.I, 65f. NA 9.I, 66. NA 9.I, 69.
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marginal sind. Immer wieder macht Schillers englische Herrscherin die Grenzen der Natur – oder besser gesagt, ihrer Natur – zum Thema, sei es, wenn sie von ihren Untertanen sagt, sie würden „jetzt schon fleißig an die Zeit [denken], / Wo ich dahin sein werde“, 56 oder wenn sie von sich als „Weib“ redet und die „Naturzweck[e]“ erwähnt, von denen sie gerne ausgenommen sein möchte. 57 Doch wird vor allem im Kontrast zur Gestalt der Maria allmählich klar, was Schillers Königin von England grundsätzlich unter ‚Macht‘ versteht: Sie bedeutet ihr vor allem eine selbstlose ‚Anstrengung des Willens‘, ja eine pflichtbewusste Mühsal, bei der das eigene Herz überhaupt keinen Platz beanspruchen darf. So ahnt man, wen Elisabeth im Visier hat, wenn sie, kurz nachdem sie die Bühne zum ersten Mal betreten hat, sagt, dass „Könige […] nur Sklaven ihres Standes [sind]“ und „dem eignen Herzen“ „nicht folgen“ dürfen. 58 Oder wenn sie sich an gleicher Stelle als eine „Königin“ beschreibt, die „ihre Tage / Nicht ungenützt in müßiger Beschauung / Verbringt, die unverdrossen, unermüdet / Die schwerste aller Pflichten übt“. 59 Man frage sich hier ex negativo: Welche Königin ist dagegen, zumindest in Elisabeths Augen, bloß ihrem Herzen gefolgt? Welche hat ihre Tage „ungenützt in müßiger Beschauung“ verbracht? „Ich darf ja / Mein Herz nicht fragen“, sagt Elisabeth zu Leicester gegen Ende des zweiten Aufzugs; „Und wie beneid’ ich andre Weiber, / Die das erhöhen dürfen, was sie lieben“. 60 Elisabeths ‚Wille zur Macht‘, aufgefasst als grundsätzliche Lebenseinstellung, stellt hier die Umkehrung von Marias eigenwilliger, erotischer Neigung dar. Und genau in dem Gespräch zwischen Elisabeth und Leicester am Ende des zweiten Aufzuges wird das Verhältnis der wesensverwandten Gegensätzlichkeit zwischen den Lebenseinstellungen beider ‚Schwestern‘ explizit: ELISABETH. […] Der Stuart wards vergönnt, Die Hand nach ihrer Neigung zu verschenken, Die hat sich jegliches erlaubt, sie hat Den vollen Kelch der Freuden ausgetrunken. […] Sie hat der Menschen Urtheil nichts geachtet. Leicht wurd’ es ihr zu leben, nimmer lud sie Das Joch sich auf, dem ich mich unterwarf. Hätt’ ich doch auch Ansprüche machen können, Des Lebens mich, der Erde Lust zu freun, Doch zog ich strenge Königspflichten vor. 61
56 57 58 59 60 61
NA 9.I, 52. Ebd. Ebd. Ebd. NA 9.I, 85. Ebd.
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An Elisabeths Worten ist ein Zweifaches hervorzuheben. Zum einen, dass die Königin die Macht als einen mühsamen Willensakt darstellt, der in einem direkten Verhältnis zum Verzicht auf jede persönliche Freude steht. Zum anderen, dass dieses Gefühl der Selbstunterjochung, da ihr jede Entspannung der Freude per se als suspekt erscheint, mit einer streng moralischen Verurteilung der als lasziv bewerteten Rivalin einhergeht – einer Rivalin, die, wie Elisabeth bezichtigt, „sich nur befliß[en]“ habe, „ein Weib zu seyn“. 62 Wie erwartet, findet man hier ‚Königspflichten‘ und das ‚Urteil der Menschen‘ auf der einen Seite; den ‚vollen Kelch der Freuden‘ auf der anderen. „Auch deine Weiblichkeit hat ihre Rechte“, 63 sagt Leicester nicht von ungefähr zur Königin noch in diesem Auftritt. Sein Satz, nicht ohne Hintergedanken gesprochen, bringt dennoch die Entgegensetzung, um die es hier geht, genau auf den Punkt. Deutlich hervorzuheben ist dabei jedoch, dass auch Elisabeths ‚Wille zur Macht‘ schließlich nur heroische ‚Männlichkeit‘ voraussetzt – ihre ‚Weiblichkeit‘ stellt in Schillers spätem Trauerspiel, und das ist hier ein Novum in Schillers Werk, lediglich die Chiffre für die ‚sentimentalische‘ Erkenntnis darüber dar, dass die heroische ‚Moral des Nihilismus‘ unerhörte Kraft und Willensanstrengung erfordert. Die Entgegensetzung von Elisabeths männlicher Moral und Marias lustvoller Weiblichkeit stellt nichts weniger als den Hintergrund dar, vor dem auch die zentrale Begegnung der Königinnen im dritten Aufzug stattfindet – oder, wenn man so will, die Zusammenkunft der beiden „Huren“ in Schillers Trauerspiel über die Bühne geht, bei der sie sich ihre „Aventuren“ vorwerfen würden. 64 Wenn man darum bemüht ist, Maria Stuart als eine „politische Tragödie“ zu deuten, mag man an dieser Stelle gegen Goethes abwertendes Urteil geltend machen, dass „[n]icht die subjektiven Spiele der Leidenschaft, sondern deren objektive Folgen für den Staat […] das Zentrum der Tragödie“ bildeten. 65 Wenn man hingegen zwei polare Lebenseinstellungen hinter Schillers Königinnen erkennt, so hat man hier allen Grund, vor allem auf die enge Verbindung hinzuweisen, die zwischen Elisabeths Askese und ihrer moralischen Verurteilung der ‚Schwester‘ besteht. Paradigmatisch sind dabei schon die ersten Worte, welche die beiden Königinnen bei ihrer Begegnung miteinander wechseln. „Der Himmel hat für euch entschieden, Schwester!“, sagt Maria; „Gekrönt vom Sieg ist euer glücklich Haupt, / Die Gottheit bet’ ich an, die euch erhöhte!“. 66 Darauf zeigt sich Elisabeth zwar bereit, ihres „Gottes Gnade“ dankend ‚zu preisen‘, der „nicht gewollt“ habe, dass sie zu Marias „Füßen“ liege wie Maria dagegen zu den ihrigen. 67 Doch nicht aus reiner Bosheit sagt 62 63 64 65 66 67
Ebd. NA 9.I, 87. So Goethes abwertendes Urteil, wie 1827 von Wilhelm Grimm berichtet, zit. aus: Alt: Schiller. Bd. 2, S. 499. Ebd. NA 9.I, 97. Ebd.
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die Königin von England zu der am Boden liegenden „Lady Maria“, dass diese dabei an ihrem eigentlichen „Platz“ sei. 68 Den Spruch ‚hilf dir selbst, dann hilft dir Gott‘ scheint die ältere ‚Schwester‘ hier klar im Hinterkopf zu behalten: Elisabeth weiß sich gegenüber Maria auf der ‚rechten Seite‘, und zwar nicht deswegen, weil die Machtverhältnisse hier ja offensichtlich sind und dafür sprechen, sondern weil sie durch Verzicht und Askese ihre moralische Pflicht erfüllt hat und eben dadurch zu Recht an der Macht zu sein glaubt – während die reizvolle ‚Schwester‘ in ihren Augen eine schwelgerische Sünderin darstellt, die als solche ihren „tiefen Fall“ 69 durchaus verdient hat. Nur weil sich Elisabeth ihrer getanen Pflicht bewusst ist, kann sie Lady Maria vor den Augen der Anwesenden, und dabei vor allem Leicesters, zur ‚Hure‘ machen. Denn der leicht zu erreichende ‚Ruhm‘ der Ausschweifung stellt wohl kein Verdienst in ihren Augen dar; Wert besitzt nur der erhabene ‚Ruhm‘, den ein pflichtbewusstes Engagement einbringen kann: ELISABETH. (sieht sie lange mit einem Blick stolzer Verachtung an). Das also sind die Reizungen, Lord Lester, Die ungestraft kein Mann erblickt, daneben Kein andres Weib sich wagen darf zu stellen! Fürwahr! Der Ruhm war wohlfeil zu erlangen: Es kostet nichts, die allgemeine Schönheit Zu seyn, als die gemeine seyn für alle! 70
Ob dann auch Elisabeth an dieser Stelle als ‚Hure‘ in Betracht kommen sollte – das mag hier dahin gestellt bleiben. Denn Maria kann der englischen Königin zwar die „wilde Glut verstohlner Lüste“, 71 das heißt sexuelle Frustration, vorwerfen und dabei unterstellen, dass sie als Tochter der Anna von Boleyn eine gewisse anrüchige Veranlagung geerbt habe 72 – mehr jedoch nicht. Über das abwertende Schimpfwort hinaus ist jedenfalls im Falle der Königin von England zu bedenken, dass das von ihr verkörperte, wenn man so will, ‚puritanische‘ ‚Machtprinzip‘ nichts so sehr fürchtet wie die ‚katholische‘ Entspannung jeden Genusses – darauf wird noch zurückzukommen sein. Ein weiterer Aspekt ist an dieser Stelle zu beachten. Das Selbstvertrauen, das Elisabeth im zentralen Gespräch mit ihrer ‚Schwester‘ an den Tag legt, ist nicht so unerschütterlich, wie es zunächst den Anschein hat. Denn Elisabeth ist sich zwar darüber klar, dass sie durch Willensanstrengung ihre Pflicht erfüllt hat – was in ihren Augen die erste Voraussetzung für den Machterhalt überhaupt darstellt. Gleichzeitig ist sich diese Herrscherin aus der Feder des späten Schiller dennoch bewusst, dass reine Willensanstrengung keine Garantie zum Erfolg auf Erden 68 69 70 71 72
Ebd. Ebd. NA 9.I, 102. NA 9.I, 103. Ebd.
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bedeutet. Wie bereits erwähnt, weiß Königin Elisabeth allzu gut, im Gegensatz zu Schillers früheren, ‚stürmischen‘ Machtmenschen männlichen Geschlechts, dass sich „Irdisches“ 73 grundsätzlich dem Willen und den Anstrengungen des Menschen entzieht. Und genau das stellt die eigentliche Chiffre für ihre ‚Weiblichkeit‘ in Schillers Trauerspiel dar. So ist zu vermuten, dass Elisabeth die im dritten Aufzug zu ihren Füßen liegende Maria wie keine andere versteht, wenn diese sie mahnt, „an den Wechsel alles Menschlichen“ zu denken: Denn es lebten „Götter“, so Maria, „die den Hochmut rächen!“. 74 Im weiteren Verlauf des Trauerspiels konfrontiert Schiller allerdings gerade die Königin von England noch direkt mit den natürlichen Grenzen der Macht, oder besser gesagt, ihrer Macht: Denn wenn Elisabeth das ‚Weib‘ in sich negiert hat und wie ein ‚Mann‘ regiert haben will, und wenn heroische ‚Männlichkeit‘ die ‚Moral des Nihilismus‘ darstellt, so muss die psychophysische Unfähigkeit zu dieser auf Willensanstrengung basierenden ‚Moral‘ für diese Königin gleich eine Implosion des Sinns nach sich ziehen. Die heroische ‚Männlichkeit‘, die Elisabeth explizit für sich in Anspruch nimmt, setzt körperliche und seelische Belastbarkeit voraus, eine Fähigkeit, die von endlichen Bedingungen abhängig ist. Wie nun, wenn die Voraussetzungen für jene außerordentliche Belastbarkeit nicht mehr gegeben sind? Und andererseits: Wie sollte man sich eine regierende Königin im 16. Jahrhundert vorstellen, die sich vor Erschöpfung bereit erklärte, auf ihre Macht zu verzichten? Genau auf eine solche Machthaberin trifft man allerdings am Ende des vierten Aufzuges von Schillers Maria Stuart: ELISABETH. Ach Shrewsbury! Ihr habt mir heut das Leben Gerettet, habt des Mörders Dolch von mir Gewendet – Warum ließet Ihr ihm nicht Den Lauf? So wäre jeder Streit geendigt, Und alles Zweifels ledig, rein von Schuld, Läg ich in meiner stillen Gruft! Fürwahr! Ich bin des Lebens und des Herrschens müd’. Muß eine von uns Königinnen fallen, Damit die andre lebe – und es ist Nicht anders, das erkenn’ ich – kann denn ich Nicht die seyn, welche weicht? Mein Volk mag wählen, Ich geb’ ihm seine Majestät zurück. Gott ist mein Zeuge, daß ich nicht für mich, Nur für das Beste meines Volks gelebt. Hofft es von dieser schmeichlerischen Stuart, Der jüngern Königin, glücklichere Tage, So steig’ ich gern von diesem Thron und kehre In Woodstocks stille Einsamkeit zurück, Wo meine anspruchlose Jugend lebte, Wo ich, vom Tand der Erdengröße fern, 73 74
NA 9.I, 66. NA 9.I, 97.
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Die Hoheit in mir selber fand – Bin ich Zur Herrscherin doch nicht gemacht! Der Herrscher Muß hart seyn können, und mein Herz ist weich. Ich habe diese Insel lange glücklich Regiert, weil ich nur brauchte zu beglücken. Es kommt die erste schwere Königspflicht, Und ich empfinde meine Ohnmacht – 75
Wenn ‚Ohnmacht‘ bei Schillers früheren, nach Größe strebenden ‚Machtmenschen‘ oft nur im Gegenlicht herauszulesen war, so lässt der Dichter in seinem späten Trauerspiel die regierende Herrscherin von England selbst den Gegenpol jener Lebenseinstellung, die sie verkörpert, auf offener Bühne beim Namen nennen. Im darauffolgenden Monolog bekräftigt Elisabeth erneut ihre Position. Ihre Macht, ihre Krone, das, was ihr zuvor als „strenge Königspflichten“ 76 erschienen war, erklärt sie nun in ihrer ‚Ohnmacht‘ gar zur „Sklaverei des Volksdiensts“, ja zu einer „Schmähliche[n] / Knechtschaft“. 77 Mit deutlichen Worten des Tadels – den gleichen übrigens, die auch ein Künstler angesichts der Ansprüche seines Publikums im modernen Kunst- und Kulturbetrieb verwenden könnte – richtet sich Elisabeth gegen ihre Untertanen: 78 ELISABETH allein. […] Wie bin ichs müde, diesem Götzen Zu schmeicheln, den mein Innerstes verachtet! Wann soll ich frei auf diesem Throne stehn! Die Meinung muß ich ehren, um das Lob Der Menge buhlen, einem Pöbel muß ichs Recht machen, dem der Gaukler nur gefällt. Oh, der ist noch nicht König, der der Welt Gefallen muß! Nur der ist’s, der bei seinem Thun Nach keines Menschen Beifall braucht zu fragen. 79
Kaum hat sich Königin Elisabeth noch als ein „wehrlos Weib“ dargestellt, das „kämpfend gegen eine Welt“ steht 80 – und unvermittelt lässt sie Schiller wieder zu sich finden. ‚Ohnmacht‘ schlägt dabei wieder in ‚Macht‘ um, und eine „Ohnmäch75 76 77 78
79 80
NA 9.I, 140f. NA 9.I, 85. NA 9.I, 142. Dass hinter dem „Volk“, jener im vierten Aufzug von Maria angesprochenen „wankelmüthge[n] Menge, / Die jeder Wind herumtreibt!“ (NA 9.I, 144), auch eine Anspielung auf die instabilen Massen der Französischen Revolution im Gegenlicht zu sehen sei – daran mag kein Zweifel bestehen. Einschlägig zur Legitimationsfrage in Schillers Maria Stuart vor dem Hintergrund des historischen Todesurteils gegen den französischen König Ludwig XVI. vgl. Foi: Recht, Macht und Legitimation in Schillers Dramen, S. 227–242. Zur Hinrichtung Marias in Bezug auf die zeitgenössische Debatte um die Todesstrafe vgl. das Kapitel „Un’irruzione del tempo nel dramma: Maria Stuart“, in: Foi: La giurisdizione delle scene, S. 109–138. NA 9.I, 142. NA 9.I, 143.
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tige“ nennt nun die wieder erstarkte Elisabeth ihre Rivalin: „Ich führe beßre Waffen, / Sie treffen tödlich, und du bist nicht mehr!“. 81 Wie man weiß, wird diese zur Schau gestellte ‚Gewalt‘ jedoch bei Schillers besonderer ‚Machtfrau‘ am Ende nicht ausreichen, um die volle Verantwortung für die Exekution ihrer ‚Schwester‘ zu übernehmen. Die menschliche Vereinsamung, zu der Elisabeth in der letzten Szene von Schillers Trauerspiel verurteilt wird, kann man moralisch deuten als gerechte Bestrafung dafür, dass die Königin von England ihren „edlern Theil“ 82 unterdrückte und das in ihrer Hand stehende Leben der Protagonistin nicht gerettet hat. Über das moralische Urteil hinaus stellt menschliche Vereinsamung allerdings lediglich die konsequente Folge von Elisabeths grundsätzlicher Entscheidung für die Macht – einer Entscheidung, der sie schließlich, den erwähnten Schwankungen der ‚Ohnmacht‘ zum Trotz, von Anfang bis zum Ende von Schillers Trauerspiel treu bleibt. Von Anfang an im Zeichen der Schwäche, Passivität und Ohnmacht steht dagegen Elisabeths Rivalin und Titelheldin Maria Stuart. In England ist sie „elend und gefangen“, 83 ja, „in Banden“, 84 wie sie sagt. Eine „Schwache“ nennt Talbot die reizvolle junge Königin außerdem als eine liebende Frau, die sich in früheren Zeiten „von heftigdringenden Vasallen“ „umrungen sah“ und dabei Bothwell, „dem Muthvollstärksten in die Arme warf“. 85 Wenn man sich gerade in Bezug auf Bothwell mit Talbot fragt, „durch welcher Künste Macht“ Maria in Wahrheit von ihm „besiegt“ wurde, 86 so gibt die Stuart bereits im ersten Aufzug eine so klare wie bezeichnende Antwort: „Seine Künste waren keine andre, / Als seine Männerkraft und meine Schwachheit“. 87 Und schließlich: Unter Marias letzten Worten, welche die angebliche „Heilige von ‚dieser‘ Welt“ auf dem Weg zum Schafott spricht, sind nicht zufällig noch „Schwachheit“ und „zärtlich liebend Herz“ 88 zu finden. Das Bild von Schillers Titelheldin ist somit eindeutig: Maria ist eine schwache, dabei erotisch aufgeladene, weibliche Figur, die in England gefangen gehalten wird und bei Schiller von Anfang an kaum handeln kann: Ihr Schicksal ist bereits am Anfang des Trauerspiels so gut wie besiegelt. Da allerdings das Trauerspiel – wie Schiller nur allzu gut wusste – nicht von bloßer ‚Ohnmacht‘ leben kann, sondern nur vom Umschlagen einer anfänglichen Ohnmacht in Übermacht, 89 ist es 81 82 83 84 85 86 87 88 89
Ebd. NA 9.I, 179. NA 9.I, 25. NA 9.I, 90. NA 9.I, 59. Ebd. NA 9.I, 20. NA 9.I, 170. Eine einschlägige Textpassage aus Schillers ‚ästhetischer Abhandlung‘ Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen (Erstdruck im Jahr 1792) sei hier erneut zitiert: „Das Gefühl des Erhabenen besteht einerseits aus dem Gefühl unsrer Ohnmacht und Begrenzung, einen Gegenstand zu umfassen, anderseits aber aus dem Gefühl unsrer Uebermacht, welche vor keinen Grenzen erschrickt und dasjenige sich geistig unterwirft, dem unsre sinnlichen Kräfte
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geradezu notwendig, dass sich die konstitutive Passivität der Protagonistin auf irgendeine Weise in ‚Tätigkeit‘ verwandelt, oder zumindest, wenn man so will, dass Maria doch im Stück „aus der Tiefe [ihres] Elends / Zur Hoffnung übergeh[t]“. 90 Um dies zu erreichen, greift Schiller offensichtlich auf seine „kräftigste Manier“ 91 zurück: Um die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert versucht er sozusagen, bei einem Rundgang im Theaterdepot seiner Jugend Inspiration zu schöpfen, und stellt dann schließlich seiner Heldin die einzige Figur seines Stücks an die Seite, die nicht historisch überliefert ist, nämlich Mortimer, den Neffen von Marias Hüter Paulet. Kein Zweifel: „Wie ein Relikt aus früheren Arbeitsperioden wirkt die Mortimer-Figur“ 92 – wobei zu vermerken ist, dass der pejorative Unterton, der hier beim Begriff ‚Relikt‘ mitschwingt, in der Forschungsliteratur zu Schillers unbändigen Figuren à la Mortimer in den „früheren Arbeitsperioden“ nicht immer so deutlich zu hören ist: Ganz im Gegenteil wird hier der große Gestus, ja das Streben nach Größe vor dem Hintergrund des übergeordneten Freiheitsideals eher gepriesen. 93 Wie dem auch sei: Die Figur des Mortimer in Maria Stuart trägt alle Merkmale, die Schillers frühere Sturm-und-Drang-Charaktere gekennzeichnet hatten, und verkörpert in Marias Lager zunächst jenes unbegrenzte Machtstreben, das die notwendige Kehrseite der prinzipiellen Ohnmacht der Protagonistin im Stück darstellt. Wenn man sich fragt, welche positiven ‚Werte‘ aus Paulets Neffen zunächst sprechen, so ist die Antwort kaum überraschend: Schiller stattet ihn mit Jugend und Kraft, mit einem stark ausgeprägten Selbstbewusstsein sowie mit einem festen Glauben an den eigenen Auftrag, ja an die eigene ‚Mission‘ aus. Dass sich diese ‚Mission‘ wirkungsästhetisch betrachtet grundsätzlich jenseits von Gut und Böse verortet, versteht sich nun in unserem Rahmen von selbst. Auffällig an Mortimer ist vor allem Folgendes: Für die ‚gute Sache‘ zu mobilisieren ist er hauptsächlich durch ästhetische Reize – sei es durch die Gestalt Marias, der „schönste[n] aller Frauen“, 94 oder durch „der Künste Macht“. 95
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unterliegen. Der Gegenstand des Erhabenen widerstreitet also unserm sinnlichen Vermögen, und diese Unzweckmäßigkeit muß uns notwendig Unlust erwecken. Aber sie wird zugleich eine Veranlassung, ein anderes Vermögen in uns zu unserm Bewußtseyn zu bringen, welches demjenigen, woran die Einbildungskraft erliegt, überlegen ist. Ein erhabener Gegenstand ist also eben dadurch, daß er der Sinnlichkeit widerstreitet, zweckmäßig für die Vernunft, und ergötzt durch das höhere Vermögen, indem er durch das niedrige schmerzet“, NA 20, 137f. NA 9.I, 23. „In der Darstellung erkenne ich Deine kräftigste Manier – selbst das Jugendliche der Räuber in einigen Scenen Mortimers“, so Christian Gottfried Körner in einem Brief vom 9. Juli 1800 an Schiller, NA 38 I, 287. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 509. Ein Beispiel stellt Schillers Marquis Posa dar, wenn man ihn als einen Charakter versteht, der grundsätzlich „etwas zum Wohle vieler“ will und dabei lediglich zum (guten) Protagonisten der (mit Max Kommerell gesprochen) menschlichen „Tragödie der Mittel“ werde, vgl. MüllerSeidel: Friedrich Schiller und die Politik, S. 109. NA 9.I, 27. NA 9.I, 24.
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Bereits das erste Mal, da Mortimer auf Schillers Bühne kurz in Erscheinung tritt, nennt ihn Maria abschätzend, da sie ihn noch zu ihren Feinden rechnet, einen „Jüngling[-]“. 96 Der Vergleich gilt dabei seinem Onkel, dessen „Alter“ Maria explizit zu ehren erklärt. Elisabeth – eine Herrscherin, die sich, wie gesagt, in ‚Machtsachen‘ bestens auskennt – erkennt ihrerseits in Mortimer schon beim ersten Treffen einen Wesensverwandten: „Ihr zeigtet einen kecken Muth und seltne / Beherrschung eurer selbst für eure Jahre“, 97 sagt sie, und glaubt somit den jungen Mann mit jenem Mord an der Stuart beauftragen zu können, den sein Onkel sich geweigert hat auszuführen. Dabei unterstreicht Mortimer selbst den von ihm verkörperten Wert der „Jugend“: MORTIMER. Entschuldige Den alten Mann. Die Jahre machen ihn Bedenklich. Solche Wagestücke fodern Den kecken Muth der Jugend – 98
Welche Männlichkeitsideale der junge Mortimer hegt, ist auch leicht gesagt. Regelrecht fasziniert zeigt er sich durch Marias „edeln Oheim“, den „Kardinal von Guise“. 99 „Welch ein Mann!“, ruft er begeistert im ersten Aufzug aus: Wie sicher, klar und männlich groß! – Wie ganz Gebohren, um die Geister zu regieren! Das Muster eines königlichen Priesters, Ein Fürst der Kirche, wie ich keinen sah! 100
Von diesem mächtigen ‚Fürsten der Kirche‘ und „erhabnen Mann[-]“, 101 wie Maria ihn nennt, will Mortimer nicht nur die „hohen Glaubenslehren“ 102 der katholischen Kirche gelernt haben, sondern auch „der Verstellung schwere Kunst“ 103 – eine „Kunst“, die, wie man daraus schließen soll, in seiner Auffassung nicht mit jenen „Glaubenslehren“ im Widerspruch zu stehen braucht. Tief beeindruckt zeigt sich Mortimer außerdem vom Grafen von Leicester, Elisabeths Favoriten, den die Königin von England einst als Ehemann für Maria Stuart vorgeschlagen hatte. Was Schillers Leicester mit Maria eigentlich beabsichtigt, sagt dieser im Übrigen später mit klaren Worten zu Mortimer: Er wolle sie „retten“ und „besitzen“ 104 – wie er
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NA 9.I, 17. NA 9.I, 67. NA 9.I, 69. NA 9.I, 25. Ebd. Ebd. NA 9.I, 26. NA 9.I, 28. NA 9.I, 78.
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übrigens vormals noch „auf den Besitz der Königin von England“ gehofft habe. 105 Mortimer zeigt sich zunächst empört über Leicesters Selbstsucht, ja über seinen egoistischen Anspruch auf Marias ‚Besitz‘. Noch gegen Ende des dritten Aufzuges warnt er Maria nachdrücklich vor Leicester – das sei ein „Feiger, Elender“, der sie, wie er widerholt, nur „retten und besitzen“ 106 wolle. Was Schiller jedoch dann an dieser Stelle seines Spätwerks auf die Bühne bringt, ist eine regelrechte Abrechnung mit der Gestalt des Mortimer sowie, in effigie, mit all den unbändigen, nach Größe strebenden, ‚erhabenen‘ Machtmenschen, die er in seinem früheren dramatischen Werk auf der Bühne hatte agieren lassen. Bis ins Lächerliche wird nun das Maßlose dieser Figuren am Beispiel Mortimers verzerrt dargestellt. ‚Wille zur Macht‘ und ‚Ideal‘ entpuppen sich dabei als ein geradezu sadistischer Größenwahn, der vor nichts und niemandem Halt macht. „Der That bedarfs jetzt“, 107 sagt Mortimer, der nach dem entscheidenden Gespräch der Königinnen im dritten Aufzug überzeugt ist, die Stuart solle befreit werden – koste es, was es wolle. „Kühnheit muß entscheiden“, 108 bekräftigt er gegenüber Maria, wobei für alle „Schulden“, die er zu seinem Zweck auch begehen könnte, gar „im voraus“ im Katholischen für Ablass gesorgt sei. 109 Doch stellt Schiller dann im weiteren Verlauf des Dialogs zwischen Mortimer und Maria nicht mehr die erhabene ‚große Tat‘ des Machtmenschen in den Mittelpunkt, sondern seine psychologische Motivation. ‚Wille zur Macht‘ ist dabei allerdings in Form von gefasster ‚Entsagung zur Macht‘, wie sie beispielsweise Elisabeth bei allen Höhen und Tiefen bis zum Ende des Trauerspiels ausüben kann, bei Mortimer offensichtlich nicht weiter möglich. Wie sich zeigt, steht Mortimers ‚Tatendurst‘ nicht im Zeichen der ‚Macht‘, sondern des Genusses, ja des eigennützigen ‚Besitzes‘: Aktiver ‚Wille zur Macht‘ schlägt hier in passiven Eros um – mit all den entsprechenden Folgen. Das Bild, das hierbei von diesem angeblich vom „Schicksal“ gewählten Befreier 110 und „Erretter“ 111 der Maria entsteht, ist verheerend:
MORTIMER. Was ist mir alles Leben gegen dich Und meine Liebe! Mag der Welten Band Sich lösen, eine zweite Wasserfluth
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NA 9.I, 76. NA 9.I, 106. NA 9.I, 107. Ebd. Ebd. „Ein lauter Ruf des Schicksals war sie [die „Fügung“, dass Mortimers Onkel zum Hüter der Maria wurde] mir, / Das meinen Arm gewählt, euch zu befreien“ – das sagt Mortimer selbst im ersten Aufzug des Trauerspiels, NA 9.I, 28. 111 Vgl. NA 9.I, 110.
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Herwoogend alles athmende verschlingen! – Ich achte nichts mehr! Eh’ ich dir entsage, Eh’ nahe sich das Ende aller Tage. 112
Da die Welt für Mortimer lediglich als eine Widerspiegelung des Selbst in Betracht kommt, ist die grundsätzliche Gleichsetzung von eigener und allgemeiner Katastrophe bei dieser Figur durchaus konsequent. Seinen Mortimer lässt Schiller dann nicht ohne Grund „mit irren Blicken, und im Ausdruck des stillen Wahnsinns“, so die Regieanweisung, 113 das Gespräch mit Maria fortführen. In einer bemerkenswerten Steigerung, die selbst in Schillers Frühwerk ihresgleichen sucht, erklärt Mortimer nun unverblümt mit Leicesters Worten, er wolle auch Maria „retten“ und „besitzen“. 114 Seine interessierte Aufmerksamkeit gilt nun allerdings offensichtlich eher dem ‚thierischen Besitz‘ als der sittlich-erhabenen, ‚geistigen Errettung‘ der katholischen Königin. Da Maria – so Mortimers eigenwilliges Argument – bereits dem Tod geweiht sei, so möge sie zumindest ihn, den „glücklichen Geliebten“, davor noch „beseligen“ mit jenen „Reizen“, die eigentlich schon des Todes seien und daher nicht mehr zu ihr gehörten. 115 Schließlich habe Maria ja vormals nicht nur „den Sänger Rizzio beglückt“, sondern sie habe sich auch von Bothwell entführen lassen. 116 Die markante Passage gipfelt in Mortimers sadistischer Drohung „Erzittern sollst du auch vor mir!“, 117 die er in der Überzeugung ausspricht, der von Maria ‚beglückte‘ Bothwell sei wahrlich „nur“ ihr „Tyrann“ gewesen und die Schottenkönigin sei womöglich nur durch „Schrecken“ zu gewinnen. 118 ‚Wille zur Macht‘ im degenerativen Stadium – so möchte man dabei diagnostizieren, da Mortimer jede psychophysische Koordination unwiderruflich verloren hat, und das, was ihm bleibt, zügellos auf unmittelbaren Freudengewinn abzielt. In der Tat: Mortimers moralischer Sturz – jene von Schiller schonungslos dargestellte moralische Niederlage eines dekadenten Machtstrebers, der im Jahr 1800 bereits auf das Fin de siècle hindeutet – ist an dieser Stelle vollständig und irreparabel. Es gehört allerdings zu den Merkmalen von Schillers streng symmetrisch gebautem Trauerspiel, dass alle von den Hauptfiguren aufgewiesenen moralischen Höhen und Tiefen am Ende einen entsprechenden Ausgleich finden. So hält beispielsweise Elisabeth am Ende des Stücks ihre einst von Maria bedrohte Macht fest in der Hand, sie muss dies jedoch mit menschlicher Einsamkeit bezahlen; der Opportunist und Doppelspieler Leicester, der „im Grunde beide Königinnen verra-
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NA 9.I, 108. Ebd. NA 9.I, 109. Ebd. NA 9.I, 110. NA 9.I, 111. Ebd.
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ten hat“, 119 nachdem er beide ‚besitzen‘ wollte, flieht am Ende die ‚Siegerin‘ Elisabeth. Und was geschieht mit dem tief gefallenen Mortimer? Um diesen scheiternden Retter der Maria, der fast zu ihrem Vergewaltiger wird, moralisch zu rehabilitieren, lässt Schiller ein Zweifaches in seinem Trauerspiel geschehen. Zunächst wird Mortimer im vierten Aufzug von Leicester feige und opportunistisch verraten. Daraufhin beschwört er seine ‚Freiheit‘ im Tod und gibt ein letztes „männlich Beispiel“, 120 indem er sich in ‚Marias‘ Namen, und das heißt im Namen der Stuart und der heiligen Mutter Christi zugleich, das Leben nimmt. Von Schillers Publikum scheidet Mortimer somit mit einer gewissen Würde und nicht bloß als der mögliche und verachtenswerte Vergewaltiger der Protagonistin. Vor dem Hintergrund der strengen Symmetrie von Schillers Komposition bleibt es noch zu erläutern, an welchen Orten des Trauerspiels und auf welche Weise der Protagonistin Maria Stuart gegönnt wird, ihre konstitutive Ohnmacht in Übermacht umschlagen zu lassen. Hierbei kommen vor allem zwei Textstellen in Betracht – die eine im dritten, die andere im fünften und abschließenden Aufzug von Schillers Stück. Eine regelrechte Revanche nimmt Maria an der mächtigen ‚Schwester‘ im zentralen Gespräch zwischen beiden Königinnen im dritten Aufzug. Die Episode ist vor dem Hintergrund einer Maxime fruchtbar zu deuten, die Burleigh, der „Vertreter des unbedingten Machtdenkens“ 121 an Elisabeths Hof, bereits im ersten Aufzug äußert: „Die Meinung hält es / Mit dem Unglücklichen, es wird der Neid / Stets den obsiegend glücklichen verfolgen“ 122 – selbstverständlich lässt sich dies wirkungsästhetisch auch in Bezug auf das Theaterpublikum sagen. Tatsächlich geht Maria in Schillers Trauerspiel als eine Unglückliche, als eine Bittende in das Gespräch mit Elisabeth, der obsiegend Glücklichen, ein, und erlebt dabei ihrerseits den lange ersehnten, vollständigen, wenn auch nur flüchtigen „Augenblick der Rache, des Triumphs“, 123 wie sie selbst nach dem Treffen begeistert berichtet: MARIA. […] Wie Bergeslasten fällts von meinem Herzen, Das Messer stieß ich in der Feindin Brust. […] Vor Lesters Augen hab’ ich sie erniedrigt!
