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German Pages 288 Year 2003
Beiträge zum Parlamentsrecht
Band 57
Die Gleichheit der Wahl Dogmengeschichtliche und systematische Darstellung Von
Michael Wild
Duncker & Humblot · Berlin
MICHAEL WILD
Die Gleichheit der Wahl
Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von
Ulrich Karpen, Heinrich Oberreuter, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen
Band 57
Die Gleichheit der Wahl Dogmengeschichtliche und systematische Darstellung
Von
Michael Wild
Duncker & Humblot . Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2001 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-10421-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@ ,
Meinen Eltern Sybille und Peter Wild
Pour qu 'une volonte soit generale, il n' est pas toujours necessaire qu' elle soit unanime, mais il est necessaire que toutes les voix soient comptees; toute exclusion formelle rompt la generalite. Rousseau, (Contrat Social, II. 2, Fn. 1)
Wo das Rechnen anfängt, hört das Verstehen auf. Schopenhauer
Vorwort Die vorliegende Arbeit hat die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn im Sommersemester 2001 als Dissertation angenommen; sie hat auch die Drucklegung durch einen Zu schuß gefördert. Anlaß für die Untersuchung des dogmatischen Gehaltes der Wahl gleichheit war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten vom 10. April 1997, die eine tiefgehende Uneinigkeit der Richter des 2. Senats in eben dieser Frage offenbarte, sowie die Arbeit der Reformkommission zur Größe des Deutschen Bundestages, die sich mit vielen hier behandelten Einzelfragen der Wahlrechtsgestaltung auseinanderzusetzen hatte. Vor allem danke ich meinem Lehrer und Doktorvater, Prof. Dr. Wolfgang Löwer, der die Arbeit angeregt und ihre Anfertigung stets mit Rat und Tat aktiv unterstützt und gefördert hat. Das Zweitgutachten hat Prof. Dr. Karin Graßhof erstattet, die an der genannten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als Berichterstatterin mitgewirkt hat. Auch ihr gilt mein herzlicher Dank. Danken möchte ich schließlich Dr. Michael Winkelmüller und Mare Spitzkatz für manche Anregung und für die Übernahme der Korrekturen. Berlin, im Mai 2002
Michael Wild
Inhaltsverzeichnis Einleitung ............................................................
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1. Teil Historische Untersuchung A. Das gleiche Wahlrecht bis zum 1. Weltkrieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. I. England im 17 . Jahrhundert ..................................... H. Frankreich im 18. Jahrhundert ................................... 1. Staatstheoretische Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Das Wahlrecht in der Verfassungspraxis der Revolution ........ . . a) Bürgerliche Verfassung von 1791 ........................... b) Demokratische Konventsverfassung von 1793 ................ 3. Betrachtung................................................. III. Deutschland von 1815 bis 1914 .................................. 1. Liberaler Positivismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Zensuswahlrecht .......................................... b) Allgemeine und gleiche Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen . . .. c) Proportionalisten .......................................... 2. Demokraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Theorie .................................................. b) Politik: Sozialdemokraten ..................... . ............ 3. Exkurs: Abweichende Entwicklung in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Betrachtung .................................................
14 14 15 15 18 18 20 22 24 25 27 28 29 32 32 33 38 39
B. Entwicklung in der Weimarer Zeit .................................. I. Nationalversammlung: Weimarer Verfassung und Reichswahlgesetz .. 1. Art. 22 WRV ............................................... 2. Wahlgesetz ................................................. 3. Betrachtung ................................................. H. Die Diskussion um die Gleichheit in den Jahren 1920 bis 1932 ...... 1. Die liberale Auffassung ...................................... a) Traditioneller, positivistischer Begründungsansatz ..... . . . . . . .. b) Neuere Begründung in der Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Die ältere, radikal-demokratische Auffassung des RStGH . . . . . . . .. a) Argumentation des RStGH ................................. b) Ergänzung in der Literatur .................................
41 41 41 44 46 48 49 50 52 54 54 56
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Inhaltsverzeichnis 3. Die neuere, gemäßigt-demokratische Auffassung des RStGH . . . . .. a) Methodischer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Inhalt der Wahlgleichheit unter der WRV .................... c) Gleichheitsbeschränkungen ............... . . . . . . . . . . . . . . . . .. 4. Überblick über die Versuche einer Wahlreform ........... . . . . . .. a) Verfassungsändernde Vorschläge in der Literatur .. . . . . . . . . . . .. b) Verfassungsimmanente Vorschläge in Gesetzgebung und Literatur 5. Betrachtung .................................................
56 58 59 62 64 64 65 68
C. Entwicklung unter dem Grundgesetz ................................ I. Erste Phase: Entstehung des Bundeswahlrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Die Stellungnahme der politischen Parteien ..................... a) CDU .................................................... b) SPD ..................................................... c) F.D.P........................................ . ........... d) Sonstige ................................................. 2. Die Diskussion im Parlamentarischen Rat 1948/49 .............. a) Entwicklung bis zum 1. Entwurf des Wahlgesetzes (Februar 1949) ........................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Intervention der Alliierten und 2. Entwurf ................... c) Erneute Stellungnahme der Alliierten und Endfassung der Ministerpräsidenten .......................................... 3. Die Diskussion im Bundestag 1952 bis 1956 ...... . . .. . . . .. . . . .. 4. Begründungsansätze in der Literatur ........................... a) Hermens und Unkelbach ................................... b) Sternberger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Leibholz und die Anhänger der "demokratischen" Richtung. . .. 5. Die Rechtsprechung des BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. a) Sitz der Wahlgleichheit .................................... b) G1eichheitsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Einschränkungen der Wahlgleichheit ........................ d) Einzelheiten ............................................. . 6. Betrachtung ................................................. a) Die Voraussetzungen der Entstehung des BWahlG ............ b) Die Deutung der Wahlgleichheit durch das BVerfG ........... 11. Wahlreformdebatte zwischen 1965 und 1975 ...................... 1. Die Befürworter eines "mehrheitsbildenden Wahlsystems" ........ 2. Die Anhänger der Verhältniswahl (H. Meyer) ................... 3. Formeller, systernimmanenter Gleichheitsbegriff (Frowein, Herzog) 4. Materieller, dualistischer Gleichheitsbegriff (Nohlen) ............ 5. Stellungnahme des BVerfG ................................... a) Rheinland-pfälzisches Wahlgesetz ........................... b) Unabhängige Wahlkreisbewerber ........................... 6. Betrachtung ................................................ .
72 72 74 74 75 78 80 80 80 83 85 87 89 89 92 94 98 98 99 10 1 102 104 104 108 110 113 117 120 124 127 127 130 131
Inhaltsverzeichnis
III.
a) Entwicklung der Diskussion ................................ b) Kritik der einzelnen Ansätze ............................... Dritte Phase: Streit um Detailprobleme seit 1980 . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. BVerfG ..................................................... 2. Wahlgleichheit als "Erfolgschancengleichheit" .................. a) Gleichheitsmaßstab ........................................ b) Dogmatische Begründung .................................. c) Exempel: Subsumtion von Überhangmandaten und 5 %-Klausel . 3. Wahlgleichheit als "Erfolgswertgleichheit" ..................... a) Theoretische Grundlage .................................... b) Beispiel Überhangmandate und 5%-Klausel .................. 4. Betrachtung ................................................ . a) Die bei den "Lager" ....................................... b) Inhalt des Streites ......................................... c) Folgerungen ..............................................
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131 132 136 138 142 142 145 148 150 151 153 154 154 155 157
D. Schlußbetrachtung ........................................ . ........ 159
2. Teil Systematische Untersuchung A. Inhalt der Wahlgleichheit ........................................... 1. Allgemeine Struktur der Gleichheitssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 1. Logische und begriffliche Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhaltliche Konkretisierungen ................................. 11. Systematisches Verhältnis zur Wahlgleichheit ...................... III. Inhalt von Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl im besonderen . . .. 1. Allgemeinheit der Wahl ...................................... 2. Gleichheit der Wahl ......................................... a) Bestandsaufnahme ........ . ............................... b) Anknüpfungsverbote ...................................... c) Differenzierungsziele ...................................... d) Abwägungsmaßstab ....................................... e) Beurteilungsspielraum ..................................... f) Mißbrauch ............................................... 3. Schutzbereich und Träger der Wahlgleichheit ................... 4. Ergebnis zu H. und III ........................................ IV. Wahlgleichheit und Wahlsystem ................................. 1. Auseinandersetzung mit den verschiedenen Ansichten ...... . . . . .. a) Absoluter Gleichheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Systemimmanenter Gleichheitsmaßstab ...................... c) Dualistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164 165 165 167 171 173 174 176 177 178 178 182 189 189 190 191 192 192 192 194 200
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Inhaltsverzeichnis 2. Schlußfolgerung ............................................ . a) Inhalt der Wahlgleichheit und Wesen der Wahl ............... b) Ermittlung der System-Grundentscheidung aus dem Wahlgesetz c) Der Inhalt der Wahlgleichheit in den verschiedenen "Systemen" d) Mischsysteme ............................................ e) Bindungen des Gesetzgebers bei der Systementscheidung ...... 3. Ergebnis zu IV. . ............................................
202 202 207 208 211 213 214
B. Einzelne Probleme des geltenden Bundeswahlrechts .................. I. Das System des BWahlG ........................................ 1. Historische Untersuchung ..................................... 2. Systematische Untersuchung .................................. 3. Wortlaut .................................................... 11. Sperrklausei ................................................... 1. Aufgabe der Sperrklausei .................................... . 2. Legitimität der Ziele ......................................... 3. Kritik an der Geeignetheit der Klausel ......................... 4. Angemessenheit ............................................ . III. Grundmandatsklausel ........................................... 1. Legitime Gründe und Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Angemessenheit ............................................. IV. Wahlkreisgröße ................................................ 1. Auswirkungen von Größenunterschieden ....................... 2. Gründe für Größenunterschiede ............................... 3. Abwägung .................................................. V. Überhangmandate .............................................. 1. Ursachen und Begründung der Überhangmandate . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Legitimität der Ziele ......................................... 3. Angemessenheit der Regelungen ............................... VI. Europawahl.................................................... 1. Ponderation und unterschiedliche Wahl verfahren ................ 2. Deutsches EuWG: 5%-Klausel ................................ VII. Normatives Verhältnis zu Art. 3 Abs. 1 GG ....................... VIII. Ergebnisse zu B................................................
216 216 216 217 221 222 223 224 227 228 231 232 235 236 237 238 240 244 244 248 250 254 254 257 258 261
Anhang: Übersicht wichtiger höchstrichterlicher Entscheidungen zur Wahlgleichheit .......................................................... 263 Literaturverzeichnis .................................................. . 265 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Einleitung Der Grundsatz der Gleichheit der Wahl, eine Fundamentalnonn der modemen, egalitären Demokratie, ist der Schlüssel zur Lösung der meisten Problemstellungen auf dem Gebiet des Wahlrechts. Das gilt besonders für den schwierigen und seit alters her umstrittenen Bereich der Gestaltung des Wahlsystems. "Allein man darf auch nicht darüber im Unklaren bleiben, worin denn die Gleichheit und worin die Ungleichheit der Personen zu bestehen habe, denn darin liegt gerade die Streitfrage und eine Notwendigkeit zur Forschung auf dem Gebiete der politischen Philosophie"l. Trotz der nunmehr in der Neuzeit schon über 200 Jahre währenden politischen und juristischen Kämpfe um das "gleiche" Wahlrecht und der beträchtlichen Fülle an Literatur ist der dogmatische Kern der Wahlgleichheit nach wie vor unklar und kaum subsumierbar. Grund dafür ist wohl vor allem die politische Brisanz des Themas; bildet doch die Zusammensetzung des Parlaments in jeder funktionierenden Demokratie die wichtigste Grundlage der Machtverteilung im Staate. Darüber hinaus kommt in der Art und Weise der Beteiligung der Bürger an der Wahl in besonderem Maße das politische Selbstverständnis einer Gesellschaft zum Ausdruck. Aus diesem letzgenannten Grunde läßt bereits Aristoteles der Problematik der politischen Gleichheit große Sorgfalt angedeihen und empfiehlt sie den Staatswissenschaften zur weiteren Durchdringung. Den Anlaß zur vorliegenden, erneuten Untersuchung der Wahlgleichheit bildet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. 4. 1997 zur Frage der Überhangmandate. Die Entscheidung beruht auf einem "Unentschieden" zwischen zwei gleichstarken Richtergruppen, die zwei vollständige Begründungen mit diametral entgegengesetzten Ausgangspunkten und Ergebnissen abliefern - ein seltener, wenn nicht einzigartiger Vorgang in der Geschichte des Gerichts. Deutlicher kann der tiefgreifende Dissens zwischen zwei "Lagern", die sich beim Verständnis der Wahlgleichheit herausgebildet haben, nicht werden. Die Argumentation beider Seiten scheint sich heute in einer Sackgasse zu befinden, jeglicher Ansatz für einen Komprorniß oder gar ein gegenseitiges Überzeugen scheint zu fehlen. Zu unterschiedlich ist das Verständnis der Begriffe. I
Aristoteles, Politik, 1282 b.
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Einleitung
Ziel dieser Untersuchung ist es, die Ursachen der gegenwärtigen Lage zu erforschen und auf der Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse die Struktur der Wahlgleichheit neu zu beleuchten. Sie gliedert sich folglich in einen ersten, historischen Teil, in dem die Entwicklung der Wahl gleichheit durch die Jahrhunderte analysiert werden soll, und einen zweiten, systematischen Teil, in dem die Erkenntnisse gleichsam neu zusammengesetzt werden. Dabei soll - soweit ersichtlich erstmals in Deutschland seit 1945 - versucht werden, die bisher ausschließlich im Kontext der Wahl erörterten Fragen in den erweiterten Zusammenhang der allgemeinen Dogmatik der Gleichheitssätze zu stellen. Das ist möglich, weil diese Dogmatik selbst, viel später als diejenige der Freiheitsgrundrechte, heute in der staatsrechtlichen Auseinandersetzung eine gewisse Struktur gewonnen hat, die ihr lange Zeit gefehlt hat. Die Verbindung von dogmengeschichtlicher und systematischer Betrachtung kann Inhalt und Struktur der Wahlgleichheit in neuem Licht erscheinen lassen und möglicherweise dazu beitragen, die verkrusteten Denkmuster aufzubrechen. Die historische Untersuchung befaßt sich mit der Darstellung und Begründung der Wahl gleichheit in Wissenschaft und Politik. Dabei geht es mehr um die Erfassung von dogmatischen Aussagen als um die Dokumentation von wahlrechtlichen Einzelfragen und -regelungen. Diese werden nur dann und insoweit dargestellt, als an ihrer Behandlung die theoretischen Hintergründe der einzelnen Autoren und Redner deutlich werden. Ganz besonders ist das der Fall bei der Frage des richtigen, des zulässigen Wahlsystems, eine Frage, die zu allen Zeiten der am heftigsten diskutierte Aspekt der Wahlgleichheit gewesen ist. Die Untersuchung der Wahlgleichheit ist deshalb notwendig zugleich eine Untersuchung der verschiedenen Wahlsysteme. Entsprechendes gilt für den systematischen Teil, auch hier geht es nicht um die Darstellung einzelner Probleme - insoweit sei auf die umfangliehe Kommentarliteratur verwiesen. Es sollen lediglich die maßgeblichen Eckpunkte für die Lösung einiger wichtiger Streitfragen aus der Sicht des hier zu entwickelnden Ansatzes aufgezeigt werden. Besondere Bedeutung hat auch hier das Verhältnis von Wahlgleichheit und Wahlsystem. Ziel des systematischen Teils ist es, einen "allgemeinen Teil" für die Wahlgleichheit zu entwickeln, also Argumentationslinien zu finden, die nicht jeweils auf eine bestimmte Konstellation und ein bestimmtes Problem zugeschnitten beziehungsweise verengt sind. Berücksichtigt ist Literatur bis Mitte 2001. Die Darstellung der historischen Entwicklung stützt sich auf eine Reihe von zeitgenössischen und modemen Abhandlungen zur - politischen - Wahlrechtsgeschichte, die in allen Teilen als sehr weitgehend erforscht bezeichnet werden kann. Unmittelbares Studium der Quellen war deshalb weitgehend entbehrlich. Systematische
Einleitung
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Darstellungen der Wahlgleichheit fehlen dagegen fast völlig, das Problem wurde und wird fast immer inzidenter bei der Beschäftigung mit einer Einzelfrage mitbehandelt. Die einzige Ausnahme ist die Schrift von Hans Meyer "Wahlsystem und Verfassungsordnung" von 1974, die aber auch keinen ausführlicheren dogmengeschichtlichen Teil enthält. Auf die Grundlagen der Darstellung und die zentralen dogmatischen Werke wird jeweils zu Beginn der Kapitel hingewiesen. Die Ergebnisse des zweiten Teils sind thesenförmig jeweils am Kapitelende zusammengefaßt. Im ersten Teil dagegen gibt es keine Ergebnisse im eigentlichen Sinne; jeder Abschnitt der Entwicklung wird in einer abschließenden Betrachtung zuammenfassend gewürdigt und in den größeren Zusammenhang eingeordnet, ohne bereits die argumentative Auseinandersetzung zu suchen: Diejenigen Gedanken, welche die Zeiten überdauert haben und noch heute lebendig sind, werden im systematischen Zusammenhang auf ihre Stichhaltigkeit hin untersucht. Die anderen haben als historische Fakten ihre Wirksamkeit unabänderlich entfaltet, sie sind weder der diskursiven Kritik fähig noch bedarf es einer solchen zur Lösung der anstehenden Probleme.
1. Teil
Historische Untersuchung A. Das gleiche Wahlrecht bis zum 1. Weltkrieg Über die Wurzeln und Ursprünge des gleichen Wahlrechts wird in der modemen Literatur seit der ausdrücklichen Normierung in der WRV nur noch selten nachgedacht. Die meisten Untersuchungen über die Entwicklung des Wahlrechts im 18. und 19. Jahrhundert stammen aus der Zeit des Kaiserreichs. Die Klassiker zur Ideengeschichte der französischen Revolution widmen dieser Frage jeweils eigene Kapitell, viel Material enthalten auch die großen Grundsatzwerke zum Wahlrecht aus der Zeit der Jahrhundertwende aus Deutschland und Frankreich2 . Bedeutsame Einzeluntersuchungen stammen von Adolf Tecklenburg 3 sowie, aus neuerer Zeit, von Heinz Klä/.
I. England im 17. Jahrhundert Zum ersten Mal in der europäischen Geschichte wurde die Forderung nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht während der ersten englischen Revolution nach dem Sturz Karls I. laut. Ihren Niederschlag fand sie in dem Verfassungsentwurf der siegreichen Revolutionstruppen, dem "Agreement of the People" vom 15. 1. 1649, der maßgeblich von der radikal-presbyterianischen Bewegung der "Levellers" beeinflußt war und niemals in Kraft trat. Er räumte jedem männlichen Engländer das Parlamentswahlrecht ein, der einen eigenen Hausstand besaß und weder Almosenempfanger noch Dienstbote war, unabhängig von Landbesitz oder Steuerleistungs.
1 Carl Richter, Staats- und Gesellschaftsrecht der französischen Revolution (1865), S. 224 ff.; Robert Redslob, Die Staatstheorien der französischen Nationalversammlung von 1789 (1912), S. 131 ff. 2 Georg Meyer, Ernst Cahn, Nicolas Saripolos, A. Esmein, dazu näher unten 11. 3 Die Wahlrechtsentwicklung in Frankreich seit 1789 (1911). 4 Zensuswahlrecht und Gleichheitsprinzip - Eine Untersuchung aufgrund der Verfassung des Jahres 1791 (1956). 5 G. lellinek, Staatslehre, S. 510 f.; G. Meyer, S. 22 ff.; Thoma, Wesen und Erscheinungsfonnen, S. 9; BK-Badura (1966), Art. 38 Rn. 37 m. w.N., G. Meyer, Ent-
A. Das gleiche Wahlrecht bis zum I. Weltkrieg
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Hinter dieser revolutionären Forderung standen christliche und frühe naturrechtliche Vorstellungen der kalvinistisch-refonnierten Kirchen Englands und Schottlands mit ihrer ausgesprochen basisdemokratischen Verfassung, die von der Gleichheit aller nach dem Bild Gottes geschaffenen Menschen ausgingen. Ihre ursprünglich auf den innerkirchlichen Bereich bezogenen Vorstellungen wurden nun auf die Gestaltung des Staates übertragen. 11. Frankreich im 18. Jahrhundert
Den eigentlichen Beginn der modernen Wahlrechtsgeschichte markiert indes die große Französische Revolution von 1789. Auf der Grundlage der Staatstheorien der Aufklärung wurde hier erstmals ein demokratisch gewähltes Parlament Wirklichkeit. Der die ganze Revolutionsgeschichte prägende Streit zwischen bürgerlich-liberalen und radikaldemokratischen Kräften - "constitutionels" und "patriots,,6 - spitzt sich auch in der Frage des Wahlrechts zu, nämlich auf die Alternative: Allgemeines oder Zensuswahlrecht? Die "bürgerliche", konstitutionell-monarchische Verfassung von 1791 (und ebenso die Direktoriumsverfassung von 1795) entschied sich für einen Zensus, die jakobinische, republikanische Verfassung von 1793 für die Allgemeine Wahl. Die bei den ersten Revolutionsverfassungen wurden damit zum idealtypischen Ausdruck der beiden Staatsanschauungen, welche die Revolution von den Denkern der Aufklärung übernommen hatte. 1. Staatstheoretische Grundlagen
Der erste Strang geht im Wesentlichen zurück auf Montesquieu 7 : Der Staat beruht danach - stark vereinfacht dargestellt - auf einem Gesellschaftsvertrag, welcher im Interesse der Sicherung der persönlichen Freiheit des Einzelnen bestimmte Ordnungsaufgaben einem eigens dazu gebildeten Staat überträgt. Der Einzelne tritt zu diesem Zwecke einen Teil seiner angeborenen natürlichen Entscheidungsfreiheit an den Staat ab 8 . Handlungsmittel des Staates ist das Gesetz, welches für alle Untertanen gleichennaßen gilt. stehung, S. 5, berichtet von einem gleichlautenden Antrag des Lord Somerset im Oberhaus 1780. 6 Kläy, S. 72; Redslob, S. 2 f. 7 Dazu: Berthold Falk, in: Maier/Rausch/Denzer, S. 45 ff.; Alexander Schwan, in: Lieber, S. 157, 206 ff. 8 Etwa Euchner, in: Maier/Rausch/Denzer, S. 19, insbes. Fn. 20 (zu Locke); Fetscher, S. 104; Gitermann, DUZ 1958, S. 85, 90; Glum, S. 239 f.; v. Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften (1840), Bd. 2, § 19 mit ausführlicher Kritik.
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1. Teil: Historische Untersuchung
Der Staat kann auf verschiedenste Weise organisiert sein, etwa als Monarchie, Aristokratie oder Demokratie. Legitim ist er dann, wenn er der von den vertragschließenden Individuen festgelegten Verfassung entspricht. "Vernünftig" und damit dem mutmaßlichen Willen der Vertragschließenden entsprechend organisiert ist der Staat, wenn einerseits Handlungsfähigkeit und Sachverstand maximiert und andererseits die Gefahr des Mißbrauchs der Staatsgewalt zu Lasten der persönlichen Freiheit der Bürger minimiert ist. Nach Auffassung von Montesquieu ist das in der konstitutionellen Monarchie am ehesten gewährleistet: In dieser ruht die Staatsgewalt nicht auf den Schultern eines einzigen Trägers - weder auf denjenigen der Volksversammlung noch auf denen des Monarchen -, sondern ist auf mehrere verteilt: das "Wollen" des Staates - die Gesetzgebung - liegt bei einer gesetzgebenden Versammlung von Volksvertretern, das "Handeln" bei der monarchischen Exekutive, die Kontrolle von beidem bei einer unabhängigen Judikative. Die gesetzgebende Versammlung muß dabei so zusammengesetzt sein, daß alle Bürger und ihre gemeinsamen Interessen, also das Gemeininteresse, in ihr vertreten sind. Die Gegenkonzeption geht auf Rousseau9 zurück. Auch sie beruht auf dem Gedanken eines Gesellschaftvertrages. Dieser führt aber nicht zur Unterwerfung der Individuen unter einen von der Gesellschaft verschiedenen Staat lO , sondern nur zur gemeinschaflichen, gleichsam "gesamthänderischen" Ausübung der individuellen Rechte!!. "Wollen" und "Handeln" der Gemeinschaft beruhen ausschließlich auf dem gemeinsamen Willen aller gleichen Individuen, dem "allgemeinen Willen (volonte generale),,12, der sich in der Form des allgemeinen Gesetzes äußert. "Pour qu'une volonte soit generale, il n'est pas toujours necessaire que elle soit unanime, mais il 9 Jean Jacques Rousseau, Du Contrat Social, 1764; darstellend Iring Fetscher, Rousseaus politische Philosophie, S. 101-171; Valentin Gitennann, J. J. Rousseau und die Problematik der modemen Demokratie, DUZ 1958, S. 85 ff; Friedrich Glum, J. J. Rousseau - Religion und Staat, 1956, insbes. Kap. V; Max Imboden, Rousseau und die Demokratie, 1963; Hans Welzel, Naturrecht und Materiale Gerechtigkeit, 4. Auflage 1962, S. 156 ff 10 Deutlich: Entwurf einer Verfassung für Korsika, Vorwort. 11 Contrat Social, livre I chapitre 6: '" Trouver une forme d'association qui defende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associe, et par laquelle chacun, s'unissant a tous, n'obeisse pourtant qu'a lui-meme, et reste aussi libre qu'auparavant. Tel est le probleme fondarnental, dont le Contrat social donne la solution". Etwas anders klingt es bei Welzel, S. 157, der den Absolutheitsanspruch des Rousseau'schen Staates betont. Relativierend aber Gitennann, DUZ 1958, S. 85, 94 f; Maier, in: Maier/Denzer/Rausch, S. 99 f Rousseau selbst sieht den Gegensatz: "Je ne vois point de milieu supportable entre la plus austere democratie et le hobbisme le plus parfait" (Rousseau an Mirabeau, 1769, zitiert bei Imboden, Rousseau, S. 18). . 12 Contrat Social, I. 7.
A. Das gleiche Wahlrecht bis zum l. Weltkrieg
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est necessaire que toutes les voix soient comptees; toute exclusion formelle rompt la generalite,13. In der Konsequenz des Rousseau'schen Ansatzes ist nur die echte, unmittelbare Demokratie legitime Regierungsform 14 . Beim Zusammentritt der Generalstände im Jahre 1789 war es das erklärte Ziel der Vertreter des dritten Standes, eine "vernünftige" Verfassung für das bisher absolutistisch regierte Frankreich zu schaffen. Es galt dafür zunächst zu begründen, weshalb gerade die Versammlung der Vertreter des dritten Standes dazu berufen sein sollte und warum diese das alleinige Recht der Volksvertretung in Anspruch nehmen können sollte. Die entscheidenden, noch heute gültigen Gedanken dafür entwickelte AbM Emmanuel Joseph Sieyes 15 , der Schöpfer der modemen Vorstellung von Repräsentation, der "Nationalrepräsentation". Ziel der Repräsentation ist nach Sieyes die Vertretung des gemeinsamen Interesses aller Bürger, der ganzen Nation. Das kann nur erreicht werden, wenn die Repräsentanten nicht Boten bestimmter Gruppen von Bürgern sind, sondern ihre Willensvertreter: Der Gemeinwille ist nämlich nicht die einfache Summe von Einzel- und Gruppeninteressen, er kann nur von der gesamten Nation gemeinsam gebildet werden, er ist das allen Gemeinsame. Weil nun aber die Bürger wegen ihrer Vielzahl zur Gesetzgebung nicht selbst zur Volksversammlung zusammenkommen können und überdies in ihrer großen Mehrheit auch gar nicht den nötigen Sachverstand für die Lösung der meisten anstehenden Einzelfragen haben, so ist es konsequent, wenn sie sich des in der arbeitsteiligen Gesellschaft ohnehin verbreiteten Prinzips der Vertretung bedienen: Statt der Bürger selbst versammeln sich ihre Vertreter und finden gemeinsam heraus, was jeweils im allgemeinen Interesse zu beschließen ist. Die Vertretung ist dabei nicht bloß technisch bedingte Notwendigkeit, sondern führt, wie jede Arbeitsteilung und Spezialisierung, zu einer qualitativen Verbesserung der Gesetzgebung 16 . Contrat Sodal, 11. 2, Fn. 1. Glum, S. 213. 15 Politische Schriften 1788-1790, insbesondere: Was ist der dritte Stand (1788), S. 117 ff., Empfehlung Sr. Hoheit des Herzogs von Orleans an seine Vertreter in den Baillagen (1789), 2. Abschnitt, S. 214 ff., Einleitung zur Verfassung: Anerkennung und erklärende Darstellung der Menschen- und Bürgerrechte (1789), S. 239 ff., Rede über die Frage des königlichen Vetos, 7. 9. 1789, S. 259 ff. Dazu: Ernst Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, S. 31 ff.; Hasso Hofmann, Repräsentation, S. 406 ff.; E. Schmitt, in: Maier/Rausch/Denzer, S. 101 ff.; Karl Löwenstein, Volk und Parlament (1922), S. 3-38; Eberhard Schmitt, Repräsentation und Revolution (1969), S. 190 ff. und 210 ff. Die Schreibung des Namens ist uneinheitlich: früher setzte man zwei Akzente, in den modemen Ausgaben gar keinen, teilweise sieht man auch nur einen Akzent. 16 Dazu eindrucksvoll: Rede über das königliche Veto, S. 259, 266 ff. 13
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1. Teil: Historische Untersuchung
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Daraus folgen zwei Forderungen: Die Abgeordneten dürfen erstens nicht Vertreter von Gruppeninteressen sein, sondern ein jeder muß die ganze Nation vertreten: "Un depute ... nomme par un bailliage, au nom de la totalite des bailliages, un depute l' est de la nation entiere; tous les citoyens sont ses commettants"17. Und zweitens müssen sie in ihrer Entscheidung frei sein, es darf kein imperatives Mandat geben: andernfalls wären sie in Wirklichkeit Boten einer Gruppe von Wählern. Dann und nur dann ist das Parlament wirklich Vertreter der gesamten Nation. Mit diesem Konzept der Nationalrepräsentation ist die Legitimität der Vertreter der beiden privilegierten Stände aufgehoben, denn diese sind eben nur Standesvertreter. Die Abgeordneten des dritten Standes dagegen vertreten 96 % der Bevölkerung und damit nahezu die gesamte Nation. Außerdem kann durch den Gedanken der Stellvertretung gezeigt werden, daß Rousseaus Gemeinwille auch ohne direkte Volksversammlung im Flächenstaat zur Entstehung gebracht werden kann. Die Theorie von Sieyes wurde so zur notwendigen Brücke zwischen jeder der beiden Staatstheorien und den Erfordernissen der Verfassungspraxis. Sie ist denn auch zentraler Bestandteil der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte geworden: "Der Ursprung der Souveränität liegt wesenhaft in der Nation. Keine Körperschaft und kein Einzelner kann eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht" (Art. 3). "Das Gesetz ist Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, persönlich oder durch ihre Vertreter an seiner Gestaltung mitzuwirken" (Art. 6)18. 2. Das Wahlrecht in der Verjassungspraxis der Revolution
Der Grundsatz der Nationalrepräsentation war damit zwar Allgemeingut der Revolution geworden. Streit entzündete sich aber bei seiner praktischen Umsetzung, an der Frage nämlich, auf welche Weise die Vertreter der Nation bestellt werden sollten. Hier kam das unterschiedliche Grundverständnis vom Gesellschaftsvertrag zum Tragen. a) Bürgerliche Verfassung von 1791 Nach der bürgerlich-liberalen Vorstellung ist Träger des politischen Wollens die gegenüber dem Einzelnen verselbständigte Gemeinschaft, der Staat. Sieyes, Rede über das königliche Veto, S. 259, 267. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 ist in Frankreich gemäß der Präambel der Verfassung von 1958 noch heute geltendes Recht. Art. 6 lautet im Original: "La loi est l' expression de la volonte generale. Tous les citoyens ont le droit de concourrir personnellement ou par leurs representants a sa formation." 17 18
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Demgemäß unterscheidet die Nationalversammlung, wiederum durch Sieyes angeregt, zwischen gesellschaftlichen und politischen Rechten 19: erstere, die passiven Rechte, sind diejenigen, ,,ZU deren Wahrung und Entwicklung die Gesellschaft gegründet worden ist", also die politischen Freiheitsrechte. Letztere, die aktiven Rechte, sind "diejenigen, durch die sich die Gesellschaft bildet'.zo. Über ihren Umfang und Inhalt entscheidet die Gemeinschaft, sie sind eine Funktion des Staates, nicht des Einzelnen. "Die Funktion des Wählers ist kein Recht; sie wird ausgeübt für alle; die mit der Wabl betrauten Bürger ernennen die Wahlkörperschaft für alle; sie erfüllen ihren Auftrag für die Gesellschaft als Einheit; und der Gesellschaft allein kommt es zu, die Bedingungen für die Eigenschaft als Wähler festzusetzen"Zl. Die Entscheidung, wer Repräsentant ist und wer ihn bestimmt, muß also von der Verfassung nach vernünftigen Zweckmäßigkeitserwägungen getroffen werden, es muß sichergestellt sein, daß geeignete Amtswalter bestellt werdenzz . Theoretisch wäre auch, nach dem Vorbild der attischen Demokratie, ein Losverfahren denkbarz3 , welches aber für ungeeignet erachtet wurde. Nach der Verfassung von 1791 war denn auch, wie von Montesquieu vorgesehen, die Nationalversammlung nicht die alleinige Repräsentantin der Nation, sondern erst zusammen mit dem König, welcher einen eigenen Teil der Staatsgewalt innehatte, die Exekutivez4 . Nach dem Zweck der Volksvertretung, der Bildung des Willens der Nation aus ihrem gemeinsamen Interesse, muß gewährleistet sein, daß alle wesentlichen Gruppen des Volkes gemäß ihrer Bedeutung vertreten sind, am deutlichsten formuliert in dem vielzitierten Satz des Abgeordneten Graf Honon! Gabriel Mirabeau: "Les etats sont pour la nation ce qu'est une carte reduite pour l' entendue physique, soit en partie, soit en grand, la copie doit toujours avoir les memes proportions que l'original."z5 Darstellend: Kläy, S. 106 f. Sieyes, Anerkennung und erklärende Darstellung der Menschen und Bürgerrechte (1789), S. 239, 251. 21 Abg. Bamave in der Constituante am 11. 8. 1791, zitiert bei Redslob, S. 144, Fn. 1. 22 Deutlich und befürwortend Redslob, S. 139. 23 "Die Wahl durch das Los entspricht der Natur der Demokratie", Montesquieu, Vom Geist der Gesetze, 11. 2. 24 Titre III Art. 2 der Verfassung von 1791 lautet: "... La constitution fran~aise est representative: les representants sont le Corps legislatif et le Roi". 25 Zitiert nach Misch, S. 13. Zur Interpretation dieses Zitats G. lellinek, Mirabeau und das demokratische Wahlrecht - Geschichte eines Zitates, Frankfurter Zeitung vom 31. 12. 1905, Ges. Schriften 11, S. 82 ff. 19
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1. Teil: Historische Untersuchung
Zu diesem Zweck wurden die Abgeordneten nach der Verfassung von 1791 nicht mehr in den traditionellen Provinzen gewählt, sondern in den neugeschaffenen, die gewachsenen Grenzen sprengenden Departements. Durch diese neutrale Gliederung sollten alte, ständische Bindungen und lokale Privilegien aufgehoben und die von Sieyes geforderte Unabhängigkeit der Abgeordneten ermöglicht werden26 . Das Gewicht eines jeden Departements im Rahmen der Gesamtheit - und damit seine Abgeordnetenzahl richtete sich zu je einem Drittel nach seiner Fläche, seiner Einwohnerzahl und seinem Steueraufkommen. So wurde der gesamtstaatlichen Bedeutung jeder Region Rechnung getragen. Damit aber auch materiell gesichert wurde, daß wirklich fähige und verantwortungsvolle Vertreter gewählt würden, führte man einen Steuerzensus ein: Nur, wer Steuern in einer bestimmten Höhe zahlte, war aktiv und passiv wahlberechtigt. Denn nur besitzende Bürger, so meinte die bürgerliche Mehrheit der Nationalversammlung, hätten einerseits die nötige Bildung und das Urteilsvermögen zur Bestimmung der Abgeordneten, anderseits überhaupt ein Interesse am Wohlergehen des Staates. Wer nichts zur Gemeinschaft beiträgt, fühlt sich auch nicht für sie verantwortlich. "Nous devons etre gouvernes par les meilleurs: les meilleurs sont les plus instruits et les plus interesses au maintien des lois·m . b) Demokratische Konventsverfassung von 1793 Die liberale Verfassung von 1791 und besonders das Zensuswahlrecht wurden von den Demokraten unter Führung von Maximilen Robespierre auf der Grundlage der Lehre Rousseaus heftig bekämpft28 . Sie konnten sich dabei auf den Art. 6 der Menschenrechtserklärung stützen, der entgegen dem Vorschlag von Sieyes unvorsichtig weit formuliert war29 • Auch sie anerkennen zwar den Gedanken der Vertretung der Individuen durch unabhängige Abgeordnete, durch den die Ablehnung jeder repräsentativen Demokratie durch Rousseau 30 überwunden werden kann. Die Redewendung "ein demokratisches Parlament" verwandelt sich durch die Idee Sieyes, Empfehlung Sr. Hoheit des Herzogs von Orleans, S. 197, 217. Boissy d'Anglas im Konvent, 1795, zitiert bei Tecklenburg, S. 99; ebenso Barnave in der Constituante, zitiert bei Redslob, S. 140, Fn. 1. Darstellung bei Kläy, S. 108 ff.; G. Meyer, Entstehung, S. 9; Redslob, S. 139 ff. Sieyes selbst wollte den heutigen Art. 6 der Menschenrechtserklärung entsprechend formulieren, drang damit aber nicht durch: " ... Repräsentanten, die ... von allen am Gemeinwesen interessierten und dazu befähigten Bürgern gewählt werden." (Einleitung zur Verfassung (1789), S. 239, 256, Art. XXVI). 28 Zusammenfassend Kläy, S. 111 ff. 29 s.o. Fn. 27. 26
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der modemen Repräsentation von "einem Paradoxon in einen Pleonasmus,,31. Wenn aber der Staat kein von den Bürgern verschiedenes Subjekt ist, sondern die Gesamtheit der Individuen, dann muß auch die Gesamtheit der Individuen die Repräsentanten wählen. Gerade die politischen Rechte sind dann unveräußerliche Individualrechte, die jedem Bürger gleichermaßen zustehen32 . Der Begriff der Nationalsouveränität wird als Volkssouveränität gedeutet, ihr Träger ist die Gesamtheit der Bürger und nur sie, nicht eine davon abstrakte Gemeinschafr3 3 . Nach der Konventsverfassung von 1793 war denn auch der Konvent, das volksgewählte Parlament, einziger Repräsentant des unteilbaren Volkswillens. Er war verantwortlich sowohl für die Legislative als auch für Wahl und Abberufung der schwachen Exekutive. Es galt - erstmals in der Geschichte und für lange Zeit auch das einzige Mal - das allgemeine Wahlrecht: alle männlichen, erwachsenen Franzosen waren als aktive und passive Urwähler zugelassen. Hinzu kamen starke plebiszitäre Elemente. Das Wahlverfahren war - wie schon 1791 und praktisch nicht anders zu bewältigen - ein mittelbares: Es wurden zunächst in Urwahlversammlungen Wahlmänner gewählt, die dann die Abgeordneten bestimmten. Grundsätzlich wurde nach den Regeln der absoluten Mehrheitswahl gewählt. Das erschien vom Standpunkt Rousseaus aus allerdings unbefriedigend. Wenn das Parlament tatsächlich den realen Willen des ganzen Volkes vertreten soll, dann kann schwer erklärt werden, weshalb die Stimmen der im Wahlkreis unterlegenen Minderheit nicht zur Wahl eines Abgeordneten führen: auch 30 Contrat Social, 11. 2. und III. 15 "La souverainete ne peut etre representee ... elle consiste essentiellement dans la volonte generale, et la volonte ne se represente point: elle est la meme, ou elle est autre; il n'y a point de milieu". Dazu Maier, in: Maier/Rausch/Denzer, S. 98, vgl. Welzel, S. 158. 31 Fraenkel, S. 6. 32 Vgl. dazu Redslob, S. 94; Richter, S. 224 und 249 ff. Am deutlichsten wohl die Rede Robespierres vom 22. 10. 1789: "Tous les citoyens, quels qu'ils soient, ont droit de pretendere a tous les degres de representation. Rien n'est plus conforme a votre declaration des droits, devant laquelle tout privilege, toute distinction, toute exception doit disparaitre. La Constitution etablit que la souverainete reside dans le peuple, dans tous les individus du peuple. Chaque individu a donc droit de concourir a la loi par laquelle il est oblige, et a l'administration de la chose publique, qui est la sienne. Sinon, il n'est pas vrai que tous les hommes sont egaux en droits, que tout homme est citoyen. Si celui qui ne paye qu'une imposition equivalente a une journee de travail a moins des droit que celui qui paye la valeur des trois joumees de travail, celui qui paye celle de dix journees a plus de droit que celui dont I'imposition equivaut seulement a la valeur des trois ... 11 resulte de tous vos decrets que chaque citoyen a le droit de concourir a la loi, et des lors celui d' etre electeur ou eligible, sans distinction de fortune (zitiert nach Redslob, S. 135, Fn. 2). 33 Vgl. Glum, S. 213 und 239 f.
1. Teil: Historische Untersuchung
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der Wille der Minderheit ist schließlich Teil der volonte generale. Das empfand besonders stark der wichtigste Autor der Verfassung von 1793, Marie Jean Antoine CondorceP4. Er legte für die Konventswahlen mehrere Entwürfe mit komplizierten, mehrstufigen Abstimmungsverfahren, mit Listen und Eventualstimmen vor, die jeder einzelnen Stimme zur Geltung verhelfen sollten. Sie erwiesen sich allerdings allesamt als unpraktikabel. Daneben wurde bereits die Forderung nach möglichst einheitlicher Größe der Wahlkreise erhoben, bezogen ausschließlich auf die Zahl der Wähler35 •
3. Betrachtung Bereits zu Beginn der französischen Revolution, von der aus die Demokratie ihren Siegeszug durch Europa angetreten hat, finden sich zwei grundverschiedene Anschauungen über Wesen und Zweck der Wahl und über die Konsequenzen des an sich allgemein anerkannten demokratischen Gleichheitsprinzips. Der Streit entzündet sich in der Praxis an der Frage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts, ihre wechselnde Beantwortung durch die verschiedenen Revolutionsverfassungen wird gleichsam zum Indikator des Maßes der Verwirklichung der "echten", radikalen Demokratie - um die heftig und blutig gestritten wird: Neben der Absetzung des verräterischen Königs war das allgemeine Wahlrecht die wichtigste Forderung der Volksmassen, welche 1792 die bürgerliche Nationalversammlung und ihre Verfassung hinwegfegten und eine Entwicklung einleiteten, die schließlich in die "Schreckensherrschaft" der Jakobiner mündete 36 • Für die liberalen Konstitutionalisten ist die Wahl Funktion des Staates, nicht der Gesellschaft; sie ist kein Individualrecht und dient ausschließlich der Bestellung von geeigneten Amtswaltern 37 . Nur wer sachverständig und verantwortungsvoll die öffentlichen Angelegenheiten beurteilen kann, ist geeigneter Sprecher der Gesellschaft und damit Wähler. Für die Demokraten ist die Regierung des Gemeinwesens durch die Bürger selbst natürliches Menschenrecht und Voraussetzung für legitime Herrschaft. Im repräsentativen Staat ist das Wahlrecht das wichtigste Mittel der Selbstregierung des Volkes und darf deshalb niemandem entzogen werden. Ausführliche Darstellung bei Misch, S. 26; Tecklenburg, Entwicklung, S. 50 ff. Redslob, S. 132 und S. 148 f.; Tecklenburg, Entwicklung, S. 30 f. jeweils mit Nachweisen auf die Parlamentsdebatten. 36 Ausführliche Darstellung der Ereignisse bei Kläy, S. 87-105. 37 In diesem traditionellen Sinn verwendet auch noch Rousseau den Begriff "Wahl", Contrat Social, IV. 3, und akzeptiert ihn nur im Zusammenhang mit der Bestellung der Regierung, nicht mit der Bildung des Volkswillens: die Repräsentation des Volkswillens ist erst seit Sieyes denkbar. 34
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Für die beiden dem Streit zugrundeliegenden Staatsauffassungen von
Rousseau und Montesquieu prägte man im ausgehenden 19. Jahrhundert die
Begriffe "Individualsouveränität" einerseits und "Kollektiv-" beziehungsweise "Staatssouveränität" andererseits 38 •
Schwierigkeiten bereitet die Einordnung von Sieyes. Beide Lager stützen sich gleichermaßen auf seine Lehre von der Nationalrepräsentation. Das kommt in der ganz unterschiedlichen Rezeption zum Ausdruck: teilweise wird er als der Vater der liberalen, repräsentativen Demokratie gefeiert39 , andere ordnen ihn in das demokratische Lager ein4o . Sieyes prägte einerseits unbestreitbar maßgeblich die bürgerliche Verfassung von 1791, von ihm stammt die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Bürgerrechten und er befürwortete bis 1791 das Zensuswahlrecht. Andererseits tauchen in seinen Schriften immer wieder Vorstellungen Rousseaus auf, wenn er etwa in der Veto-Rede das ausschließliche Recht der Volksvertretung zur Gesetzgebung postuliert und die gleiche Vertretung aLLer Bürger verlangt. Auch stimmte er später mit den Jakobinern für die Hinrichtung des Königs. Diese uneindeutige Haltung ist typisch für die Frühzeit der Revolution. Die staatspolitischen Forderungen mußten nach der Einberufung der Generalstände 1788 recht kurzfristig entwickelt werden. Der Widerspruch zwischen den radikalen Forderungen Roussaus, dessen Schriften in den intellektuellen Zirkeln des Ancien Regime größte Begeisterung ausgelöst hatten und der geradezu als der "Messias" der Revolution bezeichnet wird, und den politischen Zielen und Vorstellungen des Bürgertums wurde erst nach und nach deutlich41 . "Die endgültig Fassung der Menschen- und Bürgerrechte zeigt denn auch ein fast regellos zu nennendes Nebeneinander von liberalem und demokratischem Gedankengut,,42. Die Stellungnahmen Sieyes, der in erster Linie Politiker und nicht Theoretiker war, müssen in diesem Licht gesehen werden. Die "Nationalrepräsentation" ist Voraussetzung sowohl für den modemen "liberalen" als auch den "demokratischen" Parlamentarismus: Die einen brauchen ihn, um das Primat der ohne Standesunterschiede gewählten Nationalversammlung bei der Gesetzgebung zu begründen, die anderen, um auch im Flächenstaat Demokratie in ihrem Sinne etablieren zu können.
Bei der Betrachtung der Staatstheorien der Revolution ist ein weiteres zu beachten: Immer wieder taucht, vor allem bei Rousseau und bei Sieyes, die Siehe nur Redslob und Tecklenburg, a. a. O. Etwa Löwenstein, S. 10 ff.; Hartmann S. 47. 40 Tecklenburg, Redslob a. a. O. 41 Richter, S. 250. Zur Rezeption Rousseaus in der Revolution siehe Fetscher, Letztes Kapitel; Löwenstein, S. 7: "Es ist zweifellos richtig, daß Rousseaus Einfluß auf die Geister größer war als auf die Institutionen". 42 Kläy, S. 34. 38 39
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1. Teil: Historische Untersuchung
scharfe Ablehnung von "Parteien" auf, die unter allen Umständen von der Wahl ferngehalten werden müssen43 . Diese Forderung erklärt sich aus den Zeitumständen: Zwar gab es im 18. Jahrhundert bereits politische Vereinigungen, die aber durchweg den Charakter von Standes- oder Interessenvertretungen hatten oder aber, im Falle der politischen Clubs, sich als solche nicht an Wahlen beteiligten. Sie nahmen, anders als die heutigen Parteien, gerade noch nicht für sich in Anspruch, das Gemeinwohl zu vertreten, ihre Programme waren stets auf die Wahrung von Partikularinteressen gerichtet44 . Deshalb können sie nicht zur Bildung des Gemeinwillens beitragen, der gerade von dem allen Bürgern gemeinsamen Interesse bestimmt wird, und haben in einem Parlament nichts zu suchen, das als Vertreter der Einheit des Volkes verstanden wird45 . So, wie die Staatstheorien der Aufklärung bis heute die geistige Grundlage der Demokratie bilden und die beiden ersten Verfassungen der Revolution (zusammen mit der US-amerikanischen) zu Prototypen aller heute geltenden Verfassungen geworden sind, so lebt auch der Dissens über das Wesen der Parlamentswahlen fort, wenn auch, wie zu zeigen sein wird, in vielfach wechselndem Gewande.
