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German Pages [268] Year 2010
Mathias Hirsch (Hg.)
Die Gruppe als Container Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie 2. Auflage
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit einer Abbildung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-49132-4
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mathias Hirsch Einleitung: Mentalisierung und Symbolisierung . . . . . . . . .
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Paula Teresa Carvalho Die Container-Funktion der Gruppenanalyse. Wie kann ich dich lieben, wenn ich nicht wütend auf dich sein kann?
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Mathias Hirsch Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie traumatisierter Patienten . . . . . . .
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Peter Potthoff Mentalisierung und gruppenanalytische Behandlungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Angelika Staehle Sehen und Gesehen-Werden – Verstanden-Werden und lernen, sich selbst und andere zu verstehen. Die besonderen Möglichkeiten der psychoanalytischen Gruppenpsychotherapie für Symbolisierungs- und Mentalisierungsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Thomas Bolm Mentalization-Based Treatment (MBT) in der stationären und ambulanten Gruppenpsychotherapie . . . . . . . . . . . . . . 144
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Inhalt
Fernanda Pedrina Konflikte der frühen Elternschaft – Verarbeitungsprozesse in einer Mutter-Säugling-Gruppe
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Sabine Trautmann-Voigt und Bernd Voigt Gruppenpsychotherapie im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog. Mentalisierung im Spiegel der Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Mathias Hirsch Marthas Gruppenanalyse – das erste Jahr . . . . . . . . . . . . . . 233 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266
Vorwort
Seit über einem halben Jahrhundert wird die Psychoanalyse auf kleine Gruppen, insbesondere therapeutische Gruppen, angewendet. An diesem Ort ist sie immer interaktionell und intersubjektiv gewesen, Begriffe wie Übertragung und Gegenübertragung haben hier nur eine eingeschränkte Gültigkeit. So liegt es nahe, neue Vorstellungen von psychischen Reifungsprozessen der Mentalisierung und Symbolisierung, die sich in Beziehungen entwickeln und bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen defizitär oder anders gestört sind, auf die gruppenanalytische Situation zu beziehen. Dabei – und auch während der Vorbereitung dieses Buches – stellt sich heraus, dass es sehr schwer ist, komplexe interpersonelle Prozesse und Entwicklungen in der Gruppe und die Entwicklung der Gruppe als ganze zu dokumentieren und dazu überzeugende Illustrationen der theoretischen Vorstellungen aufzubereiten. Die beitragenden Autoren haben sich dieser Aufgabe aber gestellt, und das Ergebnis ist die vielfältige Darstellung von Gruppenfaktoren, die Denken und Fühlen des Patienten verändern. In den Darstellungen der Mentalisierungs- und Symbolisierungstheorien durch die verschiedenen Autoren des Bandes finden sich Überschneidungen, die aber belassen wurden, da ähnliche Gedanken aus verschiedenen Blickwinkeln gesehen und in unterschiedliche Zusammenhänge gestellt doch immer neue Anregungen für das Denken des Lesers bieten können. Nach einer Einführung in die neueren Mentalisierungs- und Symbolisierungsvorstellungen, die wir besonders Fonagy und seinen Mitarbeitern verdanken, folgen vier Beiträge aus der psychoanalytischen Gruppenpsychotherapie, die alle einen verschiedenen Charakter haben und sich einander ergänzen. Paula Teresa Carvalhos Beitrag stimmt auf das Thema in fast erzäh-
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Vorwort
lerischer Weise ein, mein Beitrag und die Beiträge von Peter Potthoff und Angelika Staehle bearbeiten es vom psychoanalytischen Standpunkt aus. Fernanda Pedrina berichtet über die frappierenden Veränderungen der Mentalisierungskapazität postpartal depressiver Mütter, die voneinander und von ihren Babys in der Gruppe lernen; Sabine Trautmann-Voigt und Bernd Voigt schildern die Förderung von Mentalisierungs- und Symbolisierungsfähigkeiten durch die Verwendung von Körperarbeit und von verschiedenen Medien in der Gruppe; Thomas Bolm schreibt über das Mentalization-based Treatment, das Bateman und Fonagy entwickelt haben. Ein ausführliches Beispiel aus meiner gruppenanalytischen Praxis schließt den Band ab. Meiner Frau, Marga Löwer-Hirsch, danke ich für das kritische Lesen meiner Beiträge und ihre Anregungen, besonders auch zum Fallbeispiel »Martha«. Ich danke wieder Bianca Grüger für die bewährte und zuverlässige Zusammenarbeit, in der sie die Texte und ihre Veränderungen in den Computer geschrieben hat, und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, der das Buchprojekt übernommen und von Anfang an unterstützt hat. Mathias Hirsch
Mathias Hirsch Einleitung: Mentalisierung und Symbolisierung »Real change can come about only through the ›metabolization‹ of the self as real self and the other as real other.« (Pines 1990, S. 34)
Psychoanalytische Theorie war lange Jahrzehnte bestimmt von der Vorstellung, das Wesen psychischer Entwicklung und ihrer Störung liege im Individuum, das zentrale Problem sei der Konflikt seiner Triebe mit der sozialen Umwelt. In der psychoanalytischen Therapie stand so die Übertragung im Mittelpunkt; die Gegenübertragung enthielt zwar auch Anteile des Analytikers, die sorgfältig von der Reaktion auf den Patienten in der Gegenübertragung getrennt werden sollten. Weit davon entfernt, die therapeutische Beziehung als intersubjektiv zu verstehen, hat die Psychoanalyse aber doch immer die analytische Gruppenpsychotherapie sozusagen geduldet und dabei anscheinend übersehen, dass die Beziehungen der Gruppenmitglieder untereinander stets solche zwischen Gleichberechtigten sind; Begriffe wie Übertragung und Gegenübertragung wirken sinnlos. Psychoanalyse in Gruppen musste also schon immer in ihrem Wesen intersubjektiv sein. Psychoanalytisches Denken ist in den letzten Jahren in wirklich revolutionärer Weise in Richtung einer insofern sozialen Wissenschaft verändert worden, als nun weit überwiegend gesehen werden kann, dass die psychische Entwicklung des Menschen nur in Beziehungen verläuft. Die Qualität der Beziehung zwischen den Erwachsenen und dem heranwachsenden Kind nimmt entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung des Charakters, der Persönlichkeit und damit auch auf das Entstehen ihrer Störungen, als deren Ursachen nun unter Umständen extreme Mängel an emotionaler Zuwendung und zum Teil massive traumatisierende Übergriffe gesehen werden müssen. Diese Entwicklung hat meines Erachtens zwei Wurzeln: zum einen die
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der Säuglingsbeobachtung, die seit den 1980er Jahren einen unvoreingenommenen Blick auf die Mutter-Kind-Interaktion erlaubte, und zum anderen die neue Anerkennung traumatischer Einwirkung auf das Kind beziehungsweise überhaupt auf den Menschen. Wiederum in den 1980er Jahren war die Gesellschaft der sogenannten westlichen Welt plötzlich in der Lage, die ungeheure Relevanz sexuellen Missbrauchs in der Familie und die anderer familiärer Traumata zu sehen (vgl. Hirsch 1987/1999; 2004), und konnte auch nicht mehr umhin, die Folgen von Kriegs- und Verfolgungstraumata anzuerkennen. Der sogenannte Holocaust lag nun so weit zurück, dass die nachfolgenden Generationen wagen konnten, das eigentlich Undenkbare zu denken und zu konzeptualisieren, ohne von Emotionen überrannt zu werden. Die Psychoanalyse war nicht unbedingt der Initiator dieser Bewegungen, konnte sich aber über kurz oder lang der neuen Relevanz nicht mehr verschließen. So ist die Psychoanalyse heute überwiegend eine Beziehungswissenschaft geworden, eine Psychologie der Intersubjektivität, und zwar sowohl, was die psychische Entwicklung – in Beziehungen – angeht als auch was das Wesen der psychoanalytischen Therapie betrifft, die nun fast allgemein in ihrem intersubjektiven Charakter gewürdigt werden kann. Durch diese Entwicklung sind »Dissidenten« der Psychoanalyse zum Teil glänzend, wie man sagt, rehabilitiert; Ferenczi (1933/1964) hat die Internalisierung, die Introjektion familiärer Gewalt für die Genese psychischer Störung vollständig in den Vordergrund gerückt und den Triebkonflikt des Kindes ganz zurücktreten lassen (vgl. Hirsch 1987/1999; 2001; 2004); Bowlby (1969/1975) begründete die Bindungstheorie (vgl. Fonagy et al. 2002/2004), die nicht nur das primäre Bedürfnis nach Bindung untersuchte, sondern auch die Antwort des mütterlichen Objekts in ihren verschiedenen Qualitäten, so dass daraus die inzwischen allgemein bekannten wünschenswerten beziehungsweise pathologischen Bindungsmuster (Ainsworth 1985) resultieren. Für die analytische Psychotherapie postulierte Franz Alexander (Alexander u. French 1946) schon in den 1940er Jahren ein Konzept der »korrigierenden emotionalen Erfahrung« in der therapeutischen Beziehung, ebenso wie Kohut (1971/1973; 1984/1987) den Faktor der Empathie ins Zen-
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trum rückte. Beide sind von der Mainstream-Psychoanalyse der 1980er Jahre heftig diffamiert worden (Mitchell 1997/2005, S. 31) wie vorher auch Ferenczi und Bowlby. Das intersubjektive Denken in der Psychoanalyse hat zwei Wurzeln, einmal Sullivan und die Neo-Freudianische Psychoanalyse (verbunden mit Namen wie Clara Thompson, Erich Fromm, Frieda Fromm-Reichmann; vgl. den Überblick von I. Hirsch 1996) als interpersonale und interaktionelle Psychoanalyse, zum anderen die Selbstpsychologie Kohuts; ich nenne nur ihre Vertreter Stolorow und Atwood (1992; Stolorow, Brandchaft u. Atwood 1987/1996; Literatur bei Mitchell, 1997/2005). Interessanterweise konnte Winnicott seinen Platz in der Psychoanalyse behaupten, obwohl er der realen Mutter-Kind-Beziehung doch eine zentrale Bedeutung gab (aber auch den Trieb des Kindes weiter gelten ließ). Die »genügend gute« Fähigkeit der Mutter, ihrem Kind zu begegnen, es zu versorgen und ihm seine inneren Zustände zu spiegeln (Winnicott 1967/1971), führt zu einer wünschenswerten Entwicklung des Kindes, während ein Versagen bis hin zu Übergriffen (»impingements«) pathologische Folgen haben wird. Winnicott (1960/1974) hat auch den Begriff des »Holding«, auch des »Holding environment« geprägt für die Sicherheit gebende mütterliche Umgebung; hier sieht man die Analogie zur sicheren Bindung Bowlbys. Die haltende Umgebung verschafft das Gefühl von Sicherheit zwischen dem Kind und der tatsächlichen Umwelt, sie wird vermittelt »durch das Band der affektiven Kommunikation« (Modell 1976, S. 290). Das Holding ist nur möglich, wenn die Mutter in der Lage ist, sich genügend mit dem Kind und seinen inneren Zuständen zu identifizieren; Holding beruht auf Identifikation. Versagt wiederholt das Holding, das heißt die Vermittlung von psychischer Sicherheit und Schutz vor äußeren und inneren Gefahren, kommt es zum kumulativen Trauma; dieser Begriff wurde von Khan (1963) für den fehlenden Reizschutz geprägt. Winnicott wendet es auch auf die analytische Beziehung an: »Der Analytiker hält den Patienten; dies nimmt oft die Form an, dass dem Patienten im richtigen Augenblick mit Worten etwas mitgeteilt wird, das zeigt, dass der Analytiker die tiefe Angst, die erlebt wird oder deren Erleben erwartet wird, kennt und versteht« (1963/1974, S. 317).
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Das Konzept der Selbstobjekt-Beziehung Kohuts (1971/1973; 1977/1979) ist dem des Holding ähnlich und erstreckt sich ebenso auf die Entwicklung wie auf die therapeutische Beziehung. Allerdings wird von der relationalen Psychoanalyse kritisch eingewandt, dass es sowohl kein reines Spiegeln (blanker Spiegel), kein absolutes Holding und Containing (»leerer Container«, den Bion gefordert hatte) geben kann, weil die Subjektivität des Analytikers nie vollständig suspendiert werden kann. In diesem Sinne kritisierte Slochower (1996) das Holding-Konzept, ließ aber gelten, dass die zeitweise Zurückhaltung der subjektiven (emotionalen) Reaktion des Analytikers auf den Patienten diesem die Illusion ermögliche, er würde voll und ganz gehalten, es gebe ein absolutes attunement. In diesem Zurückhalten sieht Slochower bereits ein Element des Containing im Holding. Auf die Gruppenanalyse bezogen, wäre ja die Forderung, die Gruppenteilnehmer sollten ihre Subjektivität, ihre (emotionalen) Reaktionen aufeinander verbergen, absurd. Leicht zu schlussfolgern, dass hier die Gruppe als ganze die Holding-Funktion übernimmt. Wie kein anderer Begründer einer psychoanalytischen Richtung vertrat Melanie Klein eine ausgesprochene Trieb-Psychologie, eine »Es-Psychologie par excellence« (Mitchell 1997/2005, S. 139). Intersubjektivität war ihre Sache nicht, weder in Bezug auf das sich entwickelnde Kind noch auf die psychoanalytische Therapie; die mütterliche Bezugsperson war ausschließlich Empfängerin der Projektionen der Triebmanifestationen des Kindes, der Analytiker nichts anderes als ein Übertragungsziel, »der Analytiker ist ausschließlich als Deutender anwesend« (Mitchell 1997/2005, S. 140). Die zeitgenössischen Kleinianer allerdings haben sich, angefangen mit Bion, von einer Ein-Personen-Psychologie weit entfernt: »Bion war der erste, der die projektive Identifizierung nicht nur als Phantasie verstand, sondern auch als ein Ereignis, nicht nur als einen Prozess, der im Geiste eines Menschen stattfindet, sondern auch als eine Form der Interaktion zwischen zwei Menschen. Bion ›interpersonalisierte‹ die projektive Identifizierung« (Mitchell 1997/2005, S. 151). Bion (1962a/1990) ist auch in Bezug auf das Thema Symbolisierung und Mentalisierung eminent wichtig, als er, wohl an-
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knüpfend an den Winnicott’schen mütterlichen Spiegel, »eine neue Metapher« (Mitchell 1997/2005, S. 152) entwarf: die des mütterlichen Containers. In der frühen Mutter-Kind-Beziehung hat die Mutter eine Behälterfunktion: Der Container nimmt die zu bedrohlichen, unaushaltbaren Affekte des Kindes in sich auf, behält sie dort, macht sich sozusagen einen Begriff davon, wozu der Säugling nicht in der Lage ist, teilt sie ihm in modifizierter Form zu gegebener Zeit mit. Bion ging von primitiven Gedankenfragmenten des Säuglings aus (Beta-Elemente), die im kleinianischen Sinn in die Brust der Mutter projiziert werden müssen, die sie in komplexere Gedanken (Alpha-Elemente) verwandelt, die so vom Säugling wieder aufgenommen werden: »Der Säugling ist noch unfähig, Sinneseindrücke zu verarbeiten; er scheidet diese Elemente in die Mutter aus und vertraut ihr, dass sie das Notwendige tut, um sie in eine solche Form zu verwandeln, dass das Kind sie als Alpha-Element benutzen kann« (Bion 1962a/1990, S. 231). Allerdings ist der Bion’sche Container nicht interpersonell gedacht, idealtypischerweise sogar als »leerer« Container gefordert, der nicht Eigenes des Empfängers in die Interaktion hineinbringt, sondern nur das Gesendete verwandelt und zurückgibt. Das muss man sowohl auf Bions Vorstellung des Mutter-Kind-Dialogs als auch auf die des therapeutischen beziehen. Ein intersubjektives Verständnis würde auch den einfließenden Anteil der Mutter beziehungsweise des Analytikers berücksichtigen (und für die Interaktion der Gruppenmitglieder gilt das natürlich erst recht). Ähnlich geht Ferro (2002, S. 479) von einem individuell beschaffenen Container aus, der aus einem Netz von Emotionen gebildet ist, Emotionen der Mutter beziehungsweise des Analytikers. Sie werden »zum verbindenden Mechanismus, in dem die Elemente des Contained eingebettet sind. Mit anderen Worten, die besonderen Emotionen, die sich im psychischen Apparat der Mutter oder des Analytikers befinden, gehen eine Verbindung zu den empfangenen Projektionen ein.« Und man muss noch einen Schritt weitergehen: Nicht nur das Eigene des Containers, auch seine Entwicklung in der Interaktion, seine Veränderung ist zu berücksichtigen – wie oft wurde gesagt, dass auch der Analytiker im Laufe einer Analyse beziehungsweise seiner Berufstätigkeit vom oder von den Analysanden lernt und
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sich entwickelt. Wieder ist ein solches Denken für die Gruppe selbstverständlich; sowohl die einzelnen Gruppenmitglieder als auch die Gruppe als ganze entwickeln sich – schließlich war Bion einer der Ersten, die Entwicklungsstadien der Kleingruppe beschrieben haben. Insofern geht die Container-Funktion weit über das Holding hinaus, als sie unerträgliche Angst und Wutaffekte durch metabolisierende Verarbeitung symbolisiert und damit dem Kind die Möglichkeit der Symbolisierung eröffnet. Die Metabolisierung des Affekts durch Modifikation im mütterlichen Container ist eine anfängliche Symbolisierung – es ist Fonagys (Fonagy u. Target 2000/2001) Verdienst, Bions Vorstellungen so erweitert zu haben. Bion (1962b/1990) verstand den Kern der Symbolisierung dagegen gerade in der Abwesenheit des mütterlichen Objekts, der Gedanke ersetzt die abwesende Brust, tritt an ihre Stelle, macht die Versagung aushaltbar. Bion versteht die Container-Funktion als Teil eines wiederholten Projektions-Introjektionsvorgangs: Projektion der Todesangst in den Container, dort Modifikation, dann Re-Introjektion der modifizierten Angst. Sehr wichtig, auch für unser Thema Symbolisierung in der Gruppenanalyse, ist, dass nicht nur der modifizierte Affekt wieder aufgenommen wird, sondern eine Introjektion eines Objekts (und dann Identifikation mit ihm) stattfindet, das zu dieser Modifikation (Fonagy entsprechend Symbolisierung oder Mentalisierung, s. u.) in der Lage ist, wie Segal bemerkt: »Der Säugling […] reintrojiziert dann nicht seine ursprüngliche Angst, sondern eine Angst, die dadurch, dass die Mutter sie in sich aufgenommen (contained) hat, modifiziert worden ist. Er introjiziert gleichzeitig ein Objekt, das fähig ist, Angst in sich zu bewahren und mit ihr fertig zu werden« (1975, S. 134f.). Allerdings soll der Bion’sche Container in der analytischen Situation idealerweise möglichst »rein« sein, nichts vonseiten des Analytikers enthalten, was aber im Sinne der Intersubjektivität nicht möglich und auch gar nicht wünschenswert ist (wie Winnicott ja schon eine absolut »gute« Mutter überhaupt nicht optimal für das Wachstum des Kindes gefunden hat; von den Beziehungen in der Gruppe zu schweigen). Wohl kein anderer Autor als Peter Fonagy hat in so weitgehender Weise gezeigt, wie
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die Psychoanalyse ihren Elfenbeinturm (oder vielmehr mehrere davon) verlassen kann. Fonagy hat es mit großem Erfolg unternommen, eine intersubjektiv verstandene, auf Winnicott basierende Psychoanalyse zu integrieren in die Bindungstheorie und die moderne Säuglingsforschung (der Psychoanalyse nahestehend ist Stern 1985/1992 zu nennen), das heißt die Erforschung und Interpretation des Verhaltens des Neugeborenen, des Säuglings und Kleinkindes. In der Darstellung der Vorstellungen Fonagys und seiner Mitarbeiter (besonders Margaret Target und György Gergely) beziehe ich mich im Folgenden auf den Übersichtsartikel von Dornes (2004).1 Fonagys zentraler Begriff ist der der Mentalisierung, auch in Abgrenzung von psychoanalytischen Konzepten der Symbolisierung: »Der Erwerb einer entweder bewussten oder unbewussten Repräsentation mentaler Ereignisse steht in der psychoanalytischen Literatur häufig im Kontext der Fähigkeit zur Symbolisierung […] Der Begriff Symbolisierung ist überladen mit Bedeutungen, besonders in der Psychoanalyse […] Ich würde vorziehen, die Kapazität, eigene mentale Zustände und die anderer zu begreifen, als Fähigkeit zur Mentalisierung zu bezeichnen« (Fonagy 1991, S. 641). Fonagys Leistung über die Erforschung der Reifungsentwicklung des Säuglings hinaus ist, »nachzuweisen, dass die Entwicklung dieser Fähigkeit in hohem Maße von der affektiv-interaktiven Qualität der Primärbeziehungen abhängig ist. Als zentral wird die Erfahrung des Kindes betrachtet, in seinen eigenen Zuständen von Erwachsenen ›gespiegelt‹ zu werden« (Dornes 2004, S. 176). »Subjektivität ist somit das Resultat von Intersubjektivität« (S. 178). Affektspiegelung entspricht übrigens in gewisser Weise dem affect attunement Sterns (1985/1992), ähnlich auch Kohuts Selbstobjekt-Spiegelung. 1 Wer sich die Mühe sparen will (was ich nur empfehlen kann), sich durch Fonagys Buch (Fonagy et al. 2002) hindurchzukämpfen (in ihm wird auf über 800 Autoren Bezug genommen), sollte sich die Originalarbeiten »Playing with reality« (Fonagy 1995; Fonagy u. Target 1996; Target u. Fonagy 1996; Fonagy u. Target 2000) sowie Dornes’ (2004) sehr lesbaren Überblick vornehmen.
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Wichtig ist, dass die Bezugsperson die Antwort markiert, das heißt zum Beispiel, sie mit übertriebener Mimik, affektiver Stimmfärbung versieht, auch ironisch verfremdet (Fonagy u. Target 2000) (»Ammensprache«). Dadurch erlebt der Säugling nicht einfach die affektive Antwort eines Erwachsenen, sondern kann bemerken, dass die Erwachsenen etwas darstellen, das mit ihm selbst zu tun hat: Das Als-ob der Antwort führt zu einer »referenziellen Entkoppelung« (vom Antwortenden); dadurch kann die Antwort auf sich selbst bezogen werden: »referenzielle Verankerung«. »Damit ist ihm ein innerer Zustand bewusst geworden, den er vorher nicht oder nicht deutlich bemerkt hatte. Analog dazu gewinnt der Säugling an den Reaktionen des anderen ein Bild von seiner eigenen Verfassung« (Dornes 2004, S. 179). Wiederholte Muster solcher Interaktionen führen zur »Ausbildung sekundärer Kontrollstrukturen (Repräsentanzen), die die Regulierung von Affektzuständen fördern« (S. 180). Während also die Affekte, auch gerade bedrohliche Körperzustände, anfangs durch die affektspiegelnde mütterliche Interaktion reguliert werden, übernimmt deren Internalisierung dann diese Aufgabe (diese sekundären Repräsentanzen entsprechen übrigens weitgehend den organisierenden Mustern, organizing patterns, der Selbstpsychologie und den internal working models [IWM] Bowlbys; man denkt auch an die Alpha-Funktion Bions). Ist im ersten Lebensjahr alles genügend gut gegangen, ist das Kind aufgrund dieser inneren Repräsentanzen (der Fähigkeit, Affekte »spielerisch« zu regulieren) in der Lage, selbst »mit der Realität zu spielen« (Playing-with-reality-theory): »Beide Theorien [die Playing-with-reality-theory und die Affektspiegelungs-Theorie] sind unabhängig voneinander entstanden, und deshalb ist es geradezu verblüffend, wie sie zueinander passen« (Dornes 2004, S. 180). Das Kind spielt und erlebt Affekte nur in zwei Modi: dem Äquivalenz- und dem Als-ob-(pretend)Modus. In Ersterem werden die Gedanken mit denselben heftigen Affekten verbunden wie eine entsprechende Realität: Das »Krokodil unter dem Bett« hat absoluten Realitätscharakter; wieder ist die spielerische Antwort der Eltern gefordert, den Affekt zu moderieren. Der Als-ob-Modus befähigt das Kind, die Realität nur als Ausgangspunkt seines
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Spiels zu nehmen und die Kontrolle über die selbstgeschaffene Modifikation der Realität zu behalten. Ein Beispiel: Nach dem Besuch bei einem uneinfühlsamen Arzt, der einem dreijährigen Jungen ohne jede Ankündigung heftig die Vorhaut zurückzustreifen versucht hatte, spielt das Kind zu Hause ein Spiel: Der Spielzeug-Igel verletzt das Lieblings-Stoffäffchen mit seinen Stacheln – au, au! – und dann verschwindet der Übeltäter für immer, wahrscheinlich im Mülleimer! (Hirsch 2004, S. 91). Dabei weiß das Kind um den fiktiven Charakter des Spiels – bei älteren Kindern hört man sie sagen, wenn sie ein Rollenspiel vorhaben: »Ich wär’ jetzt die Mutter, und du wärst der Arzt …« Eine Integration der beiden Modi erfolgt erst im vierten Lebensjahr, diesem wichtigen Alter, in dem das Kind eine »theory of mind« entwickelt, eine Vorstellung also, dass der Andere seinerseits Vorstellungen, Absichten, Vorlieben, Ängste und so weiter hat, wonach er nun beurteilt oder eingeschätzt wird, nicht mehr nach seinen direkt sichtbaren Handlungen (auch verbalen »Handlungen«, vgl. Dornes 2004, S. 181; Köhler 2004, S. 171). Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung übrigens gelingt diese Integration in den »reflektierenden Modus« nicht (nicht zuletzt, weil die elterlichen Bezugspersonen zu einer Beantwortung in einem ihrerseits »mentalisierenden Modus« nicht in der Lage sind; sie oszillieren zwischen Äquivalenz- und Als-ob-Modus hin und her; Dornes 2004, S. 181). Und das bedeutet ein Defekt der Symbolisierungsfähigkeit, der »symbolischen Regulation«: »Diese drei Eigenarten – der Alsob-Umgang mit der Realität, die Kontrolle über die Situation und ihre aktive Modifizierung – sind nicht nur für das Spiel kennzeichnend, sondern auch für die symbolische Tätigkeit« (Dornes 2004, S. 185). Übrigens hat auch Bion in etwa diese verschiedenen Modi formuliert: »Ich bekam den Eindruck, dass der Patient in seiner frühen Kindheit eine Mutter erlebt hatte, die pflichtbewusst auf die emotionalen Äußerungen reagierte. Die pflichtbewusste Reaktion hatte etwas von einem ungeduldigen ›Ich weiß nicht, was mit dem Kind los ist‹, an sich. [Die Mutter reagiert, »als ob« sie pflichtbewusst alles richtig macht, »als ob« das Kind nicht richtig ist, M. H.] […] Eine verständnisvolle Mutter ist in der Lage,
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das Gefühl der Furcht, mit dem dieses Baby mit Hilfe projektiver Identifizierung fertig zu werden versuchte, selbst zu erleben, und dennoch eine ausgeglichene Haltung zu bewahren. [Das wäre ein modifizierender, mentalisierender Modus, M. H.] Dieser Patient hatte es mit einer Mutter zu tun gehabt, die es nicht ertragen konnte, solche Gefühle zu erleben, und auf sie reagierte, indem sie ihnen entweder den Zugang verweigerte [»als-ob« alles in Ordnung sei, das Baby nichts hätte, M. H.], oder aber weil sie die schlimmen Gefühle des Babys introjizierte, der Angst selbst zum Opfer fiel« (1959/1990, S. 122f.). Im Äquivalenzmodus würde die Mutter von derselben Angst überschwemmt. Während die traditionellen psychoanalytischen, auf Freud zurückgehenden Symbolisierungstheorien davon ausgehen, dass der Gedanke die abwesende Mutter ersetzt (Bion 1959; Loch 1970; eine Übersicht in Schneider 1995), findet die Symbolbildung nach den Vorstellungen Fonagys gerade in der gelingenden, affektregulierenden Interaktion mit der mütterlichen Pflegeperson statt, also in ihrer Anwesenheit, deren Verinnerlichung zur Affektregulierung mit symbolischen Mitteln (vor allem der Sprache, dem Spiel und der Narration – wieder mit Bezugspersonen) befähigt. Hinshelwood (1989/1993, S. 354) macht darauf aufmerksam, dass das Container-Modell weit über die analytische Beziehung hinaus Gültigkeit hat, »dass jeder, der zuhören kann und mütterliche Aspekte hat […], eine solche Funktion zu erfüllen vermag.« Aber auch die Gesellschaft (also auch ihre Institutionen und weniger strukturierte Gruppen, M. H.) könne als emotionaler Container dienen. Der kleinianische Analytiker Elliot Jacques (1953/1955, S. 478) hat bereits Anfang der 1950er Jahre bemerkt: »Institutions are used by their individual members to reinforce individual mechanisms of defence against anxiety, and in particular against recurrence of the early paranoid and depressive anxieties.« Dazu ist anzumerken, dass Rituale Symbolisierungsfunktionen haben, gesellschaftliche ContainerFunktion ausüben und eng mit Religion und Kunst (Theater) verbunden sind, die alle Container-Funktion für die in der Gemeinschaft enthaltenen (destruktiven) Strömungen sind, die sie kanalisieren und stellvertretend in benigner Form agieren (vgl. Haas 2006; für Gruppenmythen auch Zinkin 1989).
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In der Anamnese von Borderline-Patienten finden sich sehr häufig schwere familiäre Traumata (Sachsse 1989/1998; Hirsch 1987/1999; 2004a; Eckert et al. 2000), und man fragt sich, wie dieses erinnerbare (wenn nicht der Amnesie verfallene) Trauma in der späteren Kindheit ähnlich die Symbolisierungs- (und Mentalisierungs-)Fähigkeit beeinträchtigt wie die Entbehrungstraumata der sehr frühen Kindheit, die aus den fehlenden oder fehlgehenden affektregulierenden Antworten der mütterlichen Pflegeperson entstehen. Eine Möglichkeit wäre, dass beide Traumaformen aufeinander folgen, dass in Missbrauchs- und Misshandlungsfamilien bereits wenig Kompetenz der Empathie für den Säugling vorhanden war, dass also auf ein frühes MutterTrauma ein späteres Vater-Trauma (z. B. als inzestuöser Missbrauch) folgt, im Sinne einer zweizeitigen Traumatisierung (vgl. Hirsch 1987/1999; 2004, S. 71). Fonagy schreibt: »Die unzulänglich konstruierte Selbststruktur macht diese Kinder insbesondere für spätere Traumatisierungen anfällig« (Fonagy et al. 2002, S. 360). Das extreme familiäre Trauma findet in der Inzest-Familie statt, wie ich es seit langem beschrieben habe (Hirsch 1987/1999): Das (familiendynamisch ausgewählte) Kind ist von Anfang an »nichts wert«, nicht willkommen, besonders auch wegen seines weiblichen Geschlechts, so dass man es auch später »mit ihm machen« kann. Vonseiten des Kindes führt die emotionale Deprivation zu einer »Suche« nach einem adäquaten mütterlichen Objekt und macht es dadurch anfällig, einem missbrauchenden Erwachsenen innerhalb oder außerhalb der Familie in die Hände zu fallen. Darüber hinaus hat es nicht gelernt, mentale Zustände in einem potentiellen Missbraucher zu erkennen, so dass es ahnungslos allfällige Versprechungen für real nimmt und dessen Absicht nicht vorwegnehmen kann. Andererseits gibt es derart extrem traumatisierende Einwirkungen, dass die Antizipations-, Vorstellungs- und Symbolisierungsfähigkeit eines jeden durchschnittlich glücklich aufgewachsenen Menschen zerstört wird. Das Denken hört auf, es entsteht ein »mechanisch gehorsames Wesen« (Ferenczi 1933/1964), eine Dumpfheit (»numbing«) tritt an seine Stelle. Die Vorstellung der traumatischen Situation wäre unerträglich und wird durch Kon-
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kretisierung ersetzt: »Das Individuum hofft, die Schrecken der Realität durch Handlungen zu lindern, ungeschehen zu machen oder ihre Verleugnung zu erleichtern […] Konkretisierendes Handeln erzeugt eine Situation, die scheinbar der Kontrolle des Individuums unterliegt und in ihren wunscherfüllenden Aspekten Wut und Angst zu unterdrücken hilft« (Bergmann 1995, S. 345f.). So kann auch der Rückgriff vieler, besonders weiblicher Borderline-Patienten auf destruktives Körperagieren verstanden werden; der dissoziierte Körper (Hirsch 2007) wird zum misshandelten Kind von damals beziehungsweise zu einer Mutter-Repräsentanz, mit der man im Schmerz verschmolzen ist. Wie bei der frühen traumatisierenden Fehlantwort wird etwas Fremdes internalisiert, das als Fremdkörper von innen wirkt (Fonagy et al. 2002/2004, S. 368). Dem »Numbing« während des traumatischen Ereignisses folgt eine Denkstörung bis hin zur Pseudo-Debilität (Hirsch 1987/1999, S. 215), in vielen Familien herrscht auch ein Rede- und damit Denkverbot, bei sexuellem Missbrauch ist das die Regel. »Ein Täter kann nicht mit dem Opfer darüber sprechen, wie es mit ihrer Beziehung weitergeht« (Marrone 2004, S. 125). Das Kind ist gehemmt, über das Mentale der Eltern nachzudenken, »denn es würde bei dieser Erforschung nichts Angenehmes entdecken« (Dornes 2004, S. 191). Solche Kinder ziehen sich aus der mentalen Welt zurück und »vermeiden so, über die Absicht ihrer Pflegepersonen denken zu müssen, ihnen zu schaden« (Fonagy 2000, S. 1133). Andererseits haben Borderline-Patienten gelernt, seismographisch verborgene Aspekte der Bezugsperson zu erfassen, um sich auf das einstellen zu können, was da kommen wird, sie können aber das Wahrgenommene nicht für die eigene Selbstorganisation nutzen, die chaotisch bleibt (Dornes 2004, S. 191). Die analytische Gruppe ist die soziale Situation, in der man am besten erfährt, was in den Köpfen der Anderen geschieht. Und in keiner interpersonellen Beziehung wird so direkt (aber immer noch taktvoll genug) das So-Sein des Einzelnen ihm widergespiegelt, das heißt wie er von den Anderen jeweils verschieden gesehen wird. Auf diese Weise kann die Gruppe die Entwicklung von Mentalisierung (man erfährt immer noch am deutlichsten, was die Anderen denken) und Symbolisierung (in heterogen
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zusammengesetzten Gruppen ist die Symbolisierungsfähigkeit der Mitglieder verschieden hoch entwickelt, und durch Identifikation erweitert der Einzelne die seine) optimal fördern; analytische Gruppenpsychotherapie kann also für traumatisierte Patienten als besonders indiziert gelten.
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Paula Teresa Carvalho Die Container-Funktion der Gruppenanalyse Wie kann ich dich lieben, wenn ich nicht wütend auf dich sein kann?
Das zehn Jahre alte Mädchen ist gerade aus der Schule gekommen. Offensichtlich hatte sie einen guten Tag, denn sie war guter Laune. Später, nach einem kleinen Zwischenfall, wurde sie schlecht gelaunt und grantig. Die Mutter war ärgerlich und schimpfte sie aus. Das Mädchen antwortete: »Ich habe mich in der Schule gut benommen und ich bin überall sehr höflich … Irgendwo muss ich mich doch schlecht benehmen. Wo soll ich das tun? Doch lieber zu Hause, meinst du nicht?« Das Zuhause, das Haus, repräsentiert vor allem den Beziehungsraum der Familiengruppe, steht aber auch für den physischen Raum, den diese Gruppe bewohnt. Es ist der Platz, an dem mehr private und gemeinsame Räume koexistieren, wo das Individuum und die Gruppe von Anfang an zusammenleben. Dieses Mädchen beanspruchte ihren eigenen mentalen und körperlichen Raum zu Hause, in dem sie die Dinge lassen konnte, mit denen sie noch nicht allein fertig werden konnte, und die, die sie sich nicht gut fühlen ließen. Sie wollte zu Hause einen Raum, einen Container haben, in dem die Gefühle, die sie beunruhigten, absorbiert und verarbeitet würden, damit sie sie besser ertragen und verstehen konnte. Sie forderte von der Mutter und den Anderen, in der Beziehung mit ihr eine Behälter-Funktion (containment function) zu übernehmen. Was die Behälter-Funktion, die Fähigkeit zum »containen«, betrifft, möchte ich aus dem Anfang von J. M. Baries Erzählung »Peter Pan« zitieren: »Mrs Darling heard about Peter for the first time when organizing the thoughts of her children. At night, after their children are asleep, all good mothers have the habit of reviewing their thoughts and tidying up
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things for the next morning, putting away the many things that, during the day, were left all around. If we could stay awake (but of course we can’t), we would see our mother doing so and we would watch her with great interest. It’s exactly like tidying drawers. We would see her on her knees, I suppose, examining with an air of amusement this or that part of what’s inside of us, trying to guess where we got this or that, discovering things, some more charming than others, stroking things against her face as soft kittens and hiding others as quick as possible. As we wake up in the morning, the wickedness and the bad feelings that we took with us when we went to bed are all properly folded and organized in the back of our mind; and above all, fresh and clean, our thoughts are more pretty, ready to be used. I don’t know if you ever saw a map of someone’s thoughts. Sometimes the doctors draw maps of other parts of us and our own map can even be extremely interesting, but the truth is that we never see them trying to make a map of the thoughts of a child, which are not only confusing, but also constantly twisting. They have zigzag lines. Just like our temperature in a graph; it’s likely that they are the island roads; because Neverland is always more or less an island, with astonishing splashes of colour here and there, coral reefs and pirate ships off the coast, savages and secret dens and gnomes that are invariably tailors; with caves crossed by a stream, princes with six older brothers, a cottage falling apart and a very old lady with a crooked nose. The map would be easy to make if only these existed; but there’s also the first day of school, religion, father, the round lake, needle work, crime, the hanged men, the verbs followed by dative, chocolate pudding day, braces, visits to the doctors, the coin that people give us for pulling out a tooth and many other things; things that are part of the island or of another visible map beyond it, and all this is very confusing, mostly because nothing stands still. Neverlands are, of course, very different. […] but, all in all, Neverlands have a certain air of common family and, if one could put them in a line, standing still, one could say that they all have the same nose and things like that… Occasionally, in her journeys through her children’s thoughts, Mrs Darling would find things she didn’t understand and, amongst them, the more disturbing was the word Peter. She didn’t know any Peter and yet he kept emerging here and there in John and Michael’s thoughts and occupied Wendy’s mind almost totally.«
Wir kennen alle diese Geschichte. Wir wissen, dass Wendy und ihre Brüder mit Peter Pan nach Neverland gingen, wie wir auch
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wissen, dass sie schließlich nach Hause zurückkehrten. Wenn wir Baries Erzählung folgen, dann erkennen wir, dass Wendy sich in dem Moment entschied, nach Hause zurückzukehren, als sie sich selbst als eine Erwachsene vorstellen konnte und ihr diese Idee gefiel, während sie gleichzeitig der Liebe ihrer Eltern sicher war, überzeugt, dass die Eltern ein Fenster offengelassen hatten, so dass die Kinder ins Haus kommen konnten. Wir entdecken auch, dass die Mutter am Ende die Beziehung, die Bindung zwischen Wendy und Peter gewährend bestehen ließ, wie es auch Wendy später ihrer Tochter gegenüber konnte und so fort über mehrere Generationen. »Peter Pan« ist eine liebenswerte Geschichte, und Wendy kann sich glücklich schätzen, zu einer solchen Familie zu gehören und eine Mutter wie Mrs. Darling zu haben. Jetzt wollen wir Wendy verlassen und uns Laura zuwenden (einer jungen Frau, selbst schon Mutter einer kleinen Tochter). Der Name ihrer Mutter ist nicht »Mrs. Darling«, ein eher passender Name wäre vielleicht »Mrs. Everything«. Wenn wir das von Barie in seiner Erzählung vorgeschlagene Bild verwenden, können wir sagen, dass Mrs. Everything, wenn sie mit der Aufgabe beschäftigt war, Lauras Gedanken zu organisieren, Überraschungen hasste, insbesondere die Idee, dass ihre Tochter Gedanken haben könnte, die sich von den ihren unterschieden. So organisierte sie alles (everything) sehr sorgfältig, so dass nichts am falschen Platz sein konnte. Sie tat das in dem Glauben, dass allein sie selbst wusste, was das Beste für Laura sei, und dass Laura sich das stets vergegenwärtigen sollte. Laura wuchs auf mit dem Gefühl von Selbstunsicherheit und Schwäche, während sie von der Mutter dachte, dass sie stark und resolut sei. Die Beziehung zur Mutter erschien ihr fortwährend als die Einzige, die ihr Sicherheit und Gewissheit geben konnte, wenn sie es brauchte. Die Beziehung war ihr sicherer Hafen, ihr Rückzugsort. Sie entwickelte Aspekte einer Zwangspersönlichkeit und hatte phobische Ängste vor Nahrung. Häufig hatte sie Angst, besonders außerhalb des Elternhauses, dass Nahrung sie schädigen oder krankmachen könnte. Sie wurde auch sehr nervös, wenn sie von ihrer Tochter getrennt war, verbunden mit wiederkehrenden Gedanken, dass ihr etwas Schlimmes zusto-
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ßen könnte. In der Beziehung zu ihrem Freundeskreis und zur Gruppe der Kollegen fiel ihr auf, dass sie Schwierigkeiten hatte, eine positive Einstellung zu behalten, besonders, wenn es größere Konflikte gab. Sie fühlte, dass die anderen dachten, dass ihr mangelndes Selbstvertrauen und ihre Ängste dadurch verursacht worden seien, dass sie verwöhnt gewesen sei, dass sie viel zu viel Aufmerksamkeit von ihrer Mutter bekommen hätte, dass sie noch ein verwöhntes Mädchen sei; sie dachte, die anderen würden den Schmerz, den sie ertragen musste, nicht verstehen. Sprechen wir ein wenig über Rita. Der Name ihrer Mutter könnte »Mrs. Ice« sein. Mrs. Ice verfügte über wenig Vorstellungskraft und Geduld, um sich mit Ritas Gedanken zu befassen. Sie hielt das für eine langweilige Aufgabe und dachte, ihre Tochter sollte sich so bald wie möglich selbst darum kümmern. Sie war genug beschäftigt mit der Zubereitung der Mahlzeiten und Ähnlichem, aber auch das tat sie nur, solange Rita noch jung war und sie das Gefühl hatte, es sei ihre Pflicht. Außerdem dachte sie, dass Kinder Ewigkeiten brauchten, bis sie erwachsen seien, und dass sie jede Menge Schwierigkeiten machten. Das war einer der seltenen Punkte, in denen sie mit ihrem Mann übereinstimmte. Beziehungserfahrungen waren für Mrs. Ice von einer grausamen Einfachheit: Entweder stimmte man mit ihr überein oder man war gegen sie. Rita wurde frühreif erwachsen. Sie lebte mit dem vorherrschenden Gefühl, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen und nicht erwarten konnte, von anderen viel Fürsorge oder Vertrauensvorschuss zu bekommen. Die Welt war für sie ein feindlicher und ungemütlicher Platz, an dem die Menschen nur aus eigenen egoistischen Interessen in Beziehung standen und sich nichts daraus machten, anderen Schaden zuzufügen. Sie sehnte sich sehr danach, jemandem zu vertrauen, aber genauso stark fürchtete sie das auch, sie hielt Vertrauen für unmöglich, glaubte, es sei etwas, das sich früher oder später als illusionär und falsch herausstellen würde. Sie gehörte zu der Gruppe der Benachteiligten, denen nie einmal etwas leicht und einfach erscheint. Sie litt unter Depressionen, hörte aber nie auf zu versuchen, sich aufzuwerten und jemanden zu finden, der sie innerlich beruhigen könnte.
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Und eines Tages kreuzen sich Lauras und Ritas Wege in derselben analytischen Gruppe. Laura ist die Erste, die sich vorstellt. Sie zeigt sich von Anfang an als eine sehr abhängige Person und ist sehr begierig, Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie scheint mit ihrem Verhalten einverstanden zu sein und keinen großen Konflikt zu empfinden. Die Gruppe beginnt jedoch den dahinterliegenden Konflikt zu realisieren. Obwohl sie häufig die positive Entwicklung erwähnt, die sie in der Gruppe erfährt, ist Laura doch die, die sehr häufig zu spät kommt oder überhaupt nicht erscheint. Sie rechtfertigt das mit Gründen, die in der äußeren Realität liegen, und sagt, dass sie das Gefühl braucht, nicht kontrolliert zu werden, und dass sie nicht gewillt sei, die Gruppe als eine Verpflichtung zu empfinden. Während der Sitzungen hat sie häufig Episoden von Sehstörungen, sie beginnt verschwommen zu sehen, manchmal zusammen mit Kopfschmerzen, die ihr das Denken unmöglich machen. Sie spricht über ihre Angst, die Kontrolle zu verlieren und verrückt zu werden. Die Gruppe reagiert mit Interesse an Lauras Schwierigkeiten, indem sie ihre Körpersymptome entziffert, aber gleichzeitig auch die Bedeutung der Art und Weise ausdrückt, wie sie jedes Gruppenmitglied sieht, und sie auch mit der Tatsache konfrontiert, dass ihr Fehlen eine Form der Aggression ist, gegen die Anderen und sich selbst, und dass das logischerweise eine Möglichkeit für sie ist, den Blick auf einige Bereiche ihres Selbst zu vermeiden. Rita tritt erst nach Laura in Erscheinung. Von allen Gruppenmitgliedern ist sie diejenige, die sehr leicht die Übertragungsaspekte verbalisieren kann, die sie in der Gruppe erlebt. Von einem gewissen Punkt an schwankt sie zwischen dem Gefühl, in dem ihr die Gruppe als ein Ganzes erscheint, als eine beschützende und empathische Einheit, und dem anderen Gefühl, genau wie in der Vergangenheit und außerhalb der Gruppe zu kurz zu kommen, indem einige Mitglieder von der Gruppenanalytikerin bevorzugt und andere diskriminiert werden. Rita erlebt Laura als die Privilegierte, als den Liebling der Therapeutin. Sie sagt, sie würde auch gern die Sitzungen ohne Schwierigkeiten versäumen können, wie sie denkt, dass es Laura kann, denn das würde bedeuten, dass sie nicht so abhängig wäre, dass sie die Gruppe nicht so sehr brauchen würde. Ritas Ansichten bedeuten für
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Laura die Wiederholung der Ansichten ihrer Freunde, dass sie nichts als ein verwöhntes Mädchen sei, dessen Probleme bedeutungslos seien, verglichen mit denen anderer. Für Rita wiederholt sich die Erfahrung von Versagen und Diskriminierung auch in der Gruppe. Obwohl Rita es schafft, der Therapeutin in der Einzelbeziehung zu vertrauen, war es so, als ob sie innerhalb der Gruppe entdeckte, dass alles nichts als eine Illusion sei. In der Gruppe, genauso wie außerhalb, bekam sie weniger als die anderen. Aber Laura und Rita befinden sich in einer Gruppe, in der die gemeinsame Konstruktion der Wahrheit bedeutet, dass man mehrere verschiedene Wahrheiten finden kann; die Wahrheit der Beziehung jedes Gruppenmitglieds zur Gruppe, zur Gruppenanalytikerin, untereinander und schließlich mit den eigenen Gespenstern und inneren Objekten. Ritas Ärger über die Gruppenanalytikerin wächst. Sie wechselt ihren Platz in der Gruppe, um Abstand von der Therapeutin zu gewinnen. Sie weigert sich, über sich zu reflektieren, sie stellt ihre Eignung und ihre persönliche Integrität in Frage. Sie droht damit, die Gruppe abzubrechen, und kündigt an, sie würde sie verlassen. Zur selben Zeit drückt sie ihre tiefe Bindung zu den Gruppenmitgliedern aus. Sie erfährt die Gruppe wie eine gute Mutter, allerdings eine schwache; wenn sie sich aber die Gruppenanalytikerin vorstellt, erlebt sie die böse und mächtige Mutter, die Mutter, die sie nie geliebt hat, vielmehr gefordert hat, dass sie sich unter ihre Autorität unterwirft. Dieses Gefühl behindert ihr Denken, und sie versucht ihre Vorstellungen mit objektiven Begründungen zu rechtfertigen. Weil sie ganz offensichtlich unfähig ist, mit Zweifeln zu leben, bietet sie unbefragbare Gewissheiten an. Sie fühlt sich verwirrt und verloren; das Gefühl, in einem Raum voll von Spiegeln gefangen zu sein, die ihre Schuld an der Unfähigkeit, geliebt zu werden, bestätigen, ist stärker als die Sehnsucht nach der Liebe einer Mutter, der Gruppenanalytikerin. Die Gruppe reagiert und bemerkt Ritas Leiden. Rita ist auf der anderen Seite des Spiegels gefangen und weigert sich zu sehen, und die Gruppe reagiert, indem sie auf eine andere Weise sieht und dabei verschiedene Reflexe entdeckt. Die Gruppe findet,
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dass Rita extrem starke und tiefe Erfahrungen ihrer inneren Beziehungsmatrix im Hier und Jetzt der Gruppenmatrix inszeniert und dass diese Gewalt droht, all die Spiegel blind zu machen und zu zerstören. Rita hatte zwar gegen ihr von einem Spiegel reflektiertes schlechtes Bild rebelliert, sie scheint sich aber zu weigern, verschiedene Spiegel zu verwenden, als gäbe es keine andere Möglichkeit. Wenn sie nicht die Schlechte war, waren es die Anderen, in diesem Fall die Analytikerin. Rita beginnt zu realisieren, dass die Gruppe, im Gegensatz zu dem, was sie erwartet hatte, sie nicht nur nicht zurückweist, sondern sich engagiert und die große Bedeutung der Probleme anerkennt, die sie vermittelt. Die Gruppe versucht, neue Bedeutungen für die Leiden und Qualen eines jeden zu finden. Und schließlich, wer ist die Gruppenanalytikerin? Was ist die Wahrheit der Beziehungen, die man erlebt? Was kommt von innen, was ist außen? Kann man Liebe vereinbaren mit Aggressivität und Wut? Kann Liebe ohne Aggressivität existieren? Können all diese Gefühle in der Gruppe erfahren werden? Sind Ärger und Wut immer destruktiv? Und was ist mit der Liebe? Sind einige Formen der Liebe überwiegend destruktiv? Rita begreift, dass die Gruppe zu verlassen bedeutet, ein Leben ohne Freiheit fortzusetzen, an die Vergangenheit gekettet und an die Destruktivität, die sie enthält. Auch Lauras Welt ist gestört. Sie stellt die Beziehungen sowohl zu ihrer Mutter als auch zu ihrer Tochter in Frage. Sie kommt zu dem Schluss, dass es keine freien Beziehungen sind, weil sie ohne die Möglichkeit der Trennung gelebt werden, als ob sie Mutter und Tochter nicht als zwei von ihr unabhängige Personen sehen konnte. Schließlich versteht sie, dass es in diesen Beziehungen unmöglich war, Ärger und Wut in angemessener Weise zu erleben. Vielleicht liegen da die Ursachen ihrer phobischen Ängste gegenüber Nahrung und ihrer obsessiven Sorgen wegen ihrer Tochter. Sie traut sich, in der Gruppe wütend zu werden, und dieses Ereignis verursacht eine der ersten Drohungen Ritas, die Gruppentherapie abzubrechen. Laura realisiert, dass sie – obwohl Ritas Reaktion sehr stark war und sie sie nicht unfair behandeln wollte – in der Lage ist, ihre Position zu behaupten, ohne sich schuldig zu fühlen. Sie ist überrascht, dass sie keine
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Kopfschmerzen hat und sie nicht wieder verschwommen sieht. Sie begreift, dass ihre Mutter kein guter Hafen mehr für sie ist, und beginnt, es zu bedauern, wenn sie nicht zur Gruppe kommen kann. Zum ersten Mal stellt sie ihre Urlaubspläne zurück, um zur Gruppe kommen zu können. Jetzt erlaubt sie sich, spontaner zu sein, sie bringt sich mehr ein und bemerkt, dass sie nicht nur neue Bedeutungen ihrer Ängste finden kann, sondern auch dazu beitragen kann, neue Bedeutungen der Ängste der anderen Gruppenmitglieder zu finden. Die Furcht, kontrolliert zu werden, verschwindet; wenn sie keine Sitzungen versäumt, hat das mehr mit ihrem eigenen Interesse zu tun, als mit kalten und autoritären Forderungen der Gruppe. Während für Rita alle Gefühle der Liebe ständig bedroht waren durch das Auftauchen destruktiver Wut, die allen Raum besetzte, ließen für Laura Liebesbeziehungen keinen Platz für ihre Wut; diese Wut musste andere Wege finden, um sich zu manifestieren. Wenn die Art und Weise, in der Rita ihre Wut erlebte, destruktiv war, so war es Lauras Form der Liebe. Beide waren Gefangene eines Bildes, das von einem zerbrochenen Spiegel reflektiert wurde, mit dem sie sich tatsächlich identifizierten, in einem Prozess der Identifikation mit dem Aggressor. Ein fünf Jahre altes Kind sagte eines Tages vor einem Spiegel stehend: »Ich würde mich gern sehen, wie ich wirklich bin … Wir sehen uns nie, wie wir sind … Nur andere können uns sehen, wie wir sind …« Das Heim ist der begrenzte physische und relationale Raum, wo alles beginnt; der Raum, in dem die Mutter lebt wie auch der Vater und all die Anderen. Wo man erwarten würde, eine angemessene Begrenzungsfunktion zu erleben, die die Entwicklung der Fähigkeiten des Kindes stärken würde, zu verstehen, anzuerkennen, sich selbst zu achten, zu denken und seine eigene Containment-Fähigkeit zu entwickeln. Ein Raum, in dem es aufwachsen und in einer harmonischen Weise unabhängig werden kann. In gleicher Weise ist die gruppenanalytische Gruppe ein bevorzugter Raum durch die Organisation des therapeutischen Setting, durch die Arbeit der Therapeutin/Mutter/Pflegerin und durch die Interaktion zwischen allen Mitgliedern. So können schließlich die Fragmente des Inhalts (content) der Psyche eines
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jeden, der früher keine befriedigende Antwort in der Beziehung zur Mutter, zu Hause, innerhalb der Familie finden konnte und der noch innerhalb eines jeden in einer parasitären und destruktiven Form existiert, schließlich auftauchen und gehalten (contained) werden. In einer integrativen Beziehungsdialektik können Liebe und Wut, Liebe und Aggressivität, das Selbst und die Anderen in ihren Verschiedenheiten und Ähnlichkeiten erfahren und betrachtet werden, und zwar in einem wahrhaftigen Prozess innerer Transformation. Ich habe meinem Beitrag den Untertitel gegeben: Wie kann ich dich lieben, wenn ich nicht wütend auf dich sein kann? Ich denke, der Satz könnte so vervollständigt werden: Wie kannst du mich lieben, wenn ich nicht wütend auf dich werden kann? Aus dem Englischen von Mathias Hirsch.
Mathias Hirsch Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie traumatisierter Patienten »Jeder sieht immer einen andern, wenn er auch denselben beschreibt, dachte ich. So viele Beschreiber, so viele Seher, jeder aus einer anderen Richtung, aus einem andern Blickwinkel heraus auf dieselbe Person, also so viele Anschauungen ein und desselben Menschen, sagte ich mir …« (Bernhard 1986/1988, S. 550) »Das aus der Philosophie des Geistes übernommene Konzept des intentionalen Standpunktes […] ist für unsere Sichtweise von besonderer Bedeutung, weil es erklärt, wie wir lernen, uns selbst zu verstehen, indem wir andere verstehen.« (Fonagy et al. 2002/2004, S. 151) »The problem with groups is that everything quickly becomes more complex and multifactorial.« (Federici-Nebbiosi 2003, S. 721)
Borderline-Patienten haben zum Teil sehr heftige Gefühle und Affekte (ein Teil der Patienten sind hingegen ganz verschlossen), sie können sie aber nicht kontrollieren; sie haben Beziehungen (ein Teil der Patienten hingegen nicht), können sie aber nicht durchhalten, sie oszillieren zwischen Idealisierung und Entwertung beziehungsweise dem paranoiden Erleben absoluter Feindseligkeit, so dass die Beziehung abgebrochen werden muss. Der früh Traumatisierte ist ständig auf der Suche nach einem spiegelnden Objekt, kann aber neue Erfahrungen schlecht annehmen, da er gezwungen ist, den fremden Selbstanteil (»fremdes Selbst«, Fonagy) zu projizieren beziehungsweise das Fremde durch projektive Identifikation im Anderen herzustellen, so dass er es wieder zerstören muss. In der Gruppe gibt es aber
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weit mehr als ein (therapeutisches) Objekt, auf das die zerstörerischen Impulse projiziert werden können: jedes einzelne Gruppenmitglied, die Gruppe als ganze und der Gruppenleiter. So sind Teil-Objekt-Übertragungsmanifestationen – eine Spaltung im Erleben von nur guten und nur bösen Objekten – möglich, so dass die guten Beziehungen ein Gegengewicht zu den unaushaltbaren, die Beziehung zerstörenden bösen Objekten bilden können. Darüber hinaus werden die projizierten bösen Introjekte durch die vielfältig verschiedenen Reaktionen der Gruppenmitglieder metabolisiert, das heißt in ihrer zum Handeln drängenden Qualität auf eine sprachliche Ebene gehoben. Die Therapie müsste also ein Raum, ein Spielraum sein, in dem eine nachholende Mentalisierung möglich ist, ohne dass er wieder zerstört werden muss. »Die Aufgabe des Therapeuten weist Parallelen zu jenen der Eltern auf, die einen Rahmen für das Als-ob-Spiel schaffen – in der Therapie allerdings sind es Gedanken und Gefühle, die durch die Schaffung eines solchen Übergangsbereiches zugänglich werden sollen« (Fonagy et al. 2002/2004, S. 371). Die Übertragung aber wird nicht als solche erkannt – »als-ob« –, sondern: »Der Therapeut ist der misshandelnde – mit ›als-ob‹ hat dies in solchen Fällen nichts zu tun« (S. 372; Hervorhebung M. H.). Deutungen helfen nicht; man müsse mit »Vorläufern der Mentalisierung« arbeiten, also mit den bedrohlichen Affekten, die eben nicht reguliert sind. »Am hilfreichsten ist es oft, sich bescheidene Ziele zu setzen […] Das therapeutische Ziel besteht lediglich in einer allmählichen Verbesserung der Mentalisierung« (S. 372). Und: »Wenn es dem Therapeuten gelingt, eine mentale Nähe zum Patienten aufrechtzuerhalten, ohne sich von dessen ›fremdem Anderen‹ überwältigen zu lassen, kann seine mentalistische elaborative Haltung [bzw. die Identifikation mit dieser Haltung, M. H.] es dem Patienten schließlich ermöglichen, sich selbst als denkendes, fühlendes Wesen in den Gedanken und Gefühlen des Therapeuten zu entdecken und dieses Bild in sein Selbstgefühl zu integrieren« (S. 373). Aus diesen Worten Fonagys klingt doch eine erhebliche Bescheidenheit in Bezug auf eine Nachentwicklung schwer gestörter Patienten. Übrigens führt Fonagy mehrere Therapieformen an; seine Aussagen gelten für
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alle diese Bemühungen, alle sind als Einzelbehandlung konzipiert. Liegt aber der Gedanke nicht nahe, dass eine therapeutische Gruppe Faktoren bereithält, die dem Einzelsetting nicht zur Verfügung stehen, die aber eine günstige Wirkung auf die Entwicklung von Borderline-Patienten haben? Ist die Gruppe nicht ein mehr komplexer, mehr kreativer Spielraum (»Übergangsraum«, Finger-Trescher 1991) als die Einzeltherapie? Bietet sie nicht vielfältigere Identifikationsmöglichkeiten, ist die Spiegelung nicht facettenreicher, Konfrontationen nicht sowohl direkter als auch abwägend-differenzierender? Wenn Fonagy zum Erwerb der Mentalisierung sagt: »My caregiver thinks of me as thinking and therefore I exist as a thinker« (2000, S. 1129), müsste die Idee doch ebenso gelten: »Die Gruppenmitglieder (und in meinem Erleben sogar die ganze Gruppe) denken von mir als jemandem, der denkt, und deshalb existiere ich als denkendes Wesen.« Fonagy fasst diesen Prozess als explizit interpersonell auf: »The child gets to know the caregiver’s mind as the caregiver endeavors to understand and contain the mental state of the child« (S. 1132). Anscheinend ist der Gedanke, dass die Gruppe als ganze wie ein Container im Bion’schen Sinne (vgl. mein Einleitungskapitel, M. H.) wirkt, nicht sehr weit verbreitet. Mattke und Eckert (2002, S. 286) sprechen vom Containing von Aggressionen, die nicht ausufern sollten, außerdem vom Containing durch den Therapeuten (S. 288), ein Gedanke, der offenbar auf Yalom zurückgeht; es gäbe also die Gefahr des Überschreitens der Kapazität des Therapeuten, wenn zuviel Borderline-Patienten in der Gruppe sind. Das Containing im Bion’schen Sinne (vgl. Fonagy u. Target 2000/2001) bedeutet aber weit darüber hinaus einen Raum der Metabolisierung von archaischen Affekten und ihrer Symbolisierung, Ängsten von Nähe, Verschlungenwerden, Verfolgung und Beeinträchtigung, aber auch primitive Aggressionen. Eine ältere Arbeit (Zinkin, 1989) behandelt die Gruppe als Container im Sinne eines Behälters, der einerseits die Holding-Funktion gewährleistet und andererseits die Phantasien und Mythen der Gruppe enthält; Zinkin versteht den Container aber nicht als Ort der Mentalisierung und Symbolisierung.
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Mentalisierung und Triangulierung Mentalisierung bedeutet erst einmal eine Funktion der Dyade. Trotzdem wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass trianguläre und Gruppenstrukturen die Mentalisierung fördern, schließlich umgibt die Dyade von Anfang an eine Familiengruppe. Kai von Klitzing (2002, S. 883f.) hat den die Mentalisierung fördernden Einfluss von triadischen Beziehungen nachgewiesen, triadische Kompetenz der Eltern fördert die Mentalisierungsfähigkeit des Kindes, ebenso elterliche Trianguliertheit. Innere Repräsentanzen entstehen von Klitzing zufolge besonders durch den Wechsel von An- und Abwesenheit des Objekts, auch durch die vergleichende Wahrnehmung verschiedener Objekte wie Mutter und Vater. Weiter ist der günstige Einfluss der Geschwister (-Gruppe) nachgewiesen: »Wie stark die Familie am Erwerb der Theorie des Mentalen durch das Kind beteiligt ist, belegt auch die Beobachtung, dass Kinder, die ältere Geschwister haben, bei Aufgaben zu ›falschen Überzeugungen‹ offenbar deutlich besser abschneiden als andere, die ohne ältere Geschwister aufwachsen« (Fonagy et al. 2002/2004, S. 38). Bereits im Kindesalter ist eine positive Wirkung von Peergroup-Interaktionen auf die Mentalisierung verzeichnet worden: »Wichtig ist, dass der kindliche Gebrauch von Bezeichnungen für mentale Zustände in der Interaktion mit Geschwistern oder Freunden das Abschneiden bei Aufgaben über falsche Überzeugungen genauer vorhersagt als das Gespräch zwischen Mutter und Kind […] In ähnlicher Weise zeigen Lewis und Mitarbeiter (Lewis et al. 1996), dass das Verstehen falscher Überzeugungen mit der Zeitdauer zusammenhängt, die Kinder mit ihren älteren Geschwistern, mit anderen älteren Verwandten oder mit älteren Freunden verbrachten, nicht aber mit der Zeitdauer, die sie mit jüngeren Kindern verbrachten« (Fonagy et al. 2002/2004, S. 58). Folgender Satz scheint mir direkt auf analytische Gruppenpsychotherapie übertragbar zu sein: »Die Peergruppen-Interaktion gibt dem Kind vermehrt Gelegenheit zur Simulation – Gelegenheit, sich vorzustellen, was es selbst sehen, denken, fühlen usw. würde, wenn es sich in der Situation einer anderen Person befände« (S. 59).
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Entwicklung von Mentalisierungs- und Symbolisierungskompetenzen in der Gruppe Im Folgenden sollen die Faktoren der analytischen Gruppenpsychotherapie ausgearbeitet werden, die für die Entwicklung Traumatisierter, also cum grano salis Borderline-Patienten1, förderlich sind, unter besonderer Berücksichtigung der Wiedergewinnung beziehungsweise dem erstmaligen Erwerb von Symbolisierungsund Mentalisierungskompetenzen, die die Voraussetzung bilden für die Regulierung von Affekten beziehungsweise mit ihr einhergehen. An sich enthält die Indikation für Gruppenpsychotherapie von Borderline-Patienten ein Paradox, auf das Horwitz (1987) aufmerksam gemacht hat. Borderline-Patienten haben offenbar eine geringe Toleranz für unangenehme Affekte, sie haben Probleme, sich mit anderen verbunden zu fühlen, auch Probleme, Feindseligkeit und paranoide Ängste zu kontrollieren. Horwitz fragt, warum man sie denn dann in die Gruppe nehmen solle. Paradoxerweise deshalb, weil diejenigen Eigenschaften und Defekte, die den Borderline-Patienten zu einem problematischen Gruppenmitglied machen, genau die sind, die in der Gruppe am besten behandelt werden können. Diese sind nach Horwitz »eine falsche Haltung, Egozentrismus, soziale Isolation und Rückzug sowie sozial deviantes Verhalten« (1987, S. 248). Wenn auch die Gruppe für Borderline-Patienten besonders indiziert ist und die Patienten meines Erachtens, wenn sie einmal »angekommen« sind, von ihr am meisten profitieren können (unter Umständen, z. B. in der Anfangsphase der Therapie, noch mehr von einer kombinierten Einzel- und Gruppenpsychotherapie; siehe Hirsch 2004a, S. 273ff.), sind beträchtliche Ängste, diesem Unternehmen zuzustimmen, die Regel.
1 Über die weitgehende Entsprechung der Bezeichnungen BorderlinePersönlichkeitsstörung und (frühe) Traumatisierung vgl. Hirsch 2004a, S. 4f.
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Gruppenangst und Attraktion der Gruppe Gruppenangst und die Bevorzugung der Einzeltherapie beruht meines Erachtens häufig auf einer Idealisierung der Einzelbeziehung, da die Patienten nicht ahnen, wie sehr sie auf Triangulierung, Übertragungsspaltung und vielfältige Identifikationsmöglichkeiten angewiesen sein werden, wenn sich das idealisierte therapeutische Objekt verwandelt in ein böses, verfolgendes. Erst einmal herrscht die Angst vor, von der Gruppe verschlungen zu werden und, wenn nicht gerade von tausend Augen, so doch von zehn Augenpaaren durchschaut und dadurch extrem beschämt zu werden (so dass die Gruppe ein verfolgendes Objekt in der Vorstellung bildet). Es ist auch die Angst, dass die fragile Selbststruktur aufgelöst, die rudimentäre Mentalisierungskapazität vernichtet werden könnte (Bateman u. Fonagy 2004, S. 262). Auch Nebbiosi (2003, S. 765) sieht die Gruppenangst als die Angst vor einer Gefahr für die Selbst-Kohäsion und verbindet die Gruppenangst mit destruktiven Gruppenerfahrungen in der Vergangenheit dieser Patienten; es ist klar, dass ein früh traumatisiertes Kind sich stets anders, fremder als die anderen, als Außenseiter voller Scham gefühlt haben muss beziehungsweise als Sündenbock von den anderen, die es besser getroffen hatten, benutzt und beschämt worden ist. So berechtigt die Gruppenangst einerseits ist, können Borderline-Patienten andererseits umso mehr von der Gruppe profitieren, wenn sie sie einmal wenn nicht überwunden haben, so doch aushalten können. Bateman und Fonagy versuchen, den Patienten für die Gruppe zu motivieren (und das muss man in der Regel in den Vorgesprächen auch tun): »Wir erklären die Gruppe als einen Kontext, in dem die Patienten sich selbst in Beziehung zu anderen in der Spontaneität der Peer-Interaktion betrachten können, als eine Situation, in der sie ihre Missverständnisse der Motive anderer dadurch erforschen können, dass sie andere Patienten über ihre verschiedenen Perspektiven befragen, und als einen Platz, an dem sie verstehen lernen können, wie sie selbst in Gruppen operieren, mit dem Ziel, sich selbst zu stabilisieren« (2004, S. 160; Übersetzung M. H.).
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Die Gruppe ist immer eine trianguläre Situation und umgeht damit den basalen Konflikt des Borderline-Patienten: der Konflikt zwischen der Sehnsucht nach einem Objekt und der Angst vor ihm, vor Nähe, Abhängigkeit und Vernichtung (seiner fragilen Identität). Intuitiv finden sich Adoleszente zu Peergroups zusammen, auch heute noch (vgl. Hirsch 2004b), um sich selbst zu erforschen und zu behaupten, wozu sie in einer dualen Beziehung noch nicht in der Lage sind.
Affektregulation durch organisierende Muster Nebbiosi bezieht sich auf G. S. Klein (1976), indem er zentrifugale Kräfte der Gruppe, die die Autonomie betonen, zentripetalen gegenüberstellt, die das Zugehörigkeitsbedürfnis ausmachen, sogar »die Lust, jemandem Lust zu machen«, enthalten, also eine Freude und ein Bedürfnis, Beziehungen zu haben. Die »organisierenden Muster« der Selbstpsychologie, die aufgrund von wiederholten empathischen Interaktionen Affekte regulieren (und damit Identität bilden!) bezieht er auf die Gruppe, in der »Modelle affektiver Beziehung (erworben werden), die Erfahrung symbolisieren«, das heißt zur Symbolisierungsfähigkeit beitragen. In der Einzeltherapie würden organisierende Muster von beiden Beteiligten konstruiert, entweder geteilt oder polarisiert, in der Gruppe dagegen erlauben die komplexeren Muster viel heftigere Affekte. Foulkes’ Idee der Gruppenmatrix hat Nebbiosi im Sinne der Selbstpsychologie formuliert: Die organisierenden Prinzipien oder Muster bilden die Identität einer Gruppe. »Im Allgemeinen kann eine Gruppe mit guter Kohäsion das affektive Niveau ihrer Interaktionen regulieren. Wenn ein oder mehrere Gruppenmitglieder einen besonders intensiven Affektzustand (z. B. Depression, Erregung) einbringen, kann er von der Gruppe geteilt und dann auf ein tolerierbares Niveau zurückgeschraubt werden« (Nebbiosi 2003, S. 766f.). Wenn die Gruppe dazu nicht in der Lage ist, weil der traumatische Hintergrund der Affekte zu stark ist, stellt sich ein, was Nebbiosi »emotionaler Konformismus« nennt: Äußerungen sind nur noch in einer konformen Stimmungslage, die Affekte vermeidet und auf die die Gruppe
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sich unbewusst geeinigt hat, ausdrückbar, so dass keine Veränderung mehr stattfindet (S. 766f.). Es ist übereinstimmend berichtet worden, dass die Gruppenmatrix (Foulkes 1964), das unbewusste Netzwerk der Beziehungen, als Grundlage der Kommunikation in der Gruppe, und ihr sichtbarer Ausdruck, die Gruppenkohäsion (bei Pedrina 2006), dieselbe Funktion haben wie die genügend gute Dyade der frühen Mutter-Kind-Beziehung (Nebbiosi 2003, S. 763). Pines (1990, S. 42) spricht von der Matrix sogar als »basic maternal function«. Die Gruppenkohäsion reguliert Affekte; heftige negative Affekte zerstören nicht die guten (von allen Gruppenmitgliedern geteilten). Oft werden solche regulierenden Selbstobjekt-Funktionen von einem idealisierten »Selbstobjekt-Mitglied« (Paparo u. Nebbiosi 2004, S. 179) übernommen. Auch meiner Erfahrung nach gibt es in Gruppen oft ein Mitglied, das besonders verbindlich, beschwichtigend und vermittelnd agiert, auch in Identifikation mit den Gruppennormen von Akzeptanz, Offenheit, Authentizität und Toleranz den Anderen gegenüber, Zuhörenwollen und die »self-other-observation« (Bateman u. Fonagy 2004) eingeschlossen. Der »Kultur des Untersuchens« in der Gruppe (Pines 2004, S. 31) ist durch das »EingebettetSein« möglich – das ist die Analogie zur sicheren Bindung, auf deren Grundlage die Exploration nicht nur des Seins der anderen, sondern auch des eigenen in ihnen stattfindet. »Dies sind in der Gruppenanalyse vertraute Prozesse, wie Foulkes durch seine Betonung von Spiegelung und Resonanz vorhersah, er gab der Kommunikation den Vorrang vor der Deutung, er betonte die Wichtigkeit wechselseitiger Introjektion und Projektion, die Bedeutung von Erfahrungen, die in Beziehungen gemacht werden, er sah die Gruppe als Matrix des mentalen Lebens des Individuums. Er beschrieb die Rolle und Funktion des Therapeuten als ›eine perzeptive und kreative Handlung, wie es die Interpretation des Werkes eines Komponisten durch einen Dirigenten ist‹, er verglich den Therapeuten mit einem Dichter, der tiefere Bedeutungen erkennen und ausdrücken kann, wie es der Dichter tut […] Wir vertiefen und verstärken diese basalen gruppenanalytischen Konzepte in vielfältiger Weise, belegt und bestärkt durch neues Wissen über die Entwicklungs-
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prozesse in der Säuglingszeit und der Kindheit« (Pines 2004, S. 40f.). Es ist interessant zu sehen, wie Kohuts Vorstellungen über Empathie in Beziehungen und über die Empathie hinaus über das, was »Selbstobjektfunktion« genannt wird, mit den neuen Vorstellungen der Mentalisierung und Symbolisierung in der Mutter-Kind-Beziehung paralell gehen: »Wir können den gesamten Verlauf einer kleinen analytischen Gruppe als ein erfolgreiches Training in Empathie seiner individuellen Mitglieder (den Leiter eingeschlossen) definieren«, zitieren Paparo und Nebbiosi (2004, S. 171) Kohut (1984/1987). »Es ist in der Tat unsere Überzeugung […], dass die Intensität, mit der die Gruppe Affektzustände ihrer Mitglieder reguliert oder versagt zu regulieren, eine der beeindruckendsten Erfahrungen überhaupt ist […] Selbstobjektfunktionen in der Gruppe haben spezifisch mit der intensiven und folgerichtigen Regulierung von Affektzuständen zu tun und müssen klar von einfachen positiven, mitfühlenden Funktionen unterschieden werden« (Paparo u. Nebbiosi 2004, S. 173). Gleichzeitig mit der mütterlichen Funktion der sicheren Bindung beziehungsweise, selbstpsychologisch verstanden, der Selbst-Objekt-Funktionen (durch die Kohäsion der Gruppe) sind auch »wiederholende Übertragungen« möglich (aufgrund der globalen Selbst-Objekt-Übertragung auf die ganze Gruppe) und können bearbeitet werden. »Die wiederholten Interaktionen und präziser die Affektzustände der Interaktionen können schrittweise neue organisierende Prinzipien in den individuellen Mitgliedern schaffen.« Es handelt sich sowohl um wiederholte Interaktionen der Affektverarbeitung und Regulierung, die internalisiert werden, als auch um »fortlaufende empathische Interaktion« (S. 183).