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Walter Hinderer: Der Geschlechterdiskurs im 18. Jahrhundert und die Frauengestalten in Schillers Dramen. In: Ders. (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, S. 261–285, hier S. 282. 120 NA 9.I, 125. 121 Alt: Schiller. Bd. 2, S. 509. 122 NA 9.I, 46. 123 NA 9.I, 104.
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Er sah es, er bezeugte meinen Sieg! Wie ich sie niederschlug von ihrer Höhe, Er stand dabey, mich stärkte seine Nähe! 124
Wider Erwarten trennt sich die mächtige Elisabeth als Geschlagene von ihrer machtlosen Rivalin, die hier ihren ersten ‚moralischen‘ „Triumph“ erlebt. Den zweiten ‚Erfolg‘ feiert Maria dagegen am Ende von Schillers Trauerspiel, da die ‚Unglückliche‘, „zum Tode verurteilte“, schließlich als „moralische Siegerin“ aus dem Stück hervorgeht. 125 Dass das Trauerspiel mit diesem Umschlagen der ‚Ohnmacht‘ in ‚Macht‘, zumindest in einem christlich geprägten kulturellen Kontext grundsätzlich auch seine ästhetische Wirkung im Zeichen des Sittlich-Erhabenen erzielt, ist das eine. Andererseits wird durchaus klar, dass dies noch nichts über die prinzipielle Qualität jenes ‚Triumphs‘ besagt, wenn man ihn über seine ästhetische Funktion im Trauerspiel hinaus betrachtet. Die Frage lautet somit: Worin besteht Marias ‚Triumph‘ am Ende von Schillers Stück tatsächlich und wie ist der religiöse Ausklang der Protagonistin vor dem Hintergrund von Schillers Werk und seiner Epoche nachträglich zu bewerten? „Erstens war Schiller kein Katholik“ – so könnte man zunächst in der Auseinandersetzung mit dem letzten Aufzug von Maria St uart mit Karl Emil Franzos festhalten. 126 Um das ‚Katholische‘ der Maria Stuart dennoch fruchtbar in Schillers Werk zu integrieren, war es in der Forschung notwendig, seine Bedeutung in gewisser Weise, wenn nicht zu neutralisieren, so doch zumindest zu relativieren. Um diese Relativierung zu erzielen, wurde einfach operiert: Da die katholische Königin letztendlich als ‚Mensch‘ auf der Bühne stehe, arbeitete man an Schillers Maria über das Konfessionelle hinaus vor allem das übergeordnete ‚AllgemeinMenschliche‘ heraus. Dadurch war es möglich, Schillers Titelheldin, bei allen
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NA 9.I, 104f. So bereits Korff an dem auf den vorigen Seiten erwähnten Ort in: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte, zit. aus: Christian Grawe (Hg.): Friedrich Schiller. Maria Stuart, S. 184. Zu Recht wurde in der neueren Forschung darauf hingewiesen, dass Schillers „akkurate Antithetik“ keine „Schwarz-WeißMalerei“ bedeutet und dass Maria keinesfalls lediglich eine „ethisch geläuterte Triumphfigur“ bei Schiller darstellt, vgl. Guthke: Maria Stuart, S. 212. Zu vermerken ist dabei allerdings, dass Korffs Urteil grundsätzlich gültig bleibt, auch wenn man Maria als eine „Heilige von ‚dieser‘ Welt“ interpretiert, oder wenn man sich bemüht, Marias Tod im katholischen Glauben mit Schillers Programm der ästhetischen Erziehung in Einklang zu bringen, vgl. etwa Sautermeister: Idyllik und Dramatik, S. 214f. Gleichwohl bleibt Maria die ‚moralische Siegerin‘ von Schillers Stück, wenn man ex negativo Folgendes anmerkt: „Elisabeth als die modernere der beiden Protagonistinnen fällt zivilisationskritisch in die gleiche Kategorie wie ihre männlichen Ratgeber, ist mehr Vertreterin des ‚sentimentalischen‘ Zeitalters, anfällig für die Dialektik der Aufklärung und darum der Kritik Schillers stärker ausgesetzt“, Vonhoff: Maria Stuart, S. 167. 126 Karl Emil Franzos: Schiller in Barnow, in: Ders.: Aus Halb-Asien. Culturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien. Leipzig 1876. Bd. 1, S. 69–90, hier S. 69.
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offenen Fragen, die auch hervorgehoben wurden, 127 geradewegs als eine allzu menschliche „Heilige von ‚dieser‘ Welt“ zu präsentieren. Indes ist hierbei ein Zweifaches zu bedenken: Zum einen stellt der Katholizismus bei Schillers Maria kein Akzidens dar, sondern ist ein fester Bestandteil ihrer existenziellen Orientierung. Zum anderen kann ihr Glaube eben als solcher keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Wenn man demnach Marias Credo nicht relativiert und vielmehr mit all seinen irdischen und transzendenten Implikationen ernst nimmt, so muss auch das durchaus Individuelle der Mensch- und Weltanschauung von Schillers Protagonistin geradezu evident werden. Noch komplizierter wird die Ausgangslage, wenn man sich vor Augen führt, welche Bedeutung der ästhetische Anteil innerhalb von Marias Katholizismus besitzt. 128 Und gerade bei diesem ästhetisch karikierten Katholizismus, den man auch leicht auf das konfessionelle Bild des protestantisch sozialisierten Autors zurückführen könnte, lohnt es sich zu verweilen. Der abschließende „eucharistische Akt“ 129 der Maria St uart wird in Schillers Trauerspiel gut vorbereitet. Seine fromme Maria lässt Schiller bereits das allererste Mal „im Schleier, ein Krucifix in der Hand“ 130 die Bühne betreten, wie die Regieanweisung vermerkt. Doch einen ersten Eindruck vom Katholizismus der Stuart und ihrer Partei bekommt man bei jener ersten Unterredung zwischen den römischkatholischen Gläubigen Maria und Mortimer, die noch im ersten Aufzug stattfindet. Hier stellt der junge Mortimer, seiner Figur gemäß, seine Konversion zur katholischen Lehre mit herzerhebenden Worten der Begeisterung dar als das Ergebnis einer „unbezwingliche[n] Begierde“, 131 die ihn als Pilger nach Italien, ja in die Ewige Stadt getrieben habe. Was der ehemalige Puritaner im katholischen Süden als „Staunende[r]“ über die „Sinnen“ zu „fühlen“ lernt, ist zunächst „der Künste Macht“, wie er in expliziter Absetzung von seiner ehemaligen Konfession behauptet. Deutlich hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass es gerade die ‚Macht der Künste‘ ist, die Mortimer über die Figur des „Papstes“ geradewegs zum „Göttlichen“ führt, noch mehr: In Mortimers Darstellung verschmelzen das Ästhetische und das Religiöse letztlich in eine untrennbare Einheit, wobei zu betonen ist, dass
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„Für eine angemessene Einschätzung von Schillers Maria Stuart, das hat Karl Guthke mit dem fragenden und damit das Verständnis öffnenden Gestus seiner Interpretation gezeigt, ist es aufgrund der Komplexität dieses Trauerspiels notwendig, weiterhin Fragen zu stellen“, so Gert Vonhoff resümierend in: Maria Stuart, S. 167. 128 Allgemein zum Verhältnis von Kunst und (italienischem) Katholizismus bei Schiller vgl. Francesco Rossi: Italiener, ein „Künstlervolk“. Zur Charakterisierung Italiens bei Friedrich Schiller. In: Peter-André Alt u. Marcel Lepper: Schillers Europa. Berlin u. Boston 2017, S. 260–274 sowie Ders.: Schiller e il cattolicesimo estetico. In: Ders. (Hg.): Estetica, antropologia, ricezione. Studi su Friedrich Schiller. Pisa 2016, S. 61–82. 129 Alt: Schiller. Bd. 2, S. 508. 130 NA 9.I, 13. 131 NA 9.I, 24.
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Schillers Interesse wohl primär der ästhetischen Seite dieser ‚Einheit‘ gilt. Die ganze Textpassage sei hier in Erinnerung gerufen: MORTIMER. […] Wie ward mir, Königin! Als mir der Säulen Pracht und Siegesbogen Entgegenstieg, des Kolosseums Herrlichkeit Den Staunenden umfing, ein hoher Bildnergeist In seine heitre Wunderwelt mich schloß! Ich hatte nie der Künste Macht gefühlt: Es haßt die Kirche, die mich auferzog, Der Sinne Reiz, kein Abbild duldet sie, Allein das körperlose Wort verehrend. Wie wurde mir, als ich ins Innre nun Der Kirchen trat, und die Musik der Himmel Herunterstieg und der Gestalten Fülle Verschwenderisch aus Wand und Decke quoll, Das Herrlichste und Höchste, gegenwärtig, Vor den entzückten Sinnen sich bewegte, Als ich sie selbst nun sah, die Göttlichen, Den Gruß des Engels, die Geburt des Herrn, Die heilge Mutter, die herabgestiegne Dreifaltigkeit, die leuchtende Verklärung – Als ich den Pabst drauf sah in seiner Pracht Das Hochamt halten und die Völker segnen. O, was ist Goldes, was Juweelen Schein, Womit der Erde Könige sich schmücken! Nur er ist mit dem Göttlichen umgeben. Ein wahrhaft Reich der Himmel ist sein Haus, Denn nicht von dieser Welt sind diese Formen. 132
Ästhetischer und religiöser Rausch gehen bei Mortimer Hand in Hand. Es sind „Formen“, die „nicht von dieser Welt“ sind, die den jungen Reformierten zur neuen-alten Konfession zu ent- und überführen vermögen. Geradezu bezeichnend ist der Ausruf, in dem Maria bei Mortimers hohen Worten der Begeisterung ausbricht: O schonet mein! Nicht weiter. Höret auf, Den frischen Lebensteppich vor mir aus Zu breiten – Ich bin elend und gefangen. 133
Wenn man „Formen“ miteinander verwebt, die „nicht von dieser Welt“ sind, so mag ein „frische[r] Lebensteppich“ daraus hervorgehen, der hier offensichtlich als qualitativ besser angesehen wird als alle Erzeugnisse, die mit irdischen ‚Formen‘ verwoben sind. Das „Leben“, auf das sich Maria bezieht, mag hier auf das ‚wahre Leben‘ hinweisen, das für die Christen erst im Jenseits stattfindet. Was hier interessiert, sind allerdings weniger theologische Aspekte im Einzelnen, sondern der Umstand, dass Schillers Katholiken Maria und Mortimer das „Leben“ auffällig nur 132 133
NA 9.I, 24f. NA 9.I, 25.
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sub specie aesthetica erfahren können. Ästhetische Formen bilden für sie einen „frischen Lebensteppich“, der das irdische Leben transzendiert, mehr noch: Ästhetische Formen stellen jenes ‚Schöne‘ zur Verfügung, das hier einen transzendenten Ersatz für ihr dürftiges Leben im Diesseits darstellt. Wie wir wissen, wird Mortimer im vierten Aufzug doppeldeutig zunächst die „heilge“ Maria bitten, ihn zu sich ins „himmlisch Leben“ zu nehmen 134 – und sich dann selbst aus dem irdischen Leben befördern. Auch wenn der junge Konvertit im dritten Aufzug von den Reizen der Maria, der „schönste[n] aller Frauen, welche leben“, 135 sozusagen auf entschieden immanente Weise zu profitieren sucht, ist es dennoch bezeichnend, dass er die katholische Königin in Schillers Trauerspiel zunächst nicht persönlich, sondern nur ästhetisch vermittelt kennenlernt. Wie er berichtet, sei ihm in Frankreich ein „weiblich Bildnis“ im Haus des Bischofs von Roße in die Augen gefallen, das „von rührend wundersamem Reiz“ 136 gewesen und von dem er in seiner „tiefsten Seele“ „ergriff[en]“ worden sei. 137 Das sei eben ein Bildnis der Maria Stuart gewesen. Vor dem Hintergrund des hier dargestellten Katholizismus, bei dem die Ästhetik von Anfang an eine geradezu entscheidende Rolle spielt, ist auch der letzte Akt von Schillers Maria Stuart im Ganzen zu betrachten. Wie bereits erwähnt, geht die katholische Protagonistin hier als ‚moralische Siegerin‘ hervor – einerlei, ob man sie als ‚sittlich-erhabene Figur‘ oder als ‚schöne Seele‘ interpretiert. Die Frage ist nun allerdings, wo die Tragik eines Trauerspiels zu verorten ist, in dem sich die Protagonistin dem Scharfrichter stellt im festen Glauben daran, dass das wahre Leben erst nach ihrer Exekution anfange. „Jetzt hab’ ich nichts mehr auf der Erden!“, 138 so der letzte Satz, den Schiller seiner Titelheldin in den Mund legt: 139 Leicht könnte man daraus schließen, dass der christliche Verzicht auf alles Irdische als das wahre Vermächtnis dieser tief gläubigen Protagonistin aus Schillers ‚klassischer Dramatik‘ zu betrachten wäre. Doch nicht religiöse, sondern vor allem ästhetische Überlegungen versprechen auch an dieser Stelle, neue Deutungswege zu eröffnen. Denn nicht eine religiöse Konfession, zu der Schiller ja auch nicht gehörte, sondern vielmehr die Sphäre der Ästhetik ist offensichtlich im letzten Aufzug der Maria S tuart dazu berufen, ‚Trost‘ zu spenden. Und genau auf die Implikationen dieses ‚ästhetischen Trosts‘, der bei Schiller gar die Form eines „religiöse[n] Kunstsyndrom[s]“ 140 annimmt, 134 135 136 137 138 139
NA 9.I, 125. NA 9.I, 27. NA 9.I, 26. Ebd. NA 9.I, 170. Aus Marias letztem Satz soll der Interpret im Übrigen auch schließen, dass selbst der Sohn, den diese (bei Schiller) junge königliche Mutter „auf der Erden“ hinterlässt, im erwähnten „nichts“ mit enthalten ist. 140 Vgl. Ulrich Port: Pathosformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755– 1888). München 2005, S. 237.
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kommt es nun an, wenn man sich nicht mit der traditionellen Deutung von Marias sittlich-erhabener Todesbereitschaft am Ende von Schillers Trauerspiel begnügen möchte. In der Forschung wurde deutlich darauf hingewiesen, dass „die literaturpolitische Situation der späten 1790er Jahre von einer grundlegenden Opposition bestimmt“ wurde: Die „Situation“ lasse sich dabei „als epochale Gleichzeitigkeit, als Nebeneinander von ‚Weimarer Klassik‘ und ‚Jenaer (Früh-) Romantik‘ beschreiben“. 141 Vor dem Hintergrund dieser eigentümlichen ‚Opposition‘, hinter der vor allem divergierende Kunstauffassungen stehen, ist auch Schillers Maria St uart fruchtbar zu deuten. Ansätze einer solchen Interpretation, in der die „kunstreligiöse Konstellation“ der Maria St uart mit der Frühromantik in Verbindung gebracht wurde, finden sich bereits in der älteren Schiller-Forschung. 142 Darüber hinaus wurde in Bezug auf die Figur des Mortimer angemerkt, dass Schiller in ihm „mit bemerkenswerter Intuition […] die romantische Einstellung der jungen kath[olischen] Generation in England“ in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verkörpere. 143 Dabei fragt es sich, ob Schiller die von Mortimer verkörperte, eigentümliche Verbindung von Kunst und Religiosität nicht vielmehr von seiner Gegenwart in die englische Geschichte zurück projiziert hat. Darüber hinaus wurde in Bezug auf den letzten Aufzug von Schillers Trauerspiels darauf hingewiesen, dass hier gerade „die Gemütsbewegung durch Überwältigung der Sinne zum Gesprächsgegenstand zwischen Maria und ihren Haushofmeister Melvil“ wird. 144 Und zu Recht hat man letztlich angemerkt, Schiller bediene sich im Schlussakt der Maria Stuart „einer ganzen Serie von Pathosformeln, die nicht dem eigenen ästhetischen Programm entstammt“. 145 Dem ist zuzustimmen: Denn diese „Pathosformeln“ sind eher mit dem ‚ästhetischen Programm‘ der jungen Generation der Jenaer Romantiker in Zusammenhang zu bringen. Wenn dem so ist, dann fragt es sich allerdings, warum sich Schiller eben dieses ‚konkurrierenden‘ ästhetischen Programms in seinem ‚klassischen‘ Trauerspiel bedient hat. Tritt Schiller möglicherweise in die Fußstapfen der Frühromantiker, um eine indirekte Kritik an ihrem ästhetischen Programm zu üben? Der letzte ‚Triumph‘ der Maria Stuart – das letzte Umschlagen der konstitutiven Ohnmacht von Schillers schottischer Königin in Übermacht – geschieht sub specie aestetica. „[M]it den Requisiten einer pathetisch grundierten ästhetischen Inszenierung“, 146 wie man nicht ohne eine gewisse Irritation festgestellt hat, bringt 141
Claudia Stockinger: Dramaturgie der Zerstreuung. Schiller und das romantische Drama. In: Dies., Uwe Japp u. Stefan Scherer (Hg.): Das romantische Drama. Produktive Synthese zwischen Tradition und Innovation. Tübingen 2000, S. 199–226, hier S. 199. 142 Forschungsergebnisse resümiert Port in: Pathosformeln, S. 237f. 143 Christian Grawe (Hg.): Friedrich Schiller. Maria Stuart, S. 14. 144 Ulrich Port: Pathosformeln, S. 237f. Die hier gemeinte Textpassage der Maria St uart findet sich in NA 9.I, 160f. 145 Ulrich Port: Pathosformeln, S. 241. 146 Alt: Schiller. Bd. 2, S. 508.
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Schiller hier eine ästhetische Apotheose im kunstreligiösen Geist der Frühromantik auf die Bühne – mit dem bemerkenswerten Ergebnis, dass das Tragische dieses ‚Trauerspiels‘ am Ende entschieden relativiert wird. Man kann sich mit der ‚schönen Form‘ begnügen, die durchaus ästhetischen Genuss sowie in gewisser Hinsicht existenziellen Trost spenden kann. Der ‚frische Lebensteppich schöner Formen‘, den Schiller am Ende seiner Maria St uart ausbreitet, täuscht allerdings schnell darüber hinweg, dass es sich bei Marias letzter ‚Verklärung‘ eigentlich um eine regelrechte Flucht aus der Welt handelt – es mag in das ‚ewige Leben‘ im christlichen Jenseits sein, oder auch einfach ins Nichts. Doch inwieweit kann von ‚Nihilismus‘ in Bezug auf Schillers Maria Stuart die Rede sein und wie unterscheidet sich diese Form des ‚Nihilismus‘ von derjenigen, die eine ‚heroische Moral‘ zeitigt? „Welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen“. 147 Es ist kein Zufall, dass der abschließende Satz von Goethes 1809 erschienenem Roman Die W ahlverwandtschaften mutatis mutandis auch in Bezug auf Schillers Figuren Maria und Mortimer als passend erscheinen will. Trotz des Gattungsunterschieds bestehen deutliche Parallelen zwischen Schillers streng symmetrisch gebautem Trauerspiel und Goethes von atemberaubender Kompositionsakribie gekennzeichnetem Roman. Schließlich enden beide Werke in einer romantisch angehauchten Glorifizierung, in der die Welt ästhetisch verklärt wird – einer ästhetischen Verherrlichung, die es allerdings auch im Fall von Schillers spätem Trauerspiel verdient, eher kritisch, ja als verdeckte Kritik an der Romantik 148 betrachtet zu werden. Am Ende hat man es nicht nur bei Goethes Wahlverwandtschaften, sondern auch bei Schillers Maria St uart nur oberflächlich mit einer positiv dargestellten „Apotheose des Romantischen“ 149 zu tun. Auch hinter Marias ‚moralischem Sieg‘ am Ausgang des Trauerspiels mag vielmehr eine „Diagnose des romantischen Zeitalters, eine klassische Kritik der Romantik“ 150 im Gegenlicht herausgelesen werden. Denn der ‚kühle‘ und ‚gemäßigte‘ späte Schiller, dessen Entfernung vom eigentlichen ‚Stürmer Alfieri‘ Benedetto Croce tadelte, treibt in Zeiten politischer Stürme – ganz im Gegensatz zum späten Alfieri – seine ästhetische Reflexion in seinem tragischen Theater weiter. Und das tut er auch in seiner Maria Stuart, indem er eine letztlich untragische Gestalt in den Mittelpunkt eines „Trauerspiels“ stellt, das es in mehr als einer Hinsicht verdiente, wie die 147 148
Goethe: Die Wahlverwandtschaften, MA 9, S. 529. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Willkür und Notwendigkeit. Goethes Wahlverwandtschaften als Kritik an der Romantik. In: Jahrbuch 1989 der Berliner Wissenschaftlichen Gesellschaft. Berlin 1990, S. 165–181. Grundlegendes zum Verhältnis von „romantischer Pansemiotik“ und „modernem Nihilismus“ in Goethes Wahlverwandtschaften hat Giuliano Baioni herausgearbeitet, vgl. L’alchimia, la chimica e il fiore androgino. In: Johann Wolfgang von Goethe: Le affinità elettive. Hg. v. Giuliano Baioni, übersetzt v. Paola Capriolo. Venezia 1999, S. 9–92. 149 So Schings wiederum mit Bezug auf Goethes Roman in: Willkür und Notwendigkeit, S. 181. 150 Ebd.
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spätere Jungfrau v on O rleans auch eine „romantische Tragödie“ 151 genannt zu werden. Wenn man gerade das Verhältnis von Tragik und Romantik in Betracht zieht, so kann in Schillers Maria St uart gar eine Vorwegnahme von Nietzsches späterer Kritik an der Romantik erkannt werden, einer Kritik, die auf der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einem tragischen ‚Pessimismus der Stärke‘ und einem romantisch-eskapistischen ‚Pessimismus der Schwäche‘ 152 basiert – je nachdem, ob dabei „Leiden und Leidende“ an der „Ueberfülle“ oder doch an der „Verarmung des Lebens“ ‚vorausgesetzt‘ werden. 153 Das, was Nietzsche vor dem philosophischen Hintergrund des 19. Jahrhunderts „Pessimismus“ nennt, wurde in unserem Rahmen auf den Namen ‚Nihilismus‘ getauft – zwischen beiden Begriffen besteht schließlich bereits bei Nietzsche eine direkte Parallele. 154 In unserer Auseinandersetzung mit Schillers Maria St uart gilt es nun, streng zwischen einem tragischen Nihilismus der Stärke und einem romantischen Nihilismus der Schwäche zu unterscheiden. Die heroische Moral des Nihilismus, von der bisher auf unseren Seiten die Rede war, ist eine Moral der Selbstsinnstiftung, die aus der Einsicht in die konstitutive Relativität aller Werte und die unüberwindbare Endlichkeit des Menschen hervorgeht. Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und nicht „erst im Kontext der idealistischen Philosophie um 1800“, 155 entspringt diese Moral einem tragischen Weltbild, oder – wenn man so will: sie geht aus jener Reaktion zur Mobilisierung von kulturstiftenden Kräften hervor, welche das Wissen um den tragischen Grund des Daseins hervorruft. 156 Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer existenziellen Selbstsinnstiftung 151
So der Untertitel von Schillers Jungfrau von Orleans. Wenn Schillers Äußerung in einem Brief an Iffland vom 5. August 1803, nach der im Stoff der Jungfrau von Orleans „das weibliche, das heroische und das göttliche selbst vereinigt“ seien, als „Hinweis auf sein Verständnis der Bezeichnung ‚romantische Tragödie‘“ zu deuten sei, so mag diese Bezeichnung auch in Bezug auf das frühere Trauerspiel Maria S tuart als durchaus angemessen betrachtet werden. Vgl. Albrecht Koschorke: Schillers Jungfrau v on O rleans und die Geschlechterpolitik der Französischen Revolution. In: Walter Hinderer (Hg.): Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, S. 243–259, hier S. 243. 152 Vgl. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Aphorismus 370: „Was ist Romantik?“, KSA 3, 619–622. 153 Ebd. 154 In einem nachgelassenen Fragment aus dem Herbst 1887 unterscheidet der späte Nietzsche selbst zwischen einem „active[n]“ Nihilismus der Stärke und einem Nihilismus als „Zeichen von nicht genügender Stärke“, KSA 12, 350. Doch bereits in einem früheren Fragment aus dem Jahr 1885/86 liest man: „Es ist zuletzt eine Frage der Kraft: diese ganze romantische Kunst könnte von einem Überreichen [!] und willensmächtigen Künstler ganz ins Antiromantische oder — um meine Formel zu brauchen — ins Dionysische umgebogen werden, ebenso wie jede Art Pessimismus und Nihilismus in der Hand des Stärksten nur ein Hammer und Werkzeug mehr wird, mit dem man sich ein neues Paar Flügel zusetzt“, KSA 12, 111. Vgl. dazu auch die von Elisabeth Kuhn verfassten Lemmata „Nihilismus“ und „Pessimismus“. In: Henning Ottmann (Hg.): Nietzsche-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung. Sonderausg. Stuttgart u.a. 2011, S. 293–298 u. S. 301f. 155 Daniel Fulda u. Thorsten Valk: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Die Tragödie der Moderne, S. 4f. 156 Vgl. dazu neuerdings auch Paolo Panizzo: Schiller e la storia come soggetto sublime, S. 35–55.
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haben wir uns mit Schillers frühen, nach unbedingter Freiheit strebenden Machtmenschen auseinandergesetzt – es handelte sich dabei ausschließlich um junge Männer – sowie deren auffällige Maßlosigkeit hervorgehoben. Der ‚klassische‘ Schiller nimmt nun von der ausgeprägten individualistischen Hybris seiner frühen Machtmänner deutlich Abstand, und bereits die Tatsache, dass der Dichter auch weibliche Gestalten als Titelfiguren für seine späten Trauerspiele wählt, mag vor diesem Hintergrund gedeutet werden. Es wäre allerdings ein Fehler anzunehmen, dass Maria Stuart dabei eine ‚wohltemperierte‘ heroische Moral verkörperte, ja dass sich in der Todesbereitschaft, die sie am Ende zeigt, eine klassisch-gemäßigte, bloß von männlicher Hybris bereinigte, tragisch-erhabene Moral widerspiegelte. Denn von Anfang an vertritt die katholische Königin kein tragisches Weltbild in Schillers Trauerspiel. Ganz umgekehrt übergibt sich Maria Stuart dem Scharfrichter am Ende ihrer irdischen Laufbahn im festen Glauben daran, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Wenn dem so ist – wenn das Schöne bei Maria konstitutiv nicht das notwendige, lebensbejahende Gegenstück zu den „Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins“ 157 darstellt: Wie ist die „ästhetische Verklärung“ 158 am Ende von Schillers Trauerspiel zu deuten? Und inwieweit ist man berechtigt, auch in Bezug auf die Figur der Maria Stuart von Nihilismus zu sprechen – dabei jedoch, nach der Unterscheidung Nietzsches, von ‚romantischem Nihilismus‘? Aufschluss über diese zentralen Fragen über Schillers klassisches Trauerspiel verschafft womöglich eine der markantesten Textpassagen aus dem im Jahr 1801 veröffentlichten Essay Ueber das E rhabene, auf die in unserem Rahmen bereits verwiesen wurde. Dort liest man Folgendes: Also hinweg mit der falsch verstandenen Schonung und dem schlaffen verzärtelten Geschmack, der über das ernste Angesicht der Nothwendigkeit einen Schleyer wirft und, um sich bey den Sinnen in Gunst zu setzen, eine Harmonie zwischen dem Wohlseyn und Wohlverhalten lügt, wovon sich in der wirklichen Welt keine Spuren zeigen. 159
Wenn man diese Textpassage ex negativo in der Auseinandersetzung mit Schillers Maria Stuart deutet, dann wird man kaum bessere Worte finden, um die eskapistische und tröstende Funktion zu beschreiben, welche die „pathetisch grundiert[e] ästhetisch[e] Inszenierung“ 160 am Ende von Schillers Trauerspiel erfüllt. Nicht dem im späten Essay geforderten „Stirne gegen Stirn“ im täglichen Kampf mit dem „böse[n] Verhängniß“ dient das Schöne an dieser Stelle. 161 Ganz umgekehrt: Hier frönt die Ästhetik der „Unwissenheit der uns umlagernden Gefahren“, 162 ja sie sorgt für die „Schonung“, die in Schillers Ueber das Erhabene scharf anprangert 157 158
Nietzsche: Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 35. Alexander Pleschka: Theatralität und Öffentlichkeit. Schillers Spätdramatik und die Tragödie der französischen Klassik. Berlin 2012, S. 214. 159 NA 21, 51f. 160 Alt: Schiller. Bd. 2, S. 508. 161 NA 21, 52. 162 Ebd.
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wird. 163 Hier wird gerade der „Schleyer“ – ja, man möchte sagen, der „frisch[e] Lebensteppich“ 164 – mit schönen Formen gewoben, den der schwache, ja „schlaff[e] verzärtelt[e] Geschmack“ über das „ernste Angesicht der Nothwendigkeit“ wirft – das heißt über die Tragik des Daseins. Und gerade hier wird letztlich eine beruhigende „Harmonie“ suggeriert, ja ein direktes Verhältnis zwischen persönlichem Wohlergehen und moralischem Handeln vorgetäuscht, für das gar keine Anhaltspunkte in der Natur zu finden sind. 165 In der Tat hat die „pathetisch grundierte“ 166 ästhetische Verklärung am Ende von Schillers Maria St uart nichts gemein mit dem Schönen, das die notwendige ‚Maske des Schrecklichen‘ darstellt 167 – vielmehr täuscht sie mit schönen Formen über das Schreckliche des Daseins hinweg. Doch das Ziel der „tragische[n] Kunst“ ist es gerade nicht, über die Tragik des Daseins hinwegzutäuschen oder sie gar zu negieren, sondern vielmehr, wie Schiller in Ueber das Erhabene ausführt, die stets „mit dem Schicksal ringend[e] Menschheit […] vor unsere Augen“ 168 zu bringen. Und im Kampf mit dem Schicksal stellt gerade eine männlich-heroische Moral der Selbstsinnstiftung auch die erste Voraussetzung zu der stets neu zu gestaltenden „Kultur“ dar, die in „Schillers Utopie der ästhetisch vorsöhnten Gesellschaft“ 169 den Menschen „in Freyheit setzen und ihm dazu behülflich seyn [soll], seinen ganzen Begriff zu erfüllen“. 170 Wenn man von der Deutung der Maria Stuart als einer ‚heiligen von dieser Welt‘ Abstand nimmt und Schillers klassisches Trauerspiel im Gegenlicht zum ästhetischen Programm der Frühromantiker betrachtet, so erhellt, dass der Dichter an seiner katholischen Protagonistin jene unheroische Moral des romantischen Nihilismus nachzeichnet, die das Tragische negiert und in eine ästhetische Verklärung der Existenz hinausläuft. Diese eskapistische Verklärung stellt allerdings das exakte Gegenstück zu der heroischen Moral, für die Schiller in diesen Jahren ein leidenschaftliches Plädoyer in seinem Essay Ueber das Erhabene ablegt.
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Ebd. NA 9.I, 25. NA 21, 51f. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 508. „Das Hellenenthum“, so Nietzsche in einem nachgelassenen Fragment aus den Jahren 1869/70: „die einzige Form, in der gelebt werden kann: das Schreckliche in der Maske des Schönen“, KSA 7, 80. 168 NA 21, 52. 169 Carsten Zelle: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1795). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 409–445, hier S. 440. 170 NA 21, 39.