IH. Deutschland von 1815 bis 1914 Die Wahlrechtsdiskussion des 19. Jahrhunderts wurde in Deutschland beherrscht von zwei politischen Streitfragen: Allgemeine oder Klassenwahl, Majoritäts- oder Proportionalwahl? Der Streit um das allgemeine und gleiche Wahlrecht gehörte zu den brisantesten politischen Konflikten des Jahrhunderts, nicht nur in Frankreich, wo sie mitursächlich für die beiden Revolutionen 1830 und 1848 wurde. In Deutschland kam es insbesondere 1848/ 49 in der Paulskirche und dann wieder 1867/71 anläßlich der Reichsgründung im Norddeutschen Bundes- beziehungsweise Reichstag zu großen parlamentarischen Debatten. Später unternahm vor allem die SPD immer wieder Vorstöße zur Reform des Reichstagswahlrechts und zur Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts. Parallel zu den politischen Kämpfen entspannte sich besonders in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts eine umfangreiche Diskussion in der Wis43 Sieyes, Rede über das königliche Veto, S. 259, 267 f.; Rousseau, Contrat Social, 11. 3. Dazu Maier, in: Maier/Rausch/Denzer, S. 98, insbesondere Fn. 59 mit Nachweis zur "Loi Le Chapelier" gegen Parteienbildung. 44 Dazu E. Schmitt, in: Sieyes, Politische Schriften, Glossar, Stichwort "Parteien" m.w.N. 45 Etwa Hula, ZöR 1927, S. 213, 216 verkennt diesen Unterschied zwischen den modernen Parteien und Interessengruppen und sieht daher den Parteien staat generell im Widerspruch zum Rousseau'schen Demokratieverständnis.
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senschaft, der Publikationen sind Legion. Neben grundlegenden dogmatischen Werken zur "modemen" Verhältniswahl, zu nennen sind vor allem Nicolas Saripolos46 in Frankreich und Ernst Cahn 47 in Deutschland, ist vor allem die umfassende Darstellung des Standes der Wissenschaft am Ende der Epoche von Georg Meyer48 zu nennen. Bedeutsam sind ferner zahlreiche Studien zur Technik der Wahlverfahren, am folgenreichsten wohl die von Victor Considerant und Thomas Hare 49 . Hinzu kommen Stellungnahmen in Lehrbüchern und politische Kampfschriften von nahezu allen bedeutenden Staatsdenkern des Jahrhunderts, von denen besonders die Kontroverse von John Stuart Mill (Verhältniswahl) und Walter Bagehot (Mehrheitswahl) in England bekannt geworden istSo. Die verschiedenen Theorien knüpfen nahtlos an die Entwicklung der großen Revolution an, die grundsätzliche Spaltung in zwei Lager bleibt bestehen. Die wichtigste Neuerung des Jahrhunderts ist die Entwicklung von echten, praktisch anwendbaren Proportionalwahlverfahren, die es ermöglichen, das Verhältnis von Stimmen und Mandaten in Übereinstimmung zu bringen. Die zur Wahlrechtsfrage vertretenen Ansichten lassen sich den politischen Hauptströmungen der Zeit zuordnen. Auf der einen Seite stehen die "Demokraten" oder "Republikaner" in der Nachfolge der Naturrechtslehre Rousseaus, auf der anderen die bürgerlich-liberalen "Konstitutionalisten", deren staatsrechtliches und -philosophisches Instrumentarium mit den Mitteln der positivitischen Rechtsschule entwickelt wird. 1. Liberaler Positivismus
Den größeren Einfluß in Deutschland hatte während des ganzen Jahrhunderts das bürgerlich-positivistische Staatsverständnis in zahlreichen Spielarten S!. Danach ist das Wahlrecht eine öffentliche Funktion, es ist dem EinLa Democracie et I'Election proportionelle, 1899. Das Verhältniswahlsystem in den modernen Kulturstaaten, 1909. 48 Das parlamentarische Wahlrecht, posthum hrsg. von G. lellinek, 1901. 49 Rare: The election of representatives, parliamentary and municipal, 1859; Considerant, De la Sincerite du Gouvernement Representatif ou Exposition de I'Election Veridique, 1846 (Entwurf einer Verfassung für die Republik Genf); La Solution ou le Gouvernement Direct du Peuple, 1851. 50 Mill, Betrachtungen über die repräsentative Demokratie, 1861; Bagehot, Die englische Verfassung, 1867, S. 147 ff. 51 Hauptwerke dieser Richtung: Georg lellinek Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage 1914; Paul Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, 5. Auflage 1911, S. 295 ff.; Rudolf Smend, Maßstäbe des parlamentarischen Staatsrechts in der deutschen Staatstheorie, Akademische Antrittsrede 1912, in: Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 19 ff.; Max Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), Ge46 47
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zelnen nur reflexartig von der Verfassung verliehen52 . Träger der Souveränität ist der Staat insgesamt, verkörpert durch den Monarchen (Dogma der Kollektiv- oder Staatssouveränität)53. "Parlamentarismus" im Sinne der zwischen 1815 und 1870 vom Bürgertum durchgesetzten politischen Forderung bedeutet, daß am Willensbildungsprozeß innerhalb des Staates vom Volk bestimmte Organe mitwirken und die Interessen der einzelnen Volksschichten zur Geltung bringen. "Es handelt sich also um einen modernisierten Ausläufer des ständischen Prinzips,,54. Parlament und Abgeordnete bilden kraft ihrer von der Verfassung verliehenen Organs teIlung unmittelbar den Volkswillen aufgrund der Fiktion der Repräsentation, sie handeln gleichsam als Organe oder gesetzliche Vertreter des Volkes, denn das "Volk" als solches existiert in Wirklichkeit als handlungs- oder entscheidungsfähige Einheit überhaupt nicht55 . Aufgabe der deshalb ebenfalls als Staatsorgan handelnden aktiven Wählerschaft ist ausschließlich die personelle Auswahl der Mandatsträger, also die Kreation, während die eigentliche Bildung des "Volkswillens" erst im Parlament vonstatten geht56 . Umfang und Ausgestaltung der dem Einzelnen vom Staat übertragenen Funktion sind daher nicht determiniert von überpositiven Grundsätzen, sondern stehen im Ermessen der Rechtsordnung. Maßgeblich sind allein sammelte Schriften, S. 245 ff. Grundlegend in Frankreich: Benjamin de Constant, der Theoretiker der französischen Restauration: Reflexions sur 1es Constitutions, 1814; (Euvres Politiques, 1874. Eine zeitgenössische Zusammenfassung in bezug auf das Wahlrecht bringt Cahn, S. 50 ff. 52 G. lellinek, Staatslehre, S. 421 f. und System, S. 151; Laband, Staatsrecht, S. 297; G. Meyer, S. 412; v. Mohl, S. 355; vgl. ferner Bernatzik, Schmollers Jahrbuch 17 (1893), S. 393, 399; Delbrück S. 44 ff. Die Beschreibung dieses Rechtsreflexes ist im einzelnen vielfach umstritten. lellinek etwa unterscheidet zwischen dem Wahlrecht als Funktion im aktiven status und dem Anspruch auf Zulassung zu Ausübung des Wahlrechts als subjektives Recht des Wählers (nicht des Bürgers). Einigkeit herrscht nur über den Funktionscharakter des Wahlrechts; mißverständlich in diesem Sinne auch Meyer/Anschütz, § 99 S. 346; vgl. darstellend Kalischek, S. 4 f.; Tecklenburg, Entwicklung, S. 226 ff. 53 Bornhak, 3. A., S. 238; G. lellinek, Staatslehre, S. 552 f.; Meyer/Anschütz § 120 (im Reich: der Bundesrat); Die Feinheiten der Konstruktion sind in diesem Zusammenhang unerheblich. 54 Cahn, S. 61. 55 Bornhak, 3. A., S. 62 und 164; G. lellinek, Staatslehre, S. 566 f., 581; Laband, Staatsrecht, S. 296; Meyer/Anschütz, § 105, S. 370. Aus dem Wesen der Volksvertretung kann daher nichts für ihre Zusammensetzung hergeleitet werde, auch die erblichen Mitglieder der ersten Kammer sind Vertreter des ganzen Volkes. 56 G. lellinek, Staatslehre, S. 582 ff.; Laband, Staatsrecht, S. 297; Meyer/Anschütz, § 99 Fn. 2; Saripolos 11 S. 92; Tecklenburg, Entwicklung, S. 145 f. G. lellinek, Staatslehre, S. 711 sieht konsequent den einzigen Unterschied zwischen der Republik und der Monarchie in der Tatsache, daß bei jener ein - größeres oder kleineres - Kollektiv die höchste Staatsgewalt innehat.
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Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte57 : Welche Interessen sollen im Parlament repräsentiert sein? Welches Wahl system ist dazu geeignet? Über die Beantwortung dieser Fragen herrschte Uneinigkeit. Es lassen sich drei verschiedene Meinungsblöcke unterscheiden: Konservative und rechtsliberale Kreise befürworten das Zensuswahlrecht, gemäßigte Liberale sind für die allgemeine Wahl in Gestalt der Mehrheitswahl und manche Linksliberale halten die allgemeine Proportionalwahl für das zweckmäßigste System. a) Zensuswahlrecht Den Ursprüngen in der französischen Revolutionszeit am nächsten stehen die Befürworter eines Zensus- oder Klassenwahlrechts, welche die Auswahl der Abgeordneten nur einer relativ kleinen, wohlhabenden bürgerlichen Schicht anvertrauen wollen58 . Politisch wurde das Zensuswahlrecht schon 1848 in der Paulskirche vom größeren Teil der Liberalen gefordert59 , später, im Reich, von der Fortschrittspartei. Die Argumente für ein solches Wahlrecht, das in Gestalt des preußischen Dreiklassenwahlrechts (und bis 1867 faktisch auch in England) real existierte, waren, wie schon im Konvent 1791 und 95, die Unmündigkeit und Beeinflußbarkeit der Arbeitermassen im Gegensatz zu den höheren Klassen, die allein über die für die Ausübung des Wahlrechts erforderliche Bildung und ein entsprechendes Verantwortungsbewußtsein verfügten 60. Beispiele für die vermeintlich verderblichen Auswirkungen des allgemeinen und gleichen Wahlrechts waren die Schreckensherrschaft des Konvents unter Robespierre und der durch Plebiszite mit allgemeinem Stimmrecht legitimierte "Cäsarismus" der beiden Napoleons. Später befürchtete man vor allem ein
Cahn, S. 52 ff.; G. Meyer, S. 644. Benjamin de Constant, Reflexions sur les Constitutions, S. 112-142; Walter Bagehot, Die Englische Verfassung, 1867, S. 147 ff.; Robert v. Mohl, Das deutsche Reichsstaatsrecht, Tübingen 1873, S. 339 ff., insbes. S. 353 ff. (S. 360 Fn. 1 m. w. N.); Tecklenburg, Entwicklung, S. 111 mit weiteren Nachweisen. 59 Etwa Waitz und v. Sybel. Instruktiv die ausführliche Darstellung der Debatte bei Gagel S. 9 ff.; knapper Curti, Die Wahlrechtsfrage im Frankfurter Parlament, 1908. 60 Bagehot, S. 161: "Ich betrachte den Ausschluß der arbeitenden Klassen von einer wirkungsvollen Repräsentation nicht als Defekt dieses Aspekts unserer parlamentarischen Vertretung. Die arbeitenden Klassen tragen fast nichts zu unserer korporativen öffentlichen Meinung bei, und deswegen beeinträchtigt die Tatsache, daß sie keinen Einfluß im Parlament besitzen, die Übereinstimmung des Parlaments mit der öffentlichen Meinung nicht. Sie sind aus der Repräsentativkörperschaft ausgelassen und ebenso aus der repräsentierten Sache". 57
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Überhandnehmen der die nationalen Interessen mißachtenden Sozialdemokratie61 . b) Allgemeine und gleiche Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen In der Praxis in Deutschland vorherrschend war die allgemeine und gleiche Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen62 . Sie lag bereits 1849 dem mit knapper Mehrheit in der Paulskirche verabschiedeten Wahlgesetz zugrunde, das dann 1869 von Bismarck für den Norddeutschen Bund übernommen und ab 1871 unverändert auch im Reich angewendet wurde 63 . Für Bismarck war das allgemeine Wahlrecht in erster Linie politisches Werkzeug gegen die seit 1859 im preußischen Abgeordnetenhaus mehrheitlich vertretene liberale Fortschrittspartei, die im preußischen Verfassungskonflikt seine Heerespolitik blockiert hatte und nach wie vor die wichtigste Oppositionspartei darstellte64 . Er erhoffte sich von der allgemeinen Wahl die Majorisierung des bisher privilegierten Bürgertums durch die Masse der vom konservativen Landadel beeinflußten ostelbischen Landbevölkerung65 - im Ergebnis nur mäßig erfolgreich, und auch das nur kurzfristig 66 . Von wissenschaftlicher Seite wurde als Vorteil der Allgemeinheit angeführt, daß auch die niedrigsten Schichten der Bevölkerung Gelegenheit zur Äußerung ihres Willens und "Anteil am Wirken des Staates" erhalten müsDelbrück, S. 31 ff.; G. Meyer, S. 450 ff., vgl. auch unten, Fn. 70. G. Meyer, S. 420 ff. (Allgemeine Wahl) u. S. 641 ff. (Mehrheitswahl), Laband, Die Wahlreform in Preußen, DJZ 1910, Sp. 1 ff., Bagehot, S. 149 ff. (für die Mehrheitswahl); Max Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland (1917), Gesammelte Schriften, S. 245 ff. 63 RGBL 1849, S. 79, abgedruckt bei: Nohlen/Vogel/Schultze, Anhang, Quelle Nr. 3, S. 348 ff. und BGBL d. Nordd. Bundes 1869, S. 145 ff., abgedruckt bei: Nohlen/Vogel/Schultze, Anhang, Quelle Nr. 5, S. 355 ff. Allgemeinheit und Gleichheit waren zwar weder in der Verfassung noch im Wahlgesetz ausdrücklich angeordnet, ergaben sich aber aus dem § 1 RWahlG beschriebenen Kreis der Wahlberechtigten (dazu näher: Hatschek, Wahlgesetz, S. 5 ff.). 64 Ausführliche Darstellungen der Debatten bei Gagei, S. 51 ff. und v. Below, S. 1 ff. auszugsweise abgedruckt bei: NohlenlVogel/Schultze, Anhang, Quelle Nr. 2, S. 323 ff. 65 Bismarck an Bernstorff, 19. 4. 66, zitiert bei Gagei, S. 39; dazu Curti, S. 14 ff.; G. Meyer, Entstehung, S. 20. 66 Der Unterschied zwischen den Ergebnissen der Reichstagswahlen und den parallel dazu abgehaltenen Preußen wahlen sind, was den Stimmenanteil der liberalen Opposition angeht, nahezu identisch (1870 in Preußen: Kons. ca. 36%, Nat.-Lib. ca. 28%, Lib. ca. 14%; 1871 im Reich: Kons. ca 24%, Natl.-Lib. ca. 31 %; Liberale ca. 19%; 1873 in Preußen: Kons. ca. 15%, Nat.-Lib. ca. 40%, Lib. ca. 16%; 1874 im Reich: Konservative ca. 14%, Nat.-Lib. ca. 39%, Liberale ca.14%, Zahlen nach: Nohlen/Vogel/Schultze, Anhang, Tabelle A 5 und A 8, S. 287 u. 290). 61
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sen, weil auch sie "lebendige und kraftvolle Elemente im staatlichen Leben des Volkes" sind67 . Ihr Ausschluß führt zur Vernachlässigung ihrer Interessen im Parlament, zu Unzufriedenheit und schließlich zur Entfremdung breiter Schichten vom Staat68 . Das Wahlrecht ist - jedenfalls im Reich notwendiges Korrelat von Wehrpflicht und der Zahlung indirekter Steuern69 . Die von den Gegnern behaupteten Gefahren von Demagogenherrschaft, Radikalismus sowie mangelnder Einsichtsfalügkeit und Patriotismus der Massen glaubte man durch das Gegengewicht von Kaiser und Bundesrat hinreichend ausbalanciert7o . c) Proportionalisten Eine dritte, modernere Gruppe innerhalb des bürgerlich-liberalen Lager forderte die Einführung der allgemeinen Verhältniswahl als das zweckmäßigste, weil gerechteste Wahlverfahren71 . Diese existierte zwar als Idee schon länger, im Grunde seit Condorcet72 , war aber erst in Gestalt des Verfahrens des Engländers Thomas Hare seit 1859 praktisch anwendbar geworden 73 . Die Proportionalwahl wurde, in unterschiedlichen Varianten, auch Laband, DJZ 1910, Sp. 1, 7 f. (gerade umgekehrt wie Bagehot, s. Fn. 60). G. Meyer, S. 420 f. und Entstehung, S. 12 f. 69 Abg. Wagner (konservativ) im Reichtstag, zit. bei v.Below, S. 8; Laband, DJZ 1910, Sp. 1, 5; G. Meyer, S. 426; Bornhak, 3. A., S. 165. Dies soll aber nicht für das Wahlrecht in den Ländern gelten, weil diese keine indirekten Steuern erheben und keine eigene Wehrpflicht kennen, vgl. Laband a. a. O. Auch Max Weber setzt sich wegen der Gleichheit aller Staatsbürger angesichts so elementarer Schicksale wie Tod im Krieg und dem Angewiesensein auf Sicherheit energisch für die Wahlgleichheit ein, Wahlrecht und Demokratie (1917), in: Gesammelte Schriften, S. 245, 268. 70 Aufschlußreich sind die Überlegungen zur SPD: die Beteiligung der Arbeiterklasse an der Wahl sei so lange vertretbar und sinnvoll, wie die SPD-Fraktion das nationale Wohl nicht gefährde, insbesondere also die für das Staatswohl unbedingt notwendigen Reeres- und Flottenvorlagen nicht blockiere. Andernfalls sei eine staatsstreichartige Entmachtung des widerspenstigen Reichstages nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten: Delbrück, S. 31 ff.; G. Meyer, S. 450 ff. 71 Ernst Cahn, Das Verhältniswahlsystem in den modemen Kulturstaaten, 1909; H. U. Kantorowicz, Demokratie und Proportionalwahlsystem, ZfP 1910, S. 552 ff.; lohn Stuart Mill, Betrachtung über die repräsentative Demokratie, 1861; Adolf Tecklenburg, Die Proportionalwahl als Rechtsidee, 1905; ders., Majoritätseinerwahl oder Proportionalwahl?, ZStW 1906, S. 341 ff. Eine ausführliche, kritische, Darstellung m. w. N. unternimmt Bernatzik, Das System der Proportionalwahl, Schmollers Jahrbuch 17 (1893), S. 393 ff. Weitere Nachweise oben, Fn. 49. 72 s. o. 11. 2. b) (S. 22). 73 The election of representatives, parliamentary and municipal, 1859. Das System Rare beruht, anders als das heute verbreitete, von Niemeyer modifizierte, auf dem Gedanken der Personen-, nicht der Listenwahl, und arbeitet mit Alternativstimmen. 67 68
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bereits tatsächlich eingeführt, so etwa 1855 in Dänemark, 1894 in Belgien sowie in einigen Schweizer Kantonen74 . Ein erster Begründungsstrang geht zurück auf die zuerst von Mirabeau 75 formulierte Forderung, das Parlament müsse die politischen Verhältnisse des Landes möglichst genau wiedergeben. Vor allem der Engländer John Stuart Mill hat diesen Gedanken ausgebaut: Die Vertretung aller gesellschaftlichen Schichten entsprechend ihrer Größe ist im Interesse der Integration des Gemeinwesens sinnvoll und notwendig, die Unterdrückung einer Klasse durch eine andere oder der vollständige Ausschluß einer Schicht hingegen schädlich76 . Die Mehrheitswahl führt aber auf längere Sicht dazu, daß in allen Wahlkreisen die Masse der unteren Schichten die Mehrheit erlangen, so daß die kleine, gebildete Schicht mit ihrem politischen Sachverstand keine Möglichkeit hat, ins Parlament zu gelangen und dort an einer vernünftigen Regierung mitzuwirken. Unter dem Aspekt der Integration ist auch die bei der Mehrheitswahl bestehende Möglichkeit des Auseinanderfallens der Mehrheitsverhältnisse im Volk und im Parlament mißlich 77 . Ein anderer Argumentationsstrang läuft auf ein Gerechtigkeitsargument hinaus. Bei der Mehrheitswahl ist der Einfluß des Einzelnen auf das Wahlergebnis durch die Wahlkreiseinteilung ohne sachlichen Grund beschränkt. Einerseits können jeweils nur die im jeweiligen Wahlkreis zur Auswahl stehenden Kandidaten benannt werden, nicht aber eine andere Person, die eventuell den eigenen Vorstellungen besser entspricht: Bei der Verhältniswahl, die ohne abgeschlossenen Wahlkreise auskommt, könnte dagegen jeder Abgeordnete "Wähler vertreten, die nicht nur für ihn gestimmt, sondern ihn unter den Kandidaten des ganzen Landes ausgewählt hätten - und nicht aus einem Sortiment von zwei oder drei vielleicht schon faulen Tomaten, die als einzige auf seinem lokalen Markt zur Auswahl angeboten wurden,,78. Andererseits bleiben bei der Mehrheitswahl die Stimmen der im Weitere Studien zu Technik der Verhältniswahl stammen etwa von: Bumitz und Varrentrap, Methode bei jeglicher Art von Wahl, 1863; Siegfried Geyerhahn, Das Problem der verhältnismäßigen Vertretung, 1902; Eduard Hagenbach-Bischoff, Die Verhältniswahl, 1905; H. Rickes, Ein Wahlverfahren mit wirklicher Wahlrechtsgleichheit, 1917; Heinrich Rosin, Minoritätenvertretung und Proportionalwahlen, 1892; AdolfTecklenburg, Die Proportionalwahl als Rechtsidee, 1905. 74 Darstellung bei G. Meyer, S. 620 ff.; Bematzik, Schmollers Jahrbuch 17 (1893), S. 393 ff. 75 s. o. bei Fn. 25. 76 Laband, JZ 1910, Sp. 1, 7; vgl. v. Mohl, S. 333, Fn. 1. 77 Die Repräsentation aller politischen Gruppierungen im Parlament hält auch etwa G. Meyer, S. 643 für wünschenswert, ihm kommt es aber nicht auf die zahlenmäßig genaue Abbildung an: Hat eine Partei "eine innere Berechtigung, wird sie sich allmählich schon durchsetzen". 78 Mill, S. 129.
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Wahlkreis unterlegenen Minderheit ohne Abbildung im Parlament, also wirkungslos. Die Verhältniswahl verwirklicht insofern ein höheres Maß an Gleichheit als die Mehrheitswahl und entspricht daher besser dem Wesen und dem Sinn des demokratischen Ideals 79 . In der Praxis konnte sich die Verhältniswahl in Deutschland nicht gegen die Mehrheitswahl durchsetzen. Das lag politisch vor allem daran, daß die Mehrheit der im Reichstag vertretenen Parteien in erheblichem Maße von der Mehrheitswahl profitierte, nicht zuletzt als Folge der während der ganzen Epoche unveränderten Wahlkreiseinteilung. Wegen der zunehmenden Bevölkerungsverschiebung vom Land in die Städte war die vor allem in den Städten vertretene SPD stark unterrepräsentiert, zu Gunsten vor allem der mehr im ländlichen Raum verwurzelten Konservativen und des Zentrums. Immerhin scheiterte 1913 im Reichstag ein Antrag der Sozialdemokraten auf Einführung der Verhältniswahl nur ganz knapp.80 Die einfache Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen war überdies auch wegen ihrer Einfachheit und den geringen organisatorischen Anforderungen das naheliegendere System, während die damals bekannten Verfahren der Verhältniswahl noch nicht ausgereift und teilweise sehr unübersichtlich waren 81 . Inhaltlich stieß sich die Kritik an der Proportionalwahl vor allem an der durch sie gesteigerten Bedeutung der Parteien. Die Verhältniswahl geht davon aus, daß die durch unterschiedliche politische Auffassungen vermittelten Bindungen der Wähler stärker und wichtiger und damit auch integrationsfördernder sind als die traditionelle Wahlkreiszugehörigkeit, die von Zufall oder Willkür geprägt ist. Nach Ansicht der Mehrheitswahl-Anhänger ist aber gerade die Gliederung eines Volkes in regionale Einheiten, Gemeinden und Bezirke natürlich und verfassungsmäßig. Die von der Proportionalwahl geförderte und geforderte Gliederung in Parteien ist für die Einheit und das Wohl des Staates schädlich. Auch die bei der Mehrheitswahl stär79 Kantorowicz, ZfP 1910, S. 552, 560; Tecklenburg, ZStW 1906, S. 341, 342. Kantorowicz: "Unter diesem System gibt es also eigentlich gar kein Wahlrecht, sondern nur ein Stimmrecht, oder eine bloße Wahlmöglichkeit, kein Wahlrecht, d.h. kein Recht des Wählers, zu verlangen, daß seine Stimme nicht nur gezählt, sondern auch gewogen werde ... Der Wähler im Bezirkssystem gleicht dem Losbesitzer, der wohl die Möglichkeit hat zu gewinnen, aber nicht das Recht. Umgekehrt hat der Wahlkreis einen Anspruch auf Vertretensein im Parlamente unter allen Umständen, selbst wenn in ihm nur Eine gültige Stimme abgegeben würde". 80 Sitzung vom 16. 4. 1913, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, Bd. 289, S. 4821 ff. Die Abstimmung am 17.4., S. 4837 f., ergab 140: 139 Stimmen, allerdings bei Abwesenheit zahlreicher Abgeordneter. Zu den Ungerechtigkeiten des Wahlsystems eingehend Schanbacher, S. 23 ff. 81 G. Meyer, S. 647 f.: "Das Volk (wird) zu einem Wahl system, weIches es nicht versteht, auch kein Vertrauen haben".
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kere Bindung der Abgeordneten an die örtliche Wählerschaft ist gegenüber der Herrschaft zentraler Parteibürokratien zu bevorzugen82 . Während die Traditionalisten die politischen Parteien verteufeln, halten die Modemisten sie für essentiell im politischen Willensbildungsprozeß. Dem Gerechtigkeits- und Gleichheitsargument der Proportionalisten wird mit dem Hinweis auf den Funktionscharakter des Wahlrechts begegnet vor dem Hintergrund des ganz herrschenden Staatsverständnisses der Zeit durchaus konsequent: Das Stimmrecht ist mit Stimmabgabe konsumiert, der Wähler hat seine Funktion erfüllt. Für die Repräsentation ist es gerade nicht notwendig, daß jede Stimme berücksichtigt wird, weil jeder ordentlich Gewählte kraft Amtes Vertreter des ganzen Volkes ist und nicht durch irgendein rechtliches Band mit "seinem" Wähler verbunden 83 . Das demokratische Gleichheitsargument verliert dadurch stark an Gewicht, denn auch die Proportionalisten stellen die Grundlagen der liberalen Staatsanschauung nicht prinzipiell in Frage. 2. Demokraten
Ganz andere Prämissen setzt im 19. Jahrhundert die demokratisch-naturrechtliche Strömung. a) Theorie Ihre - in Deutschland wenig zahlreichen - Vertreter in der Staats wissenschaft84 halten, ausgehend von naturrechtlichen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts, die demokratische Regierung durch das Volk für eine nicht dispo82 Bematzik, Schmollers Jahrbuch 17 (1893), S. 393, 420 ff.; Delbrück, S. 28; G. Meyer, S. 644 f. 83 Laband, DJZ 1910, Sp. 1,4; Bematzik, Schmollers Jahrbuch 17 (1893), S. 393, 416 ff. stellt klar den Zusammenhang zwischen Proportionalwahl und Volkssouveränität heraus: "Der Ausgangspunkt der ganzen Bewegung ist zweifellos das demokratische Gleichheitsprincip. Denn sonst ließe sich ja der Versuch gar nicht begreifen, das Problem, die beste Form der Repräsentation zu finden, als ein Rechenexempel zu betrachten. (416) ... Auf dieser , Photographie , des Landes, die nach dem stets wiederholten geschmacklosen Vergleich das Parlament bilden soll, wo ist da der Platz für die erste Kammer? - vom konstitutionellen Throne ganz zu schweigen! (419)". 84 In Deutschland vor allem earl v. Rotteck, Lehrbuch des Vemunftsrechts und der Staatswissenschaften, 2. Band: Lehrbuch der allgemeinen Staatslehre, 2. Auflage 1840, v. a. §§ 77-79 und 86-88 (dazu ausführlich und kritisch Hasso Hofmann, Repräsentation, S. 446 ff.); wohl auch H. U. Kantorowicz, ZfP 1910, S. 552, insbes. 556 und 560. Weitere Nachweise bei Georg lellinek, Staatslehre, S. 580, Fn. 1, darstellend Laband, Staatsrecht, S. 298, Fn. 1.
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sltIve Grundlage jeder Staatsverfassung, weil Träger der Souveränität von Natur aus das Volk selbst und nicht der Staat oder seine Organe ist. Maßgebliche Größe in jedem gerechten Staat muß der mit dem Mehrheitswillen der Bürger identifizierte Gemeinwille sein. Aufgabe der Wahl ist es, hinsichtlich des Willens Identität zwischen Volk und Parlament herzustellen: "Der Landtag ... soll die Gesammtheit des Volkes vorstellen, und zwar nicht in leerer Dichtung, sondern in Natur und Wahrheit,,85. "In dem Saze: ,der Landtag soll so viel möglich identisch mit dem Volke, d.h. eine möglichst getreue Darstellung desselben und ein wahrhaft natürliches Organ der im Schooße der Gesammtheit lebenden Gesinnungen, Wünsche, Bedürfnisse und Forderungen seyn,' - liegt das oberste und zur Lösung aller Fragen genügende Gesez für seine Bildung oder Zusammensezung,,86 . Das Wahlrecht des Einzelnen ist folglich subjektives, natürliches Recht jeden Individuums 87 . Nach dem Scheitern der Revolution und dem Sieg der Restauration gerieten die demokratischen Ansätze sehr ins Hintertreffen. Im Laufe des Jahrhunderts wurde das Bürgertum die gesellschaftlich führende Schicht, das stark von der Furcht vor Revolution, Pöbelherrschaft und sozialen Unruhen beherrscht wurde und Schutz bei dem im Sinne Hegels zum Idealbild stilisierten Staat suchte. Am Ende des Jahrhunderts ist die etablierte Staatswissenschaft deshalb ganz vom etatistischen Positivismus beherrscht. So kann Bernatzik von der Proportionalwahl als "Sprößling des seligen Vernunftrechts" sprechen. Und G. Meyer stellt fest, daß "heutzutage ... die naturrechtliehe Anschauung von dem selbstverständlichen Rechte jedes Menschen, zu wählen, wohl kaum noch einen Vertheidiger finden" würde. 88 b) Politik: Sozialdemokraten Anders als in der Wissenschaft war die naturrechtliche Auffassung in der Politik keineswegs tot. Während des gesamten 19. Jahrhunderts gab es - in v. Rotteck, a. a. 0., S. 241. v. Rotteck, a. a. 0., S. 259. Obwohl v. Rotteck für die möglichst reine Demokratie eintritt, hält er vorerst den Ausschluß von abhängigen Arbeitern und Frauen vom Wahlrecht für notwendig und neben der Kopfzahl das Vermögen für einen für das Stimmgewicht relevanten Faktor. 87 W. Liebknecht, Schriften, S. 17 (Vortrag 1869): "Wählen ... unser natürliches Recht". 88 Bematzik, Schmollers Jahrbuch 17 (1893), S. 393; G. Meyer, S. 411; ähnlich G. lellinek, Staatslehre, S. 580: "von den beiden möglichen juristischen Auffassungen der Volksvertretung ist die eine heute in der deutschen Literatur gänzlich verlassen"; M. Weber, Wahlrecht und Demokratie in Deutschland, Gesammelte Schriften, S. 245, 266: Das Wahlrecht "hat mit einer Theorie von irgendeiner natürlichen ,Gleichheit' der Menschen natürlich nicht das Geringste zu schaffen". 85
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Frankreich wie in Deutschland - radikal demokratische Kräfte, welche die unbeschränkte Volkssouveränität einforderten. Deutlich sichtbar wurden sie während der Revolutionen von 1830 und 1848 89 . 1846 unternahm Victor Considerant90, ein Schüler des Frühsozialisten Fourier, mehrere Versuche zu Entwicklung eins funktionsfähigen Proportionalwahlsystems, mit dessen Hilfe die Ideen Rousseaus und Condorcets über die gleiche Wahl des ganzen Volkes praktisch umsetzbar würden. Durch die Lektüre Considerants wurde wiederum Wilhelm Liebknecht, einer der Führer der deutschen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, im Jahre 1849 Anhänger der naturrechtlich begründeten Verhältniswahl als einzig mögliche Ausgestaltung der gleichen Wah1 91 . Auf sein Betreiben92 wurde sie 1891 in das Erfurter Programm der SPD aufgenommen93 und erlangte auf diesem Wege überragende Bedeutung für die Entwicklung in Deutschland nach 1914. Theoretische Begründungsversuche der gleichen Wahl in Gestalt der Verhältniswahl vom demokratischen Standpunkt kommen fast ausschließlich aus den Reihen der SPD94 . Die liberale Repräsentationsidee wird zugunsten der Vorstellung der Identität von Volk und Regierung abgelehnt95 . Das Parlament ist nicht der eigentliche Ort der Willensbildung eines vom Volk verschiedenen Staates, sie findet vielmehr im Volk selbst statt. Demokratischer Idealzustand wäre daher an sich die unmittelbare Gesetzgebung und das imperative Mandat, jedenfalls aber die Kontrolle der Abgeordneten durch die Wähler. Das Parlament, ebenso wie das freie Mandat, ist bloß technisch In der Paulskirche etwa Ziegert, zitiert bei Gagel, S. 5. Considerant, De la Sincerite du Gouvernement Representatif ou Exposition de I'Election Veridique, Genf 1846 (Entwurf einer Verfassung für die Republik Genf); La Solution ou le Gouvernement Direct du Peuple, Paris 1851; darstellend Misch, S. 30 ff.; Tecklenburg, Entwicklung, S. 192 ff. Bernatzik, a. a. 0., spricht von den "Irrenhaus-Phantasien" Fouriers und Considerants. 91 So seine eigene Darstellung, NZ 1897/98, Bd. 2, S. 178 f. 92 Misch, S. 28 und 123 ff. 93 Der zweite, politische Teil des Programmes beginnt mit der Forderung: "Allgemeines, gleiches, direktes Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehörigen ohne Unterschied des Geschlechts für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportional-Wahlsystem, und bis zu dessen Einführung gesetzliche Neueinteilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung". 94 Grundlegend: August Bebel, Die Sozialdemokratie und das allgemeine Stimmrecht, 189; ähnlich bereits: Zur Wahlreform-Frage, Die Zukunft 1 (1877/1878), S. 507 ff.; Wilhelm Liebknecht, Proportionalgesetzgebung, NZ 1897/98, S. 178 ff.; Karl Lübeck, Die Proportional-Vertretung, Die Zukunft 1 (1877/78), S. 145 ff. Eine ausführliche Darstellung der Haltung der SPD zur Wahlrechtsfrage bis 1933 unternimmt Axel Misch, Das Wahl system zwischen Theorie und Taktik, 1974. Ferner Martin Martiny, Integration oder Konfrontation, 1976, S. 13-19; Friedrich Schäfer, Sozialdemokratie und Wahlrecht, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1967, S. 157 ff., alle mit umfangreichen Nachweisen. 95 Misch, S. 53, bei Fn. 62, und 128. 89
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bedingte Notwendigkeit96 • Aufgabe der Wahl ist es, Gradmesser des tatsächlichen Willens des Volkes zu sein97 , also den Willen jeden einzelnen Wählers möglichst genau in Mandate umzusetzen und so die Regierung durch das Volk herzustellen: "Zweck der Wahl ist oder soll sein, die Stimmung der Wähler durch die gewählten Abgeordneten zu einem, wir möchten sagen photographisch getreuen Ausdruck zu bringen,,98. Die Abgeordneten sind nicht Organe des Volkes, die aus eigenem Recht handeln, sondern Vertreter der Wähler: Die Wahl hat nur derivativen Charakter99 . Jede Vorkehrung, die entweder einzelne Gruppen von Bürgern von der Wahl ganz ausschließt oder dazu führt, daß nicht alle Stimmen im Parlament abgebildet werden, ist ein Verstoß gegen das so verstandene Demokratieprinzip und die ihm innewohnende Gleichheitsforderung, denn jeder Bürger hat das natürliche Recht, vertreten durch einen Abgeordneten seiner Wahl, an der Beratung der Gesetze teilzunehmen. Erst die Entscheidung erfolgt dann in der Versammlung nach dem Mehrheitsprinzip, das Sieger und Besiegte kenntl()(). Die entscheidende Neuerung gegenüber der älteren naturrechtlichen Lehre liegt im gewandelten Rollenverständnis der Parteien10!, insbesondere der SPD selbst, die im Kaiserreich die einzige politische Partei im modernen Sinne war. Die Arbeiterpartei ist nach ihrem Selbstverständnis nicht bloß wirtschaftliche Interessenvertretung der Arbeiter. Sie nimmt vielmehr für sich in Anspruch, gerade die politischen, auf die Regierung des Gesamt96 KautskylSchoenlank, S. 34 f.; Rittinghausen, Die unhaltbaren Grundlagen des Repräsentativsystems, Sozialdemokratische Abhandlungen Heft 3, Köln 1869, zitiert bei Misch, S. 75; zur Auseinandersetzung mit dem Ziel der unmittelbaren Demokratie: Wolfgang Mantl, Eine frühe Weichenstellung zwischen Parlamentarismus und direkter Demokratie-Die Auseinandersetzung Kautskys mit Rittinghausen im Jahre 1893, in: FS für K. D. Bracher, 1987, S. 534 ff. 97 Misch, S. 92 f. Als Ergänzung bietet sich der Volksentscheid an, durch den der tatsächliche Einfluß des Volkes auf das Parlament verstärkt werden kann. Vgl. dazu ausführlich Karl Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, S. 61 ff. 98 Bebei, Allgemeines Stimmrecht, 1895, S. 51; Lübeck, Die Zukunft 1 (1877/ 78), S. 145, 147: Das Parlament soll "wahrer Ausdruck der Volks stimmung" sein. 99 Bebei, Die Zukunft I (1877178), S. 507; dazu Misch, S. 119 f. und, ablehnend, G. Jellinek, Staatslehre, S. 580: "Solange man nämlich in das Wesen der Repräsentation noch nicht tief genug eingedrungen war, nahm man, wie heute noch vielfach in der ausserdeutschen Literatur, eine Delegation des Volkes an die Repräsentanten an, was die weitere Vorstellung mit sich brachte, daß die Substanz der delegierten Rechte dem Volke verbleibe, und nur deren Ausübung den Repräsentanten zustehe". 100 Prägnant: Lübeck, Die Zukunft 1 (1877178), S. 145, 153 f. u. 147. 101 Bebei, Allgemeines Stimmrecht, S. 53; vgl. auch RatzenhoJer, Wesen und Zweck der Politik als Theil der Sociologie und Grundlage der Staatswissenschaft, Leipzig 1893, S. 186, zitiert bei Saripolos, S. 541 f.
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staates bezogenen Vorstellungen des "vierten Standes" zu fonnulieren, die aufgrund der Ohnmacht des einzelnen Arbeiters nur durch den Zusammenschluß in der Partei Kontur und politisches Gewicht gewinnen können. So wie die Gewerkschaften Vennittler des Willens der Arbeiter in der Wirtschaft sind, so ist es die Partei in der Politik. Auf diese Weise wird die parteipolitische Zuordnung der Wähler zum entscheidenden Kriterium, der politische Wille des Einzelnen äußert sich in erster Linie durch die Erklärung für ein Partei programm. Nach diesen Kriterien muß die Wahl selbstverständlich zunächst allgemein und gleich sein. Weiter ergibt sich, daß insbesondere die Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen ungeeignet ist, weil bei ihr zahlreiche Stimmen "wirkungslos unter den Tisch fallen" und weil sie die Wähler als Angehörige eines Wahlkreises erfaßt und nicht an das allein relevante Kriterium des politischen Willens, also der Parteizugehörigkeit anknüpft. Das Gerechtigkeitsargument hat vor dem Hintergrund der demokratischen Lehre entscheidende Bedeutung für die Legitimationsfunktion der Wahl. Aus der Rolle der Partei erklärt sich auch die Befürwortung der starren Liste: es geht nicht um die Auswahl von Personen, sondern um die Abbildung von politischen Meinungen, es wird "mehr für Prinzipien als für Personen gestimmt" \02. Die weiteren Wahlrechtsforderungen der SPD ergeben sich mittelbar aus den sozialen Bedingungen der Arbeiterschaft\03. Während in den höheren, bürgerlichen Schichten vor dem ersten Weltkrieg die Frauen weitgehend auf den häuslichen Wirkungsbereich beschränkt waren, war in den Fabriken Frauen- und Kinderarbeit an der Tagesordnung. Es lag nahe, diesem gewandelten Rollenbild auch im politischen Bereich Rechnung zu tragen 104 • So erklärt sich der Ruf der SPD nach Einführung des Frauenwahlrechts und nach einer Senkung des Wahlalters auf 20 Jahre. Die Theorie der SPD beeinflußte ihr praktisches Vorgehen. Ihr eigentliches Ziel war die Umgestaltung der Gesellschaft zum sozialistischen Volksstaat mit den Mitteln der bestehenden Staatsorganisation \05. Alle Arbeiter 102 W. Liebknecht, zitiert bei Misch, S. 95 bei Fn. 36; Bebel, Allgemeines Stimmrecht, S. 53. Bebel anerkennt ausdrucklich auch die Möglichkeit von unabhängigen Einzelkandidaten. 103 Bebel, Allgemeines Stimmrecht, S. 50 f.; KautskylSchoenlank, S. 29 f.; W. Liebknecht auf dem Erfurter Parteitag, Protokoll S. 344: "Es lohnt sich für uns nicht der Mühe, hier noch ein Wort daIiiber zu verlieren, daß es eine besondere Frauenfrage nicht giebt, daß die Emanzipation der Frauen überhaupt zusammenfallen muß mit der allgemeinen Emanzipation des arbeitenden Volkes". 104 Bebel, Allgemeines Stimmrecht, S. 51: "Die sozialen Verhältnisse der modernen Zeit haben die Stellung der Frau total verändert, sie wird immer mehr die Genossin statt die Untergebene des Mannes".
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und Kleinbürger, der überwiegende Teil der Bevölkerung, sollten sich hinter die SPD stellen und das entscheidende Organ des Staates, das Parlament, in ihre Hand bekommen 106. Dafür wäre aber eine etwa durch Mehrheitswahl im Parlament errungene Mehrheit, die nicht einer ebensolchen im Volk entsprochen hätte, keine hinreichende Legitimationsbasis gewesen. Die Partei strebte deshalb nicht in erster Linie nach einer Mehrheit im Parlament, sondern in der Bevölkerung 107. Sie stellte deshalb, anders als die übrigen Parteien, auch in zahlreichen von vornherein aussichtslosen Wahlkreisen sogenannte "Zählkandidaten" auf, um ihren Anhängern auch dort die Kundgabe ihrer politischen Ansicht zu ermöglichen. Das praktische Mittel zur Erreichung des Idealzustandes: Mehrheit in Volk und Parlament war die Verhältniswahl. Neben diesen theoretischen Erwägungen stand freilich die massive Benachteiligung der SPD durch die Wahlkreisgeometrie im Kaiserreich im Zentrum der Überlegungen, aufgrund derer die Forderung nach Verhältniswahl auch machtpolitisch zu einem wichtigen Ziel der Partei werden mußte. Auch in der SPD gab es Stimmen, die der Verhältniswahl kritisch gegenüberstanden, vor allem auf dem rechten Partei flügel und unter den Akademikern in der ParteilOS. Meist wurde die Aufwertung der Parteien nicht nachvollzogen und unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vor Zersplitterung gewarnt: die Parteien seien eine ungeeignete Schablone für die Volksstimmung I09 . Eduard Bernstein etwa versucht, die prinzipielle Bedeutung der Wahlrechtsfrage zu mildem: "Die Proportionalwahl ist nicht eine Frage eines politischen Prinzips, sie ist eine reine Frage der Wahltechnik und ist 105 W. Liebknecht: "Sozialismus ist für mich gleich Demokratie", zitiert bei Misch, S. 74 bei Fn. 155. Die Instrumentalisierung der Einrichtungen des bestehenden Staates in der Hand der Arbeiterklasse anstelle einer gewaltsamen Revolution ist ein Erbe Lasalles. § 1 der Satzung des von ihm gegründeten ADAV von 1863, forderte bereits die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts "auf friedlichem und legalem Weg", durch das "eine wahrhafte Beseitigung der Klassengegensätze in der Gesellschaft herbeigeführt werden kann" (zitiert nach Misch, S. 53, Fn.60). 106 Kautsky, Parlamentarismus und Demokratie, S. 162; W. Liebknecht auf dem Erfurter Parteitag, Protokoll, S. 204 f.; Misch, S. 124 bei Fn. 99. 107 Der Sozialdemokrat v. 11. 3. 1887, zitiert bei Misch, S. 113: "Die Sozialdemokratie bemißt ihre Kraft nicht nach der Zahl ihrer Reichstagsmandate ... Sie hat nur einen Gradmesser, nach dem sie ihre Stärke bemißt, und das ist die Verbreitung ihrer Prinzipien im Volke". 108 Advocatus (= P. Vogt), Das sogenannte Proportional-Wahlsystem, NZ 18941 95, Bd. 2, S. 68, 100, 142; Eduard Bernstein, Das demokratische Prinzip und seine Anwendung, NZ 1896/97, Bd. 1, S. 19 ff., Max Kayser, Gegen die ProportionalVertretung, Die Zunkunft 1 (1877/78), S. 624. 109 Kayser, S. 624 f.
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als solche nach ihrer Zweckmäßigkeit zu beurtheilen II 0". Allerdings ist nach Bernstein die Demokratie überhaupt nur Mittel zum Zweck der Errichtung des sozialistischen Volks staates. Die Hauptlinie der Partei, vertreten von W. Liebknecht, Bebel und Kautsky hielt dennoch immer an der Proportionalwahl als politischer Hauptfor-
derung der SPD fest.