Metakommunikation Mit der Kommunikation über die Interaktion, dem Neben-sichTreten und Reflektieren, was geschieht und (gerade) geschehen ist, ist natürlich als ein zentrales Element jeder Therapie beschrieben. Für Patienten mit eingeschränkter selbstreflexiver Funktion
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(vgl. Zwiebel 2005, S. 87), fehlender Introspektion, mangelnder »therapeutischer Ich-Spaltung« bedeutet die Gruppe jedoch insofern einen unschätzbaren Vorteil, als sie nicht unbedingt selbst beteiligt sein müssen (wenn sie vor der Selbstreflexion entweder zu viel Angst haben oder noch unfähig dazu sind), vielmehr können sie, im Extremfall ein oder sogar mehrere Jahre, beobachtend partizipieren und die metakommunikativen, dadurch auch affektregulierenden Auseinandersetzungen anderer Gruppenmitglieder und deren wiederkehrende Muster internalisieren. Den Mangel an selbstreflexiver Funktion und anderer mentaler Fähigkeiten des Borderline-Patienten betont auch Pines: »The borderline-patient has not developed certain higher-levelstructures and functions of the mind. One of these functions that is essential for psychic growth is what Schafer (1968) has called the reflective self-representation, by means of which we know we are the thinkers of our own thoughts (Bach, 1980). When this is established we have the capacity to objectivize thought and to know that a thought is a thought; we are in a position to know and to say ›I think, I believe, I feel, I remember, I see, etc. […]‹ If this capacity for reflective self-representation is suspended or unavailable, the thinker vanishes but the thought remains. The thought is now a thing, an event, a concrete external reality, for there is no thinker to know it for what it is« (1990, S. 36). Hier sehen wir ein Beispiel für Desymbolisierung oder fehlende Symbolisierung: Der Gedanke ist konkret, eine Tat, ein Ding. In der Einzelsituation würde der Patient vielleicht »A« sagen, der Therapeut würde sich bemühen, in verdaulicher Form ein »B« dagegenzusetzen, der Patient, der das nicht ertragen könnte (es als Angriff oder Intrusion erleben würde), antwortete: »Nein!« In der Gruppe könnte eine solche Sequenz so aussehen: Patient 1 sagt: »A«, Patient 2 entgegnet modifizierend: »B«, Patient 1: »Nein!« Nun relativiert Patient 3: »Ja, aber …«, und jetzt diskutieren Patient 2 und Patient 3, andere beteiligen sich auch, und Patient 1 hört sich das an und identifiziert sich, womit er will, und mit dem, was er zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung ertragen kann. Er beobachtet ein Drittes, außerhalb seiner selbst, das er in einem selbstbestimmten Maße identifikatorisch in sich aufnehmen kann. Dieser Mechanismus erlaubt
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die Entwicklung des »Second-order-believe« (vgl. Dornes 2004, S. 188) in der Gruppe. »Ich glaube, dass er glaubt, dass sie traurig ist, aber ich denke, sie ist nur verstockt.« In der anschließenden Gruppendiskussion würde dieser Glaube zweiter Ordnung dadurch, dass die beiden Anderen ja anwesend sind, relativiert werden können. Es stellte sich heraus, dass der erste »Glaubende« die verborgene Realität der Anderen realistisch erfasst hat, es könnte sich herausstellen, dass er völlig danebenliegt, zum Beispiel seine eigene Traurigkeit in die Andere projiziert hat und dazu den Anderen, dem er den Glauben erster Ordnung unterstellt, benutzt hat. Entweder taut nun die »Verstockte« auf, weil sie es nicht aushält, dass über sie spekuliert wird, oder die Diskussion der anderen Gruppenteilnehmer schützt sie, indem sie sie so sein lässt, während sie gleichzeitig eine größere Wahrscheinlichkeit über ihr inneres Befinden erarbeitet, als es der erste »Glaubende« allein erreichen konnte. Wenn Borderline-Patienten hypersensibel für das Mentale anderer sind (s. o.; z. B. Dornes 2004, S. 191), nicht aber für das eigene, und diese ihre Fähigkeit auch nicht für die Organisation des eigenen Selbst verwenden können, dann ist diese Sensibilität in der Gruppe höchst wertvoll, und die metakommunizierende Gruppendiskussion modifiziert die Organisation der hypersensiblen Wahrnehmung, die nun ihrerseits als »organizing pattern« internalisiert werden kann und einen Fortschritt der Mentalisierungsfähigkeit bedeutet.
Regulation durch den Gruppenleiter An diesen konstruierten Beispielen kann man sehen, dass das Gruppengespräch selbstregulierend ist, jedenfalls im Prinzip; Entgleisungen kommen natürlich vor, entweder weicht die freie Gruppenassoziation einer unbewussten lähmenden Vereinbarung, nur bestimmte Themen in bestimmten affektiv eingeebneten Vortragsmodi zuzulassen (»emotionaler Konformismus«), oder die Gruppe ist nicht in der Lage, eine Stagnation durch einen besitzergreifenden, zeitraubenden monologisierenden Vortrag eines Einzelnen in eine Gruppendiskussion zu verwandeln (Gruppenwiderstand). Natürlich kann auch ohne einen solchen
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Gruppenwiderstand ein einzelnes agierendes Gruppenmitglied das Thema immer wieder an sich reißen. Die freie Gruppenassoziation, das selbstregulierende Gruppengespräch zeigt eine genügend kohärente Gruppe an, und eine Voraussetzung ist, dass der Rahmen genügend sicher ist, das heißt die ursprünglichen Vereinbarungen des Gruppenleiters mit den Mitgliedern (s. Hirsch 2004a, S. 242) genügend eingehalten werden, worüber wiederum der Leiter verantwortlich wacht (häufig aber auch positiv identifizierte Gruppenmitglieder, die ungestört arbeiten wollen). Weitere Aufgaben des Leiters sind das Setzen von Grenzen, insbesondere wenn aggressive, beschämende, manchmal obszöne Angriffe jedes tolerierbare Maß überschreiten. Der Leiter verhindert oder ächtet auch grobe Missachtung der Gruppenregeln, wie habituelle Unpünktlichkeit, Fehlen ohne vorherige ausführliche Diskussion darüber, offenes Verweigern der impliziten Vereinbarung, einerseits den anderen zuzuhören, andererseits sich selbst um Offenheit zu bemühen. Der Leiter wird auch versuchen, ein von einem Einzelnen allzu extensiv ausgebreitetes Thema auf die ganze Gruppe zu beziehen, wenn möglich auf eine unbewusste Gruppenphantasie, er wird auch versuchen, andere, schweigende Gruppenmitglieder zu ermuntern beizutragen, wenn er weiß, dass sie mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. So wird der Gruppenleiter mehr »väterliche« Aktivitäten entfalten und den Rahmen, die Kohäsion und das Wir-Gefühl erhalten helfen, so dass die mehr »mütterlichen« Aktivitäten der Gruppe wie spielerische Interaktion, Kreativität und gewährende Toleranz sich umso besser entfalten können. Es ist aber wichtig, bei Überschreitungen formaler Grenzen auf die Gegenübertragung zu achten, auch die Gegenübertragung der ganzen Gruppe2 beziehungsweise einzelner Mitglieder; emotionale Reaktionen auf ein bestimmtes Verhalten eines Gruppenmitglieds können sehr unterschiedlich sein, je nach Art der Identifikation in der Gegenübertragung (Racker 1957), also 2 Wenn es eine Übertragung auf die Gruppe als ganzer gibt, wird es auch eine Gruppen-Gegenübertragung geben; die Gruppe wird eine Art Konsens von Affekt und Einschätzung einem Gruppenmitglied gegenüber entwickeln.
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der beziehungsmäßigen Standpunkte, die jeder je verschieden einnimmt. Manchmal kann der Leiter auch eine negative Gegenübertragungsreaktion, deren Äußerung zu verletzend wäre, durch die Erinnerung an positive Gefühle in ähnlichen Situationen gedanklich metabolisieren, so dass er implizit Grenzen setzt, ohne das agierende Gruppenmitglied zu verletzen. Ein neues Gruppenmitglied, Detlef, ein »trockener Alkoholiker«, bringt zu seiner zweiten Sitzung eine große Kanne Tee mit, schenkt sich von Zeit zu Zeit ein und trinkt gemächlich. Mein Gegenübertragungsgefühl entspricht meinen Gedanken: »So geht das aber nicht …, das ist nicht unser Stil, hier wird gesprochen …« Ich habe das Gefühl, die Gruppe, die nicht verbal reagiert, aber auf mich seltsam unruhig wirkt, schützen zu müssen, und entscheide mich mit Hilfe eines Bildes zu intervenieren: »In einer anderen Gruppe gab es einmal ein ›Mädchen‹, Antonia, nun ja, mit ihren 30 Jahren war sie nicht wirklich mehr ein Mädchen. Sie schaffte es einfach nicht, 100 Minuten Gruppensitzung durchzuhalten, ohne zu essen, packte manchmal ihr Brot aus und biss hinein. Über lange Zeit kam sie fast immer zu spät, manchmal schlief sie sogar ein, aber wir hatten alle wohlwollend-mütterliche Gefühle, dass sie das brauche, und ließen sie gewähren.« Jetzt fragt ein Gruppenmitglied: »Dann muss sie ja dick gewesen sein, wenn sie immer essen musste?« – »Ja, sie hatte richtigen Babyspeck …« Die Gruppe lachte, war nicht mehr unruhig, und der Neue hörte auf, Tee zu trinken.
Grenzüberschreitungen: Konkretes Handeln statt verbaler Interaktion Destruktives Agieren hat immer auch Kommunikationscharakter, und sehr häufig dient es der Angstabwehr (lieber Täter als Opfer sein). Ein Beispiel für massive Grenzverletzungen und ihre Integration in einer Jugendlichengruppe teilt Federici-Nebbiosi mit: Mario, aufgefallen durch sein arrogantes Verhalten in der Schule, wollte an der Gruppe mehr aus Neugier als aus wirklichem Wunsch nach Veränderung teilnehmen. Er war immer zerstreut und gelangweilt, hörte anscheinend nie zu, stand oft auf und ging im Raum herum. Einmal öffnete er das Fenster und begann, mit den kleinen Kindern auf einem benachbarten Spielplatz zu plaudern. Die Gruppenleiterin rief ihn mehrmals zurück und sagte ihm, er solle das
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Fenster schließen; Mario fuhr aber fort zu versuchen, mit untauglichen Mitteln Aufmerksamkeit zu bekommen, doch im Gegensatz zu seinen anderen Gruppen achtete hier niemand auf ihn. Da sagte er: »Ich will aufhören, ich komme nicht mehr.« Die Gruppenleiterin sagte ihm, er sei frei, sich so zu entscheiden, wie andere Gruppenmitglieder es vorher getan haben, aber es sei für ihn wichtig, jedem seine Gründe zu erklären. Die Gruppenmitglieder nahmen ihn nicht ernst, dachten wahrscheinlich, es sei wieder ein Versuch, Aufmerksamkeit zu bekommen. Aber die Gruppenleiterin nahm seine explizite Mitteilung ernst (und wollte wohl auf die Einhaltung der Gruppenregeln achten, M. H.) und forderte die Gruppenmitglieder auf, Mario zuzuhören. Als die ganze Gruppe auf ihn sah, wurde Mario verlegen, und sein affektiver Zustand veränderte sich; während er vorher gelangweilt und aggressiv war, war er nun schüchtern und wirkte verloren. Die Gruppenleiterin sagte zu ihm »with affection«, es sei schlimmer, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und über ernste Sachen zu reden, als wenn er bloß herumspielte. Mario nickte mit einem Lächeln und wandte sich mit entspannterem Gesicht der Leiterin zu, die überrascht war, dass sein linkes Auge, das gewöhnlich in der Blickrichtung leicht abwich, perfekt koordiniert war. Nun nahm Mario zusammen mit der Gruppe die Diskussion über die Zustimmung, an der Gruppe teilzunehmen, auf, besonders, was es bedeutet, authentisch dabei zu sein. Mario versicherte, dass er weiter bleiben wolle, und konnte sich konstruktiv und verständnisvoll einem anderen Gruppenmitglied zuwenden. Indem die Therapeutin die explizite verbale Kommunikation ernst nahm als etwas, das den Zustand der Gruppe beeinflussen konnte, öffneten sich Kanäle der interaktiven Regulation, die wiederum einen positiven Einfluss auf Marios individuelle Selbstregulation (entspanntes Gesicht, koordiniertes Auge) hatten. Sobald Mario das Gefühl erworben hatte, zur Gruppe zu gehören, war er sofort zu Empathie und konstruktivem Beitrag in der Lage (Federici-Nebbiosi 2003, S. 729f., Übersetzung M. H.).
Der Äquivalenzmodus des Erlebens unterscheidet nicht zwischen dem, wie man den Anderen empfindet, und seiner Wirklichkeit, und das macht es praktisch unmöglich, Übertragungen als solche zu erkennen. Der Borderline-Patient muss besonders heftig auf dieser Gleichsetzung bestehen, wenn sein Erleben des Anderen auf der Projektion des eigenen fremden Selbstanteils, den er unbedingt loswerden muss, beruht. Es kommt dann zu einer Konfusion der heftigen Affekte, sowohl was ihren Ursprung beziehungsweise ihre Lokalisation als auch was ihre Qualität be-
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trifft. Man kann sich kaum vorstellen, dass in einer Einzelbeziehung eine derartige Heftigkeit der Affekte, die Verwirrung über ihre Qualität und ihren Ursprung, sowie die Notwendigkeit der Projektion auf das Gegenüber aufgelöst werden kann. Hier ein Beispiel aus der Täter-Opfer-Gruppe, über die ich an anderer Stelle berichtet habe (Hirsch 2003)3. Martha kommt 45 Minuten zu spät in die Sitzung, sie ist völlig abgehetzt und versucht, sich entschuldigend, längere Erklärungen loszuwerden, die natürlich in den laufenden Prozess überhaupt nicht passen. Ich begrenze sie, und sie ist still. Offenbar kann sie aber nicht vertragen, keine Aufmerksamkeit zu bekommen, und fängt an, massiv zu provozieren. Als sie Grenzen von Wiltrud bekommt (etwa: »Komm, wir sind hier ganz woanders …«), mit der sie eine lange, rivalisierende Schwesternbeziehung hat, schreit sie sie aufgeregt an: »Fick dich doch ins Knie!« Ich begrenze sie streng, sie wisse, dass das hier nicht gehe und eine absolute Grenzüberschreitung sei. Sie verteidigt sich etwas trotzig, das habe sie von ihren Schülern, das müsse sie sich jeden Tag anhören, das könne man schon einmal ertragen und so weiter. Aufgrund meiner Gegenübertragung finde ich das ganze Theater auch nicht so destruktiv, auch die Gruppe regt sich nicht weiter auf, jemand sagt etwa: »Das geht aber jetzt zu weit«, aus der Peer-Perspektive. Ich entschließe mich, den Angriff zu unterlaufen und ihn metabolisierend zu verwandeln, indem ich sie frage, wie es denn Wiltrud als Frau machen soll, das Sichin-das-Knie-Ficken, schon für einen Mann könnte ich es mir schwer vorstellen … Da habe ich natürlich die Lacher auf meiner Seite, die Gruppe schließt sich in diesem Lachen zusammen, auch Martha eingeschlossen. Nun kann ich interpretieren, dass Martha wohl wegen ihrer Wut, ohnmächtig im Stau zu stehen, auch wegen ihrer Schuldgefühle, zu spät zu kommen, nicht ertragen konnte, dass ihr Zuspätkommen einfach übergangen wurde, und sie sich deshalb mit untauglichen Mitteln in den Mittelpunkt setzen musste.
3 Die Wiedergabe der Gruppensituationen beruht auf Protokollen, die jeweils ein Gruppenmitglied für eine bestimmte Sitzung geschrieben hat. Meist sind die Gruppenprotokolle hochrelevant und ermöglichen es, die Interaktion und den Gruppenprozess sehr authentisch zu rekonstruieren. Trotzdem gibt es natürlich manch individuelle Färbungen beim Übertragen der während der Sitzung gemachten Notizen in das fertige Protokoll.
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Das lief nach dem Äquivalenzmodus ab: Es war ihr Gefühl, sie müsse beachtet werden, und zwar sofort, und das wurde wie eine sichere Realität erlebt, also war auch die Nicht-Beachtung eine reale Zurückweisung. Mit dem ebenso als völlig berechtigt empfundenen Gefühl: »Alle sind gegen mich« konnte sie ihre aggressiven Provokationen starten, sie hatte ja nichts zu verlieren, auch ihre Schuldgefühle waren nicht mehr nötig, denn die Anderen lehnten sie so oder so ab. Nun richtete sich der Ärger der Gruppe tatsächlich gegen sie, denn ihre Wut und ihre Schuldgefühle hatte sie durch projektive Identifikation an die Gruppe delegiert (der Ärger war draußen, die Schuldvorwürfe kamen auch von draußen, allerdings nicht so stark, wie sie es wohl erwartet hatte, deshalb musste sie ja weiter provozieren), und sie war entlastet. Meine Intervention verstehe ich als spontanes Modifizieren des Spiels (Dornes 2004, S. 185) – aus Marthas affektgeladener, grenzüberschreitender Metapher habe ich – ironischerweise zur Abwechslung desymbolisierend – konkretisierend den Affekt entschärft, aus dem Angriff gegen Wiltrud herausgenommen, denn dieser war wohl eine Verschiebung von mir auf Wiltrud, weil ich im Empfinden von Martha die ganze Gruppe hätte stoppen sollen, damit sie Aufmerksamkeit bekommt, und ich wäre auch derjenige gewesen, der ihr in ihrer Erwartung Vorwürfe wegen des Zuspätkommens gemacht hätte. Das ein gemeinsames Gruppengefühl schaffende Lachen kann man wohl als »emerging property« verstehen; Federici-Nebbiosi (2003, S. 718) bezieht diesen Begriff Sterns auf die Gruppe, mit dem er einen neuen Zustand in dynamischen Systemen beschreibt, der während einer dynamischen Interaktion erscheint. Federici-Nebbiosi versteht das, auf die Gruppe bezogen, als ein Moment, ein Wir-Gefühl zu erreichen, das Gefühl einer geschlossenen Gruppe aufgrund von Gruppenregulation.4
4 Martin Grotjahn (1977/1979, S. 216) hat einmal gesagt: »In einer Therapiegruppe, in der nicht gelacht wird, stimmt irgendetwas nicht.« Lachen wäre also ein Zeichen für Gruppenkohäsion, aber ein (befreiendes) Lachen kann diese auch erst herstellen.
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Geraume Zeit später kommt es in der derselben Gruppe zu einer ähnlichen aggressiven Grenzverletzung: Michaela, eine Krankenschwester, hatte Wiltrud (wieder Wiltrud, die offenbar leicht SchwesterÜbertragungen auf sich zieht) in der Sitzung zuvor übelst beschimpft – voller Wut hatte sie fast den Raum verlassen –, weil sie sich eine Unterstellung durch Wiltrud nicht bieten lasse, nämlich dass sie eifersüchtig auf ihre Schwester gewesen sein solle, eine Unverschämtheit; Wiltrud solle vor ihrer eigenen Türe kehren und sich solche Bemerkungen gefälligst schenken! (Leider gibt es von dieser Sitzung kein Protokoll, aber von der folgenden.) In der Sitzung darauf, nachdem die Gruppe sich eingangs darüber unterhalten hat, ob es möglich sei, neben der Gruppe noch eine andere zum Zweck der beruflichen Fortbildung zu haben, und ob das nicht den Vertragspunkt, dass alles Relevante in der Gruppe zu geschehen habe, verletzen würde, sagt Michaela: Ich habe es letzte Woche hier so unangenehm erlebt. Es hat mich so aufgewühlt, und ich habe mit meinem Oberarzt darüber geredet. Dr. H.: Damit haben Sie aber nun wirklich eine Grenze überschritten, man muss darüber nachdenken, was das bedeutet. Michaela: Die letzte Sitzung war so spannungsgeladen, von einigen Gruppenmitgliedern grenzüberschreitend. Sie (Dr. H.) sahen mich an, als dürfte ich keine Gefühle haben. Ich hatte noch zwei Tage lang Herzrasen. Es war viel Destruktives im Raum, ich war über Wiltrud gekränkt, weil sie behauptete, dass ich neidisch auf meine Schwester gewesen sei. Dieter: Ich habe es in einem alten Protokoll noch einmal nachgelesen, dass du (Michaela) auf deine Schwester tatsächlich total eifersüchtig warst. Dr. H.: Neid und Eifersucht sind zwar verwandt, aber nicht identisch; neidisch ist man auf jemand Anderen, zur Eifersucht gehören aber drei. Offenbar versuche ich, eine mögliche erneute Eskalation zu verhindern, indem ich eine sachliche Ebene wähle und erst einmal verschiedene Affekte differenziere. Michaela: Meine Schwester war in der Kindheit extrem rivalisierend. Meine Schwester wurde schamlos bevorzugt. Ich bin sehr eifersüchtig. Renate: Aber warum ist das denn von uns so ein Angriff? Michaela: Weil, Neid ist so ein niederträchtiges Gefühl. Das kann schon mal in Hass ausarten. Das möchte ich mir nicht anhängen lassen. Renate: Aber Neid und Hass, das ist doch ’was Verschiedenes? Michaela: Wenn ich ’was nicht habe, was andere haben, das macht mich traurig.
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Michaela kann offenbar in keiner Weise zwischen verschiedenen Gefühlsqualitäten differenzieren, Eifersucht, Neid, Hass und sogar Trauer werden in einem Atemzug genannt, noch dazu gleichzeitig verneint (keine Eifersucht – Eifersucht). Johanna: Das kann aber doch auch fordernd, anspornend sein. Michaela: Für mich war das negativ. Dr. H.: Sie waren doch in der letzten Sitzung wie von der Tarantel gestochen. Michaela: Ich habe mich attackiert gefühlt. Meine Schwester ist elfeinhalb Monate jünger als ich; jetzt spielt sie keine Rolle mehr, denn ich habe seit 20 Jahren keinen Kontakt mehr zu ihr und habe seitdem nicht mehr mit ihr geredet. Dr. H.: Aber haben Sie denn nicht begriffen, dass die frühen Erfahrungen prägend sind und Ihr Erleben heute beeinflussen? Michaela: Ich war einmal so eifersüchtig, dass ich meine Schwester vor die Wand geknallt habe, da war sie verletzt und hat geblutet. Meine Mutter war von Gefühlen gesteuert [!] und hatte keinen Gerechtigkeitssinn. Ich habe mein ganzes Leben darunter gelitten, dass sie meine Schwester bervorzugt hat. Detlef: Worunter hast du denn mehr gelitten, unter der Mutter oder unter der Schwester? Michaela: Meine Schwester sagte: »Dich mache ich direkt platt, du bist keine Konkurrentin für mich.« Ich war im Abstellraum eingesperrt. Michaela knallt die Schwester vor die Wand, aber in ihrem Erleben umgekehrt: Die Schwester macht Michaela »direkt platt« … Die Selbst-Objekt-Grenzen sind aufgehoben; die Gruppe arbeitet an der Selbst-Objekt-Differenzierung. Weiter Michaela: Ich habe das im Bekanntenkreis gesehen, je näher die Geschwister liegen, desto unterschiedlicher sind sie. Meine Schwester ist elf Monate jünger als ich. Meine Schwester hat sich nicht mit Emotionen belastet. Die geht über Leichen, sagten ihre Freunde. Nur wenn sie Angst bekam, dann wurde sie gefährlich. Die Schwester erscheint böse, weil sie bevorzugt wurde; eigentlich ist umgekehrt die Patientin böse, dass die Schwester bevorzugt wurde. Daher wohl das Einsperren in den Abstellraum, was natürlich eine indiskutable, aber wohl nicht grundlose Maßnahme war. Martha: Was hat sie denn Böses getan? Was du erzählst, hört sich doch nicht so schlimm an. Michaela: Konkret Böses kann ich nicht sagen. Meine Schwester hat so viel Liebe und Geborgenheit abgekriegt. Und als ich auszog, kam sie heulend angerannt. Bettina: Aber das ist doch komisch, weil, ihr ging es doch auch nicht gut.
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Michaela: Sie hat sich mit unserer Mutter gegen mich verbündet. Es ging um Anerkennung. Wer ist besser und schöner. Sie hat ihr Leben gelebt, ich meins, und bei Treffen sind wir uns immer aus dem Weg gegangen. Ich fand sie übermächtig, nicht schlagbar. Ich habe dann einen Panzer um mich herum gelegt, einen Schutzpanzer. Von meiner Mutter habe ich Hass und Frust abgekriegt. Die letzten Jahre zu Hause waren nicht mehr zu ertragen. Meine Mutter wurde immer schlimmer. Sie sagte mal: »Ihr habt mir das Leben schwer gemacht.« Renate: Ich werde schwindelig. Du redest immer nur von deiner Mutter und deiner Schwester. Aber wo ist dein Frust? Dr. H.: In der letzten Sitzung ist alles wieder auferstanden mit Frau Waldheim (Wiltrud) als der Schwester und auch mit mir, ich war die Mutter, die zu der Schwester gehalten hat. Und außerdem musste ich die Grenzen der Gruppe schützen. (Ich wende mich an Frau Waldheim): Wie geht es Ihnen denn, bei dem ganzen Familientheater hier? Eigentlich hätte es durch die Intervention von Renate jetzt tatsächlich um den »Frust« Michaelas gehen können. Offenbar hatte ich aber eine Ahnung, dass Michaela nicht einfach zu einer bewussten und verbal ausdrückbaren Einsicht in der Lage war, obwohl implizit durch die Gruppendiskussion und das geduldige Explorieren der Familiensituation (deren heftige Übertragung auf die Gruppe wir ja erlebt hatten) sehr vieles von Michaelas Situation deutlich und von ihrer Reaktion verständlich geworden war. Wiltrud: Mir ist das nicht unbekannt, dass ich immer den Familienfrieden störe. Diese Antwort konnte ich natürlich nicht voraussehen, aber rückblickend bin ich froh und dankbar, denn Wiltrud hat nicht die Gelegenheit benutzt, ein bedauernswertes Opfer zu sein, die gute Schwester, die von der bösen Michaela angegriffen wurde und immer noch darunter leidet, sondern hat einen eigenen Anteil in der Störung durch Michaela in sich gefunden, nämlich auch eine Störerin gewesen zu sein, für den sie jetzt die Verantwortung übernimmt, womit sie – unbewusst netterweise – Michaela aus der Täterrolle weiter herausholt. Martha: Das kenne ich auch. Gib der doch nicht so viel Macht (offenbar der Mutter), habe ich mir gesagt, und dann ging es wieder. Jetzt ist mir das wieder mit dem Gesangslehrer passiert (Martha hatte sich in den Gesangslehrer verliebt und eine Abfuhr erhalten). Ich habe dann ein Glas Wein getrunken. Ich hatte lange daran zu knacken. Detlef: Das kenne ich auch. Es war richtig, dass ich damit konfrontiert wurde. Leid, Elend, Schuldgefühle, das war damit verbunden.
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(Er meint die hochambivalente Beziehung zur alkoholkranken Mutter, mit der er sich einerseits – selbst Alkoholiker – sehr identifiziert hatte, sie andererseits als Adoleszenter heftig, auch tätlich attackiert hatte.) Ich habe mich so verbohrt, dass ich beim Tod meiner Mutter nicht aus dem Urlaub zurückgekommen bin. Die Gruppe bearbeitet offenbar implizit – und es muss auch in gar keiner Weise explizit ausgesprochen werden, es wirkt auch so –, wie die inadäquate mütterliche Versorgung zu einer Introjektion des Defizits und zur Entstehung von teils überwältigender Aggression geführt hat. Den großen Fortschritt sehe ich darin, dass gleich drei Gruppenmitglieder nicht etwa Opfer dieser »Mütter« bleiben, sondern sich aus der Opferrolle lösen wollen, indem sie die Verantwortung für die eigene Aggression (»Störenfried«) übernehmen: »Das kenne ich auch.« Michaela, die noch gar nicht lange in der Gruppe ist, kann sich dazu noch längst nicht durchringen, hat aber in der Haltung der Anderen ein Identifikationsangebot, das sie vielleicht anfänglich schon ein bisschen beschnuppern kann. Sie schließt diese Sequenz der Gruppensitzung vorwurfsvoll: Michaela: Und dann sagen Sie, Dr. Hirsch: »Und Sie sitzen hier so siegessicher« [in der letzten heftigen Sitzung, in der sie die »Täterin« war], dabei ging es mir überhaupt nicht so, mir ging es sauelend. Was Sie gesagt haben, das war wie ein Gnadenstoß [!], der ging nach hinten los. Das kann ich jetzt gut ertragen, dass ich noch immer die Mutter bin, die ihr den Rest gibt und die Schwester bevorzugt.
Metabolisierung der Aggression Man kann nicht annehmen, dass eine derartig heftige Borderline-Aggression in kurzer Zeit integriert wird; man geht im Gegenteil von jahrelangen Entwicklungen aus. Zwei Monate später griff Michaela, die Krankenschwester, ein schweigsames, sehr zurückhaltend wirkendes Gruppenmitglied, Bettina, an, nachdem diese sie gefragt hatte, was das denn für ein Medikament sei, das sie, Michaela, nehmen müsse, worauf Michaela explodiert war: Mit Leuten, die das nicht wüssten, verkehre sie überhaupt nicht und rede kein einziges Wort mit ihnen! In der folgenden Sitzung fehlte Michaela ohne Nachricht; es wird nicht nur mein Gedanke gewesen sein, dass sie wortlos abgebrochen haben könnte. In ihrer Abwesenheit metabolisiert die Gruppe nun die Wut der vorangegangenen Sitzungen, wobei Johanna im Mittelpunkt
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steht, die dem aufwühlenden Geschehen offenbar nichts anderes entgegensetzen kann als den Wunsch, die Gruppe zu verlassen: Renate fängt an, vom letzten Einzelgespräch (sie ist in kombinierter Einzel- und Gruppenpsychotherapie) zu berichten, in dem klar geworden sei, dass sie mit ihren Gedanken eigentlich lieber allein bleiben möchte, die ihr die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ersparten. Johanna (die ebenso in kombinierter Therapie ist): Ich habe ähnliches am Mittwoch von Dr. Hirsch gesagt bekommen, auch, dass ich mich mit meinen Gedanken verstricke und mir alles selbst erst genau erklären will, bevor ich darüber spreche. Dadurch bin ich zu dem Schluss gekommen, ich müsste aufhören mit der Gruppe, weil ich nicht weiterkomme. Und ich habe entdeckt, dass dieser Entschluss auch mit Michaela zu tun hat, weil ich mich in der Gruppe nicht wohl fühle, seitdem sie da ist. Mir ist klargeworden, dass sie mich an meine Mutter erinnert. Für die waren auch alle blöd, nur sie selber nicht. Und ihre (Michaelas) Art, ständig alle in der Gruppe abzuwerten, hat mich abgehalten, mich zu äußern, weil ich mich immer angegriffen gefühlt habe. Martha: Das geht mir so ähnlich, ich komme mit der auch nicht klar. Johanna: Das war mir auch alles zuviel, mich auseinandersetzen zu müssen. Auch als sie dich (zu Bettina) so angegriffen hat, da hab’ ich innerlich gezittert vor Wut. Wiltrud: Mich wundert nur, dass du dann nichts sagst, wenn es dich so mitnimmt, dich nicht artikulierst. Mich macht das ganz nervös, weil man ja doch merkt, dass du innerlich kochst. Wiltrud fordert Johanna auf, ihre Wut zu verbalisieren, damit sie nicht – handelnd – die Gruppe verlassen muss. Johanna: Ich hab’ dann das Gefühl, die lässt mir keinen Platz, nimmt allen Raum selbst ein, und für mich bleibt nichts. Martha: Aber das ist ja dann eine Herausforderung für dich, dich zu behaupten. Da kannst du dich auch mit den Gefühlen deiner Mutter gegenüber auseinandersetzen, kannst lernen, dich abzugrenzen und loszulassen. Das kann Martha sehr überzeugt Johanna empfehlen, nur, bis sie es selbst beherrschte, war es und ist es immer noch ein weiter Weg … Anna: Ich hab mir das schon gedacht, dass da ein Zusammenhang ist zu Michaela. Du hast ja gesagt, dass du ab Sommer, seit sie hier ist, die Idee hattest, dass du gehen willst. Ich finde es schade, dass du ihretwegen aufhörst, dich quasi rausdrängen lässt. Dr. H.: Ja, Sie ihr sozusagen den Vortritt ließen, nach dem Motto: Es ist kein Platz für uns beide, dann lass ich ihr den Raum. Detlef: Also ich hätte auch ein großes Problem damit, wenn je-
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mand wegen Michaela gehen würde. Ich hab mit der ja nicht so ein Problem, weil: mich macht sie ja nicht an. Sie will auch immer den Eindruck erwecken, dass sie es gar nicht nötig hat, hier zu sein. Dabei hat sie es meiner Meinung nach am meisten nötig. Aber ich habe da jetzt schon ein Problem, über sie so zu reden, weil sie ja nicht da ist – zumal sie mir gegenüber ja immer positiv eingestellt ist. Dr. H.: Ja, in alltäglichen Gruppen wäre das eine Forderung der Höflichkeit, aber die Konventionen gelten hier nicht, wir haben eigene Regeln: Jeder darf und soll immer über alles sprechen, was ihm durch den Kopf geht. Außerdem sind es doch nur Ihre Bilder, die Sie von Michaela haben, über die Sie miteinander reden. Anna: Sie vermittelt immer den Eindruck, hier nicht richtig zu sein, was Besonderes zu sein, einen Sonderstatus zu haben, als würde sie als Psychiatrie-Schwester eine Selbsterfahrung machen. Dr. H.: Wahrscheinlich braucht sie in jeder Gruppe einen Sonderstatus, mit dem Gefühl, dass sie eben keiner versteht. Aber wo ist sie eigentlich? Sie hat sich nicht abgemeldet – vielleicht will sie uns einfach einmal die Gelegenheit geben, uns über sie auszusprechen. Martha: Mir geht das ja auch so mit ihr, dass ich mich bedrängt und abgewertet fühle, und ich fand das ganz stark von Bettina, dass du ihr das so offen gesagt hast in der letzen Stunde, dass dich das nervt. (Bettina hatte kreidebleich, buchstäblich zitternd allen Mut zusammengenommen und sich dagegen verwahrt, so angegriffen zu werden.) Ich weiß noch von früher, da war ich auch so aggressiv, da haben andere auch schon mal angefangen zu weinen wegen mir. Das konnte ich jetzt verstehen, wie die sich gefühlt haben, dass sie sich von mir bedrängt gefühlt haben früher. Und jetzt habe ich mich selber so gefühlt, so hilflos angesichts ihrer Aggressivität. Für mich ist das so keine Therapieatmosphäre! Das ist eine wunderbare Formulierung, mit der Martha mitteilt, dass sie verstehen gelernt hat, wie die damals von ihr Angegriffenen sich gefühlt haben, weil sie sich in der Therapiesituation selber so gefühlt hat. Das mag für sie nicht angenehm sein, aber eigentlich ist es eine sehr gute »Therapieatmosphäre«. Wiltrud: Ich überlege oft, etwas zu sagen, aber ich traue mich nicht, weil sie dann über mich herfällt. Detlef: Aber wo soll man denn sagen können, was in einem ist, wenn nicht hier. Da kann man sich doch nicht von ihr dran hindern lassen. Renate: Und sie ist eben so, wie sie ist, und bekommt nur so viel Raum, wie man ihr auch gibt. Offenbar diskutiert die Gruppe, wie denn der Therapieraum beschaffen ist, wie man sein kann, sein müsste, und was die Gruppe zulässt; es geht also um die Gruppenkultur.
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Johanna: Ich frag mich oft, wo so viel Überheblichkeit herkommt, andere als dumm zu bezeichnen, nur weil sie ein Medikament nicht kennen. Unklar, warum Johanna zur konkreten Ebene zurückkehrt. Wiltrud: In gewisser Weise verstehe ich das. Das ist so eine Art Schutzfunktion. Ich war früher auch so arrogant, aber irgendwann habe ich gemerkt, dass ich mich damit abseits halte und schütze. (Wiltrud versteht die Abwehr Michaelas, weil sie sich in ihr wiedererkennt, aber die Abwehr nicht mehr nötig hat aufgrund ihrer Entwicklung.) Aber ich verstehe nicht, dass sie so gar nicht merkt, was sie da tut, dass sie jede Stunde aufs Neue andere angreift, ohne was zu merken oder sich zu fragen, ob das nicht auch etwas mit ihr zu tun hat, dass das immer so geschieht und dass die Gruppe immer gleich auf sie reagiert. Bettina (das Opfer des Angriffs): Ich finde das aber auch irre, dass sie die Gruppe so aufmischt, weil man dadurch an Probleme rankommt, die man sonst gar nicht merken würde. Bettina, das Opfer, kann jetzt an dem destruktiven Angriff auf sie durch die Bearbeitung der Gruppe etwas Positives für sich entnehmen, denn es sind ja ihre Probleme, an die sie sonst nicht »rankommt«. Deshalb bestätige ich sie sofort: Dr. H.: Ja, zum Beispiel zu lernen, den Mund aufzumachen und nicht in die innere Emigration zu gehen, sich zurückzuziehen wie damals bei der Mutter. Da wird etwas aufgerührt von früher, wie bei Angela, die fast auseinandergefallen ist vor Angst und Wut, weil sie den Telefontäter hier in der Gruppe erlebt hat wie ihren Vergewaltiger – er war aber nicht der Vergewaltiger! Angela gehörte zu dieser Täter-Opfer-Gruppe, die in einem anderen Gruppenmitglied, einem Sexualstraftäter, ihren Vergewaltiger erlebt hatte, gegen den sie sich aber in der folgenden Sitzung heftigst hatte zur Wehr setzten können. Ich benutze die Geschichte, die einige Gruppenmitglieder noch miterlebt haben, die also ein Teil der Gruppengeschichte ist, um metaphorisch die Differenz zwischen Destruktivität in der Realität und im Erleben in der Übertragung (im Raum der Gruppe) zu bezeichnen. Renate (erinnert sich, dass Johanna zu Anfang der Stunde geäußert hatte, gehen zu wollen, und wendet sich an sie): Und bleibst du denn jetzt hier? Johanna: Ich würde es gerne, ja. Anna: Und was hat dich dazu gebracht, doch zu bleiben? Johanna: Dass ich spürte, dass meine Reaktion nicht echt ist. Ich hab’ dann auch einen schlimmen Traum gehabt, in dem ich meine Mutter auf dem Sterbebett gesehen habe, obwohl es ja mein Vater ist, der Krebs hat und bald sterben wird. Und da war alles so prä-
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sent, weil, da wusste ich, was mich stört an Michaela, das habe ich dann auch besprechen können und hab’ dann gemerkt, dass nicht ich falsch bin, wie ich immer denke. Und ich habe begriffen, dass ich mehr aus mir herauskommen sollte, anstatt alles schon vorher mir selbst erklären zu wollen. Sondern einfach das aussprechen, was in mir vorgeht, ohne alles schon perfekt präsentieren zu können. Am Mittwoch nach der Einzelstunde wäre ich am liebsten noch mal zurückgegangen, um zu fragen, ob ich bleiben darf. Ich habe wohl das Bedürfnis, dieses rührende Bekenntnis, durchaus aufgrund von Einsicht in die eigene Schwäche, aber auch aufgrund der Stärkung der Selbst-Objekt-Grenze (die Gruppendiskussion hat ihr das Gefühl genommen, falsch und schuldig zu sein, vielmehr das Problem bei Michaela lokalisiert) positiv hervorzuheben: Dr. H.: Sie haben verstanden, dass es darum geht, sich einfach zu zeigen mit dem, was ist, es auch von den Anderen beurteilen zu lassen, wie es auf sie wirkt, anstatt sich zu verbergen.
Michaelas Abwesenheit hat sicher dazu beigetragen, dass die Gruppe derart kreativ den destruktiven Angriff integrieren konnte und einige Gruppenmitglieder einen Gewinn für sich ziehen konnten. Ich bin überzeugt, dass eine solche Metabolisierung auch in Abwesenheit durchaus wirkt wie eine Interpretation, die man nur gedacht hat, die aber doch eine Wirkung hat, oder ein impliziter Gedanke in der Gruppe (s. o.), den man nicht ausgesprochen hat und auch nicht aussprechen muss, damit er eine Wirkung hat. Michaela gehört zu den Borderline-Patienten, die lautstark agieren müssen, ihre Angst, auch Neid, Eifersucht und Wut durch Projektion und projektive Identifikation abwehren müssen, so dass sie von der sozialen Umwelt genau das erreichen, was sie ursprünglich befürchten, sich aber entlasten, weil sie jetzt die »Ursache« gefunden haben, die nicht mehr innen, sondern außen liegt. Wahrhaft eine Schwester im Geiste ist Martha (vgl. das Beispiel ihres Zuspätkommens zu einem viel früheren Zeitpunkt), die jedoch Jahre länger als Michaela in der Gruppe ist und von diesem projektiven Modus längst weitgehend in einen selbstreflexiven gefunden hat. Sie sagt selbst, dass sie deshalb Michaela so gut verstehen kann. Bettina gehört zum Rückzugstyp, sie äußert sich wenig, hat mit der heftigen Reaktion von Michaela wohl genau das erlebt, was sie vermeiden möchte, hat aber durch die Gruppenreaktion einen deutlichen
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Rückhalt bekommen, während Michaela zwar keinen Rückhalt für ihr Verhalten, jedoch einen ständig wiederholten Beweis bekommt, dass sie trotz ihrer destruktiven, sozusagen antisozialen Mechanismen noch immer eine Existenzberechtigung hat. Darüber hinaus finden andere (Martha und Wiltrud) eigene Anteile in ihr, gegen die sie sich wiederum abgrenzen, so dass hier bereits eine Kreuz- und Gegenidentifikation (s. u.) stattfinden kann, denn auch Michaela kann sich identifizieren mit den Möglichkeiten zur Entwicklung reiferer Erlebens- und Umgangsformen, die zum Beispiel Martha nach und nach entwickeln konnte.
Die Gruppe als ganze Ein Bereich der Identifikation ist nicht so leicht zu verifizieren, wird jedoch eine beträchtliche Rolle spielen: Ich meine die Identifikation mit der Gruppenkultur, die Identifikation mit der Gruppe als Container, sozusagen als Verdauungsapparat für »böse« Objektphantasien und -repräsentanzen. Die Identifikation mit der Gruppenkultur, also dem nichtmoralischen, aber auf Authentizität und ehrlichem Bemühen bestehenden Gruppenkonsens ersetzt nach und nach feindliche und widersprüchliche Über-Ich-Strukturen, gerade auch weil sie (die Gruppenkultur) von den Gruppenmitgliedern repräsentiert wird (während der Leiter vielleicht am Beginn einer Gruppe die Normen des Umgangs und der Kommunikation vorgibt, später jedoch der Repräsentant der Einhaltung der – wichtigen – äußeren Regeln ist). Im Zusammenhang mit der Förderung von Symbolisierung und Mentalisierung durch die Gruppe ist ein Gedanke von Finger-Trescher interessant. Mit Lorenzer spricht die Autorin von »Sprachzerstörung in der Gruppe«, auch von »Sprachverzerrung«, die »einem Vorgang [gleicht], in dem die desymbolisierten Repräsentanzen des Einzelnen unter der Bedingung der für alle zeitlich und räumlich gleichen Gruppensituation sich in einer unbewussten kollektiven Phantasie zusammenschließen. Die bewussten verbalen Kommunikationssymbole werden zum Medium desymbolisierter Anteile, die ›Sprache‹ ist somit verzerrt. Daneben allerdings verbleibt ein Bereich nicht beschädigter
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symbolischer Repräsentanzen erhalten. Im gemeinsamen Gruppenprozess entwickelt sich hieraus ein ›symbolisches Gruppengefüge‹, das das eigentliche therapeutische Potential der Gruppe enthält. Das bedeutet nichts weniger, als dass das ›symbolische Gruppengefüge‹ als kollektive ›Ich-Leistung der Gruppe‹ in der Symbolisierungsfähigkeit dem Einzelnen vorauseilt, eine unbewusste, zu erarbeitende und bewusst zu machende Gruppenphantasie wirkt so als Vorbild und Identifikationsobjekt für den Einzelnen, der in seiner Symbolisierungsfähigkeit geschwächt ist« (1991, S. 149). Angst und besonders auch Scham eines einzelnen Gruppenmitglieds werden vermindert durch Gesamtgruppeninterpretationen, das heißt, das Agieren des Einzelnen wird als Ausdruck der Dynamik der gesamten Gruppe verstanden. Ein Beispiel findet sich bei Paparo und Nebbiosi (2004, S. 176): Ein schüchternes Gruppenmitglied hatte sich etwas in eine weibliche Teilnehmerin der Gruppe verliebt; als dieses Mädchen erzählte, dass ein anderes Gruppenmitglied sie angerufen habe, wurde der Schüchterne wütend und griff den anderen jungen Mann an: »Er habe sich betrügerisch verhalten, dabei drückte er intensive Rivalität aus.« Der Analytiker griff ein und bezeichnete den offenen Ausdruck von Rivalität als etwas sehr Wertvolles, was hier durch den guten Zusammenhalt der Gruppe möglich wurde. »Die Wichtigkeit der Interpretation mit Blick auf die Gruppe als Ganzes rief eine sehr viel ruhigere Atmosphäre hervor und machte […] eine detaillierte Analyse der Rivalität, die von allen Gruppenmitgliedern erfahren wurde […], möglich.« Ebenso entlastend wirkt die Interpretation des Verhaltens eines Gruppenmitglieds als Ausdruck seiner Rollenübernahme, der Übernahme einer typischen Rolle für die ganze Gruppe. Das betrifft besonders die schweigsamen, eher autistisch reagierenden Borderline-Patienten, die sich aufschaukelnd durch den Druck, unter den sie sich setzen, endlich zu sprechen, nur noch mehr verstummen machen. Solche Patienten sind erleichtert zu erfahren, dass es eben die Rolle des Schweigers gibt, genau wie andere, die als Sprecher der Gruppe fungieren, und wieder andere, die die in der Gruppe enthaltene Aggression ausdrücken. Die Identifikation mit der ganzen Gruppe, das heißt
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mit der Gruppenkultur und ihrer Internalisierung, also im Wesentlichen der Kultur einer nichtmoralischen Ethik, wie ich es nennen möchte, bedeutet natürlich für viele Patienten eine massive Über-Ich-Entlastung, besonders für solche, die aus Familien kommen, in denen die mehr oder weniger traumatisierende Deprivation und weitere Missbrauchskonstellationen wie narzisstischer Missbrauch und Parentifizierung verbunden waren mit strengen moralischen und Leistungsanforderungen.
Die Funktion der Triade Borderline-Patienten, die im Äquivalenzmodus reagieren müssen, unterscheiden nicht zwischen Gedanken und Vorstellung einerseits und Realität (des Anderen) andererseits. Jeder kennt den sich verschärfenden Dialog zwischen Therapeut und Patient, der sich über zwei völlig entgegengesetzte Auffassungen darüber entwickelt, was zum Beispiel in der letzten Stunde geschehen ist beziehungsweise gesagt wurde. Der Patient ist überzeugt: »Das haben Sie gesagt!«, weil er es so braucht und es sich deshalb so vorstellt, und nicht einmal eine Tonbandaufnahme wirkt als Argument (Köhler 2004, S. 169), auch keine Deutung des vermuteten Grundes der Gleichsetzung (von Gedanken und Wirklichkeit); als Einzeltherapeut kann man nur versuchen, die Situation zu überstehen beziehungsweise zu umgehen, indem man vielleicht mit einem »Ja, aber …« Erfolg hat, etwa: »Es kann gut sein, dass ich es so gesagt habe, obwohl mir eigentlich so etwas selten unterläuft …« Die Situation, die zur heftigen aggressiven Reaktion Michaelas führte, nachdem Wiltrud ihren Eindruck, Michaela sei auf ihre Schwester eifersüchtig gewesen, mitgeteilt hatte: »Das ist eine Unterstellung, das lasse ich mir nicht bieten, ich liebe meine Schwester!!« könnte von Wiltrud so beantwortet worden sein: »Ich war ja damals nicht dabei, ich habe nur meinen Eindruck geschildert, dass du eifersüchtig bist auf deine Schwester, denn ich habe immer das Gefühl, dass du so ablehnend bist und ich mir dann wie diese Schwester vorkomme, die beruflich so erfolgreich ist, das hast du doch gesagt, und der Beruf ist ja auch das Einzige, was ich auf die Reihe
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kriege …« Das hätte die Wut Michaelas kaum besänftigt, aber ein drittes Gruppenmitglied hätte vielleicht relativierend eingegriffen: »Na ja, aber du (Michaela) hast doch von Weihnachten erzählt, wo du total sauer warst, dass dein Vater deine Schwester umarmt hat und dich nicht und die Schwester überhaupt viel öfter von den Eltern eingeladen wird als du …«, und Michaela hätte dann einlenken können: »Na gut, das gebe ich zu, das hat mich auch wirklich sehr geärgert …« (Von dieser Sitzung gab es leider kein Protokoll, aber meiner Erinnerung nach gab es dieses Einlenken entweder in der Sitzung selbst oder in einer der folgenden.) Dieses Einlenken, eine Art Einsicht, ist dadurch möglich, dass ein Dritter, und zwar ein unbeteiligter Zeuge, der nicht als so feindlich erlebt werden muss, in die dyadische Verclinchung eingreift, seine Erinnerung, aber gleichzeitig auch eine Haltung von Entlastung und Relativierung einbringt: Es ist doch gar nicht schlimm, solltest du eifersüchtig gewesen sein … Der dyadische Interaktionspartner hat keine Chance, so zu relativieren, weil er das Projektionsziel ist und durch projektive Identifikation auch wirklich emotional beteiligt ist. Dieser Mechanismus ist besonders wirksam, wenn die paranoide Übertragung beziehungsweise Projektion auf die Autorität des Leiters kaum korrigierbar erscheint. Dann kann das Erleben der anderen Gruppenmitglieder, die eine ganz andere Beziehung zu ihm haben, auch die verschiedenen Bilder der Erinnerung an dieselbe Situation, an der sich die Aggression entzündet hat, eine zunehmende Einsicht in die Übertragungsverzerrung möglich machen.
Spiegelung: Konfrontation und Identifikation Über das Spiegeln und warum man es durch die Gruppe gut annehmen kann, schrieb mir einmal ein Gruppenpatient Jahre nach erfolgreichem Abschluss der Therapie, nachdem er eine interessante Arbeitsstelle gefunden hatte, in der er in einem Team arbeitete: »In die Zusammenarbeit mischen sich natürlich Vertrauen, Freundschaft, Konkurrenz, Altershierarchie, Leistungshierarchie etc. […] Dass ich damit heute ganz gut zu-
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rechtkomme, verdanke ich zu einem großen Teil der Gruppenerfahrung. Eine Gruppe ist nicht harmlos und interesselos und immer nur fair, aber sie ist real, sie spiegelt realistisch wider, und was man da sieht, kann man glauben, kann man sich sagen lassen, denn man ist selber Teil der Gruppe.« Foulkes schreibt zum Spiegeln in der Gruppe: »Mirror reactions are characteristically brought out when a number of persons meet and interact. A person sees himself, or part of himself – often a repressed part of himself – reflected in the interactions of other group members. He sees them reacting in the way he does himself, or in contrast to his own behaviour. He also gets to know himself – and this is a fundamental process in ego development – by the effect he has upon others and the picture they form of him« (1964, S. 110). Foulkes misst der Spiegel-Reaktion (neben der Kommunikation in der Gruppe) als Wirkfaktor einen großen Wert bei. Die Spiegel-Reaktion bedeutet, »dass der Patient sich selbst, seine Ängste, Konflikte, Wünsche, Symptome in den anderen Gruppenmitgliedern wie in einem Spiegel sieht, sich quasi in den Anderen wiedererkennt. Die Spiegel-Reaktion umfasst Prozesse der Identifizierung, Projektion, der introjektiven und projektiven Identifizierung« (Finger-Trescher 1991, S. 122). Diese Vorstellung des Sich-Erkennens geht parallel mit dem Bild Winnicotts, der die den Säugling betrachtenden Augen als Spiegel versteht, in den der Säugling blickt: »Was sieht der Säugling, wenn er ins Gesicht der Mutter blickt? Ich schlage vor, was das Baby gewöhnlich sieht, ist es selbst. Mit anderen Worten, die Mutter blickt auf den Säugling, und wie sie aussieht, hängt davon ab, was sie dort sieht« (1971, S. 112; Übersetzung M. H.). Der Blick des Säuglings ist Winnicott zufolge ein Geben, und er möchte etwas zurückbekommen, etwas Adäquates zurückgespiegelt bekommen. Er möchte sich im Blick der Mutter erkennen. Diese Vorstellung ist ja mit dem Konzept des Containing verwandt. Besonders Pines (1980) hat das Kräftefeld der Gruppe mit der frühen Mutter-Kind-Beziehung verglichen. Das Spiegeln durch die Gruppe ist gerade für Patienten, die in ihrer Selbstreflexionsfunktion geschwächt sind, sehr wertvoll. Die Spiegelfunktion in der Gruppe hat im Vergleich zur Einzeltherapie den großen Vorteil, dass sie vielfältige Aspekte des Patienten, positive und
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negative, facettenartig zurückspiegelt, was gerade für den Borderline-Patienten, der projektiv-identifikatorisch Feindseligkeit provoziert, um seine paranoide Voraussage bestätigt zu bekommen, von großem Vorteil ist. Diese Definition der Spiegelung meint, dass der Patient sich im Blick, in der Reaktion, der Anderen wiederfindet, sich selbst erkennt, wie es Foulkes früh erkannt hat. Pines (1980) unterscheidet reflexives Spiegeln von nichtreflexivem; gleichgültig, ob das reflexive Spiegeln positive oder negative Anteile aufzeigt und zurückgibt, die Gruppe akzeptiert denjenigen, um den es geht, in beiden Fällen. Die nichtreflexive Version des Spiegelns ist dagegen destruktiv; entweder wird ein abgelehnter Aspekt des Selbst des Angreifenden, der nicht wahrgenommen wird, im Anderen attackiert, oder dieses Zurückspiegeln beruht auf einer selektiven Wahrnehmung des Anderen. Hier sehen wir, dass in dieser Form des Spiegelns nicht jemand sich selbst sieht in den Anderen, sondern umgekehrt, ihm etwas Fremdes gespiegelt wird, ein malignes Spiegeln im Gegensatz zum reflexiven, benignen Spiegeln (vgl. auch FischerTrescher 1991, S. 129). Die beiden verschiedenen Formen des Spiegelns kann man auch mit den Begriffen Identifikation beziehungsweise Konfrontation bezeichnen; man findet identische, unbekannte Aspekte des eigenen Selbst im Anderen wieder (Identifikation) beziehungsweise erkennt sich selbst als ganz anders als der Andere (Gegenidentifikation), aber immerhin sieht man sich selbst. Konfrontation bedeutet die Rückmeldung (»Rückspiegelung«), wie man vom Anderen wahrgenommen wird, man wird konfrontiert mit positiven und negativen Eigenschaften. Sollte der potentielle Facettenreichtum der Gruppe reduziert sein auf eine einzige Meinung, noch dazu negativer Art, wie ein bestimmtes Gruppenmitglied zu sehen sei, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um einen gruppendynamischen Sündenbockmechanismus handelt, und der Gruppenleiter ist aufgerufen, das zu interpretieren, sich vor den Angegriffenen zu stellen und so die Aggressionen auf sich zu ziehen, die meist von ihm selbst auf den Sündenbock verschoben waren, vom Leiter, der eigentlich gemeint war. Diese zwei Wirkmechanismen, Identifikation und Konfrontation, sind in der Gruppe sehr viel effektiver, als sie es je in der
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Einzelsituation sein können: Konfrontation mit dem So-Sein des Einzelnen durch die anderen Gruppenmitglieder und die Möglichkeit vielfältiger Identifikation mit den verschiedenen Gruppenteilnehmern, die wie Geschwister auf einer Ebene nicht nur gleichberechtigt sind, sondern auch selbst etwas preisgeben, wie besonders Konflikte und Erfahrungen in Beziehungen der Vergangenheit und der Gegenwart, auch gelungene und misslungene Lösungen, wie es ein Einzeltherapeut natürlich nicht kann, da die Asymmetrie erhalten bleiben muss. Auch Konfrontation kann in der dyadischen Beziehung nie so direkt und massiv sein, da erstens der in einem hierarchischen Gefälle sich oben befindliche Therapeut oder Analytiker durch diese Position mit sehr viel Macht ausgestattet ist und zweitens in der Einzelsituation kein Dritter anwesend ist, der einen massiven Angriff oder eine Konfrontation, die als solcher Angriff erlebt wird, auffangen könnte.
Kreuz- und Gegenidentifikation: »Täter« und »Opfer« Schwerer gestörte Patienten – Borderline-Patienten, traumatisierte Patienten – lassen sich in zwei unterschiedliche Gruppen einordnen: Da ist einmal der nach außen offen aggressive, grenzüberschreitende »Täter«-Typ, der sich eine prekäre Macht verschafft, indem er Schwächere zum Opfer macht. Als Prototyp gilt in diesem Zusammenhang der destruktive männliche Jugendliche, der »Skinhead«, der sein eigenes Opfer-Sein auf andere, von ihm als minderwertig definierte Minderheiten projiziert und dort den eigenen abgespaltenen Selbstanteil bekämpft. Auch solche Täter sind einmal ohnmächtige Opfer gewesen, sie greifen jedoch zu derjenigen Form der Identifikation mit dem Aggressor, der sekundären Identifikation nämlich, die dem Täter Recht gibt im Sinne von: »Mir haben die Prügel nicht geschadet, also prügle auch ich meinen Sohn, damit einmal etwas aus ihm wird.« Dieser Typ folgt dem sadistischen Modus, stets bereit anzugreifen; er zieht es vor, Täter zu sein, um sich nicht als Opfer fühlen zu müssen, wehrt damit übrigens auch die Scham ab, Opfer (gewesen) zu sein. Die andere Form der Identifikation mit dem Agressor ist die unterwerfende, die Ferenczi (1933/1964)
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zuerst beschrieben hat, die die Opfer-Identität perpetuiert, auch die damit verbundene Ohnmacht; der Prototyp ist das weibliche Inzestopfer, das die Schuld des Täters in Form eigener massiver Schuldgefühle übernimmt und dem masochistischen Modus folgt (über die »Zwei Arten der Identifikation mit dem Aggressor« vgl. Hirsch 1996). Diese Patienten neigen auch zum autistischen Rückzug. Identifikation in der Gruppe kann man mit Marrones (2004) Begriff des Ko-Denkens zusammenbringen. Das Ko-Denken hat die Repräsentanz von Beziehungen zur Voraussetzung. Der Kern dessen, was Marrone meint, ist: »Die Perspektive des Anderen in bezug auf sich selbst einzunehmen, um […] sich selbst beziehungsbezogen zu befragen« (S. 124). Das erfordert die Fähigkeit zur Selbstkritik, um Projektion und Abwehr in Bezug auf den Anderen zu erkennen. Marrone hält das Ko-Denken für ein zentrales Element der Gruppenanalyse. Und das ist ja das Wesen der Mentalisierung: Denken, dass der Andere denkt … Mit der von mir sogenannten Kreuz-Identifikation zwischen Täter und Opfer ist gemeint, dass das Opfer sich in den Täter hineinversetzt, um dort eigene Täteranteile zu entdecken, die nun als die eigenen identifiziert werden können, und umgekehrt, dass der Täter, der ja auch ein Bewusstsein, Täter zu sein und zu bleiben, braucht, um sich nicht schwach und als Opfer zu fühlen, dass ein solcher Täter also in der Begegnung mit dem Opfer in diesem eigene Opferanteile sieht und sie in sich selbst aufspüren kann – schließlich kann man sich einen Täter nicht recht vorstellen, der nicht in irgendeiner Weise einmal Opfer gewesen ist, dem die Gewalt nicht einmal implantiert worden ist – nur, ein eingefleischter Täter wird die Verbindung zu seinem OpferSelbstanteil nicht ohne weiteres finden können und wollen. In einer therapeutischen Gruppe können Patienten zusammenkommen, die jeweils die eine oder andere Art der Identifikation gewählt hatten. Es müssen nicht unbedingt erst einmal als Täter oder als Opfer definierte Patienten sein, zum Beispiel solche, die sich sexueller Straftaten schuldig gemacht hatten beziehungsweise solche, die Opfer sexueller Übergriffe in der Familie oder Vergewaltigungen später geworden waren, wie ich es beschrieben habe (Hirsch 2003). Das wäre eine Zuspitzung eines allgemeinen Prin-
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zips der Heterogenität der Gruppenzusammensetzung. Vielmehr bietet eine heterogen zusammengesetzte Gruppe die Möglichkeit der Gegen- beziehungsweise Kreuzidentifikation; im jeweils Anderen können die eigenen Täter- beziehungsweise Opferanteile wiedererlebt werden – den Splitter im Auge des Anderen sieht man eher als den Balken im eigenen. Gegenidentifikation würde ich in diesem Zusammenhang beschreiben als Selbsterkenntnis durch Differenzerleben: Ich sehe den Anderen völlig anders als mich und verschieden von mir, so dass ich dadurch erkenne, wie ich bin. Kreuzidentifikation dagegen ist die Anerkennung von eigenen Selbstanteilen, die man bisher nicht sehen konnte (oder wollte), die man im Anderen erkennt und als eigene anerkennen muss (oder kann). Hier kann man Fonagys Statement auf die Gruppe beziehen: »Wir lernen, uns selbst zu verstehen, indem wir Andere verstehen« (Fonagy et al. 2002/2004, S. 244f.). Aber man wird erst in der Lage sein, diese zunächst einmal fremden Anteile als eigene zu identifizieren, nachdem man sie im Anderen heftig bekämpft, sich als ihr Opfer gefühlt hat beziehungsweise den Anderen zum Opfer gemacht hat, verbunden mit nun möglichen Affekten, die in der ursprünglich traumatischen Situation nicht aushaltbar gewesen waren. Kreuzidentifikation lag auch in dem Beispiel mit Michaela und Bettina vor: Das »Opfer« hatte begriffen, dass es ihm gut anstünde, einmal aus der autistischen Position herauszukommen und etwas davon zu wagen, was andererseits Michaela wiederum destruktiv zu übertreiben gewohnt war. Michaela und Bettina sind auch deutliche Beispiele für die zwei Gruppen von Borderline-Patienten, »Täter und Opfer«, die durch Kreuzidentifikationen voneinander lernen können, und, da es ja hier um Mentalisierung geht, ihre jeweils verborgenen eigenen Anteile im jeweils Anderen entdecken können, lernen zu denken, wie diese denken.
Metaphern in der Gruppenanalyse Ein schwerer gestörter, traumatisierter, ein Borderline-Patient, der habituell eigene Anteile oder Verhaltensweisen, die er nicht mit sich selbst vereinbaren kann, projektiv in der Außenwelt
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ablädt, kann eine deutende Konfrontation, und möge sie noch so »korrekt« sein, nicht aushalten und muss sie von sich weisen. Eine Möglichkeit ist die Verwendung einer metaphorischen Deutung, die zu übernehmen oder umgekehrt nicht auf sich zu beziehen der Patient selbst entscheiden kann, wieweit er es zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Entwicklung aushalten oder zur Erweiterung seines Selbstbildes verwenden kann (vgl. Hirsch 2004a, S. 146). Dadurch wird die Angst, die bei einer direkten konfrontativen Deutung entstünde, vermieden, die Abwehr ist wegen der Möglichkeit der Selbstregulation nicht nötig. Es kommt nun darauf an, wieweit der Patient bereit und in der Lage ist, sich mit dem metaphorischen Bild zu identifizieren, insbesondere mit dem Bild, das die »Kind-Metapher« (vgl. Hirsch 2004a, S. 147f.) anbietet, wieweit er sich also in dem Bild eines wie immer traumatisierten Kindes selbst sehen kann. Über den Gebrauch von »Metaphern in der Gruppentherapie« hat Gans geschrieben, allerdings über die Verwendung von Metaphern nur durch den Gruppenleiter, wenn der Autor auch bemerkt, dass eine reifere Gruppe durch Identifikation mit ihm ebenfalls Metaphern verwendet: »Die Metapher schafft in Katz’ (1983) wunderbarer Formulierung einen verbalen Spiel-Raum, eine Art verbale Spieltherapie. Während die Gruppe ›so tut‹, als ob sie in der Gruppe tun kann, was eigentlich außerhalb stattfindet, wird sie von einem schöpferischen Wortspiel gebannt (Winnicott 1971)« (Gans 1993, S. 159). Hier wird bereits gesehen, dass die Therapie von Borderline-Patienten sehr viel mit dem kreativen kindlichen Spiel zu tun hat im Sinne der Bewältigung von Realität (vgl. Hirsch 2004a); in diesem Zusammenhang wird niemand so häufig wie Winnicott zitiert, so auch hier. Das »Als-obSpiel« des vierjährigen Kindes ist eine erste Möglichkeit, Realität selbst zu gestalten und zu beherrschen (wenn es auch mit dem Äquivalenzmodus abwechselnd auftritt, für deren Bewältigung das Kleinkind noch die Erwachsenen braucht). Aber nicht nur der direkte Gebrauch von Metaphern durch den Leiter und die Gruppenmitglieder im Sinne von beispielhaften Bildern, die geschaffen werden, um etwas indirekt auszudrücken, findet sich in der gruppenanalytischen Therapie, man kann darüber hinaus auch die Schilderungen der eigenen
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Geschichten und Erfahrungen der Gruppenmitglieder als Metaphern für die innere Welt der anderen verstehen, die zur Identifikation (oder Gegenidentifikation) auffordern, jedoch nicht dazu zwingen. Die Bilder und Erzählungen der Anderen werden wie Metaphern daraufhin untersucht, wieweit man sie auf sich selbst beziehen kann beziehungsweise wieweit man sich von ihnen als verschieden definiert. Was in der Einzeltherapie als Metapher vom Therapeuten eingeführt wird, ist in der Gruppe ständig als Metaphern-Angebot präsent: Jede Vorstellung, jede Narration, die eingebracht wird, kann und soll von jedem Einzelnen daraufhin untersucht werden, wieweit sie auf ihn selbst mehr oder weniger zutrifft.
Konfrontation Der andere Wirkfaktor der Gruppenpsychotherapie, der wegen der fehlenden Asymmetrie weit wirkungsvoller ist als in der Einzelsituation, ist die Konfrontation mit dem So-Sein durch die anderen Gruppenmitglieder, die umso deutlichere Worte finden können, als sie im selben Boot sitzen und als Gleichberechtigte im Sinne einer Peergroup stets gewärtig sein müssen, wiederum auf sich selbst zurückverwiesen zu werden. Sagt zum Beispiel ein Gruppenmitglied zum anderen mit vollem Affekt: »Ich kann es kaum noch aushalten, wie du redest, noch ein Satz, und ich renne schreiend aus dem Raum!«, so läuft er Gefahr, von einem Dritten verwundert angesprochen zu werden: »Ich weiß gar nicht, was dich stört, ich kann ihm ganz gut zuhören«, so dass er nun seinerseits gezwungen ist, über seine Empfindlichkeit nachzudenken. Vielleicht bekommt er Hilfe von einem Vierten, der sagt: »Ich kann dich verstehen, eigentlich geht es mir ähnlich, nur würde ich mich längst nicht so darüber aufregen.« Die Konfrontation erfolgt aber nicht von einem moralischen Standpunkt aus, sie ist innerhalb der analytischen Gruppenkultur auf dem Boden der impliziten Authentizitätsforderung möglich; jeder darf sich zeigen, wie er ist, muss sich allerdings eine entsprechende Reaktion gefallen lassen. Als eine geschwächte IchFunktion dieser Patienten muss man die »schwache Kapazität
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für reflexive Selbstrepräsentation« (Pines 1990, S. 43) sehen, die durch diese manchmal schmerzliche, manchmal bedrohliche Konfrontation gefördert wird, man kann milder auch von Spiegelung durch die Gruppenmitglieder beziehungsweise die ganze Gruppe sprechen (Pines 1990). Die beiden genannten Wirkfaktoren – Konfrontation und mannigfaltige Möglichkeiten der Neuidentifikation – sind besonders günstig, um Selbst- und Objektbilder zu korrigieren, insbesondere auch, um die Grenzen zwischen Selbst und Objekt wieder aufzurichten – letztlich, bei traumatisierten Patienten, die Grenzen zwischen Täter und Opfer –, einen größeren Realitätssinn zu entwickeln und die Begriffe von Schuld und Verantwortung des Täters und Schuldgefühl des Opfers neu zu definieren. Gruppenmitglieder können unter Umständen viel wirkungsvoller Grenzen setzen zwischen Innen (traumatisches Introjekt) und Außen (auslösende Situation), als es ein Einzeltherapeut kann. Dazu ein Fallbeispiel aus der schon beschriebenen Täter-Opfer-Gruppe: Johanna hatte riskiert, eine Beziehung zu einem Mann einzugehen, obwohl sie sich vorgenommen hatte, nie wieder von einem Mann etwas zu wollen. Nach einiger Zeit war sie von ihm verlassen worden, und sie setzte diese Verletzung gleich mit der monatelangen Vergewaltigung und Misshandlung, die ihr im Alter von 15 Jahren durch einen sieben Jahre älteren Mann widerfahren war. Jetzt kann sie in der Gruppe nicht aufhören zu klagen, was dieser Mann, der sie unlängst verlassen hat, ihr angetan habe. Ein Teil der Gruppe folgt ihr, fragt nach, begleitet sie in ihrem Schmerz, dann aber sagt ein Gruppenmitglied: »Meinst du nicht, dass ein solches Verlassenwerden etwas ganz anderes ist als eine Vergewaltigung? Ich meine, ich habe auch unter Trennungen furchtbar gelitten, aber …« – Die Klagen verstummen, die Patientin ist schlagartig wieder auf dem Boden der Realität, die Gruppendiskussion nimmt das Thema auf, entfernte sich aber in Richtung allgemeiner Beziehungsprobleme.
Das Beispiel mag banal klingen, aber die Begrenzung wirkte wohl besonders dadurch, dass es ein Gruppenmitglied war, das sagen konnte: »Ich habe auch unter Trennungen furchtbar gelitten …«; das kann ein Therapeut nicht, der durch noch so empathische Deutungen viel eher als unempathisch Verlassender, wenn nicht als Vergewaltiger erlebt würde.
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Hier konfrontieren sich Gruppenmitglieder untereinander. Manchmal ist es jedoch nötig, dass der Gruppenleiter sozusagen im höheren Interesse des Gruppenzusammenhalts und der Gruppenkultur massiv konfrontieren muss: Detlef war erst einige Sitzungen in der Gruppe, er hatte sich bisher nicht eingebracht, außer durch sein demonstratives Teetrinken in der Sitzung und die wiederholte Mitteilung, dass er schon sehr viel Gruppenerfahrung habe, nämlich die Gruppen der anonymen Alkoholiker regelmäßig besuche und jede Form von Gruppen sehr lehrreich fände. In seiner vielleicht zehnten Sitzung nun begann er, von seiner Situation nach der Scheidung zu berichten, dass er im Grunde nicht fassen könne, wie die Ehe zerbrochen sei, obwohl er einsehe, dass sein Alkoholkonsum und seine vielen Affären mit anderen Frauen sicher dazu beigetragen hätten. Er schilderte seine Schuldgefühle seiner kleinen Tochter gegenüber, seine Angst, sie nicht mehr regelmäßig sehen zu dürfen … Das alles aber als Bericht von etwas ihm schon Bekannten ohne Fragestellung an die Gruppe, offenbar ohne etwas Neues erfahren zu wollen. Wenn ein Gruppenmitglied seine Ansicht vorsichtig relativieren wollte, kam prompt ein: »Ich sehe das anders …« Trotzdem nähert sich Detlef langsam seiner Wut, auch wenn er dann wieder abwehrend über den Alkoholismus sprechen will und wie er versucht, seine Exfrau kleinzumachen: Detlef: Ich tue das dann ganz ironisch und versuche so, die Wut zu entladen mit solchen Bemerkungen und Sprüchen, mit denen ich sie verletze, zum Beispiel: »Du bist ja doch dein Geld wert, wie du so alles regelst …« Michaela: Aber das ist doch normal, dass du darüber wütend bist, dass sie dich verlassen hat. Detlef: Ja, aber ich mach’ das halt dann ganz bewusst so, dass ich sie verletzen will. Ich weiß, auf welche Knöpfe ich dazu drücken muss, welche Bemerkungen ich machen muss. Martha: Da suchst du wohl immer nach etwas, um auf ihr rumzuhacken. Johanna: Ich wüsste gerne, warum du das tust, solche Bemerkungen machen. Bettina: Ja, das muss doch einen Grund haben, dass du dich so abreagierst. Es ist doch die Frage, wo die Wut herkommt. Michaela: Aber es ist doch auch eine massive Kränkung, wenn man so verlassen wird. Dr. H.: Und aus der Kränkung kommt die Wut. Die Kränkung ist, verlassen worden zu sein, und das auch noch wegen einem anderen Mann – das nennt man narzisstische Wut.