2. Ästhetische Ohnmacht und moralische Verschleierung. Alfieris Maria Stuarda In einem Brief an Goethe vom 18. Juni 1799 schreibt Schiller, seine seit einigen Monaten aufgenommene Arbeit am historischen Stoff der Maria Stuart komme zwar langsamer als gedacht, doch kontinuierlich voran. 1 Sein Motto laute dabei: „[N]ulla dies sine linea“. 2 Unsere Aufmerksamkeit soll hier allerdings einer weiteren Bemerkung des deutschen Dichters in seinem Brief an Goethe gelten: „Ich fange schon jetzt an“, so Schiller, „bei der Ausführung, mich von der eigentlich tragischen Qualität meines Stoffs immer mehr zu überzeugen“. 3 Was es mit der ‚tragischen Qualität‘ von Schillers Maria Stuart auf sich hat, wurde auf den vorherigen Seiten thematisiert. Hier soll dagegen die von Schiller in einer frühen Phase seiner Arbeit vorgenommene Stellungnahme zur ‚tragischen Qualität‘ seines historischen Sujets vor allem mit der diametral entgegensetzten Position konfrontiert werden, die Alfieri ex post, in seinem 1789 veröffentlichten Parere sulle tragedie, formulierte. 4 In Rückblick auf seine 1782 fertiggestellte Tragödie Maria Stuarda, in der eben nicht die Gefangenschaft und Hinrichtung der Schottenkönigin, sondern die historische Episode des Todes von Marias zweitem Gemahl Henry Stuart, Lord Darnley im Jahr 1567 behandelt wird, 5 hält Alfieri 1789 im noch vorrevolutionären Paris fest, dass die „überaus unglückliche“ Königin Maria zwar als „ein weites, erhabenes und sicheres Tragödiensujet“ erscheine. Nichtsdestoweniger stelle sie in Wirklichkeit ein „überaus unglückliches Thema im Theater“ dar. 6 Was das Auge des Dramatikers insbesondere aufs Korn nimmt, ist gerade Maria Stuarts „Tod“ – jene geschichtliche Episode, die gemeinhin von den vorigen an diesem historischen Stoff interessierten Dramatikern behandelt worden war 7 und die zehn 1 2 3 4
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NA 30, 61. Ebd. Ebd. Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 109–111. Vittorio Alfieris Tragödie Maria Stuarda, die bereits 1778 entworfen und bis 1782 ausgearbeitet wurde, erscheint zum ersten Mal im dritten der insgesamt sechs Bände umfassenden, zwischen 1787 und 1789 bei Didot in Paris herausgegebenen Ausgabe von Alfieris Werken. Zwischen 1788 und 1789 lässt Alfieri seine 19 Tragödien Revue passieren und verfasst für jede eine ‚kritische Betrachtung des Autors‘, die in seiner Werkausgabe mit herausgegeben wird. In der Alfieri-Forschung hat Arnaldo Di Benedetto darauf hingewiesen, dass der Tod von Lord Darnley in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Novum im europäischen Theater darstellte. Erst im 19. Jahrhundert wurde dieses Sujet vom polnischen Dichter Juliusz Slowacki sowie vom englischen Dichter Algernon Charles Swinburne behandelt. Vgl. Arnaldo Di Benedetto: Appunti sulla Maria Stuarda di Vittorio Alfieri. In: Daniela Dalla Valle u. Monica Pavesio (Hg.): Due storie inglesi, due miti europei. Maria Stuarda e il conte di Essex sulle scene teatrali. Atti del convegno di studi comparati (Università degli Studi di Torino, 19–20 maggio 2005). Alessandria 2007, S. 181–185, hier S. 183. „Questa infelicissima regina, il di cui nome a primo aspetto pare un ampio, sublime, e sicuro soggetto di tragedia, riesce con tutto ciò uno infelicissimo tema in teatro“, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 109 (Übers. P.P.). Vgl. dazu Di Benedetto: Appunti sulla Maria Stuarda, S. 182.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-021
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Jahre nach Alfieris Anmerkung auch im Mittelpunkt von Schillers theatralischer Bearbeitung des Stoffes stehen wird. In seiner „Betrachtung“ erklärt sich Alfieri überzeugt, dass sich „aus dem Tode“ Marias keinesfalls „eine Tragödie“ herstellen lasse, weil diejenige Person, die ihr den Tod gibt, „ihre natürliche Hauptfeindin und Rivalin“ sei. Aus diesem Grund seien „weder Bindemittel noch Kontraste der Leidenschaft“ zwischen Elisabeth und Maria vorhanden, die den Tod der schottischen Königin – obwohl an sich „ungerecht, außergewöhnlich und tragisch verhängnisvoll“ – wirklich „tragödienfähig“ („tragediabile“) machen würden. 8 Von der ‚tragischen Qualität‘ dieses Sujets, von der Schiller so sehr überzeugt war, ist demnach in Alfieris Augen keine Spur zu finden. Dass Schiller den historischen Stoff, just in Alfieris Sinn, auch dadurch „tragödienfähig“ machte, dass er gerade eine sentimentale, ja erotische Konkurrenz zwischen seinen beiden Königinnen hinzudichtete – darauf sei hier lediglich im Vorübergehen hingewiesen. Prinzipieller könnte man fragen, ob die mangelhafte ‚tragische Qualität‘, die Alfieri der historischen Episode von Marias Hinrichtung attestiert, nicht zuletzt mit dem katholischen Glauben der schottischen Königin in Zusammenhang gebracht werden sollte. Denn wo soll schließlich das ‚Tragische‘ jener irdischen Laufbahn bleiben, wenn Maria als katholische ‚Märtyrerin‘ stirbt – und wenn man grundsätzlich auch von ihr behaupten kann, dass sie historisch als ein „Christ“ zum Vorschein kommt, der „gemartert werden und sterben für ein Glas Wasser trinken“ hält? 9 Doch ist es mit der einfachen Absage des italienischen Tragikers an Marias Tod als dramatisches Sujet für seine Tragödie offensichtlich nicht getan. Denn Alfieris Entscheidung, nicht den Tod Marias, sondern denjenigen Lord Darnleys dramaturgisch zu bearbeiten, stellt an sich allein das Gelingen seines Werks nicht unbedingt sicher. Selbstverständlich beteuert Alfieri in seinem „Parere“ über Maria Stuarda, dass er den Tod von Marias Ehemann nicht dramatisiert hätte, wenn er auch diese historische Episode für nicht ‚tragödienfähig‘ gehalten hätte. Dabei gibt er aber zu, von Anfang an am eigentlichen Erfolg der geplanten Tragödie „Maria Stuarda o[der] Enrico Darnlei“, 10 wie der ursprüngliche Titel lautete, gezweifelt zu haben. Dennoch habe er sich trotzdem aus zwei Gründen damit versucht: Zum einen, weil ihm das Sujet von einer Person nahe gebracht worden sei, der er „nie8 9
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Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 109 (Übers. P.P.). So Lessing bekanntlich in Bezug auf Johann Friedrich von Cronegks Tragödie Olint u nd Sophronia im ersten Stück der Hamburgischen Dramaturgie: „Was in ‚Olint und Sophronia‘ Christ ist, das alles hält gemartert werden und sterben für ein Glas Wasser trinken. Wir hören diese frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, daß sie alle Wirkung verlieren“, Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden (Deutscher Klassiker Verlag). Bd. 6: Werke 1767–1769. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt a.M. 1985, S. 190. Das italienische Original wird in der Fußnote zitiert aus: Vittorio Alfieri: Maria Stuarda. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 18: Tragedie. Edizione critica. Bd. XI. Hg. v. Raffaele De Bello. Asti 1970, hier S. 89. Die deutsche Übertragung wird zitiert nach: Maria Stuart. Trauerspiel von Vittorio Alfieri. Deutsch von Wilhelm v. Lüdemann. In: Vittorio Alfieri’s Trauerspiele. Aus dem Italienischen von Wilhelm v. Lüdemann, und Andern. Sechstes Bändchen. Zwickau 1826, S. 115–222.
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mals“ etwas würde „verweigern“ können. 11 Gemeint ist hierbei Alfieris Geliebte, die Prinzessin Louise zu Stolberg-Gedern (1752–1824), bis 1784 Ehefrau des jakobitischen Thronprätendenten Charles Edward Stuart („Bonnie Prince Charlie“, 1720–1788). Zum anderen, „aus einer Art Autorenstolz heraus“ – „per un certo orgoglietto d’autore“ 12 –, der sich auch bei einem nicht vom Autor gewählten und von diesem auch kaum beachteten Sujet habe bewähren wollen – so Alfieri nachträglich zu dieser Tragödie. Offensichtlich spricht aus Alfieris 1788–89 verfassten Urteil über Maria St uarda vor allem das klare Bewusstsein für die ästhetische Schwäche seines Werks. Und so ist es auch kein Zufall, dass dieser „Parere“ in einem deutlichen Selbstverriss gipfelt: Ihrem Autor sei diese Tragödie zusammenfassend „kalt und schwach“; er halte sie „für die schlechteste“, die er „gemacht oder machen könnte, und für die einzige, die [er] womöglich nicht geschaffen haben möchte“. 13 Vor dem Hintergrund von Alfieris strengem Urteil sowie der „intrinsischen Schwäche“ 14 seiner Maria Stuarda hat die Forschung vorgezogen, zu dieser Tragödie des italienischen Dichters auf Distanz zu gehen. Dementsprechend spärlich sind die einschlägigen Beiträge, die sich mit diesem Werk befasst haben, 15 wobei sich die meisten davon noch dazu lediglich auf die Entstehungsgeschichte der Tragödie sowie auf die Rekonstruktion möglicher literarischer Einflüsse konzentrieren. 16 Eigentlich hat sich die bisherige Forschung eher mit den möglichen Ursachen auseinandergesetzt, warum Alfieri eine solche „Debakel-Tragödie“ 17 wie Maria Stuarda überhaupt schreiben konnte, als dass sie sich mit kritischen Fragen über Sprache, Struktur und Inhalte des Werks beschäftigte. Dabei hat man nicht
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„[P]rima, perché mi veniva un tal tema con una certa premura proposto da tale a cui non potrei mai nulla disdire“, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 110 (alle Übers. P.P.). Ebd. „Il tutto di questa tragedia mi riesce e debole, e freddo; onde io la reputo la più cattiva di quante ne avesse fatte o fosse per farne l’autore, e la sola, ch’egli non vorrebbe forse aver fatta“, ebd., S. 111. Di Benedetto: Appunti sulla Maria Stuarda, S. 182 (Übers. P.P.). Auf das Jahr 1903 geht der nunmehr überholte Beitrag von Tina Fiaschi mit Titel: La Maria Starda di Vittorio Alfieri e quella di Federico Schiller (Grosseto o. J.) zurück. Von Interesse sind nach wie vor die wenigen, Alfieris Stuarda gewidmeten Seiten in den Studien von Walter Binni (Settecento maggiore: Goldoni, Parini, Alfieri. Milano 1978, S. 421f.), von Mario Fubini (Vittorio Alfieri. Il pensiero – la tragedia, S. 213–217) sowie von Vitilio Masiello (L’ideologia tragica di Vittorio Alfieri. Roma 1964, S. 123–128). Genannt sei außerdem in der neueren Forschung der Beitrag von Paola Trivero: Storia di Maria Stuarda, „infelicissima regina“. In: Annali Alfieriani V (1994), S. 65–83. So auch in dem jüngsten Beitrag über Maria S tuarda von Anna Nozzoli mit Titel: Intorno all’Alfieri „inglese“: Maria Stuarda. In: Enrico Ghidetti u. Roberta Turchi (Hg.): Alfieri tragico, S. 583–597. In Bezug auf diesen Beitrag hat Arnaldo Di Benedetto hervorgehoben, dass auch hier auf eine kritische Auseinandersetzung mit Alfieris Text „gezielt“ verzichtet werde (Di Benedetto: Appunti sulla Maria Stuarda, S. 182). Seinerseits verzichtet allerdings auch Di Benedetto weitestgehend in seinen „Appunti“ auf eine solche Analyse. Von „débâcle“ ist die Rede in Anna Nozzolis Beitrag: Intorno all’Alfieri „inglese“, S. 595.
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nur – mit Alfieri zusammen 18 – das behandelte Sujet der Tragödie für jede Schwäche des Werks verantwortlich gemacht, sondern auch Maria Stuarda als bezeichnendes Ergebnis einer „Situation der ideellen und poetischen Erschöpfung, ja einer bestehenden, und daher noch nicht gelösten, Krise von Alfieris Phantasie und Ideologie“ gedeutet: 19 In dieser Hinsicht stelle Maria Stuarda zwar – wie man liest – die „grauste und ödeste“ von Alfieris Tragödien dar – „sodass sie im Rahmen einer rein ästhetischen Untersuchung aus Alfieris Produktion zu streichen wäre“. 20 Andererseits sei das Werk dennoch „aufschlussreich“, wenn man eine „organische Rekonstruktion“ von Alfieris „menschlicher und literarischer Erfahrung“ anstrebe. 21 Dem unerbittlichen ästhetischen Urteil von Autor und Forschung mag man insgesamt zustimmen. Damit ist allerdings noch nichts über die Grundstruktur von Alfieris dramatischer Handlung sowie über deren Inhalt gesagt. Auch vermag eine kritische Auseinandersetzung mit Alfieris Maria St uarda womöglich mehr über den historisch-kulturellen Horizont zu verraten, vor dem sie entstand, als nur über den menschlich-literarischen Werdegang ihres Autors. Denn schließlich steht auch Maria Stuarda in einer Reihe mit anderen Tragödien aus Alfieris Feder. Bereits bei einer flüchtigen Lektüre der Tragödie muss geradezu auffallen, welche Rolle etwa die uns inzwischen vertraute Polarität von ‚Eros‘ und ‚Wille zur Macht‘ auch in diesem Werk spielt. Dass das ästhetische Ergebnis hier dann bei gleichen Prämissen anders ausfällt als bei anderen Tragödien des italienischen Dichters und dass Alfieri hier aus ästhetischer Not gerade auf die Sphäre der traditionellen ‚Moral‘ zurückgreift – dies gilt im Folgenden herauszuarbeiten. Wie bei Alfieri üblich, treibt lediglich eine Handvoll Figuren auch die in der „königliche[n] Burg in Edinburg“ 22 spielende Handlung der Tragödie Maria Stuarda voran. Neben der Königin und ihrem Gemahl Heinrich Darnley – hier mit italianisiertem Namen ‚Arrigo‘ genannt; er stellt im Übrigen die einzige Figur dar, die am Ende der Tragödie ums Leben kommt –, treten hier noch Marias späterer dritter Ehemann Bothwell (‚Botuello‘), Englands Gesandter Ormond (‚Ormondo‘) sowie der von dem schottischen Reformator John Knox inspirierte Geistliche Lamorre 23 auf. In welcher Beziehung stehen die Titelheldin Maria und ihr Ehemann, das spätere Opfer Arrigo, bei Alfieri? Ein „unbedeutendes Weib, von keiner starken Leidenschaft bewegt, weder mit eigenem Charakter noch erhaben“, nennt Alfieri 18 19 20 21 22 23
Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 110. Masiello: L’ideologia tragica di Vittorio Alfieri, S. 128 (alle Übers. P.P.). Die Textpassage wird auch von Anna Nozzoli in ihrem Beitrag „Intorno all’Alfieri ‚inglese‘“ auf S. 595 zitiert. Masiello: L’ideologia tragica di Vittorio Alfieri, S. 124. Ebd. Alfieri: Stuart, S. 117. Im Original heißt es hier: „Scena, la Reggia di Edimborgo“, Alfieri: Stuarda, S. 12. Zur Entstehungsgeschichte dieser Figur, hinter welcher sowohl John Knox als auch James Stewart (1531–1570), Earl of Moray und illegitimer Sohn von Jakob V. König von Schottland, stehen, vgl. die „Nota“ von Raffaele De Bello in: Alfieri: Stuarda, S. 1–10.
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nachträglich seine katholische Schottenkönigin in seinem „Parere“. 24 Aus dem strengen Urteil des Autors über seine Figur ist nicht zuletzt jene grundsätzliche Passivität unmissverständlich herauszuhören, die in unserem Rahmen bereits mit den Begriffen ‚Eros‘ und ‚Ohnmacht‘ in Verbindung gebracht wurde. In der Tat: Die „starke Leidenschaft“, 25 die Alfieri in seinem „Parere“ anspricht und an seiner Maria nachdrücklich vermisst, versteht der Autor grundsätzlich als eine innige Begeisterung, welche die Figur zum tatkräftigen Handeln drängen sollte. Daher kann Alfieri zu Recht das Fehlen dieser besonderen, ‚aktivierenden‘ Leidenschaft an seiner durchaus passiven Königin Maria in seinem „Parere“ bemängeln. Daraus ist allerdings nicht zu schließen, dass Alfieris Maria von überhaupt keiner ‚Leidenschaft‘ beseelt wäre, denn ganz umgekehrt steht die Königin im Stück von Anfang an völlig im Zeichen ihrer ‚Liebe‘ zu ihrem Ehemann Arrigo. Wie sich im Verlauf der Szenen zeigt, stellt sich Marias ‚Liebe‘ allerdings lediglich als eine von der Königin passiv ‚erlittene‘ Leidenschaft dar. Bereits im ersten Auftritt der Tragödie, da Lamorre die Königin fragt, ob ihr der fern von Edinburgh, „im Bann“ lebende Gemahl „Gatte, Sclave oder Feind“ sei, stellt sich Maria explizit als herzlich liebende Ehefrau dar: Als „Geliebter und Gatte“ sei Arrigo „stets in [ihrem] Herzen“, so die Königin. 26 Noch mehr: An dieser Stelle bedauert Maria explizit, dass Arrigo, ihr König und Gemahl, nicht ihr Herz, sondern ausschließlich den Thron bei ihrer Vermählung im Visier gehabt habe. Und so habe sie schließlich gerade die „eitle Größe“ ihres Stands um jenes „einzg[e] höchst[e] Gut“ gebracht, das darin bestehe: „heiß liebend, wieder heiß geliebt zu seyn[!]“. 27 Durchaus bezeichnend ist nicht nur, dass sich Maria hier von Anfang an vor allem als eine ‚Liebende‘ darstellt, sondern auch, dass sie Thron und Herz, ja Macht und Eros, selbst als strikte Entgegensetzung auffasst. So zeichnet sich auch in Alfieris Maria Stuarda bereits früh jener konstitutive Gegensatz von weiblich-passivem Eros und männlichaktivem Willen zur Macht ab, der Ästhetik und Politik ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gemeinsam ist und der sich nicht von ungefähr auch bei der Unterscheidung zwischen Schönem und Erhabenem in der ästhetischen Reflexion dieser Jahre als grundlegend erweist. So hat man es hier zunächst mit einer passiven, liebenden Frau und mit einem aktiven, nach Macht strebenden Mann zu tun. Nach ihrer Unterredung mit dem an ihren Hof zurückgekehrten Gemahl im zweiten Akt der Tragödie gibt Maria sogar weiteren Anlass zu dieser polaren Interpretation des königlichen Paares in Alfieris Stück. Zu Botuello sagt sie explizit: „Von Liebe 24
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„Maria Stuarda, che dovrebbe essere il protagonista, è una donnuccia non mossa da passione forte nessuna; non ha carattere suo, né sublime“, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 110 (Alle Übers. P.P.). Ebd. Alfieri: Stuart, S. 120. „Colui, che hai posto / Tu stessa in trono al fianco tuo, che ha nome / Di re, ti è sposo? ovver nemico, o schiavo? // Maria: Schiavo Arrigo, o nemico, a me? Che parli? / Amante e sposo ei nel mio cuore è sempre“, Alfieri: Stuarda, S. 14. Alfieri: Stuart, S. 122. „[E] quante al ciel mi dolsi / D’altezza troppa, ove per essa tolto / Era a me d’ogni ben l’unico, il sommo, / L’essere amando riamata!“, Alfieri: Stuarda, S. 15.
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rede ich ihm – er spricht von / Macht!“, 28 und auf Botuellos direkte Frage: „Was will – / Was fodert er?“, antwortet Maria lakonisch: „Unbeschränkte Macht!“. 29 „Maria Stuarda o[der] Enrico Darnlei“ 30 lautete wie gesagt der erste Titel, den Alfieri 1778 in seiner ursprünglichen „Idea“ für sein Stück notiert hatte. Vor diesem Hintergrund könnte man vermuten, Enrico/Arrigo stelle letztendlich den wahren Protagonisten von Alfieris Maria St uarda dar, während die ‚Titelheldin‘ nur als passive Figur in der Tragödie in Betracht käme. Nach bekanntem Muster würde der männliche Protagonist somit die Rolle des unverdrossenen Machtstrebenden übernehmen und fiele am Ende seinen allzu gewagten Plänen zum Opfer. Seine Geschichte würde dabei jedoch als Beweis für bewunderungswürdige, erhabene ‚Größe‘ im Scheitern einen Beispielcharakter erhalten. Haben wir es in Alfieris Tragödie aber wirklich mit einer ‚passiven‘ Maria und einem ‚aktiven‘ Arrigo zu tun? Wie bald im Text klar wird, ist diese Frage entschieden zu verneinen. Denn auch wenn Maria deutlich in Bezug auf ihren Ehemann mit der grundlegenden Entgegensetzung von ‚Eros‘ und ‚Macht‘ argumentiert, bleibt hier der Pol des Willens zur Macht mit der Figur des Arrigo deutlich unterbesetzt, was auch gravierende wirkungsästhetische Folgen in der Tragödie zeitigt. Im Gegensatz zu dem, was auch Maria in den oben zitierten Textpassagen suggeriert, ist König Arrigo in Alfieris Stück offensichtlich genauso passiv, beeinflussbar und dem Willen anderer Figuren ausgeliefert wie seine königliche Gemahlin. So dringt etwa Lamorre in den so willensschwachen wie rachsüchtigen König, damit dieser gegen Marias katholische Fraktion die reformierten Schotten, die „unterdrückt hier seufzen“, wie er sagt, „noch erlöse“. 31 Ja, damit er ihnen, den „wahre[n] Schotten“ und „Guten“, auch im eigenen Interesse ein „gemäßigter König“ sei. 32 Seinerseits erkennt dann auch der englische Gesandte Ormondo gleich und nur zu gut die Schwäche und die Ressentiments-Gefühle des Königs von Schottland. Genau auf diese Gefühle setzt der Diplomat, um Arrigo dazu zu bewegen, seinen und Marias einzigen Sohn entführen zu helfen und somit den zukünftigen König von Britannien an Elisabeths Hof aufwachsen zu lassen. 33 Von Anfang an behält Bothwell gleichfalls den unsteten König fest im Auge und bemüht sich, Lamorres und Ormondos Machenschaften und Manipulationen um ihn und Maria zu neutralisieren. So trifft Alfieris Urteil über diese seine Figur wiederum den Nagel auf den Kopf, wenn es heißt, dass Arrigo in der Tragödie eine „noch geringere Gestalt als die Königin [darstelle], halb töricht in den eigenen 28 29 30 31 32 33
Alfieri: Stuart, S. 149. „[I]o parlo / d’amore; ei parla di possanza“, Alfieri: Stuarda, S. 34. Ebd. „Botuello: Ma pur, che chiede? // Maria: Illimitata possa“, ebd. Alfieri: Stuarda, S. 89. Alfieri: Stuart, S. 138. „Ma del Dio di pietade i veri figli, / Che oppressi son, puoi sollevarli“, Alfieri: Stuarda, S. 26. Alfieri: Stuart, S. 140. „Se ancor v’ha Scotti, il siam pur noi / […] Ai buoni farti / Vuoi moderato re?“, Alfieri: Stuarda, S. 27f. Alfieri: Stuarda, S. 44–46.
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Entscheidungen, seiner Frau undankbar, unfähig zu regieren, sich selbst nicht gewachsen wie allen anderen“. 34 Der erste Befund unserer Analyse sieht daher anders aus als zunächst vermutet: Einerseits hat man es in Alfieris Stuarda mit einer gefühlsvollen Königin und passiven Titelheldin zu tun, die nicht ohne Ursache gegenüber ihrem Gatten ausruft: „Ach, / Daß ich in dieser Kunst [des Regierens] nur so geschickt, / Wie in der leichtern wäre, Dich zu lieben!“ 35 – einer Königin, die sich in ihrer Unbeholfenheit ganz dem Pragmatismus ihres Rats Botuello anvertrauen muss, den sie schutzlos auf offener Bühne fragt: „Und doch – was kann ich tun?“. 36 Andererseits ist man bei Arrigo – genau bei der Figur, da man zunächst ‚männlich-heroischen‘ Willen zur Macht erwartet hatte – mit einem zwar nach Macht strebenden, dabei jedoch völlig ohnmächtigen König konfrontiert, der selbst in der Tragödie über seine Verfassung reflektiert und schon bald zugeben muss: „Was nützt der Stolz, wenn er von Macht entblößt? / Nicht ein geehrter König, nein geringer / Als jeder Andre bin ich hier“ 37 – einem willenlosen König, der obendrein seine allseitige Unzulänglichkeit am Ende mit dem Leben bezahlt. Unter diesen Prämissen ist eine entscheidende dramaturgische Wende für die in der Tragödie dargestellte Handlung von dieser Seite nicht zu erwarten. Auf die Willenskraft der anderen wenigen Figuren muss man sich daher nolens volens in Alfieris Werk verlassen, damit sich die grundsätzliche ‚Ohnmacht‘ des königlichen Paars in gewisser Weise in ‚Übermacht‘ verwandeln kann. Und ‚Wille zur Macht‘ findet sich tatsächlich bei Ormondo, Lamorre und Botuello. Zu klären ist dabei allerdings noch, in welcher unterschiedlichen Stärke und mit welcher dramaturgischen Wirkung. In Alfieris Stück treibt Elisabeths Abgesandter Ormondo sein strategischdiplomatisches Spiel gleichzeitig an zwei Tischen voran, je nachdem ob er es mit Maria und Bothwell oder doch mit Heinrich zu tun hat. Die Königin zeigt sich in der Regierungskunst wenigstens ausreichend bewandert, um hinter den Worten des englischen Diplomaten die ‚wahren‘ Intentionen der Rivalin Elisabeth zu argwöhnen: Maria. Nicht leicht, fürwahr, zu tragen ist’s! Ich weiß, Ich kenne das Gemüth, den Hass der Feindin, Und muss doch ihrem Späher hier Gehör Und Achtung schenken. – Traun, mit neuer Kunst 34
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„Arrigo, personaggio ancor più nullo che non è la regina, mezzo stolido nelle sue deliberazioni, ingrato alla moglie, incapace di regno, minor di se stesso e di tutti“, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 110 (Übers. P.P.). Alfieri: Stuart, S. 146. „Ah! così, pure io fossi, / Come in amarti il sono, in regnar dotta!“, Alfieri: Stuarda, S. 32. „Eppure, / Che far poss’io?“, Alfieri: Stuarda, S. 37. Lüdemann übersetzt Marias Frage wie folgt: „Was muß ich thun? Sprich...“, Alfieri: Stuart, S. 153. Alfieri: Stuart, S. 159. „Che val superbia, ove di possa è vuota? / Non obbedito re, minor d’ogni uomo / Io son qui omai“, Alfieri: Stuarda, S. 41.
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Bemüht sie sich, mich heute zu umstricken. Sie räth zum Guten mir, damit ich’s meide: Sie fodert Schonung für die neue Secte – Im Herzen wünscht sie also, daß ich sie Verfolge – von der Scheidung mahnt sie ab; Sie strebt sie denn, sie zu beschleunigen. – 38
Wenn Maria zumindest noch Hintergedanken bei Ormondo vermuten kann, beargwöhnt Arrigo zwar zunächst alle seine Sprecher, um sich dann unweigerlich von den Worten jedes einzelnen überzeugen zu lassen – einfach der Reihe nach, in der er die jeweiligen Argumente zu hören bekommt. Wie die biblische Schlange versucht Ormondo den naiven Heinrich, indem er dem ohnmächtigen und rachsüchtigen König nicht ohne psychologisches Geschick die Möglichkeit in Aussicht stellt, zum ‚uneingeschränkten Herr‘ über alle und alles zu werden 39 – unter der selbstverständlichen Bedingung, dass er bei der Realisierung seines Entführungsplans von Heinrichs Sohn selbst mit Hand anlege. Kaum ist der König von diesem „großen Plan“ 40 überzeugt, da warnt ihn Botuello schon in der nächsten Szene vor den zweifelhaften Machenschaften des englischen Gesandten, hinter dem ja die perfide Königin von England stehe. So nennt Arrigo dann den Diplomaten im Handumdrehen in der nachfolgenden Szene einen „einfältige[n] Verräther“, 41 sodass dieser, selbst merklich durch diesen plötzlichen Umschlag verwirrt, 42 seine Strategie abrupt ändern muss. Nun lässt Ormondo die erprobte Maxime des divide et impera gelten: Gegenüber Arrigo erklärt er, dass nicht Königin Elisabeth, sondern seine königliche Gemahlin Maria den Entführungsplan ihres eigenen Sohnes geschmiedet habe, um Arrigo dann als Verräter zu Schanden zu machen. Mit dieser Überzeugung im Herzen geht der König daraufhin in sein allerletztes Gespräch mit Maria – ein Gespräch, das bereits im vierten Akt stattfindet – Arrigo kommt dann nicht mehr zu Wort, bis er bei der gewaltigen, im fünften Akt zu hörenden Explosion in seiner Unterkunft stirbt. Der kurz danach von der empörten Maria vernommene Ormondo versucht dieses Mal, seiner Maxime getreu, die Schuld auf Arrigo abzuwälzen. Dabei wird er allerdings von Maria als ein kläglicher Intrigant demaskiert:
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Alfieri: Stuart, S. 132. „Duro a soffrir! so di colei qual sia / L’animo, e l’odio; e ammetter pur mi è forza, / Ed onorarne il delatore. Or ella / Mi assal con arte nuova. A me consiglia / Il ben, per ch’io nol faccia. Ella mi chiede / Che ai settatori io tolleranza accordi; / Brama dunque in suo cor ch’io li persegua. / Dal divorzio mi stoglie; ah! dunque spera / Ella affrettarlo“, Alfieri: Stuarda, S. 22f. „[E] ti vedrai tu tosto / Signor del tutto“, Alfieri: Stuarda, S. 45. „Arrigo: – Assai gran trama è questa…“, ebd. Alfieri: Stuart, S. 174. „Traditor malaccorto“, Alfieri: Stuarda, S. 52. Auf offener Bühne drückt Ormondo seine Verwunderung aus: „Dieser Wechsel – sprich, woher? / So unerwartet? – Anders sprachst Du ja...“, ebd. „Onde improvviso / Ti cangi? Or dianzi favellavi…“, ebd.
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Maria.
Genug.. Nicht weiter! Sieh, Betrug zu weben, ja, Wohl glaub’ ich’s, sandte Dich Elisabeth Zu mir – doch feineren zum mindesten! – Hinweg, dem Range schenk’ ich, was Du durch Dich selber nicht verdienst. Und sie laß wissen, Daß mir, wenn auch ein treuerer nicht, so doch Ein feinerer, geschickterer Gesandte Gebührte! – 43
Die Laufbahn des englischen Gesandten ist mit diesem erbarmungslosen, von der Königin selbst ausgestellten ‚Attest‘ über seine politische Unzulänglichkeit bereits im vierten Aufzug von Alfieris Tragödie schmachvoll beendet. Umso schmachvoller, wenn man so will, weil der Diplomat just von einer durch und durch politisch ohnmächtigen Königin als unzulänglich abgestoßen wird. Klar wird somit in Alfieris Tragödie, dass die Tragweite von Ormondos ‚Willen zur Macht‘ lediglich bis zu diesem Punkt und nicht weiter reicht. Auf der dramaturgischen Ebene vermögen es zwar seine Machenschaften, die Handlung der Tragödie einige Szenen lang voranzutreiben. Spätestens im vierten Akt wird jedoch die Wirkung dieses mittelmäßigen Intriganten auf offener Bühne demaskiert und dabei vollkommen neutralisiert. Noch bevor sich der Vorhang des letzten Aktes öffnet, hat sich das hier erwartete ‚Machtpotential‘ zur Enttäuschung des Lesers oder Zuschauers ganz in ‚Ohnmacht‘ umgeschlagen. Wenn man sich nun die Figur des ‚Bischofs‘ Lamorre 44 vom Blickwinkel des ‚Machtwillens‘ näher anschaut, so fällt der Befund auch in diesem Fall ernüchternd aus. Seinen Geistlichen lässt Alfieri zweimal, im ersten und zweiten Akt der Tragödie auftreten. Eine zentrale Rolle spielt er dann im abschließenden fünften Akt, in dem allerdings die Würfel bereits gefallen sind – darauf wird noch zurückzukommen sein. In der allerersten Szene des Stücks bemüht sich der reformierte Lamorre mit Blick auf die religiösen Unruhen im Land darum, Druck auf Maria auszuüben, damit dem zurückkehrenden, den Reformierten freundlich gegenüberstehenden Arrigo 45 ermöglicht wird, eine wirksame politische Rolle am Hof auszu43
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Alfieri: Stuart, S. 194. „Basta; non più. Macchinator d’inganni / Elisabetta, il credo, a me t’invia; / Ma più sottili almeno. Or vanne; al grado, / Ciò che non merti per te stesso, io dono. / Ella intanto saprà, che a me si debbe, / Se non più fido, messaggier più destro“, Alfieri: Stuarda, S. 66. Als „Bischoff“ wird Lamorre allerdings lediglich im Personenverzeichnis der von uns zitierten deutschen Übersetzung bezeichnet, während das italienische Original ausschließlich die Namen der fünf Personen von Alfieris Tragödie an dieser Stelle angibt. In Bezug auf den reformierten Lamorre spricht Maria in der zweiten Szene lediglich von ‚Kirchendienern‘ – „Des blinden Haufens lügnerische Führer / Verruchte Diener einer feilen Secte“, heißt es hier, Alfieri: Stuart, S. 125. „Del volgo cieco instigator mendaci / D’empia setta ministri“, Alfieri: Stuarda, S. 17. Zum schwankenden Verhältnis des katholischen Henry Stuart zu den Reformierten vgl. die historische Quelle, die von Alfieri am wahrscheinlichsten verwendet wurde: David Hume: The History of England, under the House of Tudor. London 1759 (Bd. II, Kap. II: Scotch affairs. –
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üben. In dem den zweiten Akt eröffnenden Gespräch versucht dann der Geistliche, König Arrigo die gute Sache der Reformierten, auch im Hinblick auf das eigene Interesse des Herrschers, ans Herz zu legen. In Alfieris Tragödie sind das allerdings die einzigen zwei Momente, in denen Lamorre die Möglichkeit gewährt wird, nach eigenem Willen konkret auf den Gang der Handlung einzuwirken. Als er im fünften Akt erneut die Bühne betritt, ist das Schicksal des Königs – jener einzigen Figur, auf die er zu seinen politischen Zwecken gesetzt hat – schon besiegelt. Dramaturgisch ist die aktive Wirkung dieser Figur daher wiederum als sehr beschränkt zu bewerten, wobei ein Zweifaches zu unterstreichen ist. Zum einen, dass sich Lamorre, wohl vor der historischen Folie und auch mangels besserer Alternativen in Alfieris figurenarmem Stück, auf die Seite eines ‚Herrschers‘ schlägt, den er selbst bereits im ersten Akt als „dem Thron nicht gewachsen“ 46 bezeichnet – was auch insgesamt Zweifel an seinem politischen Verständnis aufkommen lassen muss. Zum anderen, dass Alfieri dieser Figur auf der dramaturgischen Ebene nur marginalen Platz für ein aktives Eingreifen in die dargestellten Ereignisse einräumt, sodass auch die potentielle, sich auf Gott und die Religion berufende ‚Macht‘ 47 dieses Geistlichen in der Tragödie lediglich ‚Ohnmacht‘ zeitigt – und zwar, was das Schlimmste ist, ohne davor jegliche nennenswerte Spannung ausgelöst zu haben. Damit das Gefühl des Erhabenen entsteht – an Schillers ästhetische Betrachtungen aus den 1790er Jahren sei an dieser Stelle erneut erinnert – ist es notwendig, dass ein anfängliches Gefühl der sinnlichen „Ohnmacht und Begrenzung“ einem Gefühl der „Übermacht“ weiche. 48 Dieses Gefühl der ‚Übermacht‘ wird vom Bewusstsein dessen ausgelöst, dass man sich dasjenige ‚geistig unterwerfen‘ kann, was man zuerst als sinnlich überlegen erkannt hatte. Bei jedem strategischen Plan zur ‚geistigen Unterwerfung‘, gleichviel, ob in politicis oder in aesteticis, ist „Zweckmäßigkeit“, ja das „Verhältnis der Mittel zu ihrem Zweck“ 49 geradezu zentral. Und so lässt sich vor dem Hintergrund des bisher Gesagten nicht nur das Scheitern von Ormondos und Lamorres politischen Zielen im Stück, sondern auch die ästhetische Wirkungslosigkeit von Alfieris Maria Stuarda insgesamt gerade auf ein unausgewogenes Verhältnis der ‚Mittel zu ihrem Zweck‘ zurückführen. Denn während Maria und Arrigo bei Alfieri ganz dem Pol der ‚Ohnmacht‘ zuzuschreiben sind, zeigen auch Ormondo und Lamorre als zwei von insgesamt drei ‚handelnden
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The Queen of Scots marries the earl of Darnley. – Confederacy against the Protestants. – Murder of Rizzio. – A Parliament. – Murder of Darnley, S. 456–472). So Lamorre im Original: „Io qui non vengo / D’Arrigo a tesser laudi: egli è minore / Del trono; or chi nol sa?“, Alfieri: Stuarda, S. 16. „Diese Brust, / Durchglüht von reiner gottgeweihten Flamme, / Fern ird’scher Leidenschaft, nährt eine Gluth / Die frey in Gott entbrennt“: so Lamorre zu Maria in dem die Tragödie eröffnenden Gespräch, Alfieri: Stuart, S. 119. „In seno / Fiamma, cui non son esca umani affetti, / Ma che tutta arde in Dio, libera io nutro“, Alfieri: Stuarda, S. 13. Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 137. Ebd., S. 370.