3. Exkurs: Abweichende Entwicklung in Frankreich
In Frankreich, dem Mutterland beider in Deutschland vertretenen Wahlrechtstheorien, verlief die Entwicklung seit 1870 in eine andere Richtung 111 . Grundlage der 3. Republik war, anders als nach der herrschenden Lehre im deutschen Kaiserreich, die souverainete nationale im Sinne Sieyes: Die Souveränität ruht beim Volk, kann aber nur von Vertretern ausgeübt werden. Die volonte generale wird dabei im Sinne Rousseaus begriffen 112: "L' equi valent de cette volonte, indispensable pour l' exercice de la souverainete, ne peut se trouver que dans les volontes concordantes d'un certain nombre d'individus pris dans le corps de la nation. La resultante de leurs voix ou votes sera consideree comme l'expression de la volonte nationale. '" L'exercice du droit de suffrage politique ... n'est pas autre chose que l'exercice de la souverainete elle-meme"I13. Das Wahlrecht des Einzelnen wird konsequenterweise als Individualrecht angesehen: ,,11 faudrait alors considerer chaque electeur-citoyen comme possedant en lui une fraction de la souverainete nationale, comme exercant, par suite, dans l'acte electoral un droit propre et individuel,,114. Daraus folgt, neben dem Verbot jeden Zensus- oder Klassenwahlrechts - in der 3. Republik galt das allgeAa.O., S. 22 f. Grundlage der Darstellung ist in erster Linie: A. Esmein, Elements de droit constitutionnel, 6. Auflage 1914, 1° Partie, Titre 11, Ch. 11, Sect. 11, § 2, S. 299 ff., sowie Nicolas Saripolos, La Democracie et I'Election proportionelle, Diss. Paris 1899. Saripolos referiert ausführlich die Grundlagen der herrschenden Lehre. Er selbst (Liv. 11 ch. 11, III) vertritt einen abweichenden Ansatz und versucht, eine funktionalistische Begründung der Proportionalwahl zu geben. Bezeichnenderweise stützt er sich dafür nahezu ausschließlich auf deutsche Autoren wie G. lellinek, G. Meyer und Laband. So ist für ihn etwa die volonte generale nicht Summe der Individualwillen, sonder qualitativ mehr; er gebraucht dafür den deutschen Begriff "Volksethos" (S. 616 ff.). 112 Letzteres war zunächst nicht ganz eindeutig: nach der Niederschlagung der Pariser Commune 187lwurde die Verfassung der Republik zunächst eher restaurativ ausgestaltet. Im Laufe der Zeit gewannen dann aber demokratische Strömungen mehr und mehr die Oberhand (vgl. Hartmann, S. 112 ff.). 113 Esmein, S. 299; ebenso Saripolos, S. 6 f. 114 Esmein, S. 310. . 110 111
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meine Wahlrecht -, daß das Parlament nicht Interessenvertretung in irgendeiner Form sein darf. Die einzig zulässige und, aus organisatorischen Gründen, notwendige Einteilung der Wählerschaft ist die räumliche in Wahlkreise, die in der Regel den Verwaltungseinheiten entsprachen. Jeder Abgeordnete ist Vertreter der ganzen Nation, es darf kein imperatives Mandat geben. Der Unterschied zur demokratischen Richtung in Deutschland liegt darin, daß das französische Staatsrecht keine politischen Parteien im modemen, von der SPD geprägten Sinne kannte. Eine straff organisierte Volkspartei hat die französische Arbeiterbewegung nicht hervorgebracht, Fraktionen und Parteien verharren im Stadium der Interessenverbände und kommen daher als Vermittler des politischen Willens der Wähler nicht in Betracht, werden eher als störend empfunden und gelten als Hort der Korruption II 5. Jeder Abgeordnete muß deshalb einzeln, als Person, gewählt werden. Die in Frankreich bis 1889 geltende und auch danach von starken Kräften befürwortete Proportionalwahl ist daher nicht wie in Deutschland als Listen- und Parteiwahl ausgestaltet, sondern als Personenwahl: Wahlkreise sind die Departements, in denen jeweils mehrere Abgeordnete gewählt werden; jeder Wähler hat so viele Stimmen, wie Sitze im Wahlkreis zu vergeben sind 1l6 . 4. Betrachtung
Wie schon in der französischen Revolution, so ist auch im 19. Jahrhundert die Wahlrechtsfrage in Deutschland Symbol der grundsätzlichen Spaltung der Politik in zwei Lager: einerseits die bürgerlich-liberalen Anhänger der bestehenden, konstitutionell-monarchischen Ordnung, andererseits der vornehmlich sozialdemokratische "Umsturz", welcher Volkssouveränität, parlamentarische Republik und letztlich Parteienherrschaft anstrebt. Das vergleichbare Symbol in Frankreich war die Restauration der Monarchie, die in Deutschland vor 1918 nie ernsthaft zur Debatte stand. Auffällig ist die völlige Ignorierung der Staatstheorien der Sozialdemokraten in der etablierten Staatswissenschaft trotz deren erheblichen politischen Gewichts; die demokratische Lehre wurde nach 1870 in Deutschland für tot erklärt, obwohl sie doch etwa in Frankreich recht lebendig war. Die Einführung des modemen allgemeinen Wahlrechts durch Bismarck war nicht etwa Frucht der Auseinandersetzung mit der demokratischen Lehre, sondern ein machttaktisches Manöver: Deutschland kam zur allgemeinen und (in Ansätzen) gleichen Wahl wie die Jungfrau zum Kinde. 115 Saripolos, S. 541 ff. Die Vorstellung von Parteien als politische Persönlichkeiten ist eine "monstruosite politique et juridique". 116 Ausführliche Darstellung des Wahlsystems: Esmein, S. 856 ff.
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1. Teil: Historische Untersuchung
Grund für die Ignoranz war die verbreitete Einordnung der SPD als staatsfeindliche, außerhalb der Gesellschaft stehende Kraft. Als fatale Folge dieser Einstellung kam es im Kaiserreich nicht, auch nicht ansatzweise, zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung der beiden Lager, geschweige denn zu einem Dialog. Als 1918 der SPD unvorhergesehen die politische Macht zufiel, fehlte jede gemeinsame wissenschaftliche Basis für den Aufbau der neuen Staatsordnung, es gab keinen Ansatzpunkt für einen Kompromiß oder gar Konsens. Die Wahlrechtsforderungen der beiden Lager sind konsequente Folgerung aus ihrer jeweiligen politischen Ideologie, wie gezeigt werden konnte, und nicht lediglich machttaktische Tagesforderungen oder "agitatorisches Stereotyp" ohne tieferen Sinn!!7. Das gilt insbesondere für die SPD, in deren Grundsatzprogramm die Forderung nach allgemeiner und gleicher Verhältniswahl nicht umsonst ganz oben steht: gerade in diesem Punkt bezieht sie programmatisch die entschieden demokratische Gegenposition zur herrschenden Ideologie des konstitutionellen Obrigkeitsstates. Die in den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts unternommenen Versuche, den Zusammenhang zwischen der sozialdemokratischen Ideenwelt und der Verhältniswahl zu marginalisieren, sind in ihrem historischen Kontext zu sehen. Sie stammen aus einer Zeit, in der die SPD einerseits im Rahmen der großen Koalition die Annäherung an das bürgerliche Lager versuchte und andererseits nach fast 20 Jahren Opposition hoffte, mit Hilfe des Mehrheitswahlrechts auch ohne Hilfe der FDP endlich die Regierungsverantwortung zu gewinnen. Die Kritiker der Erhebung der Verhältniswahl zur Doktrin sind es, die mehr oder weniger bewußt die demokratische Grundlage der Partei im Interesse reiner Machtpolitik vernachlässigen. Die Behauptung Friedrich Schäfers, daß "Wahlrechtsfragen ... stets von einer punktuellen Sicht beherrscht ... , die Argumente vornehmlich dem Augenblick entnommen werden" trifft für ihn selbst in wesentlich höherem Maße zu, als für Bebel und Liebknecht. Historisch unzutreffend ist auch die auf Friedrich Naumann zurückgehende, später vor allem von F.A. Hennens entfaltete These 1l8 , daß die Verhältniswahl das der konstitutionellen Monarchie angemessene Wahlrecht sei, in der das Parlament lediglich als Interessenvertretung der Bürger auftrete. Sie eigne sich aber nicht für die Bedingungen der Demokratie, weil 117 So aber Friedrich Schäfer, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Jahrbuch 1967, S. 157 ff.; Martiny, S. 14 ff.; vgl. Jesse, S. 97. Dagegen zur Recht etwa Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 187. 118 Naumann: siehe unten, Fn. 128; ebenso Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 186 f.; Hermens, Demokratie oder Anarchie?, 2. Auflage, 1968, S. 1 ff. (dazu näher unten, C. 11. 1.); Schäfer, a. a. 0., S. 162.
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sie typischerweise keine stabilen Mehrheiten hervorbrächte, derer man als Grundlage einer parlamentarischen Regierung bedürfe. Die Analyse der historischen Genese und der dogmatischen Zusammenhänge lehrt das Gegenteil: die Verhältniswahl ist nach der demokratischen Doktrin das ideale Wahlrecht. Die Überlegungen Naumanns und Rennens' sind allenfalls auf dem Boden der liberalen Anschauung haltbar, nach der die Wahlrechtsgestaltung ausschließlich von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten abhängt. Die demokratische Argumentation vermögen sie nicht zu treffen. Am Ende des 19. Jahrhunderts, am Beginn des 1. Weltkrieges, stehen die bis heute gültigen Grundlagen der Wahlrechtsdogmatik im Grundsatz fest: das bürgerlich-liberale Lager streitet für ein Verständnis der Wahl als Staatsfunktion und Personenauswahl, das demokratische sieht sie als abbildende Willensvermittlung und Partei-Wahl.
B. Entwicklung in der Weimarer Zeit I. Nationalversammlung: Weimarer Verfassung und Reichswahlgesetz Das einschneidendste Ereignis der deutschen Wahlrechtsentwicklung war die Revolution von 1918, welche nicht nur das Frauenwahlrecht verwirklichte, sondern auch zur Erhebung der "gleichen" und der "Verhältniswahl" zum Verfassungssatz führte. Gleichzeitig brachte sie die Umgestaltung des Reiches in eine parlamentarische Republik mit Parlamentsverantwortlichkeit der Regierung. Darin waren tiefgehende Implikationen für die Rolle des Parlaments im Verfassungsgefüge begriffen und, damit notwendig einhergehend, auch für dessen Wahl. Die neue Verfassung brachte auch die Errichtung des Reichsstaatsgerichtshofes (RStGH) mit einer, wenn auch begrenzten, Kompetenz für die Entscheidung von Verfassungsstreitigkeiten. Das Wahlrecht wurde damit erstmals zum Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzung und eigentlich staatsrechtlicher Argumentation.
1. Art. 22 WRV Die Entstehungsgeschichte des Art. 22 WRV, des Sitzes der Wahlgrundsätze, verlief ohne größere Auseinandersetzungen über grundSätzliche Fragen. Die Verfassungsnorm entspricht inhaltlich im wesentlichen dem Aufruf des Rates der Volksbeauftragten vom 12. 11. 1918 zur Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung: danach sollte jeder Wähler eine Stimme haben 119. Eine Debatte über die Wahlrechts grundsätze gab es nur einmal, im Verfassungsausschuß am 4. 4. 1919 12
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Gleichheit und die Allgemeinheit der Wahl waren zu keiner Zeit ein Streitpunkt. Ein Zurück hinter den Stand des Bismarck'schen Wahlrechts in diesem Punkt schien politisch weder durchsetzbar noch wünschenswert 121 und wurde auch von keiner Partei angestrebt, am wenigsten von den Mehrheitssozialdemokraten, der größten Fraktion in der Nationalversammlung. Diese setzten umgekehrt, gegen den Widerstand der Konservativen, nun DNVP genannt, die Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen durch. Auch wurde auf ihr Betreiben das Wahlalter von 25 auf 20 Jahre gesenkt, so daß auch die von der Front heimkehrenden Soldaten der jüngeren Generation politisch mündig wurden. Ebenfalls eine Forderung der SPD war die Einführung der Verhältniswahl. Im Kaiserreich hatte sie sich mit diesem Anliegen noch nicht durchsetzen können, weil sich die anderen Parteien von der geltenden Mehrheitswahl günstigere Ergebnisse versprochen hatten. 1918 aber, als sich ein weiteres Anwachsen der SPD abzuzeichnen schien, waren alle Parteien mit Ausnahme der Konservativen für die Verhältniswahl. Grund dafür waren weniger theoretische Gesichtspunkte, die ohnehin nur in linksliberalen Kreisen eine Rolle spielten, als die Furcht, bei einer Wahl nach Mehrheitsgrundsätzen von der SPD durchgängig majorisiert zu werden und allen parlamentarischen Einflusses auf die Neugestaltung des Staates verlustig zu gehen 122. In der Tat hätte, legt man die tatsächlichen Ergebnisse der Wahl zur Nationalversammlung zugrunde, die Mehrheitswahl vermutlich das Ende für die liberalen Parteien bedeutet und der SPD eine überwältigende Mehrheit beschert 123 . Die SPD selbst hielt dennoch an ihrer alten demokratischen Forderung nach Verhältniswahl fest 124 • Etwas anderes wäre den Wählern schwer zu ROBI S. 1303. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der Nationalversammlung, Anlagen, Bd. 336, S. 239 f. 121 Berichterstatter Schultz im Verfassungsausschuß, ebd. S. 240; Hugo Preuß, S. 243; Abg. Zöphel (DDP), S. 244. 122 Conrad Haußman: "Überfluten durch sozialdemokratische Vertreter, welchen dann die Neuordnung der Reichsgrundlagen offiziell überlassen wäre", zitiert bei Schanbacher, S. 58. Ähnliche Entwicklungen waren im Laufe der 20er Jahre in ganz Europa zu beobachten; die Verhältniswahl wurde fast durchgängig eingeführt: Braunias, Wahlrecht, Bd. 2, S. 203; Mierendorff, in: Schauff, Neues Wahlrecht, S. 18; S. 26 f. 123 Schanbacher, S. 54 f., Fn. 132 m. w. N.; Hermens, Demokratie oder Anarchie, S. 165 f.; vgl. ausführlich Schauff, S. 148 und 150 (für die Wahlen 1924 und 28). 124 Man kann darüber streiten, ob der Verzicht der SPD auf das für sie sichere Mehrheitswahlrecht als Prinzipientreue und Redlichkeit anzusehen ist oder als Ausdruck des fehlenden Machtwillens, der zu einer nur halbherzigen Übernahme der Regierungsverantwortung führte. Der rechtsgerichtete Politiker Bredt (Wirtschaftspartei) sprach jedenfalls später im Reichstag schadenfroh vom "honorigen" Verhal119
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vermitteln gewesen, war jene doch eine der wichtigsten "Errungenschaften der Revolution" 125. Nach der bisherigen dogmatischen Linie hätte eine absolute Mehrheit im Parlament ohne Entsprechung in der Bevölkerung auch gar keine Legitimationsbasis für eine grundlegende Umgestaltung der Gesellschaft im sozialistischen Sinne abgegeben 126. In der Nationalversammlung sprach sich ausschließlich l27 der Liberale Friedrich Naumann gegen die Verhältniswahl aus. Seiner Ansicht nach ist eine parlamentarische Regierung nur bei einem Zweiparteiensystem nach englischem Vorbild möglich. Ein solches kann aber unter dem Proporz nicht entstehen. "Die Folge des Verhältniswahlsystems ist die Unmöglichkeit des parlamentarischen Regierungssystems, parlamentarisches System und Proporz schließen sich aus.,,128 Ausgangspunkt seiner Argumentation, Naumann war Vorsitzender der liberalen DDP-Fraktion, ist eine Zweckmäßigkeitserwägung: anders als seine Parteifreunde nimmt er dabei aber nicht die momentane Situation im Blick, in der die Liberalen aus taktischen Gründen die Verhältniswahl befürworten müssen, sondern die längerfristige Entwicklung der Demokratie. Er legt dabei die Hypothese zugrunde, daß erstens die (relative) Mehrheitswahl ein Zweiparteiensystem erzeugen wird und zweitens ein Mehrparteienparlament zwangsläufig nicht zur Bildung einer stabilen Regierung in der Lage sein wird. Beide Thesen haben bis heute großen Widerhall gefunden. ten der SPD, ohne das es "den rechten Parteien sehr schwer geworden wäre, überhaupt in die Nationalversammlung ... hineinzukommen." (am 7. 6. 1929, StB Bd. 425, S. 2191); Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 187: "Die sehr prinzipientreue Mehrheit, darin ein Seitenstück zu der Frankfurter Nationalversammlung, die nicht auf ihren Vorteil, sondern auf ihre Grundsätze sah ... "; F. Schäfer, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1967, S. 157, 178: "es überwog der fortschrittsgläubige Idealismus gegenüber einem gesunden und der parlamentarischen Demokratie allein angemessenen Machtstreben"; Martiny, S. 28, betont mehr die daneben intendierte beruhigende politische Wirkung des alle Parteien berücksichtigenden Verhältniswahlrechts. Weitere Nachweise zur Diskussion bei Schanbacher, S. 56, Fn. 137. 125 Abg. Keil (SPD) im Verfassungsausschuß, Prot. Nationalversammlung Bd. 336, S.243. 126 Oben S. 37. 127 Ebenso einzelne, aber gewichtige Stimmen in der Literatur: Max Weber in der Deutschen Börsenzeitung vom, 25. 2. 1919, in: Gesammelte Schriften, S. 498, 499, der eine Umwandlung des Parlaments in eine Versammlung von Interessenvertretern befürchtet, "denen nationale Politik Hekuba ist, ... ein Banausenparlament, unfähig, ... eine Auslesestätte politischer Führer darzustellen"; Rudolf Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl, in: FS Bergbohm, S. 278 ff. 128 Prot. Nationalversammlung, Bd. 336, S. 242; dazu schon oben, A. III. 4. bei Fn. 118.
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Hugo Preuss, der Vater der Weimarer Verfassung, zerstreute Naumanns Befürchtungen, indem er das Verantwortungs bewußtsein von Wählern und Politikern beschwor: ein Parlament mit echter Verantwortung werde sich schließlich in Richtung auf ein Zweiparteien- oder doch Lagersystem hin konsolidieren. Die Abschaffung der Verhältniswahl, nachdem man sie einmal eingeführt habe, sei jedenfalls politisch nicht mehr möglich. Das in Deutschland gewachsene Vielparteiensystem könne nicht gewaltsam abgeschafft werden 129 . 2. Wahlgesetz
Die Nationalversammlung hatte ferner das zur Ausführung des Art. 22 WRVerforderliche Wahlgesetz auszuarbeiten, welches die konkrete Ausgestaltung des Wahlsystems regeln sollte. Dies geschah erst kurz vor den ersten Wahlen 1920 unter starkem Zeitdruck 130. Dabei fielen zwei für die Wahlgleichheit bedeutsame Grundentscheidungen: Die Festlegung auf das automatische System mit festen Listen und die Einführung einer Reststimmenverwertung über eine Reichsliste, die zur annähernden Gleichbehandlung aller Stimmen auch im Verrechnungsverfahren führte. Die erste Entscheidung war rein technischer Natur und fiel auf Vorschlag des Innenministers Koch- Weser ohne kontroverse Diskussion. Im ,,Automatischen System" erhält jede Parteiliste für eine feststehende Stimmenzahl, im RWahlG 60 000, einen Abgeordneten; die Größe des Reichstages hing also von der Zahl der gültigen Stimmen ab und war von Wahl zu Wahl verschieden. Ausschlaggebend war die Erwägung, daß bei diesem Verfahren Gleichheitsverzerrungen durch fehlerhafte Wahlkreiseinteilung in jedem Fall ausgeschlossen sind. Es galt als gerechter als das System nach d'Hondt 13l , welches die größeren Parteien leicht begünstigt. Als unbefriedigend empfand man allgemein die Größe der Wahlkreise und die dadurch bedingte Länge und Anonymität der Listen. Nur aus Zeitmangel, der durch den Kapp-Putsch vom 13.-17. 3. 1920 verschärft wurde, sah man von einer Prot. Nationalversammlung, ebd. S. 243. Gesetz vom 27. 4. 1920, RGBI 1920, S. 627. Eine Debatte gab es nur bei der Lesung des Wahlgesetzes im Plenum in der 168. Sitzung am 22. 4. 1920, Stenographische Berichte der Nationalversammlung, Bd. 333, S. 5331 ff. Die Entwürfe des Innenministers und des Wahlausschusses sind abgedruckt in Anlagen, Bd. 342, S. 2726 ff. und 2759 ff. Vgl. hierzu Georg Kaisenbenberg: Die Vorentwürfe der neuen Wahlgesetze, DJZ 1920, Sp. 220 ff., sowie Kommentar zum Reichswahlgesetz, 1920. Kaisenberg war während der gesamten Weimarer Republik Referent für Wahlrechtsfragen im Reichsinnenministerium. Der Text des RWahlG von 1919 ist abgedruckt bei: VogellNohlenlSchultze, Wahlen in Deutschland, Anhang, Quelle Nr.9. 131 Koch- Weser in der Nationalversammlung, a. a. O. S. 5334 ff. 129
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Neueinteilung der von der Wahl zur Nationalversammlung übernommenen Wahlkreise abY2 Die Aufstellung der Listen erfolgte zunächst in 35 Wahlkreisen unterschiedlicher Größe, in denen jeweils eine entsprechende Zahl von Abgeordneten sofort gewählt war, meist zwischen 5 und 15 133 . Die auf der Wahlkreisebene unverwerteten Reststimmen wurden dann auf die Ebene der 17 "Wahlkreisverbände" überwiesen, wo auf je 60 000 Restimmen ein weiteres Mandat vergeben und aus den Wahlkreislisten nach der Reihenfolge ihrer Reststimmen besetzt wurde. Die danach noch übrigbleibenden Stimmenreste wurden sodann auf Reichsebene zusammengezählt und den von den Parteien aufgestellten Reichslisten angerechnet, aus denen für jeweils weitere 60 000 Stimmen ein weiteres Mandat besetzt wurde. Dieses System ermöglichte, die Verwertung nahezu aller abgegebenen Stimmen; auch kleinere Parteien mit einer über das ganze Wahlgebiet verstreuten Wählerschaft hatten nun die Möglichkeit des Erwerbs von Mandaten. Dieser - von den Verantwortlichen durchaus gesehene 134 - Effekt sollte durch vorsichtige Splitterparteienklauseln gemildert werden. Man fürchtete, daß es der gedeihlichen Arbeit des Parlaments abträglich sein könnte, wenn kleine und kleinste Splittergruppen Mandate innehätten. Deshalb wurden auf der Ebene der Wahlkreisverbände solche Listen nicht berücksichtigt, die im Wahlkreis weniger als 30000 Stimmen erreicht hatten (§ 31 Abs. 1 S. 4 RWahlG). Und aus der Reichsliste konnte eine Partei höchstens so viele Sitze besetzen, wie sie in den Wahlkreisen und -verbänden gewonnen hatte (Grundmandatsklausel, § 32 S. 3 RWahlG). Die konsequente Durchführung der Proportionalität durch Verwertung jeder Stimme vermittels der Reichsliste wurde schon 1918120 zum Hauptkri-
tikpunkt des Weimarer Wahlsystems 135. Ihm wurde vorgeworfen, daß durch die Reichsliste die Parteizentralen übermäßigen Einfluß auf die KandidatenVgl. nur Koch- Weser, a. a. o. S. 5335. Die Einwohnerzahl der Wahlkreise lag zwischen 800 000 und 2, 5 Mio. (1920). Die genauen Zahlen sind abgedruckt bei Vogel/Nohlen/Schultze (1971), Tabelle A 10. 134 Siehe die Nachweise in Fn. 140, 141 sowie Kaisenberg, Kommentar, Einleitung, S. 16. Anders dennoch Martiny, S. 34. l35 Vgl. Naumann und Weber, oben Fn. 127, sowie vereinzelte Stimmen aus liberaldemokratischen Kreisen und vom rechten SPD-Flüge1: H. G. Erdmannsdärffer, Ein neues Wahlgesetz, 1919; Heinrich Peus, Verhältniswahl mit Persönlichkeitswahl, Sozialistische Monatshefte 25 (1919), Bd. 2, S. 783 ff.; Simon Katzenstein, Wahlbetrachtungen, Sozialistische Monatshefte 25 (1919), Bd. 2, S. 106, die als Alternative Einmann-Wahlkreise mit Proporz-Ausgleich in verschiedenen Spielarten vorschlugen. Weitere Nachweise bei Schanbacher, S. 85, Fn. 107. 132
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aufstellung erhielten. Dadurch werde der Einfluß der Partei bürokratien gestärkt und Vertreter von Interessenverbänden, die bei Personenwahl keine Chance hätten, selbst gewählt zu werden, bekämen die Möglichkeit, über die Reichsliste von nahestehenden Parteien in das Parlament zu gelangen. Die Reichsliste begünstige daher die Entwicklung zum Parteien- und Funktionärsstaat. Der Proporz dürfe nicht auf die Spitze getrieben werden. Den SPD-Vertretern kam es dagegen in erster Linie auf eine genaue Abbildung aller Stimmen an, die Nachteile glaubte man in Kauf nehmen zu können 136. Die Stärkung des Einflusses des Parteiapparates war aus ihrer Sicht zu begrüßen, da die Abgeordneten ohnehin nur Überbringer der von den Parteien artikulierten Meinungen seien, die nicht durch örtliche Sonderinteressen verfälscht werden sollten 137. Die Reichsliste biete außerdem die Möglichkeit, "politisch bedeutsame Persönlichkeiten" sicher ins Parlament zu bringen 138. Auch die Stabilisierung des Parteiapparates durch gezielte Auswahl und Disziplinierung der Kandidaten durch die Führung dürfe in der unruhigen Zeit nach 1918 durchaus erwünscht gewesen sein - übrigens auch bei den anderen Parteien 139 . Dem Aufkommen von unpolitischen, die Parlaments arbeit behindernden Gruppierungen von Interessenvertretern glaubte man durch die dargestellten Splitterparteienklauseln genügend Rechnung getragen zu haben 140• Auch bei der Gestaltung des Wahlsystems vertraute man auf die politische Vernunft der Wähler 141 •
3. Betrachtung Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl standen 1918/19 nicht ernsthaft zu Diskussion. Die alten großbürgerlichen und feudalen Eliten waren durch das Weltkriegsdebakel als überlegene Führungsschicht des Staats desavouiert, während gleichzeitig der totale Krieg zur Emanzipation der Massen des einfachen Volkes einschließlich der Frauen geführt hatte. Zensus- und Klassenwahlrecht traditioneller Prägung sollten in der neuen Massengesellschaft nie mehr ernsthaft diskutiert werden, Kriterien für "Eliten" wurden künftig anderswo gesucht, vor allem in der "Rasse". 136 Abg. Schmidt (SPD), Prot. Nationalversammlung, Bd. 333, S. 5337; Abg. Eichhorn (SPD), ebd. S. 5340; Innenminister Koch-Weser, ebd. S. 5334. 137 Abg. Eichhorn: "Es wird dann nicht mehr ausschlaggebend sein, wenn sich ein bestimmter Vertreter in einem Bezirk besonders beliebt gemacht hat", ebd. S. 5340. 138 Begründung zur Regierungsvorlage, Prot. Nationalversammlung, Bd. 342, S. 2751. 139 Dazu Martiny, S. 32 und 36. 140 Innenminister Koch-Weser, Prot. Nationalversammlung, Bd. 333, S. 5334. 141 Abg. Eichhorn, ebd. S. 5340.
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Auch die Einführung der Verhältniswahl mit vollständiger Reststimmenverwertung wurde von der Nationalversammlung zwar mit breitem Konsens beschlossen. Darunter verbarg sich jedoch ein tiefgehender Dissens über Sinn und Begründung dieser Systems, das gerade in seiner Perfektion Ausfluß der Vorstellungen der demokratischen Staatstheorie der SPD war. Die bürgerlichen Parteien standen geistig an sich auf ganz anderem Boden. Nach ihren Vorstellungen - die in der dargestellten Kritik zum Ausdruck kommen - war die Verhältniswahl wenn überhaupt, dann nur zweckmäßig, wenn und insoweit sie durch die Berücksichtigung aller wichtigen politischen Kräfte die Integration des Staatswesens fördern half; auf mathematische Zahlengenauigkeit kam es nach ihrer Sichtweise nicht an. Trotzdem stimmten die bürgerlichen Parteien für die fast uneingeschränkte Reststimmenverwertung. Gründe dafür sind wohl in erster Linie in taktischen Erwägungen zu suchen: kleine Parteien wie DDP und DVP profitierten weit mehr als die Großen von der Reststimmenverwertung 142 wie von der Verhältniswahl überhaupt: "Die Verhältniswahl wurde der Schutz des Bürgertums in einer aufgeregten Zeit,,143. Auch ist der erhebliche Zeitdruck der Verhandlungen über das Wahlgesetz in Rechnung zu stellen, der eine gründliche Reflexion der Materie verhinderte -hatte die Wahlrechtsfrage doch im Kaiserreich für die meisten liberalen Politiker programmatisch nur eine untergeordnete Rolle gespielt, anders als in der SPD. Schließlich war in der Nationalversammlung die SPD eben die mit Abstand stärkste Kraft, ohne die keine Mehrheit möglich war und die außerdem das stärkste Bollwerk gegen die kommunistischen Bestrebungen der USPD bildete. All diese Faktoren führten dazu, daß die sozialdemokratischen Wahlrechtsforderungen in der Nationalversammlung weitgehend unbesehen angenommen und einer grundsätzlichen ideologischen Auseinandersetzung mit ihnen aus dem Weg gegangen wurde. Später, als die SPD sowohl die Führungsrolle als auch den -anspruch verloren hatte und bürgerliches und konservatives Denken die Politik beherrschte, bildete der unausgetragene Dissens wohl die wichtigste Ursache für die mangelnde Akzeptanz des Wahlrechts in weiten Kreisen der bürgerlichen Wählerschaft und der Intellektuellen, welche nach zahlreichen halbherzigen Reformversuchen in der Hand der Nationalsozialisten zu einem Nagel am Sarg der Republik wurde.
142 Vgl. die Zahlen bei Martiny, S. 32, Fn. 81: Die SPD entsandte durchschnittlich 6,4% ihrer Abgeordneten über die Reichsliste, die DVP 17,4%. 143 Braunias, Wahlrecht, Bd. 2, S. 203.
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11. Die Diskussion um die Gleichheit in den Jahren 1920 bis 1932 In den Jahren der Weimarer Republik hatte man sich mit den Errungenschaften der neuen Verfassung auseinanderzusetzen, insbesondere mit der Ausgestaltung des von ihr geforderten Verhältniswahlsystems und der Funktion der Wahl im Gefüge einer parlamentarischen Massendemokratie. Durch die Begründung einer Zuständigkeit der Staatsgerichtshöfe für Wahlrechtsfragen wurde erstmals eine Auseinandersetzung mit dem rechtlichdogmatischen Gehalt der Wahlgleichheit notwendig, die von einer politischen Forderung zu einem justitiabien Rechtsbegriff transformiert werden mußte 144. Die wissenschaftliche Diskussion spielte sich fast ausschließlich zwischen 1929 und 1932 ab, als sich die letzte Krise der Republik bereits deutlich abzeichnete. Gleichzeitig erhitzte das Projekt einer grundSätzlichen Wahlreform, in engem Zusammenhang mit der "Reichsreform" - der Neugestaltung des Föderalismus -, die politischen Gemüter. Nahezu alle Parteien hielten eine solche Reform für dringlich; das geltende Wahlgesetz, unter Zeitdruck verabschiedet und schon in der Nationalversammlung selbst als Provisorium empfunden, wurde allgemein, wenn auch aus den unterschiedlichsten Motiven und mit entgegengesetzten Zielen, für dringend reformbedürftig erachtet, um die zunehmende Lähmung der Parlamente aufzuhalten. Sowohl die Reichs- als auch die Wahlreform scheiterten schließlich an den unüberbrückbaren Gegensätzen der politischen Richtungen und an der zunehmenden Blockade des Reichstages durch die radikalen, gänzlich destruktiven Flügelparteien. Die bedeutsamsten und gründlichsten wissenschaftlichen Beiträge zur Wahlrechtsdiskussion sind das Rechtsgutachten von Hermann Heller im preußischen Verfassungs streit von 1929 und das Referat von Gerhard Leibholz auf der Staatsrechtslehrertagung von 1931. Daneben existiert eine Fülle von rechtsdogmatischen und vor allem rechtspolitischen Aufsätzen und Monographien, die sich vor allem mit der Frage der Wahlreform innerhalb der von der Verfassung vorgegebenen Grundsätze beschäftigen. Auch die Staatslehre und -philosophie der Zeit befaßt sich mit dem Problem der Wahl. Den Versuch einer breitangelegten Dokumentation des zeitgenössischen internationalen Erkenntnisstandes zum Wahlrecht nach dem Vorbild Georg Meyers unternimmt Karl Braunias, der allerdings wegen seiner rückwärtsgewandten, demokratiekritischen Grundeinstellung kaum neue Gedanken beisteuert. Gegenstand der Diskussion war einmal, de lege ferenda, die Frage nach dem geeigneten Wahlsystem und seiner Ausgestaltung. De lege lata entzün144
Verzeichnis der Entscheidungen siehe Anhang und Schanbacher, S. 169.
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dete sich der Streit an der Zulässigkeit der in allen Wahlgesetzen enthaltenen, aber unterschiedlich ausgestalteten Kautelen gegen die sogenannten "Splitterparteien", als da sind Unterschriftenquoren als Voraussetzung für die Zulassung von Listen, Hinterlegungsklauseln, nach denen die Kandidaten vor der Wahl einen Geldbetrag zu hinterlegen hatten, der bei Nichterfolg verfiel, und schließlich alle Arten von Grundmandatsklauseln, welche die Teilnahme an der Reststimmenverwertung von der Erreichung von Mandaten bereits auf der Ebene der Wahlkreise abhängig machten. Die Zulässigkeit aller dieser Klauseln hing letztlich von der Beantwortung einer Grundsatzfrage ab: Gilt der Grundsatz der Wahlgleichheit über seine traditionelle Bedeutung hinaus auch für die Umrechnung von Stimmen in Mandate? Anders ausgedrückt: Gebietet er neben der Zählwert- auch die EifolgswertgieichheU l4s unq kann dieser bejahendenfalls aus wichtigen Gründen eingeschränkt werden? Die ursprünglich ebenfalls unsichere Geltung der Wahlgleichheit in der Phase der Wahlvorbereitung trat daneben in den Hintergrund und wurde später kaum mehr bestritten l46 . Bei der Analyse der Diskussion ist zu bedenken, daß sämtliche vertieften Beiträge aus der Zeit zwischen 1929 und 1932 stammen. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung ist eine Spanne von knapp drei Jahren sehr wenig, so daß die vorgetragenen Ansichten kaum mehr als Lösungsansätze und Gedanken darstellen. Zu einer umfassenden Lösung und einer verfestigten Rechtsprechung zur Wahl gleichheit ist es in der Weimarer Zeit nicht mehr gekommen. 1. Die liberale Auffassung
Die ältere, zunächst herrschende Ansicht steht der Verhältniswahl - wie dem demokratischen Staat insgesamt - kritisch gegenüber. Sie versucht, die dahingehende Entscheidung der Verfassung nach Möglichkeit abzumildern oder gar aufzuheben, wobei die Grenze zwischen rechts wissenschaftlicher Auslegung und rechtspolitischer Forderung fließend ist. 145 "Erfolgswertgleichheit" meint die verhältnismäßige Übereinstimmung der für die einzelnen Parteien abgegebenen Stimmenzahl mit der Zahl ihrer Sitze im Parlament. Der Begriff des "Erfolgswertes" taucht, soweit ersichtlich, erstmals auf bei Bemes 1888, zitiert von Bematzik, Schmollers Jahrbuch 17 (1893), S. 393, 397 ("Nutzeffekt" der Stimme). Ebenso Cahn, S. 92, (1909). 146 Zur Wahlvorbereitung (Unterschriftenklauseln und Hinterlegung eines Geldbetrages): Entscheidungen des RStGH vom 17. 12.27, LlS I, S. 329 (Hessen), S. 341 (Hamburg) und S. 398 (Mecklenburg-Strelitz); vom 7. 7. 1928, LlS I, S. 321 (Baden); vom 22. 3. 1929, LlS II, S. 127 (Sachsen) sowie des Reichsgerichts vom 23. 11. 1928, LlS I, S. 460, 462 (Sachsen).
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Das Gebot der "rechnerischen" Erfolgswertgleichheit wird demgemäß verneint und dem Gesetzgeber ein weiter Spielraum bei der Bekämpfung von Splitterparteien zugebilligt. Es ist nicht erforderlich, daß jede Stimme die "gleiche Kraft" hat, es muß nur jeder Wähler ebenso wie jeder andere abstimmen können. Gleichheitssubjekt sind nur die Wähler, nicht aber die Parteien. Der Grundsatz der Verhältniswahl steht unabhängig neben dem der Gleichheit und erfordert nur, daß Minderheiten überhaupt die Möglichkeit der Vertretung haben. Die Wahlprüfungsgerichte (WPrG) beim Reichstag und beim preußischen Landtag, ebenso wie der Bayerische Staatsgerichtshof (BayStGH) in seiner ersten Wahlrechtsentscheidung von 1930 deuten die Wahlgleichheit im Sinne der traditionellen Lehre l47 . a) Traditioneller, positivistischer Begründungsansatz In der älteren Literatur l48 und in der Rechtsprechung der Wahlprüfungsgerichte wird diese Interpretation mit traditionellen Argumenten aus der liberalen, positivistischenl 49 Gedankenwelt begründet. Danach ist die Wahl ein Verfahren zur Bestimmung von Repräsentanten (nicht: Willens-Vertretern), die kraft ihrer organschaftlichen Stellung den Volks willen bilden, in erster Linie durch die Bestimmung der Regierung l50 . Nach dem "ideellen" Verständnis von Repräsentation ist ein Wähler dann repräsentiert, wenn er an der Wahl mitgewirkt hat l51 . Nicht erforderlich ist, 147 Entscheidung des RWPrG vom 25. 1. 1930, RPrVBl 1930, S. 505 ff.; des PrWPrG vom 9. 6. 1929, JW 1930, S. 587 ff. und des BayStGH vom 12. 2. 1930, LlS III, S. 111 ff. 148 Gerhard Anschütz, WRV, Art. 17, sowie Schriftsatz im preußischen Wahlrechtsstreit vom 19. 9. 1929 (Bundesarchiv R 3007/92, BI. 46-53); Conrad Bomhak, Grundriß des deutschen Staatsrechts, 7. Auflage 1926, S. 78; Kar! Braunias, Wahlrecht, Bd. 2, S. 259 f.; Albrecht Haas, Der G1eichheitsbegriff im Wahlrecht, S. 22 ff.; Julius Hatschek, Deutsches und Preußisches Staatsrecht, S. 326; Georg Kaisenberg, Die Verfassungsmäßigkeit der Kautelen des Reichswahlgesetzes gegen Splitterparteien, RPrVBl 1929, S. 597 ff.; Erich Koch- Weser, Gleichheit und Allgemeinheit der Verhältniswahl nach der Reichsverfassung, JW 1930, S. 106 ff.; Friedrich Lent, Zur Wahlgesetzentscheidung des BayStGH, BayVBl 1930, S. 177 ff.; Heinrich Gerland, Zur Wahlreform, DJZ 1928, Sp. 759 ff.; Kurt Häntzschel, Ungültigkeit des Gesetzes über die preußischen Landtagswahlen, RPrVBl 1929, S. 787 ff.; Wenzel, HbStR I, § 52, S. 39 f. 149 Ein ausdrückliches Bekenntnis zum reinen Positivismus findet sich in der von Wenzel betreuten Dissertation von Haas, S. 35. 150 Bomhak, 7. Auflage 1926, S. 71; Gerland, DJZ 1928, Sp. 759, 761; KochWeser, JW 1930, S. 106, 107; Koellreutter, Reichstagswahlen, S. 25 f.; Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 185 f.; Smend, FS Bergbohm, S. 278, 282. 151 So ausdrücklich Hatschek, S. 326.
B. Entwicklung in der Weimarer Zeit
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daß seine Stimme inhaltlich im Parlament "gespiegelt" wird. Es geht nicht um die Artikulation des individuellen politischen Willens, sondern um eine reine Personalentscheidung. "Auf die Schaffung der Repräsentation, nicht auf die Tatsache des Repräsentiertseins kommt es mithin an,,152. Das Wahlvolk handelt als Kreationsorgan und repräsentiert dabei auch die Nichtwähler. "Die Wahlen sind nicht mehr die Ausübung individueller Rechte, sondern soziale Funktionen.,,153 Gleich ist die Wahl demzufolge schon dann, wenn jeder Wahlberechtigte unter gleichen Voraussetzungen am Wahlakt mitwirkt. Wahlgleichheit ist also die Gleichheit der Stimmabgabe. Sie betrifft nur den Zählwert, nicht das Umrechnungsverfahren und damit den Erfolgswert, denn der Erfolg der Wahlhandlung ist bereits eingetreten, wenn der Wähler über die Entsendung eines Abgeordneten ins Parlament mitentschieden hat. Daher ist auch eine Ungleichbehandlung von großen und kleinen Parteien bei der Sitzverteilung zulässig, wenn nur alle Parteien unter den gleichen Voraussetzungen antreten 154 . Verboten ist lediglich die Ungleichbewertung von Stimmen aus sozialen, wirtschaftlichen oder persönlichen Gründen, sprich: Plural- oder Klassenwahlrechte, nicht aber die ungleiche Verwertung der Stimme bei der Umrechnung in Mandate. Die Wahlgleichheit betrifft "das Wahlrecht der Staatsbürger, nicht die Gleichheit der ohne Rücksicht auf die Person des Wählers erfolgende Berechnung der Reststimmen,,155. Allenfalls Differenzierungen aufgrund von Wahlkreisgeometrie werden als Gleichheitsverstoß konzediert I 56, weil hierdurch ein ungleicher Grad an Repräsentation entsteht. Das von der Verfassung geforderte Verhältniswahlrecht ist hiernach ganz im Sinne der liberalen Proportionalisten des vorigen Jahrhunderts lediglich als Rechenverfahren mit dem Zweck des Minderheitenschutzes gemeint, nicht aber als Forderung nach einem reichsweiten Verhältnisausgleich unter den Parteien. Ausreichend wäre etwa auch eine Wahl von jeweils mehreren Abgeordneten in endgültigen Wahlkreisen, wie es bei der Wahl zur Nationalversammlung 157 praktiziert worden war. Die Bestimmung des Verfahrens steht im freien Ermessen des Gesetzgebers, es muß sich nur im weitesten Sinne um ein Verhältniswahlsystem handeln. 158 Gerland, DJZ 1928, Sp. 759, 762. Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 190; ebenso Schmitt, Staatslehre, S. 254. 154 PrWPrG, JW 1930, S. 587, 589. 155 Häntzschel, RPrVBI 1919, S. 787, 788. 156 Für das bayLWahlG: BayStGH, LlS III, S. 111, 126. 157 PrWPrG, JW 1930, S. 587,588; Koch-Weser, JW 1931, S. 106, 107. 158 So vor allem RWPrG, RPrVBI 1930, S. 505, 506; BayStGH, LlS III, S. 111, 122 und 127; Anschütz, Schriftsatz, S. 12 f.; Kaisenberg, RPrVBI 1929, S. 597, 598; Wenzel, HBStR § 52, S. 612. 152 153
I. Teil: Historische Untersuchung
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Gestützt wird diese Auffassung durch historische Erwägungen. Die Aufnahme der Grundsätze der Gleichheit und der Verhältniswahl in den Aufruf des Rates der Volksbeauftragten und die Verfassung sei aus der damaligen Situation zu erklären. Es sollten die "schreienden Ungerechtigkeiten 159" des kaiserlichen Wahlrechts und des preußischen Dreiklassenwahlrechts verhindert werden, gegen die namentlich die SPD, aber auch die Liberalen schon vorher gekämpft hätten. Eine darüberhinausgehende Umgestaltung des historisch überlieferten Gleichheitsbegriffs habe die Nationalversammlung nicht beabsichtigt, weshalb man darüber auch nicht diskutiert habe. Es sei damals, ganz im Gegenteil, ein Wahlgesetz verabschiedet worden, welches selbst Kautelen gegen Splitterparteien enthält 160. Ohnehin sei auch mit dem ausgefeiltesten Verhältniswahlverfahren nicht die völlige Erfolgswertgleichheit aller Stimmen herzustellen, die Nationalversammlung selbst sei nach einem unvollkommenen Verhältniswahlrecht gewählt worden. Dem historischen Verfassungsgeber könne daher nicht unterstellt werden, er habe die volle Erfolgswertgleichheit fordern wollen. "Gleich" in Art. 17, 22 WRV sei genauso zu verstehen, wie die im Wahlaufruf des Rates der Volksbeauftragten von 1918: "Jeder Wähler hat eine Stimme,,161. b) Neuere Begründung in der Literatur Im Laufe der Zeit wurde in der Literatur eine ganz andere Begründung entwickelt, die sich im Ergebnis mit der traditionellen liberalen Anschauung deckt: Erfolgswertgleichheit ist nicht Inhalt der Wahlgleichheit. An die Stelle des Rechtspositivismus, der sich in der Weimarer Zeit auf dem Rückzug befand, trat zum Teil eine "geisteswissenschaftliche" Betrachtungsweise, welche die Elemente des Staates "organisch", metaphysisch oder idealistisch, unter Rückgriff auf Hegel, erklärt. Am klarsten wird dieser Ansatz für das Wahlrecht von Erich Kaufmann herausgearbeitet l62 . Die Regierung ist danach Ausdruck des aus dem Volksgeist fließenden Volkswillens. Dieser Volkswillen wird nicht als meßbares, aus der Summe der Einzelwillen zusammengesetztes Faktum, sondern als unabhängig von den konkreten Individuen bestehende metaphysische Größe verstanden. Er wird erkannt oder "formiert" von einzelnen, organschaftlich handelnden PerKoch-Weser, JW 1931, S. 106, 107. Ausführlich Haas, S. 25 f.; BayStGH, LlS III, S. 111, 123; ferner die Rechtsprechung a.a.O.; Lent, BayVBI 1930, S. 177. 161 PrWPrG, JW 1930, S. 587, 588 f.; Anschütz, Schriftsatz, S. 12 f.; Braunias, Wahlrecht, S. 259; Häntzschel, RPrVBI 1929, S. 787, 788; Koch-Weser, JW 1931, S. 106, 107; Wenzel, HBStR § 52, S. 611. 162 Zur Einordnung und Methode: Larenz, (1935), S. 156 ff.; Friedrich, § 22 IV; Gusy, S. 427 ff. und S. 436 ff. 159
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sonen kraft eines Charismas und anschließend "vom Volke als Ausdruck seines Willens empfunden und getragen". Dieser Prozeß der Repräsentation ist spiritueller, charismatischer Art und wird nicht von der Rechts- und Verfassungsform bewirkt, sondern nur kanalisiert. "Die Rechtsform schafft weder ein Charisma, noch macht sie es entbehrlich.... Jede Hyperspiritualisierung des Verfassungsrechts verkennt dessen Wesen und Grenzen,,163. Zweck der Wahl in einer Demokratie ist es, die Interpretation des Volkswillens möglichst unmittelbar dem Wahlvolk zu überantworten, welches allerdings seinerseits auch nur als Organ für das Gesamtvolk einschließlich der Unmündigen und der vergangenen und künftigen Generationen handelt. Da aber der Volkswille - wie jeder Wille - immer nur von einer "Einheit" hervorgebracht werden kann, nicht von einer "Vielheit" - diese kann nur "ja" oder "nein" sagen -, ist die Wahl um so unmittelbarer und damit zweckmäßiger, je mehr der Wähler an der Hervorbringung einer "Einheit" mitwirkt. Die Verhältniswahl, wie sie das RWahlG anordnet, bezweckt aber gerade nicht die Schaffung einer handlungsfähigen, weil einheitlichen Mehrheit, sondern will die Vielheit der Individuen abbilden. Die Mehrheitsbildung wird so vom Wahlvolk weg zu den im Parlament vertretenen Parteien verlagert: "Ein je getreueres Spiegelbild man von den im Volke vorhandenen Kräften und ihrer numerischen Stärke durch das Verhältniswahlverfahren zu schaffen sucht, um so inhaltsloser und einflußloser wird der Wille des Volkes für das, worauf es beim Wahlakte ankommt,,164, nämlich die Entscheidung über die Regierungsmannschaft. Schmitt läßt polemisierend 165 die Verhältniswahl überhaupt nicht als "Wahl" im Sinne von "Auswahl" von Entscheidungsträgern gelten. Smend spricht von der "schöpferischen" und dialektischen Funktion des Wahlaktes, die von der Verhältniswahl konterkariert wird 166 . 163 Erich Kaufmann, Zur Problematik des Volkswillens, 1931; Theodor Heuss, Verhältniswahl und Parlamentarismus, ZfP 20 (1931), S. 312 ff; Dtto Koellreutter, Reichstagswahlen und Staatslehre, 1930; earl Schmitt, Reichs- und Verfassungsreform, DJZ 1931, Sp. 5 ff. sowie in seiner Verfassungslehre, 1928. Ein früher Anklang an diese Gedanken findet sich bei Rudolf Smend, Die Verschiebung der konstitutionellen Ordnung durch die Verhältniswahl, in: FS für Bergbohm, 1919, S. 278 ff. 164 E. Kaufmann, Volkswillen, S. 281; Braunias, Wahlrecht, S. 22, 24 f; Heuss, ZfP 20 (1931), S. 312, 314; vgl. Gerland, DJZ 1928, Sp. 759, 759 und 761 f 165 Schmitt, DJZ 1931, Sp. 5, 10; Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 87; Positionen und Begriffe, 1940, S. 185, 188: "Gruppierung der Wähler in Hürden". In seiner Staatslehre verzichtet er auf die Polemik und stellt zutreffend die Verhältniswahl als Ausprägung eines anderen, unmittelbaren Demokratieverständnisses dar, siehe unten Fn. 186. 166 FS Bergbohm, S. 278, 282 f Heuss, ZfP 20 (1931), S. 312 (314) spricht von "Entsinnlichung" der Politik durch die Verhältniswahl.