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Martha: Also ich finde das unmöglich, solche Bemerkungen wie: »Du bist dein Geld wert«. Also das würde ich mir nicht bieten lassen, das hätte ich nicht nötig. Da würde ich mich abgrenzen, so würde ich mich nicht abwerten lassen. Michaela (zu Martha): Aber du darfst so verletzende Bemerkungen machen! Martha: Ja, wenn mich was verletzt, dann kann ich auch zurückschlagen. Die Gruppe versucht, die Täter-Identifikation Detlefs (»Mir haben die Prügel nicht geschadet …«) zu relativieren, versucht ihm klarzumachen, dass hinter seiner Aggressivität gegen die Exfrau Angst, Hilflosigkeit und ohnmächtige Wut stecken. Er nimmt das nicht an, und ich versuche, wieder auf die Kränkung und die Wut und auch die Ursprünge in der Mutterbeziehung, die er kurz gestreift hatte, zurückzukommen. Nach meiner Interpretation ist Martha in der Lage, sich ganz mit der Exfrau zu identifizieren und sich massiv abzugrenzen. Detlef: Ich habe einige Situationen erlebt, wo meine Mutter mich verraten, im Stich gelassen hat. Mein Mutter war nicht einverstanden, dass ich eine Spielzeugpistole hatte, da hat sie mich beim Rektor angeschwärzt. Nachts hat sie mich geweckt mit ihren emotionalen Ergüssen, wenn sie betrunken war. Oder hat mich unverhältnismäßig bestraft, auch betrunken, wenn ich mich mit meiner Schwester gezofft hatte. In der Pubertät habe ich meine Mutter dann auch geschlagen, ihr eine geknallt, dass sie gegen die Wand geflogen ist. Und da hatte ich das Gefühl, das Recht dazu zu haben. Da war ich 17, und da hab’ ich selbst auch schon was getrunken. Aber als ich sie geschlagen habe, da war ich nicht betrunken. Da hatte sie besoffen nachts dauernd laut Musik gehört. Ich habe sie immer wieder gebeten, das auszumachen, weil ich schlafen wollte, hab’ ihr dann den Strom abgedreht. Da wollte sie sich dann das Radio von meiner Schwester holen – da hab’ ich rot gesehen und sie dreimal geschlagen – die hat das gar nicht richtig mitbekommen, ist durchs ganze Zimmer geflogen. Danach hat sie sich als armes Opfer präsentiert, ist damit in der Nachbarschaft hausieren gegangen, was für ein schlechter Kerl ich bin. Dr. H.: Und wie ist es Ihnen danach gegangen? Detlef: Mir ging’s besser. Als Opfer der Mutter könnte Detlef einige Solidarität erfahren, nicht aber in der platten, unreflektierten Täter-Identifikation, die hier so unbefragbar vorgestellt wird, dass die Gruppe sprachlos ist. Ich interveniere also, um die Gruppe und damit die Gruppenkultur zu schützen, indem ich Detlef die »Gretchenfrage« stelle, ob er denn hier in dieser Gruppe richtig sei.
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Dr. H.: Ihnen ging’s besser. Wenn das alles ist, dann weiß ich nicht, ob Sie hier richtig sind. Anstatt die Mutter in die Klinik zu bringen, betrunken wie sie war und verletzt, schlagen Sie drauf und haben noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen. Anstatt dass Sie sagen, ich bin in dem Milieu so geworden, dass ich ausgerastet bin, schäme mich dafür, fühle mich schuldig, dass mir das passiert ist. Stattdessen sagen Sie, es geht mir besser. Sie sind genau wie Ihre Mutter – Sie trinken wie sie, Sie rasten aus wie sie. Es käme darauf an, wie stark die Seite in Ihnen ist, die so ist wie ihre Mutter und so mit ihr verbunden bleibt, und wie stark die andere, die sich entwickeln und hier richtig mitmachen will. Martha: Ich hab’ auch mal zurückgetreten, als meine Mutter ausgerastet ist. Martha relativiert in einer Geschwistersolidarität meinen Angriff. Detlef: Ich habe mich auch schon geschämt für mein Verhalten. Wiltrud: Mein Bruder hat auch immer was abgekriegt vom Vater und sich nie gewehrt – bei dem äußert sich das jetzt so, dass er so spontane Gewaltphantasien hat, wenn er zum Beispiel auf die Straße geht. Detlef: Ich wollte immer verhindern, dass ich werde wie meine Mutter, aber ich bin genauso geworden. Ich wäre wirklich gerne anders. Mein Vater hat das alles auch nicht verhindert, dass meine Mutter sich zu Tode trinkt. Ich habe mich damals auch zugrunde gerichtet, als meine Mutter gestorben war. Da habe ich gesoffen und geraucht, wollte Suizid begehen. Da habe ich festgestellt, dass ich genauso bin wie sie. Nach dem Motto: Keiner liebt mich, ich bin ganz allein. Ich habe damals auch nicht mitbekommen, dass ich mich zugrunde richte. Ich will ja auch meine guten Seiten leben. Dr. H.: Ja, das ist die eine Seite, dass Sie für sich sorgen wollen, aber mit der anderen folgen sie ihrer Mutter, sind gewalttätig wie sie, wollen ihr in den Tod folgen – ein Herz und eine Seele, Sie trennen sich nicht von ihr. Detlef: Ich habe halt viel getrunken, aber trotzdem alles geschafft, auch im Studium. Wiltrud: Ich hab den Eindruck, als müsstest du hier so eine Rolle vertreten, so diese Rolle, du bist ja ein ganz toller Typ. Mir kommt das so gekünstelt vor, dieses Ganz-groß-Sein. Anna: Du stellst dich auch immer so dar, als hättest du dich im Griff, so distanziert von deinen Gefühlen. Als kämst du da gar nicht dran, als tust du so ganz vernünftig, es sei alles in Ordnung. Das muss man vielleicht so machen, um so was zu überleben. Dr. H.: Die Sache mit dem So-Tun, als wäre alles in Ordnung, das ist wie mit dem Funktionieren. Dahinter sind all diese Bereiche, die Ihnen Angst machen, zu denen Sie gar keinen Zugang haben, die
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dann ganz anders herauskommen, in Form von Gewalt und Entwertung.
Offenbar hatte ich das Gefühl, dass Detlef mit seiner massiven Abwehr gegen die Gruppenkultur, die er nicht nur mit seinem Zynismus Frauen gegenüber, als deren Opfer er sich empfand, sondern vor allem mit dem endlosen Bericht eines Wissenden, der keinerlei neue Nuancen in seinem Selbsterleben zulassen konnte, das Wesen der analytischen Gruppe attackierte (wie schon anfangs mit der Kanne Tee), so dass ich scheinbar moralisch massiv die Frage stellte, die über sein weiteres Bleiben in der Gruppe entscheiden sollte. Die Frage nämlich nach dem Teil von ihm, der dem entsetzlich allein gelassenen kleinen Jungen entsprach, wirklich ein Opfer familiärer Deprivation und Gewalt, der Teil, der sich schämen würde und eher ein Schuldbewusstsein als Schuldgefühle hätte. (Ich denke an Silvia Amati, die 1990 über »Die Rückgewinnung des Schamgefühls« bei Folteropfern geschrieben hat, das Wiederauftauchen der Scham verstanden als ein Lebendig-Werden eines durch die Folter untergegangenen Selbstanteils.) Nach meiner Intervention konnte die Gruppe aufhören, kollusiv immer weiter in seinem Sinne nachfragend ihm die Gelegenheit zu geben, sich so zu präsentieren, dass er seine Angst verleugnen konnte. Diese Abwehrformation der ganzen Gruppe ist das, was Nebbiosi (2003) »emotionaler Konformismus der Gruppe« nennt, eine ad hoc notwendige Gruppennorm, die die an sich wünschenswerte Gruppenkultur vorübergehend suspendiert. Nach meiner Intervention konnte sowohl Detlef von seinem hohen Ross herabsteigen, als auch das in solchen Situationen schon oft sehr mutige Gruppenmitglied Wiltrud auf das aufgesetzte, rollenartige Verhalten Detlefs hinweisen. Auch Konfrontation beruht letztlich auf einer empathischen Einfühlung in einen meist unbequemen verleugneten Selbstanteil des Konfrontierten, der meist einer abgewehrten oder unterdrückten Form von Aggressivität entspricht, manchmal aber auch nicht zugelassene gute oder konstruktive Selbstanteile enthalten kann, die ein eher masochistischer Mensch von seinem bewussten Selbstbild fernhalten muss.
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Resonanzphänomen als Container-Funktion Die Mitglieder der Gruppe werden viel direkter als ein Einzeltherapeut adäquate Affektäußerungen hervorbringen können, wenn der betreffende Patient noch längst keinen Zugang zu seinen abgespaltenen Affekten hat. Hier lässt sich das lange bekannte Resonanzphänomen in der Gruppe einordnen. Oft werden furchtbare traumatische Erlebnisse berichtet, jedoch ohne jede affektive Regung. Dann wird ein erster Schritt der Integration der traumatischen Affekte deren Erleben durch ein anderes Gruppenmitglied sein, das das Grauen, die Wut, auch die Scham und den Schmerz anstelle des berichtenden Patienten erlebt und affektiv ausdrückt. Berichtet ein Gruppenmitglied mit tonloser Stimme: »Mein Vater hat mich zwischen dem 8. und 11. Lebensjahr sexuell missbraucht«, wird ein anderes Gruppenmitglied, das eben gerade nicht derart massiv traumatisiert war, sich jedoch einfühlen kann, stellvertretend entsprechende Affekte äußern, etwa heftig zu weinen beginnen, während ein Einzeltherapeut seine Empathie zwar verbal zeigen kann, nicht aber durch Ausdruck entsprechender Affekte zur Identifikation einladen kann. Es ist auch vorstellbar, dass die Affektäußerung eines Gruppenmitglieds von einem anderen umgedeutet wird, etwa bagatellisierend abgetan wird, da dieses aufgrund eigener Notwendigkeit der Verleugnung zu einer adäquaten Einfühlung nicht fähig ist. Wieder werden andere Gruppenmitglieder, die in diesem Bereich nicht derart abwehren müssen, korrigierend einspringen und die realistische Entsprechung von berichteter Situation und Affekt bestätigen. Besonders wichtig ist die Anwesenheit der Anderen in der Gruppe, die letztlich die Funktion gewissenhaft und neutral urteilender Zeugen wahrnehmen, wenn projektiv-identifikatorische Aufschaukelungsprozesse zwischen den Gruppenmitgliedern entstehen. Diese sind in der Einzeltherapie besonders schwer zu handhaben, gerade weil kein Dritter zugegen ist. Projektive Identifikation beruht auf einem Mangel an Symbolisierung sowie auf einer Schwächung der Selbst-Objekt-Grenzen. Ihr Ursprung liegt Fonagy und Mitarbeitern zufolge, ganz anders als bei Melanie Klein, an der nicht markierten, nicht mo-
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difizierten affektiven Antwort der Mutter: »Da der Säugling den gespiegelten Affekt der Mutter zuschreibt, wird er seinen eigenen negativen Affekt ›da draußen‹ als zu Anderen gehörend erleben und nicht als seinen eigenen« (Fonagy et al. 2002/2004, S. 201). Treten durch projektive Identifikation hervorgerufene heftige Affekte bei einem Gruppenmitglied auf, kann man sie häufig und für den »Sender« viel überzeugender als in der Einzeltherapie auf diesen zurückführen. Das Resonanzphänomen ist durch projektiv-identifikatorische Induktion zu erklären. In einem von mir an anderer Stelle (Hirsch 2004a, S. 249) berichteten Fallbeispiel erzählt Wendy, eine Patientin, die transgenerational Opfer der von den Eltern durch Nazi-Verfolgung erlittenen Traumata und Heimatlosigkeit geworden war, mit affektloser, ermüdender Stimmfärbung von ihrer Malerei – bald habe sie kein Geld mehr – neben der Malerei könne sie nur noch an maximal drei Tagen in der Woche jobben – die Malerei sei sehr kraftraubend – daneben könne sie nicht irgendeinen Job übernehmen – sie male nur abstrakt, sehr ernsthaft, idealistisch, sie möchte nichts anderes malen … – Eine andere Patientin, Maike, driftet gedanklich immer mehr ab, sie kann der auf Wendy eingehenden Gruppendiskussion nicht mehr folgen und äußert schließlich: Sie habe Angst, ihr Leben nicht hinzukriegen, Existenzangst, eigentlich habe sie keinen Mut zum Selbstmord, sei aber verzweifelt, noch so lange aushalten zu müssen, bis David, ihr Sohn, sie nicht mehr brauche. Alles sei eine Qual, sagt sie unter Tränen. Die Vermutung liegt nahe, dass die Gefühle Maikes und ihre Suizidgedanken genau dem Zustand der Eltern Wendys entsprechen, die vielleicht wegen deren Existenz nicht zum letzten Mittel des Suizids gegriffen hatten. Die anschließende Gruppendiskussion konnte die Reaktion Maikes sowohl auf ihre eigenen Traumata als auch insbesondere auf die transgenerationalen Introjekte Wendys zurückführen. Ein anderes Beispiel: Frau Berta B. ist seit kurzem in kombinierter Einzel- und Gruppenpsychotherapie. Sie kann jetzt erst über ihren schweren Suizidversuch vor einem Vierteljahr nachdenken, den sie unternommen hatte, nachdem ihre Schwester ihr erzählt hatte, dass sie, die Schwester, vom Vater sexuell missbraucht worden sei. Sie ist erstaunt und bekommt Angst, dass ihr der Suizidversuch ganz
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selbstverständlich vorkam, wie das Ergebnis einer vernünftigen Überlegung. Ein Teil von ihr hatte die Macht übernommen, vollständig, ein anderer Teil, der dagegen gewesen wäre, war ganz verschwunden. Keine Angst, keine Schuldgefühle: »Es ist gut so.« Mir fällt das Bild von vielleicht fünf oder sechsjährigen Kindern ein, die auch ganz abschalten, ihr Köfferchen packen, ihr Mäntelchen anziehen und in die Straßenbahn steigen, ohne Ziel, ohne Angst, bis zur Endhaltestelle fahren und dort aufgegriffen werden … Oder ich sage der Patientin das Bild von dem sechsjährigen Kind, dessen Mutter redet und redet und redet mit einer anderen Frau im Strandbad, so dass das Kind beschließt, buchstäblich »ins Wasser zu gehen«, einfach weiter und weiter geht, nicht mehr atmet, bis es von einem Fremden aus dem Wasser gerissen wird. »Wenn ich wenigstens so eine konkrete Erinnerung an die Mutter gehabt hätte …« Mein Versuch, durch die Verwendung der »Kind-Metapher« eine Identifikation mit diesem Kind, das sie selbst einmal gewesen sein muss, zu erreichen, schlägt also fehl. Frau B. kann zu sich selber gar keine Gefühle haben, erst wenn sie Freundinnen erzählt, was sie getan hat, und die entsetzt oder traurig sind und zu weinen beginnen, kann sie selbst weinen. Ich sage, dass sie die Gefühle dann regulieren kann, wenn sie sie, die eigentlich ihre eigenen sind, bei anderen sieht; dann kann sie selbst bestimmen, wie viel sie davon wieder in sich aufnehmen will (Re-Introjektion), dann kann sie nicht von ihnen überschwemmt werden. »Ja, erst wenn Andere traurig sind, erkenne ich überhaupt, dass es Trauer ist, oder Ärger, oder Verzweiflung, oder Hoffnungslosigkeit …« Sonst sagt sie statt »Angst« eher: »Dann habe ich wieder die vegetativen Symptome …« Die Patientin schildert in ihrem Bericht über die emotionalen Reaktionen der Freundinnen (sozusagen der Freundinnen-Gruppe) sehr genau das Resonanzphänomen und welche Rückwirkung es auf sie hat. Nach einem weiteren halben Jahr der Psychotherapie von Frau B. fand sich das Resonanzphänomen auch in der Gruppe: Ihr Vater habe eine Bypass-Operation hinter sich, wie er da so liegt im Krankenhausbett, erbärmlich, so schwach, mit seiner großen Thoraxwunde … Auch die Mutter tut ihr Leid, sie seien doch alle eine Familie, wie sie da um das Bett stünden, sie liebe ihren Vater doch auch … Die Schwester (die sich an den sexuellen Missbrauch durch den Vater deutlich erinnert und die Information darüber der Patientin auf die Schultern gepackt hatte) habe es hinter sich, sie sagt, sie müsse nicht mehr daran denken, gehe unbefangen mit der Familie um. Sie (Frau B.) dagegen kriege es nicht aus dem Kopf … Da sagt ein anderes Gruppenmitglied, das gerade erst mit der Therapie anfängt: »Also wie du das so erzählst, so tonlos, tut mir leid, aber ich empfinde eine mächtige Wut in mir aufsteigen, wenn ich mir das
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vorstelle, und du weißt nicht einmal, ob er dich nicht auch angefasst hat, also da kriege ich eine derartige Wut, und ich glaube, dass das eigentlich deine ist, die du haben müsstest …« Ein anderes Beispiel: Herr Gutheil, Mitte vierzig, erzählt in seiner Gruppe, wie er sich unter den drei Brüdern als Auserwählter erlebt hat, der Liebling der Mutter, mit der er bis heute eng verbunden ist: »Es klingt vielleicht komisch, aber ich finde meine Mutter einfach toll.« Als Beispiel für sein Auserwählt-Sein schildert er eine Situation aus der Kindheit: Nach der Scheidung der Eltern hatten die drei Brüder mit dem Vater einen Urlaub in Italien verbracht, die Mutter kam mit ihrem neuen Freund vorbei und holte ihn mit dem Auto ab, während die beiden Brüder mit dem Vater im Zug nach Hause fuhren. Er war ungeheuer stolz, dass die Mutter ihn mitnahm, war sogar noch stolz, als er eine »Aufgabe«, die ihm die Mutter gab, mit Bravour erledigte: Auf dem Weg zum Urlaubsort der Mutter übernachteten sie in einer kleinen Stadt, die Mutter und ihr Freund gingen in ein Hotel, während der Junge die Nacht im Auto auf dem Marktplatz, in eine Decke gehüllt, verbrachte. Am nächsten Morgen wurde er gelobt, dass er so gut durchgehalten habe – auch während seines Berichts in der Gruppe kam ihm nicht in den Sinn, dass die Mutter ungestört Sex haben wollte und ihn dafür schamlos geopfert hatte. In der nächsten Sitzung berichtet Herr Antinori, ein anderes Gruppenmitglied, dass er wegen der Erzählung von Herrn Gutheil sehr, sehr traurig geworden sei – es war klar, dass auch er ein »Auserwählter« war, der als Kind verleugnen musste, dass die Mutter jeden Samstag ihren Freund besuchte, »zur Schneiderin ging«, jedes Mal morgens um drei zurückkam, und der Vater dann schrie und tobte: »Du Hure!«, wodurch die Kinder natürlich geweckt wurden, während die Eltern nun Sex hatten – die Betten der Kinder waren von den elterlichen nur durch einen Vorhang getrennt. Einige Monate später war Herr Gutheil zusammengebrochen, einfach außer sich, als er entdeckte, dass seine Exfreundin, mit der er zusammen ein Kind hat, einen neuen Mann hat. Obwohl sie sich vor über einem Jahr getrennt und ihn aus der gemeinsamen Wohnung geworfen hatte, obwohl er inzwischen selbst manisch-triumphierend eine heftige, aber kurze Beziehung zu einer anderen Frau gehabt hatte, die er sogar heiraten wollte, hatte er offenbar die unbewusste Illusion aufrechterhalten, er sei trotz allem doch der eigentliche Mann der Exfreundin. Voller wütender, verzweifelter, geradezu panischer Eifersucht durchwühlte er ihre Wohnung (den Schlüssel hatte er sich von der Kinderfrau besorgt), um ein Zeichen der Anwesenheit eines anderen Mannes zu finden. Hier nun hatte Herr Gutheil die Angst, die er als Pubertierender nicht haben konnte, die Angst, die Mutter
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zu verlieren wegen eines anderen Mannes. Wie Herr Antinori damals für ihn geweint hatte, war er Herrn Gutheil auch jetzt voraus, denn er äußerte die ganze Wut, die Herr Gutheil noch nicht haben konnte, auf die Mütter, die ihre Söhne verführen und dann wegen eines anderen Mannes fallenlassen.
Das Resonanzphänomen in der Gruppe scheint mir auf das Phänomen der Gruppe als ganzer und ihrem Unbewussten (vielleicht ähnlich mit dem Gruppen-Selbst der Selbstpsychologen) zurückzuführen zu sein. Was die Gruppenteilnehmer einer nach dem anderen verbal mit mehr oder weniger Affekt verbunden in die Gruppe hineingeben, wird tatsächlich wie in einem Container aufbewahrt, nach und nach verwandelt, auch mit adäquaten Affekten versehen, so dass schließlich ein prädestiniertes Gruppenmitglied, das sich sozusagen mehr mit dem Gruppenunbewussten als mit einem einzelnen Teilnehmer identifiziert (auch wenn der ein weiter elaboriertes Thema eingebracht haben mag), einen adäquaten Affekt äußern kann, der vorher nicht empfunden werden konnte. Das wäre eines der deutlichsten Bilder für die Gruppe als Container-Funktion. Man kann sich natürlich die Resonanz als dyadisches Geschehen ebenso vorstellen, schließlich ist die Erzeugung von Affekten im Gegenüber durch projektive Identifikation auch ein Resonanzphänomen; der Empfänger müsste für das projektiv Ausgesendete empfänglich sein. So ist das Resonanzphänomen in der Gruppe überwiegend als Ergebnis der projektiven Identifikation verstanden worden (Finger-Trescher 1991, S. 124), Foulkes sieht das Phänomen als Ergebnis von unbewussten Kommunikationen und der Reaktion des Anderen darauf, weil im Unbewussten der beiden Akteure Übereinstimmungen existieren, »als ob ein bestimmter Ton oder eine bestimmte Saite eine gewisse spezifische Resonanz in dem Anderen aufnehmenden Individuum, im Empfänger angestoßen hat« (1964, S. 290). Auch ohne projektive Identifikation kann man sich eine affektive Antwort vorstellen, die auf einer empathischen Identifikation des Antwortenden beruht. In der Mehr-Personen-Situation der Gruppe wäre der Gruppencontainer zwischengeschaltet; zu einem bestimmten Thema geben mehrere Gruppenteilnehmer ihr Input hinein, verschieden nuanciert, auch verschieden mit Affekten versehen, dort wird
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das zu Containende umgewandelt, affektreguliert, um dann von dem einen oder anderen durch Identifikation aufgenommen und ausgedrückt zu werden. Das unbewusste Gruppenthema wird also sowohl von (mehreren) einzelnen Gruppenmitgliedern erzeugt, als es auch wiederum Einzelne aus ihm schöpfend mehr oder weniger direkt beziehungsweise in seiner Bedeutung noch verborgen herausbefördern. Der Input in den Gruppencontainer geschieht sicher überwiegend auf nonverbale Weise. Pedrina begleitete ihre MütterSäuglings-Gruppen mit Video-Aufnahmen. »Bei der Auswertung des Materials fiel auf, dass bedeutsame Verhaltensweisen der Kinder oder bestimmte emotionale Ausdrücke der Mutter jeweils schon eine oder zwei Sitzungen früher zu erkennen waren, bevor das zugrundeliegende Thema in der Gesprächsrunde artikuliert wurde« (2006, S. 189). Es wurden auch Resonanzphänomene zwischen Kindern und Erwachsenen beobachtet: »Die kindliche Regung inszeniert einen Affekt, der im Gruppengeschehen begründet ist und von einem oder einigen erwachsenen Mitgliedern der Gruppe aufgenommen wird« (S. 205). Das im Unbewussten der Gruppe Enthaltene zeigt sich manchmal an Äußerungen von Gruppenmitgliedern, die ein Thema betreffen, das in der Gruppe vorhanden war, von dem diese aber »eigentlich nichts wissen konnten«. Und ähnlich auch Pedrina: »Beide Leiterinnen sind verblüfft über die Tatsache, dass die zwei Frauen genau das Thema aufgreifen, das in der vorgehenden Sitzung, an der sie nicht teilgenommen hatten, aufgeworfen wurde. […] Diese Erfahrung, dass die Frauen, die nicht anwesend waren, so genau auf das vorangegangene Gespräch Bezug nehmen konnten, ist dadurch erklärbar, dass sich die Gruppe von Anfang an mit etwas Gemeinsamem beschäftigte, das am Anfang noch nicht bewusst war. Die Beobachtung in der dritten Stunde kann als Manifestwerden eines latenten Inhaltes der in der Gruppe vorhandenen gemeinsamen Anliegen verstanden werden« (2006, S. 169). Oder umgekehrt, bei einem Eintritt eines neuen Mitglieds in die Gruppe schneidet die Gruppe ein Thema an, das genau das des neuen Mitglieds ist, das aber noch nichts darüber geäußert hat. Etwa bei der Täter-Opfer-Gruppe (Hirsch 2003, S. 174)
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in der ersten Sitzung von Bernd, der aus Angst vor dem bevorstehenden Prozess wegen sexuellem Missbrauchs eines Jugendlichen in die Gruppe kam: Bernd stellt sich vor, er sei ziemlich nervös. Als hätte die Gruppe eine Ahnung von dem zentralen Problem des neuen Mitglieds, wird das Thema gleich in seiner ganzen Komplexität von Paula aufgeworfen: Ihr »Heile-Familie-Weltbild« sei zusammengebrochen, seit sie nicht mehr darüber hinwegsehen kann, dass sie als Kind von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht worden sei, sie sei jetzt ganz sicher und mache sich die heftigsten Vorwürfe, ihre eigenen Kinder jahrelang zur Mutter und zu eben diesem Stiefvater gegeben zu haben. Sie wisse nicht, wie sie es den Kindern erklären solle, dass sie ihn allein nicht mehr besuchen dürften. Wenn sie es sage, habe sie Angst, dass es die Mutter erführe, das würde das Ende der Beziehung bedeuten. Paula stellt sich also nicht nur als Missbrauchsopfer dar, sondern fragt sich und die Gruppe, inwieweit auch sie eine Täterin ihren Kindern gegenüber ist. Zu einer anderen Zeit kam in dieselbe Gruppe ein Gruppenmitglied, Karla M., die in den Vorgesprächen erzählt hatte, dass ihre Blutungen so stark und dauerhaft und nicht beherrschbar gewesen waren, dass man ihr nach vielen gescheiterten Therapieversuchen im Alter von 29 Jahren den Uterus entfernen musste. Ohne irgend etwas darüber zu wissen, beginnt in der ersten Sitzung von Karla ein anderes Gruppenmitglied, Lisa, über ihre starken Blutungen zu sprechen, auch dass sie einen Gynäkologen gefunden habe, der schonend die Myome entfernen würde; andere Gruppenmitglieder schließen sich an die Diskussion über den weiblichen Körper an. Aus der Supervision einer Therapie habe ich ein Beispiel einer spätadoleszenten Patientin kennengelernt, die in den Vorgesprächen die Therapeutin darauf verpflichtete, auf keinen Fall etwas über die Vergewaltigung zu sagen, deren Opfer sie – unter Drogen und alkoholisiert – vor ein paar Jahren gewesen war, Vergewaltigung durch eine Gruppe von Jugendlichen, die sie fünf Stunden in einen Raum eingesperrt hatten. In der ersten Gruppensitzung der Patientin ist erst langes Schweigen, dann stellen sich die Gruppenmitglieder mit den knappsten Informationen vor, wieder Schweigen. Die Therapeutin bemüht sich, den Gruppenprozess in Gang zu bringen, nach und nach entwickeln sich Gruppenphantasien: Angst vor fundamentalistischem Terror; eine Patientin äußert, sie habe Angst sowohl zu Hause (Innenraum, eingesperrt) als auch auf der Straße.
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Nun erzählt eine andere Patientin, dass eine Freundin von ihr vor ein paar Jahren auf einer Auslandsreise nach einer Vergewaltigung ermordet worden ist!
Schlussbemerkung Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass die zeitgenössische Diskussion über die interaktionelle und intersubjektive Realität der analytischen Beziehung die Psychoanalyse zu der Beziehungswissenschaft macht oder schon gemacht hat, die sie eigentlich schon immer war. Die Gruppenanalyse oder analytische Gruppenpsychotherapie, von der großen Mutter Psychoanalyse zwar immer toleriert, aber doch nicht ganz integriert, kann sozusagen nur schmunzeln über die neuen Entwicklungen, denn sie war in ihrem Wesen immer interaktionell und intersubjektiv; von Übertragung und Gegenübertragung zwischen gleichberechtigten Gruppenmitgliedern zu sprechen, würde unrealistisch wirken. Für schwerer gestörte, also traumatisierte, also borderlinepersönlichkeitsgestörte Patienten ist seit langem die Therapie in der Gruppe für günstig befunden worden (z. B. Horwitz 1987). Begriffe wie Gruppenmatrix (Foulkes 1964), Gruppenkohäsion, Gruppenkultur, auch die ganze Gruppe als Mutterrepräsentanz (bereits Schindler 1951/1980) weisen auf die für diese Patienten basal notwendigen Funktionen des mütterlichen Haltens und Containings hin. Containing wird analog der Vorstellung Fonagys und Targets (2000/2001), die das Containing durch die Mutter als erste Symbolisierungs- und Mentalisierungsfunktion für den Säugling verstehen, die dieser durch Internalisierung (Identifikation) sich zu eigen macht, auf die Gruppe bezogen. Die Gruppe wird so zu einem Container, der alles Hineingegebene modifiziert, symbolisiert und in verträglicher Form dem einzelnen zurückgibt. Das geschieht durch die Intervention oder Reaktion einzelner oder des Leiters, besonders aber durch die freie Gruppendiskussion, die das unbewusst in der Gruppe Enthaltene offenbar machen kann. Insbesondere Identifikation und Konfrontation als zwei Formen des Spiegelns sind verändernde Wirkfaktoren der Grup-
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penpsychotherapie. Identifikation mit den anderen Gruppenmitgliedern, mit der Gruppe als ganzer, der Gruppenkultur, der Gruppenmatrix; die Konfrontation durch die Anderen, die Erfahrung, dass über den Einzelnen gedacht wird, so dass er sich selbst als Denkenden erfahren kann (dieser Gedanke geht auf Bion zurück), gedacht aber in facettenartig vielfältig verschiedenen Formen. Wie bei der metaphorischen Deutung in der Borderline-Therapie hat der einzelne Gruppenpatient die Wahl, sich mit dem konfrontativen Angebot zu identifizieren oder es von sich zu weisen, wenn er es mit seinem Bild von sich noch nicht vereinbaren kann. Archaische Ängste, von der Mutter-Imago, die die Gruppe auch repräsentiert, verschlungen zu werden, erweisen sich deshalb als nicht so begründete Erwartungsangst (vor dem Kommenden für den neu in die Gruppe Eintretenden), weil die Gruppe immer eine trianguläre oder triadische Situation ist. Heftige aggressive Angriffe werden relativiert, gewissermaßen symbolisierend aufgefangen durch die Intervention Dritter, zumindest des Leiters, besonders wenn es sich um eine Sündenbock-Dynamik handelt. Das Trauma zerstört die Symbolisierungsfähigkeit, auch die Beziehungsfähigkeit, es spaltet Affekte ab und verhindert jeden Zugang zu ihnen. Nirgends hat man eine so große Chance zu erfahren, wie über einen gedacht wird, hat man die Möglichkeit, sich zu äußern in seinem Denken, wie in der analytischen Gruppe. Hier ist der Ort der Wiedergewinnung der Affekte (die erst einmal ein Anderer erleben und äußern kann: Resonanzphänomen), auch der Ort der Entwicklung von zunehmendem Vertrauen in Beziehungen zu Menschen, denn in der Gruppe herrschen Toleranz und eine Art nichtmoralischer Ethik, die nur eines fordert: authentisch, also wahrhaftig zu sein, sich (und den Anderen) nichts vorzumachen, sich vielmehr auf die Suche nach der wahren Identität (jedenfalls Nicht-Opfer-Identität der Traumatisierten) mit Hilfe aller anderen Gruppenmitglieder zu machen.
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Einleitung Der Begriff der Mentalisierung bezeichnete ursprünglich die Transformation somatischer Triebqualitäten in symbolische Formen (vgl. Lecours u. Bouchard 1997). Demgegenüber ist mit der reflexiven Funktion die Fähigkeit gemeint, eigenes und fremdes Verhalten als durch mentale Zustände (Wünsche, Phantasien, Ängste) motiviert zu verstehen und diese Zustände als subjektiv anzuerkennen. Sie ermöglicht ein reifes Denken über sich selbst und den Anderen. In den letzten Jahren hat es sich zunehmend eingebürgert, Mentalisierung und reflexive Funktion gleichzusetzen und Mentalisierung als Oberbegriff zu verwenden. Ich folge dieser inzwischen weithin akzeptierten Sprachregelung. In einer großen Monographie haben Fonagy und Mitarbeiter (2002/2004) das Konzept der Mentalisierung in spezifischer Weise ausgearbeitet. Sie greifen dabei auf ältere Vorstellungen zur Symbolisierung (Freud, Segal, Bion, Winnicott) zurück, entwickeln aber eine neue Ebene des Verständnisses, indem sie eine Synthese aus Ergebnissen der Bindungstheorie, der Säuglingsforschung, der Neuropsychoanalyse sowie behandlungstechnischen Vorgehensweisen unterschiedlicher psychoanalytischer Richtungen herstellen. Speziell für die Behandlung von Borderline-Störungen haben sie ein teilweise operationalisiertes Behandlungsmanual (Bateman u. Fongagy 2004; vgl. den Beitrag von Bolm in diesem Band) entwickelt, dessen Prinzipien auch für viele andere Patienten mit Störungen der Symbolisierungsfähigkeit nützlich sind. Sie beschreiben darin jeweils ein tagesklinisches und ein ambulantes Behandlungssetting. In beiden kommt eine Kombination aus Einzel- und Gruppenpsychotherapie zum Einsatz.
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In der gruppenanalytischen Literatur finden sich bei S. H. Foulkes (Foulkes 1964/1986; Foulkes u. Anthony 1975/1984), auf den ich mich im Wesentlichen beziehen werde, eher indirekte Hinweise auf Mentalisierungsprozesse in Gruppen. Ebenso geht Foulkes eher beiläufig auf die daraus resultierenden Implikationen für die Behandlungstechnik ein. Ziel dieses Beitrages ist es, das Foulkes’sche Modell unter dem Gesichtspunkt der Mentalisierung zu betrachten und in einigen Aspekten zu erweitern.
Das Modell der Mentalisierung Mit Mentalisierung ist die Bildung eines symbolvermittelten sekundären Repräsentationssystems der Affekte, des Selbst und der Objekte gemeint. Dies gelingt durch die kontingente Spiegelung der Affekte des Kindes durch die Primärobjekte. Diese sekundären Repräsentationen bilden eine Art Puffer gegenüber ungefilterten primären, das Selbst und seine Beziehungen destabilisierenden Affektzuständen. Auf diese Weise werden Affektregulation, stabiles Selbstwertgefühl und integrierte Bilder des Selbst und der Objekte gesichert, so dass eigene und fremde Innenwelt zutreffend wahrgenommen und interpretiert werden können. Dieses Modell setzt eine primäre Bezogenheit des Kindes voraus (s. a. Balint 1937/1965; Fairbairn 2000), das seine geistig-seelischen Fähigkeiten nur im engen Zusammenspiel mit den Pflegepersonen entwickeln kann. Es knüpft vor allem an Winnicott und Bion an. Nach Winnicott (Winnicott 1971/1974) erkennt sich das Kind im Blick der Mutter. Bion (Bion 1962/1984) postuliert eine (Mentalisierung ermöglichende) Alphafunktion der Mutter, mit der sich das Kind identifiziert.1 Das Mentalisierungskonzept stellt einen entwicklungspsychologisch fundierten Referenzrahmen bereit, innerhalb dessen der 1 Auch Loewald (1960) hat in seiner bahnbrechenden Arbeit zur psychoanalytischen Therapie darauf hingewiesen, dass die Eltern gewissermaßen ein Bild des Kindes entwickeln, das sie leitet und das sie dem Kind als Wachstumsanreiz übermitteln.
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»interpersonal/intersubjective turn« der modernen Theoriebildung konzeptualisiert werden kann: Entwicklung, Krankheit und Gesundheit sowie Therapie lassen sich nur im Rahmen einer Feldtheorie verstehen, bei der zwei oder mehr Interaktionspartner einen Bereich gegenseitiger Kommunikation und Beeinflussung konstituieren. Diese Theorie überschreitet die ursprünglich Freud’sche Konzeption der Übertragung als eines im Wesentlichen im Patienten generierten Phänomens, wobei der Analytiker lediglich als Projektionsfläche dient und eigene Gefühle, Phantasien und Handlungsimpulse innerhalb einer »zu bemeisternden Gegenübertragung« weitgehend ausschalten sollte. Gruppenanalytiker haben schon immer gewusst, dass dies eine enorme Verkürzung der Betrachtungsweise darstellt. In der Gruppe bildet sich die völlige Interdependenz aller Beteiligten (inklusive Gruppenanalytiker) mit besonderer Klarheit heraus und kann als Medium der Veränderung benutzt werden. Dies entspricht auch der gruppenanalytischen Vorstellung, wonach Menschen in erster Linie Gruppenwesen sind, die für ihre Entwicklung und vor allem auch die Aufrechterhaltung von Gesundheit und Wohlbefinden auf den ständigen Kontakt mit anderen angewiesen sind. In der psychoanalytischen Literatur findet sich die Feldtheorie bereits bei Fairbairn (1952; 2000), später dann bei den Barangers (1966). Balint (1952; 1968/1970) versteht seine Idee des Neubeginns ebenfalls in einem dyadischwechselseitigen Zusammenspiel von Analytiker und Analysand. Ferro (2003) spricht in Weiterentwicklung der Theorie der Barangers vom »bipersonalen Feld«. Schließlich sei die große Gruppe der Relationalen Psychoanalytiker (beispielsweise Aron 1996; Mitchell 1993; 2003; Mitchell u. Aron 1999) erwähnt, die den Feldgedanken ihren Theoriebildungen als systematisches heuristisches Prinzip zugrunde legen. In Analogie zu Ferro könnte man von einem »multipersonalen Feld« in der Gruppe sprechen, bei dem Spiegelungsprozesse im weitesten Sinne eine herausragende Rolle spielen.
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Die Bedeutung der Bindung Fonagy et al. (2002/2004) betrachten das Bindungssystem als evolutionäre Errungenschaft, deren primäres Ziel neben dem Sichern des Überlebens nicht Bindung an sich (im Gegensatz zu Bowlby), sondern die Herstellung einer die Mentalisierung fördernden Situation ist. Mentalisierung ist erforderlich, um das soziale Zusammenleben der Menschen zu regulieren und weitere spezifisch menschliche Eigenschaften auszubilden. Die Fähigkeit, dem Kind Mentalisierung zu ermöglichen, hängt ihrerseits von den Bindungs- und daraus abgeleiteten Mentalisierungsfähigkeiten der Eltern ab. Mütter, die schon vor der Geburt eines Kindes strukturierte Bilder des Kindes entwickeln, haben in der Regel auch sicher gebundene Kinder. Typischerweise finden sich bei Borderline-Patienten und anderen schweren Persönlichkeitsstörungen unsichere beziehungsweise verstrickte Bindungstypen, oft verbunden mit ungelösten Traumata. Gestörte Bindungsfähigkeit und damit eng verbundene Störungen der Mentalisisierungsfähigkeit bedingen in der weiteren Entwicklung, dass oft wieder gestörte Bindungen (nicht selten zu erneut missbrauchenden Beziehungspersonen) hergestellt werden. Damit unterbleiben korrigierende Bindungserfahrungen und ein Ausgleich der gestörten Mentalisierung.
Neuropsychoanalytische Aspekte Gestörte Bindungen greifen unmittelbar in biologische Reifungsvorgänge ein und hemmen sie. Sie beeinträchtigen die Hirnreifung in den Arealen, die für die Verarbeitung und Regulation von Affekten zuständig sind (insbesondere orbitofrontale und rechtshemisphärische Partien). Die Vermittlung erfolgt hier oft über stressinduzierte erhöhte Cortisol- und Katecholamin-Spiegel, die zum Untergang von Nervenzellen und gestörter Neurogenese und Myelinisierung führen. Ferner bilden sich abnorme Erregungsverläufe (arousal reaction) mit überschießenden Stress-Reaktionen aus, die die Funktion der Hirnpartien, die Affekte regulieren, im Sinne einer pathogenen Umschaltung beeinträchtigen.
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Nimmt man biologische und psychosoziale Faktoren zusammen, findet sich also ein Teufelskreis: Gestörte Bindung beeinträchtigt Hirnreifung und Mentalisierung. Die daraus resultierende erhöhte Vulnerabilität führt zu persistierenden Störungen in Beziehungen, die ihrerseits das Mentalisierungsdefizit und die arretierte Hirnreifung perpetuieren. Erfolgreiche Psychotherapien fördern die Mentalisierung, bewirken eine Nachreifung arretierter Hirnstrukturen und unterstützen damit die Fähigkeit, gesündere Bindungen im Sinne einer Heilungsspirale einzugehen. So werden beispielsweise nach Traumata atrophierte hippocampale Strukturen durch Psychotherapie wiederhergestellt. Generell erweisen sich diese Strukturen – im Gegensatz zu älteren Theorien – als bis ins hohe Lebensalter plastisch und damit auch psychotherapeutischer Veränderung zugänglich.
Das Modell des psychosozialen Feedbacks (Gergely und Watson) In der normalen Entwicklung spiegelt die Mutter phasenadäquat die primären Affekte des Kindes und fördert dadurch die Bildung einer kohärenten Selbstrepräsentanz mit der Fähigkeit, Affekte zuzuordnen und zu regulieren. Diese Spiegelung erfolgt als sogenanntes »markiertes Spiegeln«, wodurch die Mutter einerseits dem Kind seinen Affekt widerspiegelt, andererseits durch eine geringgradige Entfremdung deutlich macht, dass es nicht ihr Affekt ist (referentielle Entkoppelung). Die Mutter wird beispielsweise auf ein Schmerzerleben des Kindes mit einem eigenen Schmerzausdruck in ihrer Mimik reagieren, diesen aber immer wieder unterbrechen und damit einen Unterschied ihres Erlebens gegenüber dem des Kindes deutlich machen. Detaillierte Interaktionsstudien zeigen, dass Pflegepersonen den Affekt des Kindes mimisch und vokal in besonderer Weise wiedergeben, sich also im Sinne der in allen Kulturen nachweisbaren Ammensprache verhalten: Gefühle werden verlangsamt, übertrieben und mit hoher Stimme wiedergegeben. Das Kind bemerkt dadurch, dass die Mutter seinen Affekt versteht, gleichzei-
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tig aber auch einen anderen Affekt, nämlich ihren eigenen, zum Ausdruck bringt. Dadurch erlebt das Kind, wie es beim Anderen mit seinem Affekt etwas erreicht, der Andere diesen Affekt aber modulieren kann. Gleichzeitig lernt das Kind durch Identifikation mit der Mutter, seinen Affekt zu modulieren, wodurch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit entsteht. Mit zunehmendem Alter nimmt die Kontingenz des Spiegelns ab: Während die Mutter in den ersten drei bis fünf Monaten vor allem das Selbst des Kindes spiegelt, drückt sie später auch ihren eigenen, vom Kind unterschiedenen Affekt deutlicher aus und erlaubt dadurch eine genauere Repräsentanz auch des Objekts. Dies ist auch eine Voraussetzung für das Erleben von Getrenntheit. Je feinfühliger sich die Mutter erweist, umso eher kann ein differenziertes Repräsentanzensystem entwickelt werden, das reifes symbolvermitteltes Erleben und Denken ermöglicht. Wichtig ist dabei, dass die Mutter dem Kind Eigenständigkeit und Intentionalität zuschreibt, mithin zwischen ihren eigenen und den Affekten und Intentionen des Kindes klar zu unterscheiden vermag.
Stadien der Mentalisierung Als erste Stufe der Mentalisierung entwickelt sich ein teleologisches Verständnis des Selbst und der Anderen. Es gilt das »Prinzip des rationalen Handelns«, wonach sich das Kind noch keine inneren Beweggründe vorstellen kann (bis circa acht bis neun Monate). Innen und außen werden gleichgesetzt (Modus der psychischen Äquivalenz). Was gedacht wird, ist auch real so vorhanden. Beim erwachsenen Patienten, der in hypochondrischer Weise Körperwahrnehmungen interpretiert, bekommen diese eine unmittelbar bedrohliche Gewalt, wenn er teilweise an diesen Erlebensmodus fixiert ist. Ebenso können bei manchen Borderline-Patienten Worte einen (unter Umständen vernichtenden) Realcharakter annehmen, der beispielsweise zu gewalttätigen Handlungen verleitet. In anderer Diktion könnte man von einer Phase des Konkretismus sprechen. (Dies entspricht in etwa der pensée opératoire der französischen Psychosomatiker oder der schizoid-paranoiden Position der Kleinianer).
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Im weiteren Verlauf kommt es zur Bildung eines zweiten Modus, der von der Realität streng getrennt ist: der Als-ob-Modus. Hier kann sich das Kind in Gedanken etwas vorstellen, das in der Realität nicht unmittelbar gegeben ist, es kann mit seinen Gedanken spielen, muss sie aber von der Realität getrennt halten. Beide Modi werden eine Zeitlang nebeneinander verwendet, bis es im Alter von circa vier bis fünf Jahren zu einer langsamen Integration kommt und zur Fähigkeit, Innenwelt und Außenrealität miteinander zu verbinden. Gedanken und Gefühle können dann als wichtige innere, subjektive Vorgänge anerkannt werden, die gleichzeitig in enger Verbindung zur Außenwelt stehen. Innen und Außen können nun angemessen verbunden werden. Eigene innere Vorgänge können von denen der Objekte unterschieden werden, das Verhalten der Objekte wird nachvollziehbar und berechenbar. Dabei ist das Kind auf Eltern und ältere Geschwister angewiesen, die einerseits den Charakter der subjektiven Realität des Kindes teilen (beispielsweise im Spiel bestimmte Rollen übernehmen), andererseits den Realitätsrahmen halten und damit die schrittweise Verbindung zur Außenwelt herstellen und die Vernetzung dieser beiden Modi mit einer reifen Realitätswahrnehmung ermöglichen.
Gestörte Mentalisierung durch abnormes Spiegeln Störungen der Spiegelungsfunktion führen zu defizienten, die weitere Entwicklung massiv beeinträchtigenden Modi der Mentalisierung (s. o). Dadurch, dass das Kind nicht kongruent gespiegelt wird, kann es sein eigenes Selbst nicht als intentional und abgegrenzt erfahren, es wird eher die mütterlichen Affektzustände sowie deren Abwehr übernehmen und dadurch auch in einem Zustand relativer Ungeschiedenheit verharren. Umgekehrt wird es die Intentionen anderer in grober Weise missverstehen mit allen daraus resultierenden Beziehungsproblemen. Verbleibt die Person überwiegend im Stadium der psychischen Äquivalenz, kann sie sich keine intrapsychischen Motive vorstellen. Dann zählt nur die konkrete Handlung, es gibt keine Vorstellung anderer Perspektiven oder konfligierender Motive.
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Bei einer Fixierung im Stadium des Als-ob-Modus entsteht eine abgespaltene Phantasiewelt, die keinen direkten Bezug zur äußeren Realität hat. Bei manchen Patienten imponiert dies als scheinbar ausgeprägte Introspektions- und Phantasiefähigkeit, die sich bei näherer Betrachtung aber als steril und abgelöst erweist und – wenn sie nicht erkannt wird – zu endlosen Therapien mit Pseudo-Einsichten führt. In der Praxis findet sich oft eine Kombinationen beider Mentalisierungsstörungen. Sieht man von genetisch-konstitutionellen Faktoren beim Kind ab, die natürlich mit Sicherheit auch eine Rolle dabei spielen, wie die frühe Beziehung erfahren wird, lassen sich folgende Störungen des Spiegelns beschreiben: 1. Unmarkiertes Spiegeln Wenn die Mutter statt des markierten Spiegelns ihren eigenen unmodulierten Affektausdruck zeigt, beispielsweise auf die Angst des Kindes mit eigener Panik reagiert, kann das Kind keinen Unterschied bemerken. Es wird die Angst der Mutter als seine eigene empfinden und dadurch etwas Fremdes in sein sich bildendes Repräsentanzensystem aufnehmen. Fonagy spricht von der Entstehung eines Fremden Selbst, das wie ein Fremdkörper in der Selbststruktur verbleibt und seine Wirkungen tut. Da keine Mutter zu perfektem Spiegeln in der Lage ist, finden sich Anteile eines Fremden Selbst in jedem Menschen. (Man könnte hier Verbindungen herstellen zu Winnicotts Vorstellung vom Falschen Selbst, das auch immer vorhanden ist. Allerdings hat bei Winnicott das Falsche Selbst die Funktion, das Wahre Selbst zu schützen, während bei Fonagy et al. das Fremde Selbst gerade die Herstellung und das Funktionieren einer authentischen Selbststruktur beeinträchtigt.) Dieses Fremde Selbst wird immer wieder nach außen projiziert, um ein authentisches Selbsterleben zu ermöglichen und die Kohärenz des Selbst zu erhalten. Dafür dienen wichtige Bezugspersonen, deren Verlust zu einer Re-Introjektion des Fremden Selbst und daraus resultierender Desorganisation führt. Diese Störung der Affektmodulation findet sich oft bei Borderline-Patienten in zahlreichen Lebenssituation sowie auch bei Patienten mit Angststörungen, die auf eine erste, als traumatisch erlebte Panikattacke mit weiterer Angstentwick-
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lung reagieren, so wie seinerzeit die Mutter eher mit Panik als mit Beruhigung reagierte. 2. Vermeidung der Affektspiegelung Hier wird der kindliche Affekt entweder ignoriert oder als Ausdruck primär körperlicher Zustände wie Müdigkeit, Hunger und anderem mehr interpretiert. Die Folge ist eine mangelhafte sekundäre Repräsentation des Selbst mit schizoiden Zügen, »weil nur das psychische Realität erlangen kann, was geteilt wurde« (Köhler 2004). Manche Formen psychosomatischer Pathologie, insbesondere die klassischen somatoformen Krankheitsbilder, lassen sich nach diesem Modell gut verstehen: Die Patienten benutzen ihre Körpersymptomatik als Kommunikationsmedium und -versuch, weil ihnen keine symbolvermittelten verbalen Kommunikationsmuster zur Verfügung stehen. 3. Markiertes, aber inkongruentes Spiegeln Wenn die Mutter ein völlig unzutreffendes Spiegeln zeigt, kann das Kind kein eindeutiges Gefühl für seine Affekte und sein keimendes Selbst entwickeln, es wird eine narzisstische Pathologie mit Gefühlen der Leere und Unechtheit (Falsches Selbst nach Winnicott) ausbilden.2
Folgerungen für die Behandlungstechnik Ausgehend vom Modell des psychosozialen Spiegelns plädieren Fonagy und Mitarbeiter für eine aktive, Klärung und Konfrontation betonende Behandlungstechnik. Dabei stehen die Erfassung, Differenzierung und Verbalisierung der eigenen und fremden 2 Gefühle von Leere und mangelnder Selbstkohärenz finden sich auch im Fall des unmarkierten Spiegelns, das eher zu einer BorderlinePathologie führt. Hier wirkt sich eher das Fremde Selbst aus, das das kongruente Selbsterleben stört, als Teil des Selbst auch immer wieder auf Beziehungspersonen projiziert werden muss. Kleinianische Autoren weisen darauf hin, dass das Ich durch den permanenten Gebrauch der projektiven Identifikation verarmt.
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Affektzustände ganz im Vordergrund, während »tiefe« (Trieb-) Deutungen sowie die Interpretation größerer Zusammenhänge zunächst unterbleiben. In einem kleinschrittigen Vorgehen wird zunächst ein Gerüst des Affektverständnisses erarbeitet. Dabei interessieren neben den wechselnden Affektzuständen vor allem die Übergänge und Transformationen: Warum wurde in welcher Situation welcher Affekt ausgelöst? Was ging voraus, welche Alternativen gäbe es? Warum wandelt sich Wut beispielsweise in Angst um oder umgekehrt? Durch diese Einbettung des affektiven Erlebens in einen schließlich sinnvoll verstehbaren Kontext verliert das Erleben etwas von seiner zwingenden Eindimensionalität und bekommt Schattierungen, Tiefe und Variabilität. Erst dann sind Alternativen (auch in jetzt bedenkbaren Handlungen) vorstellbar und können ausprobiert werden. Fonagy betont immer wieder, wie wichtig es ist, eine analytisch-abstinente Position, die Mentalisierung erst ermöglicht, aufrechtzuerhalten, auch wenn bei diesen Patienten ein besonderes Maß an Aktivität vom Analytiker gefordert wird. Fonagy et al. äußern sich sehr skeptisch gegenüber einem Konzept von »korrektiver emotionaler Erfahrung«, das eine besonders freundliche, Befriedigung gewährende und vorhandene Probleme eher umgehende Beziehungsgestaltung meint. Korrektiv ist für den Patienten eher, wenn er erfährt und lernt, wie der Analytiker in den Affektstürmen und Beziehungskrisen eine Haltung geduldigen Verständnisses aufrechterhält.3 Sie warnen vor Verwicklungen, die sich gerade aus konkretistischen Missverständnissen und daraus erwachsenden unrealistischen Erwartungen an den Analytiker ergeben könnten. Die abstinente Haltung sichert gerade einen Rahmen, der Mentalisierung ermöglicht. 3 Man kann dies auch als eine Kritik an bestimmten selbstpsychologischen Vorstellungen lesen, wonach es ausreichend ist, eine positive Selbstobjekterfahrung anzubieten, die dann gewissermaßen aus sich heraus die arretierten Entwicklungsprozesse wieder in Gang bringt, ohne dass ein besonderes Augenmerk auf die Schwierigkeiten der Affekt-, Selbstwertregulierung sowie der Beziehungsprobleme gerichtet werden müsste.
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Während dieses an umschriebenen Episoden arbeitende Vorgehen über weite Strecken vorherrscht, sind erst in fortgeschrittenen Stadien der Behandlung weiter ausgreifende Deutungen üblichen Stils möglich und sinnvoll. Fonagy et al. warnen davor, die Verarbeitungskapazität des Patienten zu überfordern und mit ihm in einen Pseudodialog im Als-ob-Modus zu treten – wozu vor allem auch Patienten neigen, die schon über sehr viel Behandlungserfahrung verfügen. Nach ihren Erfahrungen ist zunächst die Einzeltherapie der Anker und Motor der Therapie, erst später gewinnt die Gruppe an Bedeutung, wobei dann die Einzeltherapie dazu genutzt werden kann, die Erfahrungen in der Gruppe aufzuarbeiten. In der Gruppe kann der Patient in erster Linie Rückmeldungen auf sein eigenes Verhalten bekommen und das Verhalten – und zunehmend die dem zugrundeliegenden Motive der Anderen kennenlernen, erforschen und verstehen. Die Gruppe bietet also eine Version des Spiegelns an, oft allerdings zunächst nicht in der bekömmlichen markierten Weise, was zu Problemen führen kann. Für Fonagy et al. ist ganz klar, dass die Gruppentherapie nur in Verbindung mit Einzeltherapie durchgeführt werden kann, wobei zu berücksichtigen ist, dass er mit einer Population schwer gestörter, oft seit langem kranker und sozial desintegrierter Patienten arbeitet.
Gruppenanalyse und Mentalisierung Ich beziehe mich hier im Wesentlichen auf die Beiträge von Foulkes und die mit ihm verbundenen Theoretiker, beziehe aber auch die Überlegungen Bions mit ein. Foulkes (1964/1986; Foulkes u. Anthony 1957/1984) hat keine ausgearbeitete Theorie des Symbolisierungsprozesses in der Gruppe hinterlassen, ebenso sind seine Ausführungen zur Behandlungstechnik eher fragmentarisch-assoziativ, er hat offensichtlich keine systematische Ausarbeitung gesucht, diese vielleicht sogar bewusst vermieden. Der Begriff Translation (zu Deutsch etwa mit »Übersetzung« zu bezeichnen) nimmt eine zentrale Stellung im System von
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Foulkes ein. Gemeint ist eine Überschreibung von Symptomen oder Problemen von einer Erscheinungsebene in die andere: Das später gewissermaßen als autistisch imponierende Symptom des Einzelnen entsteht in einem gestörten familiären beziehungsweise sozialen Kontext und weist auf Probleme in der Primärgruppe hin. Im Verlauf einer Gruppenpsychotherapie stellt sich durch Übertragung-Gegenübertragung die ursprüngliche Problemsituation wieder her, das individuelle Symptom wandelt sich in eine interpersonelle Beziehungsstörung, die dann in der Gruppe transformiert werden kann. Die Gruppe bildet eine dynamische Matrix, die alle Beziehungskonstellationen und dazugehörigen Phantasien und Gefühle der Gruppenmitglieder aufnimmt, im kollektiven Gedächtnis bewahrt, deren Geschichte widerspiegelt und gleichzeitig ein wichtiges Medium der Veränderung darstellt. Vielleicht könnte man sagen, dass die dynamische Matrix der Übertragung-Gegenübertragung in der Einzeltherapie-Situation entspricht: Sie führt zur Verflüssigung und damit Aktualisierung der ursprünglich pathogenen Situation und birgt gleichzeitig das Potenzial für deren Lösung.4 Foulkes beschreibt neben den aus der Einzelanalyse geläufigen Prozessen wie Projektion, Identifikation und so weiter gruppenspezifische Vorgänge, die vor allem auch etwas mit der Vermittlung und Verteilung von Affekten im Gesamt der Gruppe zu tun haben. Mit Resonanz ist der Widerhall gemeint, den der Beitrag eines Gruppenmitglieds bei den Anderen erzeugt. Eine wichtige Rolle kommt dabei der (Affekt-)Spiegelung zu. Viele scheinbar stumme Fortschritte einzelner Gruppenmitglieder haben mit der identifizierenden Teilhabe am Erleben der anderen Gruppenmitglieder, deren Durcharbeitung und teilweiser Assimilation 4 Foulkes spricht außerdem von der kulturellen Matrix als Gesamt der Beziehungskonstellationen und damit einhergehenden Phantasien und Gefühlen beispielsweise einer Gesellschaft. Die individuelle Matrix beschreibt diese Konstellation der Beziehungen beim Einzelnen. Die verschiedenen Matrices sind natürlich aufeinander bezogen und beeinflussen sich wechselseitig. Erinnert sei hier auch an Freuds Überlegungen zu den kulturspezifischen Inhalten des Über-Ich.
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zu tun. Bei sehr schizoiden Personen dominiert oft über Jahre ein nicht verbalisierter Wechsel von Projektion und Introjektion und damit ausgelösten inneren, nie direkt in der Gruppe ausgetragenen Verarbeitungszyklen. Die Resonanz ist dann genauso wirksam, wird aber nach außen erst im Nachhinein sichtbar. Besonderheiten (und Vorteile) der Gruppensituation betreffen ferner die möglichen multiplen Übertragungen (zwischen den Gruppenmitgliedern, von Gruppenmitgliedern auf den Leiter oder die Gesamtgruppe) und damit korrespondiere Gegenübertragungen der Mitglieder und auch des Leiters. Die Pluralität der Wertehaltungen der Gruppenmitglieder fördern Spannung, Anregung und kritische Reflexion in der Gruppe. Mit dem Begriff Ego-Training in action ist eine Formulierung für Mentalisierungsprozesse, nach meinem Verständnis aber auch für die gesamte korrektive emotionale Erfahrung in der Gruppe verbunden (hinsichtlich der enormen Verkürzung des Begriffs korrektive emotionale Erfahrung bei French und Alexander [1946] s. o.). Die Auseinandersetzung der Gruppenmitglieder untereinander führt zu einer Herstellung von multiplen Übertragungen, der symbolischer Verankerung und zugleich Überwindung. Der Andere (insbesondere auch der Gruppenleiter) erweist sich einerseits als nicht der, der er gemäß der Übertragungserwartung sein müsste (Auflösung der Übertragung). Gleichzeitig bietet der Andere darüber hinaus die Möglichkeit neu geschaffener gemeinsamer Wirklichkeit (Intersubjektivität), bei der beide konstruktiv-konstruierend ein neues, im gelungenen Fall an Möglichkeiten reicheres Beziehungsfeld schaffen. Fairbairn (1952) hatte schon in den 1940er Jahren auf die Janusköpfigkeit der Therapiesituation hingewiesen: Möglichkeit der Wiederholung alter Erfahrung, deren Entkräftung und zugleich korrigierende Erfahrung mit einem neuen, benignen Objekt. Dies gilt für alle Dyaden innerhalb der Gruppe, aber natürlich auch und ganz besonders für die sich ständig weiter entwickelnde Gruppenmatrix, die mehr und mehr den Charakter vertiefter geteilter Intersubjektivität gegenüber der vorher bestehenden Konfrontation relativ isolierter Einzelindividuen gewinnt. Foulkes erwähnt, dass die Gesamtgruppe im Unbewussten auch eine Repräsentanz der frühen Mutter mit allen dazu ge-
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hörigen Ängsten, aber auch Hoffnungen und Erwartungen darstellt. An dieser Stelle könnte man auf Bions (1962/1984; 1963/1984; 1967) Vorstellungen zum Container verweisen, die dieser aber vornehmlich im Rahmen der Einzelanalyse ausgearbeitet hat. (Seine in dem einflussreichen Buch »Experiences in Groups« [1961/1991] niedergelegten Gedanken zu Gruppenprozessen hat er leider nicht weiter ausgearbeitet.) Diesen Gedanken aufnehmend und mit Foulkes verbindend könnte man auch eine Container-Funktion der Gruppe im Sinne der frühen Mutter postulieren, die die Affekte und Protogedanken des Kindes aufnimmt, prozessiert und in bekömmlicher Form an das Kind weitergibt. In anderer Diktion könnte man von einem sich wandelnden Container und gewissermaßen erweiternden, in seiner Aufnahmefähigkeit zunehmenden »aktiven Container« sprechen. (Bion geht hingegen nach meinem Verständnis von einem gegebenen Container aus, der entgiftet, ohne sich selbst zu verändern. Man kann allerdings manche Passagen seiner Arbeit zum Raster auch im Sinne einer wechselseitigen zunehmenden Mentalisierungskapazität lesen.) Damit wäre, wie im Weiteren zu zeigen ist, eine Schnittstelle zu den modernen Theorien der Mentalisierung sowie der Gruppenanalyse gefunden. Foulkes Bemerkungen zur Technik sind eher sparsam – so wie er auch die Rolle des Gruppenanalytikers eher in zurückhaltender Aktivität sah. Der Gruppenleiter ist Organisator, vor allem aber Conductor der Gruppe. Ein Conductor ist beispielsweise ein Dirigent, er ist jemand, der etwas zusammenführt (zwischen Gruppenmitgliedern, zwischen Körper und Geist, Intellekt und Affekt). Foulkes rät zu einem eher verhaltenen Leitungsstil, der die maximale Entwicklung und Autonomie der Gruppe fördern soll. Der Leiter sollte sich nicht als Deuter profilieren, das Deuten ist nicht seine Hauptaufgabe. Er soll nach Möglichkeit warten, ob die Gruppe nicht selbst die Lösung oder Deutung findet. Er konzentiert sich eher auf die Bearbeitung von Widerständen und kümmert sich vor allem darum, ein Maximum an Kommunikation innerhalb der Gruppe zu ermöglichen. Er bleibt also tendenziell eher im Hintergrund, ist Mitglied der Gruppe, zwar in besonderer, aber nicht unbedingt pointiert herausgehobener Position. (Man vergleiche hiermit Gruppenstile, die die Gesamt-
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gruppe dem Leiter gegenüberstellen wie bei Argelander oder in der kleinianischen Tradition. Hier wird die Gruppe als Gesamtorganismus gesehen, dessen Leben gedeutet wird, wobei der Übertragung auf den Leiter herausragende Bedeutung zugemessen wird.) Foulkes unterscheidet auch nicht besonders zwischen Einzel- und Gruppendeutungen, da der Einzelne ja auch immer Vertreter der gesamten Gruppe ist. Einzeldeutungen sind von daher immer auch an die ganze Gruppe gerichtet und betreffen die dynamische Matrix. Hier besteht also ein grundsätzlicher Unterschied zum wesentlich aktiveren, vor allem Klärung und Konfrontation betonenden Behandlungsstil bei Fonagy und Mitarbeitern. Diese Unterschiede ergeben sich möglicherweise aber auch aus den recht unterschiedlichen Patientenkollektiven, die behandelt wurden: bei Foulkes oft eine Mittelschicht-Klientel mit guter Bildung und eventuell in Ausbildung, bei Fonagy hingegen langjährige Arbeitslose mit eventuell langer Psychiatrie-Karriere. Während Foulkes präödipale und ödipale Mechanismen benennt, mit Freud aber letztlich die Lösung der mit dem Ödipuskomplex verbundenen Probleme als zentral betrachtet, haben Heising und Rost (2002) in einer vielleicht zu wenig diskutierten Arbeit ihre Erfahrung mit Gruppen anders konzeptualisiert. Auf dem Hintergrund der Theorien von Fairbairn und Melanie Klein stehen für sie die präödipalen Themen in zyklischer Wiederkehr ganz im Vordergrund; für den erfolgreichen Verlauf ist eine explizite Durcharbeitung der ödipalen Konflikte nicht unbedingt erforderlich (dies deckt sich mit meinen Erfahrungen in Gruppen unterschiedlichen Strukturniveaus). Ödipale Abschnitte sind bei Kotherapie – vor allem, wenn es sich um ein Paar aus Mann und Frau handelt – eher zu erwarten, während sonst die Themen der Loslösung vom Primärobjekt dominieren. So haben bei Heising und Rost die Konflikte um Trennung und Individuation eine besondere Bedeutung und damit – eher indirekt erwähnt – die wichtigen Fragen der Mentalisierung als Grundgerüst von Verselbständigung und Identitätsbildung. Sie beschreiben, wie die Gruppe immer wieder zwischen der paranoid-schizoiden und der depressiven Position hin und her
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schwingt. Das (relativ) stabile Erreichen der depressiven Position mit Ganzobjektbeziehungen, Fähigkeit zu Ambivalenz und Trauer bildet die Voraussetzung für die Bewältigung der ödipalen Konflikte, die dann eher außerhalb der Gruppe erfolgreich angegangen werden. Heising und Rost plädieren unter diesem Gesichtspunkt für ein geduldiges Durcharbeiten der frühen Ängste, Abwehrmechanismen und Objektbeziehungskonstellationen. Dabei kommt die Neigung von Gruppen, schneller und tiefer, als wir das von Einzelanalysen her gewohnt sind, auf frühe Erlebensweisen zu regredieren, diesem Zugang entgegen. Taucht ödipales Material auf, sollte eher der frühe Anteil gedeutet werden. Die Überlegungen von Heising und Rost legen nahe, nicht unbedingt auf eine dann nicht eintretende ödipale oder sogar postödipale Phase innerhalb einer Gruppe zu warten. Es wäre sicher sehr reizvoll, detaillierter der Frage nachzugehen, welche Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zu Fonagys Modell bestehen. Wenn ich Heising und Rost richtig verstehe, weichen sie von der üblichen Deutungstechnik nicht ab, während Fonagy eine wesentlich aktivere und damit mehr strukturierende Vorgehensweise des Gruppenanalytikers empfiehlt. Einen etwas anders gelagerten Zugang gewinnt das sogenannte Göttinger Modell der psychoanalytisch-interaktionellen Gruppentherapie (Heigl-Evers u. Ott 1994), das zur Behandlung schwerer Ich-struktureller Störungen in Gruppen entwickelt wurde. Es verbindet Konzepte der Sozialpsychologie (z. B. Rollentheorie) mit psychoanalytischen Konzepten, wobei von der mangelnden Symbolisierungsfähigkeiten dieser Patientengruppe ausgegangen wird. Da Konflikte nicht in üblicher Weise repräsentiert werden, sind die traditionellen Abwehr- und Triebdeutungen nicht wirksam. Sie würden im Gegenteil zu regressiven Bewegungen mit zusätzlicher Destabilisierung der ohnehin brüchigen Selbststruktur führen. Stattdessen ist von einer agierendinszenierenden Darstellung der Schwierigkeiten auszugehen. Deshalb wird darauf verzichtet, die Übertragung anwachsen zu lassen, um sie dann deuten zu können. Der Gruppenanalytiker stellt sich hingegen als realer Interaktions- und Dialogpartner zur Verfügung, der dem Patienten unter selektiver Offenlegung seiner Gegenübertragung antwortet. Dabei konzentriert er sich
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auf die Identifizierung, Klarifizierung und Verbalisierung der Affektzustände des Patienten, die er ihm empathisch spiegelt. Ferner werden Hilfs-Ich-Funktionen (s. auch Fürstenau 1982) übernommen, progressive Gruppennormen gefördert und interpersonelle Beziehungen in der Gruppe gewissermaßen erklärt. Berghaus (2005) hat in einer sehr detaillierten Arbeit auf Ähnlichkeiten dieser Technik mit den von Fonagy et al. postulierten Vorgehensweisen hingewiesen. Gemeinsamkeiten ergeben sich insbesondere hinsichtlich der Technik der Affektspiegelung (Wahrnehmung, Identifizierung, Differenzierung und Verbalisierung von Affekten), der Übernahme von Hilfs-Ich-Funktionen und der Erklärung der Regulierung interpersoneller Beziehungen in der Gruppe. Der Gruppenanalytiker dient dabei auch als Modell des Umgangs mit schwierigen Affekten, die bei diesen Patienten sonst eher global abgewehrt oder durch Impulsverhalten, Ängste und diffuse Aggressivität verarbeitet werden. In kleinen Schritten soll so Verhalten als intentional und verständlich demonstriert und Affekte und Handlungen in ihrem Signal- und Ausdruckcharakter verstanden werden. Unterschiede zu Fonagy ergeben sich in der Handhabung der Offenbarung der Gegenübertragung, die bei Fonagy eher eine untergeordnete Rolle spielt; er warnt sogar ausdrücklich davor, die Realbeziehung zu sehr zu betonen, das dies vom Patienten konkretistisch missverstanden werden könnte. Ich möchte aber kritisch anmerken, dass Fonagy neben der überwiegend klarifizierenden Technik doch letztlich zur Deutung des Konflikts kommt, während manche ältere Fallbeispiele der Göttinger Schule eher an ein Normen setzendes, korrigierend-pädagogisches Vorgehen erinnern, das dann natürlich auch keine Deutung mehr zulässt und gerade die Kluft zwischen Analytiker und Patient betont. (In ähnlicher Weise scheint mir auch das Modell der dialektische behavioralen Therapie nach Linehan [1993] von einem allzu normativen Modell, wie zwischenmenschliche Beziehungen »funktionieren«, auszugehen.) Dies widerspricht aber der individuumzentrierten Kerntradition der Psychoanalyse. Zu Recht betont Berghaus, dass bei schwierigen Gegenübertragungskonstellationen eine Haltung des Respekts vor dem So-geworden-Sein des Patienten »gleiche Augenhöhe« gewährleistet, während der Begriff des »Er-
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barmens« (Heigl-Evers u. Heigl 1973; Heigl-Evers u. Ott 1994) eine moralische (und ich würde sagen: herablassende) Kategorie einführt, die der Emanzipation des Patienten von abhängig-dysfunktionellen Beziehungsmustern gerade nicht zuträglich ist. Eine besondere Form der Entgleisung der Spiegelungsfunktion in Gruppen hat Zinkin (1992) beschrieben. Sie erinnert in manchem an die unmarkierte Spiegelung von BorderlineMüttern (s. o.). Es handelt sich dabei um Situationen, wo gewisse Ähnlichkeiten zwischen zwei Gruppenmitgliedern dazu führen, dass diese sich in unheimlicher Weise angezogen und abgestoßen fühlen, im anderen die Figur eines erschreckenden »Doubles« erblicken. Vor allem unannehmbare eigene Selbstanteile werden vom Anderen gespiegelt und zugleich im Anderen projektiv bekämpft. Wenn der Gruppenanalytiker hier nicht rasch eingreift (die Gruppe reagiert auf solche Situationen oft eher mit Lähmung), kann dies zu einer unerträglichen Situation mit Behandlungsabbruch führen. Zinkin vermutet, dass sich viele anderweitig nicht erklärbare Abbrüche so verstehen lassen. Umgekehrt ermöglichen diese Situationen, wenn sie denn gemeistert werden können, bisher nicht integrierte Selbstanteile anzunehmen und damit den Bereich des Selbst und der möglichen Symbolisierungen zu erweitern, was auch bereichernd auf die Gesamtgruppe zurückwirkt.