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Figuren‘ im Stück kein überragendes Talent zur Macht. Es fragt sich, wie es mit dem Willen zur Macht des Bothwell, des hier dritten und letzten aktiven ‚Machtstrebenden‘ aus Alfieris Feder, bestellt ist. Von Botuello schreibt der Autor in seinem „Parere“, er stelle „den einzigen handelnden Charakter in dieser Tragödie“ dar. 50 Das trifft zu: In Alfieris Maria Stuarda ist der Earl of Bothwell die Figur, die sich von Anfang an in Sachen des ‚Willens zur Macht‘ am besten auskennt, ja die Figur, die sich bis zum Ende am meisten für das Verhältnis von Mitteln und Zweck aufmerksam zeigt. 51 Dass er, Marias zukünftiger dritter Ehemann, als eigentlicher Sieger aus der Tragödie hervorgeht, kann nicht Wunder nehmen – schließlich stellt er auch den einzigen ernst zu nehmenden Vertreter der heroischen Moral des Nihilismus in Alfieris Stück dar. Warum diese Figur dennoch die Tragödie wirkungsästhetisch nicht zu retten vermag – das gilt es noch zu hinterfragen. In Alfieris Maria St uarda erinnert der Earl of Bothwell nicht von ungefähr nachdrücklich an jene Freiheitskämpfer mit einer Tyrannen-Ader, 52 die der italienische Dichter immer wieder in den Mittelpunkt seiner Tragödien gestellt hat. 53 Wie Bothwell zu beurteilen ist – dies macht Alfieri bereits früh in seiner Tragödie deutlich. Der letzte Auftritt des ersten Akts ist in dieser Hinsicht paradigmatisch. Angesichts der von uns erwähnten, grundsätzlichen Passivität der Königin mag es zunächst überraschen, dass Maria hier, nach der Unterredung mit dem englischen Gesandten und im allerersten Gespräch vis-à-vis mit Bothwell, als eine sehr politisch gewandte Herrscherin in Erscheinung tritt. In Bezug auf die verfeindete Königin von England sagt sie: Doch nein – mit ihren Künsten selbst will ich Mich schirmen; den verstellten Wunsch erfüllen Und so der Feindin boshaft Herz bestrafen. – 54
Geradezu aufschlussreich sind dabei Bothwells erste Worte zur erwähnten Äußerung der Maria: „So rieth ich Dir, erinnre Dich, als Du / Dein Inn’res zu erschließen mich gewürdigt“. 55 Kein Zweifel: Nicht Marias Gewandtheit, sondern 50 51
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„Botuello […] è il solo personaggio operante in questa tragedia“, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 110 (Übers. P.P.). Nicht zu Unrecht betonte bereits Mario Fubini, dass Botuello eine wahrhaft ‚alfierische‘ Figur darstelle. In seinem „Streben nach Macht“ sowie in seinen „verbrecherischen Vorhaben“ sei Alfieris deutliches „Kennzeichen“ wiederzuerkennen, vgl. Fubini: Vittorio Alfieri. Il pensiero – la tragedia, S. 216 (Übers. P.P.). Nach Goethes bereits zitierter Formulierung mit Bezug auf Alfieri in einem Brief an Zelter vom 3. Dezember 1812. Darin heißt es: „Er haßte die Tyrannen, weil er sich selbst eine Tyrannen-Ader fühlte“, Goethe: Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, MA, Bd. XX.I, S. 296. Vgl. dazu De Bello: Nota, S. 5f. Alfieri: Stuart, S. 132f. „Coll’arti stesse sue schermir saprommi. / Sue finte brame or compiacendo, io voglio / Crucciar più sempre il suo maligno core“, Alfieri: Stuarda, S. 23. Ebd. „Ciò, pur ti dissi, il sai, quando degnasti / Tua mente aprirmi“, ebd.
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Bothwells politisches Können redet hier offensichtlich aus den pragmatischen Worten der Schottenkönigin. Schon an dieser Stelle weist Alfieri seinen Leser oder Zuschauer deutlich darauf hin, dass hinter der Königin und Titelheldin offensichtlich dieser Mann steht. Ein Mann, dem die Figur, wie sie weiß und dem Publikum indirekt mitteilt, bereits viel zu verdanken hat: Maria.
Sorge nicht! Was Du für mich gethan, es weicht aus der Erinnerung mir nie. – Du hast den Thron An den verruchten Mördern Rizio’s Gerächt; im offenen Feld hatt’ ich an Dir Ein sicher Schild dort gegen die Rebellen, Und gegen den verborgnen, feilen Feind Am Hofe, immer einen treuen Rath. Die Unvorsichtigkeiten Heinrichs hast Du künstlich zu vereiteln stets gewußt, Und nie verkanntest Du den Gatten doch Der Königin in ihm... 56
Wie ein Schatten begleitet Bothwell nicht nur seine spätere Gemahlin Maria durch Alfieris Tragödie, sondern auch die Handlung insgesamt, die im Stück dargestellt wird. Verlogen, ja ein „hinterhältiger Betrüger“, 57 wie ihn Alfieri allgemein nennt, ist er gegenüber Maria, wenn er schon im ersten Akt zur Königin sagt, dass er sie mit Arrigo „beglückt […] sehen möchte“. 58 Wenn er aber im zweiten Akt Maria den Rat erteilt, dem am Hof zurückgekehrten Arrigo „bis auf den Sohn […] alles [zu] geben“ 59 – dann beweist er damit vor allem, dass er bereits die Pläne des englischen Gesandten um Marias Sohn durchschaut hat, noch bevor jene Absichten in der Tragödie explizit gemacht werden: Bothwell. […] Du weißt, zu große Liebe Hat niemals er [Heinrich] noch für den Sohn gezeigt. Warum verlangt er ihn? Warum? – Ormond Zu dem, versichert seinerseits den Wunsch, Den königlichen Sproß zu sehn – er führt, Du weißt’s, den Trug der Fürstin Englands Mit sich, und möglich ist’s... Vielleicht auch nicht;
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Alfieri: Stuart, S. 134. „Quant’io ti deggia, / Di mente mai non mi uscirà. Tu il soglio, / Che i nemici di Rizio empj oltraggiaro, / Con la lor morte hai vendicato. In campo / Contro i ribelli aperti io t’ebbi scudo; / Contro gli occulti, assai più vili, io t’ebbi / Fido consiglio in corte. In un sapesti / Shernir d’Arrigo le imprudenti trame, / E rimembrar ch’era mio sposo Arrigo“, Alfieri: Stuarda, S. 24. „[I]niquo raggiratore“, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 110 (Übers. P.P.). „Il sai per prova / S’io felice ti vo’“, Alfieri: Stuarda, S. 24. Alfieri: Stuart, S. 151. „Tranne il figlio, dar tutto a Arrigo dei“, Alfieri: Stuarda, S. 35.
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Doch blinde Zuversicht ist auf dem Thron Ein unentschuldbar großer Fehler stets! 60
In diesen Zeilen spiegelt sich selbstverständlich auch jene allgemeine Kritik am Königtum sowie am durch Schmeichelei, Intrigen und Verräterei gekennzeichneten Hofleben wider, die Alfieri in den späten 1770er und 1780er Jahren auch in den Traktaten Della tirannide und Del principe e d elle lettere deutlich zum Ausdruck brachte. Sei es für den Herrscher, sei es für seine ‚Satelliten‘ – für Alfieri ist die Atmosphäre am Hof gänzlich von Angst und Verdacht durchtränkt. In diesem Sinne klagt auch Arrigo, der ohnmächtige König der Maria St uarda, im dritten Akt, dass es ihn „schmerz[e]“, „zu sehen, daß jedes Wort [von ihm am Hof] berichtet wird“. 61 „Wachsam sein, wie ich gleichwohl wachsam bin, / mehr nicht“, 62 lautet konsequent der weitere Rat, den Botuello der Königin bereits im zweiten Akt erteilt. In einem Dialog zwischen Botuello und Arrigo im dritten Akt wird dem Leser fast didaktisch der Grund deutlich gemacht, warum der eine Charakter den späteren Sieger, während der andere das spätere Opfer der Tragödie darstellen wird. Ja, der Grund, warum der konsequente zur Macht Strebenden Botuello später den passiven König Arrigo an der Seite Marias geradezu ersetzen wird. Während Bothwell offensichtlich zweckmäßig handelt und sein Machtspiel beherrscht, legt hier der König, den Bothwell vor den Machenschaften Ormondos warnen will, einmal mehr seine grundsätzliche Ohnmacht auf offener Bühne an den Tag: Heinrich. Sprich deutlich, sag’ ich, oder schweig hinfort! Geheimnißvolle Rede faß’ ich nicht. Das nur begreif’ ich, daß ich unter euch Verräthern schlimm erkennen mag, wer mich Zumeist verrät... 63
Gelassen, ja lehrerhaft lässt Alfieri hierbei seinen politisch gewandten Höfling den verwirrten König über die Machenschaften aufklären, die dieser nicht im Stande ist, für sich zu begreifen: Bothwell. Und doch ist’s leicht zu sehen; Wem der Verrath den größten Nutzen bringt! – Elisabeth, stets eures Glückes Feindin 60
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Alfieri: Stuart, S. 153. „Soverchio amor mai nol pungea del figlio: / Or, perchè il chiede? Ormondo, anch’ei bramoso, / Veder pretende il regal germe: ei reca / L’arti con sè della britanna donna: / Tutto esser può: nulla sarà; ma in trono / Cieca fidanza, è inescusabil fallo“, Alfieri: Stuarda, S. 37. Alfieri: Stuart, S. 167. „Assai più che la diversa stanza, / Duolmi il veder, che riferita venga / Ogni parola mia“, Alfieri: Stuarda, S. 47. „Vegliar, mentr’io pur veglio; / Altro non dei“, Alfieri: Stuarda, S. 37 (Übers. P.P.). Alfieri: Stuart, S. 170. „– O chiaro parla, o taci: / Misteriosi accenti io non intendo: / Soltanto io so, che dove al par voi tutti / Traditor siete, io mal fra voi ravviso / Qual mi tradisca“, Alfieri: Stuarda, S. 49f.
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Und Neid’rin, fürchtet Frieden unter euch. Was kannst von ihr Du hoffen? 64
Dem Leser wird in Alfieris Tragödie bald klar, dass dieser männliche Charakter, der mit Rat und Tat hinter der Titelheldin steht und zunächst eher zögerlich auftritt, einen kühn-erhabenen Machtplan hat und dabei auch über alle geistigen Mittel verfügt, um diesen auch durchzusetzen. Der Punkt ist hier jedoch, dass Alfieris Leser oder Zuschauer kaum die Realisierung dieses aktiven Machtplans mit Spannung verfolgen kann, weil Bothwell in den ersten vier Akten der Tragödie eher eine passive Rolle zu spielen bekommt, bei der er vor allem bestrebt ist, im Hintergrund die Machenschaften der reformierten, Maria entgegengesetzten Seite zu vereiteln. Dramaturgisch führt das zum Ergebnis, dass er kein einziges Mal in den ersten vier Akten von Alfieris Tragödie an exponierter Stelle handelt und dass seine Machtpläne bis zum letzten Aufzug lediglich sekundär bleiben. Rein strategisch, in Bezug auf die von ihm verfolgten Ziele betrachtet, mag Bothwell zwar in Alfieris Maria Stuarda genau zum richtigen Zeitpunkt handeln – das heißt erst am Ende des vierten Akts, da klar wird, dass Arrigo zunächst unter Hausarrest zu stellen und dann ganz auszuschalten ist. Wirkungsästhetisch gesehen kommt allerdings Botuellos Entscheidung, den weiteren Verlauf der Geschichte in Alfieris Stück selbst in die Hand zu nehmen und das bis dahin dargestellte Machtspiel zu seinen Gunsten abzuschließen, hier durchaus zu spät. Am Ende des vierten Akts dringt Bothwell in die zögernde Königin Maria, indem er die Maßnahme des Hausarrests für Arrigo als alternativlos darstellt. Maria wird klar, dass sich womöglich hinter dieser Maßnahme ein Mordplan an dem König verbirgt. Da die Zeit drängt und die moralischen Skrupel der Königin offensichtlich nicht mit Überzeugungskunst zu überwinden scheinen, entscheidet Bothwell, zum ersten Mal in der Tragödie eigenmächtig, ohne explizite Einwilligung der Königin, zu handeln – und stellt dabei als einziger konsequenter Vertreter der heroischen Moral des Nihilismus in dieser Tragödie auch seine ‚Männlichkeit‘ offen zur Schau: Maria. Ach – nein – o halt’ noch – halt Bothwell. So muß ich, Königin, Gewalt Dir thun – Schon einmal, denk’, erhielt ich Dich – schon einst – Maria. Ich weiß – doch jetzt...
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Alfieri: Stuart, S. 170f. „Egli è il vederlo lieve; / Cui più il tradirti giova. Elisabetta, / Invida ognora aspra nemica vostra, / Pace teme fra voi. Da lei che speri?“, Alfieri: Stuarda, S. 50.
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Bothwell. Vertraue nur auf mich. 65
Bei der gewaltigen Explosion, die man im fünften Akt hört, wird klar, dass Bothwells Machtplan aufgegangen ist. Er ist derjenige, der in Alfieris Tragödie am ‚zweckmäßigsten‘ gehandelt hat, die Figur, die sich trotz allem dasjenige schließlich geistig unterwerfen konnte, was sie selbst zunächst im Geflecht der entgegengesetzten Interessen zu erdrücken drohte. Auf der ästhetischen Ebene sieht es indes lange nicht so erfolgreich aus. Denn nachdem Bothwell vor allem im Hintergrund gehandelt hat, bekommt der ‚Sieger‘ des dargestellten Machtspiels im letzten Akt von Alfieris Tragödie weder die Möglichkeit, sich seines ‚großen‘, mit unmoralischen Mitteln erlangten ‚Siegs‘ zu erfreuen, noch wird das moralische Gesetz dabei durch die Bestrafung des Bösewichts wiederhergestellt. Im letzten Auftritt sagt Lamorre zwar deutlich, dass Bothwell der Mörder des Königs sei; 66 doch nicht „Gunst“, sondern „Gerechtigkeit“ verlangt daraufhin der dringend Tatverdächtige selbst von der Königin – „und schnelles, volles und lauteres Gericht!“ 67 – „Gerechtigkeit“ somit von der Herrscherin, die der historische Earl of Bothwell, wie man weiß, ganze drei Monate nach Darnleys Tod heiraten wird. Was damit am Ende von Alfieris Tragödie auf der ästhetischen Ebene bleibt, ist weder die Darstellung eines großen und kühn realisierten Machtplans – das heißt jene ‚große‘, ja ‚männliche‘ Tat eines ‚Helden‘, die Bewunderung einflößen soll –, noch jene tatsächliche Bestrafung eines boshaften Machtstrebenden, die das moralische Gesetz schließlich bestätigen soll. Auf mangelnde ‚Zweckmäßigkeit‘ ist daher die ästhetische Schwäche dieser Tragödie offensichtlich zurückzuführen. Und der Grund dafür ist nicht weit zu suchen. Er liegt vor allem in der zwiespältigen, nicht zuletzt von biographischen Faktoren stark beeinflussten Lektüre, die Alfieri von der historischen Episode des Todes von Marias Ehemann Henry Stuart, Lord Darnley, in seiner Tragödie geben wollte. Denn Alfieris Deutung verortet sich in einem bemerkenswerten Koordinatensystem, in dem einerseits das Mitleid von Louise Stolberg für die historische Figur der Maria Stuart steht, andererseits die unglückliche, später geschiedene Ehe von Louise selbst mit dem schottischen „Young Pretender“ Charles Edward Stuart ins Gewicht fällt. So steht hier Louises Mitleid mit Maria auf der einen Seite, ihre konkrete Lebenserfahrung mit dem letzten Stuart auf der anderen. Was den ersten Aspekt angeht, so lohnt es sich, jene Widmung an Louise in Betracht zu ziehen, 68 65
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Alfieri: Stuart, S. 201. „Maria: Ah no; ... t’arresta... // Botuello: Farti or vo’ forza: io ti salvai, rimembra, / Già un’altra volta.... // Maria: Il so; ma... // Botuello: In me ti affida“, Alfieri: Stuarda, S. 71. Vgl. Alfieri: Stuarda, S. 82. Alfieri: Stuart, S. 221. „[A]lta, spedita, e intera / Giustizia chieggo“, Alfieri, Stuarda, S. 83. Im Text dieser Widmung wird zwar kein expliziter Name genannt. Nichtsdestoweniger kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich der dann gestrichene Text an Louise Stolberg richtete. Vgl. auch De Bello: Nota, S. 6f.
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die Alfieri ursprünglich dem Druck seiner Maria Stuarda voranstellen wollte. Dort hatte er Folgendes geschrieben: „Mehrmals hörte ich Maria Stuarda als unglückliche Frau von Ihnen bemitleidet. Von dem ihr vorgeworfenen Mord am Ehemann mochte ich sie, soweit ich konnte, entlasten in dieser Tragödie, die ich Ihnen ausdrücklich widme“. 69 Um seiner Geliebten Louise zu willfahren, bemühte sich Alfieri in seiner Tragödie darum, auch gegen Humes Rekonstruktion, der er sich hier sonst getreu zeigte, 70 eine entlastende Darstellung der Schottenkönigin zu liefern. Der Verdacht, dass Maria am Mord ihres zweiten Ehemannes mitschuldig gewesen sei – ein Verdacht, der etwa am Ende von Schillers dramatischer Bearbeitung des historischen Stoffes als gegeben vorgestellt wird –, wird von Alfieri nach Möglichkeit entschärft zu Gunsten einer Interpretation, welche die willensschwache Königin vor allem als Opfer von Bothwells Machtstreben präsentiert. Zwar hatte Alfieri, wie treffend bemerkt wurde, kein Interesse daran, Maria Stuart als ‚katholische Märtyrerin‘ zu verklären – genau auf dieser Verklärung fußte schließlich die Beliebtheit dieses Motivs im Theater des 17. Jahrhunderts. 71 In der ursprünglichen „Idea“ hatte Alfieri die Titelheldin gar noch ausdrücklich als ‚Mitschuldige‘ konzipiert, als eine Komplizin Bothwells, die nach Vollendung der Tat nicht von ungefähr „Leiden, Reue und Schmach“ empfand und dabei die „fatale Notwendigkeit“ beklagte. 72 In der Endfassung von Alfieris Tragödie ist Maria hingegen lediglich „schwach“ und „weichherzig“. 73 Wenn sie doch in gewisser Hinsicht schuldig zu sprechen ist, dann höchstens daran, dass sie nicht – als schwache, liebende Frau – in der Lage gewesen sei, Bothwells Mord an ihrem Ehemann zu verhindern. Was hier vor allem interessiert, ist allerdings, dass Alfieris entlastende Lektüre der Figur die grundsätzliche Passivität der Protagonistin nachdrücklich bedingt. Um nicht indirekt belastet zu werden, kann Maria am Ende auch Bothwells Mord nicht perfekt machen, indem sie sich etwa mit dem Täter, den sie später heiraten wird, über dessen Sieg freut. Gleichzeitig ist sie historisch dennoch bereits allzu sehr mit Botuello kompromittiert, um vom Zuschauer als ganz schuldfrei verstanden zu werden. Und umgekehrt kann auch der Earl of Bothwell im Schlussakt nicht als vollkommener ‚Sieger‘ im Zeichen des Bösen hervortreten, um kein schlechtes Licht auf die Königin zurückzuwerfen. 69
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„Maria Stuarda infelice donna più volte udii conpianger da voi; dell’appostale uccision del Marito scolparla per quanto ’l seppi mi piacque in questa Tragedia ch’a voi dedico espressamente“, zitiert aus: De Bello: Nota, S. 6f. (Übers. P.P.). Zu Humes History of England als Alfieris wahrscheinlichster Quelle für Maria Stuarda – dabei vermutlich in der 1760 erschienenen Übersetzung ins Französische des Abbé Prévost, vgl. Nozzoli: Intorno all’Alfieri „inglese“, S. 591f. Di Benedetto: Appunti sulla Maria Stuarda, S. 183. Anna Nozzoli hat die Vermutung geäußert, Alfieri habe die Tragödien von Federico della Valle (1560?–1628) La reina d i S cotia sowie von Antoine De Montechrestien (1575–1621) La Re ine d ’Escosse gekannt. Vgl. Nozzoli: Intorno all’Alfieri „inglese“, S. 585–589. „Maria tra il dolore il rimorso e la vergogna non trova parole e deplorando la fatale necessità si ritira“, Alfieri: Maria Stuarda. Idea, in: Ders.: Stuarda, S. 97f. (Übers. P.P.). „[F]ragile e tenerissima“: so Raffaele De Bello in seiner „Nota“, S. 4.
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Alfieris entlastende Darstellung der Maria Stuart zeitigt somit gravierende Folgen auf der dramaturgischen Ebene der Tragödie. Um aus der Sackgasse herauszukommen, in die der Autor wegen der schonenden Deutung der Titelheldin geraten ist, greift er am Ende seiner Maria Stuarda auf eine besondere Maßnahme zurück: Er entscheidet sich dafür, die Szene weder der Titelheldin Maria noch dem siegenden Machtmenschen Botuello zu überlassen, sondern gerade einem Geistlichen – dem reformierten Lamorre. Dieser wird dazu berufen, in einer apokalyptischen Vision 74 die unheilvolle Zukunft der Stuart-Dynastie auf offener Bühne zu prophezeien und darin schließlich die auf traditionellen Prämissen basierende ‚Moral der Geschichte‘ in Alfieris Tragödie zu verkünden. In der letzten und entscheidenden Nacht, da Arrigo auf Bothwells Veranlassung unter Hausarrest steht und fern von der Bühne bereits von „Waffen feindlich“ umringt ist, 75 stürzt Lamorre auf Maria zu und befragt sie nach den Gründen für eine solche skandalöse, das Volk in Aufruhr versetzende Maßnahme gegen den König. Maria erkennt zunächst in dem Geistlichen lediglich den Vertreter der ihr entgegengesetzten Konfession und weist ihn daher kurzerhand in seine Schranken zurück. Doch der Geistliche Lamorre gibt an, im Namen des „wahren“ Gottes zu reden, dessen „Knecht“ er sei. 76 Unter Berufung auf den „freyen Muth“ und auf das erhabene „freye Wort“, die ihm die Königin „nicht nehmen“ könne, setzt Lamorre kurz vor der fatalen Explosion am Ende von Alfieris Tragödie mit seiner visionären Darstellung an. Dabei stellt Maria nicht ohne Entsetzen Folgendes fest: „[U]ngewohnte Gluth / Entbrennt auf seinem Antlitz“, ein „zornerfüllter Gott, / O Himmel, spricht aus ihm“. 77 Ob aus den Worten des Geistlichen tatsächlich die ‚Wahrheit‘ spricht oder doch nur, wenn man so will, der ‚reformierte‘ Teil der Wahrheit, ist jedoch nicht eindeutig zu klären. Fakt ist, dass in Alfieris Tragödie nur der reformierte Lamorre die ‚Schuld‘ der katholischen Schottenkönigin am Tod Arrigos explizit anspricht. Und dies auch nur im visionären Rahmen seiner apokalyptischen Prophetie. Bereits vor der Explosion, die den König in den Tod reißt, ‚sieht‘ Lamorre in seiner Vision den Täter Botuello als dritten Ehemann an Marias Seite. Der Sieg des Bösen scheint dabei vollkommen, jedoch erkennt Lamorre prophetisch im weiteren Verlauf der ‚Geschichte‘ das Walten der göttlichen Gerechtigkeit, die gerechte Bestrafung des Schuldigen – und somit den später eintretenden, doch unabwendbaren Triumph des moralischen Gesetzes:
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Diese Vision ahmt eine Textpassage der pindarischen Ode The Bard (1757) von Thomas Gray nach. Die Ode war zu dieser Zeit auch in Italien sehr bekannt, vgl. dazu Di Benedetto: Appunti sulla Maria Stuarda, S. 184. Alfieri: Stuarda, S. 73. „In me mi affido, ed in quel Dio verace, / Onde ministro io sono“, ebd., S. 74. Alfieri: Stuart, S. 207. „[I]n volto / Gli arde una fiamma inusitata…“, „Fero un Nume lo invade!... Oh Ciel!.. Deh! m’odi...“, Alfieri: Stuarda, S. 75.
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Lamorre. Was seh’ ich? Wer, wer ist’s – Ha, der Verräther, Schwer triefend noch vom frischen Blut! Wie, Du, Entsetzlicher, von heil’gem Blut befleckt. Du hier in dem noch lauen Wittwenbett’? […] Du Sohn des Unrechts, wie, Du wagst’s, Du lebst Und herrschest – wie? […] Doch nein! Du lebst nicht mehr; sieh da, die Sichel, Die diese grausenvolle Erndte mäht! Der Tod, der Tod! Ich höre seinen Ruf, Ich seh’ ihn nah’n! O Ewiger, wie gleicht Doch deine Rache jeden Frevel aus! – Der Himmel triumphirt! Herausgerissen Aus seinem Arme die Verbrecherin, Aus des Verräthers Arm – getrennt, zerstreut Die Frevelnden. O Lust, gezüchtigt – todt! – 78
Der „Zorn des Ewigen“ 79 geht selbstverständlich auch auf Maria nieder – und zwar in der grausamen Weise, wie es die Geschichtsbücher überliefern. Allerdings prophezeit der reformierte Geistliche an dieser Stelle nicht nur die Enthauptung der Königin, sondern auch das unheilvolle Ende ihrer ganzen Dynastie. „Oh sieh!“ – so der hellseherische Kirchenmann – „[d]er Sterbenden [Maria] entsprießt ein langer Zug / Von stolzen, sinnberaubten Königen –“. 80 Evoziert wird dabei unter ihnen die Figur Karls I. Stuart – den im Jahre 1649 enthaupteten König von England, Schottland und Irland. 81 Doch in die Kategorie der „stolzen und sinnberaubten Könige“ hatte Lamorre ursprünglich auch einen weiteren Vertreter explizit eingereiht – den letzten Spross der Stuart-Dynastie, einen Zeitgenossen Alfieris: den jakobitischen „Young Pretender“ Bonnie Prince Charlie; kein anderer als Louise Stolbergs Ehemann. Die von Alfieris Sekretär Polidori gefertigte Kopie 82 der Maria Stuarda gibt einige später gestrichene, von Lamorre gesprochene Verse wieder, in denen der italienische Dichter offensichtlich die Gelegenheit genutzt hatte, um auch seine Verachtung über den letzten Stuart freien Lauf zu lassen: 78
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Alfieri: Stuart, S. 206–208. „Che veggo? / Io veggio, ahi! sì, quel traditor, che tutto / Gronda di sangue ancora. Empio! fumante / Di sangue sacro e tremendo, tu giaci / Entro il vedovo ancor tiepido letto? […] // Ma tu, che in trono usurpator ti assidi, / Figlio d’iniquità, tu regni, e vivi? […] // Ma no, non vivi: ecco la orribil falce, / Che l’empia messe abbatte. Morte, morte... / Sue strida io sento, e già venir la miro. / Oh vendetta di Dio, deh, come sconti / Ogni delitto!.. Il ciel trionfa: è tolta, / Ecco, è strappata la perfida donna / Dalle braccia d’adultero marito... / Ecco traditi i traditori... Oh gioja! / Disgiunti sono,... e straziati,... e morti“, Alfieri: Stuarda, S. 75. „[C]eleste sdegno“, Alfieri: Stuarda, S. 76. Alfieri: Stuart, S. 209. „Del fianco alla morente / Donna, ecco uscir molti superbi e inetti / Miseri re“, Alfieri: Stuarda, S. 76. Es sei hier daran erinnert, dass Alfieri bereits 1775, also noch vor der Bekanntschaft mit Louise Stolberg, diesen historischen Stoff in einer dann unvollendet gebliebenen Tragödie behandelt hatte. Außerdem widmete Alfieri später König Karl I. Stuart auch seine in den Jahren 1784–86 entstandene und 1789 veröffentlichte Tragödie Agide. Vgl. De Bello: Nota, S. 8–10.
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O dispregievol schiatta, Sì, finirai pure una volta, O Germe Ultimo d’essa tu, morrai di ferro? No: man non è si vil, ch’entro il tuo sangue Lordar si voglia: accidioso sonno Fia ’l lungo viver tuo: del seggio privo Nè chi tel toglie pure avrai nemico: Campo ti fia la mensa: in ebre tazze Tufferai te col sovvenir del tuo Non meritato e non avuto regno 83
Der später von Alfieri überarbeitete Text der ‚Kopie Polidori‘ legt nicht nur darüber Zeugnis ab, dass diese Verse zuerst vorgesehen waren und dass sie dann gestrichen wurden. Sie enthält auch folgende handschriftliche Randbemerkung, die der Dichter schließlich bei seiner Entscheidung hinzufügte, genau auf jene Verse zu verzichten: „Weglassen, weil ich das Unglück hatte, die Person kennenzulernen. So wird man mich nicht der Gehässigkeit bezichtigen. Doch hätte die Kunst verlangt, dass diese Verse darin geblieben wären“. 84 Aus ästhetischen Gründen hätten die beißenden Verse über den letzten Stuart somit für Alfieri doch nicht gestrichen werden sollen. Und auch in seinem „Parere“ wird der Dichter in Bezug auf Lamorres Prophetie im letzten Akt seiner Stuarda ähnlich urteilen. Dort wird es heißen: „Der prophetisch-poetische Teil des Lamorre im fünften Akt mag vielleicht auf irgendeine Weise viele der vorherigen und nachfolgenden Schwächen der Tragödie ausgleichen“. 85 Indes mag man nicht ohne Grund geneigt sein, an der Stichhaltigkeit von Alfieris nachträglichem Urteil über die poetische Kraft seiner Figur zu zweifeln. Denn allzu heterogene Stimmen reden schließlich aus dem moralisierenden Geistlichen, den der Dichter im fünften Akt seiner Tragödie in den Mittelpunkt stellt: die verurteilende Stimme der reformierten Partei gegenüber Botuello und Maria, die ‚objektive‘ Stimme der Gerechtigkeit Gottes, die Stimme der Prophetie, 83
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„Ach verachtungswürdiges Geschlecht / Du wirst ja eines Tages aussterben, ach du letzter Spross / Desselben, wirst du erdolcht werden? / Nein, keine Hand ist so gemein, dass sie sich mit deinem Blut / Besudeln möchte: träger Schlaf / Wird dein langes Leben sein: Ohne Thron / Nicht mal jemanden, der ihn dir nimmt, wirst du zum Feind haben: / Schlachtfeld wird dir die Tafel werden: In trunkene Tassen / Wirst du dich stürzen beim Andenken an das / Unverdiente, nicht besessene Königreich“, ebd. (Übers. P.P.). Unmissverständliche Worte über den schottischen ‚Bonnie Prince Charlie‘ wird Alfieri auch im nachträglichen Rückblick seiner Vita finden: „Genug, ich rettete die geliebte Frau aus der Tyrannei eines verwirrten, trunksüchtigen Despoten, ohne dass sie im Mindesten kompromittiert oder der allgemeine Anstand verletzt wurde“, Alfieri: Vita. Mein Leben, S. 293f. „Mi basti il dire, che io salvai la donna mia dalla tirannide d’un irragionevole e sempre ubriaco padrone, senza che pure vi fosse in nessunissimo modo compromessa la di lei onestà, né leso nella minima parte il decoro di tutti“, Alfieri: Vita, S. 211. „[S]i tralascino perchè ho avuto la disgrazia di conoscere il personaggio. Così non mi si potrà dar taccia di maligno. Ma pure l’arte voleva che ci rimanessero questi versi“, zitiert aus: De Bello: Nota, S. 8 (Übers. P.P.). „La parte profeticamente poetica di Lamorre nel quint’atto, potrebbe forse in qualche modo scusare molti degli antecedenti e susseguenti difetti della tragedia“, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 111 (Übers. P.P.).