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1. Teil: Historische Untersuchung
Eine auf die Erkenntnis der Wesens gesetze gerichtete Verfassungstheorie muß auf der Grundlage dieser Überlegungen erkennen, daß der Versuch der zahlenmäßig genauen Darstellung des Volkswillens in Wahrheit zu seiner Verschleierung und zur Einflußlosigkeit des Volkes führt und daher nicht Zweck der Wahlgleichheit sein kann l67 . Spätestens an dieser Stelle ist die Grenze von Verfassungsauslegung und Verfassungskritik überschritten. 2. Die ältere, radikal-demokratische Auffassung des RStGH
Die im eigentlichen Sinne juristische Auseinandersetzung mit der Wahlgleichheit begann erst relativ spät, im Jahre 1927. Der Reichsstaatsgerichtshof (RStGH) unter dem Vorsitz des sozialdemokratischen Reichsgerichtspräsidenten Walter Simons deutete in seinen ersten Entscheidungen "Gleichheit" und "Verhältniswahl" als Option zugunsten der demokratischen Doktrin und bezog damit dezidiert die Gegenposition zur traditionellen Lehre. Er verlangte unbedingte, "absolute" Erfolgswertgleichheit der Stimmen in jedem Abschnitt des Wahlverfahrens; Differenzierungen sollten unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu rechtfertigen sein. Der Gerichtshof erklärte deshalb in mehreren Entscheidungen verschiedene Splitterparteienklauseln in Landeswahlgesetzen für verfassungswidrig. Diese frühe, kompromißlose Rechtsprechung, deren End- und Höhepunkt die Württemberg-Entscheidung vom 22. 3. 1929 168 , bildete, ist eine außergewöhnliche Pionierleistung der Rechtsprechung. Sie wurde von der Wissenschaft so gut wie nicht vorbereitet, so daß die Begründung sehr knapp ausfällt. Erst nachträglich wurden die entscheidenden Argumente nachgeliefert; in der seit der Preußen-Entscheidung 1930 modifizierten Form bildet sie bis heute die Grundlage der verfassungsgerichtlichen Interpretation der Wahlgleichheit. a) Argumentation des RStGH Der Gerichtshof rekurriert auf einen formalen Begründungsansatz. Wahlgleichheit verlangt danach immer die im Rahmen des Möglichen gleiche Behandlung der Stimmen in jedem Schritt des Verfahrens. Bei der Mehrheitswahl, wie sie im Kaiserreich galt, ist es aus der "Natur des WahlverE. Kaufmann, Volkswillen, S. 283. Abgedruckt bei Lammers/Simons, Entscheidungen des Reichsstaatsgerichtshofes (LlS), Bd. 11, S. 136 ff. = RGZ 124, Anhang S. 1 ff.; ferner die drei Entscheidungen vom 17. 12. 1927, LlS I, S. 329 ff. (Hessen), S. 341 ff. (Hamburg) und S. 398 ff. = RGZ 118, Anh. S. 22 (Mecklenburg-Strelitz); vom 7. 7. 1928, LlS I, S. 321 ff. (Baden); vom 22. 3. 1929, LlS II, S. 127 ff. = RGZ 123, Anh. S. 1 ff. (Sachsen). 167
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B. Entwicklung in der Weimarer Zeit
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fahrens heraus" nicht möglich, die Stimmen der Minderheit im Wahlkreis zu verwerten, bei der Verhältniswahl bleibt stets ein Stimmenrest unverwertet, nämlich die Stimmen derjenigen Kandidaten, welche die Verteilungszahl nicht erreichen. Das läßt aber "keinen Schluß darauf zu, daß es statthaft sei, auch noch andere abgegebene Stimmen ihrer Wirkung auf das Wahlergebnis zu entkleiden", indem weitere Voraussetzungen für die Erlangung eines Mandates aufgestellt werden 169. Die Erfolgswertgleichheit ist immer soweit herzustellen, wie das Wahlsystem es erlaubt; seine Möglichkeiten sind voll auszuschöpfen. "Wahlgleichheit läßt sich nicht begrifflich, sondern nur im Rahmen des jeweiligen Wahlrechtsganzen bestimmen". Bei der Verhältniswahl, jedenfalls dann, wenn überhaupt eine Reststimmenverwertung durchgeführt wird, bedeutet das die Forderung nach der unterschiedslosen Verwertung aller Reststimmen mit dem Ziel der Erfolgswertgleichheit, denn hierin liegt gerade der Zweck der Verhältniswahl: "Jeder hat eine Stimme, jede Stimme hat gleiche Kraft" 170. Der Gleichheitsbegriff erfährt insofern durch die Verhältniswahl einen Bedeutungswandel l7l . Offengelassen wird dabei ausdrücklich die Frage der Systemwahl. Das Gericht bezeichnet es allerdings als "zweifelhaft", ob unter der WRV auf eine Reststimmenverwertung generell verzichtet werden könnte (wie es bei der Wahl zur Nationalversammlung der Fall war)l72. Die streng formal zu verstehende Wahlgleichheit läßt "keinen Raum für irgendwelche Bewertungen" 173; Durchbrechungen sind nicht zulässig. Obwohl das Gericht insbesondere die Bekämpfung von Splitterparteien für an sich "zweckmäßig und sogar notwendig" hält, handelt sich dabei um eine politische, nicht aber um eine rechtliche Erwägung, welch letztere aber für ein Gericht ausschließlich maßgeblich sind. Dieser letzte Argumentationsschritt hat, unabhängig von der Wahlrechtsfrage, heftige methodische Kritik in der Literatur erfahren 174, er, und nur er, sollte vom RStGH daraufhin sehr bald wieder aufgegeben werden.
RStGH, RGZ 124, Anh. S. 1,9 f. (Württemberg). RStGH, RGZ 124, Anh. S. 1, 13 f. (Württemberg). 171 RStGH, LlS I, S. 329, 336 (Hessen). Dazu noch näher unten, S. 60 f. 172 RStGH, RGZ 124, Anh. S. 1, 18 (Württemberg). 173 RStGH, LlS I, S. 329, 338 (Hessen); RGZ 124, Anhang S. 1, 12 f. (Württemberg). 174 Leibholz, JW 1929, S. 3042, 3044 m. w.N. ("Verfassungsstreitigkeiten ihres politischen Gehaltes zu entkleiden hieße, die Schale ihres Kerns berauben"); ferner die Staatsrechtslehrertagung 1928 mit Referaten von Triepel und Kelsen (VVDStRL 5 (1929». Aus heutiger Sicht Nenstiel, S. 170, Fn. 2 m.w.N. 169 170
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1. Teil: Historische Untersuchung
b) Ergänzung in der Literatur Teile des Schrifttums 175 billigen das Ergebnis des RStGH, insbesondere die Unzulässigkeit jeglicher Differenzierung, und steuern materielle Argumente bei. Nach Auffassung der radikalen "Demokraten" steht die Entscheidung, welche Parteien geeignet sind, ins Parlament einzuziehen, ausschließlich dem souveränen Volk zu 176. Der Ausschluß von nicht "bedeutsamen" Parteien findet in der Verfassung keine Stütze; das Wesen der Verhältniswahl liegt umgekehrt gerade in der Vertretung aller Parteien, die den Wahlquotienten aus der Zahl Wahlberechtigten und der insgesamt zu vergebenden Sitze erreichen. Es ist auch nicht auszumachen, welches Kriterium für die "Bedeutsamkeit" maßgeblich sein soll. Jedenfalls aber ist die Anknüpfung an die örtliche Gebundenheit einer Partei im Zeitalter der Verkehrswirtschaft kein geeignetes Kriterium für ihre Bedeutung und führt zur Abschottung und "Verkalkung" des etablierten Parteiensystems l77 . Es kann daher einzig und allein auf die Gesamtzahl der Anhängerschaft ankommen. Überdies ist die Bekämpfung von Splitterparteien nicht Aufgabe des Wahlrechts, denn sie haben ihre Ursache nicht im Wahlsystem, sondern in der "politischen Querköpfigkeit'" 78 der Bevölkerung. 3. Die neuere, gemäßigt-demokratische Auffassung des RStGH
Die sogleich nach den ersten Entscheidungen RStGH einsetzende, intensive wissenschaftliche Diskussion mit der Wahlgleichheit brachte, wenn man von der grundsätzlichen Ablehnung durch die Vertreter des traditionellen Verständnisses absieht, einen zweifachen Ertrag: einmal wurde das theoretische Fundament für die im Kern gebilligte Rechtsprechung nachgeliefert und die demokratische Doktrin auf dem Gebiet des Wahlrechts hoffahig. Zum anderen aber wurde die radikale Konsequenz der demokratischen Sichtweise, die Unzulässigkeit jeder Differenzierung des Erfolgswertes, durch Rückgriff auf die soeben im Entstehen begriffene allgemeine Gleichheitsdogmatik abgeschwächt und ein Ansatz zur Rechtfertigung von Gleichheitsdurchbrechungen aus bestimmten "staatpolitischen" Gründen gefunden. 175 Heinrich Lammers, Anmerkung zum Urteil des RStGH vom 17. 12. 1927 (Hessen), JW 1929, S. 53 ff.; Herbert Kier, Grundmandat und Splitterpartei, ZöR 9 (1931), S. 279 ff.; Walter Simons, Die Anklage gegen den Reichsstaatsgerichtshof, DJZ 1928, Sp. 196 ff.; Walter lellinek, Der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich und die Splitterparteien, AöR 15 (1928), S. 99 ff. 176 Lammers, JW 1929, S. 53, 60. 177 Kier, ZöR 11 (1931), S. 279, 293; Simons, DJZ 1928, Sp. 196, 199 f. 178 So Kier, ZöR 11 (1931), S. 279, 293; dies konstatiert auch E. Kaufmann, DJZ 1919, Sp. 25, 27. Ähnlich W. lellinek, AöR 15 (1928), S. 99, 106.
B. Entwicklung in der Weimarer Zeit
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Erst dadurch wurde die demokratische Wahlrechts theorie praktisch handhabbar. Der RStGH, unter dem Eindruck der Kritik seiner frühen Entscheidungen insbesondere in der Rechtsprechung der Wahlprüfungsgerichte 179 , übernahm die neue, modifizierte Sichtweise der Literatur und billigte in der Preußen-Entscheidung vom 17. 2. 1930 180 die - aus heutiger Sicht sehr moderaten - Splitterparteienklauseln des preußischen Wahlgesetzes, das mit dem RWahlG wörtlich übereinstimmte l8l . Auch nach der neuen Rechtsprechung blieb es dabei, daß die Wahlgleichheit durch die Einführung der Verhältniswahl eine erweiterte Bedeutung erhalten hat. Diese formale Gleichheit, und hier lag die Neuerung, wurde nicht mehr als logisch-mathematischer, sondern ein Rechtsbegriff angesehen. Ausnahmen konnten daher nunmehr aus "zwingenden staatspolitischen Gründen" gerechtfertigt werden. Das Verdienst, die Wahlgleichheit vom demokratischen Standpunkt aus theoretisch durchdrungen und damit praktisch anwendbar gemacht zu haben, kommt von allen Anderen Hermann Heller und Gerhard Leibholz zu 182. Heller, dem rechten Flügel der SPD nahestehend war im preußischen Wahlrechtsstreit Bevollmächtigter der Staatsregierung, während Leibholz sich der Problematik als junger Staatsrechtslehrer auf der Grundlage der von ihm maßgeblich geprägten "neuen Lehre" zum allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 109 WRV näherte.
179 Oben Fn. 147. Zusätzlich mag auch der Wechsel im Vorsitz des RStGH vom Sozialdemokraten Walter Simons zum Konservativen WilU Bumke eine Rolle gespielt haben, vgl. Martiny, S. 50. 180 Lammers/Simons Bd. IV, S. 131 ff. = RGZ 128, Anh. S. 8 ff.; ebenso dann die beiden letzten Entscheidungen des RStGH vom 21. 11. 1930, LlS IV, S. 147 (Preußischer Provinziallandtag) und vom 24. 10. 1932, LlS VI, S. 104 (Württembergische Gemeindeordnung) sowie des BayStGH, Entscheidung vom 22. 9. 1931, LlS IV, S. 341 ff. 181 Darstellung oben S. 44 f. 182 Heller, Die Gleichheit der Verhältniswahl nach der Weimarer Verfassung (Rechtsgutachten für die preußische Regierung, 1929), in: gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 319 ff.; Leibholz, Die Wahlrechtsreform und ihre Grundlagen, VVdStRL 7 (1932), S. 159 ff. sowie Gleichheit und Allgemeinheit der Verhältniswahl nach der Reichsverfassung und die Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes, JW 1929, S. 3042 ff. und Die Wahlreform im Rahmen der Verfassungsreform, RPrVBI 1932, S. 927 ff. Darstellend und zustimmend ferner Erwin Jacobi, Die verfassungsmäßigen Wahlrechtsgrundsätze als Gegenstand richterlicher Entscheidung, in: FS R. Schmidt (1932), Bd. 1, S. 59 ff.
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1. Teil: Historische Untersuchung
a) Methodischer Hintergrund Methodischer Hintergrund der "neuen Lehre" ist eine geisteswissenschaftliche Strömung, die sich in den 20er Jahren auch in der Rechtswissenschaft um die Überwindung des traditionellen Positivismus Laband'scher Prägung bemühte l83 . Im Unterschied zur metaphysischen, neuhegelianisehen Richtung, die das gleiche Ziel verfolgt, bejaht sie aber im Grundsatz die neue, demokratische Staatsordnung oder akzeptiert sie immerhin als verbindliche Rechtsgrundlage. Ansatzpunkt der neuen Methode ist die Deutung von Rechtsbegriffen aus "teleologischer" und "phänomenologischer" Sicht, wie es Leibholz formuliert. Nach Heller ist Staatslehre nicht Geistes-, sondern Wirklichkeitswissenschaft, Politologie und Soziologie. Der Inhalt einer Rechtsnorm wird aus dem von ihr verfolgten Zweck abgeleitet, der Inhalt eines Begriffs aus seiner geschichtlichen Wirksamkeit. Damit wird die Berücksichtigung der hinter den Normen und Begriffen stehenden Wertungen und tatsächlichen soziologischen Gegebenheiten möglich, was nach der reinen postivistischen Doktrin nicht der Fall war: "Alle historischen, politischen und philosophischen Betrachtungen - so wertvoll sie an und für sich sein mögen - sind für die Dogmatik eines konkreten Rechtsstoffes ohne Belang,,184. Die abstrakte Begrifflichkeit des Positivismus wird nicht gänzlich negiert, aber für Relativierungen geöffnet 185 . Die Argumentation zur Wahlgleichheit hat zwei Ausgangspunkte: teleologisch den objektiven Zweck der Einführung der Grundsätze von Gleichheit und Verhältniswahl in die Verfassung und - phänomenologisch - die tatsächliche, vorgefundene Struktur der Begriffe "Wahl", "Parlament" und "Parteien" vor dem Hintergrund der politischen und soziologischen Gegebenheiten im Deutschland der 20er Jahre.
183 Heller, Staatslehre, Erster Abschnitt; Leibholz, Begriffsbildung im öffentlichen Recht, 1931, abgedruckt in Strukturprobleme, S. 262 ff.; Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927. Darstellend Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 1935, S. 51 ff.; Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, S. 438 Fn. 10 m.w.N.; Friedrich, § 21. 184 Laband, Staatsrecht, 1. Band, Einleitung S. IX. 185 Deutlich auch im Werk Richard Thomas, Überblick bei Friedrich, S. 339 f. Dennoch kann man sie nicht, wie es Haas, S. 35, tut, als "naturrechtliche" Lehre bezeichnen. Richtig ist an dieser Einordnung allerdings, daß sie naturrechtliche Wertungen einbezieht, wenn die untersuchte Rechtsordnung auf der Annahme ihrer Geltung aufbaut. In diesem Sinne spricht auch Jacobi, FS R. Schmidt, S. 59, 65, von der "in gewissem Sinne naturrechtlichen Deutung". Andererseits wirft ihr E. Kaufmann, Volkswille, S. 283, Begrifflichkeit vor: "Es sind nicht alle frei, die ihrer positivistischen Ketten spotten".
B. Entwicklung in der Weimarer Zeit
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b) Inhalt der Wahlgleichheit unter der WRV Allgemeingut der zeitgenössischen Staatslehre und Ausgangspunkt der Argumentation ist die Unterscheidung zwischen "Demokratie" und "Liberalismus". Erstere beruht auf dem Prinzip der "Identität" von Wählern und Regierung, letztere auf dem der "Repräsentation" des vom Staat verschiedenen Volkes 186. Der Parlamentarismus moderner Verfassungen wie der WRV, welche Elemente beider Prinzipien vereinigt, ist eine im Interesse des bürgerlichen Rechtsstaates abgeschwächte Form der Demokratie. 187 Als ursprünglichen Zweck der Einführung der Wahlgleichheit in die Verfassung sehen die Vertreter der "neuen Lehre" zunächst - insoweit übereinstimmend mit der traditionellen Auffassung - die Abwehr von Klassen- und Plural wahlrechten sowie der Privilegierung bestimmter Bevölkerungsgruppen. Dieses historische Ziel wird, in einem zweiten Schritt, vor dem gesellschaftlich-politischen Hintergrund nach seinem objektiven Sinn befragt 188: die Wahlgleichheit ist eine "formale" Gleichheit - der Begriff taucht hier zuerst auf -, denn sie zielt auf Gleichbehandlung aller Staatsbürger bei der Wahl, ungeachtet der zwischen ihnen tatsächlich bestehenden körperlichen, wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede 189 . Diese "Egalisierung" der Gesellschaft, jedenfalls des Staatswesens, wird allgemein, nicht nur von ihren Anhängern, als konstitutives Element des demokratischen Prinzips angesehen, als Gegensatz zur bürgerlich-liberalen Staatsauffassung, die im Kern elitär ist l90 .
186 Grundlegend Richard Thoma, Der Begriff der modemen Demokratie in seinem Verhältnis zum Staatsbegriff, in: FS für M. Weber, 2. Band, S. 37 ff. (1923). Thoma unterscheidet zwischen "radikalem" und "liberalem Demokratismus", anerkennt aber beide als Unterfall der "Demokratie". Gegensatz ist der "Obrigkeitsstaat" (S. 34). Ferner Schmitt, Staatslehre, S. 223; Kelsen, Staatslehre, S. 343 ff.; Radbruch, HbStR I, S. 285 ff.; Köttgen, AöR 19 (1930), S. 290 ff. sowie in: Rausch, S. 74, 89: zwei "staatstheoretische Prinzipien"; vgl. Heuss, ZfP 20 (1931), S. 312, 314. Die Terminologie der einzelnen Autoren ist nicht einheitlich; der Sache nach herrscht insoweit aber Übereinstimmung. 187 Thoma, a. a. 0. S. 45: "Der Widerstreit zwischen aristokratischem und egalitärem Demokratismus wirkt sich in der modemen Demokratie verfassungstechnisch nur noch aus in dem Gegensatz zwischen den Typen der repräsentativen und der der gemischten Demokratie"; Schmitt, Verfassungslehre, S. 304: "das parlamentarische System ist keine Folgerung, keine Anwendung des demokratischen Prinzips der Identität, sondern gehört zu einer modemen bürgerlich-rechtstaatlichen Verfassung als deren eigentliches Regierungssystem"; Kelsen, Verfassungslehre, S. 344 und 348: "Als ideeller Grenzfall (s.c. der Demokratie) ergibt sich die Vernichtung des sogenannten Repräsentativsystems" . 188 Zur Methode insoweit ausführlich Jacobi, in: FS R. Schmidt, Bd. I, S. 59 ff. 189 Leibholz, VVdStRL 7, 159, 163 f.; RStGH, L/S I, S. 329, 336 f. (Hessen); L/S IV, S. 131, 136 (Preußen).
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Hinzu kommt nun die Einführung der Verhältniswahl. Sie kann - vor diesem Hintergrund - nur den Sinn haben, die Egalisierung der Wahl weiterzuführen, indem nicht nur alle Stimmen gleich gezählt, sondern auch gleich verwertet und im Parlament "abgebildet" werden. Sie ist das Instrument der Verfassung, mit dessen Hilfe die möglichst weitgehende Egalisierung der Staatsordnung im Sinne der Verwirklichung des demokratischen Prinzips bewirkt werden soll und die Identität im Rahmen einer "demokratischen Realpolitik,,191 verwirklicht werden kann l92 . Sie ist "Ausdruck egalitären und radikalen Demokratismus" und "unvereinbar mit dem Gedanken liberaler Repräsentation,,193. Der Zusammenhang zwischen Verhältniswahl und "demokratischer" Staatsauffassung wird sehr dezidiert und schon früh von Hans Kelsen herausgestellt, der sich methodisch auf einer ganz anderen Grundlage bewegt: "So fügt sich die Idee des Proporz in die Ideologie der Demokratie; seine Wirksamkeit aber in deren Realität: den Parlamentarismus,,194. Die Weimarer Republik ist also ein demokratischer Staat. Die volonte generale der Gemeinschaft wird aufgrund der Identität - nicht der Repräsentation - gebildet, es gilt nicht Herrschaft des Parlaments sondern Herrschaft des Volkes durch das Parlament. Diesem Telos entsprechend müssen die übrigen Wahlgrundsätze in eben demselben, demokratischen Sinne ausgelegt werden: "Gleichheit" der demokratisch verstandenen Wahl ist auch und gerade die Erfolgswertgleichheit, das heißt die gleichmäßige "Abbildung" jeder Stimme im Rahmen des technisch Möglichen. Hierin liegt der von der Rechtsprechung konstatierte "Bedeutungswandel" der Wahlgleichheit durch die Einführung der Verhältniswahl - in den Worten des Gerichts190 Bomhak, 7. Auflage 1926; S. 70 f.; Schmitt, Verfassungslehre, S. 219: "Solange das Parlament den Voraussetzungen einer echten Repräsentation entspricht ... konnte man im parlamentarischen System eine besondere, und zwar aristokratische Staatsform, erkennen", ebenso S. 224, 226 ff.; Jacobi, FS für R. Schmidt, S. 59, 83; Thoma, HBStR § 16, S. 190 f. 191 Kelsen, Staatslehre, S. 350. 192 Leibholz, VVdStRL 7, 159, 165; Thoma, FS M. Weber, S. 38, 43: "Nicht zum Begriff gehört das Verhältniswahlrecht. Wohl aber liegt es in der Richtung eines konsequenten Demokratismus. Denn die Mehrheit der Repräsentanten, welche die Regierung emporhebt und die Gesetze beschließt, ist nur bei Verhältniswahl zugleich auch eine Repräsentation der Mehrheit der Aktivbürger", vgl. auch HBStR § 16, S. 195; ebenso Jacobi, FS R. Schmidt, S. 59, 89 und Kelsen, Staatslehre, S. 348 f. sowie Wesen und Wert der Demokratie, S. 58. Schon früher Cahn (1909), S. 93. Auch Koellreutter, Reichstagswahlen, S. 25 und Schmitt, Staatslehre, S. 239, die gerade aus diesem Grunde die Verhältniswahl ebenso wie die ganze Verfassung ablehnen. 193 Leibholz, VVdRStL 7, S. 159, 165 und 171. Ebenso Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, S. 60 und Staatslehre, S. 349: Der Proporz ist "das individualistische Prinzip der Freiheit, es ist das Prinzip der radikalen Demokratie". 194 Vor allem: Wesen und Wert der Demokratie (zuerst 1920), S. 61.
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hofes: "Daß der Verfassungs gesetzgeber bei dem von ihm vorgeschriebenen gleichen Wahlrecht an eine Gleichheit in diesem Sinne gedacht hat, ergibt sich aus der Bedeutung des Wahlrechts für den demokratischen Staat in Verbindung mit dem Umstand, daß die Verfassung sich gerade deshalb für die Verhältniswahl entschieden hat, um die gleiche Behandlung aller Wähler sicherzustellen. In der Reichsverfassung ist klar zum Ausdruck gekommen, daß die Gleichheit aller Staatsbürger den Grundzug der neuen Staatsordnung bildet. Vornehmlich bei den Handlungen, in denen sich die Staatsgewalt des Volkes (Art. 1 Rverf.) betätigt, insbesondere bei den Wahlen, muß deshalb die Gleichheit aller Deutschen soweit durchgeführt werden, als das Wahlsystem es zuläßt,,195. Ergänzt wird der teleologische Befund vor allem von Leibholz durch phänomenologische Beobachtungen l96 : Das Parlament der Weimarer Republik, wie schon in geringerem Maße der Reichstag der Kaiserzeit, ist ein Parlament der Fraktionen. Ebenso wie in der Öffentlichkeit, so spielt sich der politische Meinungskampf im Parlament nicht zwischen unabhängigen Persönlichkeiten ab, sondern zwischen den durch die Parteien verkörperten politischen Anschauungen. In der durch die Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen und Jungwähler entstandenen Massendemokratie ist dies die einzig mögliche Form der politischen Willensbildung, denn nur die modemen Parteien, vor allem die über einen straff organisierten Apparat verfügenden großen Volksparteien, haben die organisatorischen Möglichkeiten zur Mobilisierung und Kanalisierung der Massen. Verstärkt wird das durch die "Atomisierung der Gesellschaft", deren gemeinsames soziologisches Fundament zunehmend verlorengeht und in der jedes Individuum seine persönlichen Interessen verfolgt. Die Erfassung und Bündelung der Einzelinteressen ist nur durch Parteien möglich, die sie jeweils gezielt vertreten. Die traditionellen gesellschaftlichen Zuordnungskriterien wie Orts- oder Klassenzugehörigkeit verlieren dagegen in der Wirklichkeit immer mehr an Bedeutung, haben keine integrative Kraft mehr. "Der atomistische Individualismus beherrscht den Werdegang der modemen Demokratie. Wenn die öffentliche Gewalt letzten Endes in die individualistisch aufgelockerte Masse verlegt wird, so schafft sich diese, da sie als Masse nicht wollen und handeln kann, Organisationen, durch die sie einen Willen zu erzeugen vermag,,197. 195 RStGH, LlS IV, S. 131, 136 f. (Preußen).
Leibholz, VVdStRL 7, 159, 176 ff.; Kelsen, Wesen und Wert der Demokratie, S. 19 f. ("Die modeme Demokratie beruht geradezu auf den politischen Parteien, deren Bedeutung umso größer ist, je weiter das demokratische Prinzp verwirklicht ist"); Lammers, JW 1929, S. 53; Radbruch, in: HBStR I, S. 285 ff. und als Reichsinnenminister vor dem Reichstag am 11. 8. 1928: "Die Demokratie ist notwendig und unvermeidlich ein Parteienstaat" (zitiert nach Lammers, JW 1929, S. 53). Vgl. bereits ganz ähnlich M. Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: Gesammelte Schriften, S. 306, 324 f. 196
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Die Konsequenz ist, daß die modeme Massendemokratie notwendig ein Parteienstaat ist; das Wahlrecht muß dem durch die maßgebliche Berücksichtigung der Parteien Rechnung tragen. In der Literatur der Zeit wird diese Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse weithin geteilt, wenn auch die meisten Autoren den umgekehrten Schluß daraus ziehen: die Verhältniswahl ist Schuld an der negativ zu beurteilenden Entwicklung von Parlamentarismus und Gesellschaft und sollte daher abgeschafft oder zumindest möglichst abgeschwächt werden l98 . c) Gleichheitsbeschränkungen Die so verstandene Gleichheit im demokratischen Sinn wird nun aber und hier liegt die praktisch wichtige Neuerung - in gewissem Umfang für Relativierungen geöffnet. Heller und ihm folgend der RStGH unterscheiden zwischen absoluter, mathematischer Gleichheit einerseits und verhältnismäßiger Gleichheit als Rechtsbegriff andererseits l99 . Nur letztere ist in der Jurisprudenz verwendbar, denn "kein einziger Rechtsbegriff ... kann von allen tatsächlichen Verschiedenheiten ... absehen", die logisch mathematischen Begriffe aber sind "reine Denkformen, die sich mit keiner individuellen Wirklichkeit einlassen,,2oo. Was rechtlich gleich oder ungleich behandelt werden muß, setzt daher immer eine Wertung voraus, welche dem Wesen des zu ordnenden Sachverhaltes entsprechen muß. Inhalt der Gleichheitsprüfung ist daher die Frage, ob die getroffenen Unterscheidungen sachlich begründet sind, "d. h. auf vernünftigen und ausschlaggebenden Erwägungen in der Natur der Sache beruhen, derart, daß das Gesetz nur durch solche Unterscheidungen dem inneren Zweck der Ordnung der betreffenden Lebensverhältnisse gerecht wird,,201. Einschränkungen der Gleichheit müssen "im Interesse der Einheitlichkeit des Wahl systems und zur Sicherung der von ihm verfolgten staatspolitischen Ziele geboten" sein und in diesem Sinne durch ein "wirklich dringendes Bedürfnis gerechtfertigt wer-
Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, S. 33. Braunias, Wahlrecht, S. 261 und S. 28 f.; Hula, ZöR 1927, S. 213 ff.; Pohl, VVDStRL 7, S. 131, 153; Schmitt, Staatslehre, S. 319; Smend, FS Bergbohm, S. 278, 282; Triepel, Die Staatsverfassung und die politischen Parteien, S. 32 ff. Zum Streit über den "Parteienstaat" in Weimar Gusy, S. 121 ff. (S. 125 mit Fn. 33 m. w.N.); Friedrich, S. 383 ff. 199 Heller, Gleichheit, S. 12; RStGH, LlS IV, S. 131, 139 (Preußen). 200 Heller, Gleichheit, S. 12. 201 Heller, Gleichheit, S. 17; im gleichen Sinne Leibholz, JW 1929, S. 3042; zustimmend auch Morstein-Marx, ZStW 89 (1930), S. 361 ff., insbesondere 372 f. Häntzschel, RPrVBl 1929, S. 787 ff. dagegen mißversteht Heller, wenn er unter Berufung auf ihn das Erfordernis der Erfolgswertgleichheit verneint. 197 198
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den,,202. Damit ist die vom RStGH in den älteren Entscheidungen postulierte Absolutheit der Wahlgleichheit aufgegeben. Dieses Verständnis der rechtlichen Gleichheit knüpft an die "modeme" Auslegung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 109 WRV 203 an. Heller und Leibholz sehen in der Wahlgleichheit einen Spezialfall des allgemeinen Gleichheitssatzes; ihre Auslegung folgt methodisch dessen Regeln. Besonderheiten ergeben sich nur aus dem Wesen des Wahlrechts 204 . Die Rückkoppelung der Wahlgleichheit an den allgemeinen Gleichheitssatz wird vom RStGH ausdrücklich weder anerkannt noch zurückgewiesen. Die Urteilsbegründung kommt ohne sie aus 205 . Entscheidend für die Beurteilung der Splitterparteienklauseln wird damit die Frage, ob das Wesen des Verhältniswahlrechts im Sinne der WRV die Aussonderung kleinster Parteien gebietet oder nicht. Speziell bei der Verhältniswahl ist dabei genau zu unterscheiden zwischen den auf verschiedenen Stufen des Verfahrens getroffenen Differenzierungen, die einen können zweckmäßig sein, die anderen nicht: so soll etwa eine Differenzierung auf der Ebene der Stimmabgabe in keinem Fall gerechtfertigt sein, während bei der Umrechnung in Mandate die Nichtbeachtung bestimmter Parteien durchaus geboten sein kann 206 . Heller, Leibholz und seit dem Preußen-Urteil der Sache nach auch der RStGH bejahen die Zulässigkeit der Splitterparteienklauseln des RWahlG 202 RStGH, L/S IV, S. 131, 139 (Preußen); BayStGH, L/S IV, S. 341, 348. Der RStGH übernimmt nicht Hellers sorgfältige Herleitung, seine Ausführungen sind daher etwas ungelenk und aus sich heraus nur schwer verständlich: "Deshalb sind Gleichheit und Ungleichheit keine sich ausschließenden Gegensätze". 203 Nach der modemen Auslegung ist Art. 109 nicht nur ein Programms atz für Exekutive, sondern eine auch den Gesetzgeber bindende Norm, anhand derer die noch heute im Grundsatz gültige Gleichheitsstruktur entwickelt wurde. Zum "Richtungsstreit" über Art. 109 WRV grundlegend: Leibholz, Die Gleichheit vor dem Gesetz, Diss. 1925, Aldag, Die Gleichheit vor dem Gesetz, Diss. 1925 sowie die Staatsrechtsleherertagung 1926 mit Referaten vom E. Kaufmann und Nawiasky, VVDStRL 3; ferner Anschütz, Kommentar, Art. 109, S. 522 ff. m. w. N.; Friedrich, S. 380 ff. m.w.N. 204 Heller, Gleichheit, S. 11; Leibholz, JW 1929, S. 3042. 205 RStGH, L/S IV, S. 131, 137 (Preußen); in der mündlichen Verhandlung wurde allerdings darüber diskutiert, dargestellt bei Nenstiel, S. 183. Die Urteils gründe und auch das Gutachten von Heller argumentieren ergänzend noch mit anderen Argumenten: der Regelungsvorbehalt des Art. 17 WRV sei ein Schrankenvorbehalt zur Einschränkung der Wahlgrundsätze; die Wahlgrundsätze beschränkten sich gegenseitig, keiner von ihnen könne daher ungeschmälerte Geltung beanspruchen; das Reichswahlgesetz sei von der Nationalversammlung mit verfassungsändernder Mehrheit verabschiedet worden und könne daher den Grundsatz der Wahlgleichheit authentisch interpretieren. 206 Heller, Gleichheit, S. 23 f.
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mit dem historisch und rechtsvergleichend begründeten Argument, daß nur die Vertretung von für den Staat bedeutsamen Parteien bezweckt sein kann207 , weil Parteienzersplitterung die Bildung eines arbeitsfahigen Parlaments und damit die wirksame Artikulation des Volkswillens verhindert208 . Welche Kriterien für ein Splitterpartei ausschlaggebend sind, muß der Gesetzgeber nach sachlichen Erwägungen festlegen. Die vom RWahlG eingeführten Grundmandatsklauseln209 werden von ihnen unter Zugrundelegung des herrschenden 210 Splitterparteienbegriffs, wie ihn am deutlichsten Braunias formuliert hat, als rechtens beurteilt: "Das Wesen der Splitterparteien besteht vielmehr darin, daß sie keine örtliche Verankerung haben und ihre Stimmen aus verschiedenen Teilen des Wahlkreises oder Reichsgebietes zusammentragen ... Daneben wird natürlich mit dem Begriffe der Splitterparteien immer ihre zahlenmäßige Schwäche verbunden,,211. 4. Überblick über die Versuche einer Wahlreform Von der juristischen Diskussion um die Auslegung der Wahlrechts grundsätze der geltenden Verfassung sind die politischen Bemühungen um eine Reform des Wahlrechts, insbesondere des RWahlG zu unterscheiden, denen der größte Teil des Schrifttums der Weimarer Zeit gewidmet ist, meist schon unter dem Eindruck der Krisenwahl 1930212 . Obwohl diese Beiträge kaum etwas zur Dogmatik der Wahlgleichheit enthalten, läßt sich an den verschiedenen Reformversuchen erkennen, wie der verfassungsmäßige Rahmen einer solchen Reform in Politik und Publizistik eingeschätzt wurde. a) Verfassungsändemde Vorschläge in der Literatur Auf der einen Seite standen in der Literatur Vorschläge zur gänzlichen Abschaffung der Verhältniswahl unter Änderung der Reichsverfassung 213 . 207 Heller, Gleichheit, S. 22; Leibholz, JW 1929, S. 3042, 3043 und VVdStRL 7, 159, 165; RStGH, LlS IV, S. 131, 136 (Preußen); i.E. ebenso Kaisenberg, RPrVBl 1929, S. 597, 599. 208 Heller, Gleichheit, S. 26; vgl. auch Kü/z, JR 1928, S. 1. 209 Vgl. oben S. 45 bei Fn. 134. 210 Bestritten von den Anhängern der radikalen Variante, s. o. S. 56. 211 ZfP 19 (1930), S. 473 f. Braunias lehnt ausdrücklich ein Stimmenquorum in Höhe der Fraktionsstärke ab, "wegen der ganz verschieden hohen Fraktionsstärke in den Geschäftsordnungen der einzelnen Parlamente". 212 Überblick über Motive und Ziele bietet zusammenfassend Schanbacher, S. 113 ff. 213 Karl Pfister, Die Wahl der Parlamentsmehrheit, ZöR 8 (1929), S. 188 ff.; Heinrich Gerland, Zur Wahlreform, DJZ 1928, S. 759 ff.; Otto Koellreutter, Der Sinn der Reichstagswahlen vom 14. 9. 1930, S. 25 f.; Axel v. Freytath-Loringhoven,
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Zum Teil zielten sie im Sinne restaurativer Tendenzen auf die Einführung von Prämiensystemen (Pfister) oder absoluter Mehrheitswahl (Gerland). Häufiger wurde die relative Mehrheitswahl nach englischem Muster gefordert, von der man sich die Entstehung eines Zwei-Parteien-Systems und die Befriedung des zersplitterten, radikalisierten politischen Lebens erhoffte 214 . Vorstöße in diese Richtung wurden hauptsächlich in liberalen (Heuss) und konservativen Kreisen (Koellreutter) unternommen, soweit letztere ein auf allgemeinen Wahlen beruhendes Parlament nicht schlechthin ablehnten. Aber auch am rechten Flügel der SPD, im sogenannten "Hofgeismarer Kreis", fanden sich zu Beginn der 30er Jahre jüngere Politiker zusammen, die für die Mehrheitswahl eintraten, vor allem der später vielzitierte Carlo Mierendorjf215. Erfolgsaussichten hatten all diese Vorschläge nicht, die erforderliche Zweidrittelmehrheit war zu keinem Zeitpunkt in Sicht. b) Verfassungsimmanente Vorschläge in Gesetzgebung und Literatur Der größte Teil der Reformversuche bewegte sich darum in dem von der Verfassung vorgegebenen Rahmen der Verhältniswahl in dem dann auch vom RStGH angenommenen Sinne. An erster Stelle unter den verfassungsimmanenten Vorschlägen sind die legislatorischen Reformvorhaben 216 der Reichsregierung zu nennen, insgeWahlreform?, DJZ 1927, Sp. 1573; Theodor Heuss, Verhältniswahl und Parlamentarismus, ZfP 20 (1931), S. 312 ff. Darstellung mit weiteren Nachweisen bei Nenstiel, S. 113 ff. Für die relative Mehrheitswahl tritt vor allem der vom jungen Zentrumspolitiker Johannes Schauff herausgegebene Sammelband "Neues Wahlrecht" ein, mit Beiträgen aus verschiedenen Parteien. Darstellung bei Schanbacher, S. 121 f. 214 Dagegen aber resignierend Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 188, der vor einer unüberbrückbaren Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager warnt. 215 Carlo Mierrendorff, in: Schauff, S. 18 ff.; dazu ausführlich Lange, Wahlrecht und Innenpolitik, S. 231 ff. m.w.N.; Misch, S. 224 f., 232 ff.; F. Schäfer, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1967, S. 157, 180 ff. Nicht hierher gehört wohl der ebenfalls der SPD angehörende Hermann Heller, obwohl er zuweilen als Gegner der Verhältniswahl in Anspruch genommen wurde. Außerhalb seines preußischen Gutachtens hat er sich nie explizit zu Wahlrechtsfragen geäußert, seine allgemeinen theoretischen Überlegung sprechen nicht eindeutig gegen die Verhältniswahl, allenfalls gegen ihre spezielle Ausprägung im RWahlG. A. A. Misch, S. 227-232, aus dessen umfangreichen Belegen sich das Gegenteil aber nicht ergibt. 216 Jarres: RT-Drs. 11/445; Külz: nicht veröffentlicht, nur Kabinettsprotokolle; Wirth: RRat Drs. 1930/151, mit Anlage "Denkschrift des Reichsministeriums des Innern", dazu Kaisenberg, DJZ 1930, Sp. 1153 ff. Darstellung und Nachweise bei Pohl, VVDStRL 7 (1932), S. 133 f.; Nenstiel, S. 89 ff.; Schanbacher S. 137 ff.
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samt drei, die unter den Innenministern Jarres (1924), Külz (1926) und Wirth (1930) erarbeitet wurden. Die offiziellen Reformvorhaben gediehen aber nie weiter als zur Beratung im Kabinett, teils wegen des vorzeitigen Endes der Legislaturperiode, teils wegen von vornherein feststehender Aussichtslosigkeit im Reichstag: Die zahlreichen kleinen, bürgerlichen und nichtkatholischen Parteien wären erstes Opfer der Reform geworden, während die großen Flügelparteien KPD und NSDAP sowieso kein Interesse an einer wie immer gearteten Reform des Parlamentarismus hatten 217 • Erklärtes Ziel aller drei Entwürfe war die Bekämpfung der "Entpersänlichung" der Wahl (Stichwörter: "Führerauslese", "Bonzenherrschaft") und der Parteienzersplitteruni 18 , das alles ohne Beeinträchtigung der Erfolgswertgleichheit. Die Reformziele sollten jeweils durch eine Verkleinerung der Wahlkreise erreicht werden, so daß - unter Beibehaltung des automatischen Systems jeweils nur zwei bis drei Abgeordnete zu wählen gewesen wären. Die Teilnahme am Verhältnisausgleich war dann in allen drei Entwürfen an den Gewinn mindestens eines Grund-Mandats auf Wahlkreisebene geknüpft. Die zu überwindende Schwelle sollte also gegenüber dem geltenden Recht heraufgesetzt werden, denn es ist schwieriger, in einem Dreierwahlkreis einen Abgeordneten "durchzubekommen", als in einem großen mit 13 Mandaten. Die Regelung wäre zu Lasten der nicht regional verankerten, kleinen Parteien gegangen. Die Entwürfe von 1926 und 1930 wollten zusätzlich die Reichsliste abschaffen. Statt dessen sollten die Reststimmen aus den Wahlkreisen auf der Ebene von rund 30 Wahlkreisverbänden ("Landesgruppen") verwertet werden, indem sie auf die zunächst erfolglosen Wahlkreiskandidaten in der Reihenfolge ihrer Stimmenzahl verteilt wurden. Ein darüber hinausgehender Verhältnisausgleich war nicht vorgesehen. Die Zahl der nicht verwertbaren Reststimmen hätte sich dadurch deutlich erhöht; ob es aber tatsächlich zur einer wirksamen Reduzierung der Parteienzahl gekommen wäre, war streitig 219 . Die Wahlchancen sollten nicht mehr von der Plazierung auf einer langen Liste abhängen, sondern von der persönlichen Überzeugungskraft Zu den politischen Hintergründen: Jesse, S. 56-65. Zu den Motiven: Reichskanzler Luther im Reichstag, StB Bd. 388, S. 5170; Külz, StB Bd. 389, S. 6124; Reichskanzler Müller, StB Bd. 423, S. 44; Denkschrift des Reichsministeriums des Innern (oben Fn. 216), teilweise abgedruckt bei Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 162 f.; ferner der zuständige Referent im Innenminsterium Kaisenberg, Der neue Entwurf eines Reichswahlgesetzes, DJZ 1930, S. 1153. 219 Etwa Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 173 ff.; Thoma, Die Reform des Reichstages, S. 2; im Nachhinein Antoni, ZParl 1980, S. 93 (dazu kritisch unten, Teil 2, B. 11. 3, Fn. 196); Jesse S. 75 ff. (Überblick und Nachweise) und S. 83 ff. (eigene Beurteilung). 217 218
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eines Kandidaten in seinem Wahlkreis. So sollte der Einfluß der zentralen Parteileitungen verringert, die Aufstellung von "Führerpersönlichkeiten" begünstigt und der Druck auf die Gewählten erhöht werden, Kontakt zu den Wählern in ihrem Wahlkreis zu halten. In der Literatur wurden diese Vorhaben heftig diskutiert und vielfach für untauglich gehalten. Es entstand eine Vielzahl von Alternativmodellen, welche die gleichen Ziele wie die Reichsregierung verfolgten; erreicht werden sollte, getreu dem verfassungsmäßigen Gebot der Verhältniswahl, die Verwertung aller nicht für Splitterparteien abgegebenen Stimmen unter Vermeidung der Nachteile des geltenden Rechts 22o . Entweder wurde die "Mehrheitswahl proportionalisiert" (Wahl von Personen in Einerwahlkreisen mit anschließendem Verhältnisausgleich, etwa Bornemann, W. Jellinek) oder die "Verhältniswahl majorisiert" (Wahl von Parteien mit anschließender Verteilung der Sitze auf Wahlkreiskandidaten, etwa H. G. Erdmannsdäifer, Heile, Külz, Kaisenberg), zum Teil in sehr komplizierten Verfahren. Trotz der Tendenz zur Personenwahl hielten alle verfassungsimmanenten Reformvorschläge im Prinzip an der durch Parteien vermittelten Vertretung als letztlich maßgebliches Kriterium fest - unter der Verhältniswahl auch gar nicht anders denkbar. Die Verbesserungen des geltenden Rechts waren nicht prinzipieller Natur im Sinne einer Hinwendung zur traditionellen Lehre, sie sollten vielmehr die psychologische Akzeptanz der Wahl heben und technische Mängel beseitigen, indem möglichst viele Elemente der Personenwahl aufgenommen wurden. "Es ist bekannt, daß das geltende Wahlrecht Mängel aufweist, die zu einer Entfremdung der Gewählten von den Wählern und zu einer Zersplitterung des Parteiwesens führte. Es wird Aufgabe der Reform sein, das verfassungsmäßig festgelegte System der Verhältniswahl aufrechtzuerhalten, aber zugleich eine engere Beziehung der Abgeordneten zu den Wählern herzustellen,,221.
220 C. H. Bornemann, Einzelwahlkreis und Proporz, ZfP 1930, S. 43 ff.; Walter lellinek, Verhältniswahl und Führerauslese, AöR 11 (1926), S. 71 ff. und ausführlich Riehard Sehmidt unter dem gleichen Titel, Diss. Kiel 1928; H. G. Erdmannsdörjfer, Das automatische System - Betrachtungen zum Reichstagswahlrecht, ZfP 20 (1931), S. 170 ff.; Wilhelm Külz, Zur Reform des Wahlrechts, JR 1928, S. 1 ff.; R. Hippel, Ein Vorschlag zur Wahlrechtsreform, DJZ 1927, Sp. 1511; Georg Kaisenberg, Wahlreform, ZStW 90 (1931), S. 449 ff.; Riehard Thoma, Die Reform des Reichstages, 1925. Darstellung mit Nachweisen bei Nenstiel, S. 118 ff.; Schanbaeher, S. 122 ff. Zukunftsweisend vor allem Külz mit reichsweiter 3 %-Klausel, W. lellinek, R. Sehmidt und Bornemann mit Verhältnisausgleich über Liste gemäß der Zahl der Wahlkreisstimmen. 221 Reichskanzler Hermann Müller in der Regierungserklärung vor dem Reichstag vom 3. 7. 1928, StB Bd. 423, S. 44.
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Daneben wurde von Anfang an über die Möglichkeiten der Demokratisierung der Binnenstruktur der politischen Parteien nachgedacht, etwa durch Vorwahlen nach amerikanischem Vorbild oder durch "verständige Parteisatzungen ,,222.