Das Mentalisierungskonzept als Erweiterung und Vertiefung traditioneller gruppenanalytischer Theorie Viele Überlegungen und Theoriebestandteile des Mentalisierungskonzepts finden sich bereits bei Theoretikern der Gruppenanalyse wie Foulkes, Bion und Heising. Die Begriffe Gruppe als Container und Symbol der frühen Mutter, Translation, Resonanz, Spiegelung, multiple Übertragungen, multiple Werthaltungen umschreiben einen breiten Bereich, der auch als Übergangsraum im Sinne Winnicotts oder als Keimboden für Symbolisierungsprozesse verstanden werden kann. Fonagys Überlegungen schärfen den Blick für Prozesse, die schon immer beobachtet, vielleicht aber nicht in ihrer vollen Bedeutung
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erkannt wurden. Nach meinem Eindruck spielen die Prozesse der Mentalisierung bei allen Gruppen und in allen Gruppenphasen eine wichtige Rolle, oft aber vielleicht im Sinne eines permanenten Hintergrundphänomens, während im Vordergrund die affektgeladenen, davon abgeleiteten interpersonalen Konfliktkonstellationen ihren Ausdruck finden. Ein Kippen, bei dem Hintergrund zu Vordergrund wird, findet dann statt, wenn bei einzelnen Mitgliedern einer Therapiegruppe die Frage der Symbolisierung beziehungsweise des Symbolisierungsdefizits, wie wir es gerade auch bei Traumatisierten finden, ins Zentrum rückt. Gleiches gilt für Gruppen, die einen Anteil an sogenannten »früh gestörten« Mitgliedern haben, bei denen die Erarbeitung stabilerer Ich-Funktionen und Symbolisierungsmöglichkeiten der Bearbeitung strukturierter Konflikte vorgängig sind. Erst dann, wenn gewissermaßen die Bausteine eines symbolgeleiteten Denkens vorhanden sind, kann der handlungsnahe Interaktionsdialog in kleinen Schritten verstanden, transformiert und letztlich durch Symbolbildung verarbeitet werden. Wie sehen die Bausteine und ihre Verwendung zum Bau des symbolischen Hauses aus? Zunächst einmal ist an die Vielzahl der Spiegelungs- und Resonanzprozesse zu denken, die aus der eindimensionalen Sicht des Äquivalenzmodus oder des Als-obModus herausführen und neue Sichtweisen und Interpretationsschemata gewissermaßen in jeder Minute der Sitzung präsentieren, auch wenn dies oft eher implizit geschieht. Ähnlich wirken die deutlich hervortretenden multiplen Wertnormen, Lebensschicksale und präsentierten Narrative, die zu einer Relativierung und damit ersten Umformung eigener festgefahrener Erklärungsschemata verhelfen. Auf einem anderen Niveau finden sich die multiplen Übertragungen auf die Gruppe (vor allem auch als Repräsentanz der frühen Mutter), auf den Gruppenleiter sowie die Gruppenmitglieder untereinander. Das Gesamt der Gruppe nimmt die verschiedenen affektiven Äußerungen auf, hält sie gewissermaßen und verhilft im gelingenden Fall zu einer progressiven Entgiftung toxischer Affekte und projektiver Identifikationen. Dabei spielt die Person des Gruppenleiters als Koordinator, Modell, aber auch Repräsentanz eines mentalisierenden Primärobjekts eine wichtige, in der traditionellen
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Theorie möglicherweise etwas unterschätzte Rolle. Der Gruppenleiter ist derjenige, der in erster Linie dafür sorgt, dass ein aufnehmend-containendes Gruppenklima auch in Affektstürmen aufrechterhalten bleibt. Er hat zu jedem Gruppenmitglied eine spezifische Bindung, die sich schon in den Vorgesprächen herstellt. Auch im weiteren Verlauf sorgt er aktiv dafür, dass die Bindungen erhalten bleiben und vertieft werden. Man denke an den häufig (oft verstohlenen) Augenkontakt vieler Gruppenmitglieder mit dem Gruppenleiter und die Wichtigkeit bestätigender und ermutigender verbaler und nonverbaler Signale des Gruppenleiters. Er verkörpert und demonstriert eine mentalisierende Grundhaltung, stellt sich gleichzeitig aber auch als Projektionsfigur zur Verfügung, die sich auch immer wieder verwickeln kann. Wenn alles gutgeht, zeigt er, wie Verwicklung zu Entwicklung führen und das Individuum überleben kann. Aus diesen Überlegungen ergibt sich – möglicherweise für längere Abschnitte einer Gruppenanalyse in Gruppen mit überwiegend schwerer gestörten Patienten – in manchen Gruppen, vielleicht aber auch nur für bestimmte Phasen, eine andere Wahrnehmungseinstellung und Haltung des Gruppenanalytikers. Er wird sich tendenziell eher wesentlich aktiver verhalten, durch Fragen, Konfrontationen bis hin zu selektiver Selbstoffenbarung (s. a. »Prinzip Antwort«) den analytischen Prozess stärker bestimmen und steuern. In Anlehnung an Fonagy gewinnen dabei folgende Punkte besondere Bedeutung: – Herstellung und Aufrechterhaltung eines sicheren Bindungskontexts. (Dieser Punkt könnte als selbstverständlich erachtet werden, steht aber in gewissem Kontrast zu abstinent-zurückhaltenden Haltung der »klassischen« Texte.) – Förderung von Selbstkohäsion und Ganzobjektbeziehungen. – Aufrechterhaltung beziehungsweise ständige Wiederherstellung einer mentalisierenden Einstellung im Gruppenprozess, wobei der Gruppenanalytiker hier als Vorbild dient. – Eher Arbeit am Prozess als an den Inhalten. – Arbeit mit Vorformen der Mentalisierung. – Über lange Strecken eher Containment als Deutung. Dies ergibt sich unmittelbar aus den Mentalisierungsdefiziten der Patienten: Im Äquivalenzmodus gibt es erlebensmäßig keine
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Übertragung im Sinne einer Verschiebung von alten Objekten auf neue. Die Beziehungssituation wird als unmittelbar real und bedrängend erlebt. Zunächst kann nur mit eher unstrukturierten Vorformen der Übertragung gearbeitet werden (Objekte werden als wenig abgegrenzt und eher in ihren Partialeigenschaften erlebt), im Laufe des Prozesses mit zunehmender Ausarbeitung symbolischer Strukturen sind dann auch Übertragungsdeutungen im üblichen Sinne möglich. Die überwiegend containende und nicht deutende Haltung des Gruppenanalytikers ergibt sich auch daraus, dass der Patient zu seiner Stabilisierung zunächst sein bedrohliches fremdes Selbst externalisieren muss, eine frühzeitige Deutung als massive Re-Introjektion mit progressiver Destabilisierung erleben würde. Auch kann der Gruppenanalytiker nur dann empathisch in das Erleben des Patienten eintauchen, wenn er sich als Projektionsfläche für das Fremde Selbst des Patienten zur Verfügung stellt. Die besondere Schwierigkeit besteht darin, dies zuzulassen, ohne darin gewissermaßen aufzugehen. Nur wenn noch eine Differenz zum Fremden Selbst spürbar bleibt, kann der Patient Unterschiede zwischen totaler Übertragung und neuer Objektbeziehung wahrnehmen und nutzen. Bei der Macht der projektiven Identifizierungen ergibt sich oft nur ein schmaler Grat. – In der Regel keine frühe Deutung der Aggression (hier bestehen wesentliche Unterschiede beispielsweise zu kleinianischen Vorgehensweisen oder dem von Kernberg ausgearbeiteten Konzept zur Behandlung von Borderline-Störungen). Die frühzeitige Deutung der Aggression führt zu einer Destabilisierung der brüchigen Selbststruktur, stört die keimenden Mentalisierungsprozesse und führt unter Umständen zu destruktivem oder autodestruktivem Agieren. Andererseits sind Aggressionsdeutungen sicher dann erforderlich, wenn die Zerstörung des analytischen Prozesses droht. – Schaffung eines Übergangsraumes, in dem Innen und Außen, Äquivalenz- und Als-ob-Modus zunehmend spielerischer dargestellt und integriert werden können. Hierbei bietet die Gruppe besondere, ich meine sogar hervorragende, Möglichkeiten. Der Einzelne kann immer wieder aus einer Beob-
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achterposition das Tun der Anderen oder auch sein eigenes Tun beobachten und reflektieren. Er kann sich mit anderen und auch mit dem Gruppenleiter vorübergehend identifizieren. Das fördert die Vernetzung zwischen den unreifen Modi (Äquivalenzmodus und Als-ob-Modus) und einer reiferen Realitätswahrnehmung und bereitet einer gewissermaßen spielerischen Beweglichkeit zwischen verschiedenen Ebenen der Mentalisierung den Boden. Er kann somit – wenn auch oft nur rudimentär – zumindest vorübergehend eine dritte Position einnehmen, die Raum für Symbolbildung und Reflexion bietet. Anders als in der Einzeltherapie kann er in jeder einzelnen Situation deutlicher Nähe und Distanz regulieren und damit seinem defizienten Modus der Symbolisierung auch immer wieder entrinnen. Dieser Übergangsraum ist immer wieder durch das Eindringen einer teleologischen Sicht bedroht, bei der Intentionen nicht berücksichtigt werden, sondern gewissermaßen nur Resultate zählen. – Das Stellen von Fragen (statt Infragestellung) und die aktive Herstellung von Zusammenhängen, wobei Prozessbetrachtungen gegenüber Inhaltsanalyse ganz im Vordergrund stehen: Was ging voraus? Was folgte? Wie haben sich die Gefühle gerade geändert? Welcher Auslöser lässt sich finden? etc. Diese Schritte werden durch aktives Nachfragen und Konfrontieren seitens des Gruppenanalytikers unterstützt, in fortgeschritteneren Stadien der Gruppenentwicklung wird diese Funktion mehr und mehr von der Gruppe selbst übernommen. – Objekt der Analyse sind in erster Linie die affektiven Selbstzustände und deren jeweilige Veränderung. Die Interaktionsprozesse in der Gruppe werden vor allem darauf bezogen, wobei ein Arbeiten vorwiegend im Hier und Jetzt und in kleinen Veränderungsschritten erfolgt. Die Dimension der Übertragung und Historizität ist dabei zunächst eher zweitrangig. Es wird erst an einem kohärenten Narrativ für die Gegenwart gearbeitet. – Es ergibt sich somit eine andere und erweiterte Sicht der gruppenanalytischen Technik: Sie umfasst in diesem Fall alles, was einen Prozess fortschreitender Aktualisierung, Inszenierung und Rekodierung traumatischer Erlebnisse, dys-
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funktioneller Beziehungsmuster und unreifer Selbstzustände sowie der Integration abgespaltener Selbst-Objekt-Anteile fördert. Damit ist das Repertoire möglicher Interventionen erheblich erweitert: Fragen stellen, Fragen beantworten, Spiegelung, Selbstoffenbarung und anderes mehr sind legitime, ja notwendige Maßnahmen, um die Mentalisierung zu fördern. Die Deutung komplexer Konflikte findet tendenziell eher später statt, nachdem ein Fundament an Symbolisierungsfähigkeit erreicht wurde. (Diese Aufteilung ist natürlich etwas schematisch.) Bei den meisten Gruppen, zumindest im ambulanten Setting, dürfte die Arbeit an der Reflexionsfunktion einhergehen mit immer schon wieder möglichen Deutungen unbewusster Inhalte und inszenierter Übertragungskonstellationen. Natürlich bleibt idealerweise die Deutung der Zentralkonflikte ein Fernziel der Bemühung, wobei viele Patienten ihre Therapie früher beenden und anscheinend mit diesem Entwicklungsstand dann selbständig außerhalb der Therapie weiterarbeiten. – Einige Gruppenphänomen, die sonst eher als Widerstände interpretiert wurden, lassen sich auf diesem Hintergrund auch in ihren progressiven Anteilen verstehen: beispielsweise das Reden über Symptome, das Erteilen von Ratschlägen. Viele Phänomene, die mit Wiederholung und scheinbarem Stillstand zusammenhängen, erweisen sich oft als Versuche, eine Art Protomentalisierung auf den Weg zu bringen, indem erstmals und zunehmend präzisere Worte für innerseelische Befindlichkeiten gefunden werden. Ebenso können Phasen der Einzeltherapie in der Gruppe diesem Zweck dienen und müssen nicht nur als Widerstand (und Gegenwiderstand des Gruppenanalytikers) verstanden werden.5
5 Foulkes nahm hinsichtlich des Gewichts von Gruppen- versus Einzeldeutungen einen eher gelassenen Standpunkt ein: Jede Einzeldeutung als pars pro toto richtet sich auch an die ganze Gruppe und umgekehrt, die Aufteilung in diese beiden Interventionsformen hat damit etwas fast Künstliches.
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Im Folgenden soll an einigen kurzen klinischen Vignetten etwas praxisnäher gezeigt werden, worum es bei der Berücksichtigung der modernen Mentalisierungskonzepte gehen kann. »Ich habe immer auf der Straße gelebt, nur eine Frau und eine Familie können mir wirklich helfen« So der Ausspruch eines Patienten, der aufgrund seiner traumatischen Vorgeschichte tatsächlich wie ein seelischer Obdachloser lange Jahre gelebt hatte. Die Gruppe fesselte er zunächst, nervte und langweilte sie dann aber zunehmend durch die ständige Schilderung einer frustrierenden Partnerbeziehung, in der er, hörig und abhängig, von der Partnerin ausgenutzt und missachtet wurde. Nach einiger Zeit stellten sich ähnliche Gefühle gegenüber der Gruppe (als mütterlichem Übertragungsobjekt) ein: Er fühlte sich nicht verstanden und eher ausgelacht, wozu er allerdings durch seine launig anmutenden Schilderungen erheblich beitrug. Die Gruppe nahm tatsächlich diese Übertragung nicht an, fühlte sich rasch überfordert und konzentrierte sich zunächst darauf, ihm Ratschläge zu geben, wie er sich befreien könnte, thematisierte aber auch die zugrunde liegende Mutterproblematik (der Patient hatte die Mutter in jungen Jahren verloren). Als die Bemühungen von Patient und Gruppe schließlich in einer Sackgasse zu enden schienen und er zunehmend Vorwürfe wegen seines Stagnierens und der ewig gleichen Geschichten bekam, vertrat ich sehr pointiert die Position, dass es wichtig sei, dass er über seine Situation immer wieder sprechen könne, auch wenn diese sich zunächst scheinbar nicht ändere. Das sei sein Bemühen, weiterzukommen und die anderen an seiner Situation mit allen Problemen der Stagnation und Hilflosigkeit teilhaben zu lassen. Umgekehrt seien die vielen Ratschläge und Erklärungsversuche der Gruppe wichtig, auch wenn sich noch kein greifbares Ergebnis dafür finde. Es sei sicher für alle Beteiligten schwierig, zunächst die Gefühle von Wut, Verzweiflung und Hilflosigkeit auszuhalten. Gruppe und Patient hörten sehr aufmerksam zu. In der nächsten Sitzung berichtete der Patient, wie schwierig für ihn der Abstand zwischen den Sitzungen sei, er müsse dann so lange alleine klarkommen, aber manchmal helfe es doch, an die Gruppe zu denken (ein erster Schritt zur Etablierung eines
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affektmodulierenden inneren Objekts, das Getrenntheit ermöglicht). Zwei ältere, mütterliche Gruppenmitglieder boten ihm die Phantasie an, ihn die Woche über in ihren Gedanken unter ihre Fittiche zu nehmen und dadurch zu tragen. Der Patient war sehr berührt und sprach zum ersten Mal von der Möglichkeit, dass die Gruppe ihm etwas bieten könne, was er noch nie in seinem Leben gehabt habe, nämlich so etwas wie ein Zuhause. Er konnte sich schließlich von der quälenden Partnerin trennen, erstmals Wochenenden allein verbringen und vermehrt über seine Situation reflektieren. In einer neuen Partnerbeziehung, die insgesamt wesentlich glücklicher verlief, konstellierte sich erneut die Situation ewiger Klage und Wiederholung, doch diesmal auf einem neuen Niveau: Gruppe und Patient konnten sich daran erinnern, dass es schon einmal Stagnation gegeben habe und es sich gelohnt habe, in allen Details bei den Gefühlen und Überlegungen zu bleiben. Nachdenklich merkte er schließlich an, die Gruppe können ihm wohl gut sagen, »wie Leben eigentlich geht«, was er ja nie richtig gelernt habe. Diese zyklische Bewegung scheint mir recht charakteristisch für eine langsame aber stetige Entwicklung der Reflexionsfunktion zu sein, die sich im gelingenden Fall im Sinne einer Spiralbewegung auf immer höhere Symbolebenen zu bewegen kann. Wichtig ist dabei, dass die Bewegung die Gruppe und die Einzelnen in einer dialektischen Entwicklung erfasst, wobei wieder die Phänomene der Affektspiegelung, aber auch die Fähigkeit der Gruppe, ein containendes Gedächtnis zu bewahren, wirksam werden. Erinnerung an den traumatischen Verlust als unerträgliche Zumutung, Verweigerung der Mentalisierung Ein Patient hatte nach dem plötzlichen Tod eines väterlichen Freundes eine schwere Angstsymptomatik entwickelt, die eine stationäre Behandlung erforderlich machte. In der anschließenden ambulanten Gruppe blieb er lange Zeit freundlich zugewandt, aber affektiv wenig beteiligt. Als es zu Schwierigkeiten am Arbeitsplatz kam und er mit einer drohenden Umstrukturierung auch befürchten musste, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, entwickelte er massive Schlafstörungen, und die alten Ängste traten
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erneut auf. Er reagierte darauf zunächst mit vermehrter Abwehr und gewissermaßen mit einer Mentalisierungsverweigerung: Er wolle das alles loswerden, nicht immer nachdenken müssen, er habe schon genug Probleme mit seiner Angst und seinem Leben, das tue alles zu sehr weh. Gruppe und Gruppenanalytiker wiesen auf das Wiederkehrende seiner Angst und damit das Unerledigte hin; es sei wohl sehr schwierig, noch einmal in diese Probleme und Gefühle einzutauchen. Er: Genau so – dadurch ändere sich überhaupt nichts, er habe das schon tausendmal durchdacht und durchlebt. Die anderen Gruppenmitglieder ließen nicht locker und berichteten über eigene Erfahrungen mit dem Tod von wichtigen Bezugspersonen. Zunächst ungläubig und abwehrend hörte der Patient zu, war dann aber doch sehr davon erschüttert, dass andere Ähnliches erlebt und offensichtlich zumindest teilweise besser als er verarbeitet hatten. Daraufhin entschloss er sich, nun erstmals ausführlich vom Sterben seines Freundes zu sprechen und sein Gefühl von Haltlosigkeit und Entwurzelung deutlicher zu formulieren. Diese Sitzung bildete den Auftakt zu weiteren, in denen er sich zunehmend aktiv mit seinem jetzt nicht mehr nur als überwältigend und vernichtend erfahrenen Erleben auseinandersetzte. Hier hatte die Gruppe durch das Angebot einer anderen Perspektive den Äquivalenzmodus durchbrochen, in dem er – subjektiv völlig zu recht – die Wiederkehr seiner Gedanken und Gefühle von Verlorenheit als überwältigende, durch nichts aufzufangende Realität fürchtete. Die anderen boten ihm durch das Gespräch und ihr Interesse sowie die Schilderung eigener ähnlicher Erlebnisse eine Art interpersonellen Puffer, der das ungefilterte Erleben im Sinne eine mütterlichen Containments erst einmal auffangen und dadurch mildern konnte. Äquivalenzmodus und Als-ob-Modus als Träger unterschiedlicher Übertragungskonstellationen Ein Patient litt unter der Tatsache, dass er als zweites Kind aus der zweiten Ehe der Mutter mit einem ungeliebten Mann nie die Liebe und das Interesse des Vaters gefunden hatte. Heimlich war er immer mit der Mutter gewissermaßen hinter dem Rücken des Vaters verbunden, hatte sich aber nie vom Vater lösen können.
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In der Gruppe präsentierte er sich als freundlicher, zugewandter und durchaus introspektiver Mitpatient, der mit den anderen Gruppenmitgliedern in einer relativ reifen Weise zu kommunizieren schien, wobei er durchaus auch ko-therapeutische Funktionen an sich zog. Bei näherem Hinsehen erwies sich dies aber eher als Als-ob-Modus, in dem er sich zwar scheinbar einsichtig mit Schwierigkeiten auseinandersetzte, dies aber völlig von seinem Leben getrennt blieb, wo sich über mehrere Jahre fast nichts änderte. Für ihn war ich mit dem strengen und lieblosen Vater völlig eins – im Äquivalenzmodus waren alle meine Bemühungen wie Schläge für ihn. Außerdem fühlte er sich auf einer anderen Ebene wohl wie der heimliche Gruppenleiter. Mit dem Auslaufen der Kassenfinanzierung kam es zur Krise, weil er als Langzeitarbeitsloser davon ausging, dass er mein übliches Honorar nicht zahlen könne, ich aber in seinem Erleben zu keiner Honorarminderung für ihn bereit sei. Gleichzeitig machte er erheblich Stimmung in der Gruppe gegen mich. Wir fanden eine Lösung, als ich ihm vorschlug, über die verschiedenen Aspekte der Finanzierung gemeinsam nachzudenken, wobei ich meine grundsätzliche Bereitschaft zu Entgegenkommen schon im Vorhinein signalisierte. Erstmals konnten wir in der Phantasie durchgehen, wie er mich erlebte, wie ich aber vielleicht auch ganz anders sein konnte als der Vater, worauf ihn die anderen Gruppenmitglieder hinwiesen. Die Durcharbeitung dieser Problematik führte zu einer wesentlichen Veränderung seines Vaterbildes. Er konnte erstmals offen seine Phantasien äußern, sich auf meinen Stuhl zu setzen und die Gruppe zu leiten. Die damit langsam möglich werdende Identifikation mit einer benignen väterlichen Figur verschaffte ihm einen Zuwachs an männlicher Identität, er wurde insgesamt deutlich aktiver und selbstbewusster, und eine jahrelang bestehende Impotenz verschwand. Die Einführung eines Parameters zur Förderung der Mentalisierung Eine junge Patientin mit massiven Selbstverletzungen und einer Anorexie in der Vorgeschichte hatte große Schwierigkeiten, die Gruppe als hilfreich zu erleben. Wie in ihrer Beziehung zur Mutter fühlte sie sich ausgestoßen und abgelehnt, signalisierte
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gleichzeitig aber ihre große Bedürftigkeit. Da sie von sich aus lange Zeit nichts sagen konnte, vereinbarten wir für einen gewissen Zeitraum, dass sie zu Beginn jeder Sitzung berichte, wie es ihr gehe. Diese Regelung führte dazu, dass sie sich langsam öffnen und die Gruppe zunehmend auch als nährend und unterstützend erleben konnte. Die genaue Klärung und geduldige Begleitung durch die Gruppe ermöglichte ihr überhaupt erst, ihr Erleben zu klären, in Worte zu fassen und sich langsam von unerträglich scheinenden Gefühlen zu distanzieren.
Schlussbemerkung Das Konzept der Mentalisierung stellt eine wichtige Erweiterung der Theorie der Symbolisierung, aber auch der Theorie der Technik dar. Es liegt im Trend des »widening scope of psychoanalysis« (and group analysis!), der uns ermöglicht, auch schwer traumatisierte, in ihrem Selbst brüchige Patienten erfolgreich zu behandeln. Gruppenanalyse kann hier aufgrund des »mentalisierenden Settings« wichtige Beiträge leisten, die sich aus den besonderen Möglichkeiten der Gruppensituation direkt ergeben.6 Nach meiner Erfahrung lassen sich bei entsprechend flexibler Handhabung der Technik so auch viele schwerer gestörte Patienten in der Gruppe behandeln. Bei der Zunahme von Ich-strukturellen Störungen und dem regional teilweise 6 An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Fonagys Manual auch für die ambulante Therapie eine Kombination aus Einzeltherapie und Gruppentherapie vorsieht, wobei die Einzeltherapie zunächst absoluten Vorrang hat, indem sie vor allem dazu dient, die bedrohlichen projektiven Vorgänge in der Gruppe aufzuarbeiten. Erst in fortgeschritteneren Stadien der Behandlung kann dann die Gruppe intensiver genutzt werden. Hierzulande gibt es einige Therapeuten, die ebenfalls Einzel- und Gruppentherapie erfolgreich kombinieren. Die Psychotherapie-Richtlinien schließen eine derartige Kombination aus, was zu bedauern ist. Ein gewisse Lösung des Problems ergibt sich in der sequentiellen Behandlung, indem zunächst Einzeltherapie und dann Gruppe durchgeführt wird oder umgekehrt.
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immer noch großen Mangel an qualifizierten analytischen Behandlungsmöglichkeiten ist die Gruppenanalyse auch für diese Patientengruppe eine gleichwertige Behandlungsalternative. Als relative Kontraindikationen betrachte ich wie auch sonst akute Suizidalität, Psychosenähe und Problematiken, die zu stark vom Gesamtstrom der jeweiligen Gruppe abweichen. In Einzelfällen habe ich es als hilfreich erlebt, in bestimmten Krisensituationen flankierende Einzelgespräche anzubieten, die dann anschließend auch ausführlich in der Gruppe reflektiert wurden. Dabei erlebte ich die Gruppe immer wieder als sehr verständnisvoll dafür, dass auf diese Weise ein Mitglied vorübergehend eine Sonderstellung erhielt. Von der weiteren Verfeinerung des Mentalisierungskonzepts, seiner reflektierten Anwendung im Gruppensetting und einer daraus resultierenden Revision und Erweiterung gängiger gruppenanalytischer Konzepte sind weitere Fortschritte unseres Wissens und unserer therapeutischen Kompetenz zu erwarten.
Literatur Alexander, F., French, T. M. (1946): Psychoanalytic therapy. Ronald Press, New York. Aron, L. (1996): A meeting of minds. Mutuality in psychoanalysis. The Analytic Press, Hillsdale, NJ Balint, M. (1937): Frühe Entwicklungsstadien des Selbst. Primäre Objektliebe. In: Balint, M (1965): Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Klett, Stuttgart Balint, M. (1952): Der Neubeginn, das paranoide und das depressive Syndrom. In: Balint, M (1965): Die Urformen der Liebe und die Technik der Psychoanalyse. Klett, Stuttgart Balint, M. (1968): Therapeutische Aspekte der Regression. Klett, Stuttgart, 1970 Baranger, M., Baranger, W. (1966): Insight in the analytic situation. In R. E. Litman (Ed.): Psychoanalysis in the Americas. Int. Univers. Press, New York Bateman, A., Fonagy, P. (2004): Psychotherapy for borderline personality disorder. University Press, Oxford
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Angelika Staehle Sehen und Gesehen-Werden – Verstanden-Werden und lernen, sich selbst und andere zu verstehen Die besonderen Möglichkeiten der psychoanalytischen Gruppenpsychotherapie für Symbolisierungs- und Mentalisierungsprozesse Tell me, and I will forget Show me, and I will remember Involve me, and I will understand Lao Tse
Vorbemerkung Das Sehen und Gesehen-Werden ist im klassischen Couch-Setting zu Gunsten des Hörens und Sprechens sehr eingeschränkt. Die Psychoanalyse hat im Besonderen dem Sprechen und Hören hohe Wertschätzung entgegengebracht. Die nichtsprachlichen, körperlich-gestischen Elemente von Äußerungen und damit deren interaktionsregulierende Funktionen werden so im analytischen Setting an die Peripherie des kommunikativen Geschehens verwiesen. Ausgehend vom klassischen Konfliktmodell, werden die nichtsprachlichen Äußerungen als Agieren verstanden. Nichtsprachliches Verhalten und Handeln ist jedoch nicht nur Agieren, das heißt Zuflucht zu motorischer Aktion, sondern Sprechen und nichtsprachliches Verhalten lassen sich nicht voneinander trennen. »Der Austausch von Worten ist in einem ständigen Fluss nichtsprachlichen Verhaltens eingebettet […] Auf das Handeln des Einen folgt das Handeln des Andern, mit Worten, körperlichem Verhalten, Gesten, Blicken und so weiter […] Kinder interagieren mit Anderen, lange bevor sie die ersten Wörter sprechen« (Streeck 2002, S. 267f.). Die Qualität der Beziehung zwischen den Erwachsenen und dem heranwachsenden Kind hat ganz entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung seiner Fähigkeit, seine Gefühle wahrzunehmen, ihnen einen Namen zu
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geben, sie zu modulieren und letztendlich Trennung und Differenz vom bedeutsamen Anderen auszuhalten. Die empathischen Fähigkeiten der Primärobjekte und ihre Fähigkeit, Trennung und Differenz selbst auszuhalten, sind eine grundlegende Voraussetzung für die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder. Der Mangel an diesen Fähigkeiten zur emotionalen Zuwendung und zur Aufrechterhaltung der Grenzen, oft verbunden mit traumatisierenden Übergriffen seitens der Erwachsenen, sind sehr häufig ursächlich für das Entstehen von Störungen. Klinische Erfahrungen mit schwer gestörten Patienten haben uns die Notwendigkeit gezeigt, die Aufmerksamkeit im therapeutischen Prozess nicht nur auf das zu richten, was der Patient verbal mitteilt, sondern mehr und mehr auch auf die Art und Weise, wie er sich äußert und sich verhält. Dies kann in feinen Signalen und kaum bemerkbaren Gesten geschehen, in der Intonation beim Sprechen, den Körperhaltungen oder der Art des Schweigens. Der Analytiker muss sich bewusst sein, dass die eigene Weise, sich zu äußern und zu verhalten, unvermeidlich seine Patienten beeinflusst. Manchmal haben Inszenierungen und szenische Darstellungen den Charakter flüchtiger Mikroereignisse, vergleichbar jenen Mikro-Interaktionen, wie sie Stern (1985/1992) für Mutter-Kind-Beziehungen beschrieben hat. Sie können so subtil sein, dass sie nur dann bemerkt werden, wenn sich die Aufmerksamkeit des Untersuchers gezielt auf feine Details der Interaktion und Mikrointeraktion richtet. Im Setting der Gruppenanalyse, in dem die Patienten und der Gruppenleiter in einem Kreis sitzen, ist das Sehen und Gesehen-Werden hingegen stets gegenwärtig, und die feinen körperlichen Signale lassen sich besonders gut beobachten und aufnehmen.
Die Bion’schen Modelle als Hintergrundmodell für den Gruppenprozess und seine Handhabung Ich spreche von einem Hintergrundmodell, da Bion immer betont hat, dass seine Modelle als Arbeitsinstrument zu verstehen sind, die dem Analytiker helfen sollen, über etwas nachzudenken, das unbekannt ist. Sie sind nicht Teil der psychoanalytischen
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Metapsychologie. Bion (1962a/1990; 1962b/1990) hat seine Modelle des Verstehens und Beobachtens der menschlichen Psyche aus seiner Arbeit mit schwer gestörten psychotischen Patienten entwickelt. Er beschreibt die Voraussetzungen dafür, dass Menschen aus ihren eigenen emotionalen Erfahrungen lernen können. Er beginnt mit dem vorsprachlichen Ursprung des Erlebens, mit der protoemotionalen Erfahrung, und verfolgt den Weg zu ihrer Bezeichnung, zum Wort. Sein erkenntnistheoretisches, abstraktes Modell betont die Bedeutung der frühesten Beziehungserfahrungen. Schon vor ihm haben andere Autoren wie Donald W. Winnicott und Melanie Klein die Relevanz dieser Erfahrungen hervorgehoben. Neuere Beiträge von Stern (1985/1992), Ogden (1989/1995) und Fonagy et al. (2002/2004) haben unser Wissen über die frühe Strukturierung der Prozesse symbolischen Denkens erweitert. Sie stimmen alle überein, dass die Strukturierung des Denkens mit der Verarbeitung von Sinnesdaten beginnt, die in den frühesten körperlichen Erfahrungen verwurzelt sind, also in der Beziehung zwischen der Mutter und ihrem Baby. In seinem Modell Container/Contained lenkt Bion die Aufmerksamkeit auf die eminente Bedeutung des realen äußeren Objektes und betont dadurch den interpersonalen Prozess (Staehle 1997, S. 75f.; 2004, S. 67ff.). Der Säugling, der ein Bedürfnis hat und dies nonverbal durch Gesten äußert, findet eine Mutter, die für seine Bedürfnislage aufnahmebereit ist und sich durch das in sie Projizierte derart verändern lässt, dass sie seine Not fühlt und mit einer adäquaten Reaktion antwortet. In der konkreten Mutter-Kind-Interaktion beobachten wir zum Beispiel, dass die Mutter ihr Kind aufnimmt, es in den Armen wiegt und das Geschehen mit Worten begleitet. Das Kind erlebt so eine Mutter, die seine ängstigende Notlage in etwas Erträgliches verwandelt, die einem archaischen Gefühl einen Namen gibt. Das Kind spürt so ein Gehalten-Werden im psychischen Raum des Objekts. Die Mutter nimmt die ersten Gefühlsrudimente des Säuglings (BetaElemente) in einem Zustand der träumerischen Einfühlung (Reverie) auf, verarbeitet/entgiftet sie innerlich in Alpha-Elemente und gibt sie ihm in transformierter, verträglicher Form zurück. Diese Gefühlsrudimente oder Protoemotionen kann man sich
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vorstellen als körperliche und seelische Vorgänge, die noch nicht voneinander getrennt sind und die Bion als Beta-Elemente bezeichnet. Mit Reverie ist eine psychische Verfassung gemeint, die einen Zustand der Rezeptivität und der Resonanzfähigkeit für primitive, nichtsprachliche Zeichen ermöglicht. Ist die Alpha-Funktion gestört, so bleiben die Sinnesempfindungen und Emotionen in ihrem Rohzustand, Beta-Elemente, genannt. Sie sind psychische Entgleisungsprodukte nicht verarbeitbarer Erfahrungen wie: in Stücke fallen, keine Beziehung zum Körper haben, keine Orientierung haben, total isoliert sein. Beta-Elemente sind emotionale Erfahrungen, ohne dass sie und noch bevor sie denkbar sind. Die sinnlichen Roherfahrungen (= Beta-Elemente) werden durch die Alpha-Funktion der Mutter zu Alpha-Elementen transformiert, die re-introjiziert werden. Für die Wahrnehmung und Transformation dieser Prozesse ist eine spezifische emotionale Verbindung zwischen Kind und Mutter, zwischen Patient und Analytiker notwendig, nämlich das Kennenlernen- und Verstehenwollen, das K-Bindeglied1. Mit K kennzeichnet Bion nicht faktisches »Wissen über«, sondern ein Kennenlernen- und Verstehen-Wollen der inneren und der äußeren Realität. Bion nennt diesen Prozess Containment2. Diese Vorstellung eines dynamischen Prozesses zur Entgiftung, Entschärfung und Übersetzung des Projizierten ist Bions wichtigster Beitrag zu Melanie Kleins ursprünglicher Idee. Denn ihr ging es in erster
1 Die Verbindungen des Containers mit dem Contained sind die basalen Emotionen Liebe (L), Hass (H), und Kennenlernenwollen (K = Knowledge) sowie deren Minusformen, die Missrepräsentationen bezeichnen. Bion hat sozusagen einen »dritten Betrieb« eingeführt, der von Anfang des Lebens in rudimentärer Form vorhanden ist. 2 Etymologisch gesehen kommt das Wort to contain vom Altfranzösischen contenire beziehungsweise vom Lateinischen continere und bedeutet so viel wie innerhalb fest bestimmter Grenzen halten, beinhalten; oder eine Kapazität besitzen, etwas zu halten, für etwas Raum, Platz, Potenzial haben. Oder es wird auch eine militärische Bedeutung genannt: Den Feind innerhalb eines bestimmten Gebietes in Schach halten.
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Linie darum, dass das Ich unaushaltbare Ängste und andere psychische Inhalte in das Objekt hinein entlädt. Was damit im Objekt passiert, blieb bei Klein im Unklaren. Bion hat mit diesem erweiterten Verständnis der projektiven Identifizierung in seinem Modell »Container/Contained« (Bion 1959; 1962b/1990) das Einsichtgewinnen an ein Beziehungsgeschehen geknüpft, in dem unerträgliche Zustände durch den Analytiker aufgenommen und in ihm gehalten werden. Für die Entwicklung des Denkens hat er das Herstellen von Verbindungen als das zentrale Prinzip beschrieben. Im Containment werden sowohl mütterliche (Aufnahme) als auch väterliche Funktionen (Beobachten und Verbinden) wirksam. Die Internalisierung dieser zunächst vom Primärobjekt ausgeführten Funktion führt zu einer zunehmenden Fähigkeit zur Relativierung, die auch als Triangulierungsfähigkeit (vgl. von Klitzing 2002) bezeichnet werden kann, die das Einnehmen einer dritten Position ermöglicht. »To contain« und »to hold« werden oft auswechselbar benutzt. Hier ist es wichtig zu differenzieren zwischen dem Begriff des Holding von Winnicott und Bions Container/ContainedModell. Bions Containing beinhaltet im Gegensatz zu Holding einen aktiven mentalen Vorgang, eine Veränderung, eine »Transformation«, wie Bion sagt, und bedarf einer spezifischen mentalen Aktivität, deren Produkt die Entstehung von Bedeutung ist. Winnicotts (1960/1974) Begriff des holding environment ist allgemeinerer und zugleich konkreterer Natur und beinhaltet sämtliche nährenden Aspekte der Umwelt des Kindes, inklusive realen physischen Haltens. Die beiden Gedankenkomplexe von Winnicott und Bion kommen sich jedoch auch in vielen Beispielen von Winnicott (1971/1979) nahe. In dem Modell des Container/Contained (Bion 1959/1990) hat er die intrapsychische Psychologie von Melanie Klein in eine intrapsychische und interpersonale erweitert. Er postulierte, dass die Grundlage des psychischen Lebens und Denkens sich aus der Wechselbeziehung der Gegenseitigkeit und Gemeinsamkeit des guten Mutter-Kind-Paares bildet, das zum guten inneren denkenden Paar wird. Daher ist die analytische Situation keine »Individual-«, sondern eine »Paar-« oder »Gruppenpsychologie« (vgl. Bion 1961/2001). Mit Hilfe von Bions Modellen können wir zu
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solchen Patienten einen Zugang finden, deren Denken im Konkreten3 verhaftet ist und die die klassischen Inhaltsdeutungen noch nicht aufnehmen und verarbeiten können.
Zu den Begriffen Symbolisierung und Mentalisierung Was wir unter Symbolisierung verstehen, hat sich in einem längeren Prozess in der Entwicklung der Psychoanalyse verändert und wird und wurde unterschiedlich gebraucht. Auch was unter dem Begriff Mentalisierung gefasst wird, ist unterschiedlich. Mentalisierung kann als ein übergeordnetes Konzept benutzt werden, das die Prozesse der Repräsentation, der Symbolisierungen und der Abstraktion umfasst (Lecours u. Bouchard 1997). Diese weite Begriffsfassung der Mentalisierung entspricht weitgehend Bions Vorstellungen über die Entwicklung des Denkens. In seinem Symbolisierungsbegriff4 wird Mentalisierung als eine vorbewusste Ich-Funktion definiert, die basale körperliche Empfindungen und motorische Muster durch eine verbindende Aktivität umwandelt. Diese Verbindung schreitet von anfänglichen Assoziationen somatischer und motorischer Substrate mit seelischen Repräsentanzen weiter zu der Vervielfachung und Organisierung dieser Repräsentanzen. Dadurch ermöglicht sie das Entstehen seelischer Inhalte und Strukturen von höheren Komplexitätsgraden bis hin zur symbolisierenden Abstraktion. Mentalisierung im engeren Sinne beinhaltet die Entstehung der Fähigkeit, sich selbst und andere als denkend zu erleben, über sich selbst zu reflektieren oder die Gedanken der Anderen 3 Konkretes Denken beinhaltet, dass es keine Differenzierung zwischen Symbol und Symbolisiertem gibt. Hanna Segal (1957) prägte dafür den Begriff »symbolische Gleichsetzung«, den Fonagy übernommen hat und als Äquivalenzmodus bezeichnet. 4 Im klassischen Konzept der Symbolisierung, wie es z. B. von Jones (1916) formuliert wurde, wird als Symbolisierung nur die Darstellung von unbewusstem verdrängtem Material bezeichnet und Sublimierung davon unterschieden.
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wahrzunehmen und zu verstehen. Die Frage nach den Modalitäten der Entstehung dieser Fähigkeiten haben Fonagy und seine Mitarbeiter, insbesondere Target und Gergely (Fonagy u. Target 2000/2001; Fonagy et al. 2002/2004), untersucht. Es geht hier um die Frage, wie es dazu kommt, dass Kinder erstens einen Affekt als ihren eigenen erleben und zweitens über ihre eigenen Empfindungen, Gefühle und Affekte nachdenken können. Wichtig für den Erwerb dieser Fähigkeit ist, dass die Bezugsperson den Affekt spiegelt und ihre Antwort markiert, das heißt zum Beispiel, sie mit übertriebener Mimik, affektiver Stimmfärbung versieht oder auch ironisch verfremdet. Dann kann dem Säugling ein innerer Zustand bewusst werden, den er vorher nicht oder nicht deutlich bemerkt hatte. Der Säugling gewinnt also an den Reaktionen des Anderen ein Bild von seiner eigenen Verfassung. Wiederholte Muster solcher Interaktionen führen dann zur Ausbildung von Repräsentanzen, die die Regulierung von Affektzuständen fördern. Fonagy und Target haben das Verdienst, die Bion’schen abstrakten Modelle in einem spezifischen Bereich ergänzt und erweitert zu haben, wodurch der interdisziplinäre Anschluss an die Säuglingsforschung und die Bindungsforschung ermöglicht wurde. Ihre Modelle sind sehr viel leichter zugänglich und besser geeignet, empirische Forschungsprojekte daraus abzuleiten. Sie bergen allerdings auch eine Gefahr in sich, unbewusste Prozesse zu vernachlässigen. Ich werde im Folgenden Symbolisierung als den Oberbegriff benutzen und Mentalisierung im engeren Sinne verwenden.
Implikationen für die Behandlungstechnik Ich bin der Auffassung, dass das Bion’sche Denken und seine Modelle für unser psychoanalytisches Verständnis und die klinische Arbeit von großem heuristischen Nutzen sind, sowohl für die Einzel- wie auch insbesondere für die Gruppenanalyse (Staehle 2002). Eine Schwierigkeit ergibt sich jedoch oft dadurch, dass Bion die Begrifflichkeit von Melanie Klein erweitert und auch mit einem anderen Inhalt versehen hat. Dies trifft auf
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die Begriffe der projektiven Identifizierung, die paranoid-schizoide und die depressive Position zu (Staehle 2004). Bion traf die Unterscheidung zwischen normaler und pathologischer projektiver Identifizierung (Bion 1959/1990; 1963/1992). Als normale projektive Identifizierung bezeichnet er die gesamte Kommunikation zwischen Mutter und Säugling, bevor Worte verfügbar sind. Die beiden Positionen löst Bion ganz von den infantilen Entwicklungsphasen, indem er sie als Geisteszustände (states of mind) versteht. Eine Position ist eine Konstellation von Ängsten, Abwehrformationen, Objektbeziehungen und Triebimpulsen. Bei Bion bedingen sich die beiden Positionen gegenseitig, sind wechselseitig von einander abhängig und sind für das Denken entscheidend. In der paranoid-schizoiden Position5 bricht man Ganzheiten auf, reißt auseinander, trifft Unterscheidungen und schafft so die Voraussetzung, Neues zusammenzubauen. In der depressiven Position6 werden Verbindungen hergestellt sowie Grenzen und Begrenzungen als erträglich erlebt. Die Fähigkeit, zwischen diesen beiden Geisteszuständen sich bewegen zu können, ermöglicht erst die Denkfähigkeit. Bion verbindet Fühlen, Objektbeziehung und Denken.
5 In der paranoid-schizoiden Position bedrohen primitive Ängste, bei denen es um die gesamte Existenz geht, eine rudimentäres Ich. Es geht um Partialobjekte, und das Überleben steht im Vordergrund. Die Hauptabwehrmöglichkeiten sind Spaltung, projektive Identifizierung und Idealisierung. Die Abwehrformen der paranoid-schizoiden Position haben eine starke Auswirkung auf das Denken und die Fähigkeit zur Symbolisierung. Hier herrschen symbolische Gleichsetzungen (Segal 1957) vor, bei denen eine Konfusion zwischen Selbst und Objekt, zwischen Symbol und Symbolisiertem, besteht. 6 In der depressiven Position findet eine Integration zu ganzen Objekten statt. Diese Veränderungen erfolgen durch die zunehmende Fähigkeit, Erfahrungen zu integrieren und ambivalente Gefühle auszuhalten. Sie führen zu einer Wendung in der Beziehung zu den Objekten, denen gegenüber nun die Sorge überwiegt. Gefühle des Verlustes und der Schuld werden aushaltbar. Symbolisches Denken und reparative Fähigkeiten werden entwickelt, so dass das Denken nicht länger konkret bleiben muss.
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Wenn man die Bion’schen Modelle auf das Setting überträgt, erhalten die nonverbalen, primitiven oder protomentalen Äußerungen in der analytischen Situation neben dem symbolischen, verbalen Austausch größere Aufmerksamkeit (Staehle 2004, S. 70). Die Übertragung und Gegenübertragung wird als »Gesamtsituation« (Joseph 1985/1991) aufgefasst. Betty Joseph versteht die Übertragung als ein lebendiges, sich ständig in Veränderung befindendes Beziehungsgefüge, in das der Patient die Muster der unbewussten Phantasien, Triebregungen, Konflikte und Abwehrformen einbringt, die sein psychisches Leben konstituieren. Deutungen, die sich nur mit einzelnen Assoziationen der Patienten auseinandersetzen, so schreibt sie, »würden lediglich den Erwachsenenteil der Persönlichkeit berühren, während der Teil, der des Verständnisses eigentlich bedarf, sich durch den auf den Analytiker ausgeübten Druck mitteilt« (Joseph 1989/1994, S. 189). Verschiedene Autoren (Feldman 1997; Joseph 1989/1994) haben gezeigt, wie der Analytiker selbst in komplexe interaktionelle Prozesse verwickelt wird, die zu einer Inszenierung führen. Man kann also schlussfolgern, dass die Entdeckung der projektiven Identifizierung vollends die Hoffnung zerstört hat, der Analytiker könne einen ruhigen, kontemplativen Standpunkt außerhalb haben, der als sichere Referenz gelten könnte. Wir fragen nicht nur, was der Patient uns sagt, sondern spätestens seit Michael Balint (1952/1988) auch, »was er mit uns macht und was wir mit ihm machen«. Besonders interessante Punkte für die Technik liegen in dem Akzent, der dadurch auf den leisen, kaum erkennbaren Formen des Wiederholens von frühen, archaischen inneren und äußeren Objektbeziehungen gelegt wird. Die Gefahr, die mit projektiver Identifizierung verbunden ist, liegt im inhärenten Druck, das einbezogene Objekt entsprechend einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu verändern. Je kränker ein Patient ist, desto eher wird er unbewusst bemüht sein, den Analytiker dahin zu bringen, dass er diese Projektionen mit dem Patienten »auslebt«. Wird diese Verwicklung und seine Rollenübernahme vom Analytiker (durch Gegenübertragungsanalyse) jedoch erkannt und nach einer Phase des inneren Durcharbeitens dem Patienten deutend benannt, so liegt darin
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eine große Chance für die weitere Entwicklung des Patienten. Die Struktur der inneren Objekte7 des Patienten wird im analytischen Prozess mobilisiert und externalisiert und in der Beziehung zum Analytiker projiziert, so dass sie wieder lebendig wird. Sie kann nun in der Gegenwart neu erlebt und analysiert werden und es ist diese »erlebte Einsicht«, die zu einer Restrukturierung führt, die Teil des Prozesses psychischer Veränderung ist. Besonders bei Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen sind die körperlich-gestische Interaktionen und an Sprache gebundene Interaktionen auseinandergefallen. Ihre Mimik und ihre Gesten drücken oft etwas anderes aus, als das, was sie mit Worten vermitteln. Damit können wir die Neigung zum Agieren bei diesen Patienten in einem anderen Licht sehen. Dieses Agieren können wir somit verstehen als die dem Patienten momentan zur Verfügung stehende Möglichkeit zur Kommunikation unsymbolisierter Affektzustände, die noch keine psychischen Qualitäten gewonnen haben, sondern ganz automatisch ablaufen. »Da die Beziehungserfahrungen dieser Patienten ihres präsymbolischen Charakters wegen im körperlichen, prozeduralen, nicht aber im sprachlich-symbolischen Gedächtnis gespeichert sind« (vgl. Brenneis 1998, zit. nach Streeck 2002, S. 269), nehmen wir an, »dass sie weder bewusst erinnert noch sprachlich ausgedrückt werden. Sie müssen mit Interaktionen mit anderen beziehungsweise mit dem Therapeuten ausgeführt werden. Im zweiten Schritt können sie dann sprachlich-symbolisch verarbeitet werden, nachdem sie in der äußeren Realität – auch viele 7 Das Über-Ich ist der Prototyp dessen, was Klein das innere Objekt nennt. Innere Objekte bilden sich in zwei Schritten: Das Subjekt projiziert seine Liebes- oder Hassimpulse auf ein geeignetes äußeres Objekt, dann introjiziert es dieses Objekt. Die Projektion von hassenden und zerstörerischen Impulsen in das enttäuschende Objekt lässt das entstehen, was Klein ein böses Objekt nennt. Projektion von Liebesimpulsen in befriedigende äußere Objekte erweckt auch sie zum Leben und erfüllt sie mit Eigenschaften wie Güte, Liebe und Begeisterung, so dass sie von einem Mittel zur Spannungsentladung zu psychologisch relevanten guten Objekten werden.
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Male – in Szene gesetzt wurden […] Um zu verstehen, welche Interaktionserfahrungen dem nicht-sprachlichen Verhalten des Patienten zugrunde liegen, muss der Analytiker sich ihrer Wirkung aussetzen. Er muss sich von dem Verhalten des Patienten gleichsam anstecken und in gemeinsamen Szenen und Inszenierungen verwickeln lassen. Er kann die Bedeutung des körperlich-gestischen Verhaltens des Patienten oft erst dann verstehen, nachdem die Inszenierung auf der therapeutischen Bühne zur Aufführung gelangt ist. Wenn der Analytiker sich in dieser Weise verstricken lässt, agiert er nicht mehr und nicht weniger, als wenn er versuchen würde, das gerade nicht zu tun« (Streeck 2002, S. 270). Wir müssen uns wohl zugestehen, dass ein gewisses Maß an Inszenierung nahezu unvermeidlich ist – als Element eines kontinuierlichen Prozesses, das der Analytiker jedoch erkennen und aus dem er sich zeitweise ausklinken muss. Dann kann er die Inszenierungen zum Verständnis der augenblicklichen Übertragungs-Gegenübertragungs-Situation nutzen. Wenn der Analytiker dann immer öfter den Druck des Patienten aufnehmen und in sich halten kann und weniger versucht ist, die projektiven Mechanismen und die beschriebenen Formen der Inszenierung selbst mitzumachen, wird ein Raum geschaffen, in dem er über seinen Patienten nachdenken kann. Dann hat der Analytiker nämlich wieder zu seiner Arbeitshaltung gefunden und hat seinen eigenen triangulären, ödipalen Denkraum zur Verfügung, der unabdingbar für therapeutisches Arbeiten ist. Dies ist die Abstinenzhaltung des Analytikers, der sich mit seiner ganzen Persönlichkeit, seiner bewussten und unbewussten Wahrnehmung und seinem Transformationsvermögen dem analytischen Prozess zur Verfügung stellt. Es geht hier um Gegenübertragungsphänomene, die dem Analytiker tendenziell keinen Raum zum Denken und Fühlen lassen, in denen der »Container« zu zerbrechen droht; um diesen Raum und den Erhalt der Containing-Funktion muss der Analytiker immer wieder kämpfen. Die Aufgabe des Analytikers ist es nun, Bion folgend, einem in seiner Entwicklung gestörten Menschen bei der Entfaltung seiner nicht realisierten Denkmöglichkeiten zu helfen, ihm zu helfen, seinen Kontakt mit der
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inneren und äußeren Realität zu verbreitern (vgl. Krejci 1997). Ziel ist die Stärkung der Fähigkeit, psychischen Schmerz nicht nur zu erdulden, sondern »besser leiden zu können«, anstatt ihn aus masochistischen Gründen zu missbrauchen oder im Sinne der Abwehr zu verdrängen oder abspalten zu müssen. Kann mit Hilfe der analytischen Beziehung psychischer Schmerz besser erlitten werden, anstatt dass er ausagiert oder projiziert werden muss, dann kann darüber geträumt, nachgedacht und gesprochen werden. Das psychisch Schmerzvolle wird mentalisierbar, wodurch ein Mehr an Bedeutung entsteht. In diesem »Mehr an Bedeutung«, an dem darin enthaltenen Wahrheitsgehalt, wächst die Persönlichkeit, das heißt sie kann aus ihren Erfahrungen lernen.
Implikationen für die Gruppenanalyse Die beschriebenen Implikationen für die Behandlungstechnik sind sowohl für das einzelanalytische Arbeiten wie für das gruppenanalytische Arbeiten vom großer Bedeutung. Für die Gruppenanalyse, in der seit jeher das Beziehungsgeschehen für die psychische Entwicklung im Zentrum stand, sind diese Zugangsweisen jedoch ganz entscheidend. Hält doch die psychoanalytische Gruppentherapie günstige Bedingungen bereit, die dem Einzelsetting nicht in dem Maße zur Verfügung stehen und die eine günstige Wirkung auf die Entwicklung von traumatisierten und Borderline-Patienten8 haben. Denn die Gruppe bietet vielfältige Möglichkeiten der Identifizierung, der facettenreichen Spiegelung, der Resonanz und der direkten Konfrontationen. Erstaunlicherweise ist der Gedanke, die Gruppenprozesse im Sinne des Container/Contained zu verstehen, nicht sehr verbreitet. In einer älteren Arbeit behandelt Zinkin (1989) die Gruppe als Container im Sinne eines Behälters, der einerseits die Holding-Funktion gewährleistet und andererseits die Phantasien und Mythen der Gruppe enthält; »Zinkin versteht den Contai8 Bei fast allen Borderline-Patienten liegen primäre und zusätzliche sekundäre Traumatisierungen vor (siehe hierzu Hirsch 2004).
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ner aber nicht als Ort der Mentalisierung und Symbolisierung« (aus dem Beitrag von M. Hirsch in diesem Band). Foulkes (1964/1986, S. 170) hat mit Blick auf verschiedene Ebenen des Übertragungsgeschehens in Gruppen von einer »Körper-Ebene« (body level) der Übertragung gesprochen, die in Form »körperlicher Erscheinungen« beziehungsweise »Krankheiten« manifest werde. Er hat diese Übertragungsebene zwischen der projektiven und der primordialen Ebene der Gruppenübertragung angesiedelt. In dieser dritten Ebene werden die Objektbeziehungen geformt, und es existieren noch die primitivsten Abwehrformen. Leider wurde diese klinische Intuition von Foulkes nicht systematisch ausgearbeitet. Was ich als »erlebte Einsicht« bezeichnet habe, entspricht bei Foulkes dem »ego training in action«9, und das ist in einer analytischen Gruppe besonders gut möglich. Jedes Gruppenmitglied bringt seine inneren Objekte und die Beziehungen zu ihnen in die Gruppe. In der Gruppe ist jedes Gruppenmitglied damit konfrontiert, mit neuen äußeren Objekten Kontakt aufzunehmen oder zu vermeiden. Die inneren Objektbeziehungen werden lebendig und in der Gruppe realisiert, so dass die einzelnen Gruppenmitglieder und der Gruppenleiter in der Wahrnehmung des Patienten mit den inneren Objekten vermischt werden. Gehalten durch das Setting entsteht durch die Beiträge der Gruppenmitglieder ein wachsender Fundus an gemeinsamer Erfahrung – bewusst und unbewusst – die Gruppenmatrix. Dalal (1998), der die Gedanken von Norbert Elias mit denen von Foulkes verbindet, spricht vom Feld: »Orthodox Foulkes named the field the matrix, and radical Foulkes called it a communicational network.« Ich möchte hier in Anlehnung an Ferro (1999/2003), der sich auf M. und W. Baranger (1969) bezieht, den Begriff des Feldes einführen. Er wurde ausgearbeitet im Hinblick auf die klassische 9 Caroline Garland (1987) schreibt dazu: »The required corrective emotional experience (ego training in action) is precisely that provided by the very simple fact that each member brings a family script, that other group members cast in transference roles may not be willing to read« (unveröffentlicher Vortrag, Oxford).
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psychoanalytische Situation, eben die duale; er kann jedoch sinnvoll auch auf ein Verständnis der analytischen Gruppensituation ausgeweitet werden. In diesem Fall sollte man von einem multipersonalen Feld sprechen, damit ist gemeint, das Feld als einen transpersonalen Behälter (Container) zu verstehen. Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf das Funktionieren der Gruppe. Es ist zunächst nicht von Belang, welches Gruppenmitglied eine Phantasie zum Ausdruck bringt, sondern es geht um die im Gruppenraum lebendigen Emotionen und das entstehende Gewebe von Phantasien und Gedanken. Es handelt sich um einen speziellen »multipersonalen Pool« von Gefühlen, Emotionen und Ideen, die in einer Sitzung vorhanden sind. »Im Konzept des multi-personalen Feldes wird die Aufmerksamkeit darauf gelegt, wie die Gruppenmitglieder und der Analytiker zur Aufrechterhaltung des Feldes der Gruppe beitragen und wie sie ihrerseits durch dieses Feld konditioniert werden« (Neri 2004/2006, S. 80). Eine multipersonale unbewusste Phantasie wird hervorgerufen durch ein Puzzle projektiver Identifizierungen, in das in je unterschiedlichem Ausmaß sowohl die Gruppenmitglieder als auch der Analytiker verstrickt sind.
Beispiel aus einer analytischen Gruppe Im Folgenden möchte ich aus meiner klinischen Arbeit mit Gruppen berichten. Es handelt sich dabei um eine Sequenz aus einer halboffenen Patientengruppe. Die Gruppe besteht aus vier Männern und vier Frauen, die ich Nathalie (33 Jahre), Maria (25 Jahre), Sabine (33 Jahre), Ursula (37 Jahre), Günter (46 Jahre), Peer (22 Jahre), Jan (28 Jahre), Walter (36 Jahre) nenne. Nathalie hatte vor den Weihnachtsferien eine Tochter geboren, jedoch gesagt, dass sie zu dieser Sitzung wieder da sei. Doch ihr Stuhl war leer. Die erste Gruppensitzung des neuen Jahres fand genau an dem Abend statt, an welchem das Ultimatum vor dem Golfkrieg (1990) ablief. Das Thema Krieg mit vielfältigen Facetten hatte die Gruppenmitglieder vor der Weihnachtspause sehr mitgenommen. Als ich den Gruppenraum betrat, saßen alle Gruppenmitglieder regungslos und schweigend da. Ich wartete ab und erlebte das Schweigen sehr
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beklemmend. Mir drängte sich das Bild eines Luftschutzkellers auf, in dem wir alle ausharren müssen. Niemand ergriff das Wort, die Beklemmung wurde größer. Jan fragte in die Gruppe, ob Nathalie wiederkomme. Niemand reagierte. Ich sagte, dass es wohl sehr beklemmend sei, nicht zu wissen, was mit Nathalie sei. Da unterbrach mich Walter mit messerscharfer Stimme: »Ich habe meine Rolle hier satt.« Ursula fragte erstaunt, was er denn damit meine. Walter: Er fühle sich dumm, er fühle sich einfach ganz dumm hier. Immer wieder ziehe er sich immer mehr zurück und könne sich nicht ausdrücken. (In den Sitzungen vor der Weihnachtsunterbrechung hatte er ein ähnliches Gefühl in der Beziehung zu seiner Mutter geschildert, als er sie kurz vor ihrem Suizid nicht mehr habe erreichen können.) In der Gruppe entsteht kurz ein Gespräch über das Spüren, was in einem vorgeht und was man hier in der Gruppe zum Ausdruck bringen kann und was in Walter vorgehen könnte. Da muss Ursula wahnsinnig husten. Ursula hat eine Essstörung und diverse körperliche Symptome. Sie überfordert sich ständig und bringt sich in chaotische Zustände. Maria, die eine panische Angst hat, von Wespen gestochen zu werden, sobald sie aus dem Haus geht, sowie andere Phobien, reagiert mit einem panischen Gesichtsausdruck und schlägt mit dem Arm um sich, als gelte es, eine Wespe zu vertreiben. Dann sagt sie heftig: »Etwas will raus – geh doch auf die Toilette.« Sie ist dann selbst erschrocken über ihre Reaktion und macht eine beschwichtigend-entschuldigende Handbewegung in Richtung Ursula. Ich sage: Es ist heute in der Gruppe so eine Stimmung, so als gäbe es Gefühle und Ängste, die plötzlich hereinbrechen und die man nicht in Worte fassen kann. Unvermittelt sagt Ursula, eben sei ihr wieder etwas eingefallen, was sie in den Ferien sehr mitgenommen habe. Ihr sei jetzt plötzlich der Nachbarjunge vor Augen gewesen, der sich während der Weihnachtsferien umgebracht habe. In mir verdichtet sich ein Gefühl der absoluten Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ich habe plötzlich eine sich mir aufdrängende Phantasie, in meinem Wohnhaus – ich habe die Praxis in meinem eigenen Haus – würde einem Familienmitglied, meinem Sohn, etwas Furchtbares passieren, und ich sitze hier und bin in dem Gruppenraum gefangen und kann nicht helfen. Ein solches mich total gefangennehmendes Gefühl hatte ich noch nie in dieser Gruppe erlebt. Genau in diesem Moment sagt Peer, ein Student und der Jüngste in der Gruppe, mit sehr kühler Stimme, er wolle der Gruppe mitteilen, dass er Ende März aufhören wolle. Die Gruppe war wie vor den Kopf geschlagen. Er wurde dann gefragt, wie er dazu komme. Sie könnten das überhaupt nicht nachvollziehen. Peer erklärt sehr
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kühl und distanziert, er habe nun das, was er verstehen könne, in der Gruppe verstanden. Dies würde beinhalten, dass er so sei, wie er sei, und er könne das nicht ändern. Außerdem wolle er in einer anderen Stadt studieren, und die Gruppe würde zu seinem neuen Leben nicht mehr passen. Das Ende der Sitzung war erreicht, und mir blieb nur noch zu sagen, dass wir in den nächsten Sitzungen versuchen würden zu verstehen, was sich ereignet habe. Ich blieb mit einem Gefühl der Ohnmacht und auch der Unfähigkeit, meinen Zustand in Worte zu fassen, zurück. In der folgenden Sitzung versuchten Walter und Jan mit Peer in Kontakt zu kommen. Walter sagte ihm, er würde ihn vermissen, wenn er nicht mehr käme. Er wolle wissen, wie es ihm nach der letzten Gruppensitzung ergangen sei. Peer entgegnete: »Oh, mir ist es ganz gut gegangen.« Dann fügte er nachdenklicher hinzu: Aber er glaube, er habe das falsch aufgenommen. Er habe geglaubt, die Anderen seien ihm gegenüber genauso distanziert, wie er ihnen gegenüber. Jan sagte dann, er könne an nichts anderes mehr denken als an den Golfkrieg. Das sei für ihn das Thema, und er frage sich, warum wir in der letzten Sitzung überhaupt nicht davon gesprochen hätten. In der Gruppe machte sich eine ambivalente und unruhige Stimmung breit. Ursula sagte, ihr ging es eigentlich auch so. Ihr Mann habe jedoch zu ihr gesagt, ihr käme der Golfkrieg gerade recht, dann brauche sie an nichts anderes denken. Sabine sagt, sie wolle hier nicht politisch diskutieren, sie wäre zu etwas anderem in die Gruppe gekommen. Doch dann entwickelt sich ein Gespräch, in dem die verschiedenen Standpunkte, die man zu jener Zeit in der Gesellschaft hatte, vertreten wurden. Peer vertrat zunächst den Standpunkt des absoluten Pazifismus. Er könne überhaupt nicht verstehen, wie man so etwas machen könne. Wenn man sich vorstellen würde, was dieser Krieg koste. Doch dann sagte er, er könne die RAF verstehen. Man könne so eine Wut kriegen, dass man alles zusammenhauen wolle. Ich spürte eine große Anstrengung und glaubte zunächst, es sei die Ambivalenz, die mich anstrenge. Die Ambivalenz zwischen den Standpunkten der jungen Generation, die sozusagen die Eltern fragen, wie könnt ihr so etwas zulassen, warum ist die Welt so? Und dagegen den Standpunkt der älteren Generation, man muss eingreifen, wenn jemand alle Gesetze missachtet. Ich sagte, es sei sehr schwer, die verschiedenen Einschätzungen nebeneinander stehen zu lassen. Was die reale äußere Situation betreffe, wäre ich genau so hilflos wie sie. Doch glaubte ich, dass es um die Gefühle ginge, die diese Situation in uns auslöste und wie man damit umginge.
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Nach einer Weile des Schweigens sagte Maria, ihr falle etwas ein, was sie kürzlich erlebt habe. Sie könne es jedoch in überhaupt keinem Zusammenhang zum Gruppengeschehen sehen. Sie erzählt dann, dass sie auf ihrer Bank war, um Geld abzuheben. Plötzlich habe sie zwei Hände um ihren Hals gefühlt, die sie gewürgt hätten. Sie sei so erschrocken, habe laut geschrieen und um sich geschlagen. Als sie sich umgedreht habe, habe sie bemerkt, dass hinter ihr ein Mann am Boden lag, der ganz blau angelaufen war. Es habe sich dann herausgestellt, dass er am Ohnmächtig-Werden war und sich einfach an ihr habe festhalten wollen. Sie sei so über sich erschrocken gewesen, als sie sich vorstellte, dass da ein hilfloser Mensch sich an ihr festhalte und sie ihn voll Wut noch geschlagen habe. Diese Szene half mir, die in der Gruppe aktualisierten Gefühle zu benennen. Ich sagte, dass es so schwer ist, Ohnmacht und Hilflosigkeit auszuhalten, und man dazu getrieben werden kann, sich in einem gewalttätigen Akt, sei es handelnd oder verbal, davon zu befreien. Ich glaubte, dass es der Gruppe auch Angst gemacht habe, dass wir alle sozusagen in einem Boot saßen, dass sie mich auch hilflos erlebt hätten. In der nächsten Gruppensitzung erzählte Günter einen Traum. Er habe geträumt, dass eine Gruppe in seine elterliche Wohnung eindringt. Diese Gruppe habe er später in B. (meine Praxis befindet sich in diesem Stadtteil) wieder getroffen und habe versucht, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Die verschiedenen Assoziationen in der Gruppe zum Traum erschlossen, dass die eindringende Gruppe die aggressiven Regungen in der Gruppe repräsentierte. Insbesondere Peer beteiligte sich sehr aktiv. Es wurde deutlich, wie sehr er die Aggressionen bei den anderen messerscharf wahrnahm, jedoch nie bei sich selbst. Er schilderte, wie sein Trompetenlehrer ihn fertigmache, wie er sich die Ohren zuhalte und zynisch mit ihm spreche. Peer wirkte sehr unglücklich und erzählte dann, dass seine Freundin die Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule bestanden habe und ihren Umzug in eine andere Stadt vorbereite. Er wolle sich nun auf sieben Aufnahmeprüfungen für Musikhochschulen bewerben und in einem halben Jahr Klavier spielen lernen. Als mehrere Gruppenmitglieder ihm vermittelten, dass er eine Flucht nach vorn anträte und sich damit völlig überfordere, fing er an zu weinen und sagte, er wolle die Abhängigkeit von seiner Freundin einfach abschütteln. Er wolle sie wie einen überflüssigen Mantel wegwerfen und sich wieder frei fühlen können. Ich sagte zu Peer und zu der Gruppe gewandt, es ist so schwer, wenn man Zugehörigkeit und Verbundenheit als eine Demütigung empfindet, die einen zum Gefangenen macht.
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In der folgenden Sitzung erzählt Günter, dass er entdeckt habe, dass er oft an anderen etwas massiv angreife, was er an sich selber nicht wahrhaben wolle. So gehe es ihm mit den Wutanfällen seiner älteren Tochter, die ihm sehr ähnlich sei. Es erinnere ihn an seine Kindheit. Seine beiden Geschwister seien so brav gewesen, er hingegen habe ständig Wutanfälle bekommen und dann später angefangen zu stottern. Ursula sagt darauf hin zu Günter: »Aber es muss doch auch einen Grund gegeben haben, warum du so wütend warst als Junge. Du bist doch nicht einfach wütend auf die Welt gekommen?« Daraufhin Günter nachdenklich: »Ja, ich war sehr eifersüchtig und fühlte mich sehr zurückgesetzt, vor allen Dingen, weil mein Bruder so bevorzugt wurde.« Jan: »Der Auseinandersetzung mit mir selbst entziehe ich mich immer mehr, ich ziehe mich zurzeit aus allem raus.« Jan wirkt sehr verschlossen und betrübt. Ursula fragt ihn, was denn jetzt in ihm vorgehe. Daraufhin erzählt er stockend mit leiser Stimme, so dass man ihn kaum verstehen kann, dass er vom Schlafzimmerfenster seiner neuen Wohnung (er war gerade umgezogen) das Internatsgebäude sehen könne, in dem er als kleiner Junge war. Walter fragte Jan, was denn damals alles war, da er das nicht wisse, weil er noch nicht so lange in der Gruppe sei. Jan erzählt, dass kurz nach der Scheidung seiner Eltern seine Schwester mit einem Gehirntumor im Krankenhaus lag. Ein Jahr lang seien beide Eltern täglich ins Krankenhaus gegangen, und er habe allein zu Hause bleiben müssen. Oft habe er gedacht, dass die Schwester doch sterben möge. Als sie ein halbes Jahr später dann gestorben sei, habe er große Schuldgefühle gehabt. Kurz danach, er sei damals so 9 bis 10 Jahre alt gewesen, sei er ins Internat geschickt worden. Seine Mutter sei wohl mit der Erziehung überfordert gewesen. Sie habe sich wohl gedacht, in einem katholischen Internat sei er besser aufgehoben. Er habe ihr oft erzählt, wie traurig er sich dort fühle, doch sie habe das nie zur Kenntnis genommen. Dann sagt Jan: »Aber auch damals habe ich mich nicht gewehrt. Ich war nur unglücklich.« Heute wolle er sich engagieren und etwas tun, doch dann ziehe er sich auch nur zurück und mache nichts. Ich sage zu Jan: »Damals waren Sie mit ihren traurigen Gefühlen und der Verlassenheit sehr alleine, und es ist auch heute schwer, daran zu glauben, dass wir uns dafür interessieren und gerade Walter sich dafür interessiert. Damals waren Sie abhängig von Ihrer Mutter, und es war kaum möglich, sich zu wehren …« Günter zu Jan: »Ich habe den Eindruck, Jan, dass du dich so engagierst, um irgendetwas anderes Versäumtes aufzuarbeiten, um deine Schuldenlast zu verringern.« Walter fragt Jan noch einmal, wie er sich denn gefühlt habe nach dem Tod der Schwester und nachdem er
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so ins Internat abgeschoben worden sei. Jan ist sehr berührt und bekommt feuchte Augen. Peer fährt dazwischen: »Ich bin heute das letzte Mal da, ich möchte etwas Abschiedsstimmung.« Die anderen Gruppenteilnehmer sind wie vom Blitz getroffen. Ursula sagt ziemlich wütend, dazu habe sie jetzt keine Lust. Sabine sagt, damit habe sie nach den letzten Sitzungen und so, wie sie Peer erlebt habe, nicht gerechnet. Peer rechtfertigt sich, er habe etwas sagen wollen, aber er sei nie dazu gekommen. Maria sagt ihm, das stimme einfach nicht. Günter sagt sehr betrübt zu Peer: »Ich glaube überhaupt nicht, dass es gut für dich ist, wenn du jetzt aus der Gruppe gehst. Ich finde das wirklich sehr schade.« Walter reagiert sehr gekränkt und auch wütend. Er sagt zu Peer: »Du hast hier in der Gruppe alles abgeladen und hinterlässt uns nun deinen Müll und siehst gar nicht, dass du uns fehlst, dass du eine Lücke hinterlässt.« Peer entgegnet, er wisse zwar, wo manches herkomme, aber damit herumschlagen müsse er sich alleine. Sonst suche er in der Gruppe Geborgenheit, und das sei doch nur ein Ersatz, das wolle er nicht. Dann werde er von der Gruppe zu abhängig. Sabine sagt zu Peer: »Weißt du, du hast dir einfach alles abgeladen, dein Klavier, die Trompete, deine Freundin, und nun gehst du und sagst einfach, alles, was hier war, ist nichts wert.« Ich sage zu Peer, dass es einen Unterschied gebe zwischen sich total abhängig zu fühlen und aushalten können, dass er von der Gruppe auch etwas bekommen habe. Mir sei aufgefallen, dass er genau in dem Moment dazwischen gefahren sei, als sich zwischen Jan und Walter eine sehr dichte Beziehung hergestellt habe. Das habe doch auch sehr viel damit zu tun, wie er mit sich selbst umgehe. Ob er nicht genau in dem Moment die Gruppe entwerte, in welchem er sich anhänglich an die Gruppe fühle. Er habe wohl das Gefühl, dass er dann nicht mehr loskomme und nichts Eigenes mehr habe, wenn er diesen Gefühlen nachgebe. Peer erschrocken und abwiegelnd zugleich: »Nein, nein, ich habe ja gar nicht vor, aus der Gruppe zu gehen.« Dann nach einer Pause und mit weicher, nachdenklicher Stimme. »Ich habe mich so sehr außen vor gefühlt.« Maria sagt erschöpft: »Hoffentlich ist diese Sitzung bald vorbei – es ist so schrecklich anstrengend!« Ich empfand sie auch als schwer und hatte dennoch das Gefühl, dass die Gruppe und ich es aushalten und tragen konnten.