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die das unbarmherzige Urteil der ‚Geschichte‘ antizipiert, sowie im Hintergrund die Stimme der persönlichen Abneigung Alfieris gegenüber dem schottischen ‚Young Pretender‘. Dass in der Figur des Lamorre – „mit ihrem Moralismus, ihrer Sittenstrenge und ihrem Nationalismus“ 86 – ein „Jakobiner avant l a l ettre“ 87 zu erkennen sei, will vor dem Hintergrund des bisher Gesagten als wenig plausibel erscheinen. Ziemlich offensichtlich und dabei durchaus bezeichnend ist es dagegen, dass gerade Lamorres ‚Moralismus‘ als dramaturgischer Notbehelf im Zeichen des Sittlich-Erhabenen im letzten Akt von Alfieris Tragödie Einsatz fand. Dagegen könnte man halten, dass Lamorre am Ende von Alfieris Tragödie immer noch als ‚Politiker‘ und nicht als ‚Moralist‘ in den dargestellten Ereignissen interveniert. Denn schließlich begibt er sich zur Königin, noch bevor die erderschütternde Explosion Arrigo ums Leben bringt. Seine Rede könnte man daher auch lediglich als einen weiteren Teil seiner politischen Strategie deuten, ja als seinen letzten Versuch, das Leben des Königs aus eigenem politischem Kalkül in extremis zu retten. Außerdem löst seine ‚Vision‘ bei Maria tatsächlich Entsetzen aus, und in dieser Stimmung befiehlt die Königin gerade den Geistlichen, umgehend zu Arrigo zu eilen: Entgegen Bothwells Entscheidungen soll der unter Hausarrest stehende König ohne Umstände frei gelassen werden, wenn er schwört, dass er Schottland nicht verlassen wird. Wenn man Lamorres Einsatz im Rahmen seiner politischen Strategie deutet, ist allerdings ein Zweifaches in Betracht zu ziehen: Zum einen, dass man sich dabei kaum gegen den Eindruck wehren kann, dass seine Bemühungen offenkundig zu spät kommen – wie gesagt, erscheint Arrigos Schicksal zu diesem Zeitpunkt bereits als besiegelt; und Lamorres Versuch dabei als so gut wie aussichtslos. Zum anderen, dass seine ‚Vision‘ in einer Art Trancezustand gesprochen wird, aus dem er mit folgenden Worten wieder ‚erwacht‘: Lamorre. Bewegter Geist, Entflammter innrer Blick, des vollen Herzens Entzückter Flug, wohin entführst Du mich? Was sprach ich? Wo, wo bin ich? – Was erblickt Mein Aug’? Und wem verkündigt’ ich’s? Ist dies Die Königsburg? – O Ort des Todes und Der Trauer – hier – auf immer – flieh ich Dich! 88
Wäre dieses ‚Erwachen‘ nur als die zweckmäßige Gaukelei eines selbstbewussten Strategen, ja eines „verruchte[n] Diener[s] einer feilen Secte“ zu deuten? 89 Wenn 86 87 88
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Di Benedetto: Appunti sulla Maria Stuarda, S. 185 (Übers. P.P.). Ebd. Alfieri: Stuart, S. 211. „– Oh, d’agitata / Mente, di accesa fantasia, di pieno / Invaso petto alti trasporti! or dove / Me traeste?... Che dissi?... Ove mi aggiro?... / Che vidi?... A chi parlai?... La reggia è questa? / La reggia?... O stanza di dolore e morte, / Io per sempre ti lascio“, Alfieri: Stuarda, S. 77. Alfieri: Stuart, S. 125. „D’empia setta ministri“, Alfieri: Stuarda, S. 17.
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ja, dann würde dies allerdings bedeuten, dass seine ‚inszenierte‘ Prophetie gleich viel von ihrer poetischen und ästhetischen Kraft einbüßt – wobei sie eigentlich nur wahre historische Begebenheiten um die Stuart-Dynastie vorhersagt. Ohne es zu merken, gerät man hier in eine neue Sackgasse. In Wirklichkeit sind gerade ‚politische‘ Überlegungen an dieser Stelle irreführend. Denn bei Licht besehen ist das, was von der Figur des Lamorre insgesamt am Ende von Alfieris Tragödie bleibt, keinesfalls sein ‚politischer Einsatz‘, der übrigens im ganzen Stück kaum Wirkung zeigt. Das, was Lamorre am Ende wirkungsvoll darbietet, ist lediglich eine apokalyptische Vision, in welcher der historische Niedergang der Stuart-Dynastie vor dem Hintergrund moralischer Kategorien dargestellt wird, und somit ein Niedergang, der mit einer moralischen ‚Schuld‘ im engsten Zusammenhang steht. Wurde diese ‚Vision‘ allerdings von Alfieri auch dramaturgisch gut vorbereitet? Welchen ästhetischen Zweck verfolgt sie schließlich? In Bezug auf Alfieris Tragödie Maria Stuarda sind deutliche Parallelen zu ziehen zwischen der ‚politischen‘ Passivität der Figuren und der ästhetischen Wirkungslosigkeit des dramatischen Werks – zwischen jenem grundsätzlichen Mangel an ‚Zweckmäßigkeit‘, der das Handeln der einzelnen Figuren auf der Bühne charakterisiert, und demjenigen, der im ästhetischen Plan der Tragödie herrscht. Dabei ist deutlich hervorzuheben, dass gerade ein ausgewogenes „Verhältniß der Mittel zu ihrem Zweck“, 90 völlig einerlei, ob ‚Mittel‘ und ‚Zwecke‘ hier moralisch oder unmoralisch sind, sowohl auf der Handlungs- als auch auf der ästhetischen Ebene unverzichtbar ist. Gleichwohl ist zu betonen, dass moralisch indifferente Zweckmäßigkeit auch die Voraussetzung für die moralisch ausgerichtete Wirkung eines Werks ist. Denn die Darstellung einer „zweckmäßige[n] Bosheit“, die dann „vor der moralischen Zweckmäßigkeit zu Schanden wird“, hat zweckmäßig das „vollkommen[e] Wohlgefallen[-]“ des Zuschauers zum Ergebnis. 91 Für den dramatischen Dichter handelt es sich hierbei lediglich um eine zweckmäßig herbeizuführende Steigerung der ästhetischen Wirkung – eine Fertigkeit, die im Übrigen geradezu von der ästhetischen ‚Macht‘ des Dichters zeugt. Auf ‚Moral‘ kann allerdings – und das ist bei Alfieris Tragödie Maria Stuarda der Punkt – leicht auch im Fall von ästhetischer Ohnmacht zurückgegriffen werden. Dramaturgisch muss auch ‚moralische Zweckmäßigkeit‘ gut vorbereitet werden. Die von Lamorre geäußerte ‚Moral der Geschichte‘ am Ende der Tragödie entspringt weniger einem durchdachten ästhetischen Plan als einem dramaturgischen Engpass, sie hat keineswegs das ‚vollkommene Wohlgefallen‘ des Zuschauers im Zeichen des Sittlich-Erhabenen zum Zweck, sondern sie bietet sich hier als 90 91
Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 145. Vgl. NA 20, 14. Hier liest man außerdem: „Nicht selten aber gewinnt eine geistreiche Bosheit vorzüglich deswegen unsere Gunst, weil sie ein Mittel ist, uns den Genuß der moralischen Zweckmäßigkeit zu verschaffen“.
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schlichter dramaturgischer Notbehelf dar. Durchaus bezeichnend ist es somit, dass ästhetische Schwäche und traditionelle Moral in dieser Tragödie der Spätaufklärung so sehr Hand in Hand gehen. In einem Stück, in dem vor allem ‚Ohnmacht‘ auf der Handlungsebene herrscht, weicht die heroische Moral des Nihilismus folgerichtig den absoluten, metaphysischen Werten jener traditionellen Moral, die noch auf göttliche Gerechtigkeit vertraut. Und so bekommt der Geistliche Lamorre konsequent auch das letzte Wort in Alfieris Stück. „Rache“ schwört Alfieris Maria Stuarda in der allerletzten Szene dem Mörder Arrigos, „dem Thäter dieser grausen That“ 92 – nur zu bekannt, wie die historische Maria den Tod des Gemahls Henry ‚rächen‘ wird. Seiner ‚Moral‘ getreu behauptet der Earl of Bothwell dabei, den „Schmerz“ der Königin zu „ehren“ und für sich nicht zu „zagen“. 93 In Erwartung der gerechten, göttlichen Strafe, die sich einmal in der Geschichte offenbaren würde, sagt Lamorre zum ‚Täter‘ Botuello, dass dieser zunächst mit Grund getrost sein möge. Denn genau und allein „die Unschuld – des Gerechten“ habe in der königlichen Burg Schottlands zu „zagen“, „so lange nicht ein Blitz / Vom Himmel niedersinkt“. 94 Ob damit Bothwells „Bosheit“ auf der ästhetischen Ebene am Ende von Alfieris Tragödie zum „Gegenstand eines vollkommenen Wohlgefallens“ geworden ist, bleibt fraglich. Wenn der Vorhang fällt, täuscht der erhobene Zeigefinger des Lamorre nur oberflächlich über die grundsätzliche ‚Ohnmacht‘ hinweg, die sich an keiner Stelle in Alfieris Tragödie in ‚Übermacht‘ verwandeln konnte.
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Alfieri: Stuart, S. 221. „[E] tremi, / Qual ch’egli sia, l’autor perfido atroce / Di un tal misfatto“, Alfieri: Stuarda, S. 84. Ebd. „Il tuo dolor, regina, / Rispetto io sì; ma per me pur non tremo“, ebd. Alfieri: Stuart, S. 222. „Finchè dal ciel non piomba / Il fulmin qui, chi non è reo sol tremi“, Alfieri: Stuarda, S. 84.
IV. Machtdämmerungen. Wallenstein und Saul Am Anfang stehe ein Spruch aus der Bibel. Er ist dem Buch Jesus Sirach entnommen und lautet: „Quid lucidius sole et hic deficiet“. 1 Was leuchtet heller als die Sonne? – wohl nichts; und doch muss auch sie am Ende der Finsternis weichen. Die Bibelweisheit hebt das Vergängliche alles Menschlichen hervor und verurteilt jeglichen Dünkel der Kreatur aufs Schärfste. Denn nur Gott, der Allmächtige, kennt keine Grenzen. „[A]ut quid nequius excogitabit caro et sanguis et hoc arguitur“, so fährt nicht von ungefähr der zitierte Spruch fort, der die Nähe zwischen dem ‚Fleisch‘ und dem ‚Bösen‘ deutlich hervorhebt. Und dieser Spruch folgt im Buch Jesus Sirach direkt einer weiteren Weisheit, die wiederum keinen Raum für Fehlinterpretationen zulässt: „nec enim omnia possunt esse in hominibus quoniam non est inmortalis filius hominis et in vanitate malitiae placuerunt“ 2 – der Mensch kann nicht alles, des Menschen Sohn ist nicht unsterblich; Wohlgefallen hat er an seiner eitlen Bosheit. Jenes der Bibel entliehene Bild der ins Reich der Finsternis untertauchenden Sonne, das den Menschen an den unvermeidlichen Untergang alles Irdischen – selbst des Größten – im Diesseits erinnern will, führt uns ins Herz der Problematik, mit der wir uns in der folgenden Analyse von Schillers und Alfieris tragischen Protagonisten Wallenstein und Saul beschäftigen wollen. Nur zu bezeichnend ist dabei, dass der anfangs zitierte lateinische Bibelspruch auf das Grab des böhmischen Feldherrn Wallenstein in der Sankt Anna-Kirche in Münchengrätz eingelassen wurde; 3 bemerkenswert, dass er mit gleichem Recht mahnend auch auf dem Grabstein jenes ersten, für seine Überheblichkeit bestraften Königs Israels stehen könnte, dessen Geschichte im ersten Buch Samuel erzählt wird. 4 Zwei ‚große‘ Männer, Heerführer und Krieger, die sich anschicken, ihren letzten und entscheidenden Machtkampf auszutragen, stehen im Mittelpunkt des Wallenstein, der „wohl bedeutendste[n] Geschichtstragödie der deutschen Literatur“, die auch als „Hauptwerk Schillers“ gilt –, 5 sowie des Saul, der Tragödie, die schon lange als Alfieris Meisterwerk schlechthin betrachtet wurde. 6 Dabei ist der Um1 2 3 4
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Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem. Hg. v. Robert Weber, Bonifatius Fischer u. Roger Gryson. Stuttgart 52007. Liber Jesu Filii Sirach 17,30. Ebd., 17,29. Hier lautet der Bibelspruch wie folgt: „Quid lucidius sole? / Et hic deficiet!“. Dem zentralen Thema „Sakralität und Heldentum“ widmet sich der gleichnamige, von Felix Heinzer, Jörn Leonhard und Ralf von den Hoff jüngst herausgegebene Sammelband 6 des SFB „Helden – Heroisierungen – Heroismen“, Würzburg 2017. Hartmut Reinhardt: Wallenstein. In: Helmut Koopmann (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 395–414, hier S. 395f. Di Benedetto: Il dandy e il sublime, S. 17. Alfieris Tragödie (Vittorio Alfieri: Saul. In: Edizione Nazionale delle Opere di Vittorio Alfieri. Bd. 31: Tragedie. Edizione critica. Bd. XIV. Hg. v. Carmine Jannaco u. Angelo Fabrizi. Asti 1982) wird in unserem Rahmen aus folgender Übersetzung in deutscher Sprache zitiert: Saul. Ein Trauerspiel von Vittorio Alfieri.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-022
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stand, dass Schiller und Alfieri zwei große Heerführer als Protagonisten ihrer herausragenden Dramen auswählten, an sich kaum verwunderlich. Ganz im Gegenteil: In unserem Rahmen sollte hinlänglich deutlich geworden sein, dass jene auf Macht und Größe fixierte, männliche Moral des Nihilismus, die viele Protagonisten von Schillers und Alfieris Dramen an den Tag legen, geradezu kraftvoll-erhabene ‚Helden‘ zur Voraussetzung hat. Einerlei, ob ihre Machtpläne und ihre Taten gut oder böse sind: Die Logik des ästhetisch Erhabenen sieht vor, dass die auf der Bühne agierenden ‚Helden‘ zunächst einmal mit der „höchsten Konsequenz“ 7 die Durchsetzung des eigenen Machtplans verfolgen, um den „Verstand“ des Zuschauers zu „befriedigen“. Sodann mag das „Gefühl der moralischen Zweckmäßigkeit“, ja das „Herz“ des Zuschauers ergötzt werden – was allerdings verschiedene Ausgangsmöglichkeiten im Drama offen lässt. Denn wenn der ‚große‘ und dabei moralisch gute Held am Ende (physisch) scheitert, so soll er ‚heroisch‘ scheitern und damit jedenfalls als eigentlicher moralischer Gewinner aus dem Konflikt hervorgehen. Der ‚große‘, dabei moralisch böse ‚Held‘ oder ‚Antiheld‘ soll dagegen moralisch – bestenfalls physisch und moralisch – scheitern. Wenn er dennoch als der Gewinner des dargestellten Konflikts am Ende hervorgeht, so soll zumindest die bewunderungswürdige Größe des erreichten Ziels über die Immoralität des erstrebten Zwecks selbst und/oder der dafür eingesetzten Mittel hinwegtäuschen. Vor diesem grundlegenden theoretischen Schema, das wir Schillers ästhetischen Schriften entnommen und in unserer bisherigen Untersuchung der Dramen beider ‚Parallel-Tragiker‘ immer wieder am Werk gesehen haben, ist erwartungsgemäß auch die Analyse von Schillers und Alfieris Titelhelden Wallenstein und Saul durchzuführen. Denn hier hat man es mit zwei großen, von grenzenloser Herrschaftssucht getragenen Heerführern zu tun, die ihren entscheidenden Kampf kämpfen, wobei ihre Machtpläne aufgrund der historischen Vorlage zum Scheitern verurteilt sind. Aus ihren Machtkämpfen gehen beide Heerführer als Verlierer hervor, und beide ‚Helden‘ müssen am Ende tot von der Bühne getragen werden. Bei diesem von vornherein feststehenden Ausgang des Bühnengeschehens mag insbesondere eine Lektüre, die vom ‚Gefühl der moralischen Zweckmäßigkeit‘ ausgeht, naturgemäß vor allem auf jene sittlich-erhabene Größe im Scheitern gespannt sein, die man unbeirrt bei den von Schiller und Alfieri ausgewählten, historisch herausragenden Protagonisten vermuten darf. Und doch ist genau an dieser Stelle Vorsicht geboten. Denn vor ihrer historischen Folie wollen Schillers und Alfieris Titelhelden eigentlich nur schwer in das Schema einer sittlich-erhabenen Lektüre passen, sodass hier grundlegende Deutungsschwierigkeiten so gut wie
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Verdeutscht v. Wilhelm v. Lüdemann. In: Vittorio Alfieri’s Trauerspiele. Aus dem Italienischen von Wilhelm v. Lüdemann, und Andern, Drittes Bändchen. Zwickau 1825, S. 113–224. Bei diesem Zitat und den folgenden sei wie in den vorigen Kapiteln auf Schillers „ästhetische Abhandlung“ Ueber den G rund de s Vergnügens an t ragischen G egenständen verwiesen, NA 20, 144–147.
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vorprogrammiert sind, wenn man vor allem sittlich-erhabene Größe bei diesen scheiternden ‚Helden‘ erwartet. Durchaus fraglich muss etwa bleiben, ob Wallenstein angesichts von Max Piccolominis Tod wirklich „jene erhabene Charaktermerkmale [entfaltet], die ihn mit der Würde der moralischen Freiheit ausstatten“. 8 Und außerdem: Sollte wirklich der Idealismus von Schillers Trilogie darin begründet liegen, dass „an der Geschichte des Generalissimus“ sozusagen ex negativo demonstriert werden soll, „wohin jemand geraten kann, der bloß eine ‚physische‘ Kultur kennt und ihr bis in astrologische Strategien hinein vertraut“? 9 Andererseits darf man auch berechtigte Zweifel daran hegen, ob der abschließende Selbstmord von Alfieris Saul als ‚heroisch‘ zu bewerten ist: Kann Alfieris Titelgestalt durch diesen letzten Akt wirklich seine ‚Größe‘, ja seine „menschliche Freiheit und Würde“ 10 noch in extremis behaupten? Vermag es Saul durch seinen Suizid, sich wirklich moralisch zu ‚rehabilitieren‘ 11 und zu erlösen 12 – wo er sich davor in Alfieris Tragödie selbst vor allem als ein alternder ‚Tyrann‘ und insgesamt als ein mittelmäßiger ‚Genius des Bösen‘ gezeigt hat? Was den Herzog von Friedland angeht, so hat kaum jemand besser als Schiller selbst erkannt, dass sich diese historische Figur wenig für die tragische Gattung eignete. In seiner Geschichte d es dr eißigjährigen K rieges hebt Schiller zwar den „großen Charakter“ 13 des historischen Herzogs von Friedland hervor und spricht von seinem Lebenslauf als von der „Geschichte dieses außerordentlichen Mannes“. 14 Als es allerdings einige Jahre später darum geht, dieses Sujet auf die Bühne zu bringen, 15 wird der Generalissimus offensichtlich mit ganz anderen Augen angeschaut. In einem Brief vom 21. März 1796 an Wilhelm von Humboldt liefert Schiller, nun aus einem genuin ästhetischen Blickwinkel heraus, eine geradezu schonungslose Analyse des ‚großen‘ Charakters, dessen Geschichte er sich anschickt, dramatisch zu gestalten: Er hat nichts Edles, er erscheint in keinem einzelnen LebensAct groß, er hat wenig Würde und dergleichen […] Die Aufgabe wird dadurch schwerer, und folglich auch interessanter, daß der eigentliche Realism den Erfolg nöthig hat, den der idealische Charakter entbehren kann. Unglücklicher Weise aber hat Wallenstein den Erfolg gegen sich, und nun erfordert es Geschicklichkeit, ihn auf der gehörigen Höhe zu erhalten. Seine Unternehmung ist moralisch schlecht, 8 9 10 11
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Alt: Schiller. Bd. 2, S. 454. Reinhardt: Wallenstein, S. 408. Enrico Ghidetti: Saul. In: Ders. u. Roberta Turchi (Hg.): Alfieri tragico, S. 637–655, hier S. 655. Wie bereits Francesco De Sanctis (1817–1883) in seiner Geschichte der italienischen Literatur (1870/71) festhielt, vgl. Storia della letteratura italiana II. Hg. v. Niccolò Gallo. Torino 1971, S. 919. Bruno Maier: Introduzione. In: Vittorio Alfieri: Tragedie. Introduzione e note di Bruno Maier. Milano 72006, S. V–LXXI, hier S. XLIII. NA 18 II, 321. NA 18 II, 329. Zur Entstehungsgeschichte der Wallenstein-Trilogie vgl. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 420–428 sowie Norbert Oellers: Wallenstein (1800). In: Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller-Handbuch, S. 113–153, hier S. 113–120.
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und sie verunglückt physisch. Er ist im Einzelnen nie groß, und im Ganzen kommt er um seinen Zweck. Er berechnet alles auf die Wirkung, und diese mißlingt. Er kann sich nicht, wie der Idealist, in sich selbst einhüllen, und sich über die Materie erheben, sondern er will die Materie sich unterwerfen, und erreicht es nicht. 16
Dass Schiller Anfang der 1790er Jahre unter anderem das Projekt eines Epos über den Schwedenkönig Gustav Adolf verfolgte, 17 überrascht kaum. Allzu evident erscheinen dabei die Vorteile, die dieses historische Sujet im Vergleich zum Titelhelden seiner späteren Trilogie für den Dramatiker gehabt hätte. Denn als ‚Realist‘ hätte der bei Lützen gefallene schwedische Heerführer jedenfalls als Sieger auf dem Schlachtfeld gegen die kaiserliche Armee gefeiert werden können. Und als (protestantischer) ‚Idealist‘ wäre womöglich die erhabene Größe eines heldenhaften Königs zu verherrlichen gewesen, der bereit war, für seine höchsten Werte und Ideale das Leben hinzugeben. Warum dann doch bei Wallenstein verharren? In der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde darauf hingewiesen, dass Schillers „Entscheidung für den Wallenstein-Stoff mit einem unedlen, verwerflich handelnden, dabei nicht durch Größe und kaum durch Würde entschädigenden ‚Helden‘“ seine „Distanznahme von der früheren Schaffensweise [zeige], dem sympathetischen Idealisieren der Charaktere, ihrer Ausstattung mit der eigenen Rhetorik, mitreißend oder hochfliegend, pathetisch oder idealistisch“. 18 Dem mag man zustimmen. Zu fragen bleibt dabei dennoch, wie jene ‚Distanznahme‘ konkret stattfindet und wie sie zu deuten sei: Warum macht der späte Schiller gerade den kaiserlichen Generalissimus zum Titelhelden seiner Trilogie? Was besagt die Wahl dieses Sujets im Hinblick auf den ‚großen Mann‘ und auf seine ‚Moral‘? Und bei aller „Distanznahme“: Lassen sich nicht auch deutliche Kontinuitätslinien zwischen der ‚früheren‘ und der ‚späteren‘ Schaffensweise in Schillers Werk gerade beim Wallenstein nachzeichnen? Im Hinblick auf einen veränderten Umgang mit dem ‚großen Charakter‘ geht es hier um nichts weniger als darum, den ‚Idealismus‘ des ‚klassischen‘ Schiller schärfer zu konturieren und nicht zuletzt das diffuse Verhältnis jenes ‚Idealismus‘ zum „Humanitätsideal der Weimarer Klassik“ 19 näher zu definieren. Denn schließlich schreibt der Dichter selbst in dem bereits zitierten Brief an Humboldt, dass er beim Verfassen des Wallenstein „probieren“
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NA 28, 204. Zum „Problem des Tragischen im ‚Wallenstein‘-Produktionsprozeß“ vgl. auch: Rainer Godel: Schillers „Wallenstein“-Trilogie. Eine produktionstheoretische Analyse. St. Ingbert 1999, S. 273–280. Vgl. Alt: Schiller. Bd. 2, S. 420. Reinhardt: Wallenstein, S. 395. Vgl. dazu neuerdings die Beiträge von Michael Hofmann: Die Wege der Humanität. Krise und Erneuerung des Humanitäts-Paradigmas im Werk Goethes und Schillers, sowie: Carsten Zelle: Die Humanität des Künstlers? Kant, Schiller, Forster. In: Volker C. Dörr u. Michael Hofmann (Hg.): „Verteufelt human“? Zum Humanitätsideal der Weimarer Klassik, S. 141–160 sowie S. 161–174.
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wolle, „durch die bloße Wahrheit für die fehlende Idealität [… zu] entschädigen“. 20 Misserfolg beim ‚Realisten‘, Mangel an erhabener Größe beim ‚Idealisten‘ – gar Ohnmacht beim ‚Tyrannen‘ finden sich auch bei Saul, dem biblischen Charakter, den Alfieri in den Mittelpunkt seiner vierzehnten und ursprünglich zuallerletzt geplanten Tragödie rückt. 21 Der biblische Saul stellt den von Gott auserwählten, von Samuel gesalbten ersten König Israels dar, der später mit dem Propheten und der ‚Kirche‘ in Konflikt gerät und dabei von Gott verworfen wird. Damit ist das, was Saul in der Schrift Israels verspielt, nichts weniger als die Unterstützung Gottes – jene Unterstützung, der sich der junge David dagegen immer sicher sein kann und die ihm den Weg bis auf den Thron Israels als Sauls Nachfolger bahnt. Wenn man auf der Ebene der biblischen Überlieferung bleibt, so machte gerade Schiller auf eine frappierende Parallele zwischen dem Friedländer und Saul aufmerksam, als er in seiner Geschichte des dreißigjährigen Krieges in Bezug auf Wallensteins Verrat am Kaiser schrieb, dass „schon seit Samuels des Propheten Tagen keiner, der sich mit der Kirche entzweyte, ein glückliches Ende nahm“. 22 Wenn menschliche ‚Größe‘ in der Bibel nur in der engsten Verbindung mit Gott überhaupt denkbar ist, so stellt der biblische Saul in seinen letzten Tagen einen Gottverlassenen dar, dem jegliche ‚Größe‘ konstitutiv verwehrt bleiben muss. In seiner Vita berichtet Alfieri über die Begeisterung, welche die im Jahr 1782 erfolgte Lektüre der Heiligen Schrift, ja die „reine Poesie“ der Bibel, in ihm ausgelöst habe, 23 und vor dem Hintergrund der biblischen Erzählung bringt auch der italienische Tragiker mit seinem Titelhelden sozusagen die Geschichte eines untergehenden Sterns im Lager der Israeliten in Gilboa auf die Bühne. Der Punkt ist dabei allerdings, dass das in der Bibel zentrale Motiv von Sauls Verwerfung durch Gott bei Alfieri vollkommen säkularisiert wird – zu Recht wurde in Bezug auf Alfieris Titelgestalt vom „Debüt“ des „ersten homo psychologicus“ im tragischen Theater Italiens gesprochen. 24 Welche Form und welche Bedeutung nimmt dann Sauls ‚Verwerfung‘ durch Gott beim nicht gläubigen Alfieri an? Warum machte der italienische Dichter gerade Saul zum Titelhelden seiner Tragödie, 25 wenn er 20 21
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NA 28, 204. Vgl. Alfieri: Vita. Mein Leben, S. 301. „Ideai dunque, e distesi, e tosto poi verseggiai anche il Saulle, che fu la decimaquarta, e secondo il mio proposito d’allora l’ultima doveva essere di tutte le mie tragedie“, Alfieri: Vita, S. 216. NA 18 II, 329. „Ich konnte nicht anders“, so liest man in der Vita, „als meiner Ergriffenheit in einem biblisch inspirierten Werk Ausdruck zu verleihen“, ebd. „Bastò nondimeno perch’io m’infiammassi del molto poetico che si può trarre da codesta lettura, e che non potessi più stare a segno, s’io con una qualche composizione biblica non dava sfogo a quell’invasamento che n’avea ricevuto”, ebd. Ghidetti: Saul, S. 647. Northrop Fryes Einschätzung, „Saul is the one great tragic hero of the Bible“ (The great code. The bible and literature. London 1982, S. 182), kann man George Steiners grundsätzliche Betrachtung entgegenhalten, dass die Gattung Tragödie der jüdischen Weltanschauung fremd
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selbst nachträglich in seinem Parere zugab, dass der Selbstmord eines besiegten Königs zwar ein „bemitleidenswertes Vorkommnis“ darstelle, es sei jedoch „ein weit weniger tragisches Vorkommnis als jedes andere, das der Autor bis dahin behandelt“ habe? 26 Sollte ‚erhabene Größe‘ bei Alfieri dann just bei Sauls abschließendem Selbstmord zu finden sein, den die Bibel, entsprechend dem eigenen Menschen- und Weltbild, nicht im Geringsten als ‚heroisch‘ darstellt? Und umgekehrt – wenn man auch Alfieris Saul wie Schillers Wallenstein doch eher von vornherein jede sittlich-erhabene Größe absprechen sollte: Besteht Sauls ‚Tragödie‘ dann gerade darin, dass er nicht mehr sittlich-groß wie David sein kann? Dreht sich Alfieris Werk somit eigentlich um jene idealisierte, ja „bis zur Grenze der Entmenschlichung getriebene“, 27 sittlich-erhabene Größe, die den jungen David kennzeichnet – den zugleich geliebten und gehassten Gegenspieler des Protagonisten? Im Folgenden soll deutlich gemacht werden, dass sich die übliche Fixierung auf das Sittlich-Erhabene auch in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Wallenstein und Saul als geradezu hinderlich erweist. Die Deutungsfolie der ‚heroischen Moral des Nihilismus‘ macht es dagegen möglich, Licht in die dargestellte Gemengelage zu bringen, weil diese konstitutive ‚Moral‘ der Moderne zunächst einmal nicht nach Gut und Böse fragt, sondern sich auf jene psychophysische Kraft konzentriert, die hier die erste Voraussetzung zur Hervorbringung alles menschlich ‚Großen‘ darstellt. Vor dieser Folie ergibt sich folgendes Ausgangsbild. Erstens: Wallenstein und Saul weisen bei Schiller und Alfieri zwar einen deutlichen Mangel an erhabener Größe auf; an die Fähigkeit, Großes, ja Außergewöhnliches hervorzubringen, glauben die Protagonisten allerdings unvermindert; außerdem wird beiden Titelhelden vor dem Hintergrund ihrer Vergangenheit jene Fähigkeit mehrfach auch von den anderen Figuren zugesprochen. Zweitens: Wie bald deutlich wird, gehört jene ‚Größe‘ allerdings ausschließlich und unwiederbringlich der Vergangenheit der Titelhelden an – eine grundsätzliche Ohnmacht ist offensichtlich an die Stelle ihres früheren Machtwillens getreten. Drittens: Die unübersehbare Kraftabnahme, welche die Protagonisten kennzeichnet und die Schiller und Alfieri durch den Kontrast zwischen der glorreichen Vergangenheit und der unsicheren Gegenwart der Figuren besonders hervorheben, schwächt ihren ‚männlichen Heroismus‘ ab und bedingt dementsprechend ihre ‚Moral‘: Wallensteins und Sauls grundsätzliche ‚Ohnmacht‘, die an keiner Stelle der dargebotenen Handlung in ‚Übermacht‘ umschlägt, degradiert beide ‚Helden‘ von Anfang an zu
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sei („Tragedy is alien to the Judaic sense of the world“, vgl. The death of Tragedy. London 1961, S. 4). „Con tutto ciò un re vinto, che uccide di propria mano se stesso per non essere ucciso dai soprastanti vincitori, è un accidente compassionevole sì, ma per quest’ultima impressione che lascia nel cuore degli spettatori, è un accidente assai meno tragico, che ogni altro dall’autore finora trattato“, Alfieri: Parere sulle tragedie, S. 124 (Übers. P.P.). Ghidetti: Saul, S. 651 (Übers. P.P.).