5. Betrachtung Auch in der Weimarer Zeit wird das Wahlrecht wieder zum herausragenden Symbol des grundsätzlichen Richtungsstreites der politischen Strömungen. Die beiden Auffassungen - "demokratisch" und "liberal" - stehen sich weiterhin unvereinbar gegenüber. Brisanz erhält die Frage durch die ausdrückliche und dezidierte Stellungnahme der Verfassung selbst, und zwar zugunsten des demokratischen Prinzips - was der Reichsstaatsgerichtshof trotz starker Widerstände erkannt und deutlich formuliert hat: die erste, wenn auch nicht ausdrückliche Anerkennung des noch im Kaiserreich totgeschwiegenen sozialistisch-demokratischen Standpunktes in der etablierten Staatsrechtswissenschaft. Weil die Verhältniswahl neben den Elementen der unmittelbaren Demokratie der reinste, offenkundigste Ausdruck der demokratischen Grundeinstellung der WRV ist, wird jede politische und wissenschaftliche Stellungnahme in der Wahlrechtsfrage zu einer Stellungnahme für oder gegen die Verfassung überhaupt223 . Politik wie Staatslehre sind in der Weimarer Zeit gespalten in zwei Lager: in die Befürworter und in die Gegner der neuen, demokratischen Staatsordnung. Ihre Vertreter finden sich beim Wahlrecht ungeachtet aller sonst vorhandenen methodischen und weltanschaulichen Differenzen wieder zusammen. Einen gerafften, höchst aufschlußreichen Einblick in den Diskussionsstand der Endphase der Republik bietet die Aussprache über das Referat von Leibholz auf der Staatsrechtslehrertagung 1931 224 . Die Gegner der bestehenden Republik wollen eine Gesamtrenovierung der Verfassung im bürgerlich-liberalen Sinn und in deren Zuge die Abschaf222 So schon (!) E. Kaufmann, DJZ 1919, Sp. 25, 27; ferner Hula, ZöR 1927, S. 312, 229 ff.; Leibholz, VVdStRL 7, 159, 183 ff.; Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 19l. 223 W. lellinek, SJZ 46, S. 11, 12 vermutet, der "Haß gegen die Weimarer Verfassung ... , der man auf diese Weise etwas am Zeuge flicken konnte" sei ursprünglich Triebfeder der Gegner der Verhältniswahl gewesen. 224 VVdStRL 7, S. 191 ff. Alle Schattierungen werden in knapper Form vertreten: Für die Demokratisierung von Parteien und Gesellschaft Leibholz, für wehrhafte Demokratie Loewenstein, für den Ist-Zustand Thoma. Für die Liberalisierung des Staates Triepel. Für die Abschaffung des Parlamentarismus und den Vorrang "sozialer und nationaler Komponenten" Herrfahrdt und Koellreutter.
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fung der Verhältniswahl. Wo das einstweilen nicht geht, versuchen sie diese wenigstens hinwegzudisputieren. Sie wollen sich mit der modemen Entwicklung der Gesellschaft nicht abfinden und Pluralismus, Kompromißwirtschaft und Parteiwesen durch die Mehrheitswahl reinigend überwinden: der "wahre" Volks wille als Ausdruck der Einheit Aller kann nur durch Kampf und Entscheidung zwischen den Teilen in der Person des Gewählten zur Entstehung gebracht werden 225 : Zweck der Wahl ist es, dem Staat eine starke und einheitliche Führung zu geben. Die Anhänger der geltenden Verfassung dagegen nehmen die "Verhältniswahl" als das, was sie ist, und mühen sich allenfalls um technische Verbesserungen innerhalb des verfassungsmäßigen Rahmens. Denn die Entwicklung zur pluralistischen, "atomisierten" Massen- und Parteiengesellschaft ist ihrer Ansicht nach unvermeidlich und unumkehrbar. Ihre einzig mögliche freiheitliche Organisationsform aber ist eine Demokratie, in der die individuellen Positionen möglichst weitgehend berücksichtigt und zum Kompromiß geführt werden. Eben das leistet die demokratische Verhältniswahl, die ein maßstabsgerechtes Forum für das Kräftespiel der Parteien, die Vertreter der Individuen, hervorbringt. Sperrte man sich gegen die modeme Entwicklung und versuchte, die aufzuheben, so wäre letztlich die Herrschaft einer einzigen, autoritären Massenpartei im Stile von NSDAP oder KPD unvermeidlich. "Das Verhältniswahlrecht ist in Deutschland in überspitzter und reformbedürftiger Weise durchgeführt. Seine Abschaffung aber würde die Demokratie zerstören,,226. Den Gegensatz von pluralistischem und letztlich autoritärem Ideal hat bereits 1918 Max Weber auf den Punkt gebracht: "Auf die Regierungsbildung angewandt wäre also der Proporz das radikale Gegenteil jeder Diktatur,,227. Und Leibholz faßt zusammen: "Die Mehrheitswahl führt zur Überwindung der vorhandenen Gegensätze, die Verhältniswahl zur Offenbarung ihrer zahlenmäßigen Stärke,.228. Die Anhänger der Verfassung werden von unterschiedlichen Motiven bewegt, teils von echtem Idealismus, teils von der nüchtern-realistischen Erkenntnis der praktischen Untauglichkeit aller angebotenen Alternativen wie es wohl beim jungen Gerhard Leibholz der Fall ist229 .
225 Smend, FS Bergbohm, S. 278 ff., insbesondere S. 282 ff.: Durch die Verhältniswahl wird die eigentliche Entscheidungsfindung aus dem Parlament in die Öffentlichkeit und in "undurchsichtige Parteiverhandlungen" verlegt. Dadurch geht die schöpferische Diskussion im Parlament verloren, das Ideal des liberalen Parlamentarismus entfällt. 226 Thoma, HbStR I, S. 195. 227 Deutschlands künftige Staatsordnung, in: Gesammelte Schriften, S. 448, 474. 228 Leibholz, VVDStRL 7 (1932), S. 170.
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Die Gruppe der Gegner ist dagegen äußerst inhomogen 23o . Es gehören einerseits die grundsätzlichen Feinde der gemäßigten, westlichen Staatsund Gesellschaftsordnung überhaupt dazu, namentlich Teile der DNVP, die NSDAP und die KPD, sowie viele der jungen Intellektuellen, die irgendwie vom Gedankengut der sogenannten "konservativen Revolution" und des "neuen Ordnungsdenkens" beeinflußt sind und die einen völlig neuen Staat mit nicht näher präzisierten ständischen oder autoritären Strukturen herbeiwünschen. Andererseits gehören hierhin aber auch bürgerliche Liberale der "alten Schule", die dem dahingegangenen, ehemals festgefügten Obrigkeitsund Honoratiorenstaat mit seiner Sicherheit und seiner festen Gesellschaftordnung nachtrauern231 : sie finden sich in der DDP und der DVP nahestehenden Kreisen - etwa Triepel, Naumann, der junge Theodor Heuss, und auch Max Weber -, im Zentrum - hierher gehört der Kreis um Johannes Schauff - und auch am rechten SPD-Flügel - Carlo Mierrendorff. In der Ablehnung der als schwächlich und unbefriedigend empfundenen Republik und ihres Wahlrechts treffen sich beide Gruppen, die gemäßigten Liberalen und die Konservativen. Gegen Ende der Epoche, als die bürgerliche Mitte bereits völlig zerrieben ist und die bei den radikalen Flügelparteien das Feld beherrschen, wird die Möglichkeit einer bürgerlichen Re-Form der Gesellschaft allerdings auch in gemäßigt-liberalen Kreisen zunehmend pessimistisch beurteilt232 . Der juristisch-methodische Ertrag der Weimarer Diskussion ist einheitlicher; die Ergebnisse der Preußen-Entscheidung des RStGH sind im Kern allgemein als zutreffende Auslegung der Verfassung anerkannt. Der Grundsatz der Wahlgleichheit ist danach Ausfluß der egalitär-demokratischen staatsbürgerlichen Gleichheit und kann in diesem Sinne verallgemeinert und formal gefaßt werden: Ausschluß aller sozialen und politischen Differenzierungen. In Verbindung mit dem Grundsatz der Verhältniswahl fordert er die Erfolgswertgleichheit der Stimmen. Überwunden wurde die Deutung als absoluter, mathematischer Gleichheitssatz. Unterscheidungen aus der Natur der Sache sind durchaus zulässig oder gegebenenfalls sogar geboten. Dafür gilt aber, entsprechend der Herleitung, ein strenger Maßstab: nur "zwingende staatspolitische Gründe" kommen in Betracht, die aus einer Zusammenschau der die Wahl beherrschenden Verfassungsgrundsätze ermittelt 229
S.65.
Dazu Friedrich, S. 383 ff., Gusy, S. 448 ff. Siehe Friesenhahn, VVDStRL 16,
230 Vgl. dazu Friedrich, S. 347 (zu Triepel); Gusy, S. 451 ff.; Larenz, S. 156 ff.; F. Schäfer, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1967, S. 157, 179 f. 231 Max Weber, Deutschlands künftige Staatsfonn (1918), in: Gesammelte Schriften, S. 448 f., 454: "Bisher herrschte seit Jahrzehnten der Geist der ,Sekurität': der Geborgenheit im obrigkeitlichen Schutz.... Die Republik macht dieser ,Sekurität' ein Ende". 232 Siehe nur Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 191.
B. Entwicklung in der Weimarer Zeit
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werden müssen. An dieser Stelle kommt freilich der Streit zwischen den beiden Lagern wieder zum Tragen, wenn es nämlich um die Gewichtung der einzelnen Belange geht, etwa des Proportionalitätserfordernisses im Verhältnis zur Funktionsfähigkeit des Parlaments. Weitgehend unstreitig ist auch die Geltung der Wahlgleichheit für Parteien sowie in allen Phasen des Wahl verfahrens von der Kandidatenaufstellung bis hin zur Sitzvergabe, letzteres allerdings nur im Rahmen der Verhältniswahl. Ungeklärt blieb die prinzipielle Zulässigkeit der Einführung der Mehrheitswahl als Ausdruck des bürgerlich-liberalen Demokratieverständnisses. Die Frage stellte sich angesichts des klaren Wortlautes der Verfassung nicht; trotzdem wird das Problem von den Gerichten schon gesehen. Nicht endgültig geklärt ist ferner die normative Verankerung der Wahlgleichheit. Zum Teil wird sie als Spezial fall der allgemeinen Gleichheit angesehen; es müssen dann relevante und irrelevante Differenzierungen abgegrenzt werden. Andere, vor allem der RStGH, verstehen Art. 22 WRV als eigenständigen Rechtssatz. Differenzierungen stellen sich dementsprechend als "Durchbrechungen" der Gleichheit dar, deren "Rechtfertigung" aus dem "Gesetzesvorbehalt" des Art. 22 WRV entnommen werden kann. Dieser letzte Streit wurzelt allerdings nicht unmittelbar in der Wahlgleichheit. Hier spiegelt sich vielmehr der "Richtungsstreit" um den allgemeinen Gleichheitssatz wieder. Anders als für diesen ist die Verbindlichkeit jener für den Wahlgesetzgeber in Weimar unstreitig. Das Scheitern der politischen Wahlreform erweist sich als symptomatisch für das Scheitern der Weimarer Republik insgesamt. Die Anhänger von demokratischer Republik und Verhältniswahl sahen Rettung allein im "Abwettern" der großen Krise. Die Versuche der Regierung, das Wahlrecht zu personalisieren, sollten am Prinzip nichts ändern, sondern es den Wählern schmackhaft machen. Die Quadratur des Kreises 233 , ein echter Komprorniß zwischen den beiden Wahlsystemen, wurde von sämtlichen Reformvorschlägen weder erreicht noch auch nur wirklich gesucht. Das eigentliche Problem: die Ablehnung des Staatsverständnisses der Weimarer Verfassung durch große Teile des Volkes und der Intellektuellen, blieb ungelöst und konnte nach Auffassung der Demokraten auch erst gelöst werden, wenn die wirtschaftlichen Turbulenzen einmal nachgelassen hätten. Die Abkehr von der demokratischen Lehre samt Verhältniswahl hätte daran nach 1930 sicher nichts mehr ändern können, zu weit fortgeschritten war die Radikalisierung der Gesellschaft, zu geschwächt die bürgerliche Mitte. Ob eine liberale Republik mit Mehrheitswahlrecht 1919 noch Einheit und Konsens 233
Nawiasky, AöR 20 (1931), S. 161, 191; ähnlich Leibholz, VVdStRL 7, 159,
183 ff.
1. Teil: Historische Untersuchung
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hätte stiften können, ist seither viel diskutiert worden234 - einiges spricht dagegen. Die Frage läßt sich aber immer nur hypothetisch beantworten, die Antwort hängt von zu vielen statistischen und vor allem psychologischen Unbekannten ab, als daß man zu einem wissenschaftlich gesicherten Ergebnis gelangen könnte.
C. Entwicklung unter dem Grundgesetz Die Auseinandersetzung mit dem Wahlrecht in der Nachkriegszeit zerfällt in drei Phasen, zwischen denen jeweils längere Pausen liegen. Die erste Phase beginnt unmittelbar nach dem Krieg 1945 und dauert bis Anfang der 60er Jahre. Sie umfaßt die Entstehung des noch heute geltenden Bundeswahlrechts und die grundlegende Weichenstellung seiner verfassungsgerichtlichen Interpretation. Die zweite Phase, von Mitte der 60er bis Mitte der 70er Jahre, ist geprägt vom Bemühen um eine Wahlreform während der großen Koalition. In der vorläufig letzten Phase seit Mitte der 80er Jahre streitet man nurmehr um Detailprobleme der Auslegung der geltenden Wahlgesetze, insbesondere um die Zulässigkeit von Überhangmandaten.
I. Erste Phase: Entstehung des Bundeswahlrechts Unmittelbar nach dem Krieg, gleichzeitig mit dem politischen Wiederaufbau von staatlichen Strukturen und Parteien, flammte in Deutschland die durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten abrupt unterbrochene Wahlrechtsdiskussion wieder auf. Die durch die Notwendigkeit des neuerlichen Aufbaus demokratischer Strukturen verursachte Diskussion erfaßte sehr bald weite Kreise der Bevölkerung. Das Wahlrecht wurde allgemein für eine äußerst dringliche Frage gehalten, sah man doch im Weimarer Wahlrecht eine der Hauptursachen für das Scheitern der ersten Republik. So befaßten sich sowohl die Progammkomissionen der neugegründeten Parteien als auch der parlamentarische Rat und später der 1. und 2. Bundestag intensiv mit der Wahlrechtsfrage. Das Bundesverfassungsgericht fällte bereits 1952 anläßlich einer 7,5 %-Sperrklausel im schleswig-holsteinischen Wahlgesetz eine erste Grundsatzentscheidung zum Wahlrecht; eine ganze Reihe weiterer Judikate folgte in kurzen Abständen. In der Öffentlichkeit engagierte sich die "Deutsche Wählervereinigung" (DWV) massiv für eine Gestaltung des Wahlrechts im Sinne der Mehrheitswahl 235 . Inhaltlich ebenso wie personell knüpfte die Diskussion fast nahtlos an die der Weimarer Zeit an. Die bedeutendsten Theoretiker waren auf der einen 234 235
Vgl. oben, Fn. 219. Darstellung m. w.N. bei Jesse, S. 75-91, insbes. 83 ff. Organ: die Zeitschrift "Der Wähler".
C. Entwicklung unter dem Grundgesetz
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Seite Gerhard Leibholz, auf der anderen Ferdinand A. Hennens, der ebenfalls bereits in der Endphase von Weimar mit Publikationen zum Wahlrecht hervorgetreten war, sowie Dolf Sternberger, beide als Gegner des in Politik und Rechtsprechung eingeschlagenen Weges. Eine erste juristische Auseinandersetzung verschiedener Autoren mit Wahlrechtsproblemen wurde durch das (erste) schleswig-holsteinische Wahlgesetz von 1950 und ein dazu ergangenes Urteil des OVG Lüneburg ausgelöst236 . Bedeutendste Protagonisten237 im politischen Raum waren der nordrhein-westfälische Innenminister Walter Menzel und die Abgeordneten im Parlamentarischen Rat Georg Diederichs von der SPD sowie Max Becker und Theodor Heuss von der F.D.P., der an sein früheres Engagement anknüpfen konnte. Wertvolles Material zum Diskussionsstand, wenn auch vor allem politologisches, enthält der Bericht der vom Bundesinnenminister eingesetzten Wahlrechtskommission von 1955, der die meisten damals für das Wahlrecht bedeutenden Staatsrechtler, Politologen und Mathematiker angehörten 23S . Die Notwendigkeit von Kompromissen führte allerdings an vielen dogmatisch interessanten Stellen zu wenig präzisen Formulierungen.
Im Vordergrund der gesamten Diskussion stand nicht die Frage nach dem Inhalt der Wahlgleichheit, sondern die nach dem richtigen Wahlsystem. Da aber die Entscheidung für ein Wahlsystem vom zugrunde liegenden Gleichheitsverständnis determiniert wird und umgekehrt die Anwendung der Gleichheit - in welcher Weise auch immer - vom System abhängig ist, gehört zur Untersuchung der Entwicklung des Begriffs der Wahlgleichheit notwendig die Darstellung der Systemdebatte. 239
236 Urteil vom 19. 6. 1950, DVBl. 1950, S. 530 ff.; dazu Ernst Forsthoff, Anmerkung, AöR 76 (1950/51), S. 369 ff.; Hermann v. Mangoldt, Die Wahltaktik der sch1eswig-ho1steinischen Landesregierung und das Lüneburger OVG, DöV 1950, S. 569 ff.; Andreas Hamann, Zum sch1eswig-holsteinischen Wahlgesetz, DöV 1951, S. 288 ff.; Werner Groß, Wahltaktik oder Wahlrecht?, DöV 1951, S. 291 ff. 237 Kurzbiographien der Mitglieder des Wahlausschusses des Parlamentarischen Rates bei Rosenbach, S. XIV ff. 238 Grewe, Scheuner, Beckerath, Bergstraesser, Decker, Eschenburg, Giese, Hermens, W. lellinek, Leibholz, Reichskanzler a.D. Luther, Peters, Unkelbach und Rüstow. 239 Grundlagen der Darstellung: Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Akten und Protokolle, Band 6: Ausschuß für Wahlrechtsfragen, bearbeitet von Harald Rosenbach, mit ausführlicher, darstellender Einleitung; ferner E. H.M. Lange, Wahlrecht und Innenpolitik, Diss. pol., Marburg 1972, erschienen 1975; lohn Ford Golay, The Founding of the Federal Republic of Germany, 1958; Volker Otto, Das Staatsverständnis des Parlamentarischen Rates, Diss. pol, 1971.
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1. Die Stellungnahme der politischen Parteien a) CDU Die CDU entstand unmittelbar nach dem Zusammenbruch als Sammelbewegung bürgerlicher und christlicher Strömungen. Im Unterschied zum Zentrum der Weimarer Zeit war sie als überkonfessionelle Volkspartei angelegt und bekannte sich ausdrücklich zur Demokratie als Staatsform. Dementsprechend begann man bereits sehr früh, eingehender über das Wahlrecht als zentrales Strukturelement der Demokratie nachzudenken. Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen war das traditionelle christlichnaturrechtliche Staatsverständnis, in dem Gott die Quelle jeder Staatsgewalt ist. Aufgabe des menschlichen Rechts ist die Organisation der Ausübung dieser Macht unter Beachtung der naturrechtlichen Vorgaben 24o . Das Wahlrecht des Einzelnen ist demzufolge kein originäres, persönliches Menschenrecht des Einzelnen, sondern eine Funktion im Rahmen einer sachgerechten Staatsorganisation. Oberster Gesichtspunkt für die Wahlrechtsgestaltung ist nicht die Herstellung von möglichst weitgehender Gleichheit zwischen den wählenden Individuen in Ansehung ihres politischen Mitwirkungsrechts, sondern die optimale Verwirklichung des wichtigsten Wahlzweckes, nämlich der Kreation einer handlungsfähigen, der effektiven Kontrolle durch die Wähler unterliegenden Staatsführung. Der theoretische Ansatz der christlich geprägten Staatslehre deckt sich mit der bürgerlich-liberalen Auffassung des Positivismus im 19. Jahrhundert, die seit jeher den Zweck der Wahl funktionell begriffen hat: Aufgabe des Volkes in der Demokratie ist nicht die Ausübung der Staatsgewalt durch die Entscheidung über Sachfragen der Politik, sondern die Auswahl und Kontrolle der damit betrauten Amtswalter241 . Im Sinne dieser Anschauung forderte schon auf der Gründungsversammlung der Kölner CDU Leo Schwering einen "veredelten Parlamentarismus", in dem der "Ruf nach Köpfen diesmal nicht nur erhoben, sondern auch praktiziert werden" muß. "Eine öde Herrschaft der Zahl, Wertung jeder einzelnen Stimme, jeder politischen Splittergruppe, ist kein Ideal der Demokratie,,242. Zur Realisierung dieser Vorstellungen forderte das Kölner Programm der CDU vom Juni 1945 die "direkte Wahl"243, womit die Personenwahl in Einerwahlkreisen gemeint ist. 240 Lange, S. 149 f.; vgl. auch ders., Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte 1972, S. 293 f.; Imboden, S. 24 f. 241 In aller Deutlichkeit z. B. Abg. Schröter im Parlamentarischen Rat, HA, 52. Szg., StB S. 690. Imboden, ebd. und passim, bezeichnet auch Parlament und Regierung als "Behörden", denen die Staatsführung obliegt. 242 Rede am 17.6. 1945, wiedergegeben bei Lange, S. 143.
C. Entwicklung unter dem Grundgesetz
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Die innerparteiliche Diskussion bewegt sich von da an in den aufgezeigten Bahnen. Gestritten wurde nur noch über die praktischen Konsequenzen daraus für die Gestaltung des Wahlsystems. Dabei setzt sich die schon früher vertretene These durch, daß die Mehrheitswahl fast zwangsläufig zu stabilen Mehrheiten führt, zur Eliminierung von Splitterparteien und einer Vereinfachung des Parteienspektrums in Richtung Zweiparteiensystem. Die Verhältniswahl dagegen wirkt destabilisierend und ist daher ungeeignet zur Schaffung eines handlungsfähigen Parlaments. Unter diesem Blickwinkel ist gerade die "arithmetische Ungerechtigkeit des Mehrheitswahlrechts ... in Wirklichkeit sein stärkster Vorzug,,244. Hinzu kam später, nach dem Vorliegen erster für die CDU günstiger Wahlergebnisse, taktische Überlegungen der Art, daß mit der Mehrheitswahl insgesamt noch bessere Ergebnisse erzielt werden könnten 245 . Daneben gab es aber in der CDU, vor allem aber in der bayrischen CSU, immer auch Tendenzen in Richtung Verhältniswahl, die aber weniger dogmatisch fundiert als durch die vorübergehend starken Erfolge der Bayempartei genährt wurden 246 . Insgesamt legte sich die CDU aber dennoch auf die Mehrheitswahl fest 247 und ging mit dieser Position in die Verhandlungen des parlamentarischen Rates. b) SPD Intensiver als in der CDU wurde die Wahlrechtsfrage in der SPD diskutiert248 . Es ging um die Frage, ob die traditionelle Linie der Partei trotz des 243 "Ein Ruf zur Sammlung des deutschen Volkes. Vorläufiger Entwurf eines Programms der christlichen Demokraten Kölns im Juni 1945", abgedruckt bei Flechtheim, Dokumente H, S. 30 ff. 244 Abg. Schröter im Parlamentarischen Rat, a.a.O. (Fn. 241). In den Verhandlungen um das BWahlG wurden diese Argumente vor den Rednern der CDU gebetsmühlenhaft wiederholt, etwa: Kroll, PI., 7. Szg., S. 112 ff.; v. Brentano, PI., 8. Szg, s. 129 ff.; Schröter, PI., 11. Szg., S. 246 f. sowie ausführlich in der 52. Szg. des HA, S. 688 ff. 245 Vor allem Adenauer sah die Frage aus machtpolitischem Blickwinkel, Lange, S. 189 ff.; OUo, S. 168. 246 Lange, S. 212 f. und 344. 247 So das Kommunique des Verfassungsausschusses der Arbeitsgemeinschaft von CDU/CSU vom 24./25. 5. 1949, Deutschland-Union-Dienst vom 26. 5. 1949; dazu Lange, S. 222 f. Ausführliche, Zusammenhängende Darstellung der Argumente im Referat des Abg. Kroll im Wahl ausschuß des Parlamentarischen Rates, 2. Szg., bei: Rosenbach, Nr. 2, S. 36 ff. 248 Die entscheidende Auseinandersetzung fand auf dem Nürnberger Parteitag von 1949 statt.
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Weimarer Debakels beibehalten werden sollte. Hauptvertreter der schließlich die Überhand gewinnenden Strömung war Walter Menzel, der entschieden für die Verhältniswahl als das demokratischere und gerechtere Wahlsystem eintrat249 : Das Parlament ist Surrogat der Volksversammlung 250 , die Gleichheit aller Staatsbürger die Grundlage der Demokratie. Das Wahlrecht muß daher möglichst weitgehende Gleichheit aller Wähler im Einfluß auf die Willensbildung des Parlaments herstellen. Dafür eignet sich die Verhältniswahl, weil nur bei ihr nahezu jede Stimme tatsächlich Auswirkung auf die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments hat. Die Mehrheitswahl dagegen führt zwangsläufig zu schweren Gleichheitsverzerrungen und ist daher ungerecht. Als Basis für eine dauerhafte sozialistische Politik kann nur eine absolute Mehrheit der Stimmen akzeptiert werden, nicht eine solche bloß der Abgeordnetensitze, eine "unechte Mehrheit,,251. Die überlieferte Grundsatzposition wurde jedoch modifiziert252 . Als Lehre aus Weimar bemühte sich die Partei um die Entideologisierung des Wahlrechts. Um zu verhindern, daß die SPD durch prinzipientreues Festhalten an der Verhältniswahl die Chance zur Erringung der ungeteilten Macht im Staat erneut ungenutzt ließe und so der sozialdemokratischen Sache insgesamt schadete, wurde das Wahlrecht nicht mehr nur als Verfassungs- sondern auch als Machtfrage gesehen: ebenso wichtig wie die ideologische Reinheit ist die Erlangung politischer Macht und Gestaltungsfreiheit. Für Menzel und die Mehrheit in der Partei bleibt aber die Prioriät klar: die Gleichheit, die "wichtigste demokratische Position", darf nicht für "kurzfristige Machttaktik" geopfert werden 253 . 249 Menzel auf dem Nürnberger Parteitag der SPD 1947, Protokoll S. 150 f.; in diesem Sinne etwa auch Diederich, Parlamentarischer Rat, PI., 8. Szg., S. 142; vgl. OUo, S. 167. 250 "Die Prinzipien der echten, d.h. unmittelbaren Demokratie erfahren durch die technische Notwendigkeit der Repräsentation keine Änderung", Menzel auf dem Nürnberger Parteitag, Protokoll S. 150. 251 Menzel, Bericht für den Verfassungsausschuß der SPD, aus dem Nachlaß zitiert bei Lange, S. 248, Fn. 86; ebenso im Parlamentarischen Rat: Abg. Heiland, HA, 52. Sitzung, StB S. 701; Diederichs, PI., 8. Sitzung, StB S. 142: "Das Mehrheitswahlrecht bedeutet die Transformationen einer Minderheiten in eine parlamentarische Mehrheit. Die ist der Hintergrund diese Wahlrechts, und die beschönigenden Deklarationen mit dem Hinweis auf die starke Regierung, hinter der eine starke, geschlossene Mehrheit stehe und ähnliche Argumente könne daran nichts ändern. . .. Parteien, die sich im ehrlichen Wahlkampf eine wirkliche Mehrheit verschaffen, kommen auch auf dem Wege über das Verhältniswahlrecht zu einer Vertretung dieser Mehrheit". 252 Lange, 245 ff.; OUo, S. 167; besonders der Abg. Carlo Schmid betont immer wieder die Situationsgebundenheit des Wahlrechts, das immer nur für eine konkrete Situation paßt, etwa PI., 8. Szg., StB S. 131. 253 Menzel auf dem Nürnberger Parteitag 1947, Protokoll S. 151.
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Ohnehin war in der politischen Situation der Gegenwart die Verhältniswahl nicht nur theoretisch vorzugs würdig, weil gerechter, sondern auch für die SPD günstiger. Auf Bundesebene und im wichtigen Nordrhein-Westfalen drohte unter den Bedingung der Mehrheitswahl eine absolute Mehrheit der Union, welche die SPD jeder Mitgestaltungsmöglichkeit am Wiederaufbau von Staat und Gesellschaft selbst in Koalitionen beraubt hätte 254 . Diese Einschätzung war nicht unumstritten, vor allem der starke schleswig-holsteinische Landesverband versprach sich von der Mehrheitswahl Mandatsgewinne, sein dahingehender Antrag wurde auf dem Nürnberger Parteitag aber abgelehnt255 • Hinzu kommt die Erwägung, vertreten vor allem von Carlo Schmid, daß ein frühzeitiger Ausschluß kleiner, aber wichtiger Gruppen vom Bundesparlament, der mutmaßlich durch die Mehrheitswahl bewirkt werden würde, im gegenwärtigen Stadium des Werdens einer neuen Staats- und Gesellschaftsordnung nicht wünschenswert und der Findung eines gedeihlichen Kompromisses abträglich wäre 256 - ein Argument, das ganz ähnlich schon von Hugo Preuss in der Weimarer Nationalversammlung gebraucht wurde 257 . So bleibt als einzige Frucht der Entideologisierung der Verzicht auf die Festlegung eines bestimmten Wahlsystems in der Verfassung. Es sollte die Möglichkeit offengehalten werden, flexibel auf Veränderungen der politischen Landschaft zu reagieren und Fehlentwicklungen frühzeitig verhindern zu können. Im Übrigen wurde an der Verhältniswahl festgehalten, im parlamentarischen Rat und auch später im Bundestag kämpft die Fraktion der SPD stets für die möglichst exakte Verwirklichung der Erfolgswertgleichheit und gegen Splitterparteienklauseln. Lediglich die Mängel des Weimarer Wahlsystems sollten durch Modifizierungen im Sinne der damaligen verfassungsimmanenten Reformvorschläge behoben werden, indem Elemente der Personenwahl eingeführt wurden258 . Insgesamt war die Haltung der Partei in den politischen Gremien im Vergleich zur CDU von einer gewissen Zurückhaltung geprägt, vor allem, was die ideologische Fundierung ihrer Position angeht. 254 Menzel, auf dem Nürnberger Parteitag 1947, Protokoll S. 152. Der machttaktische Aspekt wird von Golay, S. 141, ausschließlich genannt. 255 Antrag 16 der Vorlage 4, begründet von Andreas Gayk, Protokoll S. 145 ff. 256 Z. B. Abg. Carlo Schmid im Parlamentarischen Rat, HA, 52. Szg, StB S. 705; Abg. Heiland im Parlamentarischen Rat, HA, 52. Szg., S. 701; Abg. Dobbert im LT NW, 1. WP, StB S. 4425 für die Landesverfassung. 257 s. O. B. 1. 1. 258 In diesem Sinne etwa die Grundsatzrede des Abg. Diederich, Parlamentarischer Rat, PI., 7. Szg., S. 109 ff., ausführlicher sein Referat im Wahlausschuß, 2. Szg., bei: Rosenbach, Nr. 2, S. 45 ff.
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c) F.D.P. Im Gegensatz zu den beiden großen Parteien, deren Stellungnahme zur Wahlrechtsfrage im Wesentlichen durch ihre traditionellen ideologischen Grundlagen vorgezeichnet war, sah sich die F.D.P., das Sammelbecken sowohl der früheren Nationalliberalen als auch der Liberaldemokraten, vor einer zweideutigen Tradition. Der schon in der Paulskirche virulente Gegensatz zwischen den beiden Strömungen pflanzte sich bei der Neuformierung des liberalen Lagers nach dem Krieg fort. So wurde vor allem am rechten Spektrum der Partei, in der Tradition von Naumann, ein Persönlichkeitswahlrecht gefordert. "Anstelle der zersplitternden Verhältnis- und Listenwahl soll die persönliche Wahl durch Mehrheitsentscheidung klare und feste Mehrheitsverhältnisse in der Volksvertretung schaffen und damit ein starke politische Staatsführung sichern,,259. Gedacht war an eine gesamtbürgerliche Mehrheit gegen die Sozialisten. Wortführer war hier der erste Vorsitzende der F.D.P. der britischen Zone, Wilhe1m Heile 26o • Der linke Flügel der Partei, "liberale Demokraten261 " unter Führung von Heiles Nachfolger Franz Blücher, befürworteten dagegen nach der Konsolidierung der Partei 1947 die Verhältniswahl, modifiziert durch personalisierende Elemente und nährte sich damit weitgehend den Vorstellungen der SPD an262 . Auf diese Weise sollte "die Gleichberechtigung aller politischen Richtungen und das gleiche Gewicht jeder Stimme" gesichert werden 263 . Die endgültige Entscheidung der Wahlrechtsfrage zugunsten der Verhältniswahl fiel erst spät, 1949, unter maßgeblicher Beteiligung von Theodor Heuss und Max Becker. Sie stand im Kontext der allgemeinen Richtungsentscheidung der F.D.P., die letztlich gegen das von der nationalliberalen Parteirechten angestrebte Modell eines "Bürgerblocks" und für eine eigenständige Politik zwischen den bei den großen Parteien in der Tradition der Liberaldemokraten fällt. Der nationalliberale Flügel spaltete sich dann auch im Jahre 1947 ab und bildete unter Führung von Heile die NLP, später DP, die zur entschiedensten Verfechterin der Mehrheitswahl wurde 264 . 259 Syker Programm der F.D.P. der britischen Zone vom 4. 2. 1946, Flechtheim, Dokumente H, Nr. 124, S. 272 (Art. 33 Abs. 2); Lange, S. 287 f. 260 Lange, S. 289; Heile im Parlamentarischen Rat, PI., 7. Szg., S. 117 f. 261 Heuss, in: Aufzeichnungen 1945-47, hg. von Pikart, S. 111, 137 (1947). 262 Verfassungspolitische Richtlinien der F.D.P. vom 2. 8. 1947, zitiert bei Lange, S. 291, Fn. 145. 263 Blücher vor dem Zonenbeirat der britischen Zone am 24. 11. 1947, zitiert bei Lange, S. 291, Fn. 146. 264 Hierzu Lange, S. 287 m.w.N.
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Heuss und Becker hatten in der Weimarer Zeit beziehungsweise noch beim Zusammentritt des Parlamentarischen Rates mit der Mehrheitswahl oder Kombinationssystemen ohne vollen Verhältnisausgleich geliebäugelt265 . Erst 1949 vollzog sich dann die Wende. Der Bremer Parteitag der F.D.P. machte die modifizierte Verhältniswahl zum Programmpunkt266 , wobei vor allem Heuss das theoretische Fundament liefert 267 . "Der Sinn jeder Wahl in einem demokratischen Staatswesen muß sein, die geeignetsten Persönlichkeiten in die politische Führung zu bringen". Das leistet nicht die Mehrheitswahl, denn "ganz abwegig erscheint angesichts der Bereitschaft unseres Volkes, aus dogmentreuer und konfessioneller Verhaftung heraus zu wählen, die Vorstellung, als ob durch das Mehrheitswahlrecht die Wahl von Persönlichkeiten gefördert würde. Die Aussicht, gewählt zu werden, hat nicht die wirkliche Persönlichkeit, sondern der gewissenlose Demagoge oder der Kandidat, der von einer konfessionellen oder klassenkämpferischen Autorität als ,Persönlichkeit' ausgegeben wird". Es muß vielmehr Zwang auf die politischen Parteien ausgeübt werden, "den Staat verantwortlich zu regieren und das Volk von den daraus erwachsenden Notwendigkeiten zu überzeugen. ... Träger des politischen Lebens unseres Volkes müssen darum zwangsläufig in der Demokratie die Parteien sein,,268. Hinzu kommt die "in seiner Plumpheit begründete Ungerechtigkeit" des relativen Mehrheitswahlrechts. Die personalisierte Verhältniswahl dagegen bringt "den Willen des Volkes zum Ausdruck" und öffnet wahren Persönlichkeiten den Weg in die Verantwortung 269 .
Die - späte - Festlegung auf die Verhältniswahl kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Wahlrecht für die F.D.P. immer auch politische Manövriermasse war. Dennoch ist die letztlich gefallene Entscheidung, gemessen an der theoretischen Gesamtorientierung der Partei, konsequent und knüpft entschieden an die Tradition der Linksliberalen an. Der Vorwurf insbesondere an Heuss, sich aus taktischen Gründen in Widerspruch zu seiner früheren Haltung gesetzt zu haben 27o , verkennt diesen tieferen Zusammenhang. 265 Heuss ZfP 20 (1931), S. 312 ff. sowie, in: Pikart, S. 111, 139 (1947); zu Becker vgl. unten S. 81. Eine ähnliche Wendung vollzog Hans Nawiasky: AöR 20 (1931), S. 161 ff. einerseits und Grundgedanken, 1950, S. 81 andererseits. 266 Beschluß Nr. 17 der "Bremer Plattform" vom 11. und 12. 6. 1949, Flechtheim, Dokumente 11, Nr. 125, S. 293 ff. 267 Heuss, NZ vom 11. 6. 1949; Parlamentarischer Rat, PI, 8. Szg., StB S. 132, HA, 52. Szg., StB. S. 696 f. 268 Bremer Plattform, a. a. 0., S. 294. Ähnlich Heuss im Parlamentarischen Rat, HA, 52. Szg., S. 695. In ähnlichem Sinne auch Leibholz, Struktrurprobleme, S. 55, 56 f. mit der von l.S. Mill stammenden Argumentation von der größeren Auswahl des Wählers bei der Verhältniswahl (s. o. A. 1. c)). 269 Ebd. S. 295; ähnlich Becker, Parlamentarischer Rat, PI., 52. Szg., StB S. 702 und Heuss, S. 695. Becker spricht von der "proportionalisierten Mehrheitswahl".
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d) Sonstige Die übrigen am Aufbau der neuen Verfassungsordnung beteiligten Parteien, Zentrum, DP und KPD, erlangten aufgrund der politschen Kräfteverhältnisse keinen maßgeblichen Einfluß auf die Wahlrechtsgestaltung, vertraten aber auch keine wesentlich eigenständigen Positionen: Die KPD trat, ganz in der sozialistischen Tradition, bedingungslos für die reine Verhältniswahl ein271 , die DP verfocht die bürgerlich-liberale Position der Mehrheitswahl 272 und traf sich so mit der CDU. Das Zentrum dagegen, besonders die Abgeordnete Helene Wessei, kämpfte unter Berufung auf das Gerechtigkeitsargument und die Notwendigkeit politischer Vielfalt im Parlament für ein Proportionalsystem273 .
2. Die Diskussion im Parlamentarischen Rat 1948/49 a) Entwicklung bis zum 1. Entwurf des Wahlgesetzes (Februar 1949) Das Herangehen des Parlamentarischen Rates an das Wahlrecht war von Unsicherheit und Vorsicht geprägt. Schon seine Kompetenz, ein Wahlgesetz zu beschließen, war zweifelhaft, weil die für seine Arbeit grundlegenden Frankfurter Dokumente der Alliierten zu diesem Punkt schwiegen. So blieb anfangs unklar, ob das Wahlrecht gesamtstaatlich oder durch die einzelnen Länder geregelt werden sollte. Ursache war die Uneinigkeit der Alliierten über das Maß des wünschenswerten Föderalismus für den zu schaffenden deutschen Staat274 . Hinzu kam die Unsicherheit der Parteien über zukünftige Entwicklungen des Wählerverhaltens und der Parteienlandschaft sowie ein zum Teil noch nicht abgeschlossene parteiinterner Willensbildungsprozeß vor allem bei der F.D.P., aber auch bei den Sozialdemokraten. Dennoch gehört das Wahlrecht zu den im Rat am häufigsten diskutierten Einzelfragen 275 . 270 Etwa seitens des Abg. v. Brentano (CDU), Parlamentarischer Rat, PI., 11. Szg., StB S. 269. 271 Etwa Abg. Renner, Parlamentarischer Rat, HA, 52. Szg., StB S. 693. 272 Siehe oben Fn. 260. 273 Z.B. Abg. Wessel im Parlamentarischen Rat, HA, 52. Szg., StB. S. 691 f.; Abg. Brockmann, ebd. S. 699. 274 Zur Kompetenzfrage: Golay, S. 142 f.; Lange, S. 329 ff.; Rosenbach, Einleitung S. VII ff. und S. XXVI ff. Vgl. auch Otto, S. 166; Seifert, DöV 1956, S. 257. 275 Otto, S. 164; H. Meyer, Wahlsystem, S. 28; Rosenbach, S. XXV: 10% der Arbeitszeit des Hauptausschusses, 30% der Arbeit des Plenums wurden auf Wahl-
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Gemeinsam war allen Parteien die Entschlossenheit, die Fehler des Weimarer Systems nicht zu wiederholen. Dazu gehörte vor allem die Festlegung des Wahlsystems in der Verfassung, welche eine rechtzeitige Reform, in welchem Sinne auch immer, unmöglich gemacht hatte. Man war sich daher einig, wie schon in Herrenchiemsee, in der Verfassung nur die Wahlrechtsgrundsätze Allgemeinheit, Gleichheit, Unmittelbarkeit, Freiheit und Geheimheit festzuschreiben, das Wahlsystem aber nur einfachgesetzlich zu regeln276 . Hinsichtlich des künftigen Wahl systems aber gingen die Ansichten über die aus Weimar zu ziehenden Lehren auseinander: Sollte die Verhältniswahl im Grundsatz beibehalten und lediglich modifiziert werden, oder sollte sie abgeschafft und durch die Mehrheitswahl oder ein Kombinationssystem ohne vollen Verhältnisausgleich ersetzt werden? Die inhaltliche Diskussion im eigens dafür eingesetzten Wahlausschuß ging, nach Ablehnung sowohl der reinen Mehrheits- wie auch Verhältniswahl, von drei verschiedenen Entwürfen aus. Diederichs277 (SPD) schlug ein von weimarer Reformvorschlägen angeregtes System der Verhältniswahl in 6er-Wahlkreisen vor, in denen jeder Wähler drei Kandidaten zu wählen hatte, mit Reststimmenverwertung über eine Bundesliste und Splitterparteienklauseln. Der Entwurf Becke?78 (F.D.P.) enthielt ein Grabensystem, in dem 230 Abgeordnete in Einerwahlkreisen und 170 über Bundeslisten zu wählen waren. "Grabensystem" bedeutet, daß kein alle Mandate erfassender Verhältnisausgleich vorgesehen war. Proportionalität von Stimmen und Mandaten der Parteien war nur hinsichtlich der 170 Listenmandate gewährleistet. KroU 279 (CDU) schlug die Wahl von 300 Kandidaten durch Mehrheitswahl und von weiteren 50 über eine Bundesliste mit Grundmandatsklausel vor, ebenfalls ohne Gesamtverhältnisausgleich. In den anschließenden Beratungen in der 8.-13. Sitzung des Wahlausschusses Anfang November 1948 konnte sich kein Entwurf durchsetzen. Es folgte eine Phase von informellen interfraktionellen Gesprächen, in denen rechtsfragen verwandt (Relevant für die Wahlgleichheit: 7., 8. und 11. Szg. des Plenums (PI.), 44., 52., 53., und 59. Szg. des Hauptausschusses (HA) sowie die 25 Sitzungen des Wahlausschusses (WA». 276 Abg. Diederichs, PI., 7. Szg. vom 21. 10. 1948, S. 109; Abg. Severing und Innenminister Menzel im Landtag NW, 1. WP, StB S. 3660 und 2637 (vgl. auch Jesse, S. 92). Bereits in Herrenchiemsee ebenso (Bericht des Verfassungskonvent, S. 35). Darstellend Wahlrechtskommission 1955, S. 31; v. Mangoldt/Klein, Art. 38, Anm.3. 277 WA-Drs. 178, Debatte in der 8. Szg., 14. 10. 1948, beides bei: Rosenbach, Nr. 8, S. 216 ff. und Fn. 20. 278 WA-Drs. 197, Text bei: Rosenbach, Nr. 11. 279 WA-Drs. 264a, Debatte in der 12. Szg., beides bei: Rosenbach, Nr. 13, S. 408 und Fn. 50.
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1. Teil: Historische Untersuchung
sich sowohl CDU als auch SPD um die F.D.P. bemühten. Erst im November schwenkte die F.DP. dann auf die Linie der SPD ein und es kam zu einer Annäherung auf der Grundlage des modifizierten Diederichs-Entwurfes mit reduzierter Sperrklausel. Damit hatte sich im Ausschuß eine Mehrheit aus F.D.P., SPD, KPD und Zentrum gefunden, welche im Grundsatz ein Verhältniswahlsystem befürwortete. Die CDU war mit dem Versuch gescheitert, auf der Basis des Graben-Entwurfs von Becker eine Einigung mit der F.D.P. zu erzielen und so die Verhältniswahl zu verhindern. Die Ausschußmehrheit vereinfachte in der Folgezeit den Entwurf Diederichi 80 und gelangte so zu einem System der personalisierten Verhältniswahl nach niedersächsischem und nordrhein-westfälischem Vorbild: Eine Stimme pro Wähler, Wahl von 200 Abgeordneten in Einerwahlkreisen, Verhältnisausgleich durch 200 weitere Abgeordnete, die stufenweise zunächst über Landes-, dann über eine Bundesliste gewählt werden sollten. Es gab keine Splitterparteienklauseln 281 . Dieser Entwurf wurde Ende Februar 1949 Gegenstand einer Grundsatzdebatte im Hauptausschuß 282 , in der die isolierte CDU demonstrativ für das einfache relative Mehrheitswahlrecht stimmte. Redner aller Fraktionen begründeten in dieser Debatte noch einmal exemplarisch und fundiert ihre Positionen, ohne daß es zu einer Einigung kam. Die Vorlage des Wahlrechtsausschusses passierte den Hauptausschuß und das Plenum nahezu unverändert gegen die Stimmen der CDU (1. Entwurf)283. Parallel zur Beratung des Wahlgesetzes im Wahlausschuß wurde im Hauptausschuß auch über die Gestaltung des Art. 45 (des heutigen Art. 38) GG diskutiert284 . Sollte dort eine Ermächtigung an den Wahlgesetzgeber aufgenommen werden, Spliuerparteienklauseln vorzusehen? Man war allgemein der Auffassung, daß solche Klauseln einen Eingriff in die Wahl gleichheit und -freiheit darstellten, der nach der früheren Rechtsprechung nur durch die Verfassung selbst legitimiert werden könnte. SPD, F.D.P., KPD und Zentrum, die eine Benachteiligung kleiner Parteien grundsätzlich ab280
sung)
WA-Drs. 266 und 474, Text bei: Rosenbach, Nr. 20 (Synopse und Endfas-
281 Entwurf des Wahlrechtsausschusses vom 4. 2. 1949, Drs. 577, abschließende Beratung in der 23. Szg. des W A, Rosenbach Nr. 25 mit Text des Entwurfs sowie Erörterungen zum Parteienprivileg und zu Überhangmandaten. 282 HA, 52. Sitzung vom 22. 2. 1949. 283 PI., 8. Sitzung am 24. 2. 1949, S. 125 ff.; Endfassung: ParI. R.-Drs. 53, bei: Rosenbach, Nr. 26; zur Abstimmung vgI. Lange, S. 362. 284 HA, 2. Szg., 11. 11. 1948, StB S. 7 ff. (1. Lesung), 30. Szg, 6. 1. 1949, StB S. 369 ff. (2. Lesung); dazu vgI. Frotscher, DVBI. 1985, S. 917, 926. Wenn im HA auch von "Freiheit" der Wahl die Rede ist, meint das richtigerweise wohl "Gleichheit" der Wahl, wie sich aus den vorgetragenen Argumenten ergibt. Auch die Bezugnahme auf die Rechtsprechung des RStGH zeigt das.
c.