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Diskussion und zusammenfassende Überlegungen In der dargestellten Sequenz einer Gruppenanalyse stellt sich ein Gewebe aus vielfältigen projektiven Identifizierungen im Gruppen-Container her. In der ersten Sitzung war es zunächst die äußere Realität des drohenden Krieges, der zwar nicht im »eigenen Land« stattfindet, jedoch in den einzelnen Teilnehmern und in der Gruppenanalytikerin je eigene Anteile traumatisch erlebter Ereignisse wachrief. Es war ein diffuses Gefühl der Beklemmung und Lähmung im Raum. Die ganze Gruppe sitzt für lange Zeit regungslos und schweigend da. Die erste sprachliche Äußerung bezieht sich auf die fehlende Nathalie. Im Nachhinein, beim Nachdenken über diese Gruppensitzung, erkannte ich darin einen ersten Hinweis auf die sich im weiteren Gruppenprozess entfaltenden Gefühle und Ängste – um Trennung, Verlust, hilflose Wut, narzisstischen Rückzug und abgewehrte Trauer. Mir drängte sich das Bild eines Luftschutzkellers auf, in dem Mütter mit ihren Kindern sitzen und hilflos ausharren müssen. Walter, der als Kind seine Mutter nach ihrem Suizid gefunden hatte und seither gewissermaßen sprachlos war, was seine Gefühle betraf, durchbrach diese Lähmung und das Schweigen mit messerscharfer Stimme. Er kann seine Gefühle nicht in Sprache bringen, aber er reagiert deutlich auch auf die allgemeine Lähmung. Neu ist seine Wut über diese Rolle, das heißt seine Art des Rückzugs und des Sich-dumm-Fühlens. Seinen Rückzug und die Dumpfheit (etwas wie ein Denk- und Redeverbot), wenn es um Gefühle geht, die seine »Verletzungen« berühren, empfindet er nun selbst als störend. Das ist ein wichtiger Schritt. Ursula muss husten. »Es will etwas raus«, jedoch konkret körperlich. Doch dann kann sie das Husten in eine Narration fassen. Die Erzählung der realen Begebenheit vom Suizid des Nachbarjungen stellt die Ängste in der Gruppe dar und verstärkt sie zugleich. Auch ich werde angesteckt, und Eigenes aus meiner Familiengeschichte wird in mir mobilisiert und blockiert mein Denken. Peer reagiert auf die Gruppenverfassung – und auf meine – mit der Drohung, die Gruppe zu verlassen. Die Bedrohung durch Verlassen-Werden und durch Trennung ist nun direkt im Gruppenerleben. Peer will weg, sich retten und nicht
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wie früher mit seiner hilflosen, verrückten Mutter zurückbleiben. Peer war nach einem versuchten Suizid, nachdem seine Freundin ihn verlassen hatte, in die Gruppe gekommen. Es war eine Erfahrung von gemeinsamem Ausgeliefertsein und gemeinsamer Hilflosigkeit, in der frühere traumatische Erfahrungen von einzelnen Gruppenmitgliedern und auch von mir wiederbelebt wurden. Wobei ich auch annahm, dass der Golfkrieg mit seinen Protagonisten wie eine externe Realisierung von tyrannischen destruktiven Selbst- und Objektanteilen erlebt wurde. Das entstandene »Gemisch« aus ohnmächtiger Wut und Hilflosigkeit könnte in Peer die Reaktion ausgelöst haben, das »sinkende Schiff« zu verlassen aus der Angst heraus, sonst selbst mit unterzugehen. Für die Gruppe war ich in dieser Sitzung möglicherweise vorübergehend ein »beschädigter Container«, der auch von dieser lähmenden, hilflosen Angst erfasst war. Entscheidend war, dass ich diese »aporetische« Konstellation aus ohnmächtiger Wut und Hilflosigkeit noch halten konnte und in mir in einer »hoffnungslosen Weise Hoffnung« erhalten konnte, dass wir einen verstehenden Zugang finden würden.10 In der folgenden Sitzung zeigt sich, dass die Gruppe weiter arbeiten kann. Walter und Jan können Peer mitteilen, dass sie ihn vermissen werden, und sie interessieren sich dafür, wie es ihm geht. Es findet also eine Annäherung an depressive Gefühle statt. Peer muss dies zunächst einmal von sich weg halten und kann sich dann eingestehen, dass er etwas von sich in die Anderen hineingelegt hat, dass sie nämlich genauso distanziert seien wie er. Dann wendet sich die Gruppe der äußeren Realität Golfkrieg zu. Die beiden Frauen Ursula und Sabine wehren sich dagegen, auf einer distanzierten Ebene zu diskutieren. Die von Ursula berichteten Äußerungen ihres Mannes – ihr komme der Golfkrieg gerade recht, dann brauche sie an nichts anderes zu denken – aufnehmend könnte man sagen, für Peer kam das Thema Golfkrieg auch gerade recht, um seine hoch gesteckten absoluten 10 Gerhard Schneider hat die Aporie-These für die psychoanalytische Behandlungstechnik für die Einzelanalyse entwickelt (Schneider 2005; 2006).
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Ideale einerseits und sein ungeheures Wutpotenzial andererseits zum Ausdruck zu bringen. Ich habe diese große Diskrepanz als sehr anstrengend erlebt. Doch genau das ist der Vorteil in der Gruppensituation. Von den einzelnen Gruppenmitgliedern wird jeweils eine andere Facette aufgegriffen, das heißt, es finden Perspektivenwechsel statt, die Einzelnen können sich mit eigenen Anteilen in den Anderen wiederfinden (Spiegel- und Resonanzphänomene), und die Affekte werden markiert und mit einer Differenz zurückgegeben. Nach meiner beschreibenden Intervention – wie schwer es ist, diese verschiedenen Gefühle und Einschätzungen nebeneinander stehen zu lassen, und dass sie mich wohl auch sehr hilflos erlebt hätten –, kam von Maria die Geschichte, die sie auf der Bank erlebt hatte und die in schwer erträglicher Schärfe den »aporetischen Graben« oder das unlösbare Dilemma zwischen »sich selbst retten und dafür den Anderen, der Hilfe braucht, wegstoßen« in einer »Schlüsselszene« zum Ausdruck brachte. Auch das ist ein Vorteil der Gruppenanalyse gegenüber der Einzelanalyse, dass nicht alles auf den Gruppenanalytiker zentriert ist, sondern dass aus dem sich in der Gruppe entwickelnden multipersonalen Feld etwas erwächst, das einen Schritt weiterführt. Ich konnte mit Hilfe dieser Szene die in der Gruppe aktualisierten Gefühle und die gewalttätigen Befreiungsversuche in einer »ungesättigten« Form benennen. In der nächsten Gruppensitzung tauchen »Traumgedanken« auf; Günter erzählt einen Traum. Die vielfältigen Gruppen-Assoziationen zu dem Traum zeigen eine Entwicklung der Gruppenatmosphäre. Die verschiedenen Facetten von Eifersucht werden von den einzelnen Gruppenmitgliedern benannt. Einfühlsame und konfrontierende Äußerungen machen es Peer möglich, sich zu öffnen. Er kann in Worte fassen, wie er sich von seinem Bedürfnis nach Zugehörigkeit bedroht fühlt, da er es mit einer absoluten Abhängigkeit verwechselt. In der Gruppe findet ein schmerzlicher und wahrhaftiger Austausch über diesen Konflikt statt. Die Gefühle und Ängste, die von einem einzelnen Gruppenmitglied nicht durchgearbeitet werden können, können im »Gruppendenken« verstoffwechselt werden. Das sind die Prozesse, die Mentalisierung ermöglichen, indem die gegenseitige
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Wahrnehmung und die Erfahrung, dass andere über einen nachdenken und dies in Worte fassen, verinnerlicht werden und dazu führen, sich selbst zu verstehen. In der folgenden Sitzung spricht Günter über seine Entdeckung, dass er andere massiv angreife für etwas, was er an sich selbst nicht wahrhaben wolle. Er kann mit Hilfe des Nachdenkens der Anderen, in diesem Fall Ursula, seinen in seiner Einsicht enthaltenen Selbstvorwurf erkennen und sagen: »Ja, ich war so eifersüchtig und fühlte mich so zurückgesetzt, weil mein Bruder so bevorzugt wurde.« Dies ermöglicht Jan, auch noch mit Ursulas Unterstützung, zu beschreiben, wie er sich fühlt. Er kann zunächst seine Gefühle nicht so in einen Zusammenhang mit schmerzlichen Erinnerungen und dem sie auslösenden Ereignis bringen. Er zeigt sie durch sein Aussehen und seine Mimik. Er wirkt wie versteinert, verschlossen. Ursula hat dies bemerkt und ihn gefragt, was mit ihm sei. Jan sagt, sich selbst beschuldigend, dass er inzwischen wieder an einem Punkt sei, an dem er sich immer mehr in sich selbst zurückziehe. Das interessierte Nachfragen von Walter ermöglicht es Jan, die schwierige Geschichte vom Gehirntumor seiner Schwester und von seinen Todeswünschen ihr gegenüber zu sprechen. Er hatte das noch nie in so bewegender Weise in der Gruppe mitgeteilt. Vor allem hatte er noch nie die kritische und schmerzliche Bemerkung über seine Mutter gemacht, dass sie seine Traurigkeit nie zur Kenntnis genommen habe. Doch sofort muss er sich dafür bezichtigen, dass er ja auch heute nichts mache und sich nur zurückziehe. Meine Intervention, dass er damals abhängig war und sich nicht wehren konnte, wie er das heute könne, konnte er aufnehmen. Auch der ungeheure Druck, unter den sich Jan immer selbst setzt, kann mithilfe von Günters Intervention einem Verstehen näher gebracht werden. Es war in der Gruppe eine ganz berührende Situation zwischen den drei Männern Günter, Jan und Willy entstanden. Jan bekommt feuchte Augen. In diesem Moment fährt Peer dazwischen. Die anderen Gruppenmitglieder reagieren körperlich-gestisch, wie vom Blitz getroffen. Peer bricht mit seiner Drohung, dass es seine letzte Sitzung sei, richtiggehend in die Gruppensituation ein, so wie die Gruppe in Günters Traum. Doch die Gruppe ist nicht gelähmt, Einzelne
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wehren sich massiv. »Du hast dir alles abgeladen, dein Klavier, die Trompete, deine Freundin, und nun gehst du und sagst einfach, was hier war, ist nichts wert.« Doch er wird nicht zum Sündenbock gemacht. Günter: »Du siehst gar nicht, dass du eine Lücke hinterlässt und uns fehlst.« Ich interveniere hier zunächst in einer allgemeinen Form, um dann Peer in einer »gesättigten« Form zu vermitteln, was er mit uns und sich »macht« und wie ich es verstehe. Er kann es zum Teil aufnehmen, ist berührt und kann mitteilen, dass er sich so außen vor gefühlt habe. Wir haben in dieser Sitzung ein ganzes Stück Arbeit geleistet. »Es war schrecklich anstrengend«, wie Maria am Ende der Sitzung erschöpft sagte. Die Gruppe ging weiter, Peer blieb noch eine ganze Zeit. Doch ich beende hier meine Schilderung des Gruppenprozesses und komme zu einer abschließenden Bemerkung.
Schlussbemerkung Die Gruppe fungiert als Container, der alles aufnimmt, hält, modifiziert und in verträglicher Form zurückgibt und dadurch Symbolisierung ermöglicht. Das geschieht durch die Interventionen und Reaktionen Einzelner und/oder des Gruppenanalytikers. Zentral ist die Erfahrung, dass sich so etwas wie Ko-Denken (Widlöcher 2003; Marrone 2004) entwickelt. Die Anderen denken über einen nach, und man denkt über sie nach und entdeckt eigene Anteile von sich bei den Anderen. Dies ist die »Kultur des Untersuchens« in der Gruppenanalyse (Pines 2004, S. 31), die ermöglicht wird durch das Eingebettet-Sein, das einer sicheren Bindung entspricht (s. den Beitrag von M. Hirsch in diesem Band: Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie traumatisierter Patienten). Oder anders ausgedrückt: Die Gruppe hat sich einer Arbeitsgruppenhaltung beziehungsweise der depressiven Position im Bion’schen Sinn angenähert. Bion hat zwar in seinen Schriften niemals eine direkte Verbindung hergestellt zwischen seinen Gedanken über die Grundannahmen-Funktionsweise und dem Konzept der paranoid-schizoiden und depressiven Positionen, doch kann man
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zwischen beiden Begriffspaaren eine hilfreiche Parallele sehen. Die Funktionsweise der paranoid-schizoiden Position hat viel gemeinsam mit der Grundannahmen-Funktionsweise, ebenso wie die depressive Position viel mit der Arbeitsgruppen-Funktionsweise gemeinsam hat. Zur depressiven Position gehört, Verantwortung für das eigene Fühlen und Denken zu übernehmen. Doch diese Schwelle zur eigenen Verantwortung wird nicht ein für allemal überschritten, diese Fähigkeit muss immer wieder neu errungen werden.
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Thomas Bolm Mentalization-Based Treatment (MBT) in der stationären und ambulanten Gruppenpsychotherapie
Psychodynamische Psychotherapie schwerer struktureller Störungen Die psychodynamische Behandlung schwerer struktureller Störungen, insbesondere Borderline- und chronifizierter Traumafolgestörungen, hat in den letzten Jahrzehnten entscheidende Veränderungsimpulse erhalten. Die psychodynamische Gruppentherapie hat den Blick auf Mehrpersonenpsychologie und interaktionelle Prozesse geschärft. Im deutschsprachigen Raum betonte insbesondere das Ehepaar Heigl früh die wichtige Funktion therapeutischer Präsenz mit Hilfs-Ich-Aktivität und selektiver Selbstöffnung nach dem »Prinzip Antwort« (Lindner 2005; Heigl-Evers u. Heigl 1973; Heigl-Evers u. Ott 1994; Streeck 2002; 2007). Psychodynamische Therapieansätze verwenden heutzutage recht verschiedene Herangehensweisen. So betont die Arbeitsgruppe um Kernberg in ihrer Transference-Focussed Psychotherapy (TFP) (Clarkin et al. 2001a; 2001b) die Notwendigkeit einer die Übertragungsbeziehung deutenden Aktivität, die durch stützende Verträge abgesichert wird. Andere Autoren nehmen eher eine flexible Mittelstellung im Spektrum zwischen Stützen und Deuten ein und, soweit sie dazu Stellung beziehen, betonen zwar klare, aber weniger strenge Rahmenvereinbarungen (Bateman u. Fonagy 2004; 2006; Bolm 2004; 2005; 2007a 2007b; Bolm, im Druck; Klöpper 2006; Piper et al. 1998; Rudolf 2004; Stevenson u. Meares 1992). Die Arbeitsgruppen um Kernberg, um Rudolf, um Bateman und Fonagy haben ihren reichen Erfahrungsschatz in Form von Manualen gut zugänglich gemacht (Clarkin et al. 2001a; Rudolf
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2004; Bateman u. Fonagy 2004; 2006). Ein Manual für voll- und teilstationäre sowie ambulante MBT befindet sich in Vorbereitung (Bolm, im Druck). Die kognitive Verhaltenstherapie hat mit Linehans DialektischBehavioraler Therapie für Borderline-Patienten (Linehan 1993) einen Weg beschritten, der wesentlich beziehungsorientierter ist, als es bis dahin aus der Verhaltenstherapie bekannt war. Auch die Betonung von nicht nur nach außen, sondern auch nach innen gerichteter achtsamer Aufmerksamkeit begegnet uns hier unter neuem Etikett wieder. Von diesem Ansatz gingen wichtige Impulse aus, auf bestimmte Symptome und selbstregulative Fähigkeiten zu fokussieren und auch von psychodynamischer Seite manualisierte Behandlungskonzepte zu entwickeln. Und schließlich haben traumatherapeutische Erkenntnisse unser Verständnis für strukturelle Störungen erheblich verändert, allerdings mit recht unterschiedlichen Schlussfolgerungen für die Behandlung von Borderline- und Traumafolgeerkrankungen (Bolm 2004; Bolm 2007a; 2007b; im Druck; Hirsch 2004; Sachsse 2004; Reddemann 2004; Bateman u. Fonagy 2004; 2006; Wöller 2006). Stationäre traumazentrierte Therapie zeigt sowohl in Abkehr von psychodynamischen Interventionen (Leichsenring et al. 2004; Schellenberg et al. 2004) als auch mit modifizierter psychoanalytisch-interaktioneller Vorgehensweise gute Ergebnisse (Schellenberg et al. 2004). Es gibt also recht verschiedene Psychotherapieangebote, die hilfreich für schwere, oft mit massiver Traumaerfahrung assoziierte Persönlichkeitsstörungen sind. In verschiedenen Metaanalysen (Leichsenring u. Leibing 2003; Roth et al. 2005; Tress et al. 2002) finden sich jedoch stets ähnliche Eigenschaften: – Die Therapie erfolgt konzeptgeleitet und strukturiert. – Sie ist beziehungs- und störungsorientiert. – Die Behandlungstechnik ist dementsprechend für die Bedürfnisse von schwer persönlichkeitsgestörten oder/und traumatisierten Patienten modifiziert. – Die Behandlungsstrategien und -ziele sind für Patienten und Behandler klar erkennbar. – Es erfolgt regelmäßige, hochqualifizierte, feldkompetente Supervision.
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– Es werden Strategien für Notfälle und Krisensituationen vorgehalten. – Der Therapieerfolg ist dosisabhängig. Evidenzbasierte Borderline-Psychotherapie (Binks et al. 2006; Bolm 2006) wertet die vorhandene Datenlage nach Studienqualität, schließt damit aber die Wirksamkeit anderer, weniger gut untersuchter Vorgehensweisen nicht kategorisch aus. Die derzeit höchste wissenschaftliche Evidenzstufe für Borderline-Psychotherapie kommt laut Cochrane Collaboration zwei Verfahren zu: Mentalization-Based Treatment (MBT), im tagesklinischen Setting bewährt, und Dialektisch-Behavioraler Therapie (DBT), ambulant umgesetzt. Jeder zweite Patient, der mit MBT behandelt wurde, erreichte ein signifikant besseres Ergebnis als einer in der gemeindepsychiatrisch behandelten Kontrollgruppe (Bateman u. Fonagy 2006, S. 31). Beide Verfahren wurden inzwischen auch in vollstationären Settings evaluiert (Bohus et al. 2004; Bolm et al. 2006; 2007a, 2007b).
Mentalization-Based Treatment (MBT) MBT ist ein auf den Erkenntnissen der Bindungsforschung und empirischer Therapieforschung basierender Behandlungsansatz, der speziell für schwere Persönlichkeitsstörungen und Traumafolgeerkrankungen entwickelt wurde. Er hat sich empirisch bewährt (Bateman u. Fonagy 1999; 2001; 2003; Bolm et al. 2007a, 2007b) und wird inzwischen von der Cochrane Collaboration für die Borderline-Behandlung empfohlen. Die beste Evaluation erfolgte bisher im tagesklinischen Kontext einer sektorversorgenden Londoner Tagesklinik (Bateman u. Fonagy 1999; 2001; 2003) im randomisiert-kontrollierten Vergleich mit einer üblichen gemeindepsychiatrischen Behandlung. Die Stichprobe bestand aus einer Klientel von schwerstkranken, häufig mit affektiven und Suchterkrankungen komorbiden Patienten mit heftigen psychosozialen Problemen. Während maximal 18 Monaten teilstationärer Behandlung brachen nur 12 Prozent der Patienten die Behandlung ab. Selbstverletzendes Verhalten,
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Suizidversuche, Angst, Depression, symptombezogene Krankheitsschwere, interpersonelle Probleme, Mangel an sozialer Unterstützung und die Inanspruchnahme des Gesundheitswesens inklusive Medikation und Anzahl und Dauer stationärer Behandlungen nahmen signifikant ab. Der Zustand der Patienten verbesserte sich während der 18 Monate Nachsorgezeit weiter. Die Gesundheitskosten nach Abschluss der MBT waren bei den damit behandelten Patienten drastisch gesenkt im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die NNT (number needed to treat) betrug ca. 2, das bedeutet, dass es bereits ab zwei mit MBT behandelten Patienten einem davon signifikant besser ging als in der Kontrollgruppe. Dreimonatige vollstationäre MBT-Akutbehandlung (Bolm, im Druck; Bolm et al. 2006) zeigte ebenfalls deutlich positive Resultate mit noch geringeren Abbruchraten und guten Effektstärken (Bolm et al. 2007a, 2007b). Bateman und Fonagy erproben MBT derzeit auch im rein ambulanten Setting. MBT verfolgt explizit das Ziel, Menschen mit strukturellen Störungen zu ermöglichen, die hinter dem direkt Beobachtbaren und Fühlbaren stehenden Motive verstehen zu lernen. Das betrifft inhaltlich die eigene Person, andere Menschen und die Art, Beziehungen zu gestalten. Besonders wichtig ist das Erlernen von Mentalisieren in affektivgeladenen bindungsrelevanten Situationen, in denen die Kohärenz des Selbsterlebens gefährdet ist. Das Erlernen dieser Fähigkeit wiederum ist mit der Herausbildung regulativer Strukturen des Selbst verbunden, die zur Reduktion der Krankheitssymptomatik führen. Mit dem expliziten Fokus auf Mentalisierung unterscheidet sich MBT von Therapieansätzen, die diese Entwicklung implizit fördern können, wie zum Beispiel Transference Focussed Psychotherapy (TFP) und Dialectic Behavioural-Therapy (DBT). Mentalisieren ist bei MBT Weg und Ziel zugleich! MBT ist ein manualisiertes Behandlungskonzept (Bateman u. Fonagy 2004; 2006; Bolm, im Druck) für eine Klientel, die sich in der Krankheitsschwere in der Regel von der einer psychotherapeutischen Praxis unterscheidet und im deutschsprachigen Raum eher im stationären, teilstationären oder psychiatrischen Institutsambulanzkontext vorkommt. MBT-Bestandteile sind dennoch gut anwendbar in jeder Praxis, können jedoch bei rela-
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tiv stabilen Patienten mit herkömmlichen psychodynamischen oder verhaltenstherapeutischen Techniken kombiniert werden. Damit handelt es sich nicht um MBT, wohl aber um Psychotherapien, in denen die Mentalisierungsfähigkeit gefördert wird. MBT versteht sich als psychodynamisch-integrativ und multimodal, das heißt dass mit psychodynamischer Grundhaltung sowohl psychoanalytisch orientierte Verfahren (Einzel- und Gruppentherapie), verhaltenstherapeutische (Fertigkeitentraining), im deutschsprachigen Raum (Bolm, im Druck; Bolm et al. 2006) auch traumatherapeutische Elemente (imaginative Übungen) sowie Sozio- und Kreativtherapien zum Einsatz kommen, ebenso ist die notwendige medikamentöse Behandlung integriert. MBT ist störungsorientiert, weil sowohl auf die Reduktion selbst- und fremdgefährdender beziehungsweise -schädigender Symptomatik in der Folge schwerer Bindungs-, Missbrauchsund Gewalttraumata fokussiert wird als auch auf die Arbeit an strukturellen Defiziten. Behandlungsrelevant an diesen strukturellen Voraussetzungen ist dabei die Schwierigkeit, komplexe Symbole, zum Beispiel Übertragungsdeutungen, für sich nutzen zu können. Die Erarbeitung von Notfall- und Krisenstrategien nimmt ebenfalls großen Raum in der Behandlung ein. MBT ermöglicht auf dem Boden klarer Behandlungsstrukturen und -prioritäten viel patientenzentierte Flexibilität. Das betrifft sowohl die Inhalte wie das Setting. MBT ist gruppen- und teamorientiert. Ursprünglich im tagesklinischen Kontext entwickelt und evaluiert, greift es viele Fragen im Zusammenhang mit Störungen auf, die sich nicht nur intrapsychisch, sondern vor allem interpersonell entfalten und auf diese Weise in der Behandlung einem lebendigen Auseinandersetzungsprozess zugänglich sind. Die Methode bezieht sich konsequenterweise nicht nur auf die therapeutische Beziehung, sondern auch auf die Herausforderungen durch die Wechselwirkungen mit Teamarbeit und Supervision.
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Theoretische Grundlagen Mentalization-Based Treatment baut auf der psychoanalytischen Tradition auf, bezieht aber wesentliche Anregungen aus den Erkenntnissen der Bindungsforschung, empirischen Säuglingsforschung, Entwicklungspsychologie und Neurobiologie (Fonagy et al. 2002; Bateman u. Fonagy 2004). Weil in Deutschland die stationäre psychodynamische Psychotherapie schwerer struktureller Störungen im Vergleich zu anderen Ländern traditionell einen breiten Raum einnimmt, ist der Weg für manche Neuerungen von MBT hier längst geebnet. Vorbereitet wurde dies durch die Entwicklung der psychoanalytisch-interaktionellen Methode (Heigl-Evers u. Heigl 1973; Heigl-Evers u. Ott 1994; Lindner 2005; Streeck 2002; 2007), die strukturbezogene Psychotherapie (Rudolf 2004) und durch Autoren, die eine Synthese dieser Ansätze voranbringen (Berghaus 2005; Bolm 2004; 2005; 2007a; 2007b; im Druck; Bolm et al. 2006; Klöpper 2006; Wöller 2006). Bindungs- und Umweltbeziehung haben erheblichen Anteil an einer gelingenden Strukturentwicklung. Angst aktiviert das Bindungssystem und die Hinwendung zur Sicherheit spendenden Bezugsperson. Eine sichere Bindung ermöglicht dagegen die Exploration der Umwelt und die Erweiterung des Aktionsradius. Dies dient dem Aufbau und der Aufrechterhaltung weiterer intimer Beziehungen, eines Mehrpersonenbezugssystems und damit der Entwicklung eines stabilen und kohärenten Selbst mit stabilen Repräsentanzen. So entsteht das Handwerkszeug zur Verarbeitung von Realität. Es ist also nicht allein ein inneres, zum Beispiel genetisches Programm dafür verantwortlich, sondern es ist auch die Qualität der Bindungsbeziehung, die bestimmt, ob wir entweder von innerer und äußerer Realität überfordert, gar traumatisiert werden oder aber einen spielerischen Umgang mit ihr finden und ein kohärentes Selbsterleben behalten (Fonagy et al. 2002). Mentalisierungsfähigkeit zu erlernen bedeutet Repräsentanzenbildung zweiter Ordnung, nämlich Repräsentanzen intentionaler mentaler Zustände als organisierende Kräfte im Selbst und in anderen. Dies ermöglicht ein Hinauswachsen über eine teleologische Haltung, die vom beobachtbaren Effekt auf die Ur-
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sache schließt, etwa im Sinne von »Ich fühle mich verletzt, also ist das verursachende Gegenüber böse.« Mentalisieren bedeutet stattdessen, sich nach den Motiven des Gegenübers für dessen Verhalten zu fragen sowie nach den eigenen Motiven, so verletzt zu reagieren. Mentalisieren heißt Erkennen und Interpretieren menschlichen Verhaltens in Kategorien intentionaler mentaler Zustände, wie zum Beispiel Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle, Überzeugungen, Ziele, Absichten und Begründungen. Diese Fähigkeit höherer Ordnung ermöglicht einen spielerischen Umgang mit der Realität und ein kohärentes Selbstempfinden. Besonders relevant wird Mentalisieren im affektiv geladenen Beziehungskontext. Denn wenn jeder Interaktionspartner fähig ist, über eigene Motive, die des Anderen und die bestehenden Ähnlichkeiten und Unterschiede nachzudenken, dies dem Anderen auch vermitteln beziehungsweise es vom Gegenüber annehmen kann, unterbleiben viele Eskalationen und Impulsdurchbrüche, wie wir sie besonders von Borderline-Patienten kennen. Eine solch mentalisierende, größtenteils vorbewusste Umgangsweise mit der Realität, die nicht mit einer bewussten Haltung von Achtsamkeit verwechselt werden sollte, wird normalerweise in mehreren Schritten zwischen dem 1. und 5. Lebensjahr erworben. Die Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit durchläuft drei Stufen, die mit unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi der Realität gekoppelt sind. Im Äquivalenzmodus werden Innenwelt, zum Beispiel Affekte und Phantasien, mit der äußeren Realität gleichgesetzt, beides kann vom Kleinkind nicht unterschieden werden. Aus den auf diese Weise entstehenden heftigen Emotionen können sich Kinder spielerisch lösen mittels eines zweiten Zugangsweges, des Als-ob-Modus, allerdings um den Preis der Entkoppelung von Innen- und Außenwelt, gewissermaßen auf der Ebene eines reinen Gedankenspiels. Durch Wechselspiele zwischen diesen beiden Modi auf dem Boden einer sicheren Bindungsbeziehung gelingt schließlich eine integrierte Wahrnehmungsweise, der mentalisierende oder reflektierende Modus. Er vereint Außen und Innen, Affekte, Phantasietätigkeit und Metakognitionen. Diese Entwicklungsleistung ist abhängig von Bindungssicherheit und gelungener Affektabstimmung, insbesondere von der
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Mentalisierungsfähigkeit der wichtigsten Bezugspersonen und deren kontingentem und markiertem Feedback (Fonagy et al. 2002). Alle drei Modi können auch bei Erwachsenen, auch bei strukturell Gesunden lebenslang vorkommen, abhängig vom Ausmaß äußerer und innerer Belastungen. Bei strukturellen Störungen jedoch ist extreme innere und äußere Sicherheit nötig, um in einen reflektierenden Modus zu gelangen. Ohne verfügbaren reflektierenden Modus ist das Risiko groß, bei emotionaler Überforderung entweder von den eigenen Phantasien und Affekten überwältigt zu werden, von Kohärenzverlust bedroht zu sein und im Äquivalenzmodus zu funktionieren oder aber im Alsob-Modus zu dissoziieren, vom Affekt zu isolieren beziehungsweise zu verleugnen. Komplizierte emotional-kognitive Kommunikation wirkt dann nicht entlastend, sondern erzeugt eher Ohnmacht und Ärger. Das hat wichtige behandlungstechnische Konsequenzen, auf die in der Folge noch eingegangen wird.
MBT als Gruppenpsychotherapie Im metaanalytischen Vergleich mit Einzelpsychotherapie zeigt sich eine Gruppenbehandlung als mindestens genauso effektiv, bei interpersonellen Problemen jedoch wirksamer als Einzelgespräche (Tschuschke 1999). Nun entfalten gerade schwere Persönlichkeitsstörungen ihre Pathologie und den entsprechenden Leidensdruck interpersonell, anders gesagt, im interaktionellen Kontext werden strukturelle Störungsmuster in geradezu idealer Weise einer Bearbeitung zugänglich. Bei entsprechend modifizierter Technik ist psychodynamische Gruppenpsychotherapie daher besonders geeignet für die Behandlung schwerer Persönlichkeitsstörungen (Streeck 2002; 2007) und, wie inzwischen gut belegt (Schellenberg et al. 2004), auch bei chronifizierten Traumafolgen mit starker dissoziativer Symptomatik. Gerade das gemeinsame Nachdenken und Nachspüren in der psychodynamischen Gruppe mit ihren vielfältigen Übertragungs- und Feedbackmöglichkeiten fördert die Mentalisierung. Es geht dabei um das Einüben von Mentalisierung in der Interak-
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tion und bei affektivem Engagement (Bateman u. Fonagy 2004; 2006). Gruppentherapie ermöglicht sicherheitgebende Verbundenheit mit der Gesamtgruppe oder mit Teilen von ihr; dies erlaubt die Exploration des Unbekannten und Beängstigenden. Der interpersonelle Kontext entscheidet, ob durch Verbundenheit im Gespräch und durch Entängstigung das Bindungssystem deaktiviert werden kann und ein spielerisch-explorativer Prozess entsteht. Gelungene Widerstandsarbeit kann in diesem theoretischen Bezugsrahmen auch als Herstellen von soviel Bindungssicherheit verstanden werden, dass sich Patienten dem Beängstigenden kognitiv und affektiv stellen können. Sehr leicht gerät zum Beispiel in angespannten Diskussionen um Regeln und disziplinarische Entlassungen Patientengruppen wie auch Behandlern diese Sichtweise vorübergehend aus den Augen. Doch gerade in konflikthaften oder angespannten Situationen ist es wichtig, die Bedeutung von prägenden und steuernden Bedürfnissen, Wünschen, Gefühlen, Überzeugungen, Zielen, Absichten und Begründungen präsent zu behalten. Dies ermöglicht die notwendige Freiheit für Neugier aufeinander, Staunen übereinander und Spielen miteinander. Die für MBT kennzeichnende therapeutische Haltung besteht darin, sich selbst und andere mentalisiert zu denken. Der Therapeut bleibt dafür selbst im reflektierenden Modus beziehungsweise findet nach Unterbrechungen schnell wieder zu ihm zurück und regt auch die Gruppe immer wieder dazu an. Denn nur wenn der Patient im Feedback durch Therapeut und Gruppe sein eigenes, mentalisiertes Bild erkennt, kann er entsprechende Repräsentanzen aufbauen. Gruppenpsychotherapie mit schweren Persönlichkeitsstörungen und chronifizierten Traumafolgen erfordert eine aktive therapeutische Hilfs-Ich-Funktion. Der Therapeut wird kein reiner Beobachter bleiben, sondern sich als Mitspieler einbringen und manchmal auch die Kontrolle über die Gruppe übernehmen müssen. Er sichert dabei besonders ein therapieförderliches Verhältnis von Bindung und Exploration. Denn erst ein sicherer äußerer und normativ-methodischer Therapierahmen und die Beibehaltung einer optimalen Affektintensität ermöglicht die Entstehung von genügend Anreiz und Vertrauen zwischen den
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Gruppenteilnehmern, um interpersonelle und intrapsychische Untiefen zu erforschen. Das bedeutet unter anderem aktive Begrenzung möglicherweise retraumatisierender Inhalte und aggressiver oder lähmender Stimmungen, ehe die Gruppe das Verbundenheitsgefühl oder einzelne Mitglieder die intrapsychische Kohärenz verlieren (Bolm u. Dulz 2002). Denn wenn die Gruppenteilnehmer in heftiger, schwer auflösbarer affektiver Überforderung gefangen sind, dann kann die Ebene gemeinsamer Exploration nicht aufrechterhalten werden. Weil die Schwelle für eine Regression in den Äquivalenz- oder den Als-ob-Modus bei Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen und chronifizierten Traumafolgen sehr niedrig ist, empfiehlt sich besonders beim Äquivalenzmodus keine zuwartende, sondern eine proaktive bindungssichernde, beruhigende und dadurch indirekt explorationsfördernde Haltung. Doch in der MBT geschieht das auch in Verbindung mit direkten und entschiedenen Aufforderungen, das gegenseitige Erforschen fortzusetzen. Das kann aber flexibel gehandhabt werden, denn je stabiler der Patient oder die Patientin während des Therapieverlaufs wird, umso mehr Zurückhaltung ist möglich. Auch die Explorations- und Interpretationsweise in der MBT betont eine optimale Affektintensität. Sinnvollerweise bleiben nicht nur Traumatisierungsdetails in der Gruppe ausgespart, besonders am Beginn einer Therapie. Auch schwer erträgliche unbewusste Inhalte, die kognitiv-affektiv hohe Anforderungen an die Mentalisierungskapazität der Patienten stellen, sind ausdrücklich späteren Phasen der Therapie vorbehalten. Exploration »von der Oberfläche aus«, das heißt Verbleiben in der bewusstseinsnahen Ebene, ermöglicht dagegen einen allmählichen spielerischen Übergang zum reflektierenden Modus. Mit einfachen und verständlichen Interventionen wird die gegenseitige Exploration in der Gruppe gefördert. Die Arbeit »von der Oberfläche aus« bedeutet dabei Fokussierung auf das Gesagte, Bitte um genauere Erklärungen und weitere Erläuterungen und – bei Unklarheiten – andere Patienten nach ihrem Verständnis des Gesagten zu fragen. Die Auseinandersetzung über ein Problem kann ausgedehnt werden mit der Frage, ob jemand in der Gruppe Ähnliches erlebt
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hat, es genauso oder anders sieht. Oder das Gespräch wird angehalten, wenn aktuell Wichtiges ausgeblendet wird und grobe Verleugnungen äußerer Realität und deutlich nonverbale Signale der Patienten angesprochen werden müssen. Die von einer psychoanalytischen Haltung bestimmte Wahrnehmung des Nichtgesagten läuft stets parallel mit, wird aber in MBT nur mit größter Zurückhaltung und erst in späteren Therapiephasen in Interventionen, zum Beispiel Übertragungsdeutungen, umgesetzt. Neben Fragen, welche die Exploration anregen und aufrechterhalten, spielt die Art der gegenseitigen Rückmeldung eine große Rolle für die Förderung der Repräsentanzenbildung. Dafür gibt es einige aus der Mutter-Kind-Beobachtung übernommene Grundregeln in MBT. Das »Antworten« (Heigl-Evers u. Heigl 1973) auf den Patienten sollte nämlich kontingent und markiert sein. Kontingentes Feedback bedeutet, dass die Reaktion des Therapeuten genau auf den mentalen Zustand des Patienten abgestimmt ist. Nicht kontingentes Feedback würde dagegen die Bildung von Repräsentanzen ohne Bezug zur Realität im Sinne des Als-ob-Modus beziehungsweise falschen Selbst fördern. Dann handelte es sich lediglich um »PseudoMentalisieren« (Bateman u. Fonagy 2004; 2006). Das kennen wir von Patienten, bei denen »brave« Mitarbeit und ständiges Psychologisieren zum Widerstand gegen die Integration äußerer und innerer Realität werden. Dagegen macht markiertes, das heißt leicht verfremdetes Feedback dem Patienten klar, dass es dabei um ihn geht. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss hier betont werden, dass bewusstes therapeutisches Markierenwollen die Gefahr birgt, vom Patienten so aufgefasst zu werden, als würde er nicht ernstgenommen. Mit Markieren ist vielmehr gemeint, dass der Therapeut bei seinem Feedback eine Containing-Funktion übernimmt in dem Sinne, dass er das beim Patienten Wahrgenommene in dem Wissen spiegelt, dass er nicht die eigenen Gefühle zum Ausdruck bringt, sondern die des Patienten. Unmarkiertes Feedback, eine ungefilterte Eins-zu-eins-Reaktion gewissermaßen, wird dagegen vom Patienten als Externalisierung der Erfahrungen seines Therapeuten erlebt, fördert den Äquivalenzmodus und die Eskalation. Zur Verdeutlichung mag
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der Vergleich zwischen einer fast idealtypischen und einer misslungenen Rückmeldung aus der Behandlung zweier suizidaler Patientinnen dienen. Der Therapeut von Frau A., einer selbstunsicheren und depressiven Patientin, erhielt zur Zeit der gemeinsamen Entlassungsplanung von deren Mitpatientin die Information, dass sich seine Patientin mit Suizidgedanken trug. Alarmiert fragte er sich, warum die Patientin gerade jetzt daran dachte und warum sie gerade diesen indirekten Weg der Mitteilung wählte. In der Gruppe, die so begann, als wäre auf der Station eine »problemfreie Zone«, äußerte er seine Irritation über diesen Beginn, versicherte sich, ob die Gruppenteilnehmer es auch so empfanden, und stellte die Frage nach den Motiven dafür. Da lüftete Frau A.s Mitpatientin das ihr anvertraute Geheimnis. Als es kein anderer tat, sprach der Therapeut seine deutliche Sorge über das Gehörte und besonders die Art der indirekten Kommunikation aus. Als die dazugehörigen Gefühle in der Gruppe benannt waren, vertiefte er das emotionale Erleben nicht weiter, sondern beharrte entschieden darauf, die Motive dafür im Gruppenkontext zu klären. Daraufhin konnte dies gemeinsam reflektiert werden, Kritik an der bisherigen Arbeit, am Therapeuten, aber auch an der Haltung von Frau A. erfolgte, ohne dass der Explorationsprozess abbrach. Die Patientin ging mit einem beruhigten Gefühl des Verstandenwerdens und dem Vorsatz aus der Sitzung, bis zur Entlassung die Arbeit an ihren Therapiezielen verstärkt fortzusetzen und ihre Sorgen und Kritikpunkte noch früher und offener anzusprechen. Der Therapeut von Frau B. hörte von ihren Suizidgedanken und fühlte sich ebenfalls besorgt. Auch er äußerte der Patientin gegenüber seine Besorgnis. Seine Panik spiegelte sich selbst noch während der Supervision ganz unmittelbar in seinen Augen und seiner Stimme. Mit dieser Herangehensweise war es ihm weder in etlichen zu seiner (!) Absicherung dienenden Sonderterminen mit Frau B. noch in den Gruppensitzungen möglich gewesen, zu einem offenen Austausch über Frau B.s Suizidalität und deren Motiven anzuregen und eine Container-Funktion wahrzunehmen. Stattdessen war es ihm, Frau Y. und der Gruppe nur noch um die Angst vor der Tat gegangen; alle waren im Äquivalenzmodus gefangen. Nach allen in der Supervisionsrunde geäußerten Vermutungen über projektiv-identifikatorische Prozesse, die eher einen gefühlsgespaltenen Als-obCharakter zeigten, aber letztlich keine Entlastung brachten, wurde dem Therapeuten schließlich bewusst, wie sehr er noch unter Schuldgefühlen wegen eines vor vielen Jahren geschehenen Suizids einer früheren Patientin litt. Erst dadurch konnte er wieder zu einer
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reflektierenden Haltung und zur Neugier auf die Beweggründe der Patientin zurückfinden.
Eine in der MBT sehr geförderte Grundhaltung des neugierigen Nichtwissens ermöglicht es Patienten und Therapeuten, Bedeutung gemeinsam zu schaffen, fernab jeder therapeutischen Deutungs- oder Informationshoheit. Stattdessen spielt Validierung des Erlebens des Patienten in MBT eine zentrale Rolle. Wiewohl Psychoedukation und Interpretation auch zu MBT gehören, geht es in der Gruppe vordringlich um die Etablierung einer Kultur des gegenseitigen Erforschens von Motivationen und – ganz wesentlich – des wechselseitigen Verstehens verschiedener Perspektiven. Auf diese Weise kommt es auch zum Hinterfragen unangemessener Normen durch Gruppe und Therapeut. Vermieden werden dagegen scheinbar wissende Zuschreibungen der Art, der Patient habe eine grob verzerrte Sichtweise, er meine eigentlich etwas ganz anderes, die wahre Bedeutung des Gesagten sei ganz anders, er meine mit allem, was er sage, den Therapeuten und so weiter. All dies dient dazu, in der Gruppe ein Klima gegenseitiger Exploration aufrechtzuerhalten, wie wir es auch aus der Arbeit mit Patienten mit höher integriertem Strukturniveau kennen. Werden die Regeln der MBT befolgt, so kann die therapieförderliche Stimmung selbst in Gruppen mit einem hohen Anteil institutionell behandlungsbedürftiger Borderline-Patienten gut gehalten werden, ohne dass ein Abkippen in destruktives lärmendes Agieren oder Lähmung erfolgt. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. Frau C. beklagte sich in einer stationären Gruppe, die überwiegend aus teilweise dissoziierenden Borderline-Patienten zusammengesetzt war, die schwere sexuelle oder Gewalttraumata erlitten hatten und zum Teil selbst gewalttätig geworden waren, über die ihrer Meinung nach schlechte Behandlung durch einen Arbeitskollegen. Von dessen Versuchen, sich in ihre Arbeitsabläufe einzuschalten, fühlte sie sich bedrängt und entwertet. Drei Gruppenmitglieder schalteten sich bekräftigend ein mit ähnlichen Erfahrungen, und es deutete sich eine Entwicklung an, die sich unter Bezug auf Frau C.s Kollegen immer mehr einengte auf »Tatsachen«-Berichte über Grenzverletzungen, ohne dass es dabei allerdings um Traumatisie-
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rungsdetails gegangen wäre. Dennoch begann sich, zuerst kaum merklich, eine indirekt anklagende, ohnmächtig-wütende Stimmung in der Gruppe breitzumachen, wurde aber von keinem Teilnehmer in Worte gefasst. Ebenso wenig waren die Teilnehmer in der Lage, die anwachsende Anspannung anzusprechen.
Würde man – wie bei strukturell gut integrierten Patienten möglich – die Dynamik an dieser Stelle sich weiter entfalten lassen, bis ein Patient das Geschehen in Worte fasst, könnte es angesichts der Zusammensetzung dieser Gruppe leicht dazu kommen, dass ihre Mitglieder weiterhin ein Überwältigtwerden durch bedrohliche Affekte (Äquivalenzmodus) abwehren müssen, sich affektabgespalten nur noch ihre Traumatisierungen erzählen (Als-ob-Modus) und von Kohärenzverlust bedroht ihren Blick auf den Außenfeind richten (paranoid-schizoide Position). Beide Erklärungsmodelle, das der Mentalisierungsstörung und das kleinianische, beschreiben gleichermaßen und sich gegenseitig ergänzend die Psychodynamik. Ohne Differenzierungsmöglichkeit zwischen innerer Objektwelt und äußerer Realität, mit Rückgriff auf altvertraute, archaische Phantasien und traumatische Erinnerungen, würden die Gruppenteilnehmer etwaige Infragestellungen dieses Realitätserlebens womöglich nur noch feindselig interpretieren. Die meisten Gruppenmitglieder wären kognitiv und affektiv völlig überfordert mit Interventionen, die eine gute Mischung aus Abstand und innerer Beteiligung voraussetzen. Früher Transfer auf die Ebene der therapeutischen Beziehung ist dann wichtig, wenn das Arbeitsbündnis unmittelbar dadurch gestärkt wird. Völlig kontraproduktiv wären solche Übertragungsdeutungen, die die inhaltliche Explorationsbereitschaft und das Bindungssystem in ein noch ungünstigeres Verhältnis zueinander bringen (»Sie sind sich nicht so sicher, ob ich nicht auch ein Vergewaltiger bin …«). Schließlich könnte die Sitzung in einem gelähmten, resignierten Schweigen und unterdrückter Wut enden oder mit Ausagieren (auto-)aggressiver Impulse. Die Teilnehmer würden die Gruppensitzung als wenig ermutigend, einige auch als Retraumatisierung erleben. Diese Situation konnte sich anders entwickeln, weil der Gruppenleiter frühzeitig intervenierte, statt die verdeckt-destruktive Stim-
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mung sich weiter ausbreiten zu lassen. Er habe bei dem Bericht von Frau C. und den anderen Teilnehmern gemerkt, wie wichtig es ihnen sei, sich mit ihren Klagen Luft zu machen und mit ihren verletzten und wütenden Gefühlen in der Gruppe Beistand zu finden.
Diese bewusstseinsnahe Intervention, die auf das Thema Absichten und Bedürfnisse führt, konnte eher angenommen werden, als die Fokussierung auf die Selbstfürsorge im Hier und Jetzt der Gruppe; das hätte auch als abwiegelndes Ausweichen missverstanden werden können. Deshalb musste der Therapeut hier unausgesprochen Hilfs-Ich-Funktion leisten. Er habe sich aber bei jedem Beitrag zunehmend unwohler gefühlt, weil so viele Tatsachenberichte dazu verleiten könnten, die ganz persönlichen Bedürfnisse und Motive der Beteiligten aus dem Blick zu verlieren. Gemerkt habe er das, als Frau C. auf ihn so felsenfest überzeugt davon gewirkt habe, dass ihr Kollege mit böser Absicht gehandelt hätte. Als Frau C. bestätigend nickte, fragte der Therapeut sie, woraus sie denn auf die Motive des Kollegen geschlossen hätte? Frau C. wirkte jetzt weniger voll verdecktem Groll, eher ratlos, und gab keine Antwort. Die Patientin verdeutlichte mit ihrem Schweigen, dass sie sich noch sicherer verbunden und gehalten fühlen musste, um wieder in einen explorativen Prozess einzusteigen und von der ihr vertrauten Sichtweise abzusehen. Noch war ihr kohärentes Selbsterleben gefährdet. Der Therapeut fuhr fort, er kenne das ein bisschen auch von sich, wenn er sich über jemanden sehr ärgere. Er müsse dann erst einmal wieder Abstand gewinnen und sich beruhigen, manchmal mit Hilfe von anderen Menschen, um wieder klar und beweglich darüber nachdenken zu können, warum der Andere sich so verhalten habe. Ob Frau C. und die anderen Gruppenmitglieder inzwischen wieder dazu in der Lage seien und es versuchen wollten? Als sie das bestätigten, fragte er Frau C. und die anderen Teilnehmer, ob sie sich auch andere Erklärungen vorstellen könnten, warum der Kollege von Frau C. sich so verhalten habe. Schnell kam von zwei Gruppenmitgliedern die Idee, der Arbeitskollege habe ihrer Mitpatientin vielleicht helfen wollen, weil sie in der letzten Zeit vor der Aufnahme kaum noch ihren Job bewältigen konnte. Das Eis war gebrochen, die Möglichkeit zu Gedankenspielen, dem Nachdenken über Motive, ermöglichte der Gruppe, über sich hinaus zu wachsen. Dabei bildete die kognitive Beweglichkeit das Fundament dafür, sich allmählich wieder den beängstigenden Affekten zu stellen. Eine krisenhafte Zuspitzung wurde bereits so frühzeitig
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entschärft, dass der weitere Ablauf wieder dem ähnelt, was wir aus der Gruppentherapie weniger strukturell beeinträchtigter Patienten kennen. Als Frau C. zumindest kognitiv mitgehen konnte, sprach schließlich eine weitere Mitpatientin an, dass sie sich auch hier auf Station durch Frau C.s Verhalten ständig aufgefordert fühle, sich helfend einzuschalten, aber auch gemerkt habe, dass sie dann regelmäßig von ihr eine harsche Abfuhr bekäme. Der Therapeut äußerte Anerkennung, dass in der Gruppe nun auf einmal genug Raum entstehe, noch ganz andere Motive zu untersuchen. Er fragte, was sie denke, warum sich Frau C. wohl so widersprüchlich verhalte. Sie berichtete, das kenne sie doch eigentlich von sich selbst, die zwei Seelen in ihrer Brust, Hilfesuche und Stolz; sie sei vor der jetzigen stationären Behandlung selbst stets diejenige gewesen, die andere habe abblitzen lassen. Andere schlossen sich an, bereicherten das Bild. Im Staunen über ihre gelungene Explorationsleistung fingen danach auch andere Gruppenteilnehmer an, ihre Anklagen zu hinterfragen. Mit Blick auf eine überwiegend misstrauisch schweigende Patientin betonte der Gruppenleiter schließlich kurz vor Schluss, wie erstaunt und erfreut er über die Leistung der Gesamtgruppe sei, die aus einer Stimmung von unausgesprochener Ohnmacht und Anklage heraus gemeinsam zu einer Klärung ihrer persönlichen Motive gefunden hätten. Die Gruppe geriet in der verbleibenden Zeit in ein entspanntes Nachspiel, bei dem die Schweigerin ankündigte, sie hätte das nächste Mal auch etwas zu erzählen.
Selektive Selbstöffnung des Therapeuten gehört zum MBT-Repertoire, vergleichbar angewandt, wie wir es von der psychoanalytisch-interaktionellen Methode kennen. Wenn die Gruppe nicht die für Entwicklung von Mentalisierung so entscheidende Pluralität und die Fähigkeit zur Hinterfragung unangemessener Normen mitbringt, kann der Therapeut dies übernehmen. Insbesondere wird der Gruppenleiter seine Gefühle über gelungene Gruppenleistungen auch mitteilen. Eine sinnvolle und notwendige Ergänzung zur psychoanalytisch-interaktionellen Praxis besteht darin, dass in MBT bei Patienten mit drohendem Kohärenzverlust eine deutliche Hierarchie in den Interventionszielen aufgestellt wird. Erst einmal müssen Verbundenheit und Sicherheitsgefühl vorhanden sein oder gefördert werden, um wieder offen für Exploration zu werden und unvertraute, verstörende Erfahrungen wahr- und
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annehmen zu können. Verbundenheit darf dabei nicht mit regressiver Harmonisierung verwechselt werden. Erst wenn durch Sicherheit wieder Exploration möglich ist, kann auch ein irritierendes Feedback nützlich sein. Mentalisierungsorientierte Interventionstechnik in Gruppen ist strukturorientiert differenziert. Das heißt für MBT, dass Patienten mit gut bis mäßig integriertem Strukturniveau mit komplexen emotional-kognitiven Interventionen und einer zurückhaltenden Gruppenleitung gut arbeiten können, während strukturell schwerer gestörte Menschen dagegen ein präsentes Gegenüber, klare, auf die Förderung der Ich-Funktionen ausgerichtete Gruppenleitungstechnik und eine transparente Hierarchisierung der Behandlungsziele benötigen. Das ist im deutschsprachigen Raum schon lange vom Göttinger Modell in Form der psychoanalytisch-interaktionellen Methode bekannt (Bolm 2005; Heigl-Evers u. Heigl 1973; Heigl-Evers u. Ott 1994; Streeck 2002) und wurde ergänzt von der manualisierten strukturorientierten Behandlung (Rudolf 2004). MBT ermöglicht aber darüber hinaus situative Feinabstimmungen, die auf die manchmal schnell in einer Gruppe wechselnden Wahrnehmungsmodi der Realität zugeschnitten sind. So wird angesichts der Affektstürme eines Patienten im Äquivalenzmodus seine Sichtweise inhaltlich nicht sofort in Frage gestellt, sondern erst einmal validiert; und es wird auf das Bindungs- und Beruhigungsbedürfnis des Patienten eingegangen. Das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass später – durchaus kontrovers – exploriert und reflektiert werden kann. Hier ist punktuell hohe Therapeutenpräsenz sinnvoll, wenn nötig mit Strukturierung, Psychoedukation und Abrufen bereits erlernter Strategien zur Affektregulation. Ziel ist es, dass der Patient wieder denken kann, statt blind zu handeln. In diesem Sinne ist die Erreichung des Als-ob-Modus als Fortschritt wertzuschätzen. Sind Patienten aber im Als-ob-Modus, so können die Chancen zur Exploration anderer Sichtweisen und zu »Gedankenspielen« genutzt werden. Doch auch dieser Wahrnehmungsmodus kann unproduktiv werden in Form von Psychologisieren als Widerstand. Wenn der Patient beziehungsweise die Gruppe jedoch vom Therapeuten mentalisiert gedacht wird, unterbleibt
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eher eine Fehlentwicklung im Sinne einer oberflächlichen Anpassungsleistung an den therapeutischen Kommunikationsstil. Exploration und Klärung von Interaktionen, Affekten und nonverbalen Mitteilungen sowie ein Spielen mit alternativen Kognitionen haben Platz, Konfrontationen fokussieren auf bewusste Motive. Erst wenn das gelingt, geht es um ein integriertes »Spielen mit der Realität«, den reflektierenden Modus. Die Fähigkeit zum komplexen kognitiv-emotionalen Spielen wird benötigt, damit Patienten Metaphern und Symbole sowie Interpretationen unbewusster Motive und Phantasien für ihre Entwicklung nutzen können. Zusammengefasst kann man sagen, dass der Schlüssel zu einer konstruktiven Gruppenentwicklung gezielte Interventionen sind, die das unmittelbare Mentalisieren im Hier und Jetzt fördern. Jeder Wahrnehmungsmodus der Realität erfordert eine eigene Art zu intervenieren und eine Absicherung der kognitiv-emotionalen Beziehung, bevor die nächst komplexere Ebene angegangen wird. MBT-Therapeuten betonen also beim Äquivalenzmodus Bindungssicherheit und Beruhigung, beim Als-ob-Modus Deaktivierung des Bindungssystems und Exploration und im Übergang zum reflektierenden Modus die spielerische, kognitivemotionale Integration von innerer und äußerer Realität.
Mentalisierungsfördernde Gruppenprozesse im Behandlungsteam Nicht nur für Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen und Traumafolgekrankheiten, sondern auch für ihre Therapeuten gilt bei MBT, Mentalisieren ist Weg und Ziel zugleich. Das hat bestimmte Implikationen für die Therapieorganisation und Arbeitskultur. Denn auch bei den durch diese Arbeit emotional und kognitiv manchmal extrem persönlich geforderten Therapeuten wird durch Angst das Bindungssystem aktiviert. Zum Beispiel wird ein von einer ganzen Gruppe von Borderline-Patienten in die Enge getriebener oder gar ein sich körperlich bedroht fühlender Therapeut zu kämpfen haben, um seine Phantasien und Ängste innerlich so zu bearbeiten, dass er ange-
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messen intervenieren kann. Erst basale Sicherheit kann die Kapazität freisetzen, sich Neuem, manchmal Beängstigendem auch auf spielerische Weise zu stellen. Das betrifft einerseits die Persönlichkeit des einzelnen Therapeuten und seine sichere fachliche Verankerung, andererseits aber seine Beziehung zur Institution, deren strukturelle und prozessuale Gegebenheiten, wie Räume, Zeiten, konzeptuelle Identität und Arbeitsklima. Gerade bei multiprofessionellen Teams erfordert die Therapie persönlichkeitsgestörter Patienten viel Arbeit an der Rollenidentität und Aufgabenklärung. Wo strukturelle oder kulturelle institutionelle Sicherheit nur ein Lippenbekenntnis ist, kann schwerlich eine Wertschätzung für Nichtwissen, Neugier auf und Staunen über Verschiedenheit entstehen, nicht für die Patientenarbeit und nicht für eine Pluralität im Team. Dann ist die Verführung groß, sich »wissende« Behandlungskonzepte und eine pseudosichere Teamkultur anzueignen, welche die Offenheit für Exploration und Reflexion beeinträchtigen. Die gemeinsame Fähigkeit zum Spielen mit der Realität betrifft also auch Organisationsstruktur und Teamkultur. Supervision sollte deshalb an der Mentalisierungsförderung zentral beteiligt sein. Ein therapeutisches Team war von mehreren Mitgliedern einer Gruppe schwer strukturell gestörter und massiv traumatisierter Patienten über längere Zeit belogen worden. Diese Untergruppe hatte untereinander sexuelle Beziehungen gepflegt und viel dafür getan, dass dies verheimlicht wurde und keine offene Beziehungsklärung mehr in der Gruppe stattfinden konnte. Patienten wie auch das Team hatten zunehmend Schwierigkeiten, Phantasie und äußere Realität auseinanderzuhalten, vermuteten Schlimmstes übereinander, beschimpften sich sogar. Sie schienen in Spaltungsprozessen erstarrt zu sein, ohne wieder im Sinne der Therapie handlungsfähig zu werden. In der Supervision wurde deutlich, wie unterschiedlich die Teammitglieder reagierten. Einige Mitarbeiter waren im Äquivalenzmodus, waren ganz von ihren Phantasien beherrscht, in denen es um sexuelle Gewalt und Zusammenbruch jeder Ordnung auf Station ging, und fühlten sich zum disziplinarischen Rundumschlag genötigt. Andere funktionierten »cool« im Als-ob-Modus, sahen die Aufregung nur als viel Lärm um nichts und ohne jeden Realitätsbezug und Notwendigkeit einer konsequenten Reaktion an. In Kategorien von Spaltungserleben zwischen guten und bösen Teilob-
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jektbeziehungen war das Geschehen nur teilweise zu beschreiben, weil es um die Art der Wahrnehmung von Realität ging. Das Team konnte durch die Supervision seine aktuellen Affekte und Kognitionen in seinem vertrauten theoretischen Bezugsrahmen (MBT) wiedererkennen und integrieren und gewann daraufhin wieder Boden unter den Füßen. Die Gruppe der Mitarbeiter konnte zum reflektierenden Modus zurückkehren und wieder Empathie mit grenzsetzender Konsequenz verbinden.
Fazit Sicherheit deaktiviert das Bindungssystem und ermöglicht Exploration für Unbekanntes oder Beängstigendes. Dies prägt bei MBT die Behandlungsplanung und die (gruppentherapeutische) Interventionstechnik, die auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen und Traumafolgeerkrankungen abgestimmt ist. Gegenseitige Exploration der bewusstseinsnahen Erfahrungen und einfach verständliche, am Wahrnehmungsmodus der Realität orientierte Interventionen verhindern maligne regressive Entwicklungen. Im Kontext (teil-)stationärer MBT werden auf psychodynamischer Grundlage alle beteiligten Berufsgruppen und ihre unterschiedlichen methodischen Qualifikationen einbezogen. Wenn jedem Mitarbeiter die eigene Funktion im Gruppenkontext verständlich ist, gibt das Sicherheit trotz Verschiedenheit. Eine spielerisch lernende Team- und Behandlungskultur mit einem alltagsverständlichen Kommunikationsstil entsteht. Das fördert im gruppalen Gesamtkontext (teil-)stationärer Psychotherapie die Mentalisierungsfähigkeit und den Aufbau weiterer struktureller Fähigkeiten.
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Fernanda Pedrina Konflikte der frühen Elternschaft – Verarbeitungsprozesse in einer Mutter-Säugling-Gruppe
Was muss eine Gruppe, die aus Müttern mit ihren Babys besteht, voraussichtlich halten und verarbeiten helfen? Und wie sehen solche Verarbeitungsprozesse aus? Bei der Frage nach der »Containing«-Funktion1 der Gruppe denkt man zunächst an die psy1 Es sei bemerkt, dass der Begriff des »Containing« von W. R. Bion im Zusammenhang mit seiner Theorie der Entstehung des Denkens, die er in Anlehnung an frühe Austauschprozesse zwischen Mutter und Säugling formulierte, eingeführt wurde (Bion 1962; 1967). Gemäß dieser Theorie ist die Mutter wesentlich bei der Umwandlung »archaischer« Elemente (sensorischer Wahrnehmungen, Vorstufen von Gedanken) der Erfahrung des Säuglings, die dieser projizieren muss, in psychisch erträgliche Elemente beteiligt. Die Anwendung von Containing im Bereich der Gruppentherapie ist später erfolgt. In der französischen Weiterentwicklung bezieht sich die Diskussion über die »fonction contenante« der Gruppe ebenfalls sehr stark auf archaische und sehr primitive Ängste (Mellier 2005). Im deutschen Sprachraum und in diesem Buch (s. den Beitrag von M. Hirsch in diesem Band: Mentalisierung und Symbolisierung in der analytischen Gruppenpsychotherapie traumatisierter Patienten) wird die erweiterte Bedeutung des Begriffs nach dem Vorschlag von P. Fonagy und Mitarbeiter aufgegriffen, die Containing für die Funktion der Mutter im Verlauf der von ihnen beschriebenen Mentalisierungsprozesse anwenden (sie beziehen sich dabei auf Bion, ohne ausdrücklich die vorgenommene Bedeutungsverschiebung zu diskutieren; Fonagy et al. 2002). Die Entwicklung der Mentalisierung im Kontext der Bindungsbeziehungen erstreckt sich bis zum 4. bis 5. Lebensjahr, sie beschränkt sich nicht auf die Transformation primitiver Ängste (primäre Symbolisierung, nach Roussillon 1996), sondern stützt sich zunehmend auf die sich differenzierenden symbolischen Fähig-
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chischen Veränderungen, die für jede Mutter in der Zeit um die und nach der Geburt anstehen, an ihre fragile Verfassung und an die feinen Anpassungen, die sie im Hinblick auf die psychische Entwicklung ihres Babys leisten muss. Es ist eine Zeit von großen Gefühlsbewegungen und Konflikten. Zuweilen genießt die Mutter den intimen, sinnlichen Austausch mit dem Baby bis hin zum Gefühl der Entgrenzung, in anderen Momenten entsteht das Bedürfnis nach Abgrenzung und auch Wut. Alle ihre näheren bisherigen Beziehungen sind in Umwandlung begriffen, was ebenfalls eine emotionale Auseinandersetzung erfordert. Psychische Überforderungserscheinungen sind in der postpartalen Zeit häufig. Sie zeigen sich am ehesten in der Form der Depression mit einer vorwiegend gedämpften Stimmung, Interesse- und Antriebslosigkeit, manchmal alternierend mit Reizbarkeit und aggressiven Ausbrüchen; aber auch bei den depressiven Bildern wird bei Behandlungsbeginn die gerade noch kontrollierte Aggression manifest. Kann die Mutter-Baby-Gruppe die aufkeimende Aggression halten, modulieren, zur symbolisierenden Verarbeitung hinlenken, bevor sie in einem Ausmaß, das die Integrität und die Entwicklung des Kindes gefährdet, ausagiert wird? Um diesen Fragen nachzugehen, werde ich mich in diesem Beitrag mit der Entfaltung der Aggressionsproblematik im Kontext früher Beziehungen befassen, wie sie im Verlauf einer Gruppentherapie, an der Mütter mit ihren Babys teilgenommen haben, zu beobachten war, und ihre Entwicklung im Therapieprozess verfolgen. Meine Ausführungen stützen sich auf die Daten eines Forschungsprojekts zur Früherfassung und Frühbehandlung der postpartalen Depression. Da ein Schwerpunkt des Projekts die qualitative Prozessauswertung war, wurden die Sitzungen ausführlich (mit Protokollen und Videoaufnahmen) dokumentiert, was mir ermöglicht hat, den Therapieverlauf nachträglich unter dem Aspekt der Aktualisierung und Verarbeitung aggressiver Regungen zu untersuchen. keiten des Kindes. Auch das Modell der Affektspiegelung/Mentalisierung ist in Anlehnung an die dyadisch-interaktionelle Situation entwickelt worden. Die theoretische Diskussion über seine Übertragbarkeit auf das Gruppengeschehen hat erst begonnen.
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Dieser Beitrag baut auf Erkenntnisse aus der ersten Auswertung auf. Wenn bei Gruppenbeginn noch offen war, welchen Raum die dyadische Beziehungsdynamik im Rahmen der Dynamik der ganzen Gruppe einnehmen würde, so wurde im Gruppenverlauf klar, dass Letztere den maßgebenden Orientierungsrahmen bildete, auf den alle andere Bewegungen von Gefühlen und Bedeutungen Bezug nehmen mussten. Ein wesentlicher Indikator für das Verständnis des Gruppengeschehens waren Schwankungen der Gruppenkohäsion2. Wenn ein Wir-Gefühl entstanden war, konnten sich die teilnehmenden Mütter gut austauschen und an einem Thema arbeiten; auch die anwesenden Kinder verhielten sich relativ frei in eine dem jeweiligen Alter entsprechende Weise (mehr oder weniger autonom, mehr oder weniger auf andere Kinder ausgerichtet). Manchmal war die Tendenz der Gruppe spürbar, auseinanderzubrechen. Die Kinder nahmen die unausgesprochene atmosphärische Spannung wahr und wurden unruhig. Hinter dieser Spannung konnten meist Konflikte aufgespürt werden. Eine weitere für die aus Müttern und Babys bestehende Gruppe charakteristische aufschlussreiche Dynamik war die zeitweise ausgeprägte Betonung des dyadischen Verhaltens. Dieses konnte vielfach als Subgruppendynamik mit defensiver Funktion, als Flucht einer Mutter aus der Gruppe verstanden werden. Die defensive Qualität war am forcierten Charakter ihrer Beschäftigung mit dem Kind zu erkennen, der negative Gefühle bei den Beobachtenden auszulösen pflegte. Es gab aber auch problematische dyadische Interaktionen, die nicht defensiv waren und zum Rückzug der Mutter führten, sondern im Gegenteil zum Thema der Gruppe gemacht wurden. Diese Interaktionen waren von den ausgedehnten Momenten von Austausch zwischen 2 Das Therapiekonzept bei dieser Intervention lehnte sich an die gruppenanalytische Methode von S. H. Foulkes an (Foulkes 1964; 1975). Foulkes führte den Begriff der Gruppenmatrix ein, um das latente Netzwerk an Kommunikationen und Beziehungen zu bezeichnen, das sich von Anfang an in einer Gruppe von Menschen einstellt und als gemeinsame Grundlage der manifesten Kommunikation dient. Die Gruppenkohäsion ist eine – unter anderen – erfassbare Dimension der Gruppenmatrix (Ahlin 1985; 1988).
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Mutter und Baby zu unterscheiden, die vom Lebensrhythmus des Kindes diktiert waren und akzeptierte »Pausen« vom Austausch unter den Erwachsenen darstellten. Die normalen Entwicklungskrisen mit den Kindern waren häufiger Gesprächsstoff, der die Containing-Funktion der Mütter in Bezug auf die Impulse und Bedürfnisse ihres Kindes ins Zentrum stellte. Obwohl die gruppendynamischen Konzepte als übergeordnete Koordinaten für das Verständnis der stattfindenden Verlaufsprozesse erkannt wurden, stellten Entwicklungsschritte der Babys und die ebenfalls in Entwicklung begriffene mütterliche Identität Inhalte sowohl der Gruppengespräche als auch des nonverbalen Austauschs in der Gruppe dar. Die theoretischen Bezüge, die mir als Orientierung bei der Interpretation der miterlebten Gruppenszenen, mit besonderer Beachtung der Aggressionsschicksale, gedient haben, beziehen sich also nicht nur auf das Funktionieren der Gruppe, sondern auch auf die Aggressionsverarbeitung in der frühen Mutter-Kind-Beziehung und auf die Bedingungen, die die junge Mutter zu dieser Aufgabe befähigen. Ich werde im Folgenden (1) zuerst die konstitutiven Prozesse beim Säugling, die auf die Mitwirkung der Mutter angewiesen sind, und insbesondere die Prozesse der Integration von Aggression im Rahmen der dyadischen Beziehung darstellen. (2) Daran schließen sich Konzepte zur Elternschaftsentwicklung an, wobei diejenigen Aspekte besondere Beachtung finden, die die mütterliche Fähigkeit, Aggressionen in der Beziehung zum Säugling zu modulieren, einschränken. Außerdem werden auch Quellen von Konflikten aufgezeigt, die außerhalb der Beziehung zum neuen Kind bestehen. (3) Die Bedeutung der näheren Umgebung für die Mutter-Kind-Dyade wird mit dem Hinweis auf den derzeitigen Verlust ihrer früheren Containing-Funktion skizziert. (4) Nach der theoretischen Erörterung werde ich anhand der klinischen Darstellung der therapeutisch begleiteten Mutter-Kind-Gruppe versuchen, die Aggression auslösenden Situationen und ihre latenten Hintergründe zu erfassen sowie die noch wenig bekannten Verarbeitungsprozesse auszuarbeiten, die in der Gruppe stattgefunden und schlussendlich zur Verhinderung von Gewalteskalationen beigetragen haben. (5) In der Diskussion des Materials wird klar, dass die involvierten
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Prozesse mannigfaltig und nicht leicht einem einheitlichen Erklärungsmuster zuzuordnen sind. Während der Gruppenarbeit erwies sich das Konzept der Gruppenkultur, und zwar in ihrer spezifischen Konnotation für die gemischte Mütter-BabyGruppe, als nützliches Instrument.
Ursprung und Integration aggressiver Regungen beim Baby und beim Kleinkind im Rahmen der Mutter-Kind-Beziehung Im Verlauf der schnell verlaufenden psychischen Differenzierung und Strukturierung der ersten Lebensjahre verändern sich die Hintergründe aggressionsbesetzter Auseinandersetzungen zwischen Kind und Betreuenden sowie die Szenerien der gemeinsamen Verarbeitung mehrmals. In den ersten Tagen und Monaten seines Lebens entfaltet und differenziert der Säugling seine psychischen Fähigkeiten im intensiven Austausch mit einer Bezugsperson, die sich ihm weitgehend widmet und sich seinen Bedürfnissen auf einer Art und Weise anpasst, die wir als »mütterliche Funktion« beschreiben. Die Bedeutung der Mutter in dieser Zeit hat D. W. Winnicott als erster klar ausgearbeitet. Mit »Holding« bezeichnet er vor allem den Umstand, dass die Mutter durch ihre Anpassung Kontinuität in der sinnlichen frühen Beziehung mit dem Säugling aufrechterhält und ihm somit die Erfahrung der Kontinuität des Seins – die Grundlage der Selbstentwicklung – ermöglicht (Winnicott 1965). Die Mutter ist von Anfang an mit der Aufgabe konfrontiert, seine unbestimmten Äußerungen zu interpretieren – Ausdrücke der Zufriedenheit, der Suche nach Kontakt und häufig des Unbehagens oder der Verzweiflung – und mit der erforderlichen Handlung zu antworten. In sich wiederholenden Interaktionen, die zuverlässig und mit genügender Ähnlichkeit vorkommen müssen, lernt der Säugling seine Bedürfnisse erkennen und erlebt deren Befriedigung. Dank der Entwicklung der Erinnerungsfähigkeit ist er mit der Zeit in der Lage, eine gewisse Spannung auszuhalten und abzuwarten, im Vertrauen, dass diese mit Hilfe der Mutter ge-
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löst werden kann. Das Aufschieben der Bedürfnisbefriedigung schafft die Voraussetzung, dass sein Wunsch nach ihrer Anwesenheit und nach dem Austausch mit ihr entstehen kann. Das ist der Ursprung eines Raumes, in dem psychisches Erleben sich entfaltet, in dem sich Vorstellungen, Phantasien, Affekte auf eine eigentümliche Art verbinden und die Beziehungen untermauern. Die Interaktionen werden reicher und komplexer, der Säugling erlebt zunehmend differenzierte Affekte und erweitert seine emotionale Ausdrucksfähigkeit. Er erlebt und zeigt unter anderem auch aggressive Regungen. Manchmal ist deren Ursprung in den unausweichlichen Frustrationen seiner Wünsche leicht erkennbar. Doch entstehen solche Regungen auch aus seinem motorischen Drang und seiner Bestrebung, sich der Umwelt zu bemächtigen. Die Mutter versteht ihrerseits den Säugling – seine reaktiven und seine bemächtigenden Aggressionen – immer besser und gibt vorausdenkend und mit den entsprechenden Antworten den nun komplexeren Interaktionen einen Sinn. Dabei werden Interaktionssequenzen zu kleinen Geschichten, die den ursprünglichen Impuls, den darauf folgenden emotionalen Austausch, die ersten Erinnerungen an ähnlichen früheren Interaktionen und erste Phantasien zusammenfassen. In der Beziehung zur Mutter durchläuft der Säugling wiederholt solche Erfahrungssequenzen, die von seiner Aufregung oder Erregung ihren Ausgang nehmen und mit seiner Beruhigung enden. Man spricht in diesem Zusammenhang von interaktiver Regulation, die sowohl die biologischen Funktionen als auch das affektive Erleben betrifft. Psychodynamisch gesehen beinhaltet Regulation immer auch die Integration libidinöser und aggressiver Impulse, die in einer gelingenden Interaktion stattfindet.3 Mit 3 (Selbst-)Regulation wird in Konzeptualisierungen, die der Interaktionsforschung näher sind, vorwiegend als Internalisierung regulierender Mutter-Kind-Interaktionen aufgefasst. Die hier aufgeführte Entwicklungslinie versucht der intrapsychischen Dynamik des Säuglings mehr Gewicht zu geben (oder zu lassen, in der Tradition von Winnicott, Bion u. a.), weil sie eine weiterreichende Basis für die Behandlungstechnik der psychoanalytisch orientierten Therapien im Bereich der frühen Kindheit darstellt.