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passiven Akteuren in einer Welt, die sie nicht mehr wie früher in die Logik ihrer Machtpläne zu zwingen vermögen. Wie die folgende Analyse deutlich machen wird, sind auch Wallensteins und Sauls dramatische Laufbahnen durchaus vor dem Hintergrund des ästhetischen Schemas des Erhabenen zu deuten. An ihren Protagonisten zeigen beide Dramen allerdings – und das ist dabei ihr Mehrwert – die andere Seite des kraftbasierten Strebens nach ‚Größe‘ und somit auch die Kehrseite und die Grenzen der ‚heroischen Moral des Nihilismus‘ im Hinblick auf das ‚große Individuum‘: Machtdämmerungen setzen ein, wenn die psychophysische Koordination der Titelgestalten in der naturbedingten Dynamik ihrer Kräfte nachlässt, der frühere Wille zur Macht nur in der Erinnerung weiterlebt und die ‚Helden‘ von einst lediglich Ohnmacht und Tod zu zeitigen vermögen. Im Folgenden soll insbesondere auf drei zentrale Aspekte und Motive von Schillers Wallenstein und Alfieris Saul eingegangen werden: auf den zum Teil ambigen Umgang beider Titelgestalten mit ihrer ‚Macht‘; auf das in beiden Tragödien mehrfach angesprochene Verhältnis zwischen Jugend und Alter sowie letztlich auf die Bedeutung der Lichtmethapher in beiden Werken. Vor dem Hintergrund von Schillers und Alfieris Werk soll abschließend deutlich gemacht werden, dass Saul weiterhin die Tragödie eines titanischen Ich darstellt, das mit den Grenzen der eigenen existenziellen Freiheit konfrontiert wird: Über diesen konstitutiven Konflikt, der sich ganz im großen Individuum abspielt, geht Alfieri nicht hinaus. Die ‚verfallene Größe‘ des Einzelnen, die der späte Schiller im Wallenstein auf die Bühne bringt, ist dagegen vor dem Hintergrund des „erneuerten Humanitäts-Modell der Weimarer Klassik“ 28 zu betrachten: Beim ‚klassischen‘ Schiller stellt der ‚moderne heroische Nihilismus‘ und seine ‚Moral‘ nicht mehr das Anliegen eines außerordentlichen Individuums dar, sondern die kulturelle Herausforderung einer neuen Gesellschaft, die ästhetisch zu erziehen ist. In unserem Rahmen sei der Anfang mit Schillers Wallenstein gemacht, und zwar mit der Analyse einiger Textstellen, die dem eben Gesagten über die konstitutive Ohnmacht des Titelhelden geradezu zu widersprechen scheinen. Schon lange bevor der Generalissimus zum ersten Mal im zweiten Aufzug der Piccolomini das Wort ergreift, wird der Leser und Zuschauer mit der Aura der Größe und Stärke vertraut gemacht, die Schillers Protagonisten auf Grund seiner ruhmvollen Vergangenheit umgibt. In seinem Lager bei Pilsen, wo ein Kapuziner im Übrigen den Feldherrn unter anderem als einen „König Saul“ schmäht, 29 traut man Wallenstein in Anbetracht seiner außerordentlichen Fähigkeiten und vor lauter bewundernder Verehrung gar die Verbindung mit überirdischen Gewalten zu: 30 Der Friedländer 28
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Hofmann: Die Wege der Humanität, S. 159. In seinem Beitrag unterstreicht Hofmann zu Recht, dass „Humanität“ für Schiller und Goethe „keine Wahrheit, kein[en] unproblematische[n] Besitz, sondern ein Problem, eine komplizierte Denkaufgabe“ darstellt, ebd., S. 144. NA 8 N II, 480. Ein Vergleich zwischen gemeinsamen Motiven in Schillers Wallenstein und Goethes Faust findet sich in: Dieter Borchmeyer: Schillers Faust: Wallenstein. In: „... schwankt sein
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halte „einen Teufel / Aus der Hölle im Solde“, 31 er „les’ auch in den Sternen / Die künftigen Dinge, die nahem und fernen“, 32 er sei „nach dem Kaiser der nächste Mann, / Und wer weiß, was er noch erreicht und ermißt“. 33 Wenn man hier doch zunächst einmal dazu neigt, den Gerüchten in Wallensteins Lager nicht zu viel Glauben zu schenken, so braucht man lediglich die ersten Worte des enthusiasmierten Max im ersten Akt der Piccolomini abzuwarten, um sich zumindest von der außeralltäglichen Qualität des Charismas völlig zu überzeugen, das der große Heerführer ausstrahlt. Für den jungen Piccolomini, den angeblich ‚fertigen‘ „Kriegsheld[en]“ aus dem Jahr 1634, 34 stellt Wallenstein bereits das dar, was man in der Epoche des Sturm und Drang ein Naturgenie nennen wird – er stellt jenes außerordentliche, durch höchste psychophysische Koordination gekennzeichnete Individuum dar, das nicht nur aus der schöpferischen Kraft der Natur entsprungen, sondern auch in der Lage ist, jene gestaltende Kraft selbst durch seinen titanischen Schaffensdrang auf das Höchste voranzutreiben: MAX. Was giebt’s auf’s neu denn an ihm auszustellen? Daß er für sich allein beschließt, was er Allein versteht? […] Er ist nun einmal nicht gemacht, nach andern Geschmeidig sich zu fügen und zu wenden, Es geht ihm wider die Natur, er kann’s nicht. Geworden ist ihm eine Herrscherseele, Und ist gestellt auf einen Herrscherplatz. […] Es braucht Der Feldherr jedes Große der Natur, So gönne man ihm auch, in ihren großen Verhältnissen zu leben. Das Orakel In seinem Innern, das Lebendige, – Nicht todte Bücher, alte Ordnungen, Nicht modrigte Papiere soll er fragen. 35
Von der Natur selbst – nicht von den Konventionen des menschlichen Zusammenlebens 36 – erhält Wallenstein in Max’ Augen seine uneingeschränkte Legitimation.
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Charakterbild in der Geschichte“. Zu Schillers „Wallenstein“. Mit Beiträgen von Dieter Borchmeyer u. Hans-Dietrich Dahnke. Marbach am Neckar 2002, S. 3–19. NA 8 N II, 472. Ebd. NA 8 N II, 476. NA 8 N II, 504. NA 8 N II, 518f. Auch Gräfin Terzky – eine Figur, aus deren Worten im Übrigen immer wieder die heroische Moral des Nihilismus in Schillers Wallenstein herauszuhören ist – äußert sich unmissverständlich hierzu am Ende des ersten Aufzuges von Wallensteins T od: „Vertrauen? Neigung? – Man bedurfte deiner! / Die ungestüme Presserin, die Noth, / Der nicht mit hohlen Namen, Figuranten / Gedient ist, die die That will, nicht das Zeichen, / Den Größten immer aufsucht und den Besten, / Ihn an das Ruder stellt, und müßte sie ihn / Aufgreifen aus dem
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Diese Überzeugung über den Heerführer versteht der junge Piccolomini schließlich als ein Diktat seines Herzens 37 – und das ist ein Diktat, das er auch im späteren Verlauf des Dramas nie bereit sein wird, in Frage zu stellen. 38 So klar Max’ Argumentationslogik im Allgemeinen auch ist – der ‚große Mann‘ mag sich niemals etwa dem Willen des „Riesen Gesez“ fügen, sondern sich höchstens vorstellen, wie er ihn „am Gängelbande“ lenkt, wie es bereits dem Leser von Schillers Fiesko klar werden musste 39 –, so nachvollziehbar ist auch der tiefe Eindruck, den Max’ Äußerungen auf den kaiserlichen Gesandten am Anfang der Piccolomini machen. Dieser hatte im Übrigen schon vor dem Gespräch mit dem jungen Max mit Bestürzung festgestellt, dass der „Feldherr“ in seinem Lager „allvermögend“, ja, dass der „Fürst“ hier selbst „Kaiser“ sei. 40 Nun muss er aus dem Gespräch mit Octavios Sohn ein plastisches Bild von der außerordentlichen Machtposition dieses ‚Naturgenies‘ in seinem Universum gewinnen: Ein ganzes System von Planeten kreist offensichtlich wie gebannt um diese mit „Feuerblick[en]“ leuchtende „Sonne“. 41 Die Erwartungen gegenüber Wallenstein sind zunächst einmal durchaus mit denen vergleichbar, die gegenüber anderen früheren ‚Helden‘ aus Schillers Feder gehegt wurden – man denke beispielsweise an Fiesko oder Posa. An der Größe und Stärke des böhmischen Titelhelden ist nicht zu zweifeln. Und doch: Worauf basiert dieses Gefühl der Größe? Wo lässt Schillers Wallenstein im Drama konkret seine ‚Größe‘ walten? Und wie geht der Generalissimus selbst mit seiner Macht um? In den Piccolomini bleibt Wallensteins Umgang mit der eigenen Macht ambig. Deutlich an einige Gespräche im ersten Akt von Schillers Fiesko erinnert hier zwar etwa der Wortwechsel des Titelhelden mit Terzky im zweiten Aufzug, da dieser – unfähig, die Tragweite der modernen Verflechtung von Ästhetik und Politik zu begreifen – den Heerführer vorwurfsvoll fragt: „Was sollen alle diese Masken? sprich!“. 42 Wallensteins Antwort mag man an dieser Stelle entweder als souverän, wie vormals im Fiesko, bewerten oder doch umgekehrt als das erste Zeichen für die grundsätzliche Handlungsunfähigkeit des Befehlshabers deuten: „Es macht mir
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Pöbel selbst – die setzte dich / In dieses Amt, und schrieb dir die Bestallung. / Denn lange, bis es nicht mehr kann, behilft / Sich dies Geschlecht mit feilen Sklavenseelen / Und mit den Drahtmaschinen seiner Kunst – / Doch wenn das Aeußerste ihm nahetritt, / Der hohle Schein es nicht mehr thut, da fällt / Es in die starken Hände der Natur, / Des Riesengeistes, der nur sich gehorcht, / Nichts von Verträgen weiß, und nur auf ihre / Bedingung, nicht auf seine, mit ihm handelt“, NA 8 N II, 634. „Lebhaft“, wie die Regieanweisung anmerkt, wird Max am Ende der Piccolimini zu seinem Vater sagen: „Dein Urtheil kann sich irren, nicht mein Herz“, NA 8 N II, 602. Noch im letzten Gespräch mit seinem Vater am Ende der Piccolomini wird er mit Bezug auf den Heerführer sagen: „Der Geist ist nicht zu fassen, wie ein andrer. / Wie er sein Schicksal an die Sterne knüpft, / So gleicht er ihnen auch in wunderbarer, / Geheimer, ewig unbegriffner Bahn“, ebd. Schiller: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua, NA 4, 67. NA 8 N II, 514. NA 8 N II, 572. NA 8 N II, 535.
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Freude, meine Macht zu kennen; / Ob ich sie wirklich brauchen werde, davon, denk’ ich, / Weißt du nicht mehr zu sagen, als ein andrer“. 43 „So hast du stets dein Spiel mit uns getrieben!“, kommentiert Terzky – nur muss dabei offen bleiben, ob Wallenstein sein Spiel tatsächlich noch bis kurz vor dem Schluss wird regieren können oder ob er noch überhaupt in der Lage ist, es weiterzuspielen. Auch Wallensteins zentrale Forderung, seine Offiziere „müssen“ ihm „Parole“ geben – „eidlich, schriftlich, / Sich meinem Dienst zu weihen, unbedingt“ 44 – auch diese Forderung mag man schließlich als zwiespältig betrachten. Denn sie mag vom grenzenlosen Selbstbewusstsein eines großen Machthabers Zeugnis ablegen oder aber von der Unsicherheit eines erschöpften ‚Naturgenies‘, das jene ‚Bestätigung‘ nun schwarz auf weiß haben möchte, die er früher höchstwahrscheinlich in seinem „heilig glühend Herz“ 45 im Alleingang gesucht und gefunden hätte. Ähnliches könnte man gar zu dem späteren und durchaus markanten Wallensteindiktum anmerken, nach dem es der „Geist“ sei, „der sich den Körper baut“: 46 Gibt der angeblich neu erstarkte Generalissimus hier mit seinem großen Wort endlich das lang erwartete Zeichen zum Gegenangriff – oder steht sein Satz bereits selbst „ganz im Zeichen der tragischen Ironie und belegt nur Wallensteins Realitätsverlust und völlige Verkennung der Lage“? 47 Wann vermögen jene Größe und Macht, die in Wallenstein lauern, wirklich eine große Tat zu zeitigen? So wie in Schillers Fiesko die Verschwörer um Lavagna den Plan gefasst hatten, den Titelhelden unter anderem mit Hilfe eines Malers zum tatkräftigen Handeln zu motivieren – wobei sie vom Titelhelden durchschaut wurden –, so schmieden auch Terzky und Illo in den Piccolomini Pläne, um die „Gelegenheit“ zu schaffen, die Wallenstein zur Handlung „verführen“ könnte. 48 Doch auch abgesehen von Terzkys und Illos Bemühungen um den Friedländer – am Anfang von Wallensteins Tod scheint es endlich soweit zu sein. Vor allem die ‚Sterne‘ drängen nun angeblich geradezu zum Handeln: WALLENSTEIN. Nicht Zeit ist’s mehr zu brüten und zu sinnen, Denn Jupiter, der glänzende, regiert Und zieht das dunkel zubereitete Werk Gewaltig in das Reich des Lichts – Jetzt muß Gehandelt werden, schleunig […] 49
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Ebd. NA 8 N II, 537. Um hier diese Formulierung aus Goethes Hymne Prometheus zu gebrauchen, MA I.I, S. 230. NA 8 N II, 687. Riedel: Die anthropologische Wende, S. 37–41. Wie Riedel deutlich macht, stellt die berühmte Wallensteinformel selbst ein Zitat vom Aufklärungsmediziner Georg Ernst Stahl dar, vgl. ebd. NA 8 N II, 553. NA 8 N II, 614.
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Frappierend ist dabei nicht der Umstand, dass es dann zu dieser großen und pathetisch in Aussicht gestellten Handlung doch nicht kommt, sondern vor allem die Art und Weise, in der Schiller an dieser Stelle die Erwartungen seines Protagonisten enttäuscht – darauf wird im Folgenden noch zurückzukommen sein. Wenn man sich Alfieris Saul zuwendet, so sieht man sich auch hier mit einem ähnlich zwiespältigen Bild des Titelhelden in seinem Umgang mit der Sphäre der Macht konfrontiert. Auf das Potential zur Größe, das im Protagonisten lauert, wird an einigen Stellen der Tragödie deutlich angespielt, und zwar lange bevor der dann auf dem Schlachtfeld besiegte Befehlshaber in der letzten Szene entscheidet, aus eigener Hand und noch mit der vollen Würde des amtierenden Königs zu sterben. Bereits Sauls allererster Bühnenauftritt am Anfang des zweiten Aktes weist auf Großes voraus. Eine klare Parallele entsteht hier zwischen der aufgehenden Sonne und dem in der Morgenröte aufgestandenen König der Israeliten, der gerade die hellen Farben des Sonnenaufgangs als ein gutes Vorzeichen für den bevorstehenden entscheidenden Tag deutet: Saul. Schau, Abner, welch’ ein schöner Morgen! Traun, Im blut’gen Kleide steigt die Sonne heut’ Uns nicht wie sonst empor – und alles weissagt Uns lächelnd einen hochbeglückten Tag! – – 50
Darauf, dass Saul, genauso wie Wallenstein, in der Kunst des Weissagens am Ende einiges zu wünschen übrig lässt, soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden – auf die Merkmale des ‚großen Mannes‘ soll es hier zunächst einmal ankommen. Und auf das titanische Selbstgefühl eines ‚großen Mannes‘, der sich über allem und allen erhaben fühlt, weist ebenfalls im zweiten Akt Sauls rhetorische Frage an seinen Sohn Jonathan, ob dieser wirklich meine, dass gerade er, König Saul, das „thoricht[e] Hoffen“ des Sohnes auf den kommenden Sieg Israels ‚teilen‘ möge. 51 In der älteren Forschungsliteratur wurde behauptet, dass die „wütende Bestürzung des wiederholten ‚me‘ und der Fragen“ bei Saul keine „eigene Bedeutung“ besitze, sondern vielmehr als Vorbereitung auf die darauffolgende „rasche Pause“ und „auf den Ausbruch ‚weinet alle!‘“ zu deuten seien. 52 Indes besteht die eigene Bedeutung von Sauls Fragen an dieser Stelle gerade darin, dass sie das Selbstverständnis des israelitischen Königs gegenüber den anderen Figuren deutlich verraten. Denn bestürzt zeigt sich Saul hier nicht gar über die Annahme 50 51
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Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 137. „Bell’alba è questa. In sanguinoso ammanto / Oggi non sorge il sole; un dì felice / Prometter parmi“, Alfieri: Saul, S. 65. Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 145. Im Original klingt Sauls rhetorische Frage mit dem darin wiederholten Personalpronomen „me“ wie folgt: „Or, forse / Me tu vorresti di tua stolta gioja / A parte? me? –“, Alfieri: Saul, S. 71. So Attilio Momigliano, zit. aus Vittorio Alfieri: Saul. Filippo. Introduzione e note di Vittore Branca. Milano 51990, S. 193 (Übers. P.P.).
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seines Sohnes, dass auch der Machthaber eine bestimmte und an sich durchaus nachvollziehbare Hoffnung hegen möge, sondern vielmehr darüber, dass sich hier jemand überhaupt erlaube, Vermutungen über das Empfinden des Herrschers anzustellen – ja, dass jemand es hier wage, das ‚erhabene‘ Empfinden des israelitischen Königs implizit mit dem wohl minderwertigen Gefühlsleben eines jeden in Verbindung zu setzen. Ähnlich ist Sauls grenzenloses Selbstgefühl – das hier allerdings eindeutig an Größenwahn grenzt – später auch in der Reaktion des Königs auf Jonathans Weigerung zu erkennen, das von Saul gesprochene Todesurteil gegen den Geistlichen Achimelech zu vollziehen. „Sieh“, sagt Jonathan im vierten Akt zu Saul, „in diesem Gott / Verhaßten Kampf bleibst Du allein, o Vater“ – worauf der König entgegnet: Saul. Und ich allein genüge jedem Kampf! Entzieh’ dich feige immerhin der Schlacht, Ich, Saul, ich bin genug! – Was Jonathan? Was David? Saul, nur Saul ist Euer Führer! 53
Auch in diesem Fall, wie schon bei Wallenstein, fragt es sich, ob solche Worte der maßlosen Selbstbehauptung auf tollkühner, männlicher Kraft basieren oder aber als Beweise zunehmender Abschwächung und altersbedingten Realitätsverlustes zu deuten seien. Doch einerlei, wie es hier wirklich mit Sauls psychophysischer Verfassung bestellt ist, weisen solche Auslassungen des Protagonisten in Alfieris Tragödie auf ‚große Taten‘ voraus – möchten diese dann auch bloß als Reaktion auf die Schachzüge der anderen Figuren zu Stande kommen. Große Erwartungen lässt ebenfalls jene ruhmvolle Vergangenheit des israelitischen Heerführers aufkommen, die vom ‚Sänger‘ David im dritten Akt von Alfieris Tragödie gesungen wird. Und schon am Ende des zweiten Aktes zeigt der ‚Tyrann‘ Saul, um hier ein letztes Beispiel zu nennen, gar sittlich-erhabene Größe, indem er seinen „unfreywill’gen Fehl“ 54 im Umgang mit dem Schwiegersohn David offen bereut und seine Tochter bittet, ihn wiedergutzumachen. Vor dem beschriebenen Hintergrund ist auch Saul als Titelheld zunächst einmal in die Reihe der ‚großen Männer‘ einzuordnen, die immer wieder im Mittelpunkt von Alfieris Tragödien stehen. 55 Der Punkt ist hier allerdings, dass weder Sauls politische ‚Größe‘ noch seine ‚sittlich-erhabene Größe‘ am Ende in der Lage sind, ‚große Taten‘ in dieser Tragödie zu zeitigen. Somit ist die anfängliche ‚Ohn53
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Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 203f. „Gionata: Tu resti / Solo a tal empia pugna. // Saul: E solo io basto / A ogni pugna, qual sia. Tu, vile, tardo / Sii pur domani al battagliare: io solo / Saúl sarò. Che Gionata? Che David? / Duce è Saúl“, Alfieri: Saul, S. 113. Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 158. „Del genitor gli involontarj errori“, Alfieri: Saul, S. 80. Zu Recht betont auch Cascetta, dass Sauls zehrende Leidenschaft in der ausgeprägten „volontà di potenza, [nel]l’affermazione incondizionata di sé“, das heißt in dem alles andere überragenden „Willen zur Macht“ von Alfieris Protagonisten besteht. Cascetta: La tragedia nel secondo Settecento, S. 851.
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macht‘ des Protagonisten, welche die Ästhetik des Erhabenen voraussetzt, auch hier nicht in der Lage, sich je in ‚Übermacht‘ zu verwandeln. Der Grund hierfür ist bei Alfieri einfacher herauszuarbeiten als bei Schillers Wallenstein, weil sowohl die dramatische Struktur als auch die Figurenkonstellation von Alfieris Werk viel überschaubarer sind als in Schillers Trilogie: Er liegt in einem deutlichen Mangel an Kraft des alternden Protagonisten – einem konstitutiven Mangel, der am Ende auch das wirkungsästhetische Räderwerk des Erhabenen in den Tragödien beider Dichter hemmen muss. Dass jede Größe und jede Stärke des Titelhelden nur der Vergangenheit angehören, macht Alfieris Saul selbst gar zu einem Leitmotiv seiner Klagen. Vorsätzlich, und doch nur für die Länge eines Augenblicks, täuscht somit die bereits erwähnte Parallele zwischen dem in der Morgenröte aufgestandenen Saul und der aufgehenden Sonne am Anfang des zweiten Akts über die konstitutive Ohnmacht von Alfieris Protagonisten. Denn die hellen Farben des anbrechenden Tages scheinen zwar Saul zunächst glücksverheißend; bereits die zweite Anmerkung des hier zum ersten Mal die Bühne betretenden ‚Helden‘ drückt allerdings keineswegs die erwartete selbstbewusste Zuversicht auf die Zukunft eines großen Heerführers, sondern lediglich sein lautstarkes, rückwärts gerichtetes Bedauern aus: Saul. O meine schöne Zeit – wo bist du nun? Ihr Tage, da vom Lager Saul sich nie Erhob, er wußte denn als Sieger es Am Abend zu besteigen!... 56
Dass diese Äußerung die grundsätzliche Einstellung von Alfieris Protagonisten verrät, bestätigt unmissverständlich das Gespräch, das Saul an dieser Stelle mit Abner, seiner rechten Hand, führt. Abners Versuch, dem König vor dem Hintergrund seiner früheren Siege gegen die Philister Mut und Zuversicht einzuflößen, begegnet Saul mit einer luziden Diagnose, die seine Lage genau auf den Punkt bringt: Saul. O Abner! Wie verwandelt scheint dem Blick Des Greises die Gestalt der Erdendinge? Wie anders denn dem jugendlichen Aug’? Als ich mit starkem Arm den schweren Baum Des Speers, den ich jetzt kaum bewege, schwang, Da wußt’ ich nicht zu zweifeln, noch zu fürchten. Doch nun! – – O meine Jugend nicht allein Bewein’ ich als verloren. – Wäre nur 56
Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 137. „Oh miei trascorsi tempi! / Deh! dove sete or voi? Mai non si alzava / Saúl nel campo da’ tappeti suoi, / Che vincitor la sera ricorcarsi / Certo non fosse“, Alfieri: Saul, S. 65.
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Des Höchsten [unbesiegbare] Hand [mit mir] – Und wärest [zumindest] Du, mein [tapferer] David, noch mit mir! 57
Man könnte versucht sein, Sauls ‚Jugend‘, den ‚Segen Gottes‘ und ‚Davids starken Arm‘, die der König hier als ‚verloren beweint‘, als einzelne und gleichwertige Elemente in einer einfachen Reihenfolge zu betrachten. In Wirklichkeit sind sie aber enger und dabei verwickelter miteinander verknüpft, als man zunächst vermuten würde. Denn nimmt man sie einzeln in Betracht, so fragt es sich etwa aus einem religiösen Blickwinkel heraus, warum sie nebeneinander stehen, da ‚Gottes Segen‘ dabei offensichtlich übergeordnet ist und er allein auch gleich die anderen zwei Elemente entweder nach sich ziehen oder sie gar als unbedeutend ausfallen lassen müsste. Auch fragt es sich, warum Saul hier in demselben Atemzug seine Jugend, Gottes Segen und David nennt, wenn er kurz danach beteuert, dass er seinen Schwiegersohn eigentlich „hasse“. 58 Wie kann Saul seinen Schwiegersohn gleichzeitig lieben und hassen – ist er einfach außer sich, 59 wie er wiederum von sich behauptet; 60 und stellt das bloß die nur zu konsequente Folge der Tatsache dar, dass er von Gott verlassen wurde? 61 Das auf den ersten Blick etwas verwirrende Bild vereinfacht sich wesentlich, wenn man ein Zweifaches erkennt: Zum einen, dass Stärke und Kraft die eigentlichen gemeinsamen Nenner der drei erwähnten Elemente darstellen; zum anderen, dass die Figur des David in Sauls Augen genau das verkörpert, was der König früher war: ein noch junger und starker, Gott gesegneter, erhabene Größe anstrebender Heerführer und Machtmensch – daran werden wir uns auch in Bezug auf Wallenstein und Max Piccolomini erinnern müssen. In seinem sehr luziden ‚Wahn‘ muss Saul daher an David das eigene ‚ideale‘ Spiegelbild eines jungen Mannes und Siegers ‚lieben‘. Hassen muss er dabei allerdings jenes ‚reelle‘ Spiegelbild eines gottverlassenen, dekadenten Königs, das der junge aufstrebende David nolens volens zurückwirft. Vor dieser Folie lässt sich auch der quälende Traum erklären, von dem Saul Abner ebenfalls in der ersten Szene des zweiten Akts erzählt:
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Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 138. „Abner, oh! quanto in rimirar le umane / Cose, diverso ha giovinezza il guardo, / Dalla canuta età! Quand’io con fermo / Braccio la salda noderosa antenna, / Ch’or reggo appena, palleggiava; io pure / Mal dubitar sapea... Ma, non ho sola / Perduta omai la giovinezza... Ah! meco / Fosse pur anco la invincibil destra / D’Iddio possente!... o meco fosse almeno / David, mio prode!...“, Alfieri: Saul, S. 65f. „David?...“ – so liest man im Original – „Io l’odio…“, Alfieri: Saul, S. 68. Zu Sauls ‚Wahnsinn‘ vgl. auch Ghidetti: Saul, S. 647. „Ahi lasso me! ch’io già vaneggio!...“, Alfieri: Saul, S. 69. „Wehe uns!“, ruft David in Bezug auf Saul in der allerersten Szene der Tragödie aus, „Was sind wir, wenn uns Gott verlässt? – “ („Miseri noi! che siam, se Iddio ci lascia? –“, Alfieri: Saul, S. 51). Bemerkenswert ist, dass sich eine durchaus ähnliche Äußerung – hier allerdings nur auf die immanente Ebene bezogen – auch in Schillers Wallenstein findet, da die Herzogin von Friedland im zweiten Aufzug der Piccolomini ausruft: „Was sind wir, / Wenn kaiserliche Huld sich von uns wendet!“, NA 8 N II, 529.
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Saul. Dasselbe Bild [Samuels] seh’ ich auch jetzt im Schlaf, Doch wohl in andrer, schrecklicher Gestalt: Ich, aus dem schwarz’sten, tiefsten Thale, schau’ Zu ihm herauf, der hoch auf einem Berg, Der gleich der Sonne strahlet, strahlend sitzt. Zu seinen Füßen, mit gebeugtem Knie, Ruht David; leise auf sein Haupt ergießt Der heil’ge Greis das Oel des Herrn. Darauf Ergreift er mit der andern Hand, die sich Wohl hundert Ellen bis zu meinem Haupt Erstreckt, mein Diadem, und reißt es mir Vom Haar, und will auf Davids Stirn es fort Und fort befestigen. 62
Nicht nur das. So lässt sich auch Sauls Reaktion auf Davids Gesang im dritten Akt von Alfieris Tragödie erklären. Wie bereits erwähnt, besingt David hier die ruhmvolle Vergangenheit des israelitischen Heerführers. Dabei gelingt es ihm, den Unmut des alten Königs zu besänftigen, der „halbwachend“ behauptet: „Was hör ich? – Davids Stimme? – Ach, so reiß’ / Mich aus [tödlichem] Schlummer auch empor! / Zeig’ mir den Schatten meiner schönen Tage!“. 63 Bis der Sänger David allerdings die zwei „Schwerter“ des israelitischen Volkes rühmt und sich damit auf Augenhöhe mit dem König stellt, was gleich einen erneuten Zornausbruch des Machthabers verursacht. 64 Offensichtlich vermag Sauls ‚Größe‘ nur in der Vergangenheit weiterzuleben, und auch David vermag der König als festen Bestandteil seiner Größe zu betrachten, nur solange er die jugendliche Kraft des Schwiegersohns als seiner Macht untergeordnet auffasst. Sobald David dagegen als konkreter Thronfolger in Betracht kommt – ja sobald seine Jugend den alten König Saul unmissverständlich an die eigene Machtdämmerung erinnert, steigt der Schwiegersohn zum schlimmsten Feindbild des amtierenden Machthabers selbst auf. Dass dieser Machthaber in der Bühnengegenwart kaum agiert, ist alles andere als verwunderlich: In Alfieris Tragödie hat man es nicht mehr mit den großen heroischen Taten zu tun, die vor dem Hintergrund einer männlichen Moral des Nihilismus geplant und vollzogen werden, sondern mit einer auf offener Bühne stattfindenden Reflexion über die grundlegenden Voraussetzungen zum Vollzug jener Taten
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Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 142. „Ora in tutt’altro aspetto io lo riveggo. / Io, da profonda cupa orribil valle, / Lui su raggiante monte assiso miro: / Sta genuflesso Davide a’ suoi piedi: / Il santo veglio sul capo gli spande / L’unguento del Signor; con l’altra mano, / Che lunga lunga ben cento gran cubiti / Fino al mio capo estendesi, ei mi strappa / La corona dal crine, e al crin di David / Cingerla vuol“, Alfieri: Saul, S. 68. Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 177. „Odo io la voce / Di David?... Trammi di mortal letargo: / Folgor mi mostra di mia verde etade“, Alfieri: Saul, S. 94. Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 183. „Chi, chi si vanta? Havvi altra spada in campo, / Che questa mia, ch’io snudo? Empio è, si uccida, / Pera, chi la sprezzò“, Alfieri: Saul, S. 98.
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selbst – was uns hier auch zu Schillers Herzog von Friedland zurückbringt, den wir am Anfang von Wallensteins Tod als zum Handeln entschlossen gesehen haben. Wir erinnern uns: Am Himmel über Pilsen regiert Jupiter, „der glänzende“, wie Wallenstein verkündet; und seine Schlussfolgerung lautet dabei unmissverständlich: „Jetzt muß / Gehandelt werden“. 65 Indes muss es seine Bewandtnis damit haben, dass sich Schiller dazu entschloss, den Enthusiasmus seines Heerführers hier unvermittelt einen Dämpfer aufzusetzen. Denn kaum hat der Feldherr am Anfang von Wallensteins Tod in gewisser Hinsicht das Zeichen zur lang erwarteten Offensive gegeben, sieht er sich gezwungen, zum Rückzug zu blasen: Sesina, ein geheimer Zwischenhändler, wurde mit kompromittierenden Dokumenten auf dem Weg zu den Schweden von kaiserlichen Truppen gefangen. In dieser heiklen Lage wäre gerade der ‚große Mann‘, ja das ‚Naturgenie‘ gefragt – das einzige, das diesen „böse[n] Zufall“ 66 kühn bezwingen könnte. Stattdessen stellt Schiller hier einen ‚Helden‘ vor, der nicht nur kaum in der Lage ist zu handeln, sondern auch die eigene Handlungsunfähigkeit – und das ist das Bedeutsame dabei – auf offener Bühne zum Thema macht. „Wer ist gefangen? Wer ist ausgeliefert?“, fragt Wallenstein aufgeregt an dieser Stelle, um dann gleich „zurückfahrend“, wie die Regieanweisung vermerkt, hinzuzufügen: „Sesin doch nicht? Sag’ nein, ich bitte dich“. 67 In dieser bemerkenswerten Reaktion, die im krassen Widerspruch mit dem Bild des großen Mannes steht, ist schon das Brandmal von Wallensteins Schwäche eingeschrieben. Anstatt dem „bösem Zufall“, den er wiederholt bedauert, 68 aktiv zu trotzen, legt der ehemalige „groß[e] Rechenkünstler“ 69 hier seine passive Ohnmacht an den Tag: WALLENSTEIN. Warte noch ein wenig. Er hat mich überrascht – Es kam zu schnell – Ich bin es nicht gewohnt, daß mich der Zufall Blind waltend, finster herrschend mit sich führe. 70
Es mag verwirren, dass der Friedländer bereits im darauffolgenden Aufzug der Tragödie „bedeutend“ behaupten wird, dass es „keinen Zufall“ gebe und dass „was uns blindes Ohngefähr nur dünkt, / Gerade das steigt aus den tiefsten Quellen“. 71 Das hat Methode in Schillers Wallenstein: In einer und derselben Szene kann der Titelheld etwa selbstbewusst behaupten, dass „die Macht“ sein sei und dass die 65 66 67 68 69
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NA 8 N II, 614. NA 8 N II, 617. NA 8 N II, 614f. Ebd. Für Buttler sei Wallenstein ein „großer Rechenkünstler […] / Von jeher“ gewesen: „alles wußt’ er zu berechnen, / Die Menschen wußt’ er, gleich des Bretspiels Steinen, / Nach seinem Zweck zu setzen und zu schieben“, NA 8 N II, 729. Daraus ergibt sich, dass Wallenstein früher selbst ‚alles berechnen‘ konnte – die ‚Sterne zu fragen‘ brauchte er dafür nicht. NA 8 N II, 618. NA 8 N II, 646.