Entwicklung unter dem Grundgesetz
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lehnten, konnten sich schließlich durchsetzen, ein Sperrklauselvorbehalt wurde nicht in die Verfassung aufgenommen. b) Intervention der Alliierten und 2. Entwurf Am 1. März 1949 überreichten die alliierten Militärgouverneure dem Parlamentarischen Rat eine Stellungnahme zu den bisherigen Entwürfen des Grundgesetzes und des Wahlgesetzes, in der sie allgemein eine zu wenig föderalistische Struktur des Grundgesetzes bemängelten. Hinsichtlich des Wahlrechts rügten sie, gestützt auf den Wortlaut der Frankfurter Dokumente, die fehlende Zuständigkeit des Rates. Sie empfahlen, im Grundgesetz nur die Zahl der in jedem Land zu wählenden Abgeordneten zu bestimmen, die eigentliche Wahlgesetzgebung aber den Ländern zu überlassen, eventuell nach dem Modell des vom parlamentarischen Rat erarbeiteten Entwurfes 285 . Die Gründe für diese Haltung sind nicht restlos klar, die bekannten Äußerungen der Militärregierungen geben keinen vollständigen Aufschluß über die Motive. Am wahrscheinlichsten ist die Vermutung, daß vor allem Frankreich, aber auch die USA eine zentralisierende Wirkung des Wahlrechts verhindern und so den Föderalismus stärken wollten, zumal auch in den USA selbst das Wahlverfahren grundsätzlich von den Einzelstaaten geregelt wird. In der Literatur finden sich auch darüber hinausgehende Spekulationen 286 . So könnte die Alliierte Intervention ein Versuch gewesen sein, die Entscheidung zugunsten der Verhältniswahl rückgängig zu machen, um auf diese Weise einer von den Amerikanern erwünschten sicheren CDUMehrheit bei der nächsten Wahl Vorschub zu leisten beziehungsweise, aus Sicht der Franzosen, die Organisation der Parteien zu dezentralisieren. In der Tat hätte wohl eine Wahlgesetzgebung durch die Landtage eher zur Mehrheitswahl geführt. Deren Einführung in den CDU-beherrschten Ländern Bayern, Südbaden und Württemberg-Hohenzollern hätte nämlich die SPD genötigt, in den Ländern mit sozialdemokratischer Mehrheit gleichzuziehen, um keine Mandate an die CDU zu verschenken 287 .
In den folgenden Wochen beschäftigte sich die deutsche Seite mit den Wünschen der Alliierten, zeigte aber wenig Entgegenkommen. Nur die CDU versuchte auf Betreiben von Konrad Adenauer, die gebotene Chance zu nutzen und doch noch zur Mehrheitswahl zu kommen 288 • Beendet wurde 285 Lange, S. 363 ff.; Rosenbach, S. XXXV f.; jeweils mit auszugsweiser wörtlicher Wiedergabe. 286 Golay, S. 142 ff.; Lange, S. 365 ff. 287 In diesem Sinn Adenauer am 22. 3. 1949 an Ehard und Amold, wiedergegeben bei Lange, S. 367. Darstellung mit Nachweisen bei Rosenbach, Einleitung, S. XXXVII und Fn. 180.
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1. Teil: Historische Untersuchung
das Taktieren von den Ministerpräsidenten der Länder, die den Rat aufforderten, rasch ein bundeseinheitliches Wahlgesetz mit 2/3-Mehrheit zu verabschieden, um endlich den Dezentralisierungbestrebungen insbesondere der Franzosen entschieden und geschlossen gegenübertreten zu können 289 • Die Militärgouverneure gingen darauf ein und gaben dem Parlamentarischen Rat mit Schreiben vom 14. 4. 1949 die Kompetenz zur Festlegung des Wahlsystems, während das Verfahren, die "electoral machinery", weiterhin Ländersache sein sollte. Eine Verwertung von Reststimmen auf Bundesebene blieb untersagt290. Der Wahlausschuß modifizierte auf dieser Grundlage seinen 1. Entwurf291 , indem er die Bundesliste durch Landeslisten ersetzte. Außerdem bezeichnete er ihn als "Rahmengesetz", das zwingende Vorschriften über das Wahlsystem enthielt und von den Ländern zusammen mit ausfüllenden Verfahrensvorschriften als Landesgesetz erlassen werden sollte. Die endgültige Formulierung wurde wiederum Diederichs und Becker übertragen. Die CDU forderte dagegen erneut ein Grabensystem sowie, als neue Forderung, die Einführung von speziellen Vertriebenenwahlkreisen, was aber von SPD und F.D.P. mit Hinweis auf die Wahlgleichheit ebenfalls abgelehnt wurde. Der Hauptausschuß strich die Bezeichnung "Rahmengesetz" wieder, so daß das Gesetz unmittelbare Geltung erlangte und die Länder nurmehr das Verfahren betreffende Ausführungsvorschriften zu erlassen hatten. Das Plenum billigte diesen 2. Entwurf mit einer Mehrheit von 36 : 29 gegen die Stimmen von CDU/CSU und DP, welche erneut für die relative Mehrheitswahl votierten 292 . Die von den Ministerpräsidenten geforderte 2/3-Mehrheit war damit verfehlt, das Wahlgesetz beruhte, anders als das Grundgesetz, nicht auf einem übergreifenden Konsens der Parteien. Dennoch wurde es am 23. Mai - ohne ausdrückliche Genehmigung der Militärregierungen - zusammen mit diesem verkündet.
Lange S. 372; vgl. den Adenauer-Brief vom 22. 3. 1949, oben Fn. 287. Königsteiner Entschließung der Ministerpräsidenten vom 24. 3. 1949, abgedruckt bei Lange, S. 379 und Rosenbach, Einleitung, S. XLI. Um diese Zeit fanden in Paris 6-Mächte-Verhandlungen über Veränderungen der deutschen Westgrenze statt, von denen die süddeutschen Ministerpräsidenten beunruhigt wurden. Gerade ihnen kam es daher auf die Demonstration von Geschlossenheit an, weshalb sie die Ziele der CDU in der Wahlrechtsfrage hintanstellten (vgl. Lange, S. 378). 290 ParI. Rat-S-, Drs. 55; Wortlaut auch bei Rosenbach, Nr. 27, Fn. 5. 291 WA, 25. Szg. vom 5.5. 1949, Rosenbach Nr. 28 und Nr. 29 (Synopse). 292 PI., 11. Sitzung vom 10. 5. 1949, S. 245, 269. Endfassung abgedruckt in: Drs. 924; zur Abstimmung: NZ vom 12. 5. 1949, S. 1 f. (abgedruckt bei Lange, S. 386). 288
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c) Erneute Stellungnahme der Alliierten und Endfassung der Ministerpräsidenten Die Alliierten reagierten auf das Wahlgesetz, welches ihre Forderungen zum 1. Entwurf nur sehr zurückhaltend und ohne deutliche Mehrheit umgesetzt hatte, am 28. 5. 1949 mit der Aufforderung an die Ministerpräsidenten zur Änderung einzelner Passagen. Außerdem sollten sie das Gesetz mit "erheblicher" Mehrheit billigen und - im Rahmen der im Schreiben vom 14. 4. 1949 den Ländern vorbehaltenen Kompetenz zu Regelung der "electoral machinery" - gegebenenfalls Änderungen vorschlagen, die eine solche Mehrheit ermöglichen würden 293 . Zuvor hatte der französische Außenminister Schuman informell bei Adenauer als Präsident eine erneute Beratung im parlamentarischen Rat angeregt, um doch noch eine übergreifende Mehrheit zu finden. Adenauer jedoch gab diesen Vorstoß nicht weiter und verhinderte damit endgültig die Verabschiedung eines kompromißfähigen Wahlgesetzes durch den Rae94 . Den Hintergrund der Ereignisse bildete die Pariser Konferenz der Siegermächte. Frankreich und die Sowjetunion versuchten dort, die von Briten und Amerikanern vorangetriebene Etablierung eines westdeutschen Staates im letzten Moment zu verhindern. Dabei kam dem Wahlgesetz als Voraussetzung für die Konstituierung der Organe der künftigen Bundesrepublik eine Schlüsselfunktion zu, so daß es auch zum Zankapfel zwischen den Militärregierungen wurde: Amerikaner und Briten drängten "ihre" Ministerpräsidenten zur raschen Entscheidung und zu Beschränkung der Diskussion auf die beanstandeten Detailfragen, während Schuman den Seinen die Notwendigkeit eines übergreifenden Kompromisses und die Möglichkeit der Änderung aller wesentlichen Punkte des Gesetzes einschärfte 295 • Zur endgültigen Fassung des Wahlgesetzes kam es dann am 31. 5. und 1. 6. 1949 auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Bad Schlangenbad. Die südwestdeutschen Ministerpräsidenten und die der CDU-geführten Länder unter Führung von Gebhard Müller aus Württemberg-Hohenzollern und Karl Amold aus Nordrhein-Westfalen setzten sich für weitreichende Modifikationen im Sinne der Vorstellungen der CDU ein. Im einzelnen forderten sie die Einführung von Nachwahlen beim Ausscheiden eines Abgeordneten, die Verschiebung des Verhältnisses von Direkt- und Listenmandaten zugunsten der ersteren und, vor allem, die Einführung einer Sperrklausel der Art, daß nur Landeslisten solcher Parteien Berücksichtigung finden sollten, die im Lande mindestens ein Direktmandat errungen hatten. Gegen die Sperr293 ParI. Rat, -S- Drs. 76, (P.R. 5.49), abgedruckt bei Lange, S. 391; zur Interpretation des etwas vage gehaltenen Schreibens Lange, S. 389; Golay, S. 145. 294 Zu den Ereignissen ausführlich Lange, S. 389 f. 295 Lange, S. 391 ff.
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klausel wandten sich die SPD-Ministerpräsidenten, aber auch diejenigen von der CDU, die in den Stadtstaaten möglicherweise selbst von der Sperrklausel betroffen worden wäre. Den Ausschlag gab indes der Widerstand des F.D.P.-Ministerpräsidenten von Württemberg-Baden, Reinhold Maier. Auch der Vorschlag einer abgeschwächten Sperrklausel von einem Direktmandat im Bundesgebiet verfiel der Ablehnung durch Maier und die SPD-Ministerpräsidenten. Unter dem starken Einigungsdruck von Seiten der Amerikaner und Briten willigte Maier schließlich in eine Sperrklausel in Form eines Quorums von 5 % der Stimmen im Bundesgebiet ein, die zusammen mit der zuerst vorgeschlagenen Grundmandatsklausel ins Gesetz eingefügt wurde. Nachdem auf diese Weise ein Komprorniß zwischen CDU und F.D.P. zustandegekommen war, fügten sich letztendlich auch die SPDMinisterpräsidenten ins Unvermeidliche und gaben ihre Zustimmung 296 • Der Komprorniß beinhaltete nun ein Verhältnis von Listen- zu Direktmandaten von 40 : 60 und eine Splitterparteienklausel in Gestalt des Erfordernisses von einem Direktmandat oder 5 % der Stimmen im Bundesgebiet als Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich und wurde, zusammen mit der Einwilligung in die meisten der von den Alliierten angeregten Detailänderungen, den Militärgouverneuren unverzüglich mitgeteilt297 . Diese billigten die meisten Punkte und beanstandeten lediglich den Bezug der Sperrklausel auf das Bundesgebiet. Obwohl und weil diese, ebenso wie der Anteil der Listenmandate, als Regelung der "electoral machinery" und nicht des Wahlsystems Sache der Länder und nicht des parlamentarischen Rates sei, dürfe sie nicht auf das Bundesgebiet, wie von den Ministerpräsidenten beschlossen, sondern nur auf die einzelnen Länder bezogen werden. Mit dieser Maßgabe wurden die Ministerpräsidenten zum möglichst raschen Erlaß des Wahlgesetzes ermächtigt298 . In den folgenden zwei Wochen protestierten Vorstände und Ministerpräsidenten von SPD und FDP heftigst gegen das in Bad Schangenbad beschlossene Gesetz. Es wurde undemokratisches Verhalten der Alliierten und ein Verstoß gegen den soeben genehmigten Art. 137 Abs. 2 GG behauptet, demzufolge das Wahlgesetz für den ersten Bundestag vom parlamentarischen Rat hätte beschlossen werden sollen299 . Die Militärgouverneure beriefen sich dagegen auf die nur unter dem Vorbehalt der Korrektur des Wahlgesetzes erfolgte Ratifikation des Grundgeset296 Rekonstruktion und Darstellung der Diskussion bei Lange, S. 395 ff. Das Abstimmungsverhalten selbst ist im einzelnen nicht überliefert, vgl. Lange Fn. 15. 297 Brief vom 1. 6. 1949, Parl.Rat,-S-, Drs. 79. 298 Brief vom 1. 6. 1949 (noch am gleichen Tag!), ParI. Rat,-S-, Drs. 78. 299 Der Streit kulminierte in einer chaotischen Sitzung des Übergangsausschusses aus parlamentarischem Rat und Ministerpräsidenten, Lange 401 f.
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zes durch die Landesregierungen und beendeten die Kontroverse durch ein Schreiben vom 13. 6. 1949, in welchem sie die Ministerpräsidenten kraft ihrer zu diesem Zeitpunkt noch nicht vom Besatzungsstatut eingeschränkten obersten Besatzungsgewalt anwiesen, das Wahlgesetz umgehend in Kraft zu setzen300 . Das geschah am 15.6. 1949301 . Nach dem fertigen Gesetz hatte jeder Wähler eine Stimme. 60% der Abgeordneten (242) wurden in Einerwahlkreisen gewählt, die übrigen 40% (158) über Landeslisten der politischen Parteien302 . Die Verteilung der Mandate auf die Länder richtete sich nach einem festen Schlüssel (§ 8 Abs. 1). Die jeweils von den Parteien errungenen Direktmandate wurden auf ihre Listenmandate angerechnet, so daß im Ergebnis voller Proporz hergestellt wurde. Ein Ausgleich von Überhangmandaten war nicht vorgesehen (§ 10 Abs. 3 S. 2). An der Listenverteilung konnten in jedem Land nur die Parteien teilnehmen, die im Land wenigstens ein Direktmandat errungen (§ 10 Abs. 5) oder aber 5 % der Stimmen auf sich vereinigt hatten (§ 10 Abs.lV).
3. Die Diskussion im Bundestag 1952 bis 1956 Im 1. und 2. deutschen Bundestag, zwischen 1952 und 1956, wurde der im Parlamentarischen Rat begonnene Kampf um das Wahlrecht weitergeführt 303 • Auslöser war jeweils die Notwendigkeit, ein neues Wahlgesetz für die folgende Wahl zu verabschieden, denn sowohl das Gesetz von 1949 als auch das von 1953 galten nur für die nächstfolgende Wahl. Neue Argumente tauchten in den Debatten nicht auf, die Parteien beharrten im Wesentlichen auf ihren Positionen. Veranlassung zu neuerlicher Diskussion gab aber die Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag, so daß die Auseinandersetzung, besonders in der ersten Wahlperiode, wenig sachlich und von polemischer Schärfe geprägt war304 . Ausgangspunkt der Verhandlungen im 1. Bundestag 1952/53 war der Wahlgesetzentwurf von Innenminister Lehr305 , der ein außerordentlich kom300 Auszugsweise wiedergegeben in: NZ vom. 15. 6. 1949 (zitiert bei Lange, S. 404, Fn. 41 passim mit Angaben zu weiteren Fundstellen). 301 BGBl Nr. 2 (Auszugsweise bei NohlenNogellSchultze, Anhang, Quelle Nr. 11, S. 403 f.). 302 In der 23. Szg. des WA am 4. 2. 1949 (Rosenbach Nr. 25 S. 713 ff.) wurde ausführlich diskutiert, ob auch, wie zunächst vorgesehen, "Wählervereinigungen" Listen aufstellen können sollten. Auf Initiative von Diederichs (SPD) wurde diese gestrichen. 303 Ausführliche Dokumentation bei Lange, Wahlrecht und Innenpolitik, S. 411588. Ferner Jesse, Wahlrecht, S. 98 ff., 158 ff.; Füßlein, DöV 1957, S. 601. 304 Vor allem die chaotische 3. Lesung des Gesetzes von 1953, 1. WP, 276. Szg., StB S. 13741 ff.
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pliziertes Grabensystem mit Haupt- und Nebenstimme vorsah. Innerhalb von Listenverbindungen befreundeter Parteien sollte ein "interner Proporz" stattfinden. Der Entwurf verfolgte unverblümt den Zweck, die CDU und die beiden mit ihr koalierenden Parteien DP und F.D.P. gegenüber der SPD zu begünstigen, die keinen potentiellen Koalitionspartner hatte. Wegen seiner Unverständlichkeit und offensichtlichen Ungerechtigkeit fand der Lehr'sche Entwurf aber noch nicht einmal innerhalb der CDU-Fraktion ungeteilte Zustimmung, SPD und F.D.P. stellten sich gegen ihn 306 . Der Erfolg war ein beträchtlicher Glaubwürdigkeitsverlust der Regierung; die weitere Debatte drehte sich dann wieder um die bereits geläufigen Alternativen: einfaches Grabensystem oder personalisierte Verhältniswahl. Letztere war Gegenstand des Entwurfes von Onnen (F.D.P.)307, der im Unterschied zum Wahlgesetz von 1949 das noch heute geltende Zweistimmensystem vorschlug, womit er äußerlich an den Lehr'schen Entwurf anknüpfte. Inhaltlich sollte so die Personalisierung gestärkt werden und - mehr oder weniger deutlich ausgesprochen - die Möglichkeit von Wahlabsprachen etwa zwischen CDU und F.D.P. eröffnet werden, was von der SPD moniert wurde 308 . Im Übrigen übernahm der Vorschlag das System von 1949 und wurde fast unverändert mit den Stimmen von SPD, F.D.P. und der Mehrheit der CDU angenommen 309 . 1955/56 erhielt das BWahlG dann seine endgültige Form. Die CDU, seit der Wahl 1954 mit absoluter Mehrheit im Bundestag, unternahm den letzten Vorstoß, die relative Mehrheitswahl oder wenigstens ein Grabensystem durchzusetzen 3\O, scheiterte jedoch wiederum. Grund dafür war der Widerstand von F.D.P. und BHE, die beide an der zweiten Regierung Adenauer beteiligt waren. Außerdem war die Regierung bemüht, in Sachen Wiederbewaffnung zu einem Einvernehmen mit der SPD zu gelangen3!!. Druckmittel der Gegner des Grabensystems war neben der öffentlichen Meinung, die einen Machtmißbrauch der CDU zu Lasten der kleinen Parteien witterte, 305 BT-Drs. 114090 (abgedruckt bei Vogel/Nohlen/Schultze, Anhang, Quelle Nr. 12). 306 1. WP, 253. Szg., StB S. 12179 ff. 307 In der durch de WA leicht modifizierten Fassung: Drs. 1/4450 (Synopse aller Entwürfe). 308 Füßlein, DöV 1957, S. 601, 603; etwa Abg. Schneider (F.D.P.) 2. WP, StB S. 5322; ausführliche Darstellung der Motive bei Jesse, S. 261 ff. und bereits Thoma, Gutachten für den Wahl ausschuß des Parlamentarischen Rates, bei: Rosenbach, Nr. 2, S. 25 f. 309 BGBI I (1953), S. 470 ff., auszugsweise abgedruckt bei Vogel/Nohten/ Schultze, Anhang, Quelle Nr. 11, S. 405 ff.). 310 Entwurf Stücklen, BT-Drs. 2/1494 (relative Mehrheitswahl) und Entwurf Hilbert im W A, wiedergegeben bei Lange, S. 63 (Grabensystem). 311 Jesse, S. 103; Lange, Wahlrecht und Innenpolitik, S. 637 ff.
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die Beteiligung der F.D.P. an zahlreichen Landesregierungen. So war die Wahlrechtsfrage die Ursache für den Sturz der Regierung Amold in Nordrhein-Westfalen durch die erste sozialliberale Koalition unter Ministerpräsident Fritz SteinhoJf sowie für den Austritt der F.D.P. aus der Bundeskoalition 312 . Im Ergebnis einigte man sich - gegen die Stimmen von DP und CSU313 - auf die vorsichtige Weiterentwicklung des Gesetzes von 1953, wiederum auf der Grundlage eines F.D.P.-Entwurfes 314 . Neu war vor allem die faktische Einführung des Bundesproporzes anstelle der früheren Verrechnung ausschließlich auf Länderebene. Grund war das Streben nach besserer Reststimmenverwertung, die vor allem F.D.P. und SPD zugute kommen sollte315 •
4. Begründungsansätze in der Literatur a) Hermens und Unkelbach Der rührigste Wahlrechtstheoretiker der ersten beiden Jahrzehnte der Bundesrepublik ist Ferdinand A. Hennens, der sich mit fast "religiösem Fanatismus 316" für die Mehrheitswahl einsetzte. An seiner Seite steht der in der Deutschen Wählervereinigung (DWV) aktive Mathematiker Helmut Unkelbach. Sie bedienen sich einer soziologisch-naturwissenschaftlichen Methode. 317 Ausgangspunkt ihrer Untersuchungen ist folgende Überlegung: das Wahlsystem, und damit auch die Wahlgleichheit, müssen von ihrem funktionalen Zweck im Staat her bestimmt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, daß durch das Wahlsystem selbst die politische Entwicklung der Parteien beeinflußt wird, daß also eine wirkliche "Abbildung" der Wirklichkeit, wie sie von den Theoretikern der Verhältniswahl gefordert wird, überhaupt nicht 312 lesse, S. 107; Lange, Wahlrecht und Innenpolitik, S. 637 ff. und Wahlrechtsstreit, S. 128 ff. 313 2. WP, 134. Szg, StB. S. 6934, 6957 ff.; Lange, S. 709 f. 314 BT-Drs. 2/1444. 315 Füßlein, DÖV 1957,601,602; Nass, DVBl. 1969, S. 424; Seifert, DöV 1956, S. 257, 258; Wahlrechtskommission 1955, S. 17 ff. Damit einher ging die Abschaffung der festen Zahl der auf die einzelnen Länder entfallenden Abgeordneten. Das Gesetz ist verkündet in BGBl. I (1956), S. 383 ff. 316 So W. lellinek, SJZ 1946, S. 11, 12. 317 Hennens: Demokratie oder Anarchie, 2. Auflage 1968; 1. Auflage 1951; Urfassung (Democracy or Anarchy) 1941; Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht?, 1949. Unkelbach, Grundlagen der Wahlsystematik, 1956; ferner Maurice Duverger, Die politischen Parteien und die Demokratie, Der Wähler 1 (1947), S. 26 ff. Ähnlich, wenn auch undeutlicher, Karl-Heinz Seifert, DöV 1953, S. 42, 43; wohl auch Andreas Hamann, DöV 1051, S. 288, 290 trotz unklarer Terminologie.
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möglich ist. Schon durch die Art der Fragestellung wird der Inhalt des zu ermittelnden Volkswillens beeinfluße 18 . Es gilt also, erstens, die Aufgabe der Wahl in der zu untersuchenden Staatsform zu ermitteln und, zweitens, die politischen Auswirkungen der einzelnen Wahlsysteme zu untersuchen. Dann erst kann bestimmt werden, welches Wahlsystem für welchen Staat das Richtige ist. In der Demokratie, definiert als "Regierung durch gewählte Vertreter"319, ist Aufgabe der Wahl die Kreation und Unterstützung der Regierung, die Benennung der "politischen Führer" des Staates durch die "geführten" Bürger320 . Anders ist das etwa in der konstitutionellen Monarchie, wo es um die Kontrolle der monarchischen Regierung und die Vertretung möglichst aller in der Gesellschaft lebendigen Interessen gegenüber dem Monarchen durch das gewählte Parlament geht 321 . Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie ist die Handlungsfähigkeit und die Stabilität der vom Volk gewählten Regierung. Die Auswirkungen von Wahlsystemen bezeichnen Hermens und Unkelbach mit zwei Schlüsselbegriffen: Die Verhältniswahl, also ein Wahlsystem, das auf Abbildung jeder Stimme und jeder Meinung gerichtet ist, führt zur parteipolitischen ,,Desintegration". Denn die Wähler werden nicht danach befragt, welche Regierung sie wünschen, sondern welcher Gruppe sie sich zugehörig fühlen. Dadurch werden die Parteien zur Abgrenzung voneinander, zur Spezialisierung auf eine bestimmte Klientel gezwungen, weil reine Interessenparteien bessere Wettbewerbschancen erhalten als solche mit einer politischen Gesamtkonzeption. Die relative Mehrheitswahl, als Gegenbeispiel, führt dagegen zur ,Jntegration". "Integration" bedeutet Konzentration und Mäßigung der politischen Kräfte in Richtung auf ein Zweiparteiensystem sowie eine stabile Parlamentsmehrheit. Sie wird definiert als "Vermeidung der Aktivierung politischer Gegnerschaft zwischen den Parteien,,322. Unkelbach, Grundlagen, S. 52. Hermens, Demokratie oder Anarchie, S. 157. 320 Hermens, Demokratie oder Anarchie, S. 6 f., Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht, S. 14 ff.; vgl. auch Scheuner, Das repräsentative Prinzip in der modemen Demokratie (1961), in: Gesammelte Schriften, S. 245, 255: "Es entspricht nicht dem Sinn des repräsentativen Systems, dem Volke die unmittelbare Einwirkung in Gestalt von Sachentscheidungen zu geben, sondern ihm personale Entscheidungen, nämlich Auswahl seiner Vertreter ... zu übertragen. Das Volk übt hier einen Akt des Vertrauens, der Übertragung von Macht zu verantwortlichen Ausübung aus" (Ebenso schon "Die Parteien und die Politische Leitung in der Demokratie" (1958), ebd. S. 347, 354). 321 Hermens, Demokratie oder Anarchie, S. 2 ff. 322 Unkelbach, Grundlagen, S. 27 f. sowie These 12 u. 13; Hermens, Demokratie oder Anarchie, S. 4, S. 8. 318
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Die Stabilität der demokratischen Regierung ist nur dann gewährleistet, wenn das Wahl system ein "hinreichend starkes Element der parteipolitischen Integration" enthält323 . Das ist insbesondere dann nicht der Fall, wenn die Regierungsbildung regelmäßig durch Koalitionen von verschiedenen, auseinanderstrebenden Parteien erfolgen muß. Die Verhältniswahl ist folglich kein geeignetes Wahl system für die Demokratie, ja sie führt fast zwangsläufig zu ihrer Zerstörung, zur "Anarchie". Durch die Auffacherung und Radikalisierung des Parteien spektrums wird ein "gesunder Wechsel" zwischen Regierung und Opposition verhindert und ein stringenter, entschlossener Regierungskurs unmöglich gemacht. Eine Demokratie mit Verhältniswahl ist deshalb nicht krisenfest und führt zu Unzufriedenheit und Entfremdung der Bevölkerung vom Staat. Der größte Teil des Werkes von Hermens ist dem empirischen Nachweis der zerstörerischen Wirkung der Verhältniswahl gewidmet, wobei naturgemäß die Analyse der Weimarer Republik den breitesten Raum einnimmt. Aber auch für zahlreiche andere Staaten weist er nach, daß und auf welche Weise die Einführung der Verhältniswahl zum Zerfall der rechtsstaatlichen Ordnung geführt hat. Im Fall der Bundesrepublik, deren raschen Untergang er wegen der auch hier geltenden Verhältniswahl zunächst prophezeit324, erklärt er das vorläufige Ausbleiben der Anarchie mit bloß momentan gegebenen wirtschaftlichen und weltpolitischen Faktoren 325 . Für die Wahl gleichheit in der Demokratie folgt aus diesem Ansatz, daß Erfolgswertgleichheit und "spiegelbildliche Gerechtigkeit" keine relevanten Kriterien sind, denn sie lassen "sich nicht auf eine widerspruchsfreie und der politischen Wirklichkeit adäquate Weise definieren,,326. Das Wahlrecht ist ausschließliche Staatsfunktion, nicht Individualrecht: "Zu den ,Rechten' ... , die keine Funktion und daher auch keinerlei moralische Berechtigung besitzen, gehört der Anspruch auf eine der Wählerschaft der Partei genau entsprechende Mandatszahl ,,327. Geistiger Hintergrund von Hermens und Unkelbach ist das funktionalistische Staatsverständnis auf der Grundlage der liberalen Theorie und der christlichen Staatslehre. Sie werden damit zu den Ideologen der bürgerlichen Sammelbewegung CDU in Wahlrechtsfragen und entfalten als solche bis Ende der 60er Jahre eine beträchtliche Wirksamkeit, werden zum Motor der gescheiterten Wahlreform der großen Koalition.
323 324 325
326 327
Unkelbach, Grundlagen, These 10. Hennens, Demokratie oder Anarchie, 1. Auflage, S. 378. Vorwort zur 2. Auflage, S. VI. Unkelbach, Grundlagen, These 37. Hennens, Demokratie oder Anarchie, S. 59 f., S. 61 f., S. 66.
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1. Teil: Historische Untersuchung
b) Sternberger Obwohl im Ergebnis und in zahlreichen Argumenten übereinstimmend, verfolgt Dolf Sternberger328 , der Mentor der Deutschen Wählervereinigung und ebenfalls von Haus aus Mathematiker, einen grundverschiedenen Ansatz. Ausgangspunkt seiner Betrachtungen ist der einzelne Wähler, der Staat ist für ihn die Summe seiner Bürger. In der Demokratie ist das Wahlrecht die politische Haupteigenschaft des Bürgers 329 . Das Wahl system muß daher so angelegt sein, daß die politische Entscheidung so nah wie möglich zum Wähler verlagert wird. Das ist der Fall, wenn bereits der Bürger selbst eine Entscheidung im Sinne der Auswahl einer von mehreren Möglichkeiten trifft. Nur dann ist die Wahl eine echte Entscheidung, der ein diskursiver Prozeß der Auseinandersetzung zwischen den Wählern vorangeht. "Der Prozeß der Mehrheitsbildung muß auf der Stufe des Einzelnen Wählers ablaufen, weil nur so eine sittliche, von Geist und Gewissen bestimmte Entscheidung zustandekommt. ,.330 Die Verhältniswahl leistet das nicht, weil hier jede Stimme zum Zuge kommt, keine unterliegt: es findet keine Entscheidung bereits auf der Ebene des Wählers statt, sondern nur eine Bestandsaufnahme. Der Wähler wird vom Entscheidungsträger zum "Stimmvieh,,33l, das Ergebnis ist die Abbildung der Summe von Einzelwillen (volonte de tous), kein gemeinsam gebildeter Gesamtwille (volonte generale)332. Es handelt sich daher eigentlich gar nicht um "Wahl", sondern um "Abbildung,,333. Bei der Mehrheitswahl, also der Wahl in Einerwahlkreisen, entsteht dagegen bereits innerhalb der Wahlkreise der Zwang zur Einigung, zum Komprorniß. Es kommt zu einem diskursiven Prozeß zwischen den Anhängern der verschiedenen Kandidaten, im Idealfall einigen sich alle auf einen Kandidaten. Die Einigung wenigstens der Mehrheit auf einen gemeinsamen Kandidaten ist das Menschenmögliche334 . Konsequenterweise hält Sternbergeer die absolute Mehrheitswahl in zwei Wahlgängen für besser als die relative, denn sie fördert die Einigung einer größeren Mehrheit335 . 328 Sternberger, Die Große Wahlreform, 1964, enthält die wesentlichen Schriften und Reden zum Thema. Bedeutsam sind insbesondere: Über die Wahl, das Wählen und das Wahl verfahren (1946), S. 13 ff.; Macht und Ohnmacht des Wählers (1947), S. 57 ff.; Die Macht dem Wähler! (1949), S. 60 ff.; Eine umstrittene Sache (1956), S. 146 ff. 329 Sternberger, S. 60, 63; auch 70, 75. 330 Sternberger, S. 13, 25 ff.; insbes. S. 26 f. 331 Sternberger, S. 70, 75. 332 Sternberger, S. 13, 24. 333 Sternberger, S. 13, 19 f. 334 Sternberger, S. 13, 17. 335 Sternberger, S. 13, 16.
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Eine politische Wahl in diesem Sinne kann es immer nur zwischen Personen geben, nicht zwischen Parteien: diese vertreten entgegen ihrem Anspruch nicht den politischen Willen der Bürger, sondern bilden ihn erst. Es handelt sich bei der Parteiendemokratie daher um mittelbare Demokratie 336 • Vermittels der Mehrheitswahl stehen die gewählten Vertreter im Parlament stets ganz persönlich unter dem Druck ihrer Wähler, vor denen sie sich rechtfertigen müssen und die sie gegebenenfalls bei der nächsten Wahl abwählen können. Auf diese Weise wird das Verhältnis Wähler-Gewählte enger, der Einfluß des Volkes auf die Regierung größer337 . Dasselbe bewirken die praktischen Folgen der Mehrheitswahl, bei deren Beschreibung Sternberger sich auf die Untersuchungen von Hermens stützt: Zweiparteiensystem und Regierungsstabilitäe 38 . Die Wahl ist für Sternberger ein Entscheidungsprozeß mit inhaltlich-gestaltender Funktion. Die demokratische Gleichheit muß beim Wahlvorgang selbst gewährleistet sein. Das Ergebnis, die Vergabe des einzelnen Mandats, ist dagegen bereits die Entscheidung, bei der nach dem demokratischen Mehrheitsprinzip die Minderheit unterliegen muß. Auf den Erfolgswert der Einzelstimme im Sinne des Vertretenseins im Parlament kommt es daher nicht an Sternbergers Ansatz läßt sich nicht eindeutig einer der beiden in Deutschland traditionell vertretenen Wahltheorien zuordnen: Einerseits sieht er das Recht des Einzelnen zur Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten als Element der Freiheit und zur Natur des Menschen gehörig an, nimmt also einen individualistischen, naturrechtlichen Standpunkt ein. Seine Terminologie lehnt sich daher bei Rousseau an, die Notwendigkeit von Parlament und Wahl überhaupt begründet er in diesem Sinne mit der bloß technischen Unmöglichkeit einer Regierung durch das Volk selbst aufgrund seiner großen Zahe 39 .
Bei der daran anschließenden Frage, auf welche Weise die Einzelwillen am besten zur Geltung gebracht werden können, verläßt er dann aber die traditionellen Bahnen der individualistisch-demokratischen Wahlrechtstheorie und greift auf das etwa von Kaufmann und Schmitt in der Weimarer Zeit entwickelte Gedankengut zurück, wenn er als "Wahl" überhaupt nur die "Auswahl", die dialektische Entscheidung gelten läßt und dem Vorgang des Wählens als solchem die Kraft zumißt, den richtigen Volkswillen zu erzeugen340 .
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Stemberger, S. 57, 59. Stemberger, S. 146, 148 ff. Etwa Stemberger, S. 60, 66 und S. 146, 153. Etwa Stemberger, S. 146, 149 und S. 13, 24.
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Sternbergers individualistisch-demokratische Begründung der Mehrheitswahl ist in Deutschland neu. Sie beruht einerseits auf der Ablehnung von Parteien als entscheidende Mittler des Volkswillens - im Gegensatz zur sozialdemokratischen Vorstellung aus dem 19. Jahrhundert. Andererseits widerspricht er aber auch der funktionalistischen Deutung der Wahl als reinen Kreationsvorgang und erkennt nur den individuellen Willen der Wähler als maßgeblich an. Im Ergebnis vertritt er damit das in Frankreich am Ende des 19. Jahrhunderts geltende System. Sternberger ist beseelt von den ganz auf das Individuum hin orientierten Wertvorstellungen des Grundgesetzes und hegt tiefes Mißtrauen gegen jede Art von Parteien- und Funktionärswirtschaft - beides als Gegensatz zum Kollektivismus von Kommunisten und Nationalsozialisten und als Lehre aus dem Versagen der Parteien in Weimar.
Für die Wahlgleichheit bedeutet Sternbergers Lehre zunächst ebenfalls die Irrelevanz des Kriteriums der Erfolgswertgleichheit, da es bei ihm nicht auf das Vertretensein im Parlament, sondern auf die Teilnahme an der Wahl ankommt. Anders als für Hermens ist die Wahl für ihn aber nicht nur ein förmliches Verfahren zur Schaffung von Mehrheiten, sondern bereits selbst Entscheidungsprozeß mit inhaltlich gestaltender Funktion. Die Gleichheit ist bei Sternberger daher wohl nicht formelle Zählwertgleichheit, sondern Chancengleichheit aller Wähler bei der Teilnahme am Entscheidungsprozeß. Bei einem einaktigen Wahlverfahren wie der Mehrheitswahl ist das allerdings kein Unterschied, weshalb Sternberger darauf nicht explizit eingeht341 . c) Leibholz und die Anhänger der "demokratischen" Richtung Während die Anhänger der Mehrheitswahl nach dem Krieg umfangreiche neue Begründungsmuster für ihre Thesen entwickelten, konnten ihre Gegner weithin aus den alten Quellen schöpfen. Die "demokratische" Sichtweise wird nach dem Krieg vor allem von Gerhard Leibholz vertreten und verfeinert, der seine Lehre vom Parteienstaat weiter ausbaut. Besondere Bedeutung erlangte diese dadurch, daß zunächst er selbst, später seine Schüler Hans Justus Rinck und Ernst Gottfried Mahrenholz permanent Mitglieder des 2., für das Wahlrecht zuständigen Senats des BVerfG waren 342 . Daneben treten in den Gründungsjahren auch andere angesehene ehemalige Befürworter der Weimarer Verfassung, wie etwa Walter Jellinek und Richard Thoma. Die theoretischen Grundlagen der demokratischen Lehre bilden nach 340 Ebenso unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Schmitt, Abg. v. Brentano, Parlamentarischer Rat, PI., 8. Szg., S. 129. 341 Siehe aber unten, C. 11. 1. am Ende. 342 Leibholz: 1951-71, Rinck: 1968-1986, Mahrenholz: 1981-1994.
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wie vor die Vorkriegswerke von Leibholz, Thoma und nicht zuletzt Hans Kelsen, der sich allerdings nach dem Krieg nicht mehr zum Wahlrecht geäußert hat. Neue Aspekte außerhalb der Gedankenwelt der engeren Parteienstaatslehre steuerten der SPD-nahe Ernst Fraenkel und Max Imboden bei. 343 Die Argumentationsweise ist eine geisteswissenschaftliche: es wird versucht, die Wirklichkeit mit staatstheoretischen Begriffen zu erfassen. Idealistische und transzendente Gedanken, etwa von der dialektischen Kraft des Mehrheitsprinzips, werden dezidiert zurückgewiesen, weil sie "im Gefolge der allgemeinen Desillusionierung,,344 heute keinerlei legitimierende Kraft mehr haben. Dagegen finden sich Anklänge an naturrechtlich geprägte Vorstellungen über die Rolle des Individuums im Staat und die daraus abgeleiteten Gerechtigkeitsforderungen. Inhaltlich werden zwei Prinzipien unterschieden, nach denen das Volk, verstanden als die Gesamtheit der Individuen, zu einem Staatswesen integriert werden kann: Repräsentation durch König, Präsident oder Abgeordnete einerseits und Identität von Volk und Regierung andererseits. Identität bedeutet, daß der Wille der Mehrheit der aktiven Staatsbürger als der Wille der Gesamtheit identifiziert wird, wobei der einzelne Wahlbürger nicht "als Repräsentant für seine Familie noch seine Gemeinde noch irgend sonst etwas" auftritt, sondern ausschließlich für sich selbst, als "politisch akzentuierter Bürger,,345. Fraenkel spricht hier von "plebiszitärer 343 Fraenkel: Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, 1958; Imboden: Die politischen Systeme, 1962: "Repräsentative (democratie gouvernee)" und "Reale (democratie gouvernante)" Demokratie, letztere insbesondere in ihrer Ausprägung als "Demokratie durch Gruppenkonkurrenz"; Kelsen, Wesen und Wert der modernen Demokratie, zuerst 1920; W. lellinek, Wahlrecht und parlamentarische Mehrheit, SJZ 1946, S. 11 ff.; vgl. auch seine Eingabe an den WAdes Parlamentarischen Rates, Rosenbach Nr. 10, Anm. 9; Leibholz: Zusammenfassung seiner Schriften in: Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. Auflage, 1967. Daraus vor allem: Sperrklausein und Unterschriftenquoren nach dem Grundgesetz (1954), S. 41 ff.; Halbzeit-und noch kein Wahlgesetz? (1955), S. 55 ff.; Vom Sinn des Wählens (1956), S. 57 ff.; Zum Begriff und Wesen der modernen Demokratie (1956), S. 142 ff.; ferner das unveröffentlichte "Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit des § 40a des Hessischen LWahIG, insbesondere das Ruhen des Mandats unter dem Blickpunkt der parteienstaatlichen Demokratie", erstattet dem Hessischen Landtag, Göttingen 1977; Mahrenholz, Wahlgleichheit im parlamentarischen Parteienstaat der Bundesrepublik Deutschland, Diss. 1957; Rinck, Der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und das Bonner Grundgesetz, DVBl. 1958, S. 221, 222 f.; Thoma: Wesen und Erscheinungsformen der modernen Demokratie, 1948; Gutachten für den WAdes Parlamentarischen Rates, vorgetragen in der 2. Szg. des WA, Rosenbach Nr. 2, S. 4 ff. (auch Drs. -S-, S. 45); ferner "Der Begriff der modernen Demokratie", in: FS M. Weber, 11. Band, S. 37 ff. (1923). 344 Leibholz, Strukturelemente, S. 142, 150 f.; ebenso Thoma, Wesen und Erscheiungsformen, S. 29 f. 345 Leibholz, Strukturelernente, S. 142, 145.
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Demokratie,,346. Repräsentation dagegen meint, daß der als Fiktion gedachte Gemeinwille der gesamten Gemeinschaft per definitionem der auf das Gemeinwohl gerichtete ist und von den zuständigen Organen bloß erkannt wird. Beide Prinzipien unterscheiden sich in dem, was sie als Wille des souveränen Volkes ansehen: den empirischen Volks willen: "stat pro ratione voluntas" - oder den hypothetischen: "Salus rei publica suprema lex,,347. Alle modemen Demokratien sind heute plebiszitäre, sie gehorchen dem Prinzip der Identität. Fraenkel weist das für die beiden angelsächsischen Staaten nach, in denen heute von der Regierung erwartet wird, sich an den empirischen Volkswillen zu halten, wenn ihr Tun als legitim gelten soll. Ausdruck dessen ist die Möglichkeit der vorzeitigen Parlamentsauflösung, als deren Folge durch die Wahl erneut Übereinstimmung zwischen beiden hergestellt wird. Auch Nachwahlen und die Volksabstimmung sind solche Instrumente, die als "politisches Barometer"348 dienen können. Letzteres, aktuell nur in den USA, hält Fraenkel allerdings für ein nur vorsichtig zu handhabendes. Leibholz argumentiert mehr von den deutschen Gegebenheiten her, die er eben als Parteienstaat kennzeichnet: Faktisch werden alle Ebenen des Staates von den Parteien beherrscht. Wesen und Funktion der Parteien selbst aber ist es, die "Aktivbürger zu politischen Handlungseinheiten zu organisieren. Sie sind unentbehrliches Werkzeug, um das sich selbst organisierende Volk politisch funktionsfähig zu machen,,349, denn die politische Betätigung des Einzelnen ist nur durch parteimäßige Organisation mit Gleichgesinnten möglich. Die politische Stellungnahme des Einzelnen kann nur durch Anschluß an eine Partei wirksam werden. Daraus folgt, daß der Staat insgesamt, vermittels des Werkzeugs "Parteien", von den politisch aktiven Bürgern, und seien sie aktiv nur bei der Wahl, beherrscht wird und nicht von unabhängigen, auf das fiktive Ideal des Gemeinwohls orientierten Repräsentanten. Der Parteienstaat ist das "Surrogat der direkten Demokratie im modemen Flächenstaat" , "der Gemeinwille kommt '" mit Hilfe des Identitätsprinzips ohne Beimischung repräsentativer Elemente zur Geltung". Die volonte generale - identifiziert mit dem Willen der Mehrheit der Aktivbürger - kann mit dem Willen der Parteienmehrheit gleichgesetzt werden?50 346 Den Begriff verwendet früher bereits Schmitt, DJZ 19131, Sp. 5, 10; ebenso Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), S. 26. 347 Fraenkel, S. 8. 348 Thoma, Gutachten, S. 28. Abg. Diederichs, Parlamentarischer Rat, W A, 2. Szg., bei: Rosenbach, Nr. 2, S. 48 warnt für Nachwahlen allerdings vor Verzerrungen. 349 Ähnlich, wenn auch nicht so ausschließlich, schon Thoma, Wesen und Erscheinungsformen, S. 17 f. 350 Leibholz, Strukturelemente, S. 142, 147 ff.
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Aufgabe des Parlaments in einer plebiszitären Demokratie ist es, den jeweils aktuellen empirischen Volkswillen sichtbar zu machen 351 . Im Parteienstaat muß es also die jeweils vorliegende parteimäßige Zusammensetzung des Volkes widerspiegeln. Die Wahl erfüllt dann eine plebiszitäre Funktion, indem der Wähler inhaltlich über konkrete Fragen der Politik abstimmt und sein tatsächlicher Wille im Parlament durch einen Abgeordneten "seiner" Partei anwesend gemacht wird 352 . Das leistet nur die auf Abbildung der für die Parteien abgegebenen Stimmen ausgerichtete Verhältniswahl, nicht aber die Mehrheitswahl, bei der in aller Regel Stimmen- und Mandatsanteil der Parteien auseinanderfallen, ja nach Ansicht ihrer Anhänger geradezu auseinanderfallen sollen. Wesentliches Strukturelement der Demokratie ist nun die radikale, egalitäre Gleichheit aller Staatsbürger in politischen Dingen - hier erscheint die christlich-naturrechtliche Wertung 353 . Die Wahlgleichheit ist daher grundlegend für jede Demokratie. In der plebiszitären Demokratie muß der konkrete Wille jeden einzelnen Bürgers gleich berücksichtigt und bei der Bildung des Parlaments gleich gewichtet werden. Wird er dabei durch eine Partei vermittelt, muß weiter die Zusammensetzung des Parlaments der Stärke der Parteien entsprechen. Nur dann hat tatsächlich jeder Bürger den gleichen Einfluß. Im Ergebnis bedeutet mithin Wahlgleichheit im plebiszitären Parteienstaat immer Erfolgswertgleichheit. Normativ wird das Erfordernis der Parteiengleichheit nicht nur in Art. 38, sondern auch in Art. 21 GG angesiedelt 354 . Die reine Verhältniswahl, die sie am weitgehendsten verwirklicht, ist das demokratischste Wahlverfahren 355 .
351 Fraenkel, S. 9: "Aufgabe eines plebiszitären Regierungssystems ist es, einen Zustand herzustellen und zu bewahren, der ein optimale Kongruenz von empirischem Volkswillen und Gesamtinteresse gewährleistet mit der Maßgabe, daß bei einer Divergenz zwischen empirischem und hypothetischem Volkswillen dem empirischen Volkswillen der Vorzug gebührt". 352 Leibholz, Strukturelemente, S. 57, 59; 142 ff.; vgl. auch Gutachten (oben Fn. 343), S. 25: "Bei Lichte betrachtet sind diese (sc. die Wahlen) heute überhaupt keine echten Wahlen mehr. Sie haben einen plebiszitären Charakter erhalten"; Abg. Diederichs (SPD), Parlamentarischer Rat, WA, 2. Szg., bei: Rosenbach, Nr. 2, S. 45: "weil wir von der Grundidee demokratischer Wahlen ausgehen müssen, die ja eigentlich die unmittelbare Abstimmung des Wählers ist, und für die wir das Repräsentativsystem eben durch die Wahl schaffen". 353 Leibholz, Strukturelemente, S. 142, 148 f.; vgl. Rinck, DVBI. 58, 221; Thoma, Wesen und Erscheinungsformen, S. 10 ff. 354 Ernst Gottfried Mahrenholz, in seiner bei Leibholz gefertigten Dissertation, möchte die Erfolgswertgleichheit überhaupt nicht als Recht des einzelnen Wählers, sondern nur der Parteien behandeln, S. 6 ff., 39 f. (ebenso wieder 1998: FS Graßhof, S. 69 ff.).