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ihrer Reaktionen auf die Lebensäußerungen des Säuglings und mit ihrem Sprechen begleitet ihn die Mutter Schritt für Schritt auf dem Weg zur Symbolisierung seiner Erfahrungen. Diese gelingenden Interaktionen tragen dazu bei, die Bindung zwischen Mutter und Kind zu begründen und zu stärken, die eine wichtige Bedingung für die weitere psychische Entwicklung des Kindes ist. Ein wichtiger Wendepunkt in der Entwicklung ergibt sich, wenn der Säugling seine Abhängigkeit von der Mutter beziehungsweise von der Person, die ihn umsorgt, wahrnimmt und realisiert, dass seine Aggression gegen sie zugleich ihn selbst bedroht. Das Kind erlebt Ängste mit einer neuen Qualität und findet neue Mittel, um sie zu verarbeiten. Die Integration aggressiver Regungen beinhaltet jetzt die Anerkennung, dass die andere Person sowohl die geliebte, Halt gebende als auch die angegriffene ist. Es entstehen Vorstellungen der Wiedergutmachung, die wiederum dank der einfühlenden Haltung der Mutter, die den Gaben des Kindes diese Bedeutung unterstellt, zustande kommen. Es ist die Figur der »depressiven Position«, eine Dynamik, die die Beziehungen des Kindes mit seinen nahen Bezugspersonen am Ende des ersten Lebensjahres und später kennzeichnet. Sie wird aktualisiert im Zusammenhang mit dem kindlichen Bedürfnis nach Trennung und Individuation. Aggressive Regungen leiten Versuche der Abgrenzung und Distanzierung ein, die im Rahmen der Bindungsbeziehung erprobt werden. In dieser Phase um den 9. Monat entwickelt sich zugleich ein deutlicheres und komplexeres Selbstgefühl. Aus neurobiologischer Sicht wird die Entstehung neuer kommunikativer Fähigkeiten des Kindes hervorgehoben. Es kann jetzt zielgerichtet handeln, kann die Aufmerksamkeit der Eltern auf gemeinsam zu beachtende Gegenstände oder Situationen lenken, kann sich durch »social referencing« an den Gesichtsausdrücken seiner Eltern orientieren. Die psychoanalytische Rekonstruktion macht auf eine andere Problematik aufmerksam. Das Kind reagiert auf die oben beschriebene Trennungsangst unter anderem mit der Identifikation mit der Mutter, die zu diesem Zeitpunkt als allmächtig erlebt wird. So tritt es in eine Phase des aufgeblähten
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narzisstischen Selbstgefühls ein, das zum großspurigen Auftreten, das in diesem Alter leicht zu beobachten ist, beiträgt. Erst später und allmählich wird das Kind in der Lage sein, auf Positionen, die offenbar unrealistisch sind, zu verzichten. Aggressive Krisen werden in dieser Phase häufig durch Episoden ausgelöst, in denen seine Allmacht in Frage gestellt oder untergraben wird. Die Bezugspersonen des Kindes sind mit einer neuen Art von Beziehungserfahrungen, die der Integration von Aggression dienen, konfrontiert. Sie müssen das Kind wieder einfühlend in seiner narzisstischen Entwicklung begleiten, zuerst indem sie es in seinem Größengefühl bestätigen, es aber auch gegen von ihm unterschätzte Gefahren schützen, und in einem zweiten Schritt, indem sie seine eingebildete Allmacht vor der Gegebenheiten der äußeren Realität einschränken helfen. Der Austausch mit den bedeutenden Bezugspersonen findet zunehmend im Rahmen des Spiels statt. Eine differenzierte Hypothese über die Prozesse, die im kindlichen Spiel und im Spiel mit dem Kind stattfinden, hat Winnicott mit der Definierung des »intermediären Raumes« aufgestellt (Winnicott 1971). Im Spiel dieser Entwicklungsphase muss offen bleiben, ob es die persönliche Phantasiewelt des Kindes oder die äußere Realität wiedergibt. Winnicott sieht als Inhalt der Auseinandersetzungen sowohl die objektlibidinöse Beziehung als auch die Anliegen der Selbstentwicklung sowie die gegenseitige Bedingtheit beider Entwicklungen. Es ist die Kunst der Mutter, das Kind mit einfühlsamer Berücksichtigung all der damit verbundenen Bedürfnissen und Illusionen auf dem Weg zur Anerkennung der Realitäten (des Inzesttabus, der Generationengrenze, der eigenen Beschränktheit) zu begleiten. In neuerer Zeit haben Fonagy und Target insbesondere den Aspekt der Entwicklung der Mentalisierung im Spiel ausgearbeitet (Fonagy u. Target 1996; Target u. Fonagy 1996). In ihrer der phänomenologischen Beobachtung näheren Konzeptualisierung schreiben sie der Affektspiegelung – in diesem Zusammenhang genauer der »markierten« Affektspiegelung, die Anteile eigener Affekte enthält – eine zentrale Rolle zu. Damit unterstützen die Eltern das differenzierende Erkennen von sich selbst gegenüber dem Anderen und insbesondere die zunehmen-
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den Fähigkeit des Kindes, sich den Anderen und sich selbst als denkend vorzustellen. Diese Autoren ziehen den Begriff Mentalisierung dem mehrdeutigen der Symbolisierung vor und wollen damit die mentale Repräsentierung von Gedanken, Absichten, Gefühlen in den Blick nehmen. Sie erachten Mentalisierung als die grundlegende Voraussetzung für die Selbstreflexivität, für das Erleben der zeitlichen Kontinuität und für die Entwicklung sozialer Kompetenz – auch der Aggressionskontrolle.
Elternschaft in der postpartalen Zeit und Aggression Wenn das Baby – wie soeben beschrieben – intensive Prozesse der psychischen Konstitution durchläuft, so befinden sich auch die Eltern seit Beginn der Schwangerschaft in einer Phase reger psychodynamischer Veränderung, die das Ziel hat, die Integration des werdenden Kindes und später des Neugeborenen in ihren eigenen libidinösen und narzisstischen Haushalt zu ermöglichen. Dies bedeutet zugleich die Aufgabe, die eigene Position im sozialen Umfeld und die Hierarchie der nahen Beziehungen neu zu definieren. In den ersten Monaten nach der Geburt steht die Involvierung der Mutter in die Beziehung zum Baby im Vordergrund. Emotionale Krisen spiegeln vielfach die Verunsicherung wider, die von den Affekten des Babys ausgelöst wird. Später nehmen Konflikte, die im gesamten Beziehungsumfeld der Mutter entstehen, wieder mehr Raum ein. In der unmittelbaren Zeit nach der Geburt wird die psychische Struktur der Mutter sehr flexibel und labil. Das ermöglicht der Mutter, sich mit dem Baby zu identifizieren, seine Bedürfnisse zu verstehen und sich ihm weitgehend zu widmen. Doch sie hat eine doppelte Aufgabe: Sie muss gleichzeitig den Kontakt mit der strukturierten Welt der Erwachsenen aufrechterhalten, um sie dem Kind vermitteln zu können und auch um zu vermeiden, dass sie sich in ihm verliert. Mit den Fähigkeiten einer erwachsenen Person wird sie die extremen emotionalen Schwankungen ihres Babys auffangen und erträglich machen können. Sie wird die Ängste und die Wut ihres Babys an seiner Stelle verarbeiten und ihm mit einer Haltung entgegentreten, die ihm bei der
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Überwindung seiner emotionalen Stürme behilflich sein wird. Durch diese komplexe Aufgabe kann die Mutter selbst der Gefahr der Dekompensierung ausgesetzt sein. Auf der einen Seite kann sie sich zu sehr mit der Verzweiflung und der Wut des Kindes identifizieren und sich von ihr anstecken lassen. Sie wird dann gefährliche, aggressive Gefühle auf andere Personen ihrer Umgebung verschieben oder sie sogar – wenn dieser Mechanismus versagt – gegen das eigene Kind selbst wenden. Auf der anderen Seite könnte sich die Mutter zu sehr mit der regressiven Bedürftigkeit und Empfänglichkeit des Kindes identifizieren, sich gehenlassen und vermehrt vom Partner oder anderen Personen abhängig werden. Das Gefühl der Abhängigkeit kann sich ins Unerträgliche steigern und aggressive Reaktionen auslösen. Nach dieser ersten Phase, in der es um die Herstellung einer tragenden, vertrauensvollen Beziehung und die Entwicklung der Bindung geht, folgt die Phase, in der ambivalente Interaktionen, in denen eine relative Trennung und Autonomie des Kindes ausgehandelt wird, im Vordergrund stehen. Abstillen, Einschlafen, Trotzen sind Themen, die der Mutter beziehungsweise den Eltern eine besondere Aufmerksamkeit und flexible Verfügbarkeit abverlangen. Bei der Begleitung dieser Entwicklungen ist es hilfreich, wenn die Eltern auf gute Erfahrungen in ihrer eigenen Geschichte zurückgreifen können. Mütter und Väter, die nicht die Gelegenheit gehabt haben, in den Beziehungen zu ihren wichtigen Bezugspersonen im Laufe ihrer eigenen Kindheit und Jugend aggressive Impulse zu integrieren, sind besonders fragil und unvorbereitet, wenn sie mit der Aufgabe der emotionalen Integration in der Auseinandersetzung mit ihren eigenen Kindern konfrontiert sind. Außer der erhöhten Zuwendung dem Kind gegenüber müssen junge Eltern ihre Beziehungen zu dem jeweiligen Partner, zu den eigenen Eltern – die nun zu Großeltern werden – und zu den anderen wichtigen Bezugspersonen neu gestalten. Mütter haben häufig um die Zeit der Geburt besonders starke, zum Teil unbewusste Wünsche nach Unterstützung, die enttäuscht werden können. Später sind sie häufig mit den Anforderungen bezüglich der Wahrnehmung verschiedener Rollen konfrontiert, wobei sie heute nicht mehr durch ein kulturell tradiertes Rollenverständ-
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nis unterstützt werden. Sie müssen häufig individuell ein neues Gleichgewicht zwischen der Aufgabe, sich anderen zu widmen, und der Realisierung eigener narzisstischer Wünsche finden. In unserer Projektgruppe sind vor allem die aggressiven Regungen der Mütter – sowohl diejenige, die aus der Überforderung mit dem Kind, als auch diejenigen, die in Zusammenhang mit ihrer Rollenverschiebung entstanden sind – thematisiert worden. Zeitweise sind Aggressionen auch auf beunruhigende Weise ausgebrochen und haben die Gruppe fast gesprengt. Der Unmut der Kinder hingegen wurde zum einen Teil von den Müttern gehalten und verarbeitet, zum anderen von der betroffenen Mutter auf die Gruppe projiziert. Jedenfalls haben die Kinder selbst mit ihrem Verhalten nie den Bestand der Gruppe in Frage gestellt.
Eltern und Babys im sozialen Kontext und in der familiären Gruppe Die Geburt eines Kindes ist von Anfang an eine Angelegenheit der Gemeinschaft. Das Neugeborene wird nicht nur seine Mutter in den Bann ziehen oder die Person verpflichten, die sich ihm widmet. Darüber hinaus löst er psychische Veränderungen bei seinem Vater, bei der Familie im weitesten Sinn, bei den Nachbarn, bei den Freunden aus. Während den ersten Wochen werden all diese Personen vor allem einen Rahmen für die Mutter bilden, sie unterstützen dadurch ihre Begegnung mit dem Kind. Später sind sie wichtig als Netz von Beziehungen, die der Mutter ermöglichen, mit dem Baby in Gesellschaft zu sein beziehungsweise sie daran hindern, sich mit ihm zu isolieren. Der Kontakt mit der sozialen Umgebung ist für junge Eltern notwendig, um die Anpassungsprozesse, die das Baby in allen ihren wichtigen Beziehungen in Gang setzt, zu vollziehen. Am Schluss dieser Entwicklung wird das Kind selbst in einem breiteren Umfeld, das einen Teil der Verantwortung für ihn übernimmt, eingebettet sein. In unserem städtischen Umfeld, das durch die arbeitsbedingte große Mobilität seiner Bewohner charakterisiert ist, sind junge Familien häufig auf sich selbst gestellt und verfügen nicht über die soziale Unterstützung, die in ihrer Situation notwendig wäre.
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Die Verantwortung für das physische Überleben und das psychische Wohlbefinden des Kindes lastet zu sehr auf der Mutter allein. Das Risiko, dass sich die Aggression, die in der nahen, wortlosen Beziehung zwischen Mutter und Baby entsteht, direkt entlädt, wird größer. Es fehlen die Gelegenheiten, diese auf andere, weniger empfindliche Beziehungen zu verschieben und dort zu verarbeiten. Das Angebot der Gruppentherapie für Mütter und Babys wurde für ein solches Umfeld mit schwachen sozialen Bindungen erdacht. Es sollte den Müttern eine Möglichkeit bieten, aus ihrer Isolation zu treten, und einen Austausch mit anderen Müttern anregen, die sich in einer ähnlichen Lebensphase befinden. Die genauere Untersuchung des Gruppenverlaufs in der Gruppe mit Müttern in psychischer Krise soll Anlass sein, die dort stattfindenden Verarbeitungsprozesse bezüglich den postpartalen Dekompensationserscheinungen – hier am Beispiel der Aggression – auszuarbeiten.
Klinische Darstellung, Verlaufsprozesse in einer Gruppentherapie Es handelt sich um eine Gruppe von sieben Müttern mit ihren Babys. Diese waren zu Beginn der gemeinsamen Gruppenarbeit in einem Alter zwischen sechs Wochen und sechs Monaten, mit der Ausnahme eines Babys, das bereits 9 Monate alt war. Die Gruppe traf sich alle zwei Wochen unter der Leitung von zwei Therapeutinnen, die Sitzungen dauerten jeweils 90 Minuten. Die Themen und die Ursachen möglicher Gewaltausbrüchen veränderten sich einerseits je nach Alter der Babys und der Anliegen ihrer jeweiligen Entwicklungsphase. Andererseits waren die persönliche Neigungen der Mütter und ihre Reaktionsweise in Bezug auf die Veränderungen der Elternschaftsentwicklung ausschlaggebend für die Art der aggressiven Episoden. In der Tat traten im Verlauf der ganzen Gruppentherapie aggressive Impulse auf, aber ihr Hintergrund war unterschiedlich. Was sich eindeutig veränderte, war die Fähigkeit der Mütter, damit umzugehen.
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Erste und zweite Sitzung: Projektive Phänomene im Zusammenhang mit der Geburt An der ersten Sitzung nehmen sieben Mütter, jede mit ihrem Baby, sowie die zwei Therapeutinnen teil. Eine Mutter hat zudem ein älteres Geschwister, ihre zweijährige Tochter, mitgenommen. Die Gruppe ist groß, und es braucht etwas Zeit während der anfänglichen Vorstellungsrunde, bis die Mütter den vorgetragenen Sorgen und Fragen Aufmerksamkeit schenken und sich aufeinander einstellen können. Das Gespräch entfaltet sich danach auf relativ ausgeglichene Weise. Plötzlich löst aber eine Mutter, Laura, mit ihrer Erzählung eine große Spannung aus. Sie hat das Bedürfnis, über die Geburt ihres Kindes zu berichten, die vier Monate zuvor stattgefunden hat und die sie als traumatisierend erlebt hat. Sie kritisiert die Hebammen, die sie zu wenig beachtet haben. Sie ist auf ihren Mann böse, da er zur Geburt zu spät erschienen sei und für den sie vergeblich versucht hatte, das Kind im Bauch zurückzuhalten. Dem Arzt wirft sie vor, dass er nur sein Interesse, mit der Arbeit schnell fertig zu werden, verfolgt hat und sie gedrängt hat; am Schluss hat er das Kind so rücksichtslos aus ihr herausgerissen, dass es einen Schlüsselbeinbruch davontrug. Sie selbst hat er in einem Blutbad alleingelassen. Laura ist mit ihren Anklagen derart überbordend, dass mehrere Mütter versuchen, ihr Einhalt zu bieten. Sie erzählen ihre eigenen Geburtserlebnisse, darauf achtend, dass sowohl die enttäuschenden Momenten als vor allem auch die hilfreichen Gesten der unterstützenden Umgebung gewürdigt werden. Eine solche Entwicklung des Gruppengesprächs ist beim Auftauchen von starken Emotionen typisch. Laura scheint für den Moment beruhigt, obwohl ihre fast paranoide Wut damit sicher nicht bearbeitet ist. In der nächsten Sitzung ist sie in der Tat sehr depressiv. Sie berichtet, sie habe Angst, ihr Mann würde sie und ihre Angriffe nicht länger ertragen und sich von ihr abwenden. Es scheint, dass die Aggression, die gegen ihn gerichtet war, sich nun gegen sie selbst wendet. Sie weint bitterlich und wird von anderen Frauen gestützt, die ähnliche Ehekrisen – so sagen sie – auch schon erlebt und überwunden hätten. Die Gruppe ist aber anscheinend durch diese Erlebnisse ein wenig überfordert, weil einige Mütter bei den nächsten Sitzungen fehlen werden. Zugleich verschiebt die Gruppe die unterschwellige Aggression auf beide Therapeutinnen, von denen erwartet wird, diese erste destruktive Inszenierung in der Gruppendynamik aufzufangen. Vierte Sitzung: Wut gegen das Baby und Angst vor dem Kontrollverlust In der vierten Sitzung sind nur zwei Mütter und ein Baby anwesend. Eine Mutter, Julia, berichtet über ihre Schwierigkeiten, das
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Kind zum Schlafen zu bringen, und klagt, dass es sie auch in der Nacht wiederholt zu sich ruft. Derweil schreitet die andere Mutter, Anna, ununterbrochen auf und ab und schüttelt dabei ihr quengelndes Kind auf dem Arm. Wir haben im Therapieverlauf feststellen können, dass eine solche betonte Anklammerung der Mutter an das Kind sich jeweils einstellt, wenn in der Gruppe eine gewisse atmosphärische Spannung herrscht, die sich später als Ausdruck eines latenten Konflikts der Gruppe erweist. Diese Reaktion, die wir defensive Betonung der Dyade genannt haben, hat zur Folge, dass sich die Mutter mit ihrem Baby isoliert. Die Mütter leiden unter diesen Bedingungen, aber ihre Situation ändert sich erst, wenn es ihnen gelingt, den belastenden Konflikt anzusprechen. In der hier beschriebenen Sitzung läuft es folgendermaßen ab: Plötzlich rastet Anna aus. Sie sagt mit aufgeregter Stimme, dass sie nicht weiß, ob sie bleiben oder weggehen soll. Es sei ihr langweilig mit uns; es finde kein Gruppengespräch statt, sondern nur Einzelberatung, und die Probleme Julias gingen sie nichts an. Zudem äußere sich eine der Leiterinnen manchmal auf verletzende Weise. Auch das wolle sich Anna nicht weiter gefallen lassen … Die Therapeutinnen und Julia sind jetzt gefordert und versuchen auf differenzierte Art auf die verschiedenen Vorwürfe einzugehen. Zum letzten Vorwurf präzisiert Anna, dass sie sich durch eine Bemerkung beleidigt fühlte, aus der man schließen konnte, dass die Therapeutin ihre Tochter besser als sie selbst kennen würde. Im Laufe des Gesprächs, nachdem sie sich beruhigt hat, gesteht sie, dass ihre Reaktion diesbezüglich übertrieben war. Sie führt nun weiter aus, dass sie ähnliche Wutausbrüche gegenüber ihrem Mann hat, die ihrer Meinung nach immer in Verbindung mit der Unruhe ihres Kindes auftreten, wenn sie dessen Anforderungen und Bedürfnisse nicht versteht. Julia kommentiert dazu, dass auch sie solche Wutgefühle kennt, eben gerade dann, wenn das Kind nicht einschlafen kann. Sie schließt sich manchmal in ihrem Zimmer ein und stampft aus lauter Ohnmacht mit den Füßen oder teilt Fußtritte gegen Türen und Wände aus. Darüber hinaus hat sie Angst, eines Tages die Kontrolle zu verlieren und das Kind zu schlagen. Während dieser Diskussion beruhigt sich Annas Baby und schläft ein. Unter den Erwachsenen stellt sich ein Gefühl der Gruppenzugehörigkeit und der Gruppenkohäsion ein. Sechste Sitzung: Bedürfnis nach Unterstützung und Kontrolle durch die Personen der Umgebung In der sechsten Sitzung sind alle Mütter mit ihren Babys, mit Ausnahme eines von ihnen, dabei. Der Angriff gegen die Gruppe und insbesondere gegen die Leiterinnen wiederholt sich und wird diesmal von den Gruppenteilnehmerinnen selbst verarbeitet. Laura, die
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in den vergangen Sitzungen gefehlt hatte, fragt sich laut, ob sie wohl am richtigen Ort sei, in dieser Gruppe gebe es keinen Austausch, es würden nur Monologe gehalten. Es ist bemerkenswert, dass sie exakt die gleichen Klagen äußert wie Anna in der Sitzung zuvor, obwohl sie sie nicht kennen konnte. Wir Leiterinnen verstehen dieses Phänomen als Wirkung der Gruppenmatrix und damit als Zeichen, dass alle Teilnehmerinnen mit einem gemeinsamen, wenn auch noch nicht ausformulierten, das heißt bewusst wahrgenommenen, Gruppenthema beschäftigt sind. Laura fügt noch hinzu, dass sie die Szene, in der sie weinen musste, schlecht ertragen hatte, weil man sie mit ihrer Verzweiflung allein gelassen habe. Julia kontert sehr aufgeregt, dass Laura immer nur die Anderen kritisiere und angreife und dass sie sich nie frage, ob sie nicht selber etwas zur Veränderung ihrer Lage unternehmen könne. Angesichts ihrer vorwurfsvollen Haltung dürfe sie sich über die Reaktionen ihrer Umgebung nicht wundern. Tina interveniert und stellt sich auf die Seite von Laura: Sie zeigt Verständnis für Lauras Spontaneität, die dazu führt, dass sie sich manchmal überspitzt äußere. Ulla schätzt ebenfalls das spontane Verhalten und kritisiert, dass ihr der Kommunikationsstil in der Gruppe forciert und übertrieben kontrolliert vorkomme. Edith hingegen bemerkt, dass der Stil der Gruppe nicht kontrollierter ist als im gesellschaftlichen Umgang im Allgemeinen. Anna sagt, dass dies zwar stimme, dass die therapeutische Gruppe aber die Erwartung erwecke, man könne sich hier offener zeigen als anderswo. Es ist wieder zu bemerken, dass die Kinder, die sich alle am Boden auf einer Spieldecke befinden, während dieses Austauschs der Mütter kleine Interaktionen untereinander beginnen und sich selbständiger als sonst aufführen. Die Mütter schauen ihnen zu und geben ab und zu Kommentare zu den beobachteten Szenen. Plötzlich sagt Laura überrascht: »Ich fühle mich das erste Mal wirklich als Teilnehmerin einer Gruppe!« Diese Feststellung zeigt deutlich, dass die verschiedenen Positionen der anderen Teilnehmerinnen der Gruppe gegenüber ihr das Gefühl gegeben haben, akzeptiert zu sein, und ihr ermöglicht haben, ihre anfängliche Haltung der Gruppe gegenüber – zumindest in dieser Sitzung – zu ändern. Nach einer Weile, in dieser intimen Atmosphäre, meldet sich Edith sehr bewegt mit einem neuen Anliegen. Sie sagt, dass sie beobachtet und kontrolliert werden möchte, sie brauche die Reaktionen der Anderen gegenüber ihrem Verhalten, sie brauche die soziale Kontrolle. Edith erzählt den erschöpfenden Tagesablauf mit ihren zwei Kindern und gesteht, dass sie am Abend ihr Schreien vor dem Schlafengehen nicht mehr ertragen konnte. Sie nervten sie so sehr, dass sie den Kleinen gepackt und in die Luft gehoben hat, dass sie ihn geschüttelt hat … Edith steht auf und macht es allen vor. Tina
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zeigt ihre Überraschung, hatte Edith doch vor kurzem berichtet, dass sie glücklich darüber sei, dass ihr Baby sie so offensichtlich unter allen Bezugspersonen bevorzuge und dass sie ihm ihre selbstlose Betreuung weiter gewähren wolle, solange er das brauche. Anna kommentiert, dass jede Mutter so für ihr Baby da sein will, dass jede aber damit an ihre Grenzen komme. Auch sie würde die Gefahr des Kontrollverlustes kennen. Das weitere Gespräch behandelt das Bedürfnis nach Unterstützung und nach Rückmeldungen seitens des Partners und der übrigen Umgebung, um Ausbrüchen von Gewalt zuvorzukommen.
In dieser ersten, sich über mehrere Sitzungen erstreckende Episode wird zuerst die Aggression, die in den Ohnmachtsgefühlen der Geburtssituation wurzelt, in die Gruppe gebracht. Sie ist noch so unverarbeitet, dass die massiven, zum Teil begründeten Anschuldigungen an die Adresse der damals Beteiligten von den Gruppenteilnehmerinnen als projektiv erkannt werden. Es sei bemerkt, dass das Kind davon ausgeschlossen ist, das heißt dass die projektive Dynamik eine das Kind schützende Komponente hat. Die Gruppe bespricht andere Möglichkeiten, das Verhalten der Helfer zu verstehen. Das bewirkt, dass die betroffene Mutter sich um die Auswirkung ihrer Aggression sorgt, depressiv wird und Angst bekommt, alleingelassen zu werden. In der folgenden Sitzung, in der diese Mutter fehlt, äußert eine andere Teilnehmerin massive Kritik den Leiterinnen gegenüber, sie hätten die Gruppe mit ihren aufwühlenden Gefühlen allein gelassen. Im Gespräch ist es hier möglich, den Hintergrund dieser Kritik in ihrer Überforderungssituation mit dem schreienden, unverständlichen Baby zur Sprache zu bringen, eine Erfahrung, die sie mit der anderen anwesenden Mutter teilt. Nach längerem Fehlen kommt die erste Mutter wieder in aggressiver Stimmung und kritisiert ihrerseits massiv die Leiterinnen. Die Gruppe ist nun aber bereit, diese Kritik differenziert zu diskutieren: Es werden mehrere Aspekte und Positionen zum Problem der eigenen Grenzen bezogen (Sich-Gehenlassen versus Kontrolle, Vonanderen-Erwarten versus Selbst-etwas-Tun), so dass die Abgrenzungsschwierigkeiten als gemeinsames Problem anerkannt wird. Die gelingende Entschärfung der Attacke stellt die Gruppenkohäsion wieder her und schafft die Bedingungen, dass eine
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vertiefte Auseinandersetzung zum Thema Gewalt in der Familie stattfinden kann. Die in der dargestellten Sequenz erkennbaren verschiedenen Einstellungen dieser Mutter, Laura, illustrieren besonders deutlich das Schwanken zwischen aggressiv-vorwurfsvoller Haltung und depressiver Besorgtheit, die in weniger ausgeprägter Weise bei vielen Müttern zu beobachten war. Es liegt nahe, hier eine Parallele zum Schwanken zwischen der paranoiden und der depressiven Position beim Säugling in der Entwicklung der Objektbeziehungen zu sehen. Der Säugling wird dabei von der Mutter gehalten, die Mütter in unserem Beispiel von der Gruppe. Bei diesen ersten Konflikten wendet sich die Aggression gegen die Gruppe als ganze. Gelingende Auseinandersetzungen tragen dazu bei, dass die Beziehungen unter den Gruppenteilnehmerinnen vertrauter und persönlicher werden. In einer späteren Gruppenphase, nachdem gegenseitiges Vertrauen entstanden ist, treten aggressive Impulse eher im Rahmen der Beziehungen unter den Gruppenmitgliedern auf und werden heftiger ausgetragen, als ob die Mütter dem haltenden Rahmen der Gruppe mehr zutrauen würden. Die Leiterinnen werden nur noch selten durch direkte Angriffe, sondern eher durch die drohende Spaltung der Gruppe gefordert. Einige Mütter sind besser in der Lage als am Anfang, Konflikte auf eine vertiefte Weise anzugehen. Diese spitzen sich manchmal dank der Dynamik der emotionalen Polarisierung zwischen zwei Exponenten der Gruppe zu. Das bedeutet, dass eine Mutter, die für bestimmte Emotionen besonders empfänglich ist, diese für sich und auch anstelle anderer Gruppenmitglieder zum Ausdruck bringt, während eine andere Mutter eine komplementäre Position einnimmt, wobei diese ebenfalls Gruppengefühle, die bei anderen Gruppenmitglieder latent vorhanden sind, aufnimmt und ausdrückt. In der Gruppe des Forschungsprojekts sind Laura und Julia die zwei Mütter, die aufgrund ihrer Persönlichkeitszüge dazu neigen, stellvertretend für die Anderen zu streiten und dabei polarisierte Positionen einzunehmen. Ihre Vulnerabilität für diese Rolle lässt den Schluss zu, dass beide eine Neigung haben, die unerträglichen Aspekte ihrer Persönlichkeit auf andere Personen zu projizieren, was sie aber selbst unerträglich macht und ihre Bezie-
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hung gefährdet. Tatsächlich haben mehrmals zu verschiedenen Zeitpunkten die eine oder die andere Gruppenteilnehmerin die Gruppe verlassen wollen. Damit ein zwischen zwei Kontrahenten polarisierter Konflikt verarbeitet werden kann, ist es wichtig, dass die Aspekte des Konflikts, die auch bei anderen Gruppenmitgliedern vorhanden sind, aufgezeigt und Verbindungen zum Hauptkonflikt hergestellt werden können. In einigen Fällen – wie hier – finden die am Streit beteiligten Mütter nachträglich den Weg zum Verständnis der intrapsychischen Dynamik, die sie derart anfällig für diese bestimmte Rollenübernahme machen. Wenn dies geschieht, ist individuell ein bedeutender therapeutischer Schritt vollzogen, der sich auf das Alltagsleben auswirken wird. 19. Sitzung: Enttäuschungen und narzisstische Anpassungen, Identitätsentwicklung Nach dem Weggang von Tina, die sich von der postpartalen Krise erholt fühlte und die Gruppe deshalb verlassen hatte, diskutieren die Mütter über die Erwartungen, die sie fortan noch an die Gruppe haben. Alle Teilnehmerinnen sind anwesend, ebenso die Kinder – außer eines von ihnen, Julias Sohn. Julia ist unsicher, möglicherweise wird sie bald umziehen und muss dann aus äußeren Gründen ebenfalls die Gruppen verlassen. Ulla, eine Studentin, teilt mit, dass ihr Stundenplan ab dem Semesterbeginn eng besetzt sein wird und dass sie wahrscheinlich die Zeit der Gruppensitzungen nicht mehr freihalten kann. Edith wünscht hingegen unbedingt, dass die Gruppe weiterläuft, da sie sich bei ihrem Problem mit dem Abstillen sehr bestärkt fühlte und weitere Unterstützung erhofft. Andere Mütter stimmen ihr zu und beginnen ein Gespräch über die Schwierigkeiten der Trennung vom Kind. Nun lässt Maria einen Satz fallen, in der Art: »Wenn du wirklich willst, wenn der Wille da ist, dann wirst du sicher eine Lösung finden.« Julia, die bisher abseits und still geblieben war, greift sie plötzlich heftig an: »Du hast nicht zugehört, ansonsten würdest du nicht einen solchen Unsinn erzählen. Warum, meinst du, diskutieren wir monatelang über Trennung? Etwa weil wir keinen Willen haben?« Maria ist schockiert und bricht in Tränen aus. Alle Frauen wenden sich ihr zu. Eine Mutter sagt dann zu Julia, dass sie die Absicht Marias falsch interpretiert hat, sie habe es nicht so gemeint; eine andere Mutter sagt ihr, dass sie wohl aus persönlichen Gründen auf ein Reizwort von Maria allergisch reagiert haben muss. Julia zeigt sich überrascht über die Wirkung ihrer Intervention und über die
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Reaktionen der Anderen und stellt fest, dass sie anscheinend in der Gruppe eine bestimmte Rolle zugeteilt bekommen hat. Sie will sich deshalb fortan ganz zurücknehmen. Laura lässt es aber nicht zu. Sie äußert sehr bestimmt, dass sie selbst die eigentliche Zielscheibe dieses Angriffs gewesen ist; sie ist diejenige, die Julias Meinung nach immer zu wenig engagiert war. Laura schlägt jetzt zurück: Julia kann gut kritisieren, dass die anderen Mütter nicht genügend präsent seien, sie selbst kommt ja seit längerer Zeit allein, ohne Kind, sie hat es also leicht, konzentriert bei der Sache zu sein. Warum lässt sie eigentlich als Einzige das Kind zu Hause? Julia antwortet trocken: »Das geht dich nichts an.« Laura packt die Wut: »Ich habe genug! Ich lasse mich von niemandem hier so behandeln!« Sie steht auf, packt ihr Kind und geht weg. Eine Gruppenleiterin folgt ihr. Kurze Zeit darauf geht auch Julia aus dem Raum. Maria schluchzt jetzt noch heftiger: »Es ist alles meine Schuld.« Die gewöhnlich sehr kühle Ulla umarmt sie und tröstet sie. Die Kinder scheinen indessen durch das interessante Spektakel nicht allzu beeindruckt zu sein.
Die Verarbeitung dieses Ausbruchs verbaler Gewalt beansprucht mehrere Sitzungen. Nur einige Mütter nehmen alternierend daran teil, als ob die unbewusste Matrix der Gruppe die Abfolge der gerade möglichen Verarbeitungsschritte diktieren würde. Die entscheidenden Entwicklungen finden in einer Sitzung statt, an der nur Julia, Laura und Anna anwesend sind. Julia ist ohne Kind, die beiden anderen Mütter mit ihren Kindern da: Eine Therapeutin resümiert für Laura den Verlauf der letzten Sitzung, an der sie nicht teilgenommen hatte. Alle Mütter hatten sich bemüht, zu begreifen, was geschehen war. Laura macht dazu eine wenig ermunternde Bemerkung: Sie ist erstaunt, dass die anderen noch damit beschäftigt sind, sie selbst hat den Vorfall schnell beiseite geschoben; sie ist nicht nachtragend und will nicht auf solchen Sachen sitzen bleiben. Die Therapeutin, die die grübelnde Besorgtheit Julias verfolgt hat, insistiert und führt weiter aus, dass sich die Teilnehmerinnen gefragt hätten, ob sie in einem solchen Ablauf nicht eine unfreiwillige Rolle übernehmen würden und ob das, was sie in dem Moment zum Ausdruck bringen würden, gar nicht ihren wirklichen Gefühlen entspricht. Julia ergänzt hier, dass sie manchmal anstelle anderer Personen Kritik ausdrückt, weil sie unausgesprochenen Spannungen schlecht aushält. Dieses Verhalten passt gar nicht zu ihr, sie möchte auf keinen Fall unüberlegte Äußerungen machen. Darüber hinaus muss sie jedes Mal die Konsequenzen davon tragen. Laura fragt nach: »Fühlst du dich dann wie ein Blitzableiter?« »Ge-
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wissermaßen schon.« Julia besinnt sich, dass sie in ihrer Ursprungsfamilie diejenige war, die sich gegen die zu starren Vorstellungen ihrer Eltern wehrte und manchmal gegen sie kämpfen musste – auch zugunsten ihrer Schwestern, die sich lieber duckten. Als Folge davon war sie nicht beliebt und wurde weniger umsorgt. Laura kann sich jetzt in Julias Situation einfühlen und wird offener. Sie erzählt, dass auch sie ein Blitzableiter war, aber auf eine andere Weise. Sie musste stets Rücksicht auf die fragile Gesundheit ihrer Mutter nehmen, doch trotz ihrer Bemühung war sie schnell die Böse, die mit ihrem aufmüpfigen Verhalten jeweils für die Rückfälle der Mutter verantwortlich gemacht wurde – viel mehr als der jüngere Bruder, der ungescholten davon kam. Ihre Reaktion war, anders als bei Julia, dass sie sich in sich zurückzog und sich gegenüber den Problemen anderer unberührbar machte. Auch Julia hat nun für die Eigenart Lauras mehr Verständnis. Sie sagt, dass auch sie einen zurückgezogenen Teil hat, den sie vor allen versteckt. Sehr aufgewühlt lässt sie uns wissen, dass sie in ihrer Jugend von einem Lehrer belästigt wurde und dass sie es damals vorgezogen hat, trotz ihren guten Leistungen und entgegen dem Rat aller nahestehenden Personen die Schule zu verlassen und auf eine höhere Ausbildung zu verzichten, anstatt mit den Eltern darüber zu reden und sie um Hilfe zu bitten. In dieser bewegenden Sitzung weint Anna leise, anstelle der zwei Mütter, die daran sind, sich ihre alten Verletzungen zu vergegenwärtigen.
Julia und Laura gelingt es in diesem Austausch, ihre Rivalität und ihre Neigung, gewisse Polarisierungen innerhalb der Gruppe in Szene zu setzen, zu überwinden. Sie erleben zudem, dass sich eine aggressive Interaktion auf eine konstruktive Art weiterentwickeln kann und nicht immer destruktiv wirkt. Anna, die eine solidere psychische Struktur hat, hatte mehrmals betont, dass Streite mit den nahestehenden Personen nötig und nützlich sind, weil sie die Beziehung mit ihnen – auch diejenige mit dem Kind – vertiefen. Das entsprach bisher gar nicht der Meinung von Julia und Laura, für die diese Erfahrung ganz neu ist. In der folgenden Sitzung sind wieder fast alle Mütter da. Es ist immer noch eine gewisse Spannung vorhanden. Diese löst sich, als Laura verkündet, dass Julia und sie sich besser verstehen würden; sie sei erstaunt, wie persönlich der Austausch in einer solchen Gruppe werden kann. Die anderen Mütter werden neugierig und wollen mehr wissen. Laura und Julia sagen ganz einfach, dass sie entdeckt haben, dass sie beide große Konflikte mit ihren eigenen Müttern gehabt hätten.
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Ein Blick auf die Zeit nach der Gruppe Um die positive Auswirkung der Verarbeitung aggressiver Konflikte im Gruppensetting zu veranschaulichen, will ich einen Einblick auf die Zeit nach der Gruppentherapie am Beispiel der Weiterentwicklung von Laura und Julia geben, den zwei Müttern, die am besten zwei verschiedene Tendenzen in der psychischen Dekompensierung repräsentierten: Die erste war zu aggressiv und hatte die Neigung, Beziehungen abzubrechen, die zweite war zu kontrolliert und hatte die Neigung, sich aus Beziehungen herauszuhalten. Laura war wieder schwanger. Sie versuchte, sich hinter einer Fassade der Stärke zu verschanzen, um bei der kommenden Geburt die Kontrolle zu bewahren und die Wiederholung eines traumatischen Geburtsverlaufs zu verhindern. Ihre Weiterentwicklung nach den beschriebenen Veränderungsprozessen hat ihr zu der Einsicht verholfen, dass sie während der Geburt wohl auf fremde Hilfe angewiesen sein könnte, und sie hat demzufolge begonnen, diese Ausnahmesituation realistisch vorzubereiten. Julia, die stets großzügig gegenüber den Anderen in der Gruppe, aber unfähig war, für sich selbst zu sorgen, lernte, Beziehungen mutiger anzugehen und eigene Bedürfnisse zu äußern. Sie konnte sich deshalb in ihrer Nachbarschaft besser durchsetzen und integrieren und auf den geplanten Umzug verzichten, den sie vor dem großen Streit in der Gruppe angekündigt hatte. Sie konnte zugleich eine sichere Distanz zu ihren Kindern einnehmen, die nun lernten, allein in ihrem eigenen Bett zu schlafen. Diese zweite Sequenz beginnt mit einem Moment der Gruppe, in der sich Auflösungserscheinungen breitmachen. Anlass dazu ist die Unruhe wegen des Ausstiegs einer Gruppenteilnehmerin, aber ein noch tieferer Beweggrund ist die Resignation einer anwesenden Mutter, die sich gern für die Anderen einsetzt und die die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen erlebt. Ihr Wunsch, die Gruppe zu verlassen, ist von ihrer Angst vor einer explosiven Aggression diktiert, die sie aber nicht vermeiden kann. Der Angriff wählt eine zufällige Zielscheibe, aber instinktsicher versteht ihre Kontrahentin in der Gruppe, dass es um ihre unengagierte, unbeständige und auch unbeeinflussbare Haltung geht. Die heftige Inszenierung dieser Polarisierung spaltet fast die
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Gruppe, die sich aber verantwortlich fühlt. In einigen Sitzungen, in denen verschiedene Gruppenteilnehmerinnen vorbereitende Arbeit leisten, wird die Thematik des Blitzableiters beziehungsweise Sündenbocks erarbeitet und der Beitrag aller Mütter im Konflikt um Alles-Geben versus Für-sich-Schauen, wieder eine Ausdrucksform des typischen Konflikts der frühen Elternschaft um Abhängigkeit und Grenzen, erkannt. Das Übertragen des Aspekts der Rolle im Gespräch mit den zwei Vertreterinnen des polarisierten Konflikts erlaubt ihnen, von ihrem festgefahrenen Positionsbezug abzurücken, und öffnet die Möglichkeit, im gleichberechtigten Austausch über persönliche Hintergründe ihrer Reaktionsneigungen nachzudenken. Dabei machen beide in der therapeutischen Gruppe die neue Erfahrung, dass aggressive Auseinandersetzungen auch bindungsbildend sein können. So drückte sich die dritte Mutter aus, die am Gespräch anwesend war und die mit ihrer Resonanz die Emotionen, die im Raum waren, zum Ausdruck brachte; sie meinte dabei, dass dies auch für die Beziehung zum Baby gelte.
Bedeutung der Gruppenkultur und der Aufmerksamkeit in der therapeutischen Mutter-Säugling-Gruppe Rückblickend kann man sagen, dass die Hintergründe aggressiver Dekompensierungen in der untersuchten Projektgruppe und die Aufgabe der psychischen Verarbeitung unterschiedlich waren. Zum einen ging es um unsagbare Ängste, etwa um die Grenzerfahrung der traumatischen Geburt, bei der krude Bilder von Tod und Leben, wirre Empfindungen und entsetzliche Ohnmacht im Spiel waren. Zum anderen tauchte das Problem der persönlichen Grenzen (Begrenzung, Haut) in verschiedenen Formulierungen auf. Anfänglich präsentierte es sich mit dem gefährlichen Gefühl der Entgrenzung (»Ich bin nur noch Brust«), später wurden reifere Ausdrucksformen des zentralen Konflikts zwischen Abhängigkeit und Autonomie inszeniert (Pedrina 2006). Die Gruppe konnte diese Affekte nicht immer gut halten. Mit dem emotionalen Aufruhr der traumatisch erlebten Geburt, das heißt mit schweren primitiven Ängsten, war sie überfordert und
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bürdete den Gruppenleiterinnen die Aufgabe auf, Aggression zu verarbeiten und die Gruppe zu beruhigen. Eine ähnliche Situation wiederholte sich bei einer fast psychotischen Episode einer Mutter, die wegen der Einmischung ihrer eigenen psychisch kranken Mutter in das Familienleben in eine schwere Krise gestürzt war und Phantasien über Kindstötung äußerte. Auch hier reagierte die Gruppe mit Panik und einem Appell an die Leiterinnen. Daraus könnte man folgern, dass die ContainingFunktion der Gruppe in der engeren, auf Bion zurückgehenden Auffassung der Transformation archaischer Ängste4 von dieser Gruppe nicht genügend wahrgenommen werden konnte. Diese Verarbeitung wurde auf eine nächste Gruppe, diejenige der Leiterinnen mit ihrer Supervisorin, verschoben.5 Die Gruppe erwies sich hingegen als gutes Arbeitsinstrument bei der Verarbeitung der besser strukturierten Elternschaftskonflikte. Mit zunehmendem gegenseitigen Vertrauen der Teilnehmerinnen und auch Vertrauen in der Tragfähigkeit der Gruppe, das erst aufgrund gelingender Auseinandersetzungen wuchs, wurden komplexe und tiefgehende Konfliktverarbeitungen möglich. Dabei zeigte sich der ganze Reichtum und das Potential der Verarbeitung in der Gruppe, zu der viele Faktoren beitrugen. Als bedeutungsvoll für die Unterstützung der Vertrauensbildung bei der Führung der Mutter-Säugling-Gruppe hat sich die Beachtung der Gruppenkultur aufgedrängt. Es geht dabei um die Werte und Normen, die sich bald in einer Gruppe einstellen und das Verhalten ihrer Mitglieder leiten (Yalom 1970/1985); dazu gehören die anfänglich von den Gruppenleitern vorgegebenen Definitionen des therapeutischen Rahmens, darüber hinaus die Werte, die sich aufgrund der gegenseitigen Erwartungen aller Mitglieder einstellen und untereinander ausgehandelt werden. Die 4 Siehe die begrifflichen Präzisierungen in Fußnote 1. 5 Dieses Modell wurde unter dem Begriff der »enveloppes psychiques« von D. Anzieu und vor allem D. Houzel entwickelt. Houzel beschreibt die Funktionsweise einer erweiterten, aus Therapeuten und anderen fachlichen Betreuern bestehende Hülle, wenn schwer belastete Multiproblem-Familien mit kleinen Kindern dekompensieren (Houzel 1996).
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Mutter-Säugling-Gruppe hat Merkmale entwickelt, die für ihre besondere Zusammensetzung und das gemeinsame Anliegen der Bewältigung der postpartalen Krise charakteristisch sind. Es besteht ein von der Anwesenheit der Kinder induziertes hohes Maß an Aktivität, das auch Episoden des ausschließenden dyadischen Austauschs beinhaltet, mit der Folge einer Staccato-Zeitstruktur in vielen Gesprächen. Ebenfalls durch die Kinder bedingt sind die körperliche Sinnlichkeit, die viele Interaktionen kennzeichnet, und die große Bedeutung, die der nonverbalen Kommunikation im Allgemeinen zukommt. Die Mütter beobachten die Kinder gemeinsam und tauschen sich darüber aus, oder sie beobachten ein anderes Kind und vergleichen still; die Mütter betrachten die Art und Weise, wie andere Mütter mit ihren Kindern umgehen. Das Phänomen der emotionalen Resonanz, bei dem ein Gruppenmitglied Gefühlszustände eines anderen Mitglieds aufnimmt und ausdrückt, erfolgt leicht und auch in Bezug auf die Affekte der Kinder. Viele Mütter weisen regressive Verhaltensweisen auf, mit denen sie den Kleinkindern entgegenkommen; dafür zeigt die Gruppe Toleranz und signalisiert auch die Grenze, wo es ins Unangepasste kippt. Es braucht Verständnis für die schnellen Stimmungswechsel der Mütter und für abrupte Änderungen in der Beziehungsqualität zum Kind. Es braucht schließlich die Bereitschaft, auch alltägliche Handlungen, die in der Erwachsenenwelt entweder nicht gesehen oder aber abgewertet werden, die aber für die Kinder ungewohnte neue Erfahrungen und Entdeckungen bedeuten, zu beachten und emotional zu besetzten. Diese Aufmerksamkeit für kleine Dinge ist vielleicht das wichtigste Element der Gruppenkultur, weil es die unerlässliche Aufgabe der Mutter unterstützt, die nonverbalen Ausdrücke ihres Kindes zu erfassen und diesen vorausdenkend Bedeutung zu verleihen.6 6 In dieser Projektauswertung wurde Aufmerksamkeit erfahrungsnah aufgrund der Beobachtung der Gruppenaktivität definiert. Als theoretischer Begriff ist sie von Bion (1970) im Zusammenhang mit dem besonderen Reverie-Zustand der Mutter beim Containing ausgearbeitet und vor allem von französischen Autoren weiterentwickelt worden. Es würde sich lohnen, die Beziehung zwischen beiden Ebenen näher zu untersuchen.
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Literatur Ahlin, G. (1985): On thinking about the group matrix. Group Analysis 18, 111–119 Ahlin, G. (1988): Reaching for the group matrix? Group Analysis 21, 211–226 Bion, W. R. (1962): A theory of thinking. Int. J. Psycho-Anal. 43, 306– 310 Bion, W. R. (1967): Second thoughts: selected papers on psychoanalysis. Heinemann, London Bion, W. R. (1970): Attention and interpretation. Tavistock-Publ., London Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E., Target, M. (2002): Affect regulation, mentalization and the development of the self. Other Press, New York Fonagy, P., Target, M. (1996): Playing with reality I. Theory of mind and the normal development of psychic reality. Int. J. Psycho-Anal. 77, 217–233 Foulkes, S. H. (1964): Therapeutic group analysis. Allen & Unwin, London Foulkes, S. H. (1975): Group-analytic psychotherapy. Gordon Breach Publishers, London Houzel, D. (1996): The family envelope and what happens when it is torn. Int. J. Psycho-Aanal. 77, 901–912 Mellier, D. (2005): La fonction contenante, une revue de la littérature. Perspectives Psy, 44, 303–310 Pedrina, F. (2006): Mütter und Babys in psychischen Krisen. Forschungsstudie zu einer therapeutisch geleiteten Mutter-SäuglingGruppe am Beispiel postpartaler Depression. Brandes & Apsel, Frankfurt a. M. Roussillon, R. (1996): La métapsychologie des processus et la transitionnalité. Revue française de psychanalyse 59, 1351–1515 Target, M., Fonagy, P. (1996): Playing with reality II. The development of psychic reality from a theoretical perspective. Int. J. Psycho-Anal. 77, 459–479 Winnicott, D. W. (1965): The maturational processes and the facilitating environment. Hogarth Press, London Winnicott, D. W. (1971): Playing and Reality. Tavistock-Publ., London Yalom, I. D. (1970): The theory and practice of group psychotherapy. New York: Basic Books, 3rd ed., 1985
Sabine Trautmann-Voigt und Bernd Voigt Gruppenpsychotherapie im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog Mentalisierung im Spiegel der Bewegung
Einführende Bemerkungen Die Lehrmeinungen über die Wirkfaktoren von Gruppenpsychotherapie gehen auseinander (Yalom 1989; Heigl-Evers u. Ott 1994; Grotjahn 1985; Kutter 1976; 1985; Richter 1972; Staats u. Rüger 2000). Zurzeit sind kurzzeittherapeutische, themenzentrierte oder an Lösungen orientierte Methoden, die sich an strategischen Zielen im Sinne von Verhaltensmodifikationen orientieren (Fiedler 1995; Sipos u. Schweiger 2004), deutlicher im Trend als psychodynamisch fundierte Methoden (Tschuschke 2001; 2004). In gruppenpsychotherapeutischen Settings können nach Meinung der Autoren eher als in der Einzeltherapie paradigmenverbindende Effekte wie soziales Lernen oder Entwicklungsförderung in den Vordergrund treten (Fürstenau 1992). Insofern eignen sie sich besonders gut dazu, ein modernes Konzept wie das der Mentalisierung zu integrieren. Der Artikel gliedert sich in vier Abschnitte: – Vorstellung des Settings und theoretische Einordnung der darzustellenden Gruppenpsychotherapie-Konzeption. – Zusammenfassung einiger Grundlagen der neueren Säuglingsforschung und der Mentalisierungstheorie. – Aspekte einer Handlungstheorie, die Sprache und Körpersprache verbinden kann. – Darstellung und Auswertung an eines Beispiels aus einer Gruppenpsychotherapiestunde.
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Zur Einordnung des dargestellten Konzepts Im Folgenden wird das Konzept der Gruppenpsychotherapie, wie es heute am Bonner Medizinischen Versorgungszentrum für Psychotherapie, Psychosomatik und Psychiatrie (MVZPPP), also im ambulanten Praxisbetrieb, durchgeführt wird beziehungsweise in die Aus- und Weiterbildung an der Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie (KBAP) einfließt, in seinen Grundzügen dargestellt (grundlegend: Trautmann-Voigt u. Voigt 1999). Diese Konzeption verweist zurück auf 20 Jahre Praxiserfahrung, in der sich Aspekte moderner psychodynamischer Ansätze mit körper-, bewegungs- und tanztherapeutischer Theorie, Methodik und Interventionstechnik verbunden haben. Methodenintegrative Verfahren nehmen in der Fachdiskussion immer mehr Raum ein und tragen der Notwendigkeit Rechnung, anders auf die Herausforderungen des letzten Jahrzehnts zu reagieren: Durch (komplexe) Traumatisierungen, durch die zunehmende Zahl von Patienten und Patientinnen mit schwerer Persönlichkeitspathologie und durch den sozialen Wandel, zum Beispiel durch Migration, sind schulenspezifische Besonderheiten in den Hintergrund getreten (Trautmann-Voigt u. Voigt 2007). Die Autoren folgen grundsätzlich psychodynamischen Annahmen (Foulkes 1975/1992; Heigl-Evers u. Ott 1994; Wöller u. Kruse 2005) unter besonderer Berücksichtigung der bereits von Yalom (1989) hervorgehobenen Wirkfaktoren für die Gruppenpsychotherapie: Hoffnung, Universalität des Leidens, Mitteilung von Information, korrigierende Rekapitulation der Herkunftsfamilie im Hier und Jetzt, Entwicklung von Techniken des mitmenschlichen Umgangs, nachahmendes Verhalten und interpersonales Lernen (auch Kutter in Yalom 1989, S. 11). Hierbei handelt es sich durchaus um übergeordnete Ziele zur Veränderung. Eine Verbindung von tieferer Einsicht in die unbewusste Psychodynamik mit dem Erlernen neuer Verhaltensweisen wird angestrebt. Eine zweite Wurzel der hier dargestellten Konzeption liegt in einem sozial-integrativen und bewegungsbezogenen psychoanalytischen Ansatz, den die Autoren Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre in den USA erlernt haben (Trautmann-
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Voigt u. Siegel 1994; Siegel et al. 1997;1999). Aus diesen Einflüssen, angereichert durch die Ergebnisse der modernen Säuglings- und der Hirnforschung, entwickelte sich das Konzept des Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialogs (Trautmann-Voigt u. Voigt 2005a), das im Folgenden für die Anwendung in der Gruppenpsychotherapie dargestellt wird.
Das Setting Wie in anderen Zusammenhängen ausführlich beschrieben (Herberth u. Trautmann-Voigt 1997; Trautmann-Voigt 2000; Trautmann-Voigt u. Voigt 2001), wird Gruppenpsychotherapie, in der szenische Bewegung, Tanz, Musik, Malen und verbale, psychodynamisch fundierte Reflexionen zu Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialogen verknüpft werden, parallel und/ oder nachfolgend zu tiefenpsychologisch fundierter Einzelpsychotherapie im ambulanten Setting eingesetzt. Patienten und Patientinnen haben die Möglichkeit, im Rahmen des Bonner Medizinischen Versorgungszentrums für Psychosomatik, Psychotherapie und Psychiatrie die Gruppe als zusätzliches Angebot zu wählen. Die Autoren leiten diese Gruppe seit 1988 zu zweit. Sie ist vornehmlich für Patienten und Patientinnen bestimmt, die bei einem der beiden Autoren in Einzelpsychotherapie waren beziehungsweise sind. Die Gruppe wird halboffen geführt, besteht zur Hälfte aus insgesamt 12 Frauen und Männern im Alter zwischen ca. 27 und 60 Jahren und findet einmal wöchentlich abends von 19.00 Uhr bis 21.00 Uhr statt, exklusive der Schulferien. Neue Mitglieder verpflichten sich für mindestens ein Jahr zur Teilnahme. So können zu häufige Fluktuationen eingegrenzt werden. Alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen können so lange in der Gruppe bleiben, bis sie selbst den Entschluss zur Beendigung fassen und ihren bewussten Abschied gestalten können. Im Normalfall wird die Gruppenpsychotherapie von den Patienten und Patientinnen selbst bezahlt. Dieses Setting erlaubt es – und sieht dies sogar ausdrücklich vor –, dass bei speziellem Bedarf im Verlauf der Gruppenpsychotherapie zusätzlich Einzelstunden genommen werden können, auch wenn die geneh-
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migten Einzelpsychotherapiesitzungen gegebenenfalls schon ausgeschöpft sind. Diese Einzelstunden werden im Rahmen der Möglichkeiten über die Krankenkassen abgerechnet oder selbst bezahlt. Es erscheint den Autoren wichtig hervorzuheben, dass dieses Gruppenpsychotherapieangebot sich finanziell am unteren Ende der finanziellen Skala für professionelle Psychotherapieangebote bewegt, so dass auch für Patienten und Patientinnen mit weniger Einkommen eine Teilnahme außerhalb der kassenärztlichen Versorgung im Regelfall möglich ist.1 Die Patientenzusammensetzung für die Gruppenpsychotherapie wird von den Autoren vorgenommen und ist von dem Gedanken bestimmt, dass, wie im realen Leben auch, unterschiedliche Menschen gut voneinander profitieren können, wenn der Rahmen hierfür sicher genug, respektvoll tragend und gleichzeitig offen genug ist. Das Angebot dieser Gruppe wurde vor 20 Jahren etabliert, als im ambulanten Rahmen kaum indikationsspezifische Verbindungen von Einzel- und Gruppenpsychotherapie vorgenommen wurden, diese Verbindung aber (ebenso wie dies für den stationären Rahmen gang und gäbe ist und war) – damals wie heute – von den Autoren für äußerst sinnvoll gehalten wurde und wird. Die durchschnittliche Verweildauer der Patienten und Patientinnen beträgt zwei bis zweieinhalb Jahre. In Einzelfällen gab es Patientinnen, die bis zu sieben Jahren an der Gruppenpsychotherapie teilnahmen. Die Erfahrung bestätigt, dass von diesem relativ freien Gruppenangebot viele Patienten und Patientinnen in der Vergangenheit profitierten und bereits mehrfach stationäre Klinikaufenthalte verhindert werden konnten.
1 Dieses Angebot ist fest etabliert zwischen den anderen Formen der Versorgung, die im Rahmen des MVZPPP angeboten werden (Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie für Erwachsene, Kinder und Jugendliche, Verhaltenstherapie, Tanztherapie, Paar- und Familientherapie, Musiktherapie).
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Von der leiblichen Gebärdensprache zum Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog Der Konzeption des Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialogs liegt eine ganzheitliche psychotherapeutische Sichtweise zugrunde. Der Ausgangspunkt hierfür ist eine im weitesten Sinne psychosomatische Theoriebildung (Voigt u. TrautmannVoigt 2001; Trautmann-Voigt 2003), die sich inzwischen durch die Embodiment-Forschung (Hüther 2006; Koch 2007) bestätigt hat: Die Wechselwirkung zwischen Psyche und Körper ermöglicht zum einen die diagnostische Erfassung psychischer Zustände durch Formen der Bewegungsanalyse (grundlegend Voigt 1996) und zum anderen die Einflussnahme auf kognitive und emotionale Zustände durch spezifische Bewegungs- und Handlungsangebote (Trautmann-Voigt u. Voigt 1998). Als Grundlage für alle therapeutischen Interventionen gelten Bewegungen beziehungsweise kommunikative Handlungen und tanzähnliche Interaktionen, die hier in vergleichbarer Weise verstanden werden wie bei Daniel Stern: Seine Metapher vom »Pas de deux«, dem Tanz zwischen Mutter und Kind als einem affektmotorischen Zusammenspiel von Wahrnehmung, Ausdruck, Gestaltung und Interaktion mit der Umwelt (Performanz), ist nichts anderes als eine Verbalisierung für alle möglichen, multimodal vernetzten, non- und paraverbalen (frühen) Verständigungsformen. Diese Verständigungsformen sind nicht bewusst gerichtet, es sei denn, es handelt sich um Willkürbewegungen. Vielmehr stehen im Vordergrund des Interesses die non- und paraverbalen Kommunikationsweisen, die einen (unbewussten) Ausdruck von innerem Erleben transportieren, die damit eine Signal- und Appellfunktion haben können und etwas zur Darstellung bringen, was sich der bewussten Wahrnehmung und Kontrolle entzieht. Es gilt, diese Formen der Kommunikation mit der sprachlichen Verständigung neu zu verbinden. Im therapeutischen Fokus stehen nonverbale Artikulationen und Transformationen von Emotionen, Beziehungsszenen und Konfliktthemen sowie der Erwerb neuer Handlungsmöglichkeiten. So gut wie gar nicht geht es um die Reproduktion tänzerischer Stile oder um das Einüben tänzerischer Schrittfolgen.
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Nichtsdestoweniger kann sich in Bewegungen des ganzen Körpers und beim freien oder themengebundenen Tanz im Kontakt mit anderen das Psychische so darstellen, dass es als Ausdruck verstanden, in seiner Signalfunktion gelesen und als Appell interpretiert werden kann. Die Autoren stellten immer wieder fest, dass im deutschsprachigen Raum der Begriff »Tanz« als Metapher für affekt-motorische Ausrucksformen mit Appell- und Signalcharakter nicht akzeptiert wird. Daher wurde die ursprünglich aus der USamerikanischen Analytischen Tanz- und Bewegungstherapie stammende Begrifflichkeiten auf deutschsprachige Theoriebildungen bezogen, im hier dargelegten Konzept neu formuliert und im Laufe der Jahre erweitert (Trautmann-Voigt 1996; 2000; Voigt 1996; Trautmann-Voigt u. Voigt 1997;1998; 2002).
Psychoanalytische Wurzeln Alle Konzepte, die eine Leib-Seele-Einheit propagieren und auch die vegetative psycho-somatische Reaktion eines Menschen als Darstellung seines psychischen Leidens in einer Körpersprache verstehen, greifen, betrachtet man es historisch, auf frühe Freud’sche Erkenntnisse sowie auf Sándor Ferenzcis Praxis des direkten Haltgebens und der körperlichen Berührung zurück: Freud verband mit den einzelnen Organsystemen des Oralen, des Analen und des Genitalen von Anfang an nicht nur frühe Begierden, sondern übergreifende psycho-physische, also leibliche Gebärden, nämlich die des Öffnens, sich Verschließens, des Zupackens und Empfangens, des Berührens und Berührtwerdens (Siegel 1984/1986). Es handelte sich um Vorläuferkonzepte körperlicher Interaktionsgebärden. Der Rhythmisch-Dynamische Handlungsdialog in der Psychotherapie berücksichtigt neben psychodynamisch fundierten Grundphänomenen wie Übertragungs- und Gegenübertragungsanalyse und Umgang mit Abwehr- beziehungsweise Copingstrategien alle Ebenen der Kommunikation: die verbale, die semantische und die prozedurale Ebene. Auf der prozeduralen Ebene, wo frühe Beziehungserfahrungen als Interaktionsepi-
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soden gespeichert sind, die dem wachen Bewusstsein und dem bildhaft Unbewussten schwerer zugänglich sind, wird über eine rhythmisch-dynamische Ansprache die körperliche Schicht des affektiven Erlebens direkt erreicht.
Prinzipien einer gezielten sensomotorischen Aktivierung in der Gruppenpsychotherapie im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog Übergeordnete Prinzipien der Arbeit mit Patienten in der Gruppe stellen sich, zusammengefasst, folgendermaßen dar: 1. Wahrung der äußeren Sicherheit – Wahrung der körperlichen Integrität und Unverletzbarkeit der Grenzen; – Stärkung aller funktionierenden erwachsenen Anteile, auch was Körperfürsorge/Selbstfürsorge betrifft; – Einsatz von Techniken zur Stabilisierung je nach Kenntnis und Vorliebe bei drohender Dekompensation beziehungsweise Affektüberflutung; – Hinweise auf Resilienzfaktoren wie Kreativität, Sport, Natur, Tiere, Blumen, Düfte und andere sensorische Stimulantien. 2. Herstellung (erneuter) innerer Sicherheit durch szenische/ spielerische Möglichkeiten der Externalisierung – Zustände, Befindlichkeiten und Empfindungen in eine Gestalt bringen. Beispiel: Ein Patient gestaltete eine bunte Maske mit Federn und tanzte mit dieser Maske vor dem Gesicht seine Lust auf Kontakt, die er aus Angst, sie mit sexuellen Annäherungen zu verwechseln, bisher kaum hatte zeigen können. Teilnehmerinnen der Gruppe tanzten mit ihm abwechselnd zu südamerikanischen Rhythmen. Eine Regel war, den körperlichen Abstand niemals ganz aufzugeben.
– Angst, Wut, aber auch Täterintrojekte externalisieren in Bildern, in Tönen, in einer Groteske, einer Materialgestaltung und anderes mehr.
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Beispiel: Eine Patientin schrieb der verstorbenen Mutter einen Brief, den sie in einem von der Gruppe aus Papier und Decken gestalteten Grab bestattete. Sie trat auf den Papierberg und schrie ihre bis dahin unterdrückte Wut heraus. Sie wurde dabei von zwei von ihr ausgewählten Teilnehmerinnen gehalten. Danach wünschte sie sich das Adagio zu hören, das auf der Beerdigung ihrer Mutter gespielt worden war. Sie konnte nun ihre Trauer im Kreis der Gruppe zulassen.
– Veränderung von Affektzuständen; also »von hinten nach vorn« kommen lassen, spielen, verkleinern, vergrößern, symbolisch zerschlagen beziehungsweise Rituale in Bewegung finden. Beispiel: Ein Patient externalisierte sein böses Vaterintrojekt in eine Gliederpuppe (aus dem Kunstunterricht), die er aus seiner Kindheit mitgebracht hatte. Er zerlegte sie akribisch in ihre Einzelteile, ließ sich von anderen Teilnehmern dabei helfen und brachte sie im Schrank des Therapieraumes in einer Kiste unter. In der darauf folgenden Woche landeten die Überreste im Müllcontainer auf der Straße. Wiederum in der Folgestunde verausgabte er sich körperlich sehr stark, als in einem anderen Zusammenhang ein Trommelstück gespielt wurde. Er tobte sich aus und fühlte sich befreit.
3. Anregung zu Regressionen im Dienste des Ich – Aktive Anregungen, um spontane Regressionen in den verinnerlichten prozeduralen Affektzustand (z. B. einen TraumaState) zu ersetzen durch eine neue Vitalitätskontur. Beispiel: Eine Patientin ließ sich in einer Decke von den Gruppenmitgliedern hin und her wiegen und hörte dazu ihr Lieblingslied, das sie zuerst gehört hatte, als sie ihren Mann das erste Mal traf.
– Positiv besetzte Affektspiegelungen im Als-ob-Modus durch gezielte Interventionen auf der Körperebene anregen. Beispiel: Eine Partnerübung zum Thema »Spiegeln mit den Händen« fokussiert auf Varianten in der Nachahmung von Bewegungen des Gegenübers. Dabei geht es darum, die Essenz der Handbewegungen des Anderen nachzuempfinden, nicht eine technisch exakte Kopie einer Bewegung (wie zum Beispiel im Ballett) durchzuführen.
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– Neue Balancen zwischen »Bemutterung« und »Selbst-Coaching« herstellen. 4. (Konfliktzentrierte) Verbalisierung, Deutung, Konfrontation Psychotherapie im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog ist eine Verschränkung aller Ebenen der Kommunikation, der prozeduralen beziehungsweise pragmatischen Handlungsebene, der semantischen beziehungsweise symbolischen Imaginationsebene und der syntaktischen beziehungsweise verbalanalytischen Ebene. Gesprochene Sprache wird in ihrer strukturierenden, assoziativen, tiefenpsychologisch deutenden oder klärenden Funktion je nach Thema in der Gruppe beziehungsweise bei einzelnen Patienten und Patientinnen eingesetzt.
Zugang zum prozeduralen Unbewussten über Darstellung und Ausdruck Das prozedurale Unbewusste ist das sogenannte Körpergedächtnis für solchermaßen erlebte Kommunikationsprozesse, die in ihrer nonverbalen Gestalt in Form von vitalen Kodierungen gespeichert werden. Das Körpergedächtnis stellt sich in der aktuellen nonverbalen Kommunikation in Form von (unbewussten) Handlungen dar, in der Gestik, in der Mimik, in der Haltung und in (unbewussten) Bewegungsangeboten beziehungsweise auch in (unbewussten) Bewegungsantworten, die nicht immer mit dem (bewusst) Gesagten in einer kommunikativen Situation übereinstimmen. Das prozedurale Unbewusste prägt die Auswahl von nonverbalen Ausdrucksformen, was die aktuelle Kommunikationssituation beeinflusst; denn wir wissen seit der modernen Säuglingsforschung (Dornes 1993; 2000; 2006), dass die aktuelle affektive Kommunikation zu weit mehr als 90 Prozent von nonverbalen Kodierungen geprägt wird: Das sind affekt-motorische Handlungsmuster, Vitalitätskonturen und die sogenannten RIG’s = »representations of interactions being generalized« (Stern 1992; 1998). Bei Patientinnen und Patienten nach Traumatisierung oder bei Borderline-Patienten (die häufig traumatische Erfahrungen
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erlitten haben) kann durch Worte, Handlungen, Musik, Bilder und so weiter das prozedurale Gedächtnis so getriggert werden, dass, für Außenstehende völlig unverhofft, affekt-motorische Handlungsmuster auftauchen, die die Patienten überfluten und retraumatisieren. Insofern ist es besonders wichtig, beim Umgang mit Körper, Bewegung und Handlungen sowohl theoretisch als auch auf der Ebene der Interventionen über ein ausreichend gutes Repertoire zum Umgang mit Körperreaktionen beziehungsweise unverhofft auftauchenden affekt-motorischen Handlungsmustern zu verfügen.
Nonverbale Kodierungen, Beziehungswissen und Vitalitätskonturen hinsichtlich Intensität, Raum und Zeit Beziehungswissen entsteht also über die Verinnerlichung von frühen Handlungsdialogen, die immer wieder durch neue Handlungsdialoge überformt werden. Handlungsdialoge sind strukturiert durch die Art und Weise, wie Kommunikation erlebt wird. Sie sind in die Persönlichkeit eingeschweißt in der Weise, dass sie spätere Kommunikationssituationen immer wieder beeinflussen, weil prozedurales Wissen sich immer wieder zeigt (vgl. unten). Frühes Erleben ist zunächst Körperempfindung. Der Körper registriert zum Beispiel die Lage und die damit verbundene Stabilität und Balance im Raum. Für das Baby ist es zum Beispiel nach dem Trinken, vom Köperempfinden aus betrachtet, ein großer Unterschied, ob es auf dem Arm senkrecht nach oben gehalten beziehungsweise über die Schulter gelegt wird oder ob es mit vollem Magen in eine waagerechte Position gebracht wird. Später wird es dann im Körperempfinden große Unterschiede verspüren, ob es zum Beispiel schon auf einem Bein balancieren kann und so die Vertikale erobert hat und sich mit dem eigenen Gleichgewichtssinn gegen die Schwerkraft behaupten kann oder ob es noch robbt oder krabbelt. Ebenso ist es eine andere Körperwahrnehmung, vorwärts zu stürmen oder sich rückwärts fallen zu lassen (Erleben der saggitalen Ebene). Wenn ein bestimmtes Erleben von räumlichen Erfahrungen
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von früher her affektiv positiv oder negativ besetzt ist, wird es als positive oder negative nonverbale Kodierung bezüglich der eigenen Körperwahrnehmung in der Gestaltung von Haltungen und Positionen verinnerlicht sein und immer wieder reproduziert werden. Es wurde eben so und nicht anders gelernt. Desgleichen werden Erlebniskonturen von Spannungsregulationen durch andere, also erlebte Intensitätsmuster als von außen oder innen einwirkende Kräfte verinnerlicht. Zum Beispiel lösen bei manchen Menschen zwischenmenschliche Spannungen auch Spannungskopfschmerzen aus. Solche Schmerzen kann man, körperlich betrachtet, als Reaktion auf verhärtete Muskelstränge im Nacken interpretieren. Muskelverhärtungen entstehen, wenn eine Wahrnehmung oder ein Affekt blockiert werden muss. Hohe Spannungen in den Muskeln führen dazu, dass diese nicht mehr flexibel eingesetzt werden können. Die eigentliche Körperkraft mit ihren Wirkmöglichkeiten nach außen wird demzufolge reduziert. Die affektmotorische Kodierung im Fall von Spannungskopfschmerz bei einer Patientin lautete dann so: »Wenn von draußen zu viel Druck (= negative Krafteinwirkung, Anm. der Verfasser) kommt, zu laut, zu heftig oder einfach zu viel, dann verursacht das einen solchen Druck in mir, dass ich mich verkrampfe. Ich kann dann keine Gegenkraft mehr nach außen bringen. Ich ziehe mich zurück oder lege mich lieber im Dunkeln ins Bett.« Gleichzeitig ist jedes Beziehungswissen an zeitliche Abläufe gebunden. Handlungsdialoge spielen sich als bestimmte Rhythmen in einer bestimmten Dynamik ab. Sie werden als erlebte Konturen mit einem bestimmten Zeitablauf gespeichert, als langsame oder schnell erlebte Aktionen der Passung, als beruhigendes Einschwingen auf den Eigenrhythmus oder als rapide einbrechendes Stopsignal auf selbst initiierte, also auf Eigenbewegungen und den eigenen Rhythmus. Mit den Mitteln einer dezidierten, auf nonverbale Kodierungen fokussierenden Interaktionsanalyse können vitale nonverbale Kodierungen in Kommunikationssituationen wie einer therapeutischen Gruppe »gelesen« werden. Auf dieser Ebene setzen dann auch gruppentherapeutische Interventionen an. Zu den nonverbalen Kodierungen gehören:
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– Das Phänomen der rhythmischen Passung: Wie passen sich Patienten untereinander rhythmisch und dynamisch aneinander an? Werden sie zum Beispiel in ihrem Sprachduktus und/oder ihren Gesten schneller, langsamer, unterbrochen, fließend? Wie zeigen sich intrapsychisch repräsentierte nonverbale Kodierungen im Spiegel der Gruppe? – Das Phänomen der räumlichen Orientierung mit Blicken, Gesten und Bewegungen: Wie erfassen Patienten den gegenwärtigen Aufmerksamkeitsfokus? Sind sie zum Beispiel direkt oder indirekt aufeinander bezogen? Wie stellen sich Haltung, Gestik und Körperbewegungen als Formen im Raum, die einen Appell- beziehungsweise Signalcharakter haben können, dar? – Das Phänomen der Intensitätsentwicklung: Wie kraftvoll oder wie vorsichtig werden Äußerungen getätigt, wie viel muskuläre Spannung wird gezeigt oder genutzt im direkten oder indirekten Kontakt mit anderen? – Wie verhalten sich Gruppenteilnehmer in Bewegungsszenen oder Improvisationen bezüglich gegenseitiger Einfühlung und gegenseitiger Unterstützung oder Abwendung oder Boykott oder Angriffslust und so weiter?
Grundlagen der Säuglingsforschung und der Mentalisierungstheorie Die Interventionen, die die Autoren seit langem benutzen, gehen auch auf entwicklungstheoretisch, objektbeziehungstheoretisch und selbstpsychologisch fundierte Konzepte zurück. Insofern mag es nicht erstaunen, dass Begrifflichkeiten, die sich heute in der modernen Säuglingsforschung – inklusive der Mentalisierungstheorie – finden, auch im praxeologisch orientierten Konzept des Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialogs enthalten sind. Das frühe Selbsterleben Säuglinge sind von Anfang an multimodal ausgestattet und verarbeiten ihre Erfahrungen sehr körpernah (Dornes 1993; 2000).