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anderen dies „niederschlucken“ müssten, 72 oder aber sich „in h eftiger B ewegung auf und ab gehend“ – so wiederum die Regieanweisung – fragen, ob er nun etwas „im Ernst erfüllen“ müsse, weil er „zu frey gescherzt [habe] mit dem Gedanken“. 73 Wenn man sich fragt, wie die widersprüchlichen Äußerungen des Generalissimus zu erklären sind, so gibt die Herzogin von Friedland im dritten Aufzug Deutungshinweise, die sich in unserem Rahmen als sehr nützlich erweisen. Hier erzählt Wallensteins Gemahlin ihrer Tochter, dass es früher „schöne Tage“ gab, in denen ihr Mann „noch der fröhlich strebende“ war, dem alles geriet, was er anfing. 74 Nach dem „Unglückstag in Regenspurg“ sei dagegen ein „unsteter, ungesell’ger Geist / Argwöhnisch, finster über ihn gekommen“ 75 – geradezu frappierend ist an dieser Stelle die Parallele mit Alfieris Saul, dem Gottverlassenen, der von einem „bösen Geist“ geplagt sei. 76 Entscheidend ist hier allerdings vor allem die Anmerkung der Herzogin, dass Wallenstein erst „sein Herz den dunkeln Künsten“ zugewandt habe, nachdem er „dem alten Glück, / Der eignen Kraft nicht fröhlich mehr vertrauend“ gewesen sei. 77 Somit gab es eine Zeit, in der Wallenstein selbstbewusst und siegreich zu handeln wusste, ohne auf die Laufbahn der Planeten irgendeine Achtung zu geben. Die Beobachtung der ‚Sterne‘ wurde in dem Moment notwendig, da der verunsicherte ‚große Mann‘ zu befürchten anfing, vom ‚Zufall‘ überrascht zu werden, ja, da er glaubte, erst mithilfe der Vorhersage bevorstehender Ereignisse die eigenen Machtpläne verwirklichen zu können. 78 Goethes be72 73 74 75 76
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NA 8 N II, 616. NA 8 N II, 617. NA 8 N II, 667. Ebd. In der allerersten Szene von Alfieris Tragödie bedauert David, dass „Saul schon lange außer sich“ sei, denn Gott habe den König einem „bösen Geist“ preisgegeben. Vgl. Alfieri: Saul, S. 51. NA 8 N II, 667. Rainer Godel: Schillers Wallenstein. Das Drama der Entscheidungsfindung. In: Andre Rudolph u. Ernst Stöckmann (Hg.): Aufklärung und Weimarer Klassik im Dialog. Tübingen 2009, S. 105–134, schreibt (hier S. 118), dass „Wallensteins Glaube an die Sterne […] als Symbol verstanden werden [kann] für die anthropologische Tatsache, dass der Mensch vielfältigen Faktoren unterworfen ist, die er nicht alle kennen und beherrschen kann und die er doch lesen, interpretieren können müsste, um entscheiden zu können, ob und wie er handeln soll“. Dem kann man zustimmen – und das mag übrigens nicht nur die Erklärung für Wallensteins Glauben an die Sterne darstellen, sondern grundsätzlich für jeden menschlichen Glauben. Allerdings beantwortet diese Bemerkung nicht die Frage, warum es eine Zeit in Wallensteins Leben gab, in der Schillers Titelheld zwar ‚Mensch‘ war – und dennoch jenen Glauben nicht hegte. Nicht unproblematisch erscheint auch die in der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Schillers Wallenstein oft vertretene These, „das übergeordnete Thema des Dramas“ sei „der Mensch in der Geschichte“, Jochen Schmidt: Freiheit und Notwendigkeit. Wallenstein. In: Günter Sasse (Hg.): Schiller. Werk-Interpretationen. Heidelberg 2005, S. 85– 104, hier S. 89. Fraglich ist dabei zunächst, ob es ‚den Menschen‘ in der Geschichte überhaupt gibt und was oder wer konkret damit gemeint ist. Wenn Schiller außerdem das „Problem der Freiheit menschlichen Handelns“ „vor allem an Wallenstein selbst“ demonstrierte (ebd., S. 88f.), so wäre just Wallenstein, ein Heerführer mit einem besonders markanten historischen Profil, dazu berufen, ‚den Menschen‘ in der Geschichte zu repräsentieren. Indes vermag diese
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kanntes Diktum in Bezug auf Wallenstein: „Wer die Sterne fragt was er thun soll? ist gewiss nicht klar über das, was zu thun ist“, 79 ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Und doch war es nicht immer so in Wallensteins Leben. Und immer wieder vernimmt man in den Worten von Schillers Heerführer auch einen Nachklang jener vergangenen Zeit, in der er seinen Blick nicht auf die Sterne zu richten brauchte – einen Nachklang seiner früheren heroischen Moral des Nihilismus: WALLENSTEIN. Wenn ich nicht wirke mehr, bin ich vernichtet; Nicht Opfer, nicht Gefahren will ich scheu’n, Den letzten Schritt, den äußersten, zu meiden; Doch eh’ ich sinke in die Nichtigkeit, So klein aufhöre, der so groß begonnen, Eh’ mich die Welt mit jenen Elenden Verwechselt, die der Tag erschafft und stürzt, Eh’ spreche Welt und Nachwelt meinen Namen Mit Abscheu aus, und Friedland sei die Losung Für jede fluchenswerthe That. 80
Im dritten Aufzug wird Wallenstein gar als Mann „im Harnisch“ 81 vorgestellt, indem er sich vor dem Hintergrund seiner ruhmvollen Vergangenheit Mut zur Zukunft zu machen versucht: WALLENSTEIN.
[…] Fast bin ich Jetzt so verlassen wieder, als ich einst Vom Regenspurger Fürstentage ging. Da hatt’ ich nichts mehr als mich selbst – doch was Ein Mann kann werth seyn, habt ihr schon erfahren. Den Schmuck der Zweige habt ihr abgehauen, Da steh’ ich, ein entlaubter Stamm! Doch innen Im Marke lebt die schaffende Gewalt, Die sprossend eine Welt aus sich gebohren. Schon einmal galt ich euch statt eines Heers, Ich einzelner. 82
Wiederum handelt es sich um Worte, die in unserem Rahmen vertraut klingen – mit Grund: Allzu ähnliche Äußerungen haben wir bereits aus dem Mund von Alfieris Saul gehört. „Noch fühl’ ich mich denselben, der ich war!“, 83 ruft Wallen-
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Gestalt in der Geschichte wohl nicht für ‚den Menschen‘ zu stehen, sondern höchstens für den ‚großen Menschen‘– ja, für den ‚großen Mann‘. Und dabei wäre dann die entscheidende Frage, warum dieser ‚große Mann‘ beim späten Schiller ohne Glanz untergehen muss. Vgl. Goethes Kritik der Wallenstein-Trilogie in Cottas Allgemeiner Zeitung (Ende März 1799), zit. aus: Oellers: Wallenstein (1800), S. 141. NA 8 N II, 632f. NA 8 N II, 687. Ebd. Ebd.
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stein kurz danach noch aus, wobei er mit seinem Satz auch die Entfernung zwischen dem intendierten (großen) ‚damals‘ und seinem ‚heute‘ deutlich markiert. Und in diesem Kontext fällt auch ein weiterer bekannter Ausspruch von Schillers Protagonisten, der eine zusätzliche Trennung deutlich unterstreicht: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut“. 84 Es ist zu vermuten, dass jener große Mann von früher, der kaum auf die Sterne achtete, hier anders gesprochen hätte. Wahrscheinlich wäre dieser gar vor Tatendrang nicht mal dazu gekommen, an die Trennung von Geist und Körper zu denken. Vielmehr hätte er vor allem Wohlgefallen an der perfekten psychophysischen Koordination seiner Handlungen empfunden. Schillers Protagonist, der hier den Körper dem Geist unterordnet, ist dagegen ein geschwächter Mann, welcher der verlorenen Kraft seiner Jugend nachtrauert – und zwar erst recht, wenn er behauptet, sie noch ganz zu besitzen. Die Reihenfolge der Szenen – die Tatenlosigkeit, die Wallensteins Machtworten unausbleiblich folgt – gibt ein deutliches Zeichen dafür, dass auch Schiller die Machtsprüche seines untergehenden Titelhelden kaum ernst genommen hat. Denn nur so lässt es sich erklären, dass Wallenstein, noch kurz bevor seine Mörder auf den Plan kommen, sich so überheblich wie realitätsfern seines eigenen ‚Geistes‘ rühmt. In seinem Vergleich mit dem alten Jugendfreund Gordon ist Wallenstein überzeugt, dass sich sein eigener ‚Geist‘ wohl einen jugendlich aussehenden Körper ‚gebaut‘, oder dass er wenigstens den jugendlichen Schmelz gut erhalten habe: WALLENSTEIN. So bist du schon im Hafen alter Mann? Ich nicht. Es treibt der ungeschwächte Muth Noch frisch und herrlich auf der Lebenswoge, Die Hoffnung nenn’ ich meine Göttin noch, Ein Jüngling ist der Geist, und seh’ ich mich Dir gegenüber, ja, so möcht’ ich rühmend sagen, Daß über meinem braunen Scheitelhaar Die schnellen Jahre machtlos hingegangen. 85
Die Titelgestalt kurz vor ihrem keinesfalls erhabenen Ende prahlen zu lassen, bedeutet in Wahrheit, sie höher emporzuziehen, damit ihr kurz bevorstehender Sturz noch tiefer ausfalle. Doch ist aus Wallensteins Worten auch hier lediglich ein Nachklang des ehemaligen ‚großen Mannes‘ herauszuhören. Wenn man wissen möchte, wie es in Wirklichkeit mit Wallensteins Verhältnis zur eigenen verlorenen ‚Jugend‘ bestellt ist, so braucht man lediglich ein Paar Seiten im fünften Akt von Wallensteins Tod zurückzublättern. Dass Wallenstein nur resigniert in der Vergangenheit und in der Erinnerung zu leben vermag, macht hier Gräfin Terzkys bewegende Bitte an den Heerführer deutlich: „O wende deine Blicke nicht zurück! /
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Ebd. NA 8 N II, 762.
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Vorwärts in hell’re Tage laß uns schauen“. 86 Indes fehlt Wallenstein offensichtlich jegliche Kraft, um nach vorne zu schauen. Nur zu konsequent, dass ihm hier just der verstorbene Max Piccolomini als beneidenswert erscheint – er sei „der glückliche“, er habe „vollendet“: WALLENSTEIN. […] Für ihn ist keine Zukunft mehr, ihm spinnt Das Schicksal keine Tücke mehr, – sein Leben Liegt faltenlos und leuchtend ausgebreitet, Kein dunkler Flecken blieb darinn zurück, Und unglückbringend pocht ihm keine Stunde. Weg ist er über Wunsch und Furcht, gehört Nicht mehr den trüglich wankenden Planeten – O ihm ist wohl! Wer aber weiß, was uns Die nächste Stunde schwarz verschleiert bringt! 87
Einen Toten glücklich zu preisen, weil er nicht mehr dem Zahn der Zeit ausgesetzt ist, bedeutet ja vor allem, selbst des Lebens müde zu sein. Es wäre allerdings ein Fehler zu glauben, dass Wallenstein hier dem Verstorbenen ‚nur‘ seine letzte Ehre erweisen möchte. Denn nicht nur Max’ Tod, sondern auch die eigene Jugend, beklagt Wallenstein an dieser Stelle explizit: WALLENSTEIN. […] Denn Er stand neben mir, wie meine Jugend, Er machte mir das Wirkliche zum Traum, Um die gemeine Deutlichkeit der Dinge Den goldnen Duft der Morgenröthe webend – 88
Dass man es hier mit einem offenkundigen Mangel an Kraft zu tun hat, macht wiederum Grafin Terzky deutlich, die erneut bezeichnende Worte der Ermunterung für Wallenstein findet: „Verzag’ nicht an der eignen Kraft. Dein Herz / Ist reich genug, sich selber zu beleben“. 89 Indes spricht Schillers Text eine deutlich andere Sprache: Schon lange kann Wallensteins ‚Herz‘ weder sich selbst noch andere Menschen ‚beleben‘. Im Vorbeigehen sei hier noch auf die Parallele deutlich hingewiesen, die sich auch in Bezug auf das Thema der ‚Jugend‘ zwischen Alfieris und Schillers Tragödien abzeichnet. In Schillers Wallenstein steht Max Piccolomini gerade als Chiffre für jene auf immer verlorene ‚Jugend‘ der Titelgestalt, die David in Alfieris Tragödie verkörpert. 90 Dass Wallenstein den jungen Piccolomini nicht zu ‚hassen‘ 86 87 88 89 90
NA 8 N II, 758. NA 8 N II, 757. NA 8 N II, 758. Ebd. Dass beide Heerführer ihre jungen Krieger als eigene Geschöpfe betrachten, machen zwei sinngemäß frappierend ähnliche Textpassagen aus Schillers und Alfieris Tragödien besonders deutlich. An Max richtet Wallenstein, der große Mann, im letzten Teil der Trilogie durchaus
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braucht wie Saul dagegen seinen David, liegt darin begründet, dass der böhmische Feldherr seinen Oberst an keiner Stelle von Schillers Trilogie als Gefahr wahrnehmen muss: Wenn sich eine gewisse Tücke in den Piccolominis versteckt, dann wohl nur in der Vätergeneration. Saul ist sich dagegen klar, dass ihn der junge David auf dem Thron Israels geradezu ersetzen wird. Wenn der Vorhang von Schillers Wallenstein und Alfieris Saul hochgeht, ist die Machtdämmerung der Titelfiguren bereits angebrochen. Große und Stärke dieser ‚großen Männer‘ gehören unwiderruflich in jene Vergangenheit, die nicht von ungefähr auch die aufsteigende Zeit ihrer tat- und kraftvollen Jugend darstellt. Auffällig ist, dass die machtvolle Vergangenheit von Schillers und Alfieris großen Männern in beiden Tragödien mit Licht, Klarheit und Helle, ihre tatenlose Gegenwart dagegen mit Dunkelheit und Finsternis aufs Engste verknüpft sind. Im ‚Lichte‘ seiner glorreichen Vergangenheit kann Wallenstein im letzten Teil der Trilogie etwa noch denken, dass seine Truppen nur sein „Antlitz [zu] sehen, [s]eine Stimme [zu] hören“ bräuchten, um sich wie früher ganz dem Willen ihres Heerführers zu fügen: WALLENSTEIN. […] Sind es nicht meine Truppen? Bin ich nicht Ihr Feldherr und gefürchteter Gebieter? Laß sehn, ob sie das Antlitz nicht mehr kennen, Das ihre Sonne war in dunkler Schlacht. 91
Dem ‚Sterndeuter‘ Wallenstein rät die Gräfin Terzky schon früh eindringlich, „Des Aberglaubens nächtliche Gespenster / Nicht [s]eines hellen Geistes Meister werden [zu lassen]!“. 92 Und auch wenn jene „nächtliche Gespenster“ dann doch über Wallensteins geschwächten „Geist“ Macht gewonnen haben, so hält sich der Heerführer vor dem Hintergrund seiner in der Vergangenheit erlangten ‚Größe‘ weiterhin für eines der „hellgebohrnen, heitern Joviskinder“. 93 Es ist der Jupiter, „der glänzende“, der, wie bereits erwähnt, am Anfang von Wallensteins Tod zum Handeln
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bemerkenswerte Worte: „[…] Ich selbst war deine Wärterin, nicht schämt ich / Der kleinen Dienste mich, ich pflegte deiner / Mit weiblich sorgender Geschäftigkeit, / Bis du von mir erwärmt, an meinem Herzen, / Das junge Leben wieder freudig fühltest […] Dich hab ich geliebt, / Mein Herz, mich selber hab’ ich dir gegeben […] Ich habe dich gehalten und getragen / Von Kindesbeinen an – Was that dein Vater / Für dich, das ich nicht reichlich auch gethan? / Ein Liebesnetz hab’ ich um dich gesponnen“. Wenig später heißt es gar: „Auf mich bist du gepflanzt, ich bin dein Kaiser, / Mir angehören, mir gehorchen, das / Ist deine Ehre, dein Naturgesetz“, NA 8 N II, 701. Wortkarger ist dagegen Alfieris Saul in seinem Gespräch mit David: „Warum [sprachst] Du nicht: ‚In seinen frischen Jahren, ja, da schlug / Der Saul die Tausend nicht – zehn Tausende / Erschlug er – seht! Er ist der Held – und Er / Hat mich geschaffen‘?“ Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 153. „Chè non dicevi: / «Saúl, ne’ suoi verdi anni, altro che i mille, / «Le migliaja abbatteva: egli è il guerriero; / «Ei mi creò»?“, Alfieri: Saul, S. 76. NA 8 N II, 705. NA 8 N II, 633. So der Friedländer zu Terzky im zweiten Aufzug der Piccolomini, NA 8 N II, 540.
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drängt: Denn er „zieht das dunkel zubereitete Werk / Gewaltig in das Reich des Lichts“. 94 Der ‚glänzende‘ Jupiter steht für Stärke und tatkräftiges Handeln. Und der größte Planet des Sonnensystems behält seine sinnbildliche Bedeutung, auch wenn jede ‚Tat‘ des Protagonisten dann eigentlich ausbleibt. Als es für die Gräfin Terzky noch im letzten Aufzug der Trilogie darum geht, Wallenstein zum wiederholten Mal zu ermuntern, da heißt es: „O bleibe stark! Erhalte du uns aufrecht, / Denn du bist unser Licht und unsre Sonne“. 95 Dabei macht Wallenstein darauf aufmerksam, dass es „schon finstre Nacht“ sei – „kein Sternbild“ sei zu sehen und der Jupiter werde von der „Schwärze des Gewitterhimmels“ gedeckt. 96 Zu diesem Zeitpunkt sind Wallensteins Mörder nicht mehr weit. Und nachdem die Titelgestalt ausgerufen hat: „Wer […] weiß, was uns / Die nächste Stunde schwarz verschleiert bringt!“, 97 kann endgültig über Eger die letzte „Nacht“ herniedersinken. 98 Auch im Lager der Israeliten in Gilboa steht das ‚Licht‘ für jene Stärke, Macht und Größe, denen sich der untergehende König Saul nicht mehr gewachsen fühlt. Bereits im zweiten Akt von Alfieris Tragödie wirft der Protagonist dem jungen David vor, es gewagt zu haben, sich über den König zu „heben“, sein „Lob zu rauben“ sowie sich in Sauls „Glanz“ („luce“) „kühn zu kleiden“. 99 Dunkel und düster sind die Farben, die Alfieris König später in seinem Wahn gewahr wird und die deutlich seinen eigenen Tod vorwegnehmen: Saul. […] Wer erzählt Von rein’rer Luft mir hier? Wie? Seht Ihr nicht, Wie alles dichte Finsterniß bedeckt, Des Grabes Dunkel und des Todes Nacht. Ha! Sieh! Tritt näher her! Wie? Siehst Du wohl Den blut’gen Kranz, der sich verhängnißvoll Rings um die Sonne schlingt? 100
Wenn hier die Parallele zwischen der verhängnisvoll bekränzten Sonne und dem sich bedrängt fühlenden König Israels nur evoziert wird, so macht sie Saul selbst zu einem späteren Zeitpunkt explizit, wenn er sagt, dass Davids Befehl, am drauf folgenden Tag bei „sinkender Sonne“ zu kämpfen, eine boshafte Anspielung auf den „sinkenden Arm“ des Königs darstelle. 101 Sauls ‚Fall‘ ist nicht mehr abzuwenden. Der Geistliche Achimelech weist den überheblichen König Israels darauf hin, 94 95 96 97 98 99
NA 8 N II, 614. NA 8 N II, 756. NA 8 N II, 756f. NA 8 N II, 757. NA 8 N II, 767. Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 152. „Ma, di superbia cieco, osasti poscia / Me dispregiar; sovra di me innalzarti; / Furar mie laudi, e ti vestir mia luce“, Alfieri: Saul, S. 76. 100 Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 168. „Chi d’aura aperta e pura / Qui favellò?... Questa? è caligin densa; / Tenebre sono; ombra di morte... Oh! mira; / Più mi t’accosta; il vedi? il sol d’intorno / Cinto ha di sangue ghirlanda funesta...“, Alfieri: Saul, S. 88. 101 Alfieri: Saul, S. 111 („sol cadente“, „cadente mio braccio“).
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dass er Gott gegenüber nur „gekrönte[n] Staub“ darstelle 102 – bereits ins „Nichts“ abgestürzt sei schon das „auf der Wogen Plan“ gegründete „Haus“ des Saul. 103 Für Achimelech muss der Mensch zwangsläufig ins Nichts ‚fallen‘, wenn er von ‚Gott‘ verlassen wird. Indes haben wir gesehen, dass ‚Gott‘ bei Alfieris Saul vor allem als immanente Chiffre für eine auf Stärke und Kraft basierende erhabene ‚Größe‘ steht. Und genau aus diesem immanenten Blickwinkel heraus betrachtet, macht die von Alfieri dramatisierte Geschichte des biblischen Saul schließlich deutlich, dass jeder ‚große Mensch‘ ins dunkle ‚Nichts‘ fallen muss, der über keine Kraft mehr verfügt, um der Welt den Stempel seines Willens aufzudrücken. Wir erinnern uns an den anfangs zitierten biblischen Spruch: „Quid lucidius sole et hic deficiet“. 104 Seine Gültigkeit behält dieser Spruch, auch wenn man ihn nicht in einem religiösen Sinn versteht. Und so zieht schließlich eine „entsetzliche Nacht“ 105 auch über Alfieris Saul auf dem Schlachtfeld von Gilboa. 106 Es kommt nicht von ungefähr, dass sich Hegel gerade vom ‚Nihilismus‘ von Schillers Wallenstein abgestoßen fühlte. Sein Fazit, dass der „Tod“ hier am Ende „über das Leben“ siegte, hätte sich auch nach einer Auseinandersetzung mit Alfieris Saul als zutreffend erwiesen. 107 Es stimmt durchaus – und nicht ohne Ursache: „Wenn das Stück endigt, so ist Alles aus, das Reich des Nichts, des Todes hat den Sieg behalten; es endigt nicht als eine Theodicee“. 108 Man kann dies als „unglaublich! abscheulich!“, ja „entsetzlich“ 109 bezeichnen, wenn man wie Hegel eine Rechtfertigung Gottes am Ende von Schillers (und auch Alfieris) Tragödien erwartet. Man kann beide Werke aber auch als Reflexion über die Grenzen des modernen „heroischen Nihilismus“ 110 und dessen ‚Moral‘ am Beispiel von zwei ‚großen Männern‘ betrachten. Denn bei beiden Titelgestalten hat man es am Ende gerade mit dem zu tun, was Gräfin Terzky in Schillers Wallenstein besonders verabscheute: mit einem „schmählich Denkmal der gefallnen Größe“. 111 Die Bedeutung, die dieses „Denkmal“ im Werk des jeweiligen Tragikers bekommt, ist allerdings un102
Alfieri: Saul. Ein Trauerspiel, S. 199. „E tu che sei? Re della terra sei: / Ma, innanzi a Dio, chi re? – Saúl rientra / In te; non sei, che coronata polve“, Alfieri: Saul, S. 110. Unüberhörbar ist hier die Anspielung auf das Buch Genesis (3,19). 103 Die Textpassage sei hier im Original wiedergeben: „Dov’è la casa di Saúl? nell’onda / Fondata ei l’ha; già già crolla; già cade; / Già in cener torna: è nulla già“, Alfieri: Saul, S. 110. 104 Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem. Liber Jesu Filii Sirach 17,30. 105 „[O]rribil notte“, Alfieri: Saul, S. 125. 106 Wenn man diesen tragischen Hintergrund mitberücksichtigt, kann man mit Fabrizi behaupten, dass Sauls abschließender Suizid das „folgenrichtige Ende seines Titanismus“ darstellt. Angelo Fabrizi: La novità del Saul. In: Giovanna Ioli (Hg.): Vittorio Alfieri e la cultura piemontese fra illuminismo e rivoluzione. Torino 1985, S. 495–502, hier S. 498 (Übers. P.P.). 107 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ueber Wallenstein. In: Ders.: Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten: Ph. Marheineke u.a. Berlin 1835. Bd. 17, S. 411–413. 108 Ebd. 109 Ebd. 110 Riedel: Die Freiheit und der Tod, S. 71. 111 NA 8 N II, 685.
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terschiedlich zu bewerten. Alfieris dramatische Gestaltung des biblischen Stoffes in den 1780er Jahren ist vor dem Hintergrund seines bis zur Besessenheit gesteigerten Interesses für die philosophisch-existenzielle Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen ‚Freiheit‘ zu deuten. In Alfieris Werk stellt Saul durchaus eine „weitere Verkörperung des tiranno [dar], eine Art Übermenschen […], der sich als endliches Individuum entdeckt“. 112 Entgegen der Tradition steht nicht sein frevelhafter und zu Recht bestrafter Dünkel im Mittelpunkt von Alfieris Tragödie, sondern sein „moderner, zerrissener und widersprüchlicher Charakter“. 113 Von Filippo etwa, dem ‚Regisseur‘ und ‚Schauspieler‘, unterscheidet er sich lediglich durch seinen ausgesprochenen Mangel an Stärke, der seine ‚Größe‘ in Frage stellt, einen Mangel, dessen er sich außerdem völlig bewusst ist. Im Koordinatensystem von ‚Stärke‘ und ‚Schwäche‘ – von ‚heller‘ männlicher ‚Größe‘ und finsterem ‚Nichts‘ – bleibt der italienische Tragiker allerdings gefangen. Über den ‚großen Helden‘, ja über das ‚außerordentliche Individuum‘ vermag Alfieri schließlich nicht hinauszugehen. In der Auseinandersetzung mit Wallenstein zeichnet sich beim späten Schiller dagegen eine bezeichnende Akzentverschiebung ab: vom ‚großen Mann‘ hin zur ‚Gesellschaft‘. Der ‚große Mann‘ und seine ‚Moral‘ werden von hier an mit einer ‚Kälte‘ 114 behandelt, die früheren Dramen fremd war – gerade mit der ‚Kälte‘, auf die nicht von ungefähr auch in unserer Beschäftigung mit der späteren Maria Stuart hingewiesen wurde. Anderthalb Jahrzehnte nach der Niederschrift von Alfieris Saul und unter stark veränderten historisch-politischen Verhältnissen gilt es für Schiller, vor der Folie des ästhetisch Erhabenen und im Hinblick auf eine neu zu gründende ästhetische Kultur auch vor einer Schattenseite des ‚großen Mannes‘ zu warnen. Wir erinnern uns daran, was Schiller in Bezug auf das „Gefühl des Erhabenen“ in seiner Abhandlung Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen erläutert: Das Gefühl des Erhabenen besteht einerseits aus dem Gefühl unsrer Ohnmacht und Begrenzung, einen Gegenstand zu umfassen, anderseits aber aus dem Gefühl unsrer Uebermacht, welche vor keinen Grenzen erschrickt und dasjenige sich geistig unterwirft, dem unsre sinnlichen Kräfte unterliegen. 115
Indes ist das „Gefühl der Übermacht“, von dem auch das ästhetische ‚Vergnügen‘ ausgeht, zweischneidig: Es kann auf das Höchste hindeuten, was der Mensch als sterbliches Wesen, ja gerade seiner Vergänglichkeit zum Trotz, erreichen kann – und gerade das mag auch die gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung des ästhe112 113
Di Benedetto: Il dandy e il sublime, S. 17f. (Übers. P.P.). So Di Benedetto in Bezug auf Alfieris Saul in seinen „Appunti sulla Maria Stuarda di Vittorio Alfieri“, S. 183 (Übers. P.P.). 114 Wie bereits erwähnt, spricht Benedetto Croce mit Bezug auf den späten Schiller von dem „kühlen, gefassten, gemäßigten“ Autor der „bewunderten Dramen Wallenstein, Maria Stuart, Wilhelm Tell, vgl. Croce: Alfieri, S. 20. 115 Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 137.
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tisch Erhabenen überhaupt ausmachen. Es kann aber auch den Menschen über seine konstitutive Begrenzung hinwegtäuschen und sein Streben nach Größe zur hybris treiben. Denn gerade in seinem „Gefühl der Übermacht“ mag sich der Mensch leicht unvergänglich wähnen und dabei schließlich den ‚Nihilismus‘ als tragische „elementare Einsicht“ 116 über die menschliche Existenz aus dem Blickfeld verlieren. In diesem Fall stellt die zur Entstehung alles Großen erforderliche heroische ‚Männlichkeit‘ allerdings keine ‚Moral des Nihilismus‘ mehr dar – sie bedeutet vielmehr dessen Negation. Ein Korrektiv zu dieser Negation, die letztlich über den tragischen Grund der menschlichen Existenz hinwegtäuscht, hat Schiller womöglich in den Mund des Max Piccolomini gelegt, da es in seinem programmatischen Ausspruch im dritten Aufzug von Wallensteins T od heißt: „Nicht / Das Große, nur das Menschliche geschehe“. 117 Max’ geflügeltes Wort ist dabei nicht so selbstverständlich, wie es sich anhören mag. Denn zum einen stellt auch das „Menschliche“ zunächst einmal bloß einen Begriff dar, der dann auf der gesellschaftlichen Ebene mit konkreten Inhalten gefüllt werden muss. Zum anderen fragt es sich, warum Schiller dann just Max Piccolomini seinen programmatischen Ausspruch dadurch plakativ verraten ließ, dass der junge Oberst nicht nur sich mit großem Gestus in den Tod flüchtet, sondern auch seine Soldaten rücksichtslos in den Tod mitreißt. Was bleibt dann von seinem programmatischen Diktum in Schillers Wallenstein? Auffällig ist, dass das „Große“ und das „Menschliche“ in Max’ Worten ganz im Kontrast zueinander stehen. Das ist nicht ohne Ursache, denn das hier gemeinte ‚Große‘ ist wohl nur dasjenige, nach dem der Mensch in seiner hybris trachtet und das somit gerade des „Menschlichen“ als Korrektiv bedarf. Vor diesem Hintergrund kann das ‚Menschliche‘, das Max in Schillers Wallenstein anspricht, auch als weltliches Memento m ori gegen die hybris des ‚großen Mannes‘ aufgefasst werden. Das konkrete Beispiel der Figur lässt sich dagegen als Hinweis darauf deuten, dass der ‚Held‘ in seinem erhabenen „Gefühl der Übermacht“ jederzeit ‚maßlos‘ werden kann – und dabei auch jeden Sinn für das Gemeinwohl aus den Augen verlieren kann. „Nur das Menschliche geschehe“: Von einem subjektiv betonten ‚Heldentum‘, das nach dem ‚Großen‘ ohne Rücksicht auf das ‚Menschliche‘ trachtet, wird in Schillers Wallenstein deutlich Abstand genommen. Erst wenn das ‚Menschliche‘ dann selbst ‚Großes‘ zeitigt, entfaltet das ‚Große‘ auch sein gesellschaftliches Potential. Eine ‚erhabene Größe‘, die sich stets der menschlichen Grenzen bewusst bleibt, tut hier offensichtlich Not. Denn nur auf eine solche ‚Größe‘ ist für den späten Schiller eine neue ästhetische Kultur zu gründen. Und nur die „Kultur“ soll – so schreibt der Dichter in seiner Schrift Ueber das Erhabene – „den Menschen in
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Kondylis: Gedanken und Sprüche, S. 189. NA 8 N II, 707.
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Freyheit setzen und ihm dazu behülflich seyn, seinen ganzen Begriff zu erfüllen“. 118 Vor dieser Folie muss der ‚erhabene Held‘ am Ende von Schillers Wallenstein zum ersten Mal zugunsten einer idealen Kultur und einer idealen Gemeinschaft in den Hintergrund treten. Und genau an dieser Stelle berühren sich zum ersten Mal im Werk des deutschen Tragikers auch der ‚moderne heroische Nihilismus‘ seiner früheren ‚Helden‘ und die späte Utopie eines „ästhetischen Staate[s]“. 119
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Schiller: Ueber das Erhabene, NA 21, 39. Schiller: Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, NA 20, 412. Dazu auch Paolo Panizzo: Schiller e la storia come soggetto sublime, S. 35–55.