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Leibholz geht an dieser Stelle noch einen Schritt weiter. Die von der Weimarer Verfassung durch Einführung der Verhältniswahl anerkannte Tendenz, die staatliche Willensbildung anstelle von möglichst überparteilichen Organwaltern den Bürgern selbst, vertreten durch die politischen Parteien, anzuvertrauen, sieht er trotz des Fehlens einer entsprechenden Norm im GG als unumkehrbares Faktum. Durch die Entwicklung zum Parteien staat ist seiner Auffassung nach der repräsentative, liberale Staat mit seinem schöpferisch diskutierenden Parlament als Ort der Willensbildung endgültig untergegangen356 . Dahinter steht wohl, zumal nach den Lehren der jüngsten Vergangenheit, die Überzeugung, daß die konsequent durchgeführte, auf den Kompromiß Aller angewiesene plebiszitäre Demokratie eine bessere Gewähr für eine gedeihliche Entwicklung bietet, als alle Versprechungen irgendeines angeblich auf das Gemeinwohl abonnierten Führertums. 5. Die Rechtsprechung des BVerfG
Das BVerfG legte in den 50er Jahren die noch heute gültigen Grundlagen seiner Wahlrechtsprechung. Die Grundsatzentscheidung erging 1952 im Verfahren des Südschleswigschen Wählerverbandes (SSW) gegen eine 7,5 %-Sperrklausel im (zweiten) schleswig-holsteinischen Landeswahlgesetz357 , das im übrigen stark dem heuten BWahlG ähnelte 358 . Ein zweites, wichtiges Urteil erging aufgrund einer Verfassungsbeschwerde der Bayernpartei gegen das BWahlG im Jahre 1957. Es bekräftigt und präzisiert den eingeschlagenen Weg. a) Sitz der Wahlgleichheit Das Gericht stellt zunächst fest, daß die Wahlgleichheit normativ nicht nur in Art. 38 Abs. 1 GG, sondern auch in Art. 3 GG verankert ist und einen Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitssatzes darstellt. Auf diese Weise eröffnet es sich prozessual die Möglichkeit, landesrechtliche 355 Leibholz, Strukturelemente, S. 41, 42 f.; S. 55, 57; S. 57; S. 142, 149; ThoflUl, Wesen und Erscheinungsformen, S. 36, spricht vom englischen als einem "primitiven Wahlsystem"; auch Nawiasky, Grundgedanken, S. 81, in Abkehr von seiner Vorkriegshaltung: "Prinzip der Wahlgerechtigkeit", das in England hintangesetzt wird. 356 So wörtlich Gutachten (oben Fn. 343), S. 29. Das gilt umso mehr, als inzwischen auch der gesellschaftliche Bereich zunehmend egalisiert wird. Als Beispiel nennt er, Strukturelemente, S. 142, 148 ff., die Egalisierung der Studienmöglichkeiten unabhängig vom Einkommen und den Ausbau des sozialen Netzes. 357 Gesetz vom 22. 10. 1951. 358 Entscheidung vom 5. 4. 1952, BVerfGE 1, S. 208 ff. (SSW I). Bedeutsam außerdem: Entscheidung vom 23. 1. 1957, E 6, S. 84 (Bayempartei).
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Wahlregelungen zu überprüfen,359 und begründet inhaltlich den Rückgriff auf die allgemeinen Gleichheitslehren bei der Auslegung. Darüber hinaus wird mit dieser Verortung aber auch klargestellt, daß die Wahlgleichheit "Teil der demokratischen Grundordnung" und, wie es bei der allgemeinen Gleichheit unzweifelhaft ist, "von der Verfassung anerkannter überpositiver Rechtsgrundsatz" und damit letztlich in Art. 1 Abs. 2, 3 GG verankert ise 6o . Das Gericht anerkennt damit die von Leibholz und Heller in Weimar vertretene Herleitung der Wahlgleichheit als Ausprägung der dem Gedanken der Demokratie zugrundeliegenden Wertordnung, wozu der RStGH sich noch nicht hatte durchringen können. Deshalb ist die Auslegung des Grundsatzes der Wahlgleichheit nicht aus sich heraus möglich, sondern "er kann seinen Sinn vielmehr nur aus seiner Einbettung in das Gesamtgefüge der verfassungsmäßigen Ordnung empfangen,,361. b) Gleichheitsmaßstab Der Inhalt der Wahlgleichheit wird zunächst mit einer allgemeinen Formel umschrieben: Jeder Bürger soll sein Wahlrecht auf formal gleiche Weise ausüben können und den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis haben362 . Was das genau bedeutet, kann nicht allgemein gesagt werden. Vielmehr ist der Inhalt der Gleichheit abhängig vom Wahl system, wobei die beiden denkbaren Alternativen "Mehrheitswahl" und "Verhältniswahl" lauten. "Die ursprünglich auf die Mehrheitswahl abgestellten Wahlrechtsgrundsätze erhalten notwendig eine abgewandelte Bedeutung im Verhältniswahlsystem,,363. Das BVerfG knüpft hier an die Rechtsprechung des RStGH der Weimarer Zeit an, der die Wahlgleichheit als durch den Grundsatz der Verhältniswahl in Art. 17 WRV modifiziert angesehen hatte. Denn dieser - so der RStGH - bringt ein bestimmtes, von der Verfassung zugrundegelegtes Demokratieverständnis zum Ausdruck, das bei der Auslegung der Wahlgleichheit zu beachten ist.
Vgl. dazu näher unten, 2. Teil, B. VII. BVerfGE 1, S. 208, 242, 243 f.; 6, S. 84, 91: "selbstverständlicher ungeschriebener Verfassungsgrundsatz in allen Bereichen und für alle Personengemeinschaften ... ". Ebenso schon vorher Hamann, DöV 1951, S. 288, 290; vgl. Forsthoff, AöR 76 (1950/51), S. 369, 373; Röhl, DVBI. 54, S. 589. 361 BVerfGE 1, S. 208, 244. 362 BVerfGE 1, S. 208, 246. 363 BVerfGE 1, S. 208, 244. 359 360
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Aus der Übernahme dieses Ansatzes ergeben sich zwei Folgerungen: Die Trennung von Systementscheidung und -ausgestaltung und die Abhängigkeit der Wahlgleichheit vom Wahlsystem. Die Systementscheidung des Gesetzgebers beinhaltet die Entscheidung für ein bestimmtes, die Wahl beherrschendes "Prinzip364,,: entweder soll die Wahl handlungsfähige Organe schaffen oder sie soll - zusätzlich dazu "jedem einzelnen Menschen im Staats leben den gleichen Einfluß" verschaffen 365 . Die aus beiden Prinzipien für die Wahl abgeleitete Gerechtigkeitsforderung ist jeweils verschieden, bei der Mehrheitswahl die Zähl wertgleichheit, bei Verhältniswahl zusätzlich Erfolgswertgleichheit. Mit der Systementscheidung "akzeptiert" der Gesetzgeber "die jeweilige Gerechtigkeitsforderung und stellt sein Gesetz unter dieses Maß". Er ist insoweit an den jeweils spezifischen Gleichheitsmaßstab gebunden: "Innerhalb jeden Abschnitts der Wahl muß Folgerichtigkeit herrschen. Wenn und soweit die Entscheidung für einen zusätzlichen Verhältnisausgleich fällt, muß in diesem Teil des Wahlverfahrens auch die Wahlgleichheit in ihrer spezifischen Ausprägung für die Verhältniswahl beachtet werden,,366. In dieser letzten These von der Selbstbindung liegt eine Neuerung gegenüber der überlieferten Rechtsprechung, denn die Bindung des Wahlgesetzgebers an eines der beiden Prinzipien ergibt sich unter dem Grundgesetz, anders als unter der WRV, nicht mehr aus dem Text der Verfassung selbst. Eine ausdrückliche Begründung der Selbstbindung des Wahlgesetzgebers an das einmal gewählte Prinzip liefert das BVerfG denn auch nicht. Das Wahlsystem des BWahlG wird in Übereinstimmung mit § I BWahlG als Verhältniswahl qualifiziert, weil als letzter und entscheidender Schritt des Verfahrens ein alle Sitze erfassender Verhältnisausgleich stattfindet, es sich also nicht um ein Grabensystem handelt, bei dem nur ein Teil der Sitze dem Proporz unterliegt 367 . Zusätzlich wird an anderer Stelle im 364 Offensichtliches Vorbild diese Passage ist die Württemberg-Entscheidung des RStGH (LIS II, S. 136 ff. = RGZ 124, Anh. S. 1, S. 13), wo der unterschiedliche Gleichheitsmaßstab von Mehrheits- und Verhältniswahl herausgestellt wird. Der Begriff "Prinzip" wird in diesem Zusammenhang erstmals von Kelsen gebraucht (Staatslehre, S. 347 und 349 sowie Wesen und Wert, S. 19): Er stellt das "Prinzip der Majorität" dem der "Verhältniswahl und der Demokratie" gegenüber. Ebenso Heuss, ZfP 20 (1931), S. 312, 314: "Prinzipien oder Staatsideen"; Köttgen (1930), in: Rausch, S. 74, 89: zwei "staatstheoretische Prinzipien". 365 BVerfGE 1, S. 208, 247 f. Diese Formulierung auf S. 247 unten ist fast wörtlich von Theodor Heuss entlehnt: Parlamentarischer Rat, HA, 52. Szg., S. 695 unten. Siehe zur Deutung unten bei Fn. 383. 366 BVerfGE 1, S. 208,248. 367 BVerfGE 1, S. 208, 247 für das insoweit identische (zweite) LWahlG SH vom 22. 10. 1951; Für den Bund: BVerfGE 6, S. 84,90 (Bayempartei).
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Urteil festgestellt, daß die in Deutschland stattfindenden Wahlen "in Wirklichkeit Partei wahlen sind36s " und "heute ... jede Demokratie zwangsläufig ein Parteienstaat" ist369 . Damit ist nach der Lehre des Senatsmitgliedes Leibholz die Verhältniswahl nicht nur von der Entscheidung des Wahlgesetzgebers, sondern auch strukturell vorgegeben, was auch im BayernparteiUrteil anklingt: " ... ist nach der geschichtlichen Entwicklung und der demokratisch-egalitären Grundlage des Grundgesetzes davon auszugehen, daß jeder Staatsbürger, der eine in derselben Weise wie der andere, nach seinem individuellen Willen soll bestimmen können, wen er als Volksvertreter wünscht, so daß grundsätzlich die eine Stimme auf das Wahlergebnis rechtlich denselben Einfluß ausüben muß wie die andere,mo. Das BVerfG wendet die Wahlgleichheit jedenfalls ausschließlich in ihrer spezifischen Ausprägung für die Verhältniswahl an und prüft die "Modifikationen" in Richtung Funktionsgerechtigkeit und Personenwahl an diesem Maßstab. Die Entscheidung für die Mehrheitswahl, die gleichwohl als unbedingt demokratisch angesehen wird, steht dem Gesetzgeber offen, gleichwohl hat er sie bisher aber abgelehnt37l . c) Einschränkungen der Wahlgleichheit Nach der Grundentscheidung über den anzuwendenden Prüfungsmaßstab kann das Gericht auf die von Heller für die Wahlgleichheit entwickelten und vom RStGH schließlich gebilligten Kriterien zurückgreifen. Während die Zählwertgleichheit - weder bei der Mehrheits- noch bei der Verhältniswahl - unter keinem Gesichtspunkt differenziert werden darf, sind Ausnahmen von der nur bei der Verhältniswahl geforderten Erfolgswertgleichheit unter bestimmten Voraussetzungen zulässig, wenn ein zwingender sachlicher Grund vorliegt, der in der Natur des in Frage stehenden Sachbereichs begründet ist372 . Solche können sich insbesondere aus dem "staatspolitischen Element bei der Wahl (d.h. der Funktionsfähigkeit des Parlaments)" ergeben, "das auch Bestandteil des zu ordnenden Lebensverhältnisses ist,,373. Die der Mehrheitswahl zugrundeliegenden Gedanken der Funktionsfahigkeit der gewählten Organe sind auch unter dem Maßstab der Verhält368 BVerfGE 1, S. 208, 226 (im Zusammenhang mit der Parteifähigkeit politischer Parteien vor dem BVerfG). 369 Ebenda S. 224 unter Berufung auf Thoma, HbStR I, S. 190. 370 BVerfGE 6, S. 84, 91 (Bayempartei). Eine Verschärfung des Gleichheitsmaßstabes in der Parteiendemokratie, auch für die Mehrheitswahl, wird auch angedeutet von Rinck, DVBl. 1958, S. 221, 222 u. 223, Fn. 18. 371 BVerfGE 6, S. 84, 90. 372 BVerfGE 1, S. 208,248; 6, S. 84, 91. 373 BVerfGE 1, S. 208, 252.
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niswahl relevant. "Der Grad der zulässigen Differenzierung bestimmt sich nach den Wertungen, die im Rechtsbewußtsein der konkreten Rechtsgemeinschaft lebendig sind,,374. Bei der Anwendung der Begriffe im Einzelfall ist das BVerfG im Ergebnis großzügiger als der RStGH und greift die in Politik und Wissenschaft diskutierten seitherigen Erfahrungen mit der Demokratie auf. d) Einzelheiten Im Einzelnen setzt sich das BVerfG vor allem mit Splitterparteienklauseln 375 in Gestalt eines Stimmenquorums (5 %-Klausel) oder des Erwerbs von Grundmandaten als Voraussetzung für die Teilnahme am Verhältnisausgleich auseinander. Solche Klauseln sind zulässig unter dem Gesichtspunkt der staatspolitischen Gefahren, die von der Parteienzersplitterung im Parlament ausgehen. Die Splitterparteiendefinition wird von Braunias übemommen 376, wobei das Kriterium des "fehlenden örtlichen Schwerpunktes" neu begründet wird: Berechtigtes Anliegen des Wahlgesetzgebers bei der Personalisierung der Verhältniswahl ist es, daß "der Charakter der Volksvertretung ... auch durch die Anwesenheit von Abgeordneten bestimmt werden" soll, "die eine persönliche Beziehung zu ihrem Wahlkreis haben." Parteien, die diesem Anliegen durch den Erwerb von Direktmandaten in besonderer Weise gerecht werden, hätten sich in lokalen Schwerpunkten als politisch bedeutsam erwiesen und dürften privilegiert werden. Die Ungleichbehandlung sei dann "gerade aus den Grundlagen des eigenartig gestalteten Wahlsystems des BWahlG heraus zu rechtfertigen.,,377 Die zulässige Höhe einer Prozentklausel ermittelt das Gericht rechtsvergleichend und stellt als Erfahrungssatz fest, daß 5 % in der Regel angemessen sind, in besonders begründeten Fällen aber auch mehr 378 . Im Falle des schleswig-holsteinischen LWahlG (SSW I), wo es um eine 7,5 %-Klausel ging, waren solche besonderen Gründe nach Auffassung des Gerichts nicht ersichtlich. Die Klausel war vielmehr offensichtlich speziell gegen den SSW gerichtet, der bei der vorangegangenen Wahl die damals geltende 5 %-Klausel knapp übersprungen hatte.
BVerfGE 1, S. 208, 249. BVerfGE 1, S. 208, 249 ff. (SSW I); E 6, S. 84, 92-95 (Bayernpartei); ferner Entscheidung vom 11. 8. 1954, BVerfGE E 4, S. 31 ff. (SSW II). 376 BVerfGE 1, S. 208, 252; dazu auch Forsthoff, AöR 76 (1950/51), S. 369, 373. 377 BVerfGE 6, S. 84, 95 f. 378 BVerfGE 1, S. 208, 256 ff. 374 375
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Eine andere Entscheidung befaßt sich mit Überhangmandaten 379 , die entstehen, wenn eine Partei in einem Land mehr Direktmandate erringt, als ihr nach dem Stimmenverhältnis zustehen. Im zu entscheidenden Fall war dies auf eine ungleichmäßige Wahlkreiseinteilung zurückzuführen, aufgrund derer in Schleswig-Holstein bei der Bundestagswahl vier Mandate mehr vergeben wurden, als es nach der Einwohnerzahl korrekt gewesen wäre. Durch die Überhangmandate wird die Erfolgswertgleichheit "bis zu einem gewissen Grade differenziert." Stimmen für Parteien, die Überhangmandate erhalten, haben im Ergebnis einen größeren Erfolgswert als solche für Parteien ohne Überhangmandate. Die Ungleichbehandlung findet ihre Rechtfertigung in dem besonderen, bereits früher anerkannten Anliegen der personalisierten Verhältniswahl, eine engere persönliche Beziehung der Wahlkreisabgeordneten zu ihrem Wahlkreis herzustellen, aber nur insoweit, wie sie dessen notwendige Folge ist. 38o Das ist sie nur, wenn die Wahlkreise im Rahmen des technisch Möglichen gleich groß sind. So erlangt die in einem Verhältniswahlsystem grundsätzlich irrelevante Größe von Wahlkreisen auf dem Umweg über die Überhangmandate doch noch Bedeutung. Schließlich setzt sich das Gericht mit der Erbringung von Unterschriften 381 als Voraussetzung für die Zulassung eines Bewerbers oder einer Liste auseinander. Dabei dürfen "neue" Parteien und solche, die bereits bei der letzten Wahl Sitze errungen haben, unterschiedlich behandelt werden, indem letztere vom Unterschriftenerfordernis befreit werden. Gleiches gilt für die Behandlung von parteilosen und -angehörigen Wahlkreiskandidaten. Rechtfertigender Grund für Unterschriftenquoren ist die Verhinderung von aussichtslosen und nicht ernstgemeinten Kandidaturen, die nur zur Verschwendung von Stimmen führen würden. Bereits bei der letzten Wahl erfolgreiche Parteien und den von ihnen aufgestellten Direktkandidaten haben den Nachweis der Ernsthaftigkeit und der Erfolgsaussichten durch ihren Erfolg bereits erbracht. Weitere Entscheidungen382 befassen sich mit Einzelheiten der Wahl vorbereitung, wie etwa Wahlwerbe-Sendezeiten im Rundfunk. Sie enthalten aber keine wesentlichen Aussagen zur eigentlichen Wahl gleichheit und betreffen mehr die Parteiengleichheit. Sie sind hier nicht weiter interessant.
379 Entscheidung vom 22. 5. 1963 BVerfGE 16, 130 (Überhangmandate I); vom 3. 7. 1957, BVerfGE 7, 63 (Starre Liste). 380 BVerfGE 16, S. 130, 139 f. (Überhangmandate I). 381 Entscheidung vom 3. 6. 1954 (1. Senat), BVerfGE 3, S. 83, 398 ff. (Unterschriften); vom 15. 6. 1958, 1. Senat, BVerfGE 5, S. 77, 81 ff. (Unabhängige Bewerber I). 382 Etwa BVerfGE 3, S. 19,27; 3, S. 383, 392; 4, S. 375, 383; 7 S. 99, 107 u.a.
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6. Betrachtung a) Die Voraussetzungen der Entstehung des BWahlG Als wichtigste Essenz der Betrachtung ist festzustellen: Die Entstehung der bundesdeutschen Wahlrechtsdogmatik muß aus der Kontroverse zwischen "Mehrheitswahl" und "Verhältniswahl" heraus erklärt werden. Die beiden Begriffe stehen dabei nicht für technische Merkmale von Wahlverfahren, sondern als Synonym für zwei gegensätzliche Konzeptionen von Wesen und Ziel der Wahlen in der parlamentarischen Demokratie, ja letztenendes für das Verständnis von Demokratie überhaupt: Will man eine Koalitions- oder ein Einheitsregierung? Soll sich die Vielfalt der parteipolitischen Gliederung der Gesellschaft in Staat und Parlament widerspiegeln, oder setzt man auf die ausschließlich zeitlich limitierte Führerschaft einer geschlossenen Gruppe? Hinzu kommt die Uneinigkeit über die Bewertung der Parteien: Grundübel oder Wesensmerkmal des deutschen politischen Lebens?383 Beide Anschauungen implizieren auch ein unterschiedliches Verständnis der Wahlgleichheie 84 . Die Grundpositionen ebenso wie die Argumente der 50er Jahre knüpfen nahtlos an die Weimarer Entwicklung an, zeugen aber auch von der Beschäftigung vieler Emigranten mit den politischen Systemen der Gastländer. So neigen die Anhänger der Mehrheitswahl zum Teil dem britischen, zum Teil dem französischen Modell zu: das Ideal von Hennens und seiner Schule ist das auf zwei festgefügten, schlagkräftigen Parteien beruhende britische Repräsentationsmodell, Stemberger steht der demokratischen, französischen Sichtweise näher und betont die unmittelbare, individuelle Verantwortung des Wählers für eine Entscheidung zwischen den angebotenen politischen Alternativen; Parteienherrschaft lehnt er als Hort der Korruption ab. Demgegenüber steht das spezifisch deutsche Modell des pluralistischen Parteienstaates, dessen Wortführer Leibholz ist. Ebenso wie in Weimar sind die Positionen in der Wahlrechtsfrage fest mit den politischen Lagern verbunden: das bürgerliche Lager, geeint in er383 In dieser Schärfe und Deutlichkeit sind die beiden Ansätze nie fonnuliert, wahrscheinlich auch nicht gesehen worden. Das BVerfG, E 1, S. 208, 247 f. (schon oben bei Pn. 365), beschreibt sie vorsichtig: Entweder soll die Wahl handlungsfähige Organe schaffen oder sie soll - zusätzlich dazu - "jedem einzelnen Menschen im Staatsleben den gleichen Einfluß" verschaffen. Vgl. dazu auch C. J. Friedrich, Repräsentation und Verfassungsrefonn in Europa (1948), in: Rausch, S. 208, 217. Allgemeiner, ohne speziell das Wahlrecht anzusprechen, vgl. Scheuner, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem (1976) und Das repräsentative Prinzip in der modemen Demokratie (1961), jeweils m. w.N. (in: gesammelte Werke, S. 135 ff. und 245 ff. 384 Genauer: Bericht der Wahlrechtskommission 1955, S. 44.
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ster Linie in der Union, steht für Mehrheitswahl, das sozialistisch-demokratische für Proportionalwahl. Als entscheidend erweist sich das politische Überleben der Liberaldemokraten in Gestalt der F.D.P., die eine Politik des parteipolitischen Pluralismus anstreben und sich die Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten als Option offenhalten. Eine solche Politik wurde für die Zukunft nur möglich durch die Festschreibung der Verhältniswahl - andernfalls, unter Geltung der Mehrheitswahl, hätten sich die kleinen Parteien aller Wahrscheinlichkeit nach nicht halten können. Die weitere Entwicklung der bundesrepublikanischen Politik wird dadurch bis heute geprägt. Die bereits in Weimar konstatierte konstitutive Bedeutung des Wahlsystems für die Demokratie zeigt sich wieder, die begriffliche Identifizierung der politischen Grundsatzkontroverse mit den bei den Wahlsystemen erweist sich als realistisch. Der Bedeutung der Wahlsystemfrage waren sich alle Beteiligten bewußt, die sich vertieft mit ihr befaßten. Richard Thoma leitete sein Referat in der ersten Arbeitssitzung des Wahlausschusses des Parlamentarischen Rates mit dem Hinweis eben darauf ein: "Es handelt sich um die Frage: ,Mehrheitswahl oder Verhältniswahl'. Mit ihr muß sich der Parlamentarische Rat auf alle Fälle befassen, weil eine Entscheidung darüber gefällt werden muß, ob das eine oder das andere dieser bei den System in der Verfassung festzulegen sei .... auf alle Fälle muß in den Übergangsvorschriften eine Bestimmung darüber getroffen werden, auf welche Weise das erste Bundesparlament gewählt werden soll. Die Entscheidung, die der Parlamentarische Rat dabei trifft, wird vermutlich von so hoher Autorität sein, daß das künftige Bundeswahlgesetz dieselben Prinzipien zugrundelegen wird, die hier von Ihnen adoptiert werden,,385. Auch die alliierten Militärgouverneure erfaßten den Unterschied zwischen Wahlverfahren und -system, für letzteres sollte in jedem Fall der Bund zuständig sein. In der Wissenschaft vertraten die "Demokraten" ohnehin den Dualismus von repräsentativer und plebiszitärer Demokratie, aber etwa auch für Hermens ist es selbstverständlich, daß beide Systeme "grundverschiedene Fragestellungen" zum Gegenstand haben386 . Falsch ist die in der neueren Literatur anzutreffende Behauptung, die Wahlrechtsgestaltung sei ein Produkt bloßer Parteitaktik387 . Auch wenn 385 2. Sitzung des W A, in: Rosenbach, Nr 2, S. 5; deutlich auch Abg. Heuss (FDP), Parlamentarischer Rat, HA, 52. Szg., S. 695 unten; Abg. Kroll (CDU), Parlamentarischer Rat, PI. 7. Szg., StB S. 112. 386 Hennens, Demokratie oder Anarchie, S. 7; ähnlich Forsthoff, AöR 76 (19501 51), S. 369, 375: "Mehrheitswahl und Verhältniswahl folgen durchaus unterschiedlichen Gesichtspunkten"; Ganz selbstverständlich geht auch die Wahlrechtskommission 1955, S. 31 f. und S. 14, vom Dualismus der Wahl systeme aus. 387 Etwa Jesse, S. 96 f; Golay, S. 138 ff und 150 f
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sich sicherlich viele der Akteure auf der politischen Bühne der dogmatischen Zusammenhänge nicht bewußt waren und wenn machttaktische Überlegungen unbestreitbar angestellt wurden, so ist dennoch die Wahlrechtsentwicklung in den 50er Jahren folgerichtig verlaufen. Die Ziele der Parteien stimmten insoweit mit ihren weltanschaulichen Grundlagen überein. Daran ändert auch nichts, daß in den meisten Fällen taktisches und theoretisches Interesse der Parteien zusammenfielen, so daß keine von Ihnen ernsthaft in Versuchung geriet, ihrem Ideal untreu zu werden. Allenfalls das Zentrum gerät in den Verdacht des Opportunismus. Die Partei hatte aber offiziell noch nie vorher dezidiert Stellung in der Wahlrechts frage bezogen. Die DP dagegen kämpfte prinzipientreu als kleine Partei gegen die Verhältniswahl. Falsch ist auch die Behauptung, die Protagonisten der Entwicklung seien sich über die Bedeutung ihrer Entscheidungen gar nicht im Klaren gewesen. So wirft etwa Jesse dem Wahlexperten der F.D.P. Max Becker vor, ihm seien die Strukturprinzipien des Parlamentarismus "offenkundig fremd" gewesen 388 . Becker hatte im parlamentarischen Rat argumentiert, die von der Mehrheitswahl begünstigte absolute Mehrheit einer einzigen Partei führe zur Vereinigung von Legislative und Exekutive in einer Hand und damit zur "Diktatur der Parlamentsmehrheit, nur gemildert durch die Befristung auf 4 Jahre,,389. Dieser Effekt ist aber tatsächlich gerade der von den Befürwortern der Mehrheitswahl gewollte und in England, dem großen Vorbild, in der Doktrin der parliamentary souvereignity manifestiert. Die F.D.P. lehnte diese Konzeption ganz bewußt ab. Von Unkenntnis irgendwelcher Strukturelemente durch Becker kann demnach nicht die Rede sein. Die Betonung von Umwegen und Widersprüchen der politischen Auseinandersetzung durch einige Autoren ist im Lichte der Debatte der folgenden Epoche zu sehen und steht letztlich im Dienste der Bemühungen, einen Umschwung der SPD in der Wahlrechtsfrage herbeizuführen. Die seit den 60er Jahren allfällige Kritik an der Leibholz'schen Parteienstaatslehre390 ist für die Wahlrechtsdogmatik nur begrenzt von Bedeutung. Die Parteienstaatslehre enthält in ihrem beschreibenden Teil nichts Außergewöhnliches. Das gilt insbesondere für die Unterscheidung zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie. Die Kritik wird erst von einer der daraus gezogenen Schlußfolgerungen herausgefordert, nämlich der von der 388 Jesse, S. 97, ähnlich Otto, S. 174: die Kompromißstruktur des BWahlG zeige die Unsicherheit der Ratsmitglieder. 389 Parlamentarischer Rat, PI, 7. Szg., StB. S. 115. 390 Etwa Lange, S. 444 ff., Underberg, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1967, S. 222 ff.; Demmler, S. 56 ff. m. w.N.; Hecker, Staat 1995, S. 287 ff. Früher schon Köttgen (1930), in: Rausch, S. 74 ff.
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behaupteten Unvereinbarkeit der Mehrheitswahl mit der modemen Demokratie und der Unmöglichkeit einer repräsentativen Demokratie im modernen Staat überhaupt. Die Diskussion dieser These mag politologisch und staatphilosophisch von Interesse sein; für die verfassungsrechtliche Untersuchung ist nur die Frage relevant, in wieweit das Grundgesetz sie rezipiert und positivrechtlich für verbindlich erklärt. Als geistesgeschichtliches Faktum ist die Parteienstaatslehre jedenfalls in der Welt und hat beträchtliche Wirkungen entfaltet, über die weder der Verfassungshistoriker noch -jurist hinweggehen kann. Ein Komprorniß konnte in der Frage des Wahlsystems weder im Parlamentarischen Rat, noch später im Bundestag erzielt werden, trotz massiven Einigungsdrucks seitens der Alliierten. "Meine Fraktion hat geglaubt, diesem Entwurf nicht zustimmen zu können, weil sie den Wunsch hat, ein wirklich echtes Komprorniß (sie) zwischen Mehrheitswahl und Verhältniswahl zu bekommen. Die Fraktion der CDU/CSU steht auf dem Standpunkt, daß dieses Ergebnis nicht erreicht worden ist,,391. Das BWahlG ist aus einer Kampfabstimmung beider Lager hervorgegangen, die Ablehnung der Bürgerlichen bezieht sich nicht auf Detailregelungen - an denen die CDU intensiv mitgearbeitet hat -, sondern auf das Prinzip. Deshalb scheiterte auch der letzte Verrnittlungsversuch der Militärregierung vom 28. Mai 1949, denn auch die Ministerpräsidenten waren nicht in der Lage, durch Änderungen des Wahl verfahrens einen Komprorniß zu erreichen. Die schließlich in Bad Schlangenbad doch noch zustandegekommene Mehrheit der Ministerpräsidenten erklärt sich nicht aus einem wesentlichen Nachgeben in der Sache, sondern ist Frucht der Erkenntnis der CDU - Ministerpräsidenten, daß ohne ihr Einlenken die Gründung des westdeutschen Staate scheitern würde. Die Zugeständnisse der Mehrheit - im wesentlichen die Sperrklausel - änderten nichts an der grundsätzlichen Option für ein proportionales Wahlsystem, das von der CDU im Bundestag dann auch bis 1956 ebenso heftig wie erfolglos bekämpft wurde. Das immer wieder diskutierte Grabensystem wäre ein echter Kompromiß gewesen, hätte aber keine der bei den Seiten wirklich befriedigt. Deshalb wurde es von der CDU immer nur halbherzig angestrebt und von den "Demokraten" rundweg abgelehnt. Die mangelnde Kompromißbereitschaft - durchaus untypisch für die Verhandlungen des Rates - ist Indikator für die prinzipielle ideologische Bedeutung, die der Frage beigemessen wurde. Dem steht auch nicht ihre unmittelbare Relevanz für das weitere politische Schicksal der einzelnen Parteien entgegen, welche sicher bei der praktischen Entscheidung der Mandatsträger eine gewichtige Rolle gespielt hat. Im Gegenteil, sie unter391 Abg. Schröter (CDU) im Parlamentarischen Rat, WA, 25. Szg., Rosenbach Nr. 28, S. 772. Deutlich auch Schröter, PI., 52. Szg., S. 690; Heuss, S. 697; Diederichs, S. 700; darstellend Jesse, S. 92 f.
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streicht den Stellenwert der Wahlsystemfrage für die Struktur der Demokratie. Die einzige Frucht der grundsätzlich gegebenen Kompromißbereitschaft der Parteien im Rat ist der einhellige Verzicht auf eine Festlegung in der Verfassung. Darüber war man sich bereits in Herrenchiemsee einig, als die späteren Kräfteverhältnisse noch nicht feststanden: Beweggrund für den Verzicht beider Seiten ist nicht die bloße Ohnmacht, eine Festlegung durchzusetzen. Abgesehen von der Unklarheit über die aus der Weimarer Entwicklung zu ziehenden Lehren hätte eine gewaltsame Entscheidung der Wahlrechtsfrage durch die Verfassung in welchem Sinn auch immer dazu geführt, daß diese womöglich erneut in einem wesentlichen Punkt für eine große Minderheit nicht akzeptabel gewesen wäre. Die Zerreißprobe der Weimarer Verfassung, die nicht zuletzt von ihrem Art. 17 ausgelöst worden war, sollte dem Grundgesetz erspart werden 392 . b) Die Deutung der Wahlgleichheit durch das BVerfG In diesem Kontext ist die Stellungnahme des BVerfG im Jahre 1952 zu sehen. Das Gericht, sollte seine Entscheidung eine befriedende Wirkung entfalten, konnte nicht für eine der beiden Seiten Stellung beziehen. Es hätte dadurch unverhohlen in das noch unentschiedene politische Ringen im Bundestag eingegriffen und sich in direkten Widerspruch zur wohlerwogenen Intention der Verfassungsväter gesetzt: die Wahlsystemfrage sollte nicht durch die Verfassung entschieden werden, sondern durch den künftigen Bundestag im Wahlgesetz, unter Beobachtung der politischen Entwicklung. Durch eine solche Stellungnahme am Beginn seiner Existenz hätte das BVerfG mit Sicherheit jeden Anspruch auf politische Neutralität von vornherein verspielt. Deswegen verzichtet es auch auf längere dogmatische Erörterungen, welche in jedem Fall der einen oder der anderen Seite übel aufgestoßen wären. Heute führt diese Begründungsarmut zu Mißverständmssen. Gleichwohl konnte das Gericht über die Streitfrage nicht einfach hinweggehen: die Alternativität von zwei unterschiedlichen Modellen war die Basis aller Überlegungen zum Wahlrecht in Politik und Wissenschaft; ihre Verknüpfung mit den Begriffen Mehrheits- und Verhältniswahl der - nahezu einzige - sichere Ertrag der Rechtsprechung der Weimarer Zeit. Der schließlich bestrittene Weg zur Lösung des Dilemmas war dadurch zwingend vorgezeichnet.
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A.A. Nicolaus. ZRP 1997, S. 185 ff., mit unverständlicher Begründung.
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Drei Wege waren in dieser Situation denkbar: Das Gericht hätte - erstens - davon ausgehen können, daß durch den Wegfall der "Verhältniswahl" als Verfassungssatz eine Entscheidung gegen das ihr zugrundeliegende Gleichheitsideal getroffen werden sollte393 . Es hätte dann nur Zählwertgleichheit verlangen dürfen und den Begriff "Verhältniswahl" in § 1 BWahlG im nur technischen Sinne deuten müssen, so wie die frühe Rechtsprechung der Weimarer Wahlprüfungsgerichte. Damit hätte es aber das Ideal der "Mehrheitswahl" zum Verfassungssatz erhoben, was nicht nur wegen der entgegenstehenden Entstehungsgeschichte falsch gewesen wäre. Denn "Mehrheitswahl" ist kein "Minus" zur "Verhältniswahl", kein kleinster gemeinsamer Nenner der Wahlsysteme, sondern ein ganz eigenständiges, alternatives und der Verhältniswahl gerade entgegengesetztes "Prinzip", wie das Gericht es nennt. Die gleichheitsrechtlichen Anforderungen der Verhältniswahl an das Wahlgesetz sind nicht strenger als die der Mehrheitswahl, sondern andere. Die Schlußfolgerung: keine Regelung in der Verfassung bedeutet, daß "nur" Zählwertgleichheit gelten soll, ist deshalb unzulässig, wenn sie sich nicht aus besonderen Umständen ergibt. Und das tut sie im Falle des Grundgesetzes eben nicht. Die zweite Möglichkeit wäre die umgekehrte gewesen, für sie gilt Entsprechendes: mit der Argumentation des Richters Leibholz hätte man zeigen können, daß allein die Verhältniswahl das der modemen Parteiendemokratie angemessene und damit verfassungsmäßige Wahlrecht ist. Gewisse Anklänge an diese Überlegung finden sich auch in den Entscheidungen, sie schlagen aber nicht durch 394 . Auch dieser Weg steht in glattem Widerspruch zur Intention selbst der SPD, die sich den Weg zur Mehrheitswahl mit voller Absicht nicht endgültig verbauen wollte. Ihr "Sieg" im parlamentarischen Rat bezieht sich nur auf das Wahlgesetz. Wichtiger noch ist der Vergleich mit der Weimarer Verfassung: angesichts deren in ihrem Gehalt heiß umstrittenen ausdrücklichen Festlegung der Verhältniswahl wäre der Verzicht des GG auf eine entsprechende Regelung bei gleicher Intention schlichtweg unverständlich. Dieser zweite Weg wird denn auch in den 50er Jahren noch nirgends ernsthaft in Betracht gezogen. Selbst Leibholz anerkennt, daß das GG eben noch - seiner Ansicht nach altmodische - Elemente einer Repräsentativverfassung enthält, die an sich nicht zur modernen Demokratie passen395 . 393 So OVG Lüneburg, DVBl. 1950, S. 530, 534; Henrichs, NJW 1956, S. 1703, 1704: "Ebensowenig darf die Verfassungswidrigkeit eines Wahlgesetzes nicht damit begründet werden, daß es auf sachfremden Erwägungen, gemessen am Prinzip der Verhältniswahl, beruhe. Denn wenn dieses Prinzip keine Verfassungskraft hat, braucht es auch nicht berücksichtigt zu werden". 394 s. o. Fn. 368-370. 395 Etwa Gutachten (oben Fn. 343).
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Der dritte Weg ist der vom BVerfG beschrittene: die Entscheidung zwischen den beiden Alternativen wird im Wahlgesetz gesucht. Zuständig ist also der Bundestag als einfacher Gesetzgeber, die politische Frage wird von einem politischen Gremium entschieden, nicht vom Gericht, und bleibt theoretisch jederzeit revisibel. Nur dieser Weg wird der vom Parlamentarischen Rat gewählten Lösung gerecht. Erst das BWahlG wird, aus dem Blickwinkel von 1952 unvermeidlich, im Sinne der Verhältniswahl gedeutet396 • Das ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte und den andauernden Mehrheitsverhältnissen im Bundestag: Die Entscheidung für den Verhältnisausgleich wurde, mühsam genug, gegen schärfsten Widerstand der CDU durchgesetzt und aufrechterhalten, sie bildete immer den Hauptstreitpunkt in der Diskussion. Schon von daher mußte das Gericht ihn für das entscheidenden Charakteristikum des Gesetzes halten. Vor dem Erkenntnishorizont der Entstehungszeit ist die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts zwingend. Die Schwäche seiner Lösung, die von einer im einfachen Gesetz getroffenen Verfassungsentscheidung ausgeht und eine Bindung des Gesetzgebers an seine eigene Entscheidung postuliert, ist ihre vom Gericht nicht geklärte methodische Unsauberkeit in Ansehung der Normenhierarchie 397 . Sie kann aber schon durch den Gedanken relativiert werden, daß die Systementscheidung zwar nicht formell, wohl aber materiell dem Verfassungsrecht zuzuordnen ist398 . Im übrigen mußte sie in Anbetracht der staatspolitischen Zusammenhänge eben hingenommen werden: Die Sonderbehandlung, die das Wahlrecht durch den parlamentarischen Rat erfahren hatte, pflanzte sich bei seiner Auslegung fort. 11. Wahlreformdebatte zwischen 1965 und 1975 Mit der Verabschiedung des endgültigen Wahlgesetzes von 1956 war die Wahlrechtsdiskussion in Politik und Wissensschaft vorerst zur Ruhe gekommen. Erst 1966, mit der Bildung der großen Koalition, ergab sich dann unerwartet wieder eine realistische Chance für eine Änderung des Bundeswahlrechts. Es erhob sich der laute Ruf nach einer durchgreifenden Wahlreform. Die Bedingungen dafür schienen günstig, hatte doch die F.D.P. durch ihr aufsässiges Verhalten in der Regierung Erhard das Bündnis mit der CDU scheitern lassen, ohne zu diesem Zeitpunkt schon für eine soziallibeAusführlicher etwa Schwarz, DöV 1962, S. 373 f. Seifert, DöV 1953, S. 42, 43: "Mit der Auffassung, der Wahlgesetzgeber müsse sich für ein bestimmtes ,System' entscheiden und dieses dann auch festhalten, wird die Aufgabe des Gesetzgebers doch wohl etwas verkannt". Vgl. auch Mahrenholz, S. 94. 398 Wahlrechtskommission 1955, S. 85. 396
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rale Koalition bereit zu sein. Angesichts dieser Konstellation kam es erstmals auch für die SPD in Betracht, ein anderes als das Verhältniswahlsystem ernsthaft in Erwägung zu ziehen, um auf diese Weise nach 16 Jahren Opposition womöglich endlich einen Machtwechsel herbeizuführen. Die Wahlreform wurde denn auch von Bundeskanzler Kiesinger in die Regierungserklärung der großen Koalition aufgenommen 399 . Es begann eine heftige politische und politikwissenschaftliche Diskussion. Die Befürworter der Reform, deren Publikationen mengenmäßig ganz dominierten, riefen zunächst nach der relativen Mehrheitswahl, warteten später aber auch mit verschiedenen neuartigen Vorschlägen zur Gestaltung des Wahlsystems auf. Die Reformgegner verhielten sich größtenteils abwartend und konnten sich in der Politik auf taktische Obstruktion der Wahlreform beschränken4OO • Auch sie entwickelten, mit einer gewissen Verzögerung, neue Begründungsmuster für ihren Standpunkt. Die Rechtswissenschaft sah sich gezwungen, die Wahlrechtsdogmatik neu zu durchdenken, um die neuen Modelle sinnvoll erfassen zu können. Dabei wurden die Grundlagen, die nach dem Krieg größtenteils aus der Weimarer Zeit übernommen worden waren, erstmals in Frage gestellt. Überhaupt kam es jetzt in größerem Umfang zu einer Ablösung der bereits in der Weimarer Zeit aktiven Protagonisten durch eine jüngere Generation von Politikern und Wissenschaftlern. Das Ergebnis der neuen Auseinandersetzung mit der Wahlrechtsdogmatik waren zwei Ansätze, die sich um wissenschaftliche Neutralität im Streit Mehrheitswahl gegen Verhältniswahl bemühen und dem Gesetzgeber beide Gestaltungsmöglichkeiten offenlassen. Daneben wurden die beiden alten Lehren fortgeführt, welche die ausschließliche Geltung eines Gleichheitsmaßstabes von Verfassungs wegen behaupten, mit teilweise neuer Begründung. Für die Dogmatik der Wahlgleichheit sind insbesondere wichtig drei Rechtsgutachten aus dem Jahre 1968 von Jochen A. Frowein, Roman Herzog und Ingo v. Münch. Die umfangreiche Wahlrechtsdokumentation von Dolf Stemberger, Bernhard Vogel und Dieter Nohlen führt die von Georg Meyer und Karl Braunias begründete Tradition fort401 . Während diese Autoren im Ergebnis die sogenannten "mehrheitsbildenden Wahlsysteme" mit verschiedenen Argumenten für zulässig halten, findet sich in Hans Meyer402 ein dezidierter Gegner aller derartigen Reformbestrebungen. In seiner juriBT, 5. WP, Szg. vom l3. 12. 1966, StB S. 3657. Ausführlich Bredthauer, S. 77 ff. 401 Die Wahl der Parlamente und anderer Staatsorgane, Handbuch, 1969. Der Deutschland betreffende Teil und der theoretische Teil von Nohlen (Bd. VI) findet sich in leicht überarbeiteter Fassung in: Nohlen/Vogel/Schultze, Wahlen in Deutschland, 1971. 402 Wahl system und Verfassungsordnung, 1973. 399
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stischen Habilitationsschrift - soweit ersichtlich der ersten und bisher einzigen zum Wahlrecht überhaupt - vertritt er die These, daß die Verhältniswahl vom Grundgesetz zwingend vorgeschrieben sei. Bedeutsam ist ferner der Bericht des mit führenden Wissenschaftlern besetzten "Beirats des Bundesinnenministers zu Fragen des Wahlreform,,403 von 1967/68, der sich abgesehen vom Minderheitsvotum Günter Dürigs - für die relative Mehrheitswahl ausspricht. Das Bundesverfassungsgericht äußerte sich in diesem Zeitraum lediglich einmal in grundsätzlicher Weise zur Wahlgleichheit404 . Es vermeidet dabei sorgfältig eine Auseinandersetzung mit der in Fluß geratenen Entwicklung und zieht sich abwartend auf seine traditionellen Formeln zurück. Die Wahlreform kam nicht zustande und wurde mit dem Ende der großen Koalition 1969 obsolet. Ursache war neben der Uneinigkeit der Reformer über das richtige System vor allem die Unentschlossenheit der SPD405 . Mehrere Landesverbände opponierten gegen die Pläne der Parteiführung zur Abschaffung der Verhältniswahl. Ausschlaggebend wurde eine vom Infas-Institut veröffentlichte Prognose, derzufolge die SPD unter der Mehrheitswahl aufgrund der soziopolitischen Struktur der Wählerschaft auf absehbare Zeit keine Chance haben sollte, die CDU als Regierungspartei abzulösen406 . Der Nürnberger Parteitag von 1968 vertagte daraufhin eine Entscheidung auf die Zeit nach dem erwarteten Ende der großen Koalition und verabschiedete sich damit faktisch von der Reform407 . Nach dem Ende der politischen Reformbemühungen verlief auch die wissenschaftliche Diskussion im Sande, die Flut der Publikationen ebbte rasch ab. Es kam nicht zu einer vertieften Auseinandersetzung mit den verschiedenen neuen Ansätzen und zu einer Systematisierung. Die vorangegangenen Bemühungen blieben mehr oder weniger fragmentarisch, sie führten nicht zu einem Konsens, ja sie brachten nicht einmal ein klares und unstreitiges begriffliches Fundament für die Handhabung der Wahlgleichheit hervor. 403 "Zur Neugestaltung des Bundeswahlrechts", auch abgedruckt bei Lücke, Ist Bonn doch Weimar?, S. 94 ff. Mitglieder waren Eschenburg, Ellwein, Hennis, Hermens, Scheuch als Politologen bzw. Soziologen sowie Scheuner und Dürig als Staatsrechtler. 404 Urteil vom 11. 10. 1972, BVerfGE 34, S. 81 ff. (Rheinland-Pfälzisches Wahlgesetz). 405 Die Initiative ging vor allem von der Führungsgruppe der Partei um Wehner, Ehmke und Schmidt aus, während die Basis Zurückhaltung zeigte. Vgl. etwa die Bundestagsdebatte um die Regierungserklärung Kiesingers, StB V/3700-3747, 3819-3879. Darstellung bei Jesse, S. 115 f. 406 Siehe Wildenmann, FS Hermens, S. 223, 227; Lücke, S. 60 f.; ausführlich zum Hintergrund und zur Kritik der Infas-Studie Jesse, S. 121 f. 407 Lücke, S. 29; Jesse, S. 122 und S. 35 f.
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1. Die Befürworter eines "mehrheitsbildenden Wahlsystems " Nach der Aufnahme der Wahlrefonn in das Programm der großen Koalition traten zunächst die "Klassiker" der vorigen Wahldebatte, Hermens und Stemberger, wieder auf den Plan und propagierten mit ihren alten Argumenten die relative Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen. Ihre Argumente liegen auch dem Bericht des "Beirates für Wahlrechtsfragen,,408 zugrunde. Bundesinnenminister Paul Lücke, der Auftraggeber des Beirates, war der leidenschaftlichste Verfechter der Wahlrefonn unter den hochrangigen Politkern. Der Bericht basiert auf einer "funktionale Betrachtungsweise", die "nach dem Sinn und der Bedeutung der Wahl für die Willensbildung in einer demokratischen Verfassungsordnung" fragt409 . Als Aufgaben der Wahl werden genannt: die Legitimationsfunktion, die Kreation eines arbeitsfähigen Parlaments, die Gewährleistung einer effektiven parlamentarischen Opposition und die Ennöglichung von möglichst viel Einfluß des Wählers auf die Grundrichtung der Politik41O . Die Argumentation des Beirats beruht vor allem auf dem letzten Gesichtspunkt und ist vom Gedankengut Stembergers geprägt: Die Mehrheitswahl zwingt bereits die Wähler zu einem Komprorniß, zur Wahl des aus ihrer Sicht kleinsten Übels und damit zur Einigung. Insofern hat sie "einigungsfördernde Wirkung". Die Grundentscheidung über die künftige Politik fällt nicht, wie bei der Verhältniswahl, im Parlament durch Koalitionsverhandlungen und "dunkle Kompromisse", denn bereits die Wahl bringt eine klare Mehrheit hervor, die während der folgenden Wahlperiode ihr Programm verwirklichen kann411 . Das der Verhältniswahl zugrundeliegende Gerechtigkeitsideal hält der Beirat für eine zwar zulässige Wertung, der er sich aber ausdrücklich nicht anschließt412 . Ähnlich argumentiert Friedrich Schäfer, Vorkämpfer der Mehrheitswahl in der SPD4I3 . Jene läßt seiner Ansicht nach die Wahl "zur Alternativent408 Lücke erläutert seine Überzeugung und seine politischen Aktivitäten ausführlich in der Schrift "Ist Bonn doch Weimar?" von 1968. 409 Beirat, in: Lücke, S. 95 410 Beirat, a. a. 0., S. 96. Ob daneben auch noch die Stellungnahme der Wähler zu Sachfragen der Politik im Sinne des plebiszitären Demokratieverständnisses Aufgabe der Wahl ist, "kann dahingestellt bleiben"; ebenso Vogel, ZfP 14 (1967), S. 246, 251; weitere Nachweise bei Jesse, S. 169 ff. 411 Beirat, a. a. 0., S. 100 f. 412 Beirat, a. a. 0., S. 95. 413 Ist die Zeit reif für ein funktionsgerechtes Wahlrecht?, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1968, S. 155 ff.; Sozialdemokratie und Wahlrecht, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1967, S. 157 ff.