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Das heißt, sie können zum Beispiel Reize, die sie über die Augen empfangen, mit dazu gehörigen auditiven oder taktilen Reizen verbinden (Stern 1992). Aber sie empfinden sich selbst und diese Reizbündel, so Fonagy (2003) und Fonagy et al. (2004), zunächst nur relativ global und diffus (primary awareness). Sie sehen und spüren vor allem über ihre Körpersinne das Verhalten ihrer Bezugspersonen. Frühes Selbsterleben zeigt sich vor allem körpersprachlich, und die körperlich vermittelten Gefühlszustände anderer Menschen, in die deren mentale Zustände eingebunden sind, kommen in dyadischen Interaktionen ebenfalls vor allem körpersprachlich zum Ausdruck. Aus vielen ähnlichen Interaktionen, die anfangs vor allem aus Füttern, Pflegen, Beruhigen und kleineren Spielaktionen bestehen, dekodiert der Säugling relevante Aspekte, die sein späteres Bild von sich selbst und der Welt prägen werden. Erst ab circa neun Monaten beginnt der Säugling, mentale eigene und mentale Zustände von anderen Menschen als Wünsche, Gefühlsbotschaften, Appelle, Aufmerksamkeitsfokussierungen oder -defokussierungen zu erfassen. Er erlernt allmählich, eigene Gefühle und Handlungsimpulse als von inneren Zuständen gesteuert von den Zuständen anderer Menschen zu unterscheiden. Dies gelingt ihm aber nur durch Überprüfung seines Selbsterlebens in immer komplexer werdenden Interaktionen. Frühe Mentalisierung wird hier also als ein Prozess aufgefasst, der aus einer Verschränkung von Reifung und Lernen in affektmotorischen Interaktionssituationen entsteht. Mentalisierung meint die Fähigkeit zum Abbilden sekundär-symbolischer Repräsentanzen der eigenen Zustände, was heißt, sich Verhaltensäußerungen anderer durch die Zuschreibung seelischer Zustände zu erklären. Das Verhältnis zu sich und zu anderen wird ein Leben lang durch solche Mentalisierungsprozesse bestimmt, deren Art und Weise des Funktionierens in frühen Interaktionen erworben wurde. Die frühe Mentalisierungsfähigkeit ist mit etwa 4 bis 5 Jahren in ihren Grobstrukturen erworben. Mentalisierung bei älter werdenden Kindern und Erwachsenen beinhaltet weitergehende Fähigkeiten, nämlich: vermutete mentale Zustände anderer Menschen zum Gegenstand des eigenen Nach-Denkens zu machen. Denken über Denken, oder
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Reflexion im Sinne von Metakognitionen, beginnt ebenfalls mit etwa 4 bis 5 Jahren, ist aber ein Prozess, der erst im jungen Erwachsenenalter als relativ abgeschlossen gilt. Ein mentales und repräsentationales Weltbild entsteht also allmählich und verändert sich: Das Kind und später der Erwachsene können sich immer besser vorstellen, dass die eigene Subjektivität ein Resultat des Hervorbringens eigener Denkleistungen ist, wie auch die Tatsache, dass es sehr verschiedene subjektive Konstruktionen von Weltbildern gibt. Die Grundannahme von Fonagy und Mitarbeitern besagt: Die Zusammensetzung von Affektanteilen und die allmähliche Bewusstwerdung diffuser innerer (Gefühls-)Zustände als bestimmte, abgegrenzte Gefühle kommen durch elterliche Stellungnahmen zu den sichtbaren Affektausdrücken des Säuglings zustande (Dornes 2006, S. 188). Ein Fazit der Mentalisierungsforschung heißt: Gelungene Spiegelerfahrungen führen zu immer besser gelingender Mentalisierungsfähigkeit. Die Verdienste der Arbeitsgruppe um Fonagy sind, kurz gefasst, folgende: – Mentalisierung wird als ein Prozess verstanden und als eine Fähigkeit nicht nur der Reifung, sondern auch als abhängig von affektiv-interaktiven Qualitäten der primären Bezugspersonen. – Zentral ist hierbei die Fähigkeit der Bezugspersonen, die Zustände des Kindes angemessen zu spiegeln. – Mentalisierung ist keine intellektuelle Leistung, sondern eine intuitive Umgehensweise mit der inneren seelischen Verfassung des Säuglings. Die psychische Entwicklung als spiegelnder Interaktionsprozess Wie entsteht, genau betrachtet, die menschliche Mentalisierungsfähigkeit durch frühe Interaktionen? Säuglinge zeigen zunächst verschiedene Formen von Emotionsausdruck, haben aber vermutlich kein klares Bewusstsein davon beziehungsweise von ihren eigenen oder den emotionalen Zuständen ihrer Bezugspersonen. Vielleicht empfinden sie eine eher lustvolle beziehungsweise unlustvolle Tönung, eine unterschiedliche Stärke
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des inneren Zustands als eine eher angenehme beziehungsweise unangenehme Spannung. Die Säuglingsforschung geht von angeborenen Systemzuständen (states) aus, die sich in einer selbstorganisierten Weise abwechseln, aber zunächst einer starken Regulation von außen bedürfen. Es handelt sich dabei um fünf Zustände: die ruhige und die aktive Wachheit, der flache und der tiefe Schlaf und der Schreizustand. Das Kind erfährt aber eine zunehmend deutlichere Eigenwahrnehmung seiner Selbstzustände und der damit verbundenen (primären) Gefühle (Izard 1977) durch spiegelnde Reaktionen der Bezugspersonen auf seine Zustandsorganisation. Versteht die Mutter oder der Vater, wie das Schreien gemeint ist? Handelt es sich zum Beispiel um hungriges, müdes, aufgeregtes oder wütendes Gebrüll? Erst die angemessene Reaktion der Bezugsperson, die zur Regulation des unlustvollen Zustandes beiträgt, verhilft dem Kind, sich besser zu fühlen. Subjektivität ist demnach ein Resultat von Intersubjektivität, wiewohl dies über weite Strecken des ersten Lebensjahres hinweg noch nicht anders als global und körpernah, eben über die Sinne, empfunden werden kann. Der Säuglingsforscher Stern (2005) plädiert sogar dafür, das Intersubjektivitätssystem als ein angeborenes Motivationssystem zu definieren, das er neben die fünf von Lichtenberg (1989) favorisierten angeborenen Motivationssysteme zur Regulation der Physiologie, der Bindung, der Exploration, der Aversion und der Sensualtität/Sexualität stellt. Was müssen frühe Bezugspersonen tun, damit sich die Mentalisierungsfähigkeit ausprägen und gut entwickeln kann? Eltern sind normalerweise intuitiv dazu in der Lage, ihren Kinder emotional angemessen zu begegnen, sie gut zu versorgen und mit ihnen zu spielen. Sie müssen, so Fonagy et al., allerdings die Fähigkeit besitzen, die Affekte ihrer Kinder auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu spiegeln. Voraussetzungen für das Verständnis dieses Modells der Affektspiegelung beziehungsweise des entwicklungsfördernden Spiels sind dabei folgende Annahmen:
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Es erfolgt eine Markierung der Affektantwort, indem der Emotionsausdruck des Säuglings kongruent erfasst und in einem sogenannten Als-ob-Modus widergespiegelt wird. Markierung meint einerseits das Wiederholen und Wiederherstellen der gezeigten Affekte, aber in einer spielerisch-übertriebenen Form. Die Übertreibung führt dazu, dass der Säugling die Unechtheit in der Darstellung der Eltern bemerkt, und damit wird der Unterschied zwischen Ausdruck (eigener Gefühle, durch die Eltern gespiegelt) und Darstellung von etwas Lust-Bringendem beziehungsweise Unlust-Reduzierendem, »leicht Fremdem«, gemacht. Als referentielle Entkopplung und referentielle Verankerung bezeichnen Fonagy et al. einen zweiten Schritt, den der Säugling wohl automatisch tut: Der Säugling kann die Besonderheit im Affektausdruck der Eltern als einen Als-ob-Modus entkoppeln und dann sogar auf sich selbst zurückbeziehen. Voraussetzung dafür ist, dass er sich erstens angesprochen und zweitens in seinem Affektausdruck grundsätzlich verstanden fühlt. Das symbolische Spiel nimmt zwischen 1,5 und 4 Jahren denselben Stellenwert wie die Affektspiegelung (mit Markierung und referentieller Entkopplung bzw. Verankerung) im 1. Lebensjahr ein. Im freien Spiel liegt häufig eine szenische Übertreibung vor, eine leichte Verfremdung der Wirklichkeit, was die spielerische Erlebnisspannung ausmacht. Kinder lieben skurrile Verkleidungen, bauen ausgefallene Phantasie-Häuser und genießen das Mit-Spielen in ihrer Welt. Das Kind oszilliert allerdings noch zwischen zwei Modalitäten hin und her: dem Alsob-Modus (pretend mode), der im beantwortenden Spiel immer mehr dazu führt, dass fremdes Erleben von eigenem unterschieden werden kann, und dem Modus der psychischen Äquivalenz (psychic equivalence mode), der eher Vermischungen zwischen der gesehenen und der selbst erlebten Realität enthält. So wechseln Kinder in ihren Erzählungen über ihr Spielen häufig zwischen Echtzeit und Spielzeit, zwischen echter Umgebung und Spielumgebung hin und her. Aber auch im Spiel selbst kommt es zu Vermischungen der Wirklichkeitswahrnehmung mit der Spiel-Wahrnehmung. Die Integration beider Modi erfolgt ab circa 4 Jahren im Reflexionsmodus (reflecting mode).
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Es wird angenommen, dass zum Beispiel bei Borderline-Patienten dieses Stadium des Oszillierens zwischen den beiden Modi nicht überwunden wird. Die Phase der Integration, also eines reflektierenden Modus über das, was gedacht wird, wird nicht erreicht. Jeder Kliniker weiß, wie schwierig es ist, Gesagtes als aus einer bestimmtem Perspektive Gesagtes bei diesen Patienten zu verankern. Borderline-Patienten sind häufig zum Einnehmen einer anderen Perspektive nicht in der Lage: Sie können nicht gedanklich spielen. Die Theorie der Mentalisierung beinhaltet, zusammengefasst, zweierlei: – Mütter und Väter müssten im Kontakt mit ihren Säuglingen kongruent sein. Das heißt, sie sollten möglichst in ihrer Regulationsantwort auf den aktivierten Zustand ihres Kindes dieselbe Affektkategorie treffen, die das Kind intendiert hat. Das bedeutet beispielsweise, dass ein Lächeln mit Freude beantwortet werden sollte und nicht mit Trauer. – Väter und Mütter müssten zwar ernsthaft auf den gezeigten Zustand bezogen sein, aber gleichzeitig auch unaufgeregt beziehungsweise spielerisch mit den gezeigten Zuständen umgehen können. Fonagy et al. nennen dies markieren. Als angeborene Fähigkeit gilt die Ammensprache, die keine andere Funktion als die der Markierung hat (Papoušek u. Papoušek 1995). Laute des Babys beziehungsweise dessen Haltungsveränderungen, Bewegungen, Gestik und Mimik werden durch Mütter oder andere Bezugspersonen fast automatisch in ganz bestimmter Weise beantwortet: in einem übertriebenen Ausdruck, nämlich höher, breiter, repetitiver, variationsreicher und langsamer. Das heißt für die Übertragung auf die therapeutische Ebene, dass ebenfalls Kongruenz und das Spielerische im Umgang mit Affekten wichtig sind, um die prozedurale Ebene des Erlebens zu erreichen und um die Chance zu haben, affektive Bahnungen positiv im Hinblick auf Umkodierungen zu beeinflussen. Bevor an einem Beispiel aus der Praxis gezeigt wird, wie eine Psychotherapie in der Gruppe in dieser Hinsicht unter Einbezug kreativer Medien und der Bewegung aussehen kann, sollen zu-
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nächst kurz Ausdrucks- und Darstellungsfunktion der Körpersprache, die für das kindliche Spiel eine wichtige Rolle spielen, erläutert werden.
Aspekte einer gemeinsamen Handlungstheorie der Sprache und der Körpersprache: Die Bedeutung von Darstellung und Ausdruck Im Folgenden sollen die oben erläuterten Annahmen mit Bezug auf einige Aspekte aus der Linguistik diskutiert werden. Einige linguistische Theorieansätze sind auch eine Referenz für eine psychotherapeutisch nutzbare Theorie der Körpersprache, auf die sich Gruppenpsychotherapie im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog gründet. Die Wiederholungen und übertreibenden, spielerisch modifizierten Darstellungen der Affektausdrücke des Säuglings durch die Bezugspersonen werden vom Säugling als kleine Unterschiede im Sinne kleiner »Unechtheiten« registriert, so dass ihm einerseits das Gleiche, nämlich sein eigener Ausdruck, im Blick oder in der Handlung der Mutter entgegenkommt und gleichzeitig die Darstellung von etwas, das außerhalb seiner eigenen Wahrnehmung liegt. Was die Bezugsperson nämlich tut, ist, dass sie im Umgang mit dem Kind eine Szene konstruiert und darin etwas darstellt, das eine Interpretation des kindlichen Zustands aus einer anderen Perspektive enthält. Dadurch wird der eigene Ausdrucksanteil des Babys sozusagen doppelt widergespiegelt, einmal als zutreffend entschlüsselter Appell und zum zweiten als interpretierte szenische Darstellung eben dieses Affektzustands. Jedes Zeichen der Sprache und der Körpersprache ist demnach unter drei Aspekten zu sehen: – Als Symptom (im Sinne von Anzeichen), da es Inneres von einem Sender externalisert und dabei Partikel unbewusster Botschaften enthält. – Als Signal, das in seinem Appellcharakter von einem Gegenüber erschlossen werden muss und ebenfalls unbewusste und bewusste Partikel von Entschlüsselungsabsichten enthält.
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– Als Symbol, das auf etwas verweist, das außerhalb von Sender und Empfänger liegt, da es einen Bezug zu Gegenständen und Sachverhalten darstellt. Zur Veranschaulichung möge das Kommunikationsmodell von Karl Bühler (1934/1965) dienen. Die durchgehende Linienschar symbolisiert die Ausdrucks- und die Appellseite bezüglich Sender beziehungsweise Empfänger einer Botschaft. Der Darstellungsaspekt jeder Botschaft verweist auf das außerhalb von ihm selbst Liegende.
Gegenstände und Sachverhalte
Darstellung
Appell
Ausdruck
Z
Sender
Empfänger
Abbildung 1: Das Organon-Modell von Karl Bühler
Dieses berühmte Organon-Modell2, das bis heute einen theoretischen Ansatz für eine Theorie von Sprechhandlungen geliefert 2 Der Begriff stammt von Platons Bemerkung aus dem Kratylos-Dialog, Sprache sei ein Werkszeug, also ein »Organon«, »damit einer dem anderen etwas mitteile über die Dinge«.
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hat, kann problemlos auf alle Botschaften beziehungsweise Zeichen bezogen werden, unabhängig davon, ob sie sprachlicher oder nichtsprachlicher Natur sind. Das heißt für die frühe Kommunikation Folgendes: Mit einem aktivierten Körperzustand sendet ein Baby eine Botschaft beziehungsweise gibt ein Zeichen (oder mehrere), das es mit einem Ausdruck versieht. Der Empfänger, die Bezugsperson, empfängt also ein oder mehrere (Körper-)Signal(e) und erschließt hieraus einen (möglicherweise mehrdeutigen) Appell mit den Mitteln der Einfühlung in das Baby und durch sinnliche Wahrnehmung, also durch Beobachtung von Symptomen als Anzeichen des jeweils aktivierten »States« beziehungsweise des aktivierten Motivationssystems des Säuglings (Trautmann-Voigt u. Voigt 2008, im Druck). Allerdings handelt es sich nicht nur um visuelle Beobachtung, sondern um komplexe Wahrnehmungen von Handlungen, die sich in Gestik, Mimik, Haltung, Spannung, Lauten, Blicken erfassen lassen. Zur genauen Einordnung solcher Handlungskomplexe wurde ein bewegungsanalytisch fundiertes Interaktionsanalyse-System vorgeschlagen (Trautmann-Voigt u. Zander 2007). Angeboren scheint die Tatsache zu sein, dass Kinder Affektantworten anderer Menschen immer auf sich selbst beziehen. Unmarkierte Affektantworten, also solche, die die Ausdrucksseite völlig ignorieren oder stark verzerren, oder solche, die auf eine markierende Darstellung ganz verzichten, zeigen aber die elterlichen Affektzustände sozusagen pur. Das heißt, statt Appellentschlüsselung und Darstellung stürzt der ungefilterte eigene Ausdruck der Bezugsperson auf das Baby ein, das zunächst nicht zu angemessener Appelldekodierung, geschweige denn zu einer modellierenden Gegendarstellung und Interpretation in der Lage ist. Dieser ungefilterte elterliche Affektausdruck ist für das frühe Selbsterleben des Säuglings zunächst fremd und erst einmal zu weit vom eigenen Erleben entfernt. Der »fremde« Affektzustand wird dennoch aufgenommen – anstelle des spielerisch gefilterten eigenen Zustands. Die Psychoanalyse benutzt hierfür den Terminus des Introjekts. Solch eine unmarkierte, inkongruente und damit fremde Affektantwort wäre zum Beispiel, wenn die Freude eines Kindes mit einem Ärgeraffekt der Mutter beantwortet würde. Das
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Kind erlebt sich dann als jemanden, der Ärger verursacht. In der Folge könnte repräsentiert werden, dass eigene freudige Zustände nicht ankommen, sie werden dann auch in der Folge eher zurückgehalten. Eine andere Möglichkeit wäre, dass das Kind sich ärgert, die Bezugsperson darauf aber mit überbordender Wut, zum Beispiel mit Schlägen, reagiert. Dann erfolgt keine Modifikation des kindlichen Affekts, sondern eine Eskalation des primären Zustandes durch eine Überflutung von Reizen. An den Reaktionen anderer Menschen erlebt der Säugling also das Bild seines eigenen Affektzustands. Das Gesicht der Mutter oder des Vaters fungiert dabei wie ein Bildschirm oder Spiegel, der dem Säugling anzeigt, wie er sich fühlt. Zentral ist dabei der spielerisch-markierende Umgang mit den Affekten. In falschen Spiegelungsprozessen entstehen hingegen verzerrte sekundäre Repräsentationen der primären Selbstzustände. Ein Beispiel hierfür ist das Kind, das Angst hat, die aber als Müdigkeit oder als Spiellust interpretiert wird. Das Kind kann in solch einem Fall seinen Affekt nicht mehr wiedererkennen, und es kommt zu affektiven Diffusionen, mit anderen Worten: Bei falscher oder häufig verzerrter Spiegelung der Affektzustände des kleinen Menschen kann das symbolbildende Potential der geistigen Kapazitäten des später Erwachsenen Schaden genommen haben. Aus Sicht der Autoren soll darauf hingewiesen werden, dass es nicht die Augen allein sind, die Affekte spiegeln können, sondern dass rhythmisch-dynamische Phänomene sowie Intensitätskonturen im Raum, in der Körperform und mit Hilfe muskulären Einsatzes auf das ganzkörperliche Empfinden des Säuglings über alle vernetzten Sinne einwirken. Wenn die beiden Interaktionsmodi Affektmarkierung und Kongruenz multimodal gewährleistet werden, dann kann das Kind seine eigenen Empfindungen sozusagen gereinigt im Anderen wiedererkennen. Psychotherapeutisch scheint es angeraten zu sein, so etwas Ähnliches wie positive frühe Beziehungsmuster herzustellen, die Patienten die Varianten des Als-ob-Spiels erfahrbar machen, damit die Fähigkeit zur Perspektivübernahme und überhaupt zur Multiperspektivität erlernt werden kann. Dies ist zum Beispiel
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mit Hilfe multimodaler Therapieansätze möglich. Der gezielte Einsatz von kreativer Bewegung und Musik soll im Folgenden darstellen, wie Gruppentherapie im Spiegel der Bewegung zu einer Verbesserung der Mentalisierungsfähigkeit beitragen kann.
Alberts Problem – Eine Gruppenpsychotherapiestunde im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog Zunächst soll die Entwicklung des Themas einer Gruppenpsychotherapiestunde aus dem vergangenen Jahr dargestellt werden. In einer Stunde meldet der 39-jährige Albert ein Problem an: Er habe festgestellt, dass er sich häufig durch seine Kinder, wenn sie spielen und Lärm machen, überfordert fühle. »Ich habe Angst, dass ich ihnen ihre lebendigen Impulse wegnehme, wenn ich nur so dasitze«, sagt er mit leiser, trauriger Stimme. Die beiden 4 und 5 Jahre alten Mädchen hätten im Kindergarten Kreisspiele gelernt, die sie nun zu Hause andauernd machen wollten. In der Gegenübertragung breiten sich Traurigkeit und Müdigkeit aus bei gleichzeitig anwachsender Nervosität und Ungeduld ob seiner ausgedehnten Redeweise. »Meine Frau hat dabei eine Engelsgeduld.« Er aber werde regelmäßig aggressiv, müsse aus dem Zimmer gehen, um nicht zu schimpfen, dass er abends seine Ruhe haben wolle. Seine Erzählweise ist eher monoton, wiederholend, langatmig. Er sitzt im Schneidersitz auf dem Boden, den rechten Ellbogen aufs rechte Knie gestützt, das Kinn in der rechten Hand liegend. Er ist nach vorn gebeugt und in der Taille leicht verwrungen. Es sieht so aus, als würde er demnächst nach rechts zur Seite wegkippen. Der ganze Körper scheint aus der Balance geraten. Ziemlich unvermittelt bricht er diese Darstellung ab und berichtet davon, dass er zurzeit arge Probleme mit seiner Mutter habe, die ganz in der Nähe wohnt. Er habe sich ihr gegenüber »mehr oder weniger komplett verweigert«, sie erst zweimal in diesem Jahr besucht (es ist November). Mit immer lauter und fast schrill werdender Stimme sagt er, dass er überhaupt keine Lust mehr habe, mit ihr in Kontakt zu treten, nicht einmal zu ihrem Geburtstag, der nächste Woche sei, wolle er gehen, was schon zu Konflikten mit seiner Frau geführt habe! Während er dies, immer lauter werdend, ausspricht, richtet er sich auf, stützt beide Handballen, mit nach innen gerichteten Fingern, auf die Knie, streckt sich, ausgehend vom Rücken ganz
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lang und spannt sich dabei im gesamten Rumpfbereich sichtbar stark an. Dann bricht er, fast so unvermittelt, wie dieses Thema begann, ab und nimmt seine vormalige Sitzhaltung wieder ein. Dann scheint er abzuwarten. Weder nimmt er das Ausgangsproblem bezüglich seiner Kinder auf, noch ergänzt er etwas bezüglich seiner Mutter. Die entstehende Stille wirkt in der Gegenübertragung aufgeladen und gleichzeitig erdrückend. Einzelne Gruppenmitglieder äußern sich nach einiger Zeit spontan: Sich von seiner Mutter zurückzuziehen und Schuldgefühle darüber zu entwickeln, weil er mehr Zeit mit seiner eigenen Familie verbringen wolle, sei wohl sein Problem. Vielleicht sei sein Wunsch aber angemessen, da er sich ein Leben lang als Ältester für die Mutter eingesetzt habe! Darüber könne er sich doch freuen! Einige Teilnehmer kennen das Problem auch aus der eigenen Familiengeschichte. Die meisten gehen zunächst auf die Affekte und Bedürfnisse ein, die sie Albert zuschreiben: Wunsch nach Ruhe, Wunsch nach Kontakt mit seinen Kindern, aber Unvermögen dazu, Distanzierungsbedürfnisse von seiner Mutter, Schuldgefühle, unterdrückter Ärger. Ziemlich unvermittelt und ohne Übergang wechselt die Intensität, und der Bezug zu Albert und seinem Problem geht verloren. Die Teilnehmer reden nur noch von sich selbst und Problemen mit ihren eigenen Müttern. Es entfaltet sich ein heftiger Disput über zu invasive oder zu klammernde oder zu bevormundende oder zu wenig präsente Mütter – Albert ist nicht mehr dabei, weder für die Anderen, noch scheint er selbst weiter an dem, was er ausgelöst hat, interessiert zu sein. Er sitzt wie ein Häufchen Elend da und scheint in sich zusammengefallen zu sein. Seine Ellbogen ruhen auf den nach außen geklappten Oberschenkeln, sein Kopf hängt nach unten, er spielt versonnen an seinen Fingern herum. Er macht offensichtlich eine Pause im Kontakt. Soweit die Szene.
Jenseits psychodynamischer Deutungen und aktuell inszenierter Konfliktthemen im Spiegel der Gruppe soll zunächst auf die rhythmisch-dynamische Kontur dieser Szene aufmerksam gemacht werden. Dabei zeigen sich unbewusste Darstellungs-, Ausdrucks- und Appellanteile in Sprache und Körpersprache. Bewegungs- und interaktionsanalytische Aspekte der Affektspieglung in der Gruppe Die spezielle rhythmisch-dynamische Passung sowie die Aufmerksamkeitsfokussierung auf den Körper in seiner Haltung oder Formung im Raum, also die Orientierung sowie die In-
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tensitätsentwicklung in der Stimmführung und der Umgang zum Beispiel mit Kontinuität oder abrupten Wechseln in dieser kurzen Szene sind in zweierlei Hinsicht interessant: – Bezogen auf das rhythmisch-dynamische Ausdrucksverhalten des Patienten: Der Patient bricht unvermittelt und abrupt seinen Bericht über sein Problem, mit den Kindern nicht spielen zu können, ab und erzählt vom Rückzug von seiner Mutter. In der ersten Sequenz spricht er langsam, bewegt sich wenig, zeigt – rein körperlich (?) – eine unbalancierte, verspannte Haltung. Seine affektive Beteiligung an diesem Thema sowie sein Wunsch, sich als Vater anders verhalten zu können, werden deutlich spürbar. In der zweiten Sequenz wird er immer lauter und spricht schneller, wird heftiger in Stimmführung und Körperhaltung und steigert sich im Affekt, um dann abrupt in sich zusammenzusinken und in eine Art selbstversunkener Lethargie zu verfallen. – Bezogen auf die Gruppendynamik und die Spiegelung der Szene unter rhythmisch-dynamischen Gesichtspunkten: Die Gruppenmitglieder gehen zunächst auf die gezeigten Affekte des Patienten ein. Sie sprechen nacheinander, in einem gemäßigten Tempo. Plötzlich, unvermittelt und abrupt wechselt die Gruppe den Fokus. Albert ist außen vor, die Diskussion über »furchtbare Mütter« wird heftiger, einige fallen sich gegenseitig ins Wort, werden lauter, versuchen sich, gegeneinander anredend, Gehör zu verschaffen, die gesamte Szene wird bewegter. Dies steht in krassem Gegensatz zur Körperhaltung und Alberts eingeschränkten Bewegungsrepertoire. Auffällig ist, wie dieser Rhythmus und die dynamische Entwicklung, die Albert anfangs gezeigt hat (von langsam und gedehnt über einen abrupten Abbruch bis hin zu heftiger, schneller und lauter, insgesamt ankämpfender), sich im Spiegel der Gruppe wiederholt. Das eigentliche Thema, nämlich dass Albert eigentlich mit seinen Kindern in einen spielerischen Kontakt eintreten will, dies aber nicht kann, ist wie weggeblasen. Es entsteht – und das ist es, worauf die Autoren in der Intervention zunächst fokussieren werden – eine Affektansteckung bezüglich Intensitätskonturen im Raum, in der Zeit und bezüglich der Kraft, die
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aufgewendet wird, um die Inhalte der Kommunikation zu transportieren. Auf der prozeduralen Ebene der nonverbalen Kommunikationsangebote durch die Gruppe stellt sich eine maladaptive Dynamik und Reinszenierung einer frühen Szene dar, in der sich Albert offensichtlich ausgegrenzt fühlt(e). Dies kommt in der Dynamik der Sprechweisen und Körperaktionen, die hier nicht im Einzelnen dargestellt werden können, zum Ausdruck. Der unbewusste Appell von Albert wird noch nicht verstanden, sondern als Affektansteckung agiert. Gruppentherapie im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog fokussiert auf die Intensitätskonturen und die affektmotorischen Handlungsimpulse, mit anderen Worten auf die Affektpartikel, die sich multimodal vermitteln und ebenso multimodal (und zunächst unreflektiert durch Gruppenmitglieder) widergespiegelt werden, was zu spontanen Regressionen führen kann, die als Körperzustände und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch als psychische Zustände interpretiert werden können (Voigt 1997). In Alberts Fall sitzt da ein in sich zusammengefallener kleiner Junge. Die Ausgangsidee, mit der er angekommen ist, hat sich in etwas anderes verwandelt. Er hat keine Chance, in das Gespräch wieder hineinzukommen, denn es geht um die Anderen und ihre Probleme. Die therapeutische Gegenübertragung stellt sich als eine Mischung aus Traurigkeit, Verzweiflung, Abgeschottetsein, Hilflosigkeit und einem tiefen Einsamkeitsgefühl dar. Nichts Spielerisches ist zu sehen, keine Freude – aber auch keinerlei Ärger oder Wut. Zur Interventionsentwicklung im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog Folgende These soll nun erläutert werden: Durch gezielte sensomotorische Aktivierungen von Seiten des Therapeuten kann die Aufmerksamkeit von Patienten und Patientinnen im gruppenpsychotherapeutischen Setting auf das prozedurale Unbewusste gerichtet werden mit dem Ziel, auf der nonverbalen Ebene spielerisch zu experimentieren mit Affektausdruck, Affektdarstellung und der Appellfunktion der Bewegung. Spielerisch können
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durch Bewegungen, gestützt durch Musik, variantenreiche Alsob-Handlungen im Bewegungs- oder Körperkontakt erlebt und darüber neue Kodierungsmöglichkeiten für prozedurales Beziehungswissen allmählich etabliert werden. Kommen wir auf Albert zurück. Es ging den Therapeuten zunächst nicht um eine Bewusstmachung dessen, was sich hier abspielte. Vielmehr sollte aktiv das zurückgeholt werden, was wahrscheinlich zum aberhundertsten Mal verloren gegangen war: das Thema Spielen, allerdings durch Anknüpfung auf der affekt-motorischen Handlungsebene und nicht auf der kognitiven Ebene. Um das Thema Spielen, um das es Albert gegangen war, wieder einzubeziehen, wurde lediglich eine Frage in den Raum gestellt, die als Standardrhetorik an solchen und ähnlichen Stellen, wo sich negative Reinszenierungen beziehungsweise negative Übertragungs-Gegenübertragungskonstellationen entwickeln und eine Stagnation im Gruppenprozess entsteht, von den Autoren eingesetzt wird: »Sollen wir das, was jetzt entstanden ist, mal in Bewegung umsetzen?« Dahinter steht eine Analyse des vorher abgelaufenen Interaktionsprozesses, auf den hier aus Platzgründen nicht eingegangen werden kann. Aus dieser Analyse bezüglich des Gruppenthemas, der gezeigten Gruppeninteraktionen und auf der Basis der biographischen Kenntnisse entsteht ein Entwurf für eine Handlungsexploration. An solchen Stellen bringt es nämlich, nach Erfahrung der Autoren, eher weniger, verbal zu explorieren, Deutungen zu platzieren oder den Prozess einfach nur so weiterlaufen zu lassen. Viel häufiger entstehen, provoziert durch einen intendierten Ebenenwechsel und eine Handlungsaufgabe, zunächst affektive Verstärkungen, und im anschließenden Prozess finden sich spielerische Lösungsansätze, die die Gruppe selbst entwickelt. Erst in weiteren Stundenabschnitten gibt es auswertende Gesprächsphasen. In diesem Fall wurde von der Therapeutin ohne weitere Worte eine Kinderliedkassette aufgelegt, die ein anderer Gruppenteilnehmer vor etwa sechs Wochen mitgebracht hatte, um sie der Gruppe vorzuspielen. Diese Musik war damals als allseits bekannt wiedererkannt worden und hatte alle möglichen Erinnerungen aus Kindheitstagen ausgelöst.
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Was passiert in der Gruppe auf der nonverbalen Ebene? Einige Teilnehmer stehen, als die Musik beginnt, spontan auf und bewegen sich zu der bekannten Melodie. Albert steht auch auf, zieht sich jedoch sofort in Richtung Fensterbank zurück. Dort setzt er sich hin, halb abgewandt. Auch Ursula stellt sich an ein (anderes) Fenster, weit entfernt von Albert, und schaut mit verschränkten Armen hinaus. Es entwickelt sich eine interessante Dynamik: Eine Teilnehmerin, die von Beruf Kindergärtnerin ist, leitet die Gruppe spontan an und tanzt mit denen, die mitmachen, einen von ihr selbst zu diesem Lied choreographierten Tanz. Die Gruppe, außer Albert und Ursula, hat offensichtlich viel Spaß, die meisten lachen und hopsen und springen wie kleine Kinder. Die Therapeuten gehen währenddessen aktiv auf Albert und Ursula zu und regen sie verbal an, genau auf ihre körperlichen Impulse zu achten. »Willst du auf der Fensterbank so sitzen beziehungsweise stehen bleiben?« »Wie fühlt sich das jetzt im Körper an?« »Wenn du etwas verändern möchtest, zum Beispiel deine Position im Raum, dann folge diesem Impuls und tue es!«3 Albert wendet daraufhin den Kopf und schaut dem lustigen Treiben zu. Er wirkt traurig, schaut aber die ganze Zeit zu. Ursula dreht sich nicht um und schaut, wie gebannt, mit hochgezogenen Schultern, die Füße und die Arme verschränkt, aus dem Fenster. Es wirkt so, also ob sie nach dieser Intervention erst recht den Kontakt zur Gruppe meiden wolle, wiewohl sie in der Gesprächsphase diejenige gewesen war, die sich vehement dafür ausgesprochen hatte, dass Albert doch einfach mal »über seinen Schatten springen« solle und eben nicht aus dem Zimmer laufen solle, wenn seine Frau mit den Kindern den Kindergartentanz tanze! Sie wirkt wie eingefroren und verzieht keine Miene. 3 In der Gruppe wird geduzt. Dies ist eine Art des vertrauten Umgangs, die sich in vielen körpertherapeutischen Settings fast automatisch einstellt. Sie ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass seit der Rezeption von Gruppentherapiemethoden, die ursprünglich der Humanistischen Bewegung, die sich in den USA ausgebreitet hat, entstammen, die nur im deutschsprachigen Raum so scharf aufrechterhaltene Trennung zwischen Du und Sie aufgeweicht ist.
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Auswertungen im ersten Gespräch Nachdem das Stück zweimal gelaufen ist, setzt sich die Gruppe in einen Kreis am Boden, um über das Erfahrene zu berichten. Die meisten fanden es lustig, hatten Spaß und fühlten sich an ihre Kindheit erinnert. Als die Therapeuten nachfragen, wie die Teilnehmer denn Albert und Ursula erlebt hätten, stellt sich schnell heraus, dass sie die beiden so gut wie gar nicht wahrgenommen haben. Einige hatten Albert zwar aus den Augenwinkeln gesehen, aber nicht weiter auf ihn geachtet. Ursula, die sich weggedreht hatte, hatte auf die Gruppe so gewirkt, als ob sie eben keine Lust gehabt habe. Albert und Ursula werden gefragt, wie sie sich jetzt fühlen würden: Albert bestätigt, dass er zwar interessiert zugeschaut habe, aber eine »Blockade hatte«, selbst mitzumachen. So ähnlich sei es, wenn er seinen Kindern zuschaue! Und außerdem habe er auf einmal daran denken müssen, dass er sich schon als kleiner Junge immer »außen vor« gefühlt habe: Er durfte nicht in den Fußballverein, weil er nachmittags immer auf seine kleine Schwester aufpassen musste. Und noch davor habe er sich manchmal heimlich hinter die Gardine gestellt und zugeguckt, wie die anderen Jungen draußen auf der Straße gespielt hätten. Diese Erinnerung sei ihm über die Haltung, die er auf der Fensterbank eingenommen hatte, gekommen. Einige zeigen sich jetzt betroffen, Kerstin äußert, ein schlechtes Gewissen zu haben, weil sie so ausgelassen herumgetollt sei. Albert sagt, er fühle sich jetzt besser als vorhin, da sei alles »so weit weg« gewesen. So wie früher: »Meiner Mutter war doch scheißegal, was ich in meinem Zimmer gemacht habe. Sie wollte nur, dass ich immer verfügbar bin, wenn sie mich brauchte!« Ursula platzt fast vor Erregung: Ihr würde sich hier allmählich alles zuschnüren, und wenn das jetzt hier so weiter ginge, würde sie auf der Stelle rauslaufen! Sie wird gefragt: »Wohin?« Sie antwortet: »Einfach nur raus!« Die Therapeutin: »Wohin genau?« Sie zögert einen Moment und sagt dann: »Raus in den kleinen Raum.« (Das ist ein kleines Wartezimmer, gegenüber der Küche.) Die Therapeutin: »O.k., wenn du diesem Impuls nachgeben möchtest, dann tu das.« Ursula geht wütend hinaus und schmeißt die Tür mit einem Knall zu. Ursula ist bereits seit drei
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Jahren wegen einer starken Angstsymptomatik in der Gruppe. Sie ist weder suizidal noch anderweitig gefährdet. Sie wird in ihrem Affektsturm gelassen, wiewohl nicht allein gelassen! Eine Interventionsentwicklung hin zum Kern des Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialogs in dieser Stunde Der Therapeut hat während dieses kurzen Dialogs eine CD ausgesucht und lässt nun ein Musikstück laufen, das machtvoll, stark, strukturiert und laut beginnt: »Also sprach Zarathustra« von Richard Strauss, was in etwa der Dynamik entsprach, die Ursula an den Tag gelegt hatte. Auf einer amodalen Ebene wird also Ursulas Affektausdruck aktiv aufgegriffen und in diesem Fall musikalisch gespiegelt. Dazu bekommt die Gruppe ebenfalls eine Anregung: Jeder möge seinen Impulsen zu dieser Musik nachgehen. Die Anfangsdynamik des Stücks regt viele Menschen dazu an, ihren Ausdruck für Kraft und Stärke zu finden, jedenfalls dann, wenn die Musik in Bewegung umgesetzt wird. Albert setzt sich nach den ersten Klängen auf den Boden, nachdem der machtvolle Anfang von »Also sprach Zarathustra« verklungen ist und in der zweiten Sequenz die langsamere, getragenere Musik einsetzt: Er zeigt jetzt winzig kleine Bewegungen in den Händen und im Rücken, den er vorsichtig reckt, dehnt und wieder entspannt. Andere bewegen sich frei im Raum, mehr oder weniger auf sich bezogen, und setzen die Musik, jeder für sich selbst oder zu Paaren oder zu dritt, in größere oder kleinere Bewegungen um. Albert wird mehrmals nonverbal kontaktiert. Der Therapeut, bei dem Ursula in Einzeltherapie ist, geht nach einiger Zeit zu ihr und fragt sie, ob sie bleiben oder zurückkommen wolle. Ursula bleibt störrisch draußen sitzen: »Also, ich möchte auf keinen Fall zurückkommen.« Sie wird in ihrem Wunsch, sich weiter herauszuziehen, akzeptiert. Albert hingegen geht auf die Impulse, die von mehreren Teilnehmern kommen, ganz vorsichtig und mit kleinen, zarten Körperbewegungen ein. Er folgt der Dynamik der Musik mit leichten Handbewegungen und leichten Rückenbewegungen. Eine Teilnehmerin setzt sich vor ihn auf den Boden. Sie nehmen vorsichtigen Händekontakt auf. Etwas später setzen die beiden sich Rücken an Rücken. Albert scheint immer weiter und sehr vorsichtig seine Binnenbeweglichkeit im Rückgrat zu testen. Auch andere Gruppenteilnehmer finden sich zu neuen Paaren zusammen oder bleiben allein, aber in Bewegung. Es entstehen immer wieder spontane Abstimmungen, und manche Bewegungsformen wiederholen sich über längere Zeiträume. Diese Dynamik, die sich von allein in der Gruppe entfaltet hat, wird ein
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zweites Mal auf der musikalischen Ebene aufgegriffen: Es werden strukturiertere, mittelschnelle südamerikanische Rhythmen gespielt, die freie Bewegungen ermöglichen, aber auch strukturierte und wiederholbare, einfache Bewegungen erlauben. Zu dieser Musik kommt spontan Ursula zurück und reiht sich ein, als sei nichts gewesen. Sie lacht und bewegt sich mit einer Teilnehmerin in etwa so wie beim Salsa-Tanzen.
Das zweite Auswertungsgespräch an diesem Abend Im Auswertungsgespräch sagt sie, die Musik habe sie wieder »in den Raum zurückgeholt. Mit dem letzten Stück konnte ich was anfangen.« Und sie habe eine interessante Erfahrung gemacht: Das erste Mal im Leben habe sie erlebt, dass ihre Wut auf irgendetwas, von dem sie eigentlich nicht wisse, was es war, »aufgefangen« wurde! Sie hatte das Gefühl: »Ich darf trotzig sein, ich darf mal einfach so die Türen knallen, und dann gibt es kein Gebrüll, und keiner zerrt mich aus dem Zimmer und verprügelt mich. Ich hör’ einfach laute Musik, und die passt irgendwie genau zu dem Gefühl, das ich gerade habe! … Und dann fragt mich sogar noch jemand, was ich will – und ich kann einfach noch mal Nein sagen! Ich kann einfach zurückkommen, wann ich will und wieder dabei sein, und keiner ist mir böse! Das war einfach grandios!« Soweit Ursulas Auswertung. Ursula stammt aus einem strengen Elternhaus, wo auf Pünktlichkeit, Ordnung und gute Tischmanieren geachtet wurde. Widerworte wurden mit strengsten Mitteln unterbunden. Sie wurde geschlagen, hatte sich unterzuordnen und durfte sich niemals zurückziehen, wenn sie Ruhe oder Abstand brauchte, wurde dann, im Gegenteil, zum Vater zitiert, der sie unterwies, was sie zu tun und zu lassen hatte, und sie, »je nach Verschulden«, bestrafte. In gleicher Weise wie Albert war sie als Kind viel allein gewesen, hatte aber, im Gegensatz zu ihm, trotzigen Abstand von anderen Kindern gehalten und war wegen ihrer Schüchternheit viel gehänselt worden. Am Ende dieser Gruppenstunde äußert Ursula sehr bewegt, dass sie heute erfahren habe, »was es heißt, mit den eigenen Gefühlen ernstgenommen zu werden«. Das Herauslaufen sei für sie der Schutz gewesen, nicht in ihre Kindheit zurückzusinken. Über »strukturierte Abläufe«, die sie »in die Jetztzeit zurückbringen«, wolle sie nachdenken. Ursula konnte die rhythmische Strukturierung offensichtlich als Impuls für sich nutzen. Albert berichtet, dass er sich »langsam herangetastet habe«. Er hatte das Gefühl, langsam und ganz allmählich neuen Kontakt aufnehmen zu können. Am Schluss habe er sich entspannt und wohlgefühlt. Albert fühlte sich körperlich angeregt und äußerte die »Hoffnung, meine Kinder bald besser aushalten zu können«.
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Besonders geholfen habe ihm Kerstin, die ihn einfach an den Händen genommen habe, und dann habe sich eine Art »Händetanz« zwischen ihnen entwickelt. »Das war ganz leicht und hat mich an meine Katze früher erinnert.« Dann erzählt er von dieser Zeit: Die Katze sei die einzige Vertraute gewesen. Schon als elf- bis zwölfjähriger Junge, so erzählt er weiter, hatte er viel Verantwortung für seine jüngere Schwester übernommen, die stark entwicklungsverzögert zur Welt gekommen war und immer das »Sorgenkind der Familie« geblieben war. Der Vater des Patienten war spielsüchtig, und die Mutter hatte den Sohn früh zum Ersatzpartner gemacht. Zum Beispiel musste der Patient anlässlich von Gottesdienstbesuchen häufig seine »auf unangemessener Weise« laut lachende oder mit den Füßen aufstampfende Schwester auf die Straße bringen: Der Gang mit ihr durch den Mittelgang der Kirche war ihm stets furchtbar peinlich gewesen. Dies alles erzählt er völlig unaufgefordert. Albert hat »seinen Prozess« in dieser Stunde im Tanz der Hände mit Kerstin weitergeführt. Er sitzt jetzt ganz entspannt und aufrecht im Schneidersitz da und blickt in die Runde, während er spricht, so, als hätte er wieder zu seiner Mitte zurückgefunden.
Der Stundenschluss Nach dem Gespräch wird noch einmal auf das aktuelle Körpererleben in der Gesamtgruppe fokussiert. In einer kurzen Konzentration und Reise durch den Körper soll dem Verlauf dieser Stunde nachgespürt werden. Denn es geht auch darum, altes und neues Körperempfinden vergleichen zu können, Affekte besser differenzieren zu lernen, Bewegtes und Bewegendes zu reflektieren und vielleicht neue Verbindungen zu eigenen intrapsychischen Themen herzustellen. Ausgehend von multimodalen Handlungen soll der Effekt, der im Körper im Moment spürbar wird, besser wahrgenommen und vielleicht auch besser benannt werden können. Interessant ist, dass sich am Ende dieser Stunde alle Teilnehmer körperlich wohl fühlen. Einige fühlten sich durch die wiederkehrenden rituellen Bewegungen des Kindertanzes angeregt, keiner der Gruppenteilnehmer fühlte sich angespannt oder ausgegrenzt. Vor allem Birgit, die Kindergärtnerin, betonte das wohltuende Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sie heute in der langen Bewegungssequenz gespürt habe. Das Thema der Stunde hatte sich so ergeben: Es ging um Selbst-Ausgrenzung, sich ausgegrenzt fühlen, sich abgespalten
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fühlen und um verschiedene spielerische Möglichkeiten des Sich-wieder-Integrierens oder sich In-die-Gruppe-hineinführen-Lassens. Bei Ursula war es eher das abrupte Hinauslaufen, wütendes Türenknallen, Sich-distanziert-Halten und dann, als es ihr selbständig möglich war, die selbst gewählte Rückkehr. Bei Albert ging es eher darum, eine Form der Körpererstarrung aufzulösen, die nach außen ruhig wirken sollte. Er brauchte viel Unterstützung und langsames Angeleitetwerden, um überhaupt in spielerische Gruppenprozesse einkehren oder zurückkehren zu können. Zur Methodik und Interventionsentwicklung der Gruppenpsychotherapie im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog Sensomotorische Aktivierungen von Seiten des Therapeuten sind notwendig, um Als-ob-Situationen auszulösen. Alle Stimulationen, die bei Patienten zu einem bewussteren Körpererleben führen, können auch in den Dienst einer spielerischen Markierung gestellt werden: Dazu gehört der Einbezug von Körperwahrnehmungsübungen, von Musik, Bewegungsimprovisationen, von strukturiertem Tanz und szenischen Interaktionen. Die Autoren möchten die Sichtweise der Mentalisierungstheorie aus ihrer Perspektive ergänzen. Es existieren von Anbeginn des Lebens wesentlich mehr Kommunikationskanäle als nur visuelle Wahrnehmungen in Face-to-face-Interaktionen innerhalb der frühen Dyade, auf die in der Mentalisierungstheorie immer wieder Bezug genommen wird, wenn von Affektspiegelung die Rede ist. Mit dem Konzept des Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialogs wird ein Interaktionsmodell vorgelegt, das die Körpersprache als Affektspiegelungssprache in einer weiteren Palette, nämlich bezogen auf Intensitätserfahrungen, Raumerfahrungen und rhythmisch-dynamische Passungsvorgänge einbezieht. Körpersprache, Affektspiegelung, Passung, Empathie und andere verwandte Begriffe werden in der Terminologie, die die Autoren verwenden, aus der Körpersicht beobachtbar und beschreibbar. Der Arbeit in der Gruppe liegt eine inhärente Struktur zugrunde. Meistens läuft eine gruppenpsychotherapeutische Sit-
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zung in vier Phasen ab, wobei diese sich überlappen und manchmal in einer andern Reihenfolge auftauchen können. 1. Fokussierung auf Körperwahrnehmungen von innen und außen – im Spiegel der Gruppe. Es geht dabei um eine bewusstere Wahrnehmung von der Komplexität und der Macht der Sinne. Es geht um das Erleben der Vernetzung von Hören, Sehen, Riechen, Schmecken, Bewegen und Spüren bei gleichzeitiger Fokussierung auf die Notwendigkeit und die noch verbliebene Fähigkeit zur Differenzierung der kognitiven Wahrnehmung. 2. Ausdruck und (Neu-)Strukturierung von Körpergedächtnisprozessen beziehungsweise affekt-motorischen Handlungsmustern. Es geht dabei um die ausdrückliche Erlaubnis zu szenischer Interaktion, die aktiv zu einer neuen Bewegungsgeordnetheit führen soll. Es geht um eine Exploration und Strukturierung von Modellszenen hinsichtlich ihrer alten und einer neuen Bewegungsordnung, gegebenenfalls mit Rollentausch und szenischen Neuentwürfen mit dem Ziel, im Spiegel der Gruppe alte mit neuen Wahrnehmungen im Hier und Jetzt des Gruppenprozesses vergleichen zu können. 3. Ressourcenaktivierung durch binäre/polare Erlebensformen allein oder im Kontakt mit anderen. Es geht um eine Darstellung von psychischem Erleben in Themen, die sich prozedural erfassen und verbal einordnen lassen, also um Bewegungs- und Ausdruckshandlungen, die gespürt, interpretiert und dann häufig wie von selbst auf die Biographie bezogen werden können, da szenische (episodische) oder prozedurale Erinnerungsspuren sich mit kognitiven Repräsentanzen im Bewegungsausdruck neu verbinden. Es wird häufig nach dem Polaritätsprinzip gearbeitet. Zum Beispiel werden Aufgaben zum Experimentieren mit Stabilität und Labilität, Führen und Folgen, Schieben und Ziehen, Enge und Weite, Frage und Antwort, Slow Motion und Zeitraffer, Gleichzeitig und Nacheinander, Nähe und Distanz, Leichtigkeit und Schwere angeboten, die prozedurale Gedächtnisspuren aktivieren und den speziellen Charakter von nonverbalen Appellen verdeutlichen helfen. 4. Stimulierung positiver neuer Erlebniskonturen und Verbindung mit kognitiven Einordnungen. Es geht um Wahrnehmen, Experimentieren und eine neue Verankerung positiver (non-
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verbaler) Kodierungen in rhythmisch-dynamischen Handlungsdialogen im Hier und Jetzt. Dabei kommt es zum Einsatz von Musik, Ritualen der Bewegung und der Darstellung, meditativen Tänzen, freudigen spielerischen Aktivitäten, kurz: zum Einsatz der kreativen Künste in bewegten Beziehungen, aber auch dazu, dass Therapeuten aktiv Anregungen geben, auf anderen Ebenen Vitalitätskonturen spiegeln, Bewegungsaufgaben als Improvisationsthemen formulieren usw. Sprache und Bewegung können dabei Hand in Hand gehen. Fragen, Deutungen und Erklärungen gehören ebenso dazu wie Konfrontieren oder manchmal auch nur aktives Zuhören und Zeit Lassen zum eigenen Spüren. Die Leitidee der Autoren dabei ist: »Das Selbst ist wie ein Haus mit vielen Türen, durchschreite die, die gerade offen ist.«
Fazit Die Patienten lehren uns eine kreative Methodik – und ihre Varianten! Schon Freud beschrieb, dass er es der Patientin Anna O. mit verdankte, dass sich die Psychoanalyse entwickelte. Marsha Linnehan sagt, sie habe die dialektisch-behaviorale Therapie (DBT) von ihren Patientinnen gelernt (vgl. Sachsse 2004, S. 184). Die Autoren erlauben sich, auf der Basis der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie, wo immer möglich, die Integration von Methoden und Techniken, die der Bewegungsvielfalt der Patientinnen und Patienten und ihrer affekt-motorischen Kompetenz entstammen. Manchmal ist es allerdings schwer, die Realitätsverwirrung beziehungsweise das Oszillieren zwischen den Modi des Als-ob und der Realität aufzulösen. So war es bei Ursula. Das Modell der haltenden Mutter oder des haltenden Vaters, der oder die klar, aber auch strukturierend und zugleich liebevoll im Kontakt ist, hat sich bewährt, ebenso das Modell vom spielerischen Miteinander und vom kreativen Handlungsprozess, in dem sich heilende Kontakte und Provokationen zu neuem Erleben aus der Gruppe heraus auftun. Durch für Patienten zuweilen komplizierte, widersprüchliche oder abhängige Beziehungsmuster,
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die kaum aushaltbar waren, ist eine ausschließliche Arbeit mit der Übertragung und der Regression in der Gruppe aus Sicht der Autoren nicht immer handhabbar. Daher ist ein mutiges Einnehmen der vermeintlich richtigen Rolle im klar abgegrenzten Körperkontakt ein Mittel der Wahl – ebenso wie das Vorschlagen von Stimuli wie ausgewählter Musik zur markierenden Affektspiegelung auf einer anderen Ebene oder provozierende Aufgabenstellungen, die an offene Handlungsanleitungen in kreativen Spielprozessen von Kindergruppen erinnern mögen. Weil das »innere Kind« der Patienten immer aktiv ist, geht es darum, den »falschen Film« anzuhalten und mit dem Erwachsenen-Ich eine neue Verbindung zu suchen. Diese Praxis der Gruppenpsychotherapie im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog korrespondiert mit der Theorie der Mentalisierungsentwicklung durch gelungene Intersubjektivität. Ebenso gibt es Annäherungen an das Modell des Containing durch die Mutter in der frühen Dyade (Bion 1962/1997) und an die Vorstellung von der »good enough mother« (Winnicott 1960/1974). Überhaupt wird hier versucht, an einige selbst- und objektbeziehungstheoretische und interaktionsfokussierende Positionen (Lichtenberg 1998; Stern 1998) anzuknüpfen und die aktuelle Theoriesprache weiter mitzuentwickeln, in der sich der faszinierende Prozess der »Bewegung des Werdens des Geistes entfaltet« (Dornes 2006, S. 209ff.). Gruppenpsychotherapie sollte, so die Ansicht der Autoren, die Ergebnisse der Neurophysiologie (Vernetzung, Plastizität, Notwendigkeit des wachen Bewusstseins zum Lernen von Neuem) ernst nehmen und aktiv in Therapieprozesse umsetzen. Aufmerksamkeitsfokussierungen auf die »schwätzenden Fingerspitzen«, das heißt auf immer mitaktivierte neuronale Netzwerke der subkortikalen Zentren, also auf sensorische und motorische, nichtbewusste Aktivitäten des Gehirns, stören automatisch-stereotyp ablaufende Muster – auch die immer gleich parallel dazu ablaufenden affektiv verkoppelten kommunikativen Handlungsmuster (Trautmann-Voigt u. Voigt 2005a, S. 228). Hier setzt die dargestellte Therapiemethode an. Die therapeutische Beziehung ist jedenfalls immer die Richtlinie für den Einsatz verschiedener Techniken in der Gruppen-
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psychotherapie – egal, ob analytische oder tiefenpsychologische Psychotherapie, Meditativer Tanz, Imagination, Musik oder Atemarbeit. Es geht um den Aufbau stabiler Beziehungen und um die Aktivierung von Selbstheilungskräften. Gruppenpsychotherapie im Rhythmisch-Dynamischen Handlungsdialog gestaltet sich dann als ernsthaftes Spiel mit dem Ziel, neuen Lebensentwürfen einen Spielraum im Winnicott’schen Sinne zu eröffnen und dem Prinzip Hoffnung eine mögliche Gestalt zu verleihen.
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Sabine Trautmann-Voigt und Bernd Voigt
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Mathias Hirsch Marthas Gruppenanalyse – das erste Jahr
Es ist schwer, komplexe Gruppenverläufe so zu dokumentieren, dass man sie auswerten und auch in lesbarer Form wiedergeben kann. Videoaufzeichnungen oder Verbatim-Protokolle enthalten eine überwältigende Menge an Details, und welcher Gruppentherapeut kann schon die vielen, vielen Gruppensitzungen seines langen Berufslebens mit nachträglichen Notizen festhalten. Pedrina (2006; s. a. ihren Beitrag in diesem Band) hat innerhalb eines Forschungsprojekts eine minutiöse Dokumentation eines Gruppenprozesses durch die Auswertung der Protokolle, die beide Leiterinnen nach jeder Sitzung angefertigt hatten, Notizen über die Supervision sowie eine komplette Videoaufzeichnung der Sitzungen vorgelegt. Ich selbst kann auf die fortlaufenden Protokolle zweier meiner vier Therapiegruppen zurückgreifen, die von den Gruppenmitgliedern reihum aufgrund von Notizen, die während der Sitzungen gemacht wurden, angefertigt werden (und die ich auch zum großen Teil fertig ausgearbeitet zurückerhalte; manchmal ist die Sprache allerdings etwas knapp und holperig). Das bedeutet keineswegs, dass der, der mit dem Protokoll an der Reihe ist, aus dem Gruppengeschehen aussteigen muss, manchmal im Gegenteil: Der Zwang zur Konzentration und Anteilnahme bewirkt auch eine stärkere Beteiligung, so dass der Protokollführer plötzlich im Zentrum steht und das Protokoll seinem Nachbarn reicht, damit der weiterschreibt. Ich möchte im Folgenden versuchen, die Wirksamkeit des Gruppenprozesses am Beispiel der Entwicklung einer Borderline-Patientin im ersten Jahr ihrer Gruppenpsychotherapie anhand der Gruppenprotokolle aufzuzeigen. Dabei werde ich mich auf die wichtigen Äußerungen Marthas und die sie betreffenden Gruppenreaktionen beschränken. Diese Gruppe, in die Martha aufgenommen wurde, ist meine älteste, zum Zeitpunkt des Ge-
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Mathias Hirsch
schehens war sie bereits über 20 Jahre alt, sie ist eine halboffene Gruppe, das heißt, freigewordene Plätze werden immer wieder mit neuen Mitgliedern besetzt. Es ist die Täter-Opfer-Gruppe, über die ich an anderer Stelle berichtet habe (Hirsch 2003). Als Martha zusammen mit Beate in die Gruppe kam, bestand sie aus neun Mitgliedern: Evelin, Bärbel, Charlotte, Gisela, Maria, Almut sowie drei männliche Mitgliedern: Mario, Martin und Dieter. Wenig später kam auch Maximilian neu in die Gruppe. Wenn einer der Teilnehmer im Folgenden nicht zu Wort kommt, bedeutet das nicht, dass er gar nichts gesagt hat, sondern nur, dass er zu den Martha betreffenden Passagen nichts beigetragen hat. Die Gruppe trifft sich einmal wöchentlich zu je 100 Minuten. 04.02.2002 Es ist Marthas erste Sitzung; sie ist zusammen mit Beate gekommen. Sie platzt gleich in das anfängliche Schweigen: Ich finde Schweigen ätzend, ich war bisher bei einer Einzeltherapeutin, die hat gesagt, dass ich mal Gruppentherapie ausprobieren soll. Evelin: Ich gehe Ende des Monats, ich denke, dass ich jetzt fertig bin, ich bin über fünf Jahre dabei. (Als absolut regelmäßig auftretendes gruppendynamisches Phänomen habe ich entdeckt, dass in jeder Sitzung einer halboffenen therapeutischen Gruppe, in der ein neues Gruppenmitglied seine Therapie beginnt, ein anderes das Ende seiner Therapie verkündet!) Martha: Ist das lange … Ich habe eine soziale Phobie. Maria: Wie passt das zusammen: Lehrerin und soziale Phobie? Während Martha eine Flucht nach vorn unternimmt und gar nicht weiter auf Evelins Ankündigung eingeht, weit entfernt, in der Gruppe irgendeine Angst oder Scheu im Sinne einer »sozialen Phobie« zu empfinden, reagiert Maria skeptisch auf diese Diskrepanz. Martha: Willst du meine Kompetenz in Frage stellen? Ich habe zwar noch meine Probleme, aber ich gehe dagegen an. Dr. H.: Die Gruppe ist angesichts der neuen Mitglieder fast dreigeteilt, die Ablehnenden, die Entgegenkommenden und die, die meinen … Martha unterbricht: Ich hatte mal eine Schülerin, die anderen haben sich toll um sie gekümmert. Ich fand das toll, wie sie in der Klasse aufgenommen wurde. Bärbel: Ich fand das jetzt nicht so feindselig, sondern eher, dass du eine Mauer um dich herum gebaut hast. Bärbel hat verstanden, dass Martha sich nicht angenommen fühlt, und versucht zu vermitteln.
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Martha: Ich bin Pragmatikerin, ich will Ergebnisse sehen. Ich habe Angst, ausgenutzt zu werden. Wenn ich Dr. H. schon mit seinen Taschentüchern sehe! (Im Gruppenraum befindet sich ein Stapel mit Zellstofftüchern.) Charlotte: Ich habe keine Ablehnung gegen dich, aber du überrennst mich. Gisela: Vielleicht hast du ja einfach nur Schiss? Martha: Ich habe vor nichts und niemandem Angst. Dr. H.: Wie der Held im Märchen: »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«. Martha: Meine Therapeutin hat die Gruppe empfohlen, weil ich in der Schule noch einige Probleme mit Gruppen habe und weil ich was gegen Analytiker habe, die gucken so genau. Gisela: Um was geht es hier eigentlich? Dr. H.: Um die Ambivalenz, hier zu sein. Es geht um Ihre Angst vor etwas, was Sie gleichzeitig wollen. Außerdem sind Sie beide (ich spreche die beiden Neuen an) sehr verschieden, Sie (zu Beate) konnten bisher noch nichts sagen, aber man lernt ja voneinander. Martha wehrt ihre verständliche Angst vor der Gruppe ab, und die Gruppe bringt ihr schonend bei, dass sich ein Gefühl hinter ihren Wörtern verbirgt. Beate ist ganz zurückgezogen und schweigt; hier treffen also Vertreterinnen beider Borderline-Typen zusammen; die eine ist ganz schizoid zurückgezogen, eher ein Opfertyp, die andere tritt eher die Flucht nach vorn an und zieht es so vor, eine »Täterin« zu sein. Gisela: Was machst du (Beate) eigentlich beruflich? Beate: Ich bin Hausfrau und Mutter und arbeite in der Bibliothek. Ich habe Probleme, vor Gruppen zu sprechen. Evelin: Ich hatte das auch, an der Uni, vor Gruppen zu reden. Beate: Ich habe Angst davor, dass mir Fragen gestellt werden, und ich kann sie dann nicht beantworten. Das ist aber die Angst, gesehen zu werden, Fragen nach ihrem So-Sein beantworten zu sollen. Martha (zu Beate): Ich kann das gar nicht verstehen, wie du das sagst und dabei so ausgeglichen bist. Sie wirkt ja nur ausgeglichen, aber immerhin sieht das die Gegenspielerin positiv. Beate: Meine Tochter hat ihre Klasse zum Geburtstag eingeladen; ich habe bloß gedacht, wie kann man nur so eine Horde zusammenhalten. Wie Martha bringt auch Beate ein Gruppenbeispiel, hier ein bedrohliches, und auch sie meint natürlich implizit die aktuelle Gruppe. Martha hält die Beschäftigung mit Beate nicht mehr aus:
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Martha: Ich würde gerne wissen, warum ihr alle hier seid, und vor allem, warum ihr Gruppentherapie macht. Gisela: Die Gruppe ist ein Forum für meine Arbeit. Eine Simultanbühne. (Als ob Gisela Foulkes gelesen hätte: »Die Gruppe als Forum symbolisiert die Gemeinschaft als Ganzes«, zit. bei Finger-Trescher 1991, S. 123) Charlotte: Bei mehreren Leuten gibt es viele Impulse. Martha wehrt ab: In der Einzeltherapie bekommt man immer mehr Zuwendung. Dr. H.: Wenn Sie hier sprechen, dann zeigen Sie sich, und die anderen gucken, und sie könnten denken: Die verurteilen mich, verdammen mich, schicken mich in die Wüste. Gisela: Nun gib dir doch einmal eine Chance, du blockst doch nur. Martha: Vielleicht muss ich noch einmal eine Einzelsitzung haben. Evelin: Vielleicht kannst du einfach nur mal hier sein und dir das anhören, und dann bildest du dir ein Urteil. Evelin hat wohl erfasst, dass der Aktionismus Marthas eine Abwehr der Angst ist, in der Gruppe in ihrem So-Sein gesehen zu werden; sie soll »einfach nur mal hier sein«. Die Gruppe versucht die Spaltung zu überwinden: Analytiker machen Angst, aber Einzeltherapie ist besser; die Einzeltherapeutin schickt sie in die Gruppe, da bekommt sie aber zuwenig Zuwendung. Martha: Meine Therapeutin will mich nicht mehr. Evelin: Aber dafür können wir doch nichts. Martha: Vielleicht brauche ich noch mehr Zuwendung. Gisela: Merkst du eigentlich nicht, dass du seit Beginn der Sitzung 80 Prozent der Zuwendung bekommst? Charlotte: Du machst mich langsam aggressiv. Dr. H.: Wie bei einem gestörten, aggressiven Kleinkind, das beißt, und man denkt beim ersten Mal: Oh, das arme Kind, es wird seinen Grund haben. Beim zweiten Mal guckt man schon anders, und beim dritten Mal ist man sauer. Charlotte: Ich kenne dieses Gefühl, wenn man abgelehnt wird. Martha: Ich wollte niemanden ablehnen. Mit meiner Intervention, der Verwendung der Kind-Metapher (vgl. Hirsch 2004, S. 147f.), will ich wohl eine Eskalation vermeiden. Charlotte versucht, sich in Martha einzufühlen, Martha dreht es um, als wäre sie nicht die (passiv) Abgelehnte, sondern die (aktiv) Ablehnende. Evelin drückt ihre Ambivalenz dem Ende ihrer Therapie gegenüber aus. Ich will aufhören, aber der Körper rebelliert, ich habe hohen Blutdruck. Immer noch kann ich in der Gruppe nicht frei sprechen. … Ich will auch perfekt sein. Wichtig ist doch, was von sich zu zeigen, dass man nicht perfekt ist und nicht lügt.
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Als ob Evelin als erfahrenes Gruppenmitglied den beiden Neuen etwas auf den Weg geben möchte. Beate schließt sich an die Körperbeschwerden an: Ich habe seit sieben Jahren chronischen Husten, habe alles versucht, viele Ärzte konsultiert, dann habe ich gedacht, das ist psychosomatisch. 18.02.2002 Ein weiteres neues Gruppenmitglied, Maximilian, ist dazugekommen. Gisela berichtet über den erfolgreichen Beginn ihrer Lehrtätigkeit. Sofort schließt sich Martha an: Sie hat sich an zwei Schulen beworben, ist unschlüssig und ängstlich, sie zählt auf, was man ihr alles Negatives anrechnen könnte, ein schlechtes Zeugnis, die lange Studienzeit. Gisela: Sieh dir das doch erst mal an. Sie ermutigt sie also, ähnlich wie ihr in ihrer ersten Sitzung zu Gelassenheit geraten wurde. Martha: Meine Eltern haben so komische Ansprüche, eigentlich würden sie mich nur als Direktorin akzeptieren, dabei haben beide kein Abitur, sie verlangen viel, können aber selbst nicht viel bieten. Evelin: Ich bin auch die Einzige in der Familie, die einen akademischen Abschluss hat. Durch die gleichsinnige Identifikation relativiert (metabolisiert) Evelin das Selbstgefühl Marthas. Martha: Für meine Eltern ist mein Cousinchen auch schon so ein Sensatiönchen. Charlotte: Wenn du nicht in der ersten Runde bist, dann vielleicht in der zweiten. Bärbel fragt, warum Martha Beamtin werden will, ob sie wirklich unterrichten will. Martha: Meine Mutter hat mir zum Examen nicht gratuliert. Bärbel: Ich kenne das auch von mir. Ich komme aus ähnlichen Verhältnissen wie Martha und habe das Gefühl, ich darf das nicht, das steht mir nicht zu. Bärbel ist auch gleichsinnig identifiziert, modifiziert aber Marthas Vorstellung, die Eltern verlangten, sie solle gut sein: Bärbel darf nicht gut sein. Ein ähnlicher Gedanke erhält eine neue Bedeutung entsprechend dem modifizierenden, mentalisierenden Modus und lädt zur Neuidentifikation ein. Martha: Ja, irgendwie fühle ich mich ausgeschlossen und stelle mich selber auf das Abstellgleis. Bärbel: Mein Bruder ist Professor. Aber auch er hat Probleme mit dem System der Uni umzugehen, wie du mit der Schule. Evelin: Eigentlich sagst du, du fühlst dich etwas minderwertig.
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Evelin übersetzt Marthas Problem mit der Mutter in ein Gefühl, das Martha selbst von sich hat. Dr. H. zu Martha: Wenn Sie Ihre Mutter anrufen, dann möchten Sie, dass ausgerechnet diese Mutter Ihre eigene innere Stimme übertönt, aber das funktioniert nicht. Ähnlich wie hier, Sie möchten etwas Alternatives hören, sagen aber immer: Ja, aber … Die innere Stimme kümmert sich einen Dreck, ob es Ihnen gut geht. Martha: Warum sitzen wir dann hier? Dr. H.: Um sie loszuwerden! Bärbel: Es braucht alles viel Zeit; (fragt Martha) wie alt bist du eigentlich? Martha: Eben 30 geworden, ich wünschte, ich wäre jünger, Vieles hätte man effektiver machen können, zum Beispiel frühzeitig Therapie … Evelin: Es hatte ja Gründe, dass du es nicht gemacht hast. Evelin entlastet Martha vom strengen Über-Ich. Martha: Es war ein Familien-Tabu. Evelin: Wohnst du noch zu Hause? Martha: Ich bin vor zweieinhalb Jahren ausgezogen. Charlotte: Und deine Wäsche bringst du nicht mehr nach Hause? Martha: Doch! Dr. H.: Es ist nicht fair, dass jetzt alle auf ihr herumhacken, wo wir doch wissen, dass sehr oft bei vielen anderen die Waschmaschine das letzte Bindeglied zu den Eltern ist. Martha: Was hat denn die Wäsche damit zu tun? (Martha kann das nur konkretistisch verstehen.) Bärbel: Du musst dich nicht wundern, dass die Eltern dir noch reinreden. Die Bequemlichkeit hat eben ihren Preis. Dr. H.: Anscheinend brauchen Sie noch eine symbolische Verbindung, eine Art Nabelschnur. Martha: Meine Mutter kauft auch noch für mich ein. Meine Therapeutin hat gesagt, dass es am besten ist, noch bei den Eltern zu wohnen und trotzdem völlig losgelöst zu sein. Maximilian schließt sich an, er habe mit seiner eigenen Familie jahrelang im Haus der Mutter gelebt. Gisela: Warum willst du Therapie machen? Maximilian: Die Psychosomatik macht nicht mehr mit [!], Gastritis, Kreislauf … Martha unvermittelt: Ich durfte nie traurig sein; erst in der Oberstufe habe ich Freunde gehabt. Ich fühlte mich immer als hässliches Entlein, habe mich darin eingerichtet. Martha unterbricht zwar abrupt die Beschäftigung mit dem Neuen, bezieht sich aber unbewusst auf ihn: Es ist auch seine Trauer und seine Kontaktlosigkeit.
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Martha: Mir fällt noch ein, dass meine Mutter immer nur misstrauisch war, sie hat nur zu Hause gearbeitet, wie ein Zombie gelebt und mich zu Hause eingesperrt. Die Mutter hatte also ein Interesse, dass ihre einzige Tochter zu Hause bleibt; unausgesprochen findet sich das Thema: Mutter, Über-Ich, Selbstwert. Dr. H.: Hoffentlich bekommen Sie hier in der Gruppe Kontakte … 25.02.2002 Es ist Evelins letzte Gruppensitzung. Es ist ein guter Abschied: Mir wird einerseits bestimmt die Therapie als sicherer Raum fehlen, andererseits freue ich mich total auf die freien Montage. Maria unvermittelt: Ich werde viel zu oft und unmäßig stark von euch angegriffen! Auch Maria ist eine Borderline-Persönlichkeit: Sie hält es nicht aus, dass jemand mit Erfolg und positivem Gefühl der Therapiezeit gegenüber einen guten Abschluss findet (Neid, Rivalität, Eifersucht); sie wechselt das Thema ohne Zusammenhang mit Evelins Thema beziehungsweise mit ihrem Gefühl in der Gruppe. Charlotte teilt mit, dass sie endlich ihr Elternhaus verlässt: Ich habe mich von meinen Illusionen mit dem Haus getrennt und freue mich auf meine Wohnung, die will ich einrichten und meinen Alltag selbst organisieren. Als »gute« Patientin kehrt Charlotte zu Evelins Thema der gelungenen Trennung zurück. Martha: Ich bin irgendwie nervös und wütend auf mich selbst, wegen meiner Schreibhemmung im Studium damals, meinem negativen Selbstbild und der verlorenen Zeit. Es bleibt eine Weile das Thema in der Gruppe, was denn verlorene Zeit sei; Evelin, Bärbel und Charlotte tauschen ihre Ansichten über lange Studienzeit, Berufswechsel, Verbleiben im Elternhaus aus. Martha ist körperlich unruhig, hat einen unwirschen Gesichtsausdruck und weint leise zwischendurch. Unvermittelt platzt sie in das Gespräch: Ich weiß nicht, ob für mich in dieser Therapie überhaupt das Kosten-Nutzen-Verhältnis stimmt! Das Thema Abhängigkeit beziehungsweise Trennung scheint Martha Angst zu machen, deshalb stellt sie ihr Hier-Sein in Frage. Maria greift Evelin an, sie sei immer so heftig von ihr angegriffen worden, wie sie dazu stehe, sie solle das begründen … Maria will Evelin offenbar nicht gehen lassen; andere Gruppenmitglieder akzeptieren aber die Trennung, erinnern sich wohlwollend an »gemeinsame heftige Schlachten, die wir geschlagen haben«, versichern sich ihrer prinzipiellen Sympathie und lassen Evelin gehen.