RESÜMEE UND SCHLUSSBETRACHTUNG
https://doi.org/10.1515/9783110624090-023
„Die Werte sind relativ und der Mensch ist sterblich: konsequent durchdacht, heißt diese elementare Einsicht: Nihilismus“. 1 So hält es der Philosoph Panajotis Kondylis (1943–1998) in einem seiner „Gedanken und Sprüche“ fest. Nach Kondylis’ prägnanter Definition, an die in der vorliegenden Untersuchung angeknüpft wurde, gehören zwei Momente zum Wesen des Nihilismus: die restlose, wertfreie Rehabilitation der Sinnlichkeit und die strikte Trennung von Natur und Norm. Dabei fragt es sich, was dieser „elementaren Einsicht“ entgegengesetzt werden kann, die den tragischen Grundcharakter des menschlichen Daseins in der Moderne zusammenfasst. Welche ‚Moral‘ geht schließlich aus der elementaren Einsicht in den modernen ‚Nihilismus‘ hervor? Kondylis’ Antwort ist lapidar: „Männlichkeit ist die Moral des Nihilismus“. 2 So verstanden ist die Moral des Nihilismus eine kraftbasierte Moral, das heißt eine Moral, die der Dynamik jener psychophysischen Kräfte des Menschen folgt, von welchen auch die Entwicklung der Gesellschaft und der Kultur abhängt. ‚Männlichkeit‘ ist die heroische Haltung, die sich der moderne Mensch in dem dynamischen Prozess von Kräftesteigerung und Kräfteabnahme, in dem sich sein Leben entfaltet, mittels seines Willens verschreibt. Sie stellt sowohl die erste Voraussetzung zu dem ‚Großen‘ dar, zu dem ihn seine höchste psychophysische Koordination hinführen kann; sie stellt aber auch die philosophisch-existenzielle Einstellung dar, die er vor dem Hintergrund einer tragischen Weltdeutung gegenüber den ihn übersteigenden Kräften einzunehmen hat. Ideengeschichtlich lassen sich die Spuren des modernen ‚Nihilismus‘ bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen, da die metaphysischen Postulate der antik-christlichen Menschen- und Weltdeutung infolge der konsequent verstandenen „Rehabilitation der Sinnlichkeit“ zunehmend in Frage gestellt werden. Auffällig ist, dass bisher dem Themenkomplex ‚Nihilismus‘ trotz seiner offensichtlichen Relevanz für die Aufklärungsforschung verhältnismäßig wenig Interesse geschenkt wurde. Was den deutschsprachigen Raum angeht, so hat der italienische Germanist Giuliano Baioni bereits Ende der 1980er Jahre in Bezug auf Schillers Philosophische Briefe deutlich auf das Verhältnis hingewiesen, das zwischen der Einsicht in die konstitutive Endlichkeit des Menschen und der ästhetischen Theorie des Erhabenen beim deutschen Dichter besteht, und dabei auch eine direkte Verbindungslinie zwischen Schillers und Nietzsches „tragischem Denken“ gezogen. 3 In Deutschland hat Wolfgang Riedel in der neuen Schiller-Forschung die These aufgestellt, dass sich „der alteuropäische heroische Stoizismus, der in der (deutschen) Spätaufklärung noch ungebrochen in Geltung war“ in Schillers später ästhetischer Schrift Ueber das Erhabene „in den modernen heroischen Nihilismus“
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Kondylis: Gedanken und Sprüche, S. 189. Ebd. Baioni: Da Schiller a Nietzsche, S. 22.
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Resümee und Schlussbetrachtung
umschlage. 4 Vor dem beschriebenen Hintergrund erweist sich die bisher ausgebliebene Untersuchung von Schillers Werk im Hinblick auf das Nihilismus-Thema bereits an sich als durchaus ergiebig. Die ganze Tragweite des Themenkomplexes wird allerdings sichtbar, wenn man dabei zwei weitere Fragen berücksichtigt: Findet das Umschlagen des „alteuropäische[n] heroische[n] Stoizismus“ in den „modernen heroischen Nihilismus“ in Deutschland tatsächlich erst beim späten Schiller statt? Und außerdem: Wie ist dieses Umschlagen aus einer vergleichenden Perspektive zu betrachten – wie ist er im breiteren kulturellen Kontext der westeuropäischen Aufklärung zu bewerten? Durch die Gegenüberstellung von Schiller und Alfieri als ‚Parallel-Tragikern der Moderne‘ macht die vorliegende Untersuchung ein Zweifaches deutlich: Zum einen, dass das Umkippen des ‚alteuropäischen Stoizismus‘ in den ‚modernen Nihilismus‘ bereits am Anfang von Schillers und Alfieris dichterischer Laufbahn im knappen Jahrzehnt zwischen 1773 und 1782 steht. Zum anderen, dass sich dieses Umschlagen bei beiden Autoren aus gemeinsamen literarischen und philosophischen Quellen speist – etwa Plutarch, Montaigne, Rousseau, Voltaire, Montesquieu und Helvétius – und schließlich ganz um die für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts zentrale Kategorie des ‚Erhabenen‘ kreist. Denn das Erhabene stellt die ästhetische Kategorie dar, die es dem Menschen – dem „Wesen, welches will“ und das selbst den eigenen Tod nicht erleiden müssen sollte 5 – ermöglicht, über seine konstitutive Endlichkeit hinauszugehen. Genau mit den ästhetischen Prämissen der „heroischen Moral des Nihilismus“ bei Schiller und Alfieri setzte sich der erste Hauptteil der Untersuchung auseinander. Entgegen den vorherrschenden Tendenzen der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde hier die Bedeutung der Politik und der traditionellen Moral bei beiden Dichtern relativiert und das Ästhetische als der eigentliche „Möglichkeitsraum“ dargestellt, 6 in welchem der ‚große Mann‘ vor dem Hintergrund des modernen heroischen Nihilismus bereits bei den frühen Autoren seinen ‚Willen‘ erprobt. Dass man sich hier jenseits der Grenzen der antik-christlichen Moral befindet, wird bald klar, wenn man etwa die Figur des Franz Moor aus Schillers Räubern in Betracht zieht. Dem grundsätzlichen Schema des ästhetisch Erhabenen folgend, vermag der ‚böse‘ Franz in Schillers Erstlingsdrama seinen anfänglichen Zustand der Ohnmacht als besonders hässlicher, zweitgeborener Sohn der Familie Moor auf offener Bühne in Übermacht zu verwandeln, indem er vor dem anthropologischen Hintergrund des Jahrhunderts der Aufklärung realisiert, dass es nur seine „Sache“ sei, wozu er sich im Leben „machen“ wolle. Von der Natur lediglich mit „Erfindungsgeist“ bewaffnet, habe jeder „gleiches Recht zum Größten“ und nur die
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Riedel: Die Freiheit und der Tod, S. 71. NA 21, 38. Middel: Schiller und die Philosophische Anthropologie, S. 2.
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„Schranken unserer Kraft“ seien „unsere Gesetze“. 7 Kaum überraschend ist es, dass Vittorio Alfieri auf der italienischen Seite fast gleichzeitig zur Entstehung von Schillers Räubern gerade den ‚Schriftsteller‘, und damit selbstverständlich auch sich selbst, als den ‚größten‘ unter all den möglichen großen Männern auserwählt – denn: „in dem Vollender einer erhabenen Unternehmung seh’ ich […] einen großen Menschen; aber in dem erhabenen Erfinder und Darsteller derselben glaub’ ich deren zwei wahrzunehmen“. 8 Es kommt nicht von ungefähr, dass sich hier somit auch die direkte Parallele abzeichnet, die von hier an eine entscheidende Rolle in den kulturellen Debatten der Moderne spielen wird: Die Parallele zwischen dem ästhetischen Verhalten des Künstlers zu seinem Werk und demjenigen des modernen Menschen überhaupt zu seinem Leben. Das dem deutschen und dem italienischen Dichter gemeinsame tragische Denken, das, wie im ersten Teil der Untersuchung rekonstruiert wird, aus der ‚elementaren Einsicht‘ des Nihilismus im kulturellen Kontext der Spätaufklärung entsteht, stellt die Grundlage dar, auf der die Gegenüberstellung ausgewählter Werke von Schiller und Alfieri im zweiten Teil der Studie basiert. Herausgearbeitet wird hier jene heroische Moral, welche die Antwort von Schillers und Alfieris tragischen Helden auf die Endlichkeit des Daseins und die Relativität der Werte darstellt. Eine geradezu entscheidende Rolle spielt dabei die Ästhetik des Erhabenen: So wie sich ein anfängliches Gefühl der sinnlichen „Ohnmacht und Begrenzung“ im ästhetisch Erhabenen dann in geistige „Übermacht“ umschlägt, 9 so stellt auch das Streben nach Größe, der Machtdurst, ja der zum Teil grenzenlose Wille zur Macht von Schillers und Alfieris Gestalten die Kehrseite der tragischen Einsicht in die konstitutive Endlichkeit und Begrenzung des Menschen dar. Was das ausgewählte Textkorpus angeht, so wurden im zweiten Teil der Untersuchung vier Werkpaare aus Schillers und Alfieris Federn untersucht: die in der italienischen Renaissance spielenden Verschwörungen des Fiesko und der Pazzi, die Bearbeitungen der „nouvelle historique“ Dom Carlos und die jeweiligen Dramatisierungen der Geschichten der Maria Stuart sowie der Heerführer Wallenstein und Saul. Diese dramatischen Werke erfüllen gleichzeitig drei Kriterien: Diachronisch markieren sie besondere Etappen im tragischen Oeuvre beider Dichter – von der frühen Dramatik bis zur ‚Klassik‘ bei Schiller; vom ersten Tyrannen Filippo bis zum tragischen ‚Meisterwerk‘ Saul bei Alfieri. Thematisch stehen sich diese Werke bei beiden Tragikern am nächsten. Und letztlich lassen sie das heuristische Potential der aufgestellten These über die moderne ‚männlich-heroische Moral des Nihilismus‘ auch an weiblichen Titelgestalten ausloten. Darüber hinaus bot die durchgeführte Behandlung der ersten drei Werkpaare in separaten Kapiteln auch 7 8
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Schiller: Die Räuber, NA 3, 18f. Alfieri: Fürst, S. 51. „Onde io nell’esecutore di una impresa sublime ci vedo un grand’uomo; ma nel sublime inventore e descrittore di essa, a me pare di vedercene due“, Alfieri: Del principe, S. 158. Schiller: Ueber den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, NA 20, 137.
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die Möglichkeit, vor dem gemeinsamen thematischen Hintergrund der Studie auf die sowohl künstlerischen als auch national-kulturell bedingten Besonderheiten des jeweiligen Werks ausführlicher einzugehen und damit auch Schillers und Alfieris unterschiedliche Antworten auf gleiche dramaturgische Herausforderungen im jeweiligen kulturellen Kontext deutlich zu machen. Am Beispiel von Schillers Verschwörung des Fiesko und seiner intensiven Beschäftigung mit Verschwörungsgeschichten – einer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht von ungefähr sehr beliebten Gattung – konnten die weit reichenden Implikationen herausgearbeitet werden, die der moderne Primat des Ästhetischen vor den Geboten der traditionellen Moral nach sich zieht. Im Hinblick auf die auch von Schiller geforderte Gestaltungsfreiheit des Künstlers gegenüber der historischen Überlieferung konnte in der Auseinandersetzung mit der Verschwörung des Fiesko auf ein Zweifaches hingewiesen werden: Dass der frühe Schiller offensichtlich weit über die traditionelle Moral hinaus war, da er ihre Werte bewusst als Mittel zu einem wirkungsästhetischen Zweck einsetzte; und dass er sich darüber klar war, dass eine ‚große‘ Tat unabhängig von ihrer Moralität eine ‚erhabene‘ Wirkung hervorrufen kann. Wie gezeigt wurde, teilt Schiller offensichtlich bei der Gestaltung seines Werks die ‚männlich-heroische Moral‘ des Verschwörers Fiesko, der dann nicht von ungefähr selbst seine Konspiration wie ein Kunstwerk gestaltet. Am Ende scheitern sowohl der Autor als auch seine Figur, weil beide die Kontrolle über ihr jeweiliges ‚Werk‘ verlieren: Fiesko ordnet sich zum ersten Mal Verrina unter, während es Schiller nicht gelingt, bei der Gestaltung von Fieskos Tod die Wirkung des Erhabenen zu erzielen. In seiner Congiura de ’ Pazzi macht auch Alfieri von der Gestaltungsfreiheit des modernen Künstlers starken Gebrauch. Entgegen der traditionellen historischen Version Machiavellis stellt Alfieri die Verschwörer der Familie Pazzi als Freiheitshelden dar, wobei er gleichzeitig ehrfürchtige Bewunderung für den ‚großen Mann‘ und ‚Tyrannen‘ Lorenzo de’ Medici auf offener Bühne bekunden lässt. In Alfieris Congiura entfalten Raimondo de’ Pazzi und Lorenzo de’ Medici, zwei junge und starke Männer, ihr auf Schein und Täuschung gegründetes (Macht-)Spiel. Moralische Werte stellt auch Alfieri unverhüllt als Instrumente dar, die dem unbegrenzten Willen dieser großen Männer zur Macht zur Verfügung stehen. Am Ende setzt sich die konsequent umgesetzte männlich-heroische Moral des stärkeren Lorenzo durch, der dann als Sieger auch über die Darstellung und Tradierung der historischen Ereignisse bestimmt. In kritischer Auseinandersetzung mit einem Aufsatz von Karl S. Guthke in der neueren Schiller-Forschung, in dem der Marquis Posa als Künstler-Figur interpretiert wurde, konnte im Kapitel über Schillers Don Karlos deutlich gemacht werden, dass Posa nur den männlichen Teil des modernen Künstlertums verkörpert und dass erst unter Berücksichtigung der Korrelation zwischen dem passiven Karlos und dem aktiven Posa beide Momente erkannt werden können, welche die „Grundstruktur des modernen Nihilismus“ (Baioni) ausmachen: „Eros“ und „Wille zur
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Macht“. Entgegen den Interpretationen, angefangen von Schillers eigenen Briefen über Don Karlos, die den Marquis Posa als die eigentliche zentrale Figur des Dramas herausarbeiteten, konnte hier die Titelgestalt im dramaturgischen Kontext von Schillers Werk in ein neues Licht gerückt werden. Vor dem Hintergrund der heroischen Moral des Nihilismus als kraftbasierte Moral konnte außerdem sowohl Posas zwiespältiger ‚Idealismus‘ als auch die abschließende „Müdigkeit“ der Figur kurz vor ihrer Ermordung am Ende von Schillers Drama gedeutet werden. Im Kapitel über Alfieris Filippo wurde der erste ‚Tyrann‘ im Werk des italienischen Dichters als geradezu sadistischer Regisseur und Schauspieler herausgearbeitet. Alfieris Filippo ist ein kraftvolles und bewunderungswürdiges ‚Genie des Bösen‘, das sein erhabenes Gefühl der Übermacht auf das Äußerste treibt. Auffällig ist auch in diesem Fall die künstlerische, ja theatralische Begabung der Figur, die Mensch und Welt lediglich als fügsame Statisten eines von seinem Machtwillen geleiteten Spektakels konzipiert. Nicht die sittlich-erhabene Größe anderer Figuren, sondern nur Alfieris übergroßer Tyrann selbst bleibt am Ende der Tragödie in der Bühnenmitte. Und selbst seine abschließende Frage, ob er ‚glücklich‘ sei, ist nicht als Zeichen für seine späte Reue gegenüber jenem selbstverschuldeten Blutbad am Tragödienende zu deuten, in dem sein Sohn und seine Gemahlin den Tod finden. Wie gezeigt wurde, entspringt sie vielmehr bei Alfieris erstem ‚Tyrannen‘ dem Bewusstsein von der Endlichkeit seiner Macht: Denn dort, wo der Tod der Opfer eintritt, ist schließlich auch der Machtbereich des sadistischen Peinigers zu Ende. In der darauffolgenden Auseinandersetzung mit Schillers ‚klassischem‘ Trauerspiel Maria Stuart konnte im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Untersuchung ein regelrechter Paradigmenwechsel beim deutschen Dichter festgestellt werden. Schiller distanziert sich hier deutlich von jener heroischen Moral des Nihilismus seiner früheren Figuren (etwa Fieskos und Posas), die in Maria Stuart noch in dem jungen Mortimer ihren karikierten Repräsentanten hat. In ein neues Licht rückt dieselbe männlich-heroische Moral, sobald sie von einer Machthaberin, der Königin von England, vertreten wird. Im Gegensatz zu Schillers früheren männlichen Figuren erlebt Elisabeth keine Hybris der Macht, sondern legt vielmehr das Leidvolle an der modernen Entgegensetzung von passivem Eros und aktivem Willen zur Macht an den Tag. Auch wird an dieser Figur gezeigt, dass Macht und Größe oft nur auf Kosten des ‚Menschlichen‘ zu erreichen sind – eine Feststellung, die auch in Schillers Wallenstein eine entscheidende Rolle spielt. Den passiven Pol des Eros verkörpert in Maria Stuart gerade die Titelgestalt, die von Anfang an im Stück gefangen gehalten und dabei konstitutiv zur Tatenlosigkeit verurteilt ist. Aus dem Kerker der Welt vermag Maria allerdings abschließend mit ästhetischen Mitteln zu entfliehen. Wie deutlich gemacht wurde, lässt sich allerdings ihre ästhetische Verklärung der Welt am Ende von Schillers Trauerspiel als kunstreligiöse Verneigung des tragischen Grundcharakters des Lebens durch das
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Schöne deuten und dabei auch als Kritik am neuen Kunstverständnis der Romantiker betrachten. Im Gegensatz zu Schiller dramatisiert Alfieri in seiner Maria Stuarda nicht die Geschichte von Marias Hinrichtung, sondern die Ermordung ihres zweiten Gemahls Henry Stuart, Lord Darnley. Nicht zuletzt aus biographischen Gründen ließ Alfieri die passive Königin Schottlands zum Opfer ihres späteren Ehemannes Bothwell werden, der auch den einzigen wahren Vertreter der heroischen Moral des Nihilismus in dieser Tragödie darstellt. Vor dem Hintergrund des ästhetisch Erhabenen wurde in der Analyse auf die dramaturgischen Fehlentscheidungen hingewiesen, welche diese Tragödie schließlich um ihre ästhetische Wirkung bringen. Hervorgehoben wurde dabei der Umstand, dass Alfieri am Ende seiner Tragödie auf Gebote der traditionellen Moral zurückgriff, um aus den ästhetischen Engpässen seines Stücks herauszukommen. In einem abschließenden Kapitel wurden die von Schiller und Alfieri dramatisierten Geschichten der zwei untergehenden Heerführer Wallenstein und Saul vergleichend analysiert. Besonders hervorgehoben wurde dabei, dass weder Schiller noch Alfieri in ihren prominenten Stücken Wallenstein und Saul den heroischen Untergang ihrer Titelgestalten inszenierten. In beiden Werken wurde dagegen das grundsätzliche Schema des ästhetisch Erhabenen vorsätzlich enttäuscht, da sich die anfängliche ‚Ohnmacht‘ der Protagonisten wegen ihres konstitutiven Mangels an Kraft an keiner Stelle der dargestellten Handlungen in ‚Übermacht‘ zu verwandeln vermag. Die ‚Größe‘ der Heerführer lebt somit in Wallenstein und Saul ausschließlich in der Erinnerung an die ruhmreiche Vergangenheit dieser ‚großen Männer‘ fort – sie wird aus einem ‚sentimentalischen‘ Blick heraus dargestellt und vermag keine einzige große ‚Tat‘ in der Bühnengegenwart der Figuren zu zeitigen. Vor diesem Hintergrund konnten in diesem Kapitel sowohl Wallensteins Sternenglaube und Entscheidungslosigkeit als auch Sauls späte Verwerfung durch Gott sowie seine Hassliebe zum jungen David gedeutet werden. Im Rahmen von Schillers und Alfieris tragischem Denken und im Spannungsverhältnis zwischen ‚erhabener Größe‘ und ‚Nichts‘ konnte die Untersuchung unterschiedliche Antworten auf jene Herausforderung herausarbeiten, welche die ‚elementare Einsicht‘ des Nihilismus, wie er hier verstanden wurde, seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an die ‚Moderne‘ stellt. Je nachdem, ob die Jugend, die Kraft und die Stärke oder aber das Alter, die Erschöpfung und die Schwäche in den ausgewählten Werkpaaren im Vordergrund stehen, wurden in der Studie die unterschiedlichen Abwandlungen herausgestellt, welche die ‚heroische Moral des Nihilismus‘ in Schillers und Alfieris Werk erfahren hat. Energiegeladene, heroische Männlichkeit, die sich in ihrem Streben nach Größe systematisch des ästhetischen Scheins bediente, wurde in Schillers und Alfieris Verschwörungen sowie in Alfieris Filippo herausgearbeitet – Endlichkeit und Begrenzung blieben dabei als das ‚Andere‘ dieser selbstsicheren heroischen Haltung im Hintergrund. Dass gerade diese übermächtige heroische Haltung jedoch in einem direkten Verhältnis zu
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ihrem Gegenpol der Passivität und Ohnmacht steht, wurde in der Analyse der wechselseitigen Beziehung zwischen Posa und Karlos in Schillers Don K arlos hervorgehoben. Die Folgen des naturbedingten Verlustes an Lebenskraft für die ‚heroische Moral des Nihilismus‘ wurden dagegen in der Auseinandersetzung mit Schillers und Alfieris Dramen um die Geschichte der Maria Stuart sowie in der Analyse von Wallenstein und Saul herausgestellt. In der Beschäftigung mit Schillers und Alfieris Werken konnte die Untersuchung nicht nur das neue Referenzsystem der ‚Moral des Nihilismus‘ beleuchten, sondern auch auf widersprüchliche Entwicklungen dieser ‚Moral‘ hinweisen. So wurde dargelegt, dass heroische ‚Männlichkeit‘ nicht nur die ‚Moral des Nihilismus‘ darstellt, sondern auch dessen Negation bedeutet, wenn sie als Prinzip verabsolutiert wird und sich der energiegeladene ‚große Mann‘ in seiner Hybris über die konstitutive Endlichkeit des Lebens hinwegtäuscht. Andererseits wurde in der Beschäftigung mit Schillers Maria Stuart darauf hingewiesen, dass auch die Kunst in der Moderne den Nihilismus negiert, sobald der Mensch über den schönen Schein den tragischen Grundcharakter des Daseins aus den Augen verliert – eine Betrachtung, die unmittelbar auf Nietzsches Kritik an der Romantik vorausweist. Auf einen letzten Aspekt sei an dieser Stelle noch hingewiesen. Die Laufbahn der ‚Parallel-Tragiker der Moderne‘ unterbricht sich im Jahr der Französischen Revolution. Während Alfieri die ‚heroische Moral des Nihilismus‘ in seinen Tragödien nur auf der individuellen Ebene des ‚großen‘, ja ‚außerordentlichen Mannes‘ darstellt – wohl eine Erscheinung, in der er sich selbst wiedererkannte – und nach 1789 weitestgehend auf das tragische Theater überhaupt verzichtet, setzt Schiller im neuen historisch-politischen Kontext der 1790er Jahre seine Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen des Menschen und der Kultur entschieden fort und mit Ergebnissen, die kein Äquivalent in Alfieris Spätwerk finden. Während sich Alfieri in diesen Jahren nicht zuletzt mit dem eigenen Werdegang eines tragischen Dichters beschäftigt und seine Vita scritta da esso verfasst, rückt Schiller die Gesellschaft in den Mittelpunkt seiner literarischen Tätigkeit. Nicht das Schicksal des großen Individuums allein, sondern das Schicksal des (großen) Individuums innerhalb der Gesellschaft erlangt nicht von ungefähr eine zentrale Bedeutung in Schillers ‚klassischen‘ Dramen. Schillers tragisches Denken und die heroische Moral des Nihilismus treffen hier auf die Öffentlichkeit und auf das Gedankenbild des ‚ästhetischen Staates‘. Dabei wäre man schlecht beraten, wenn man dies nur als den utopischen Wurf eines ‚idealistischen‘ deutschen Dichters in politisch turbulenten Zeiten verstünde.
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Denn gerade die beständigen Bemühungen um die ‚ästhetische Kultur‘ stellen vielmehr prinzipiell die tägliche Aufgabe dar, die der heroische Nihilismus dem modernen, auf seinen ‚Willen‘ 10 angewiesenen Menschen als „freiem Subjekt der Kultur“ 11 stellt.
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Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen, wenn nicht anders angemerkt, vom Verfasser.
https://doi.org/10.1515/9783110624090-024
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Personenregister Abbt, Thomas........................... 57 Aischylos.................................... 5 Alboin, König der Langobarden ..7 Alembert, Jean le Ronde d’.... 147 Alexander III. der Große ........ 158 Alighieri, Dante........................ 63 Ariosto, Ludovico .................. 163 Bagnoni, Stefano da ............... 243 Baioni, Giuliano 33, 37, 272, 309, 381, 384 Bàrberi Squarotti, Giorgio..... 178, 179, 185 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de ............................. 121 Bedmar, Alonso II de la Cueva y Benavides, marqués de......... 30 Bodin, Jean............................. 201 Bothwell, James Hepburn, Earl of .................................... 345, 386 Brutus, Lucius Iunius .... 158, 160, 297 Burke, Edmund ........................ 44 Caesar, Caius Julius 143, 158, 176 Calosso, Umberto... 128, 140, 182 Calzabigi, Ranieri de’ ... 275, 283, 299, 300 Canova, Antonio ...................... 14 Carl August, Herzog von SachsenWeimar-Eisenach ... 5, 145, 146 Carl Eugen, Herzog von Württenberg ......................... 61 Carlyle, Thomas ........... 4, 22, 283 Castiglione, Baldassarre......... 200 Cattaneo, Carlo......................... 23 Cazzani, Pietro ....................... 120 Cesarotti, Melchiorre 45, 246, 247 Chénier, Marie-Joseph ............. 23 Cicero, Marcus Tullius........... 158 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de 189
https://doi.org/10.1515/9783110624090-025
Coulomb, Charles Augustin de 63 Croce, Benedetto.... 10, 16, 21, 22, 24, 25, 32, 128, 136, 137, 140, 143, 153, 154, 174, 176, 181, 183, 275, 297, 303, 307, 327 Crusius, Siegfried Lebrecht... 195, 221 D’Azeglio, Massimo ................ 15 Dalberg, Wolfgang Heribert Reichsfreiherr von....... 194, 249 David, König von Juda und Israel ............................................ 357 Descartes, René........................ 62 Di Benedetto, Arnaldo .... 19, 137, 172, 174, 175 Dicaearchus von Ätolien........ 169 Diderot, Denis .... 30, 31, 168, 169, 249 Didot, Verleger ........................ 20 Dilthey, Wilhelm 3, 18, 23, 24, 25, 45 Donizetti, Gaetano ................... 17 Doria, Andrea.................. 205, 206 Doria, Giannettino.................. 206 Duclos, Charles Pinot............. 147 Duranti, Durante .................... 221 Elia, Giovanni Antonio Francesco .............................................. 47 Emerson, Ralph Waldo .............. 4 Fajardo, Diego de Saavedra ... 200 Fennberg, Ferdinand Daniel Freiherr von........................ 119 Ferdinand II., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches ............ 360 Fichte, Johann Gottlieb ............ 57 Fieschi (Familie) .................... 222 Fieschi, Giovanni Luigi de, Graf von Lavagna.........203, 205, 208 Franzos, Karl Emil ................. 322
414 414
Fubini, Mario . 137, 139, 140, 181, 182, 183 Funck, Karl Wilhelm Ferdinand von........................................ 46 Galilei, Galileo ......................... 62 Goethe, Johann Wolfgang von .. 5, 9, 16, 18, 19, 20, 21, 46, 70, 74, 143, 144, 173, 312, 327, 331, 369 Goeze, Johann Melchior........... 57 Gori Gandellini, Francesco .... 222 Gori, Anton Francesco ........... 166 Gracián, Baltasar ............ 200, 201 Gravina, Giovanni Vincenzo.. 221 Gustav I., Adolf Wasa, König von Schweden ........................... 356 Guthke, Karl Siegfried .. 264, 265, 266, 268, 269, 384 Harvey, William....................... 63 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich... 375 Heine, Heinrich ........................ 12 Helvétius, Claude-Adrien... 11, 12, 31, 67, 114, 115, 116, 169, 170, 382 Hobbes, Thomas..................... 201 Hohenheim, Franziska Theresia Reichsgräfin von .................. 61 Horaz, d. i. Quintus Horatius Flaccus ............................... 163 Humboldt, Wilhelm von.. 355, 356 Hume, David .......................... 346 Jacobi, Friedrich Heinrich ........ 40 Jordan, Sylvester .................... 119 Kalb, Charlotte von ................ 145 Kant, Immanuel..... 21, 44, 57, 81, 100 Karl V., König von Spanien ... 205 Kindervater, Christian Viktor 251, 252, 253, 254, 256, 257, 260, 263 Kleist, Heinrich von ................. 18 Klopstock, Friedrich Gottlieb... 61
Personenregister Personenregister
Knox, John ............................. 334 Kondylis, Panajotis 40, 41, 43, 381 Körner, Christian Gottfried ... 249, 251 Koselleck, Reinhart.................. 20 La Mettrie, Julien Offray de ... 42, 114 Leisewitz, Johann Anton........ 252 Lessing, Gotthold Ephraim 7, 195, 249 Longinus ................................ 166 Lucius Tarquinius Superbus... 158 Lucrez, d. i. Titus Lucretius Carus 163 Ludwig XVI., König von Frankreich ....................... 13, 14 Mably, Gabriel Bonnot de...... 189 Machiavelli, Niccolò 15, 118, 125, 155, 171, 201, 208, 222, 224, 225, 226, 231, 233, 234, 235, 237, 243, 244, 255, 384 Macpherson, James ................ 246 Mazzini, Giuseppe .............. 16, 23 Medici, (Familie) ... 221, 222, 223, 224, 225, 241, 243, 245, 246 Medici, Bianca di Piero de ..... 223 Medici, Cosimo de’......... 222, 223 Medici, Giuliano de’ 222, 223, 233 Medici, Lorenzo de’ ....... 205, 222, 223, 224, 225, 226, 232, 237, 243, 245, 247, 384 Mendelssohn, Moses................ 57 Metastasio, Pietro.... 123, 197, 247 Michelsen, Peter..................... 207 Mirabeau, Honoré-Gabriel Victor de Riquetti, Comte de......... 120 Molini, (Familie).................... 121 Montaigne, Michel de ....... 10, 382 Montesecco, Giovan Battista da ... 243 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat Baron de la Brède 11,
Personenregister Personenregister
122, 125, 126, 130, 131, 135, 189, 266, 382 Mozart, Wolfgang Amadeus ... 197 Müller-Lauter, Wolfgang ......... 39 Napoleon I., Bonaparte ...... 14, 16 Nassau, Wilhelm I. von OranienNassau ................................ 160 Newton, Isaac........................... 63 Nietzsche, Friedrich .. 8, 9, 18, 25, 27, 47, 52, 54, 75, 91, 211, 328, 329, 381, 387 Numa Pompilius..................... 158 Ovid, d. i. Publius Ovidius Naso... 163 Pazzi, (Familie) 223, 224, 225, 247 Pazzi, Guglielmo de’.............. 223 Pellico, Silvio ........................... 23 Pelopidas ............................ 3, 160 Philippos V., König von Makedonien........................ 169 Pindar ......................................... 5 Plato ........................................... 4 Plutarch 3, 4, 5, 10, 28, 29, 32, 51, 382 Polidori, Gaetano ................... 348 Polybios.................................. 169 Pope, Alexander ................. 59, 60 Racine, Jean ....................... 6, 163 Raimondi, Ezio..................... 9, 10 Rando, Giuseppe .................... 128 Regoli Mocenni, Teresa ......... 170 Reinwald, Wilhelm Friedrich Hermann..................... 221, 252 Riedel, Wolfgang .. 35, 60, 98, 99, 100, 381 Romulus, Gründer der Stadt Rom 158 Rossini, Gioacchino ................. 17 Rousseau, Jean-Jacques... 10, 195, 382 Sade, Donatien-AlphonseFrançois, Marquis de... 42, 172, 173
415 415
Saint-Just, Louis de.................. 14 Saint-Réal, César-Vichard Abbé de................................... 23, 270 Salfi, Francesco Saverio......... 221 Salviati, Francesco 223, 224, 225 Samuel, biblischer Prophet ... 353, 357 Sapegno, Natalino .................. 128 Saul, erster König von Israel . 353, 357, 358, 359, 363 Schings, Hans-Jürgen... 35, 60, 98, 115, 189 Schlegel, Friedrich ..................... 4 Schopenhauer, Arthur 38, 75, 183 Shakespeare, William ..... 252, 297 Sixtus IV., Francesco della Rovere 223, 238 Spalding, Johann Joachim........ 57 Stahl, Georg Ernst.................... 68 Stolberg-Gedern, Louise Maximiliane Caroline Prinzessin zu 13, 333, 345, 348 Stuart, Charles Edward Louis Philip Casimir ..... 13, 333, 345, 348, 349, 351 Stuart, Charles I .................... 348 Stuart, Henry, Lord Darnley . 331, 332, 336, 345, 352, 386 Stuart, Maria 331, 332, 345, 346, 347, 352 Sulzer, Johann Georg ............... 11 Tacitus, Publius Cornelius .... 277, 283 Tasso, Torquato ..................... 163 Tell, Wilhelm .......................... 160 Tiberius, Claudius Nero 277, 283 Tibull, Albius Tibullus ........... 163 Tietz, Johann Daniel ................ 10 Trajan, Marcus Ulpius Trajanus.... 176 Verdi, Giuseppe ....................... 17 Vergil, d. i. Publius Vergilius Maro................................... 163
416 416
Vincenti, Leonello.. 24, 25, 26, 32 Voltaire (d. i. François-Marie Arouet) .................. 11, 224, 382 Volterra, Antonio Maffei da... 243 Wagner, Richard ................. 8, 297
Personenregister Personenregister
Wallenstein, Albrecht Wenzel Eusebius Graf von, Herzog von Friedland ..... 353, 355, 356, 357 Washington, George .............. 160 Wollstonecraft, Mary ............... 44 Zelter, Carl Friedrich .. 19, 46, 143