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04.03.2002 Martha: Am nächsten Montag kann ich wegen einer Fortbildung nicht hier sein! Dr. H. teilt mit, dass Maria und Dieter krank seien und nicht kämen. Nun beschäftigt sich die Gruppe mit Maximilian, dem Neuen, nachdem dieser seine Ambivalenz drastisch ausgedrückt hatte: Er würde nach Ostern in den Urlaub fahren (das war bisher nicht bekannt und nicht mit der Gruppe abgestimmt) und wisse nicht, ob er danach überhaupt zurückkommen werde. Lange beschäftigt sich die Gruppe mit Maximilians Identitätsunsicherheit, und Martha kann wohl deshalb solange so gut zuhören, weil Maximilian ein noch größerer Außenseiter ist als sie selbst, auch weniger mit der Gruppe verbunden ist als sie. Martha: Ich kenne das auch, dieses Abgeschnitten-Sein von Anderen. Ich habe es mir dann so zurechtgelegt, dass ich besser wäre als die, ich brauche keine Albernheiten wie die Anderen, das bringt ja nichts. Im Zusammenhang mit Maximilians entwertenden Äußerungen Frauen gegenüber schwenkt die Gruppe zum Thema sexueller Missbrauch über, das Almut in die Gruppe einbringt. Almut hatte Martha in der Sitzung davor wegen ihrer relativen Mutter-Abhängigkeit – nicht allzu heftig – kritisiert. Offenbar bringt Martha das Missbrauchs- mit dem Abhängigkeitsproblem zusammen, als wäre die Äußerung und damit die Aufdeckung des Missbrauchs in der Familie eine zu große Distanzierung und Trennung von den Elternobjekten, und Martha verwandelt die Trennungsangst in plötzliche heftige Aggressivität gegen Almut: Martha zu Almut: Du kannst wohl sach- oder personenbezogene Kritik nicht auseinanderhalten! Letzte Sitzung bin ich vollkommen fertig aus der Gruppe gegangen, habe mich nicht mehr getraut, etwas zu sagen. Ich musste das an anderer Stelle klären, habe mir aber geschworen, mir das von dir (Almut) nicht mehr gefallen zu lassen. Darum sage ich es jetzt. Niemand hat das Recht, mich so vorzuführen, mit der Wäsche bei meiner Mutter und dem Einkaufen für sie! Mich hat niemand zu maßregeln, Scheiße zu mir zu sagen, in Zukunft hältst du deinen Mund! Dass du mich nicht leiden kannst, ist ja klar! Martha wird im Laufe ihrer Rede immer lauter und aufgeregt aggressiver. Dr. H.: Es ist gar nicht klar und als sehr interessantes Phänomen erst noch zu untersuchen, ob Sie wirklich von Almut so heftig angegriffen wurden oder ob Sie es vielleicht so stark erlebt haben. Übrigens ist es hier in der Gruppe so, dass jeder alles, aber auch
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alles sagen kann, was er denkt, gerade einmal ausgenommen wirklich grenzüberschreitende, obszöne Angriffe. Dazu ist die ganze Gruppe doch da, dass wir alle zusammen ein realistisches Bild davon bekommen, was hier passiert, und wie jeder es erlebt, und zwar jeder verschieden. Martha: Ja gut, aber wo soll ich denn sonst damit hin, mir ist es doch total beschissen gegangen, und es ist ja wohl nicht Ziel der Gruppentherapie, dass es mir hinterher schlechter geht! (Das Protokoll vermerkt: Martha wird immer lauter, Spannung liegt im Raum.) Jetzt intervenieren Bärbel und Charlotte: Merkst du nicht, dass dein Verhalten momentan völlig untragbar ist, du störst massiv! Martha empfindet sich als Opfer (eigentlich der Therapie, aber personifiziert in Almut), jetzt wird sie aber als Täterin definiert, was sie sich erst recht als Opfer fühlen lässt: Martha richtig aggressiv und noch lauter: Jetzt bin also wieder die Böse, die Blöde! Ihr spinnt ja alle. Gott sei Dank kann ich im April drei Tage nicht kommen! Jetzt wird Dr. H. »hellhörig« (Protokoll), auf sein Nachfragen, warum sie nicht kommen könne, erfährt die Gruppe, dass Martha sich für einen Volkshochschulkurs angemeldet hat. Nach einiger Auseinandersetzung darüber sagt Dr. H.: Wenn Sie die Anmeldung nicht rückgängig machen, ist Ihre Therapie hier beendet, denn mit allen wurde vereinbart und alle sind darauf angewiesen, dass jeder im Prinzip immer zu den Sitzungen kommt, und wenn er einmal nicht kommen kann, die Gründe ausführlich mit den Anderen bespricht. 11.03.2002 Martha fehlt wegen einer beruflichen Fortbildung, wie sie schon lange vorher angekündigt hatte, nicht etwa wegen des Volkshochschulkurses. Charlotte beginnt und beschreibt ihre Gefühle nach der letzten Sitzung, in der Martha Almut so massiv angegriffen hatte: Ich war geschockt, konnte mit der Lautstärke nicht umgehen. Ich kann keine Parallelen bei mir finden, so aggressiv kann ich nicht sein, und ich bin es auch gewohnt, Verträge einzuhalten und Autoritäten zu akzeptieren. Almut: Ich war in der letzten Sitzung sehr betroffen von dem Angriff und fühlte mich von Ihnen (wendet sich an Dr. H.) nicht genügend geschützt. Almut fühlt sich als Opfer von Martha, ohne elterlichen Schutz, wie sie auch von der Mutter nicht geschützt worden war, während der Vater sie sexuell missbraucht hatte.
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Bärbel: Ich fand es letzte Sitzung ganz spannend. Ich bin mit zitternden Knien nach der Sitzung rausgegangen und weiß jetzt auch warum: Es war genau der Ton in meinem erlittenen Überfall: »Geld raus, halt still, wehr dich nicht …!« Bärbel erlebt in der Gruppe die Vergewaltigung in abgemilderter Form wieder, kann aber deutlich Grenzen ziehen zwischen der damaligen Situation und dem Wiedererleben jetzt. Almut, die den erlittenen Missbrauch fast vierzig Jahre lang völlig verdrängt hatte, fühlt sich jetzt dagegen in ihren Grenzen bedroht: Almut: Vor Jahren hätte mich das kaltgelassen. Ich habe mich damals überhaupt nicht gespürt, aber jetzt habe ich keinen Schutzwall mehr. Wünschenswert wäre, dass sich Almut mit dem differenten Erleben derselben Situation durch Bärbel identifizieren kann, dadurch würden ihre Ich-Grenzen gestärkt. Gabriele relativiert: Der Ton war zwar etwas schrill, aber solange Martha sitzen bleibt und nicht tätlich wird … Jeder hat seinen Schutzwall woanders; Martha hat wohl in der letzten Sitzung einen Wall aufgebaut und wollte sich durch Aggression schützen. Dr. H.: Sie wollte wohl lieber Täterin sein als selber Opfer. (Zu Almut) Das war wohl für Sie so schlimm, weil Sie dem nichts entgegensetzen konnten und Sie ihr vielleicht sogar Recht gegeben haben. Aber es geht nicht darum, ob Martha Recht hat, sie reagierte aus ihrer Angst heraus. Und Sie haben den Eindruck, dass die Täterin mehr geschützt wurde als sie als Opfer, was natürlich ungerecht wäre. Almut: Als Opfer fühle ich mich nicht, das passt nicht zu mir. Maximilian: Was ist ein Opfer? Almut: Jemand, der sich nicht wehren kann, und ich hatte nicht das Gefühl, mich wehren zu müssen. Wenn sie aufgestanden wäre, vielleicht. Gisela: Das widerspricht sich irgendwie, denn du hast ja das Gefühl, nicht genug Schutz bekommen zu haben. Bärbel: Schade, dass Martha nicht da ist. Ich fand die Szene von ihr total gespielt. Mich würde sehr interessieren, was sie jetzt dazu zu sagen hat. Almut: Ich kann mit ihr nicht über meinen Missbrauch reden. Ich empfinde sie wie ein Kind. Wie sie sich verhält, ist mir absolut fremd, ich finde mich darin überhaupt nicht wieder. Almut konnte nie mit irgend jemandem über den Missbrauch reden; stattdessen igelte sie sich völlig ein und klammerte ganze Bereiche wie intime Beziehungen, Körperlichkeit, Ausdruck von Affekten mit Hilfe ihres rigiden »Schutzwalls« aus. Charlotte: Ich würde mich auch nicht so verhalten, aber vielleicht habe ich was verpasst. Vielleicht hätte ich auch mal schreien sollen.
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Almut: Vielleicht ist es der bessere Weg, einfach laut zu werden. Es mal zu riskieren und rauszulassen. Ich habe die Aggression nur immer gegen mich gerichtet. Die eher als »Opfer« masochistisch identifizierten Gruppenmitglieder imaginieren in Identifikation mit Martha (Kreuzidentifikation mit der »Täterin«), ihre habituelle Rolle zu verlassen und selbst einmal aggressiv nach außen zu sein. Auch die Angst davor wird artikuliert. Charlotte: Wenn ich getrunken hatte, habe ich auch geschlagen. Hinterher konnte ich mich dann gar nicht mehr erinnern, morgens war ich so schockiert, das konnte ich unmöglich gewesen sein. Ich habe Angst, die Kontrolle zu verlieren. Almut: Ich habe Angst, dass die Erinnerungen kommen. Dass ich dann die Kontrolle verliere, dass ich verrückt werde. Um das Verrückt-Sein zu stoppen, habe ich mich mit Rasierklingen geschnitten und mit Zigaretten verbrannt. Dr. H.: Der Täter fühlt sich stark und mächtig. Sie waren der Täter und ihr Körper das Opfer mit den Schmerzen und Narben. Bärbel: Ich kenne das. Während des Examens wollte ich nichts mehr essen und trinken. Ich habe so intensiv Sport getrieben, bis zum Umfallen, ich wollte der Herr über mich sein. Almut: Als Mädchen konnte ich mich nicht gegen den Mann wehren. Ich will kein Opfer sein. Bärbel: Als der Überfall passiert ist, wollte ich nicht in die Selbsthilfegruppe, weil da nur Opfer sind. Almut: Ich habe das damals nicht so empfunden, mich als Opfer. Die Erinnerung kommt erst jetzt. Gisela: Wenn du dich verletzt, machst du dich ja auch zum Opfer. Dr. H.: Täter und Opfer zugleich. Wenn Sie sich verletzen, können Sie etwas tun und sind nicht ausgeliefert. Sie haben Macht über den eigenen Körper. Offenbar ist es gerade die Abwesenheit Marthas, die die intensive Gruppendiskussion über Aggression, Opfer- und Täter-Sein ermöglicht hat. Ich bin auch überzeugt, dass diese Diskussion die inneren Selbstbilder nicht nur der Beteiligten verändert, sondern sogar zu einer Veränderung der abwesenden »Täterin« führen kann, denn die veränderten Bilder der Gruppenmitglieder wirken im weiteren Verlauf auf diese wieder ein. 18.03.2002 Martha beginnt und entschuldigt sich für ihr Verhalten in der letzten Sitzung, indem sie sagt: Ich wollte rausgeschmissen werden. Ich war so unzufrieden. Ich habe es nicht ausgehalten und mit meiner
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ehemaligen Einzeltherapeutin über die Gruppe gesprochen. Ich bin so unzufrieden mit mir. Das kenne ich auch aus anderen Bereichen. Ich habe gar nicht die eigentlichen Sachen gesagt. Ich erreiche die Ziele nie, die ich mir gesteckt habe. Ich wollte mich sogar umbringen in den letzten Wochen! Ich habe wohl Schwierigkeiten gehabt, mich hier einzufinden. Jetzt kann ich mich öffnen; ich muss zu meinen Problemen stehen! Dr. H.: Mir fällt auf, dass Sie sich so unter Druck setzen. Martha: Ich habe das Gefühl, ich renne gegen eine Wand. Das liegt an mir. Vielleicht rede ich es mir auch ein. Maria: Das glaube ich nicht. Aber hier kannst du dahintergucken und rauskriegen, was wirklich mit dir ist. Martha: Ich habe Angst, mich selbst zu verletzen (das war das Thema der letzten Sitzung, von dem sie nichts wissen konnte, weil sie gefehlt hatte) – nicht körperlich. Dass ich mich vielmehr immer in so blöde Situationen hineinmanövriere. Dr. H.: Die Vorwürfe nützen doch aber nichts. Wozu ist es denn gut, dass Sie sich immer so unter Druck setzen? Ich spreche also die Über-Ich-Dimension an; offenbar setzt ihr ein Über-Ich-Anteil zu, dass sie schuld sei, unfähig, selbstdestruktiv (dieser hat im Moment die Oberhand), während ein anderer ihr gestattet aufzubegehren, sich nichts gefallen zu lassen – die Integration dieser Fragmente wird ihre Zeit benötigen. Martha berichtet jetzt von einem Vorstellungsgespräch; sie befürchtet, keine Stelle zu bekommen und deshalb von den Eltern abhängig zu bleiben: Ich komme mir vor, als hätte man mir Fesseln um den Hals gelegt. Maximilian kommt auf ihre Aggressivität zurück: Kannst du denn was zurücknehmen? Martha kippt wieder in die ablehnende Aggression: Nein, für dich schon gar nicht! Ich sehe mein Temperament als positiv an! Dr. H.: Warum sollten Sie Ihr Temperament nicht ausleben, wenn es konstruktiv ist? Aber sich unter Druck setzen? Ich spreche also wieder die Über-Ich-Anteile an, und prompt: Martha: Ich will perfekt sein, damit ich die Stelle kriege! Ich will immer alles unter Kontrolle haben! Dr. H.: Es gibt nichts Perfektes, aber das Perfekt-sein-Wollen führt oft zum genauen Gegenteil. Charlotte: Ich bin zum Perfekt-Sein erzogen worden. Und weil ich die Anerkennung von meiner Mutter wollte, bin ich ihr gefolgt. In der letzten Zeit habe ich aber festgestellt, dass ich eigentlich faul bin, und damit geht es mir ganz gut! Durch die Ergänzung von Charlotte, die die Mutter und die Beziehung zu ihr ins Spiel bringt, sozusagen den externen Ursprung des
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feindlichen Über-Ich, und ihr vor Augen hält, dass man dem ÜberIch nicht unbedingt folgen muss, kann Martha anders denken – bis sie ein nächstes Mal wieder in ihr altes Denken zurückkippt, was noch lange zu erwarten ist. Martha jetzt: Perfektionismus ist ein Feind. Das ist der Anspruch der Mütter. Charlotte: Wir jagen der Mutterliebe nach, weil wir sie nicht bekommen haben. Wir sollten uns davon verabschieden. Martha: Es gab immer nur Extreme. Meine Einzeltherapeutin lobe ich jetzt über den Klee, aber ich hatte auch panische Angst vor ihr. Jetzt schaltet sich Maria ein und berichtet traurig von ihren ambivalenten Beziehungen. Martha ruht jetzt so in sich, dass sie sich ganz auf Maria beziehen und sich wie ein langjähriges Gruppenmitglied um sie kümmern kann, auch Bilder aus eigenen ambivalenten Beziehungserfahrungen beitragen kann. 08.04.2002 Charlotte beginnt und berichtet von ihrem Umzug, von ihrer freudigen Erwartung, nach der Trennung vom Elternhaus allein zu sein und frei, aber auch von ihrer Angst davor. Martha: Ich hatte zwei Vorstellungsgespräche. Die A-Schule hat mir sehr gefallen, aber im Gespräch da habe ich mich schlecht verkauft, ich würde viel lieber dahin gehen. Das Gespräch in der BSchule war sehr positiv, dort habe ich eine Zusage bekommen, also ich werde wohl da anrufen und zusagen. Almut: Ich kann schwer den Fuß in die Tür bekommen (d. h. in die Gruppe kommen). Ich habe mich in Abständen massiv verletzt, heftig nach meinem Geburtstag. Ostern ging es mir sehr schlecht (wegen Ostern fand die Gruppe zweimal nicht statt), mit Ostern hängen meine konkreten Missbrauchssituationen zusammen. Jetzt erzählt Almut erstmalig in der Gruppe von ihren Missbrauchserfahrungen, kommt dadurch in die Gruppe, die Andern kümmern sich einfühlsam. Martha kann aber das Missbrauchs- beziehungsweise Opfer-Thema nicht ertragen und unterbricht: Martha: Ich wurde emotional missbraucht. Ich habe meine Zimmertür abgeschlossen. Ich verachte meinen Vater. Mit 13 habe ich ihn mit einem Messer bedroht! Als wollte Martha Almut die Möglichkeit eröffnen, sozusagen retrograd den Angriff abzuwehren; aber eigentlich muss sie sich selbst vor den bedrohlichen Missbrauchsbildern schützen. Almut: Ich habe keinerlei Hassgefühle gegen meinen Vater … Nach meiner Selbstverletzung fühlte ich mich abartig und nicht normal.
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Almut richtet also doch in einer weitgehenden Opfer-Identifikation die Aggression gegen sich selbst und den eigenen Körper, die eigentlich der Täter-Vater verdient hätte. Die Gruppe kümmert sich nun um die Identitätsprobleme Maximilians, zum großen Teil gegen seinen Widerstand, sie bemüht sich sehr, Kontakt zu ihm zu finden. Bei passender Gelegenheit schaltet sich Martha ein: Martha: Jetzt habe ich wieder eine neue Angst, die Stelle nicht zu kriegen, ich habe von der Bezirksregierung noch nichts gehört … Maximilian antwortet nicht auf die Angst, das heißt auf der Ebene der Emotionen und Phantasien, sondern konkretistisch, unsymbolisiert auf der Realitätsebene: Behördenvorgänge können Wochen dauern … Almut und Charlotte begrenzen ihn unwillig: Er wisse wohl immer alles … Dr. H.: Man kann nichts wissen, nichts ist sicher. Keiner kann sich der Beziehungen sicher sein; Kinder können nicht sicher sein in ihren Familien … Martha: Soll ich jetzt was in die Wege leiten? Dr. H.: Ja, Ihre Hausaufgaben machen, ein polizeiliches Führungszeugnis besorgen. Bärbel: Deine Zeugnisse zusammensuchen und hinbringen. Vielleicht ist ja das Führungszeugnis nicht in Ordnung. Dr. H.: So wie vor einer Hochzeit. Alles organisieren und in die Wege leiten und vorbereiten und denken, hoffentlich springt der Bräutigam nicht ab! Charlotte: Vielleicht brauchst du ein bisschen Angst. Dr. H.: Das kommt mir bekannt vor, das hatten wir schon. Es ist wie die Angst, Krebs zu bekommen. Als hätten Sie es nicht verdient, ein gutes Leben zu führen und die Stelle zu bekommen. Als ob das Schicksal nur Böses mit Ihnen im Sinn hätte. Martha sichtlich beruhigt und zuversichtlich: Hoffentlich habe ich am 2. September die Urkunde in der Hand. Hier wird mit der Realität gespielt. Marthas Angst, die Stelle nicht zu bekommen, ist sozusagen eine hypochondrische, nämlich eigentlich die Angst, die Stelle tatsächlich zu bekommen und dann in ihr zu versagen, dann ein Niemand zu sein. Maximilian wird relativ scharf zurückgewiesen, weil er die Angst als berechtigtes Gefühl nicht akzeptiert, sondern widerlegen will. Ich hebe die Angst ins Allgemeine, indem ich eine allgemein menschliche Angst, sich auf nichts, keine Beziehungen, keine Bindungen, keine Institutionen letztlich wirklich verlassen zu können – und dagegen nichts tun zu können. Wenn Martha ängstlich fragt, ob sie etwas tun könne, liegt in meiner Antwort eine gehörige Portion Spott: Scheinbar auf der Realitätsebene könne sie sich ein Identitätszeugnis besorgen, als ob das Sicherheit geben würde; Bärbel schließt sich an und formuliert
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Marthas mögliche Angst, mit dem Führungszeugnis könnte etwas nicht in Ordnung sein. Die Angst vor dem Identitätsschritt (in die erste richtige Arbeitsstelle) wird metaphorisch gleichgesetzt mit einer Hochzeit, die ein ebensolcher Schritt in eine neue Identität ist. Charlotte denkt daran, dass die Angst eine Funktion haben könnte, einen Gewinn bedeuten könnte, so dass ich nur noch einen kleinen Schritt zur hypochondrischen Angst brauche: Dieses Spiel der Gruppe mit Metaphern, mit ironisch-spöttischer Verfremdung, mit Anerkennung der Angst und gleichzeitiger Relativierung beruhigt Martha, als fühlte sie sich in die Gemeinschaft der Menschen wieder aufgenommen und müsste nicht ein monströser Versager sein. 29.04.2002 Martha kommt viel zu spät: Eine Katastrophe, Umleitung wegen eines Gasrohrbruchs. Ungeachtet des bereits laufenden Gruppengesprächs berichtet Martha über ihren ersten Arbeitstag: Ich habe mir alles selbst vermasselt, weil ich die Stunden viel komplizierter plane, als es nötig ist. In der Stunde dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen, aber dann ist es zu spät. Die letzte Unterrichtsstunde hatte ich überhaupt nicht vorbereitet, die lief dann aber gut … Wie machst du es nur, Bärbel, dass du von dir sagen kannst, du bist eine gute Lehrerin?! Bärbel: Was meinst du, woran das liegt, dass es mir in der Schule besser geht? Martha: Eigentlich weiß ich genau, wie es geht … Charlotte: Ich habe das Gefühl, dass du (Martha) immer nur was suchst, damit du dich unwohl fühlst. Martha: Meine Freundin hat mir gesagt, dass ich vereinfachen soll. Meine Einzeltherapeutin sagte das auch immer. Der strecke ich dann die Zunge raus. Ich möchte weder hochbegabt noch doof sein. Dr. H.: Ja, aber leider ruhen Sie nicht in der Mitte, in sich. Sie zerfleischen sich, machen sich klein; eine Art Über-Ich macht Sie fertig, setzt Sie unter Druck und verhindert dadurch gleichzeitig, dass Sie das schaffen, was das Über-Ich doch angeblich von Ihnen will. Was Sie auch machen, ist falsch: Haben Sie Erfolg, ist es nicht richtig, haben Sie keinen, sind Sie auch schlecht. Es ist wie mit dem kleinen Jungen, dessen Vater gebrochen, frustriert und aggressiv aus dem Krieg heimkehrt, sich vor dem schmächtigen Jungen aufbaut und ihm befiehlt zuzuschlagen. Der Junge möchte das nicht, da schlägt ihn der Vater und schreit: »Tu, was dein Vater sagt!« Zaghaft erhebt der Junge nun sein Fäustchen gegen den großen Körper des Vaters, der ihm nun wieder brutal ins Gesicht schlägt: »Man schlägt seinen Vater nicht!«
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Mit dieser schrecklichen Geschichte sollen die sich widersprechenden Über-Ich-Stimmen drastisch illustriert werden, sie hat aber keine besondere Wirkung, löst keine affektive Reaktion aus. Martha: Ich will ja versuchen, es anders zu machen, stehe aber wie unter Zwang; ich habe immer unter einer Schreibblockade gelitten. Bärbel: Ich habe jetzt das Gefühl, einen Super-Unterricht zu machen, und zwar so, wie ich es will! Damit habe ich meinen sadistischen Fachleiter während des Referendariats moralisch besiegt! Früher hat man immer gesagt, ich bringe es eigentlich nicht; jetzt läuft es phantastisch. (Zu Martha:) Löse dich doch endlich von deinen Erwartungen! Martha: Meine Einzeltherapeutin will das auch nicht mehr hören. Es ist ihr langweilig. Dr. H.: Wer war denn am Anfang, der Ihnen sagte, dass Sie gut sein müssen? Martha: Meine Mutter. Dr. H.: Warum hat Sie Ihnen den Floh denn ins Ohr gesetzt? Martha: Meine Mutter wollte sich kleinmachen, weil ihr das Vorteile brachte. Maria: Welche denn? Martha: Meine Mutter hatte eben was davon, bei dem Arschloch von meinem Vater zu bleiben. Sie hatte ja sonst nichts. Sie hatte ja ihren Beruf nach der Heirat aufgegeben, sie trauert noch heute ihrer Heimatstadt nach. Dr. H.: Haben Sie durch Ihre Existenz, also dass Ihre Mutter mit Ihnen schwanger war, zu ihrer Unzufriedenheit beigetragen? Martha: Meine Mutter war kein Lichtblick, sie war dick und hässlich und fühlte sich an allem schuld. Meine Eltern waren schon zehn Jahre verheiratet, dann kam ich auf die Welt, als meine Mutter 39 war, da hat sie wohl Panik bekommen … Jetzt verständigen sich Charlotte und Martha darüber, dass und wie Mütter sich Töchter »zum Versorgen« anschaffen, dass sie mit einem Kind eine Aufgabe haben, die ihnen das Leben nicht überhaupt sinnlos erscheinen lässt. Charlotte: Wir sind von Anfang an benutzt worden. Martha: Man muss Funktionen erfüllen, um ein bisschen Anerkennung zu kriegen. Zwischen Charlotte und Martha entwickelt sich eine Solidarisierung, indem die Realität der Mutter-Tochter-Beziehungen, die bei beiden ganz ähnlich sind, in ein realistisches Licht gerückt wird. Im Dialog zwischen Martha und mir wird ganz deutlich, dass die Mutter einerseits eine Über-Ich-Stimme zu verantworten hat, die verlangt, dass Martha, die Tochter, mehr erreichen soll als sie selbst,
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andererseits wird die Selbst-Objekt-Verschmelzung ganz klar: Die Mutter wollte sich kleinmachen, hatte Vorteile davon: Auch Martha hat einen Gewinn davon, sich kleinzumachen. Andererseits identifiziert sie sich zum Teil mit Charlotte, die schon weiter ist, und erkennt den Zwang zur Anpassung »um ein bisschen Anerkennung zu bekommen«. Gisela greift wieder das Thema der Arbeitsstörung auf: Sei doch froh, dass du es am ersten Tag deiner Arbeit gemerkt hast, was du falsch machst. Charlotte: Vielleicht kannst du keine gute Lehrerin sein, weil deine Eltern das nie wollten, obwohl sie das Gegenteil gesagt haben, und du deshalb nicht gehorsam bist, wenn du erfolgreich bist. Martha: Ich frage mich bloß, wie Bärbel das geschafft hat … Bärbel: War ich vor zwei Jahren, als ich in die Gruppe kam, eigentlich auch so? Lass doch bloß los von den alten Sachen! Martha: Ich habe das Gefühl, die Schulleiterin ist wie meine Mutter … Martha fragt sich eigentlich, ob sie sich mit Bärbel und ihrer Entwicklung identifizieren kann oder darf; Bärbel eröffnet ihr die Aussicht auf eine Entwicklung, die sie selbst auch genommen hat, aber Martha, als hätte sie nichts vernommen, kehrt zu ihrer Mutter, die in der Schulleiterin auflebt, zurück, nimmt das Identifikationsangebot nicht an. Allerdings kann sie mit einem gewissen Grad an Symbolisierungsfähigkeit erkennen, dass sie auf die Schulleiterin die Mutter überträgt. Dr. H.: Also haben Sie Angst, die Stelle zu bekommen? Martha: Ja, ich denke, was hast du dir bloß eingehandelt, wenn’s wirklich klappt mit der Stelle! Bärbel: Es hat sich bei mir sehr viel verändert, seit ich hier bin. (Und zu Martha:) Es artet jetzt ein bisschen bei dir aus, mit deiner Angst! Martha zu Bärbel: Hast du die Stunden auch immer so geplant? Bärbel: Dazu will ich jetzt gar nichts mehr sagen, ich habe das Gefühl, du hörst überhaupt nicht mehr zu. Martha ist anscheinend hin- und hergerissen zwischen der Verbindung zur identitätsfeindlichen Mutter und dem Beispiel der sozusagen hoffnungsvollen Entwicklung Bärbels; manchmal ist sie einsichtig: Was sie sich einhandeln würde, wenn sie Erfolg hätte; andererseits kehrt sie zurück in den Konkretismus, als könne sie ihr Identitätsproblem durch bessere Vorbereitung lösen. 06.05.2002 Martha beginnt: Ich stehe vor der Trennung von meiner bisherigen Einzeltherapeutin … Martha vergleicht die Einzel- mit der Gruppen-
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therapie, sie weint bei dem Gedanken, die Therapeutin zu verlieren. Sie äußert auch etwas Sympathie für die »Unverblümtheit der Mitteilungen innerhalb dieser Therapiegruppe«. Charlotte berichtet einen Traum über ihr Elternhaus, das sie verlassen hat: Der Strom fällt aus, und sie spürt die Anwesenheit zweier unbekannter Männer im Keller. Sie flüchtet: »Ich bin über Büsche und Felder gelaufen, so schnell wie noch nie in meinem Leben …« Charlotte erzählt plötzlich ganz viel von der Abwesenheit ihres Vaters und wie sie von der Mutter an die Kette gelegt wurde … Bärbel, Martha und Charlotte verständigen sich über ihren gemeinsamen Ekel vor der körperlichen Berührung seitens ihrer Eltern. Als hätte sich Martha zu weit vorgewagt, sagt sie unvermittelt: Ja, obwohl ich eigentlich meine Eltern kaum ertrage, sind sie doch für mich zuverlässige Lebensfaktoren! Es ist klar, dass Martha gedanklich zu den Eltern zurückkehrt, da sie doch die Einzeltherapeutin verlieren soll und sich in der Gruppe noch nicht sicher genug fühlt. 24.06.2002 Martha platzt gleich los: Ich hatte eine medizinische Untersuchung, die für Beamte. Ich hatte panische Angst davor. Ausgerechnet eine Ärztin, eine Frau, hat mich untersucht. Ich fühlte mich blöd, weil ich vorher gelogen hatte, denn ich wurde nach psychischen Krankheiten gefragt, das habe ich aber verneint. Sie hat wohl etwas von meiner Angst gespürt und mich danach gefragt, aber ich habe ganz cool gesagt, das habe ich nur bei Untersuchungen. Ein paar Tage später bekam ich einen Brief, ich soll zu einer weiteren Untersuchung bei einer Psychiaterin. Die Ärztin hat das wohl für notwendig befunden. Ich habe dann die Ärztin angerufen und habe ihr die Wahrheit gesagt, dass ich in Therapie bin. Gisela: Das, was du verhindern willst, bewirkst du gerade. Du hast die ganzen Ärztinnen jetzt erst richtig mobilisiert! Martha: Was soll ich jetzt machen? Dr. H.: Hier geht es nicht darum zu sehen, was jetzt gemacht werden kann, sondern vielmehr, wer Sie sind, dass Sie so agieren. Die Angst kommt doch von innen. Die Ärztinnen sind doch erst einmal harmlos. Und bevor Ihre Angst Sie zum Handeln treibt, könnten Sie doch auch die Coolness aufbringen, bis Montag zu warten und hier alles zu besprechen. Die Angst wird aufgegriffen und auf ihre eigentliche Bedeutung und Funktion untersucht, das heißt metabolisiert, aber nicht mehr so vorsichtig gewährend wie am Anfang (Martha ist jetzt fünf Monate in der Gruppe). Die Inszenierungen mit den Ärztinnen entbehren nicht einer gewissen Komik, die Gruppe schmunzelt in gewisser
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Weise, auch reagieren Gruppe und Leiter weitgehend gleichsinnig, das heißt, Martha muss nicht mehr so geschützt werden. Martha: Ich hatte solche Angst vor der Stelle, aber ich will mich der Herausforderung stellen. Dr. H.: Wenn Sie nicht noch ein paar Eigentore schießen! Martha: Aber die werden mich alles über die Therapie fragen, vielleicht wäre ein Gutachten von Dr. H. ganz gut, weil, der kennt mich besser als meine Therapeutin! Gisela: Warum wartest du das so ab, jetzt suchst du jemand, der dir die Verantwortung abnimmt. Martha: Was soll ich denn machen? Martha kann ihre Angst schlecht als Identitätsangst begreifen, die Angst vor ihrem So-Sein, deshalb versucht sie immer, Möglichkeiten zu finden, etwas zu machen, um die Angst zu verringern. Wenn sie nichts machen kann, dann soll ich etwas machen, und dabei entwirft sie ein rührendes Bild vom Vater-Therapeuten, der ihr besser helfen würde als die Mutter-Therapeutin, die sie verlassen hat. Dr. H.: Können Sie denn nicht zuhören? Hören Sie doch mit ihren furchtbaren Gedanken auf, sehen Sie lieber hier, wer Sie sind! Sie sind voller Angst wie ein Kind, das man von der Mutter wegreißen will, dabei sitzt die in ihrem Kopf, ziemlich penetrant. Und sie macht das geschickt, sie hat was dagegen, dass Sie den Sprung schaffen, und in den Ärztinnen wird sie wieder lebendig, die sie verfolgen und zerstören wollen! Martha: Aber ich habe gestern geübt, wie ein Rollenspiel, und mir ausgedacht, wie ich mit der Psychiaterin spreche … Dr. H.: Das können Sie doch nicht trainieren, Sie können doch nur so sein, wie Sie sind! Maximilian: Warte doch ab, was die überhaupt von dir wissen wollen. Martha: Und wenn sie mir eine Schizophrenie andichten wollen? Herr Hirsch, bin ich so?! Wenn sie nichts tun kann, dadurch auf ihr Sein zurückgeworfen ist, aber nicht weiß, wer sie ist, möchte sie jemand Mächtigen, der sie definiert. Den Gefallen tue ich ihr nicht. Dr. H.: Hören Sie doch auf, all die Koryphäen verführen zu wollen, Sie zu beurteilen. Das kann Ihnen niemand abnehmen. Martha: Wie ist das eigentlich bei dir, Bärbel, du bist doch verbeamtet worden, obwohl du in Psychotherapie warst? Bärbel: Reiß dich doch zusammen und sperr die Ohren auf, was dir hier gesagt wird. Ich weiß, dass ich damals auch total ängstlich war, weil diese Hierarchien in mir waren. Und die finden es toll, wenn jemand kommt, der einem sagt, wie man ist. Was meinst du, wie der Amtsarzt sich freut, wenn du vor ihm schlotterst.
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Charlotte (sie ist Schulleiterin!): Wenn du mir so gegenübersäßest, wie du jetzt bist, dann hätte ich massive Probleme, dich einzustellen. Wiltrud (ein neues Gruppenmitglied): Sag mal, ist das eigentlich echt, oder ist das von dir hier gespielt? Wie schon früher Bärbel fällt auch Wiltrud das Theatralische, wie Inszenierte an Marthas Äußerungen auf; die Konfrontation damit könnte helfen, zu sich selbst mehr Distanz zu gewinnen. Dr. H.: Na ja, es wird doch auch große Angst machen, wenn die Koryphäen, wie hier jetzt Charlotte als Schulleiterin, solche harten Urteile sprechen. Martha: Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was ich machen soll. Dr. H.: Es ist ihre Angst, genommen zu werden, auch wenn Sie die Stelle schon haben, sie wirklich auszufüllen, schließlich erwachsen zu sein. Martha wendet sich jetzt an Charlotte, die neue Autorität: Das macht mir schon Angst meinst du, ich soll den Job schmeißen? Charlotte: Ich fände es gut, wenn du ganz klar sagst, dass du Lehrerin sein willst! Gisela: Du denkst viel zu viel, sagst viel zu viel, und dann fängst du an zu schreien: Meine Stelle, meine Stelle! Charlotte: Wenn du dich echauffierst, dann ist das so, als wenn jemand aus dir redet, aber du selber bist es nicht. Martha: Ich habe mich aber schon oft in mancher Situation authentisch gegeben … Charlotte: Man kann nur authentisch sein, aber sich nicht authentisch geben! Dr. H.: Warte nur, sagt die Mutter, die Amtsärztin, dich kriege ich. Und vor lauter Angst haben Sie das Befürchtete gerade erreicht und den Brief bekommen, der sie noch einmal zu einer Art Prüfung zwingt, wer Sie denn sind. Und dann sind Sie hin- und hergerissen, machen sich Vorwürfe und suchen jemanden, der Ihnen sagt, was Sie tun müssen, eigentlich, wer Sie sind. Aber Sie können doch nur anerkennen, dass Sie nun einmal so sind, wie Sie jetzt sind, und erst von da kann es ja weitergehen. Um hier eine Grenze zu setzen, frage ich in die Gruppe, ob noch jemand ein anderes Problem habe. Maximilian, etwas gesetzteren Alters, stellt seinen Wunsch nach Frühpensionierung in den Raum, und wieder wird sozusagen mit umgekehrtem Vorzeichen ein Identitätsproblem aufgerollt, denn die Unzufriedenheit mit der beruflichen Identität soll nun durch etwas beseitigt werden, das man tun kann, nämlich die Beantragung der Rente. Nach einigem Hin und Her und Durcharbeiten des Problems sagt Martha plötzlich: Mir ist hier gerade etwas klarge-
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worden, dass man sich nämlich eigentlich nicht verbergen kann. Ich habe ziemliche Angst, dass mich das weiter verfolgt mit den Ängsten vor mir selbst. 01.07.2002 Die vorletzte Sitzung vor der fünfwöchigen Sommerpause. Almut gibt bekannt, dass sie nach den Sommerferien mit ihrem Chor unterwegs sein will und nicht kommen werde. Die Diskussion darüber ist schon in vollem Gang, da kommt Martha viel zu spät in die Sitzung, »reißt das Ruder an sich«, findet es in Ordnung, dass Almut fehlen wird, und kündigt an, dass sie selbst an der nächsten Sitzung nicht teilnehmen werde. Nachdem einige Gruppenmitglieder versucht haben zu problematisieren, warum Martha ihre Termine nicht abstimmen kann, sagt sie: Ich komme mir vor wie in einer Sekte! So eine Art Kinderheim mit strengen Regeln. Aber ich will gar nicht fliehen; wenn ich etwas nicht sagen will, sage ich es eben nicht! Martha ist die ganze Sitzung hindurch gespannt und aggressiv, gegen Maximilian, von dem sie sich keine Vorschriften machen lassen will, gegen Dr. H., dem sie am Telefon gesagt hatte: Wenn Sie so ätzend sind, weiß ich nicht, ob ich überhaupt komme!, und sie muss mit einem massiven obszön-aggressiven Angriff gegen Bärbel vorgegangen sein, die Kollegin – sozusagen Schwester –, die im Beruf so viel erfolgreicher ist, aber diese heftige Auseinandersetzung ist im Protokoll leider nicht verzeichnet, vielmehr einfach ausgeblendet. Bärbel fällt in sich zusammen und verstummt, nachdem sie noch geäußert hat, das sei wie bei ihrem Überfall. Ich weise die Angreiferin in die Schranken und betone Bärbel gegenüber den Unterschied zwischen der Vergewaltigung damals und der Situation hier und auch, dass es hier kein körperlich-sexueller Angriff gewesen sei, dass überdies Zeugen anwesend seien, die auf ihrer Seite stünden, und dass sie selbst heute einen Anteil zur Verfügung habe, mit dem sie das Geschehen beurteilen könne. 08.07.2002 Bärbel beginnt, indem sie auf den Angriff Marthas zurückkommt. Nicht nur die massiven Beschimpfungen haben mich nach der Sitzung in einen Zustand von Unruhe und Verletzt-Sein versetzt, besonders auch die Entwertungen, die damit verbunden waren. (Martha hatte ihr gesagt, ihr Weinen sei ekelhaft.) Dann habe ich aber eine innere Grenze aufrichten können: Ich hatte dann das Gefühl, nach Hause zu fahren, also zu mir zu kommen, zu mir selbst zu kommen. Ich möchte drei Punkte explizit klarstellen: Erstens habe ich das Gefühl, von Martha missbraucht zu werden und dass auch Martha die
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Gruppe missbraucht, zweitens habe ich mich gefragt, ob Martha (sie spricht sie jetzt direkt an) so missbraucht worden ist, dass sie zu einem solchen Ausbruch überhaupt in der Lage ist, und drittens habe ich beschlossen, dass ich einen solchen grenzüberschreitenden Ton und diese Art der unpassenden Aggression gegen mich nicht mehr dulden werde! Es folgte ein längeres Schweigen. Charlotte schließt sich Bärbel an und wiederholt die Frage, ob Martha vielleicht als Kind so extrem beschimpft worden sei. Martha reagiert erst nicht, sagt dann aber nach einiger Zeit: Ich habe keine Lust mehr!; sie denkt an Therapieabbruch. Die Gruppe versucht herauszufinden, was in ihr vorgeht – Martha beginnt sich vorwurfsvoll zu beschweren, dass ihr in der Gruppe regelrecht verboten werde zu sprechen; sie werde es in Zukunft so machen »wie die da«, sie meint eine Mitpatientin, die sehr häufig schweigt. Der Therapeut fasst zusammen: Es geht darum, ob Martha einen Zugang findet zu dem Opfer, das sie einmal gewesen ist. Wenn sie hier darauf besteht, Täterin bleiben zu wollen und dazu ein Recht beansprucht, geht es hier nicht. Eine solche private Auffassung der Beziehungswirklichkeit muss sie in der Lage sein, hinterfragen zu lassen. – Martha reagiert weinerlich und voller Selbstmitleid, sie deutet Suizidabsichten an für den Fall, dass sie die Arbeitsstelle nicht erhalten sollte. Dr. H. wirft ein, das klinge so, als ob sie annehme, die Stelle nicht zu erhalten, weil diese ihr von Bärbel und Charlotte missgönnt würde. Jetzt fragt Charlotte Martha direkt nach ihrem Verhältnis zur Mutter, und nun kann Martha von den permanenten gegenseitigen Beschimpfungen zwischen ihr und der Mutter sowie von dem extremen Hass und dem Neid der Mutter auf sie schon damals in der Kindheit berichten. Gisela ist irritiert und genervt, sie empfindet die Vorwürfe gegen die Mutter nicht authentisch, Martha eröffne nur einen Nebenschauplatz, indem sie sich hinter dem Hass ihrer Mutter verstecke, um hier die Realität ihrer eigenen Hass- und Neidausbrüche auf Charlotte und Bärbel zuzudecken. Dr. H. vermittelt und erklärt, dass es auf Marthas Fähigkeit ankomme, von sich selber abzusehen, das heißt zu unterscheiden, ob sie tatsächlich selbst hier misshandelt werde oder ob sie sich misshandelt fühle, ob es Neid und Hass der Mutter waren oder ihr eigener hier in der Gruppe. Wenn sie mit schmollendem Rückzug reagiere, müsse sie doch wieder allein bleiben. Konkretismus und das fehlende Als-ob-Gefühl der Übertragung sind auch Zeichen fehlender Mentalisierung, da die Differenzierung von Gefühl/Erleben und Realität nicht geleistet wird. Die Gruppe als ganze aber differenziert und ermöglicht eine Identifikation mit dieser Funktion.
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Martha beginnt nun wieder: Die anderen gönnen mir nichts und wollen mich nur unterdrücken! – Das heißt, sie will nichts verändern, sozusagen im Clinch mit der Mutter bleiben. Dr. H. versucht wieder zu erklären, dass sie (paranoid) jedes kritische Wort übersetzt in: Diese Person will nicht, dass ich die Stelle erhalte. Dabei sind Sie selbst die Einzige, die die neue Stelle sabotiert, und zwar mit der missgünstigen Stimme der Mutter in sich. Sie selbst sorgen dafür, dass die Prophezeiung der Mutter eintritt, hier dagegen soll auf den Grund Ihrer realen Täterschaft in der letzten Sitzung gegangen werden, dass Sie ihr ursprüngliches Opfer-Sein nämlich blitzschnell in ein Täter-Sein umgewandelt haben, wie wir es erlebt haben. In der Gruppe ziehen wir vor, Kontakt zu dem ursprünglich beschimpften, traumatisierten Kind zu bekommen und zu verstehen, wie Sie gelernt haben, Täterin zu sein. Maria ergänzt: Wenn du Schwäche gezeigt hättest, wärest du missbraucht worden. Martha versöhnlicher: Eben! Es folgt eine Diskussion über das Verhalten von Jugendlichen in sozialen Brennpunkten, mit denen Charlotte beruflich zu tun hat. Als Martha wieder beginnen will, über ihre Unfähigkeit, in ihrem Beruf zu arbeiten, zu klagen, grenzt sie Charlotte ab: Lass doch erst mal das Gesagte auf dich wirken! Von jetzt ab kann sich Martha zurückhalten; die Gruppendiskussion, an der sich nun die meisten anderen Gruppenmitglieder beteiligen können, erstreckt sich nun auf verschiedene Beispiele von Täter- und Opfer-Schicksalen, in Partnerbeziehungen, in Arzt-Patienten-Beziehungen, und auch um die Grenzüberschreitung von außen nach innen und von innen nach außen, wie man zum Opfer gemacht werden, ebenso gut aber auch seinen Täter findet oder gar selbst zum Täter werden kann. 26.08.2002 Die Gruppe reagiert erst einmal auf die gerade beendeten Ferien etwa so: Wenn der Leiter autoritär Ferien anordnet, dann wollen wir doch mal sehen … Wiltrud wird am nächsten Montag wegen eines Seminars fehlen, Bärbel wird wegen einer Klassenfahrt fehlen und Maximilian kündigt das Ende seiner Gruppentherapie nach der Kündigungsfrist von sechs Wochen an … Maria und Charlotte verständigen sich über ihre gelungenen Ferien, sie konnten loslassen, sie selbst sein, die ewig drängenden Gedanken einmal aufgeben, aus sich herausgehen, den Mut haben, mal anders zu sein …; Maria beschreibt eine »Gegenreaktion gegen festgefahren sein, sich nicht bewegen, zum Arzt flüchten mit meinen Schmerzen«. Martha: Klar, du warst verunsichert und hast von anderen die Beantwortung deiner Fragen erwartet.
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Sie sieht also das eigene Problem in Maria, vielleicht gerade weil diese es fürs erste überwunden hat. Auch Bärbel schließt sich an: Ich habe das Gefühl gehabt, frei zu sein, tun zu können, was ich wollte. Diese Freiheit scheint Martha nicht gefühlt zu haben, aber sie muss jetzt nicht neidisch sein, muss ihre Angst und Unfähigkeitsgefühle nicht mehr paranoid-aggressiv abwehren, sondern kann sie als eigenes (Erreichung der depressiven Position) einbringen und so den anderen Teil vertreten, der auch noch in der Gruppe enthalten ist: Abhängigkeit und Angst vor der Freiheit. Denn die Schilderungen der Gruppenmitglieder der neuen Freiheit in den Ferien muten etwas unrealistisch manisch an. Martha: Ich habe mich ja so auf die neue Stelle gefreut, aber je näher der Schulanfang rückt, umso verkrampfter werde ich. Die alten Gedanken tauchen wieder auf, ich könne es nicht schaffen. Ich habe Angst vor einem Rückfall, weil ich auch die alte Wohnung gekündigt habe und zwischenzeitlich bei meinen Eltern wohne, bevor ich die neue Wohnung beziehen kann. Eigentlich wollte ich nicht wieder zu den Eltern, und auch die Gruppe wird was dagegen haben, und es ist ganz schrecklich zu Hause bei meinen Eltern … Maria: Du mit deiner Reaktion, wenn du »unwohl« und »verkrampft« sagst, machst du wieder alle positiven Gedanken kaputt. Charlotte: Es ist ja auch schwer, von alten vertrauten Mustern loszulassen. Ich habe ganz bewusst Abschied genommen vom Elternhaus, das ich nun verkauft habe und in das neue Leute einziehen werden. Ich habe mir die Zeit genommen, Abschied zu nehmen, durch die Räume zu wandern, ich habe mich erinnert, was war, und das war auch sehr traurig gewesen, weil es eben so endgültig ist, und das tut weh. Aber ich konnte weinen, und das war gut und erleichternd, dazu war ich früher nicht in der Lage. Martha: Abschied ist gut, ja, ja, trotzdem möchte ich etwas mitnehmen … Die gesamte Trennungsaggression scheint vor den Ferien geäußert worden zu sein, jetzt malt die Gruppe ein – zu idealisiertes – Bild von neuer Freiheit und Selbständigkeit. Bemerkenswert ist, dass Martha nicht projektiv-paranoid (Neid!) reagieren muss, sondern bei sich selbst bleiben kann, auch die Ursache ihrer Angst lokalisieren kann (vor der beruflichen Zukunft, nicht etwa vor einer Amtsärztin-Mutter) und die vorübergehende Rückkehr zu den Eltern als eigene Schwäche diagnostizieren kann. 16.09.2002 Martha beginnt: Nächste Woche kann ich nicht kommen, weil ich eine Klassenfahrt machen muss. Eigentlich möchte ich aus meiner Wohnung wieder ausziehen, die Gegend gefällt mir nicht, und die
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Vermieter wohnen im Haus, das ist mir zu eng. Ich bin dabei, mir alles madig zu machen. Dr. H.: Das klingt so wie: Ich will wieder nach Hause! Martha: Kann schon sein. Es lohnt sich auch nicht, die Wohnung noch zu tapezieren, wenn ich ausziehe. Dr. H.: Als ob die Wohnung noch nicht wirklich Ihre wäre, wenn sie nicht tapeziert ist. Manchmal braucht man, um sich niederzulassen, die Erlaubnis von dem, den man verlässt. Martha: Was heißt Erlaubnis? Dr. H.: Man muss doch den Segen des Vaters kriegen, wenn man geht. Martha: Meine Eltern sehen mich nicht einmal an, wenn ich den Raum betrete. Sie haben mir nicht mal zum Geburtstag gratuliert. Almut: Mir fällt auf, dass du dich einerseits wie ein Kind verhältst, aber andererseits nicht möchtest, dass die Eltern dich so behandeln. Dr. H.: Tragischerweise hängt man umso mehr an den Eltern, je schlimmer sie mit einem umgegangen sind, und braucht umso mehr ihre Erlaubnis zu gehen. Martha: Es stimmt, das war kleinkindhaft, ich will auch davon loskommen. Es geht um die Trennungsproblematik; Almut weist auf die Ambivalenz von Autonomiebestrebung und dem Bedürfnis, abhängig zu bleiben, hin. Der Ich-Anteil Marthas, der sich lösen will und auch einsichtig ist, ist im Moment offenbar größer. Martha: Ich habe mich auch noch nicht umgemeldet, und am Wahltag fahre ich wieder hin, weil ich wählen will, aber ich fahre nicht zu den Eltern. Offenbar um Martha nicht in die Außenseiterrolle gelangen zu lassen, stelle ich an diesem Punkt die Frage in den Raum, ob nicht auch andere Gruppenmitglieder Probleme mit diesem Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt haben, und es entwickelt sich eine allgemeine Diskussion darüber. 07.10.2002 Die Gruppendiskussion geht um den Gegensatz von Einzelnem und Gruppe als ganzer. Der Eine fühlt sich von der »Gruppenmeinung« übergangen, der Andere sucht die Zuneigung der Gruppe, wieder Andere fühlen sich von »der Gruppe« benutzt. Martha: Ich habe Probleme mit meinen Lateinschülern, die lassen mich spüren, dass ich unbeliebt bin. Es kann jetzt wie selbstverständlich die Gruppendiskussion auf die Situation Marthas in der Schule bezogen werden: Die Gruppe hatte erarbeitet, dass es so etwas wie eine »Gruppenmeinung« nicht gibt, vielmehr eine Art Gruppenkonsens, den alle – vielleicht von
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Ausnahmen abgesehen – gemeinsam tragen. Insofern ist »Gruppe« genauso wie »meine Lateinschüler« ein Konstrukt subjektiver Wirklichkeit, und am Beispiel der Gruppendiskussion kann Martha erkennen, dass es viel mehr um Abhängigkeit (geliebt zu werden), eigene Bedürfnisse und Erwartungen geht als um die äußere Realität. Maria fühlt sich von der Gruppe nicht geliebt, Martha von ihren Schülern, aber Martha ist jetzt so begrenzt, dass sie zur Gruppendiskussion beiträgt, ohne sich als jemand »Besonderes« in den Vordergrund drängen und sich als jemand ganz Einzigartiges darstellen zu müssen. Martha kann nun auch Gisela den Vortritt lassen, die über ihre realen beruflichen Probleme sprechen möchte. 14.10.2002 Im Zentrum der Sitzung steht die Diskussion um die langjährige Dreiecksbeziehung von Charlotte, ein Arrangement, um den Abhängigkeits-Autonomie-Konflikt zu lösen, indem sie zwei Partnerinnen hat; sie will sich von der einen Frau trennen, allein leben und die Beziehung zur anderen aufrechterhalten. Irgendwann beteiligt sich Martha: Ich könnte auch mit niemandem zusammenleben und könnte nicht frei atmen, wenn da noch einer drin wohnen würde. Heute würde ich auch keine Beziehung wollen! Charlotte: Du lebst auch zum ersten Mal allein? Martha: Ja, sonst nur bei meinen Eltern. Ich genieß’ das auch, allein zu sein, und nächste Woche treffe ich mich mit einem verheirateten Mann; mal sehen wie das wird. Es ist, als ob die Gruppe das auf Martha zukommende Problem der Dreiecksbeziehung ausführlich bereits am Beispiel Charlottes diskutiert hätte. Es geht wieder um die beruflichen Entwicklungen zweier Gruppenmitglieder; unvermittelt sagt Martha: Zum letzten Mal wollte ich noch sagen, das hat mir geholfen, es war befreiend. Aber irgendwie geht es mir jetzt auch komisch. Manchmal denke ich, ich habe den Beruf ergriffen, um von den Schülern gemocht zu werden. Soll ich jetzt kündigen? Ich hatte soviel Motivation, und die ist jetzt weg. Martha kündigt zum ersten Mal eine Beziehung zu einem Mann an, wenn auch mit einem Vorbehalt: Er ist verheiratet. Sie kann die ganze Sitzung aushalten, ohne etwas für sich beanspruchen zu wollen. An einem Punkt, der zu ihrem Selbstwertproblem passt, schaltet sie sich ein, aber nicht klagend (d. h. an die Familie gebunden), sondern auf die Intervention der vergangenen Stunde zurückkommend, dass sie doch nicht von der Liebe ihrer Schüler abhängig sein muss. »Komisch« geht es ihr, weil sie merkt, dass sie ohne ElternÜber-Ich ganz gut leben und eine Partnerbeziehung ins Auge fassen kann.
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28.10.2002 Ein neues Gruppenmitglied, Hans, stellt sich vor, berichtet kurz, wer er ist und warum er Therapie machen möchte; die anderen stellen sich knapp lediglich mit ihren Vornamen vor, eher ablehnend als dem Neuen freundlich zugewandt. Schweigen. Maria erzählt dann von ihrer hochambivalenten Freundschaftsbeziehung, Charlotte von ihren Empfindungen beim Wiedersehen ihrer Expartnerin, von der sie sich getrennt hatte. Martha: Also, ich bin seit zwei Wochen mit einem Mann zusammen; erst habe ich gedacht, dass es nicht wehtut, jetzt tut es aber doch weh, weil: Er ist nämlich verheiratet … Wiltrud: Ich wundere mich, dass du (Hans) einfach so von dir reden kannst, ich fühlte mich, als ich kam, von der Gruppe total übergangen … Martha fügt sich ein in ein Gruppenthema (problematische Beziehungen), besetzt es aber nicht wie früher monoman, kann ihre Ambivalenz der neuen Beziehung gegenüber in der Schwebe lassen, muss nicht gleich eine Lösung, ein Ergebnis, eine Befreiung oder eine Gebrauchsanweisung für das Leben fordern. 11.11.2002 Wiltrud tut es leid, dass sie in der letzten Sitzung so arrogant, »eine richtige Zicke« gewesen sei, sie schütze sich damit, habe eigentlich Angst vor Gruppen, fühle sich ausgeliefert, habe Angst, vereinnahmt zu werden, andererseits wisse sie, dass sie dadurch einsam werde, und sehe die Gruppe als eine Chance … Almut ist solidarisch, sie kenne das von sich; Hans, der in der Gruppe leicht weinen kann, obwohl er erst kurze Zeit dabei ist, fragt Wiltrud, ob sie hier weinen könne; nein, sagt sie, es seien keine Tränen da. Martha zu Wiltrud: Lass dir doch Zeit, wenn die Dinge von unten hochkommen, ist es eben so. Warum soll man immer stark sein, und wenn du arrogant wirkst – das ist doch egal! Stark sein müssen, kämpfen, zurückschlagen, genau das, wozu sie sich vor Monaten noch immer zwingen musste. Die Gruppe hat offenbar Über-Ich-entlastend gewirkt, denn sie hat von der Gruppe eine Art alternative Erlaubnis erfahren (immer wieder), dass sie trotz ihrer paranoid-projektiven Abwehr akzeptiert und gehalten wurde. Sie hat immer wieder erfahren, dass die Anderen nicht so dachten, wie sie dachte, dass sie dachten. Sie hat aber auch immer wieder erfahren, dass die Anderen ihrem paranoiden Denken Grenzen setzten und sie auf sich selbst zurückwiesen. Man kann von der Internalisierung eines guten alternativen Objekts sprechen, das dem paranoiden Denken eine geduldige, modifizierende und zur Reflexion befähigende Alternative bot. In der Diskussion um Wiltruds pa-
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ranoide Abwehr (Arroganz) trägt Martha dazu bei, Wiltrud in die Gruppe hineinzuholen, und kann ihr durchaus den Vortritt lassen. Martha reagiert inzwischen so und wird auch so behandelt wie jedes integrierte Gruppenmitglied. 09.12.2002 Gisela beginnt: Ich habe mich ziemlich verliebt. Es wird aber nichts, weil es unrealistisch ist. Er ist verheiratet und hat Familie, und er ist korrekt und macht keinen Mist. Ich will das auch nicht. Das ist auch unausgesprochen klar, ich denke, ich habe es unter Kontrolle. Martha: Mein Lover ist verheiratet und 60 Jahre alt. Aber ich genieße die Beziehung zu B. – es ist schon so ein emotionaler Stress, aber die Vorteile überwiegen. Martha und Gisela diskutieren über Dreiecksbeziehungen und kommen zu dem Schluss, dass die Verantwortlichkeit bei jedem selbst liegt. Das wäre bis vor kurzem nicht denkbar gewesen: Verantwortung bei jedem selbst! Martha erzählt von ihrer Beziehung, von Freude und Leid. Aber sie bereut nichts. Vielleicht ist etwas daran, dass die Dritte, die Ehefrau, sogar eine Art Schutz vor zu großer Nähe bedeutet. Dr. H.: Das bevorstehende Weihnachtsfest scheint in der Gruppe kein Problem zu sein … Martha: Nach den Weihnachtsferien habe ich meine Revision. Ich habe Angst vor der allmächtigen Schulleiterin. Aber ich sehe keine reale Gefahr, ich denke, ich mache mir nur meine eigene Konstruktion davon. Dr. H.: »Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.« Sie wollen doch nur zu ihren Eltern zurück: »Mama, ich bin gescheitert!«. Martha: Dann bringe ich mich um. Dr. H.: Man bringt sich nur um, wenn man nicht mehr ein noch aus weiß. Aber ihre schwarze Seite hätte dann gesiegt und würde triumphieren. Martha: Ich will hoffen, dass die schwarze Seite immer weniger wird … Weihnachten und die damit verbundene Therapiepause scheinen Anlass für eine kleine Regression zu sein; es entwickelt sich ein ironisches Spiel des Therapeuten mit der Patientin, um ihr zu zeigen, dass ihre Angst (vor der »Revision«) verstanden wird, dass sie aber keinen realen Grund hat, wie sie selbst ja auch andeutet. Eigentlich will der Therapeut die »schwarze Seite« in der Patientin ärgern beziehungsweise den Ich-Anteil der Patientin, der noch von dieser erschreckt werden kann.
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06.01.2003 Hans spricht von der Abhängigkeit von seiner Frau, der zuliebe er sich hat sterilisieren lassen (nachdem sie vier Kinder hatten), die aber nun ihre eigenen Wege geht. Er müsste sich trennen – hat aber Angst davor. Gisela: Es geht auch um Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Es muss ja nicht gleich Trennung heißen. Martha unvermittelt: Ich weiß ja auch nicht, ob es richtig war, Weihnachten bei meinen Eltern zu sein. Es ist ja auch nichts Spektakuläres passiert. Der Einwurf ist so unvermittelt und primärprozesshaft, scheinbar ohne Bezug zu dem, was in der Gruppe geschieht, es sei denn, man übersetzt es: Weihnachten zu Hause sein bedeutet: Bin ich wieder abhängig? Martha: Ich habe mich nicht so verhalten, wie meine Mutter es gewünscht hat. Sie wollte gerne öfter ’was mit mir machen. Aber ich wollte nicht und habe das auch gesagt. Trotzdem habe ich ein teures Armband zu Weihnachten bekommen. Ich brauche es aber nicht, bald kann ich es mir selber leisten. Martha insistiert, sie fordert implizit eine Antwort auf die nicht offen gestellte Frage, ob sie noch (zu sehr) abhängig ist. Die Gruppe diskutiert, ob man Geschenke annehmen und unabhängig bleiben kann. Almut zu Martha: Fährst du denn jedes Wochenende nach Hause? Martha: Schon oft, aber dann treffe ich mich mit den Freunden von früher. Ich hänge so an X-Stadt; vielleicht suche ich mir dort eine kleine Wohnung. Gisela: Mir wird ganz schwindelig, richtig körperlich. Wenn ich mir das hier als Bühnenstück vorstelle, dann ist das wie ein Schauspiel, und ich bin die Kritikerin. Martha: Das verstehe ich nicht. Charlotte: Du bist nicht die Martha, die das im Griff hat. Ich finde, du fällst wieder zurück, nach den Ferien, denn du warst schon mal auf einem andern Weg. Martha: Aber ich finde es doch gut in X-Stadt! Dr. H.: Die Frage ist doch, wie souverän Sie sind: Können Sie Weihnachten zu den Eltern gehen und trotzdem Sie selbst bleiben? Können Sie nach X-Stadt gehen und trotzdem souverän bleiben? Martha: Ich habe mich arrangiert und bin in ein tiefes Loch gefallen, aber das war o.k. so … Dr. H.: Vielleicht sind Sie nicht getrennt genug … Martha: Ich war schon traurig, zu Weihnachten meinen Freund nicht sehen zu können.
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Die Gruppendiskussion geht weiter über halb vollzogene Trennungen von den Eltern und ambivalente Partnerbeziehungen; Dr. H. spricht Wiltrud an – Wiltrud: Mir ist so schwindelig, vielleicht wegen der Luft hier … 13.01.2003 Protokoll führt Gisela, die lange Jahre in der Gruppe ist und an das Ende ihrer Therapie denkt: »Zum Thema dieser Therapiestunde entwickelt sich Selbstverantwortung, die man nun mal für sein Leben hat. Anlass sind die Alltags- und Lebenssituationen, von denen Martha, Hans und Maria berichten. Martha fährt wie süchtig immer wieder zu den Eltern – diese vollführen penetranten Bindungsterror, unter dem sie einerseits leidet und den sie andererseits aktiv aufsaugt – ihr Schutzwall gegen Veränderung ist meistens aufgebrachtes Zerreden von gesunden Optionen. Hans passt sich aus großer Angst vor erneutem Familien- beziehungsweise Zuwendungsverlust den Interessen seiner Frau und deren Ursprungsfamilie an, obwohl er eigentlich damit viel lieber gar nichts zu tun hätte. Scheinbar aber ist die Angst vor Verlust größer als die Frustration und Wut über Unterwerfung und Anpassung. Maria erkennt ihre eigenen Erfolge nicht gerne an und konzentriert sich statt dessen auf Verfolgungsideen und Selbstentwertung. Charlotte meint, dass sie im Grunde als Pflegerin ihrer Mutter in die Welt gesetzt worden sei. Wir sprechen dann ziemlich konkret davon, welche psychische Funktion beziehungsweise Rolle selbst-defizitäre Eltern einem Kind geben können und wie das dann zum Lebensgeschehen eines Kindes wird. … In dieser Stunde wird auch viel gelacht und gespöttelt – denn es ist ja auch zum Lachen, welch komische Formate seelische Verstrickung und Ambivalenz im Alltag haben kann. Selbst die diesmal direkt Betroffenen müssen grinsen. Das Thema ist ja auch fassbar und hat mit Aussicht auf die Zukunft zu tun. Ganz anders ist es, wenn sich jemand mühseligst an konkrete Vorstellung und die Stimmung beim Missbrauch, oftmals sexuellem, zu erinnern wagt.« Das gemeinsame Lachen kann man als neues organisierendes Prinzip verstehen: Nicht so todernst, nicht so konkret, die Gefühle von Abhängigkeit und Lebensunfähigkeit sind doch relativ, schließlich sind alle erwachsen und führen ein mehr oder weniger (allerdings noch) eingeschränktes Leben. Das Lachen ist so ein konstruktives Pendant zu dem Schwindel in der Sitzung davor, der als ein mehr psychosomatisches, destruktives organisierendes Prinzip verstanden werden kann. Weiter das Protokoll von Gisela: »Charlotte bleibt konkret: Es sei zum Lachen und es sei ein todernstes Thema. Warum Hans denn zu den Schwiegereltern fahre, wozu er selbst es denn brauche?
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Wieso Martha immer noch ihre Bankverbindung in X-Stadt habe, kein eigenes Bett habe und glaube, sie interessierende Videos nur über ihre Eltern erhalten zu können? Warum denn Maria nicht ihre Sterne am Himmel sieht? Antworten gab’s nicht – mehr so ein Wachwerden und Gucken, vielleicht. Seitens von Herrn Hirsch prägte sich mir das Wort Gleichsinnigkeit ein. Das war an Martha gerichtet und meint, glaube ich, ein völlig undifferenziertes Dasein, jedenfalls nicht auseinanderhaltend, was eigenes Dasein und das der Eltern ist.« 20.01.2003 Martha kommt zu spät, ihre Chefin habe keine Zeit gehabt, die Unterrichtsstunde zu besprechen, eine Lehrprobe, sie sei sehr nervös gewesen, aber die Schüler hätten gut mitgemacht. Martha beharrt darauf, dass es eigentlich nicht möglich sei, dass sie vorankomme, Prüfungen bestehe, als ob sie es nicht verdient hätte. Endloses nörgelndes Jammern, dass sie es nicht schaffe. Dr. H. unterbricht Martha nach einer halben Stunde, sie möge jetzt mal aufhören mit dem Lamentieren. Dr. H. spricht Wiltrud an, die auch eine Lehrprobe in der letzten Woche hatte. Was Martha allein (zurzeit) nicht schafft, die Begrenzung nämlich gegen das innere Objekt, das ihr Angst macht, das sie aber auch nicht lassen kann, sondern ihm so viel Gewicht gibt, das macht der Therapeut jetzt, indem er ein Gruppenmitglied mit ähnlichen Problemen anspricht in der Hoffnung, dass diese konstruktiv, das heißt entwicklungsfördernd bearbeitet werden können. 27.01.2003 Martha beginnt: Ich habe zu Hause bei den Eltern angerufen, weil ich Unterstützung brauchte für die Übergabe der alten Wohnung, aber mein Vater war am Telefon so komisch, meine Mutter ist bestimmt todkrank, denke ich, und sie wollen es mir nicht erzählen! Ich habe ein total schlechtes Gewissen, weil: Es ist ihr inzwischen sehr schlecht gegangen. Charlotte: Siehst du denn diese Abhängigkeit, diese zu große Abhängigkeit von der Mutter nicht? Wenn es deiner Mutter schlecht geht, darf es dir nicht gut gehen. Ich kenne das ja auch von mir, immer die Angst, der Mutter könne etwas passieren. Erst als ich habe loslassen können, ist meine Mutter frei geworden, frei zu sterben. Das war eine fürchterliche beidseitige Abhängigkeit. Dr. H. zu Martha: Die Phantasie, ihre Mutter habe Krebs, ist sowohl eine unterdrückte Aggression, sozusagen ein Mordgedanke gegen sie, als auch ein Grund, Schuldgefühle zu bekommen, wenn Sie sie verlassen würden.
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Maria: Siehst du denn nicht die Struktur dessen, was passiert: Der Vater ist »anders« am Telefon, und schon setzen bei dir Mechanismen ein, die zu Ängsten und Schuldgefühlen führen. Martha: Ich fühle mich aber verantwortlich und auch schuldig! Die Gruppe diskutiert jetzt verschiedene Phantasien mit dem Kern: Wenn ich beginne zu leben, muss Mutter sterben. Wenn ich Erfolg habe und das »System« verlasse, stirbt Mutter. Gisela wehrt sich gegen Marthas Befürchtungen: Mir kommt alles wie gesponnen vor, das sind doch Phantasien, glaubst du das denn wirklich? Früher ist es dir schlecht gegangen, hast mit Ängsten und Suizidgedanken auf die Frage reagiert, ob du es schaffst, Lehrerin oder Beamtin zu werden. Jetzt hast du es geschafft, das sagst du uns ja auch nur in Nebensätzen so beiläufig, und jetzt hast du Angst, deine Mutter könnte sterben! Das bedeutet, dass Gisela nach fast einem Jahr der Therapie Marthas etwas Aufgesetztes, Kokettierendes an ihren Klagen spürt. Vielleicht ist es ein Übertragungsgeschehen bei Martha, Übertragung auf die Gruppe, die sie in den Weihnachtsferien allein gelassen und wieder in die Arme der Familie getrieben hat. Real hat sie aber doch eine Entwicklung gemacht, ist beruflich vorangekommen und hat auch erstmalig in ihrem Leben eine erst einmal stabile Beziehung haben können. 03.02.2003 Martha beginnt die Sitzung: Ich habe über die letzte Stunde nachgedacht. Ich lebe im Chaos und muss meine Wohnung renovieren. Ich mache mir Stress wegen der Rektorin und der Lehrprobe. Ich fühle mich urlaubsreif. Marthas erstes Jahr der Gruppenpsychotherapie ist vorüber. Trotz aller Rückfälle in alte Denk- und Angstgewohnheiten, trotz allen Aufflackerns alter bedrohlicher Phantasien hat sie doch, so kann man sagen, durch das alternative Denken der Gruppe beziehungsweise durch die Summe des Denkens aller Gruppenmitglieder in diesem Jahr so viel in sich aufnehmen können, dass die schlimmsten paranoiden Ängste und die Notwendigkeit, das Innere projektiv mit brutaler Energie nach außen zu wenden, sehr abgenommen haben. Günstig für Marthas Therapie war die Übertragungsspaltung, die die Kombination von Einzel- und Gruppenpsychotherapie ermöglichte (vgl. Hirsch 2004, S. 273ff.), sich von der mehr mütterlichen Einzeltherapeutin zu trennen und sich auf die einheitliche Situation der Gruppenpsychotherapie einzulassen. Martha ist jetzt (Mitte 2007) fünfeinhalb Jahre in der Gruppe – warum denn nicht so lange – sie ist beruflich erfolgreich, ist anerkannt und fühlt sich sicher. Sie lebt
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jetzt allein zufrieden in ihrer vielleicht dritten oder vierten Wohnung. Die Beziehung zu ihrem – immer noch verheirateten – Partner hält an. Martha ist jetzt schwanger, und nach intensivem Ringen in der Gruppe hat sie sich entschlossen, das Kind zu bekommen. Ihr Partner – immer noch verheiratet – will seinen Teil der Verantwortung für das Kind übernehmen. Martha denkt noch nicht über ein Ende ihrer Therapie nach.
Literatur Finger-Trescher, U. (1991): Wirkfaktoren in der Einzel- und Gruppenanalyse. Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt Hirsch, M. (2003): Täter und Opfer sexueller Gewalt in einer therapeutischen Gruppe – über umwandelnde Gegen- und Kreuzidentifikationen. Gruppenpsychother. Gruppendyn. 39, 169–186 Hirsch, M. (2004): Psychoanalytische Traumatologie – Das Trauma in der Familie – Psychoanalytische Theorie und Therapie schwerer Persönlichkeitsstörungen. Schattauer, Stuttgart Pedrina, F. (2006): Mütter und Babys in psychischen Krisen. Forschungsstudie zu einer therapeutisch geleiteten Mutter-SäuglingsGruppe am Beispiel postpartaler Depression. Brandes & Apsel, Frankfurt a. M.
Die Autorinnen und Autoren
Dr. med. Thomas Bolm, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Psychosomatische Medizin, Gruppenpsychotherapeut, ist leitender Oberarzt der Klinik für Psychosomatik und Fachpsychotherapie am Christophsbad in Göppingen. [email protected] Dr. med. Paula Teresa Carvalho, Fachärztin für Psychiatrie, Gruppenanalytikerin, ist in privater Praxis und öffentlichen Diensten am Allgemeinen Krankenhaus in Caldas da Rainha/ Portugal tätig. [email protected] Dr. med. Mathias Hirsch, Facharzt für Psychiatrie und Facharzt für Psychotherapeutische Medizin – Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker, ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Düsseldorf tätig. [email protected] Priv.-Doz. Dr. med. Fernanda Pedrina, Kinder- und Jugendpsychiaterin, Psychoanalytikerin, Kinderanalytikerin, ist in eigener psychoanalytischer und kinder-/jugendpsychiatrischer Praxis in Zürich tätig, Vertretungsprofessorin an der Universität Kassel (Fachbereich Sozialwesen) und hat Lehraufträge an weiteren Instituten. [email protected] Dr. med. Peter Potthoff, Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Lehranalytiker, Gruppenlehranalytiker, ist in eigener psychoanalytischer Praxis in Ratingen tätig. [email protected]
Autorinnen und Autoren
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Angelika Staehle, Diplom-Kauffrau, Diplom-Psychologin, Psychoanalytikerin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Lehr-, Kontroll-, Gruppenlehranalytikerin, ist in eigener psychoanalytischer Praxis für Kinder, Jugendliche und Erwachsene tätig. [email protected] Dr. phil. Sabine Trautmann-Voigt, Psychologische und Kinderund Jugendlichenpsychotherapeutin, ist Geschäftsführerin der Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie, Leiterin des Deutschen Instituts für tiefenpsychologische Tanztherapie und Ausdruckstherapie (DITAT), und Lehrbeauftragte am Psychologischen Institut der Universität Bonn. [email protected] Dr. med. Bernd Voigt, Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Praktischer Arzt, ist Ärztlicher Leiter des Medizinischen Versorgungszentrums für Psychosomatik, Psychotherapie und Psychiatrie und der Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie (KBAP). [email protected]
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Das Paradies geht in der Psyche verloren tige Fühlen und Wünschen allein bringt das Gefühl von Schuld hervor. Das Gewissen, bei Freud das Über-Ich, konstituiert sich aus Schuldgefühlen und macht so den Menschen erst schuldfähig, aber dadurch auch fähig zu reifen.
Mathias Hirsch Schuld und Schuldgefühl Zur Psychoanalyse von Trauma und Introjekt 4. Auflage 2007. 341 Seiten mit 5 Abb., kartoniert ISBN 978-3-525-01435-6
Seit biblischen Zeiten sind Schuld und das Gefühl von Schuld ein zentraler Topos der menschlichen Existenz. In der Mythologie, in der Dramatik, im täglichen Umgang zwischen Menschen – überall gilt Schuld wie ein Kompass für das Verhalten. Selbstverständlich hat sich Sigmund Freud beim Entwurf seiner Tiefenpsychologie von Anfang an der Schuld und des Schuldgefühls angenommen und in dieser Differenzierung bereits die Dialektik von Schuld und Schuldgefühl deutlich gemacht: Schuldgefühl ist nicht nur ein Problem des Täters, sondern, im Ödipus-Konflikt etwa, das untä-
In der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie kann die Schuld des Täters als eine Seite des Traumas gesehen werden, das durch Gewalttätigkeit gegen das Opfer, ihrer Annahme und Introjektion und schließlich Identifikation zum Schuldgefühl des Opfers geworden ist. Wenn die Psychoanalyse die so beschaffene Schuld des einstigen Opfers erkennt, muss sie in der Therapie zwischen Schuld und Schuldgefühl sorgfältig unterscheiden. Mathias Hirsch stellt in diesem grundlegenden Werk erstmalig eine Systematik des Schuldgefühls vor, die ein differenziertes Feld erschließt: – ein Basisschuldgefühl (aufgrund der bloßen unerwünschten Existenz), – ein Vitalitätsschuldgefühl (aufgrund behinderter vitaler Bedürfnisse), – ein Trennungsschuldgefühl (wegen verspäteter Autonomiebestrebungen), – ein traumatisches Schuldgefühl (aufgrund der Internalisierung traumatischer Gewalt).