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scheidung eines jeden Wählers zwischen Beharrung und Bewegung werden", während die Verhältniswahl für den "Verlust politischer Konturen" verantwortlich ist. Denn sie hat "nicht die Übertragung politischer Macht und Verantwortung zum Ziel ... , sondern die Widerspiegelung einer weitgehend apolitischen Wählerschaft. ,,414 Ein zweiter Argumentationsstrang zielt, im Sinne der auf Hermens zurückgehenden Lehre, vor allem auf die Funktionsfähigkeit des Parlaments und die Struktur des Parteienspektrums. Herausgestellt wird der "mehrheitsbildende Effekt" der Mehrheitswahl, also die Tatsache, daß nur noch zwei Parteien eine reelle Chance auf Einzug in das Parlament haben und dort zwangsläufig eine von ihnen über eine dauerhafte Mehrheit verfügt. Dadurch soll eine Vereinfachung des Parteienspektrums und die politische Mäßigung der überlebenden Parteien bewirkt werden, vor allem mit Blick auf die Ende der 60er Jahre anwachsende NPD und auf die F.D.P., deren Rolle als "Zünglein an der Waage" als Ärgernis empfunden wird415 . In den bei den großen Parteien erhoben sich bald erhebliche Bedenken gegen die reine Mehrheitswahl416 . So vor allem wegen der Gefahr "politischer Verödung weiter Regionen", in denen die sichere Mehrheit einer Partei ihr dort eine Art Alleinvertretungsrecht sichern würde. Aber auch der mangelnde Einfluß der Parteileitungen auf die Kandidatenaufstellung und die fehlende Möglichkeit, Fachleute ins Parlament zu bringen, wurde bemängelt. Die Reformbefürworter reagierten auf die Kritik an der einfachen Mehrheitswahl mit der Entwicklung neuer Wahlsysteme, die zwar die gleiche mehrheitsbildende Wirkung, aber nicht die Nachteile der Mehrheitswahl aufweisen sollten417 . Hier tat sich besonders Hermens selbst hervor, der gleich zwei Varianten ins Spiel brachte: einmal die Zuwahl von 20% der Abgeordneten über Listen, die aber nicht nach dem Stimmen verhältnis, sondern nach dem Verhältnis der im Mehrheitswahl-Abschnitt gewonnenen Sitze verteilt werden ("Prolongation,,)418. Der Zweite Vorschlag ist das "kubische System", ein Verhältniswahlsystem, bei dem nicht die einfache Stimmenzahl der Sitzverteilung zugrundeliegt, sondern ihre dritte Potenz419 .
F. Schäfer, Verfassung und Verfassungswirklichkeit, Jb. 1968, S. 155, 159. Etwa Lücke, S. 13, 15, 17 f.; Unkelbach, in: ders./Wi1denmann/Kaltefleiter, S. 55 ff.; Vogel, ZfP 14 (1967), S. 246, 250 f.; Wildenmann, FS Hermens, S. 223, 233. 416 Hermens, Sondervotum zum Bericht des Beirates, in: Lücke, S. 152 ff.; Jesse, S. 29 f. 417 Darstellung bei Bredthauer, S. 25 ff. 418 Sondervotum zum Bericht des Beirates, a. a. O. S. 152 ff.; darstellend Jesse, S. 175 ff. 414
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Die größte Bedeutung erlangt schließlich die "Verhältniswahl in kleinen (3er- oder 4er-)Wahlkreisen,,42o. In diesem werden in Wahlkreisen jeweils drei beziehungsweise vier Abgeordnete über Parteilisten nach dem Stimmenverhältnis gewählt, ein übergreifender Verhältnisausgleich findet nicht statt. Ziel ist es, daß in einem Wahlkreis typischerweise jeweils die stärkste Partei zwei und die zweitstärkste ein Mandat erhält, während alle anderen in der Regel leer ausgehen. Das System wirkt damit mehrheitsbildend, hat aber gegenüber der einfachen Mehrheitswahl in Einer-Wahlkreisen den Vorteil, daß auch die zweite Partei nahezu in allen Regionen durch eigene Abgeordnete vertreten ist, so daß es nicht zu einer "politischen Verödung" kommt421 . In der Politikwissenschaft wurde ein neuer theoretischer Begründungsansatz entwickelt, mit dem nachgewiesen werden kann, daß in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes allein ein mehrheitsbildenden Wahlsystem funktionsgerecht ist. Ein Beispiel ist der Ansatz von Eberhard Schütt422• Er beschreibt eine Grundalternative zwischen "neutralen" und "einigungsfördernden" Wahl systemen , deren Spezialfall die "herkömmlicherweise diskutierte Alternative Verhältniswahl/Mehrheitswahl" ist423 . Jede der beiden Alternativen ist Ausprägung eines bestimmten "Idealtyps" der Demokratie, entweder des "individualen" oder des "kollektiven". Der individuale Typ beruht nach Schütt auf der Auswahl der "besten" Staatsbürger, denen die Willensbildung stellvertretend für die Volksversammlung im Parlament übertragen wird. Diesem Typ entspricht ein "neutrales Wahlsystem" wie die Verhältniswahl. Die Bundesrepublik dagegen gehört zum kollektiven Typ, in dem das politische Leben von großen, festgefügten Parteiblöcken beherrscht wird, innerhalb derer die Willens bildung stattfindet. Dem Parlament kommt nur noch eine Beschluß-, keine Beratungsfunktion mehr zu. Aufgabe der Wahl ist dann nicht mehr die Auswahl von Personen, wie es ursprünglich vom 419 HennenslUnkelbach, Die Wissenschaft und das Wahlrecht, Politische Vierteljahresschrift 8 (1967), S. 2; dazu Bredthauer, S. 28 f.; Jesse, S. 184 ff. 420 Auf Vorschlag von Friedrich Schäfer (4er-System) und Ernst Wrage (3er-Systern). Beide Vorschläge sind abgedruckt mit dem Bericht der SPD-Wahlrechtskommission 1968, S. 63 ff. und S. 68 ff.; dazu darstellend Jesse, S. 192 ff. Bereits im 19. Jahrhundert hatte der Sozialdemokrat Peter Braun ein 5er-Wahlkreis-System vorgeschlagen (NZ 1893/94, Bd. 2, S. 303, 332 f., zitiert auch bei Schäfer, S. 167). 421 Wrage, a. a. 0., S. 71. 422 Wahlsystemfrage zwischen Recht und Politik, ZfP 23 (1976), S. 253 ff; ferner etwa BK-Badura, Art. 38, Rn. 35 ff. und - deutlich - Krüger, S. 250 f. Siehe dazu den Forschungsüberblick bei Jesse, S. 36 ff. 423 Schütt, ZfP 23 (1976), S. 253, 259.
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Mill/Hareschen System bezweckt war, sondern die Beauftragung eines der beiden Parteiblöcke mit der Gestaltung der Politik424 . "In den Wahlen konkurrieren die Parteien um die Macht, die Wahlen sind eine Methode der Machtverteilung, wobei die gewonnenen Machtanteile in Parlamentssitzen ausgedrückt werden,,425. Die traditionelle Gleichsetzung Mehrheitswahl = Persönlichkeitswahl, Verhältniswahl = Parteien wahl wird hier auf den Kopf gestellt und die Mehrheitswahl gerade aus dem Gedanken der Parteiendemokratie heraus gerechtfertigt: "Demokratischer, funktionsfähiger Parteienstaat und Verhältniswahlrecht schließen einander aus,,426. Die Parteien werden damit auch von den Befürwortern eines "mehrheitsbildenden Wahlsystems" als entscheidende Faktoren des politischen Lebens anerkannt und zur Grundlage der Wahlsystematik gemacht - eine Wendung, die in der vom englischen System beeinflußten Lehre von Rennens von Anfang an angelegt war. Mit der im Kern parteienfeindlichen Lehre Sternbergers ist das nicht zu vereinbaren, er sieht die Wahl nach wie vor als lokalen Entscheidungsprozeß auf der Ebene der Wähler ohne notwendige Zwischenschaltung von Parteien. Die modemen "mehrheitsbildenden" Systeme sind für ihn Unfug 427 , schlimmer als die Verhältniswahl: das kubische Wahl system des "vormals hochverdienten Kölner Universitätsprofessors Ferdinand A. Hermens" bezeichnet er als "Wahnsystem". So kommt es zur Spaltung der Bewegung für eine Wahlreform. Hinsichtlich der Wahlgleichheit sind sich die Reformer allerdings einig: die Wahl ist Entscheidung, sei es nun zwischen Parteien oder zwischen Kandidaten. Einen "Erfolgswert" der Stimme, gemessen an ihrer proportionalen Vertretung im Parlament, gibt es nicht, relevant ist einzig und allein die gleichberechtigte Teilnahme an der Entscheidung, die Zählwertgleichheit. Ein auf Abbildung der Stimmen gerichtetes Wahlsystem ist der parlamentarischen Demokratie, wie sie das Grundgesetz errichtet hat, fremd. Schütt, ZfP 23 (1976), S. 253, 262 ff. BK-Badura, Art. 38, Rn. 39. 426 Karl Irenäus Underberg, Jahrbuch Verfassung und Verfassungswirklichkeit 1967, S. 222, 230 ff., 238. Zum Zusammenhang von personaler Repräsentation und Parteien auch Scheuner, Die Parteien und die politische Leitung in der Demokratie (1958), in: gesammelte Werke, S. 347, 355: "Die repräsentative Demokratie ist auf dem Prinzip der personalen Vertretung aufgebaut, auf der Anerkennung dieser Vertretung und dem Vertrauen. Sie ist ohne diese personale Seite, die dem Volk vor allem die Wahl der Personen (heute tatsächliche der politischen Gruppen) überträgt ... nicht vorstellbar". 427 Siehe dazu exemplarisch den gegen das "kubische System" gerichteten Leitartikel "Wahlsystem oder Wahnsystem?" von Stemberger, FAZ v. 28. 3. 1967, S. 1; dazu auch Jesse, S. 128. 424 425
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2. Die Anhänger der Verhältniswahl (H. Meyer)
Die Anhänger des bestehenden Systems der Verhältniswahl versuchen der drohenden Wahlreform durch den Nachweis zu begegnen, daß die Erfolgswertgleichheit der vom Grundgesetz selbst vorgegebene Gleichheitsmaßstab ist, so daß jedes "mehrheitsbildende" Wahlsystem einschließlich der relativen Mehrheitswahl verfassungswidrig wäre. Einen ausführlich begründeten Vorstoß in dieser Richtung unternimmt Hans Meyer, der als einziger Staatsrechtler überhaupt eine umfassende Theorie zu den Wahlsystemen und zur Wahl gleichheit entwickelt. Hinzu kommen vereinzelte, aber gewichtige Stimmen, so Günter Dürig in seinem Sondervotum zum Bericht des "Beirates für Wahlrechtsfragen".428 Die Argumentation vollzieht sich in drei Schritten: Zunächst geht Meyer davon aus, daß der Inhalt der Wahlgleichheit, als essentielle Grundlage der Demokratie, vom Grundgesetz implizit vorgegeben wird, so daß der Gesetzgeber wegen des Vorrangs der Verfassung bei der Gestaltung des Wahlsystems an diese Vorgabe gebunden ist. Der Grundsatz der Wahlgleichheit gilt "absolut", genau wie unbestritten die übrigen Wahlgrundsätze. Es ist nicht einzusehen, weshalb der Inhalt einer Verfassungsnorm zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stehen so11429 . Dieses Verhältnis von Wahlgleichheit und -system - so die Begründung ist typisch für die Entwicklung in Deutschland, denn stets, vor allem aber 1919 in der Nationalversammlung, hat die Forderung nach einem bestimmten Wahlsystem auf einem bestimmten Gleichheitsbegriff beruht. Dem trägt das Grundgesetz Rechnung, wenn es die Wahlgleichheit ausdrücklich anordnet, das Wahlsystem aber nicht, denn dieses folgt zwingend aus jenem. Das Wahlgesetz kann den vorgegebenen Inhalt der Gleichheit nicht verändern, die Verfassungsnorm steht nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, daß die Väter des Grundgesetzes die Frage des Wahlsystems bewußt offengelassen und so den Gesetzgeber zur Festlegung des Wahlsystems "ermächtigt" hätten. Das 428 Hans Meyer, Wahlsystem und Verfasungsordnung, 1973 und Die herkömmlichen Wahlsysteme und ihre Folgen, DöV 1970, S. 691 ff.; Günter Dürig, Sondervotum zu Bericht des Beirates des Innenministers für Wahlrechtsfragen, bei: Lücke, S. 146; ferner Erich Küchenhoff, Volkslegitimation, Stabilität und Kontrolle des Regierens unter Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht, in: Zilleßen, S. 44, insbesondere S. 60, 62, 65; Theodor Maunz, Grundgesetzliche Schranken einer Wahlreform, in Wahlrecht und Wahlgerechtigkeit, hrsg. von Hettich, Hermens, Mischnick, Maunz (1970), S. 49 ff. 429 H. Meyer, Wahl system, S. 119.
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1. Teil: Historische Untersuchung
Offenlassen erklärt sich vielmehr aus der Unsicherheit der Beteiligten über die genaueren Implikationen der Gleichheitsforderung für die Systemgestaltung, besonders im Hinblick auf Mischwahlsysteme. Aus der Tatsache, daß eine Minderheit für die Einführung der Mehrheitswahl durch das Wahlgesetz gestimmt hat, können kein Schlüsse auf die Vereinbarkeit dieses Systems mit den Vorschriften des Grundgesetzes gezogen werden43o . Die systemimmanente Bestimmung der Wahlgleichheit in Abhängigkeit vom Wahlsystem, wie sie das BVerfG praktiziert, beruht danach auf der unreflektierten Übernahme der früheren Rechtsprechung: sowohl in der Weimarer Zeit als auch im Kaiserreich stand jeweils überhaupt nur ein Wahlsystem zur Auswahl: im Kaiserreich die allein bekannte und praktikable Mehrheitswahl, in der Republik die in der Verfassung verankerte Verhältniswahl. Die Rechtsprechung hatte daher gar keine Veranlassung, Überlegungen über das jeweilige System hinaus anzustellen431. Unter dem vom Wortlaut her systemoffenen Grundgesetz ist das anders geworden, die Gleichheitslehre muß entsprechend angepaßt werden. Im zweiten Schritt der Argumentation weist Meyer nach, daß die "strikte" Erfolgswertgleichheit die vom Grundgesetz gemeinte Wahlgleichheit ist. Deshalb ist jedes andere als ein reines Verhältniswahlsystem rechtfertigungsbedürftig. Das ergibt sich aus der Struktur des modemen politischen Lebens, in dem die Gliederung nach Parteien unentbehrlich und für die politische Willensbildung das ausschlaggebende Moment ist. Deshalb gewinnen alle heute diskutierten Wahlverfahren ihren Sinn einzig und allein aus ihren Auswirkungen auf die parteipolitische Zusammensetzung des Parlaments, das Wahlsystem ist primär Wettbewerbsordnung für die Parteien432 . Das ist offensichtlich bei der Verhältniswahl, gilt aber auch für die modeme Form der Mehrheitswahl. Die Erfolgswertgleichheit der Parteien ist deshalb in der modemen Demokratie das einzig sinnvolle Anknüpfungskriterium für die Gleichheit der Wahl, Meyer spricht synonym von der "Chancengleichheit der Parteien" als wesentlicher Inhalt der Wahlgleichheit. Seine Argumentation steht insoweit in der Tradition der Parteienstaatslehre, er vermeidet aber sorgfältig jede ausdrückliche Bezugnahme. Danach lassen sich alle Wahl systeme in einer kontinuierliche Reihe anordnen, nach dem Maß der jeweils bewirkten Abweichung der Erfolgswertgleichheit. Es gibt keinen qualitativen Unterschied zwischen dem System 430 431 432
H. Meyer, Wahlsystem, S. 192 f. H. Meyer, Wahlsystem, S. 114 ff. H. Meyer, Wahlsystem, S. 166 f.; 177 f.
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des BWahlG mit seiner 5 %-Klausel und der Mehrheitswahl mit einer faktischen Sperrklausei von bis zu 50% im Wahlkreis 433 . Insbesondere die relative Mehrheitswahl steht mit der so beschriebenen Funktion von Wahlen im modemen Staat nicht mehr in Einklang. Ihre ursprüngliche Bedeutung, die Entsendung von "Lokalvertretern" ins Parlament, hat sie längst verloren. Die Einteilung des Wahlgebiets in abgeschlossene Einerwahlkreise hat damit keinen Sinn mehr und vermag die Verzerrung der Chancengleichheit der Parteien nicht zu erklären. Dagegen kann auch nicht - wie besonders Maunz betont - das alte Argument ins Felde geführt werden, demzufolge Zweck der Wahl auch die Bildung einer stabilen Regierung sein S011434 : Die Gleichheit der Wahl, die Chancengleichheit der Parteien, ist im Grundgesetz geregelt, das Erfordernis einer stabilen Mehrheit im Bundestag aber nicht. Ganz im Gegenteil, zahlreiche Vorschriften der Verfassung gehen offensichtlich von einem Vielparteienparlament aus und dienen einzig dem Zweck, auch in einem solchen eine kontinuierliche Regierungsarbeit zu ermöglichen. "Das Ideal einer von vornherein festen Regierungsmehrheit (ist) auch nicht in Ansätzen in der Verfassung zu finden". Schon deshalb kann die "mehrheitsbildende Wirkung" kein legitimes Anliegen des Wahlsystems sein. Düril 35 schließlich weist auf die durch die hohe Wahlbeteiligung erwiesene Akzeptanz der Verhältniswahl in der Bevölkerung hin, die darauf hindeutet, daß das Gerechtigkeitsideal der Erfolgswertgleichheit weithin internalisiert ist. Der einzige wirkliche Nachteil der Verhältniswahl, den ihre Gegner nennen, ist der Zwang zu Koalitionen. Aber selbst das dürfte von vielen Wählern nicht nur in Kauf genommen, sondern durchaus gewollt sein. Die pluralistische Mehrparteiendemokratie ist heute in Deutschland das den realen Befindlichkeiten entsprechende System, eine Änderung gar nicht wünschenswert. Das gegenwärtige System ist, mit Ausnahme des Problems der Nachwahlen, "fast ideal". Dürig hält es deshalb für möglich, daß das BVerfG ein mehrheitsbildendes System schon aus diesem Grunde für verfassungswidrig erklären könnte. Einschränkungen der solchermaßen im "demokratischen" Sinn gedeuteten Wahlgleichheit hält Meyer - im dritten Schritt seiner Argumentation - zwar für möglich, stellt dafür aber strenge Voraussetzungen auf. Gemäß ihrem Verfassungsrang und ihrer Bedeutung als Kemelement der Demokratie können Differenzierungen nur aus dem Grundgesetz selbst gerechtfertigt werden, nicht aber aus allgemeinen Zweckmäßigkeitserwägun433 434 435
H. Meyer, Wahlsystem, S. 171 und S. 173 ff. Maunz, in: Hättich/Hermens/Maunz/Mischnick, S. 49, 58 f. Sondervotum zum Bericht des Beirates, bei: Lücke, S. 146 ff.
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gen. Anders als Art. 3 Abs. I GG ist die Wahlgleichheit nicht als bloßes Willkürverbot zu verstehen, sondern in einem "strikten" Sinne. Das Willkürverbot hat nur beim völlig wertungsoffenen allgemeinen Gleichheitssatz seine Berechtigung, nicht aber für die Wahlgleichheit: Diese betrifft einen genau umrissenen Sachverhalt, aus dem sich alle zulässigen Wertungen ergeben436 • Danach sind solche Einschränkungen zulässig, die zur Herstellung der "Funktionsgerechtigkeit" des Wahlsystems zwingend erforderlich sind. Dazu gehört es nach Meyer nicht, die Zahl der Parteien in Richtung auf ein Zweiparteiensystem zu reduzieren. Im Gegenteil, aus dem Gedanken der modemen Repräsentation ergibt sich die Forderung nach einem möglichst breitgefächerten Parteienspektrum, denn der Einfluß des einzelnen Wählers auf den Inhalt der Politik ist umso größer, je mehr reale Entscheidungsalternativen zwischen verschiedenen Parteiprogrammen er hat437 . Dahinter steht ein Verständnis von Repräsentation, nach dem die Parlamentswahl dem Staat inhaltliche Legitimation durch Rückkopplung an den realen Volkswillen verschafft438 . Differenzierungen können aber unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit des Parlaments gerechtfertigt sein, wenn auch nur in geringem Ausmaß. Insbesondere weist Meyer nach, daß ein Zweiparteiensystem nicht Voraussetzung für eine auch in Krisenzeiten handlungsfähige Volksvertretung ist439 . Im Hinblick auf die Arbeitsweise eines modemen Parlaments hält er aber Klauseln zur Verhinderung einer "weitgehenden Parteienzersplitterung" für zulässig, wenn sie ein gewisses Maß nicht überschreiten44o . Die Höhe etwa eines Sperrquorums muß stets davon abhängen, "welche Gefahr in dieser Hinsicht vernünftiger Weise angenommen werden kann", unterliegt also ständiger Überprüfung. 3. Formeller, systemimmanenter Gleichheitsbegriff (Frowein, Herzog) 1968 erstatteten die Staatsrechtler Roman Herzog und Jochen A. Frowein dem Bundesinnenminister Gutachten441 zur Verfassungsmäßigkeit des in SPD-Kreisen vorgeschlagenen sogenannten "Dreier-W ahlkreis-Systems"442. 436 H. Meyer, Wahlsystem, S. 120 ff. und S. 134 ff. In diesem Punkt grenzt Meyer sich ausführlich gegen Leibholz ab, vgl. insbesondere S. 148. 437 H. Meyer, Wahlsystem, S. 201 ff.; ebenso Küchenhoff, in: Zilleßen, S. 44, 60 ff. 438 H. Meyer, Wahlsystem, S. 194 ff. 439 H. Meyer, Wahlsystem, S. 206 ff., vor allem durch das Aufzeigen zahlreicher Widersprüche in der Argumentation der Gegner. 440 H. Meyer, Wahlsystem, S. 225 ff.
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Sie standen vor der Aufgabe, dieses neuartige System an der Rechtsprechung des BVerfG zu messen, deren Grundlage bisher der Dualismus nur von "Verhältniswahl" und - in knappen Andeutungen - "Mehrheitswahl" gewesen war. Das Dreier-Wahlkreis-System fügt sich nicht recht in dieses Schema ein: es beruht auf kleinen, abgeschlossenen Wahlkreisen wie die Mehrheitswahl, verteilt innerhalb dieser die Mandate aber nach dem Stimmenverhältnis. Die bei den Gutachter versuchen unabhängig voneinander eine Lösung des Problems, indem sie formal an die systemimmanente Argumentationsweise des Gerichts anknüpfen, materiell aber den Gegensatz zwischen nur zwei Systemen zugunsten eines Pluralismus der Wahlsysteme aufgeben. Dabei vermeiden sie jede Anknüpfung sowohl an die Wurzeln der Rechtsprechung als auch an den zugrundeliegende ideologischen Streit. Ausgangspunkt der Argumentation ist - insoweit vergleichbar mit Meyerdie These, daß es nicht nur zwei, sondern eine Vielzahl von Wahlsystemen gibt, die nach der Größe der zugrundeliegenden Wahlkreiseinteilung geordnet werden können: vom Einerwahlkreis der Mehrheitswahl bis zum das ganze Wahlgebiet umfassenden Großwahlkreis der reinen Verhältniswahl443 . Die Entscheidung zwischen diesen Systemen ist vom Grundgesetz nicht determiniert, auch nicht vom Grundsatz der Wahlgleichheit444 • Denn jenes enthält, anders als die Weimarer Verfassung, keine Regelung des Wahlsystems, der Parlamentarische Rat hat diese Frage ganz bewußt offengelassen. Frowein und Herzog ziehen hier also die entgegengesetzte Schlußfolgerung wie Meyer: nicht nur das eine Ende des Kontinuums ist verfassungsrechtlich zulässig, sondern beide Eckpunkte und alles, was dazwischenliegt. Für die Systementscheidung gilt lediglich das allgemeine Gerechtigkeitspostulat, daß der Gesetzgeber einen legitimen Zweck verfolgen muß und nicht mißbräuchlich handeln darf. Die Zwecke, denen das Wahlsystem von Verfassungs wegen legitimerweise dienen kann, sind diese: Mehrheitsbildung, Integration, Personalisierung und schließlich "Gerechtigkeit", die verstanden wird als verhältnismäßige Abbildung der im Volk vertretenen Grup441 Frowein und Herzog, Rechtsgutachten zu der Vereinbarkeit der Verhältniswahl in kleinen Wahlkreisen mit dem Grundgesetz von, 1968; Frowein, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht, AöR 99 (1974), S. 72 ff. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Ingo v. Münch, Verfassungsrechtliche Aspekte des Dreier-Wahlkreis-Systems, Freie Demokratische Korrespondenz, Sonderausgabe vom 11. 11. 68, abgedruckt in: FS für Eberhard Menzel (1975), S. 41 ff. 442 Beschreibung oben I. (S. 115). 443 Herzog, Gutachten, S. 58; Frowein, Gutachten, S. 7 f. und AöR 99 (1974), S. 72, 76. 444 Frowein, Gutachten, S. 10; Herzog, Gutachten, S. 40; v. Münch, FS E. Menzel, S. 41, 43; insoweit noch übereinstimmend: Beirat, in: Lücke, S. 106.
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pierungen445 . Beim Ausgleich der widerstreitenden Ziele hat der Gesetzgeber einen weiten Spielraum, der nur durch das Verbot von mißbräuchlichen Manipulationen eingeschränkt wird446 : es darf nicht etwa eine bestimmte Partei oder Richtung mit Mitteln des Wahlrechts bekämpft werden, etwa die NPD. Zulässig ist es aber, auf die Entstehung eines faktischen Zweiparteiensystems hinzuwirken 447. Der Inhalt der Wahlgleichheit nun läßt sich erst innerhalb des geltenden Wahlsystems bestimmen; sie ist dem Wahlsystem nachgeordnet. Denn nur so kann man begründen, daß unter dem Grundgesetz sowohl die Mehrheitswahl als auch die Verhältniswahl zulässig ist, trotz ihrer ganz unterschiedlichen Auswirkungen auf die Erfolgswertgleichheit. Schon in der Weimarer Zeit wurde demgemäß "die Wahlrechtsgleichheit auf das Verhältniswahlsystem zu ausgelegt, ohne daß die Verhältniswahl als notwendige Folge des Satzes von der Wahlrechtsgleichheit begriffen wurde ,,448. Infolgedessen muß unterschieden werden zwischen Ungleichbehandlungen durch und innerhalb des Systems449 . Erstere berühren den Grundsatz der Wahlgleichheit nicht und unterliegen nur dem allgemeinen Mißbrauchsund Willkürverbot, letztere sind rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in die Wahlgleichheit und müssen am strengen Gleichheitsmaßstab gemessen werden, wie er vom BVerfG für die Verhältniswahl formuliert wurde: Sie müssen aus zwingenden, staatspolitischen Gründen geboten sein. Als ohne weiteres zulässige Gleichheitsbeeinträchtigungen durch das Wahlsystem sind solche Regelungen zu qualifizieren, die logische Konsequenz der Grundgedanken des Systems sind, die folgerichtig aus ihm ent" wickelt wurden und nicht in logischem Widerspruch zu anderen Regelungen stehen 45o . Wahlgleichheit ist also gegeben, wenn jede Stimme die "ihr nach dem System zukommende Kraft" hat - so Frowein451 . Ähnlich hatte bereits der RStGH formuliert 452 . Herzog bezeichnet die so verstandene Gleichheit als "Erfolgschancengleichheit453 ". 445 Herzog, Gutachten, S. 63 ff.; Frowein, Gutachten, S. 17. Zum Gerechtigkeitsgehalt der proportionalen Abbildung: Frowein, Gutachten, S. 9; Beirat, in: Lücke, S.95. 446 Frowein, Gutachten, S. 18; v. Münch, FS E. Menzel, S. 41,43. 447 Frowein, Gutachten, S. 23 f.; Herzog, Gutachten, S. 64 ff.; v. Münch, FS E. Menzel, S. 41, 48 f. und 53. 448 Frowein, Gutachten, S. 10. 449 Ausdrücklich Herzog, Gutachten, S. 62 f. 450 Frowein, Gutachten, S. 15; Herzog, Gutachten, S. 43 f. und S. 62; Schäfer, in: SPD-Kommissionsbericht, S. 14, 15. 451 Frowein, Gutachten, S. 12; Seifert, BWahIG, Art. 38, Rn. 23.
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Das BVerfG hat sich bisher vertieft nur mit der Verhältniswahl befaßt, also mit solchen Systemen, die auf einem durch die Wahlkreiseinteilung weitgehend unbeeinflußten, das ganze Wahlgebiet umfassenden Verhältnisausgleich beruhen. Für diese Art von Wahlsystemen hat es festgestellt, daß in ihrer Konsequenz die volle Erfolgswertgleichheit liegt, die nur ausnahmsweise etwa durch die 5 %- Klausel durchbrochen werden darf. In der "Natur" der Wahl in großen Wahlkreisen ist das Erfordernis der Erfolgswertgleichheit begründet, sie ist Ausdruck des ihr zugrundeliegenden "Prinzips"454. In anderen Systemen kann das anders sein, die Erfolgswertgleichheit reicht immer nur soweit, wie das System sie vorsieht455 . Dagegen ist kein legitimes System ersichtlich, welches zu Differenzierungen der Zählwertgleichheit führte 456 . Entscheidend für die Beurteilung eines konkreten Wahlgesetzes wird damit die Frage, welche Regelungen seine Grundstruktur ausmachen und damit den Gleichheitsmaßstab bestimmen. Das System des BWahlG etwa wird, übereinstimmend mit dem BVerfG, durch die bundesweite, proportionale Verteilung aller Mandate gekennzeichnet. Die 5 %- Klausel, die den Proporz durchbricht, ist deshalb eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme und nicht Ausdruck der Systementscheidung. Aber schon am Dreier-Wahlkreis-System zeigte sich die Problematik dieses Ansatzes: Herzog und Frowein legen auch hier die Wahlkreisgröße als ausschlaggebendes Kriterium zugrunde und stellen deshalb auf die Einteilung des Wahlgebiets in abgeschlossene, kleine Wahlkreise und die Beschränkung des Verhältnisausgleichs durch diese ab. Daraus folgt, daß die faktischen Sperrwirkung, die bis zu 33'/3% der Stimmen im Wahlkreis betreffen kann, eine konsequente Folge des Systems ist und die durch sie bewirkte Ungleichheit des Erfolgswertes ohne weiteres zulässig457 . Ingo v. Münch dagegen, in seinem der F.D.P. erstatteten Gutachten, hält die Ent452 RStGH, RGZ 124, Anh. S. 1, 13 (Württemberg); Heller, Gutachten (zitiert bei Frowein, Gutachten, Fn. 29). 453 Herzog, Gutachten, S. 42 f. Aus der Stellungnahme Herzogs läßt sich allerdings eine gewisse Skepsis gegenüber dieser These erkennen: "Art. 38 I Satz 1 GG garantiert darüber hinaus aber zumindest im System der personalisierten Verhältniswahl ... zugleich auch die Erfolgswertgleichheit." (S. 54, Hervorhebung durch den Verf.). v. Münch äußert gar, a. a. 0., S. 57, Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Mehrheitswahl überhaupt, ohne diese im Gutachten zu vertiefen. 454 Frowein, Gutachten, S. 11, Herzog, Gutachten, S. 62. 455 Frowein, Gutachten, S. 12 ff.; Herzog, Gutachten, S. 45. 456 Frowein, Gutachten, S. 16; Herzog, Gutachten, S. 42; Sattler, DöV 1970, S. 545, 549. 457 Frowein, Gutachten, S. 14; Herzog, Gutachten, S. 58.
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scheidung für einen verhältnismäßigen Verteilungsmodus für systemprägend und dementsprechend die endgültige Wahlkreiseinteilung mit ihrer Verzerrung des Erfolgswertes für eine systemwidrige Einschränkung458 . Die Gutachten zum Dreier-Wahlkreis-System schlagen einen völlig neuen Weg in der Wahlrechtsdogmatik ein. Sie argumentieren nicht mehr von einem vorgegebenen, fundierten Demokratieverständnis aus, sondern versuchen, die Wahlgleicheit ausschließlich aus technischen Gesichtspunkten des Wahlverfahrens mit Inhalt zu füllen: ein Wahlsystem ist "gleich", wenn es keine gezielt gegen bestimmte Parteien gerichteten Klauseln enthält, im Übrigen darf der Gesetzgeber jede in sich sinnvolle Regelung treffen. Der dahinterstehende, unausgesprochene Beweggrund dürfte gewesen sein, jenseits des völlig festgefahrenen Streites zwischen "Mehrheitswahl" und "Verhältniswahl" zu einer neutralen verfassungsrechtlichen Beurteilung von Wahlsystemen zu gelangen, die für beide Seiten akzeptabel ist. Man knüpft an die Rede des BVerfG von der Wahlfreiheit des Gesetzgebers an und bemüht sich um ihre Verallgemeinerung. Die vom Wahlgesetzgeber zu treffende Entscheidung wird auf diese Weise "tiefer gehängt": von der prinzipiellen Ebene auf eine nurmehr technisch-pragmatische. 4. Materieller, dualistischer Gleichheitsbegriff (Nohlen)
Auch Dieter Nohlen 459 bemüht sich um Verallgemeinerung der Rechtsprechung mit dem Ziel, die modemen Mischwahlsysteme verfassungsrechtlich einordnen zu können. Auch er geht von der vom BVerfG angenommenen Wahlfreiheit des Gesetzgebers zwischen den verschiedenen denkbaren Wahlsystemen aus. Im Gegensatz zu Frowein und Herzog leitet er den Gleichheitsmaßstab aber nicht technisch-systemimmanent aus den Einzelregelungen her. Er geht vielmehr von den beiden vom Gericht genannten "Prinzipien" der Mehrheitswahl und der Verhältniswahl aus und erkennt sie beide gleichermaßen als Ausdruck zweier verschiedener Vorstellungen von Repräsentation, die jeweils einen eigenen Gleichheitsmaßstab beinhalten46o . Der Gesetzgeber muß seinem Wahlsystem eine der bei den Vorstellungen zugrunde legen und den entsprechenden Gleichheitsmaßstab beachten. Bei der technischen Umsetzung ist er in diesem Rahmen weitgehend frei. Nohlen unterscheidet zwei "Repräsentationsmodelle,,461: v. Münch, FS E. Menzel, S. 41, 61; ebenso Sattler DöV 1970, S. 545, 552. Nohlen/Vogel/Schultze, Wahlen in Deutschland, 1970, S. 26 ff.; ebenso schon Stemberger/Vogel/Nohlen, Die Wahl der Parlamente, 1969, Bd. I/l, S. 28 ff. Ausführlich m. w.N. noch Nohlen, Wahlrecht und Parteien system, 1989, S. 97 ff. 460 Begrifflich und inhaltlich stützt er sich dabei auf C. J. Friedrich, Repräsentation und Verfassungsreform in Europa (1948), in: Rausch, S. 208, insbesondere S.217. 458 459
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Nach der einen Vorstellung ist Repräsentation funktional zu sehen; sie ist Mittel, um das Gemeinwesen mit einer Regierung zu versehen. In der parlamentarischen Demokratie geschieht das durch die Wählerschaft, vermittelt durch eine Parlamentsmehrheit. Unter diesem Gesichtspunkt hat die Wahl den Zweck, eine Entscheidung des Volkes über die Regierungsbildung herbeizuführen, indem sie eine eindeutige Parlamentsmehrheit hervorbringt. Die Wahl ist die Bestellung einer Partei zur Regierungsbildung und -unterstützung. Nahten spricht hier vom Prinzip der "Idealrepräsentation", Wahlsysteme, die ihm entsprechen, sind "Mehrheitsbildende Systeme". Das andere Modell ist die ,,(numerische) Realrepräsentation". Es zielt auf Repräsentation durch Gegenwärtigmachen der zu repräsentierenden Einzelwillen. Aufgabe der Wahl ist möglichst getreue Abbildung der politischen Zusammensetzung der Wählerschaft, gewählt wird das Parlament, auf dessen parteipolitische Zusammensetzung es entscheidend ankommt, und nicht die Regierung. Die Realrepräsentation erfordert ein "Proportionales Wahlsystem". Andere Modelle als diese beiden gibt es nicht. Sie stehen sich antithetisch gegenüber, können nicht vermischt werden: das erste ist "dynamisch", denn es begreift die Wahl als augenblicksbezogene, irrationale Entscheidung der Wähler, das zweite ist "statisch", weil es von der rational fundierten, dauerhaften Zuordnung des Wählers zu einer Partei ausgeht und einen im Prinzip dauerhaften Zustand abbilden will462 . Ein politisches System und damit auch ein Wahl system, das beiden Vorstellungen gleichzeitig huldigt, ist undenkbar. Die Wahlsysteme "Mehrheitswahl" und "Verhältniswahl" sind die typischen, in der Vergangenheit alleine bekannten Ausprägungen dieser beiden Repräsentationsprinzipien, und werden als Synonym für sie gebraucht: Mehrheitswahl steht für das Prinzip der Ideal-, Verhältniswahl für das der Realrepräsentation. Davon sind begrifflich Mehrheits- und Verhältniswahl als "Entscheidungsprinzipien" zu unterscheiden, die jeweils ein wahltechnisches Verrechnungsverfahren bezeichnen. Die Entscheidungsprinzipien können theoretisch beliebig kombiniert werden und sagen für sich betrachtet noch nichts über das Repräsentationsprinzip aus463 . Die beiden Repräsentationsprinzipien stellen jeweils unterschiedliche Anforderungen an die Ausgestaltung des Wahlverfahrens und an den Gleichheitsmaßstab. Ein konkretes, vom Gesetzgeber eingeführtes Wahlsystem ist von Verfassungs wegen daraufhin zu überprüfen, ob es die maßgebliche Repräsentationsvorstellung folgerichtig umsetzt: "Die Natur verfassungsrecht461 462 463
Nahlen, in: Wahlen in Deutschland, S. 28 f. und S. 32. Friedrich, S. 217 f.; Nahten, in: Wahlen in Deutschland, S. 33. Nahlen, in: Wahlen in Deutschland, S. 28 f., 36.
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licher Fragestellungen ist also nach den Repräsentationsmodellen verschieden.,,464 Der Realrepräsentation kommt es in erster Linie auf die Proportionalität von Stimmen und Mandaten der politischen Parteien, auf die gleichmäßige Vertretung jeder einzelnen Stimme im Parlament an. Es muß deshalb Erfolgswertgleichheit gefordert werden. "Funktionalen Begründungen (staatspolitische Gefahr u. ä.) ist hier ein enger Raum gesteckt465 ". Die Idealrepräsentation verlangt von der Wahl, daß sie dem Wähler tatsächlich die Möglichkeit einräumt, über die künftige Regierung zu entscheiden. Sie soll geradezu Disproportionalität von Stimmen und Mandaten der Parteien erzwingen, indem sie eindeutig eine siegreiche Mehrheit und eine unterlegene Minderheit hervorbringt. Das Kriterium der Erfolgswertgleichheit ist damit unter dem Gesichtspunkt der Idealrepräsentation sachfremd und irrelevant. Dagegen gewinnt das Kriterium der "Stimmwert gleichheit" an Bedeutung, das insbesondere durch eine ungleichmäßige Wahlkreiseinteilung verzerrt werden kann. Ausschlaggebend für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Wahlrechtsregelungen ist damit die Entscheidung für eines der beiden Repräsentationsmodelle. Wo diese Entscheidung nicht ausdrücklich oder doch eindeutig von der Verfassung selbst getroffen wird, ist sie Aufgabe des Wahlgesetzgebers466. Es ist daher das Wahlgesetz daraufhin zu untersuchen, welche Art von Repräsentation es erreichen soll. Dabei ist nicht auf die technischen Gestaltungselemente des Systems zu achten, die beliebig kombiniert werden können und je nach Art der Kombination völlig unterschiedliche Auswirkungen haben. So bedient sich das Dreier-Wahlkreis-System zwar des Entscheidungsprinzips der Verhältniswahl, führt aber im Ergebnis keineswegs zu einer proportionalen Sitzverteilung. Maßgeblich sind vielmehr die Auswirkungen, die ein Wahl system seiner Intention nach, "theoretisch", zeitigt. "Der Zusatz ,in der Theorie' ist ... wichtig, da Wahlsysteme, die an sich in dieser oder jener Richtung wirken, in der Praxis unter bestimmten soziologischen, vor allem wahlgeographischen Bedingungen durchaus diese ihnen theoretisch nachgewiesenen Auswirkungen nicht erkennen lassen können." So kann beispielsweise die klassische Mehrheitswahl in einem ethnisch gespaltenen Land ihr Ziel der integrierenden Mehrheitsbildung verfehlen467 . Juristisch ausgedrückt macht 464 465 466
Nohten, in: Wahlen in Deutschland, S. 35 f., 36. Nohlen, in: Wahlen in Deutschland, S. 35. Nohlen, in: Wahlen in Deutschland, S. 34.
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Nohlen also den Zweck, den Telos eines Wahlgesetzes zum Kriterium für seine Einordnung in die beiden Gruppen proportionale oder mehrheitsbildende Systeme.
Mit dieser Methode läßt sich jedes empirisch vorfindliche System in eine der Gruppen und damit einem Gleichheitsmaßstab zuordnen. Weil, wie gezeigt, die Repräsentationsprinzipien unvereinbar sind, kann es auch kein System geben, das beide zugleich umsetzen will. Mischwahlsysteme in diesem Sinn gibt es nicht468 . Das Dreier-Wahlkreis-System ist danach ein mehrheitsbildendes System, weil es eine Reduzierung des Parteienspektrums herbeiführen und Koalitionen überflüssig machen soll. Es ist nicht am Kriterium der Erfolgswertgleichheit zu messen, die faktische Sperrwirkung ist unbeachtlich469 . Das System des BWahlG dagegen ist ein proportionales, weil die endgültige Mandatsverteilung im Prinzip dem Verhältnis der abgegebenen Zweitstimmen folgt. Durchbrechungen der Erfolgswertgleichheit, wie etwa die 5 %Klausel, sind daher rechtfertigungsbedürftig und dürfen ein gewisses Maß nicht überschreiten47o . Nahten, obwohl politisch ein Anhänger Stembergers und der relativen Mehrheitswahl, stellt sich auf einen neutralen Standpunkt, indem er beide Arten von Wahl prinzipiell als verfassungsmäßig akzeptiert und dem Gesetzgeber die Aufgabe der Entscheidung zuweist. Um den großen Streit zu entschärfen, verlagert er ihn von der Ebene des Verfassungsrechts auf die der legitimen politischen Auseinandersetzung. 5. Stellungnahme des BVerfG
a) Rheinland-pfälzisches Wahlgesetz Das BVerfG äußerte sich während der Wahlreformdebatte lediglich einmal in grundsätzlicher Weise zur Wahl gleichheit. Es hatte 1972 über die Verfassungsmäßigkeit des rheinland-pfälzischen Wahlgesetzes zu entscheiden471 . Dieses unterteilte das Wahlgebiet in 6 Großwahlkreise, in denen jeweils eine feste Zahl von Abgeordneten, zwischen 13 und 21, nach den GrundsätNahten, in: Wahlen in Deutschland, S. 33 f. Nahlen, in: Wahlen in Deutschland, S. 30 f.; ebenso Vogel, ZfP 14 (1967), S. 246, 258. 469 Nahlen, in: Wahlen in Deutschland, S. 28. 470 Nahlen, in: Wahlen in Deutschland, S. 30 und 31. 471 Urteil vom 11. 10. 1972, BVerfGE 34, S. 81 ff. (Rheinland-pfälzisches Wahlgesetz). 467 468
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zen der Verhältniswahl zu wählen waren. Dabei wurde das "Wahlschlüsselverfahren" angewendet: In den Wahlkreisen erhält danach zunächst jede Partei so viele Sitze, als der Wahlschlüssel in der Zahl ihrer Stimmen enthalten ist; Wahlschlüssel ist der Quotient aus der Zahl der im Wahlkreis abgegebenen Stimmen geteilt durch die jeweils zu vergebenden Mandate. Es werden also zunächst nur "ganzzahlige" Sitze vergeben ("Erstverteilung"). Die übriggebliebenen Mandate werden dann in der "Zweitverteilung" auf die höchsten Stimmenreste verteilt. An dieser "Zweitverteilung" nehmen allerdings, und hier lag die umstrittene Besonderheit des rheinland-pfälzischen Gesetzes, nur die bereits in der "Erstverteilung" erfolgreichen Parteien teil. Ein übergreifender Verhältnisausgleich war im übrigen nicht vorgesehen und das Gesetz enthielt zusätzlich eine dem BWahlG entsprechende Sperrklausel in Höhe von 5% der im gesamten Wahlgebiet abgegebenen Stimmen. Faktisch galt in Rheinland-Pfalz auf diese Weise eine auf den Wahlkreis bezogene Sperrklausei in Höhe des Wahl schlüssels. Dieser lag je nach Wahlkreis zwischen 4,54 und 7,69% der Stimmen. Kläger war die F.D.P., die trotz Überschreiten der landesweiten 5 %-Klausel aufgrund der wahlkreisbezogenen Grundmandatsklausel in drei Wahlkreisen leer ausgegangen war, obwohl sie dort nach ihrer Reststimmenzahl jeweils ein Mandat hätte erhalten müssen. Das BVerfG stellt in seiner relativ kurzen Entscheidung lapidar fest, daß das rheinland-pfälzische System ein Verhältniswahlsystem ist und prüft es an dem im 1. Band entwickelten Gleichheitsmaßstab. Mit diesem steht nicht in Widerspruch, daß kein landes weiter Verhältnisausgleich stattfindet. Gegen die Wahl in großen, abgeschlossenen Wahlkreisen "lassen sich unter dem Gesichtspunkt der Wahlrechts gleichheit grundsätzliche Einwände nicht erheben,,472. Mit der Bestimmung des Art. 80 Abs. 1 der Landesverfassung, daß die Abgeordneten "nach den Grundsätzen der Verhältniswahl in Wahlkreisen" gewählt werden, setzt sich das Gericht nicht eigens auseinander. Zulässig sind im Rahmen der Verhältniswahl auch Sperrklauseln, die eine Höhe von 5 % nicht überschreiten, und zwar unabhängig davon, ob sie auf das ganze Wahlgebiet oder nur auf die einzelnen Wahlkreise bezogen sind. Weil die rheinland-pfälzische Regelung dazu führt, daß in einzelnen Wahlkreisen eine faktische Sperrwirkung von mehr als 5 % gilt, müssen dafür besondere rechtfertigende Gründe vorliegen, die nicht dargetan sind. Deshalb ist die Sperrklausel "systemwidrig" und unzulässig473 . 472
BVerfGE 34, S. 81,99.
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Frowein 474 kritisiert dieses Vorgehen mit dem Gedanken, es sei ein Widerspruch, wenn das Gericht einerseits von der Zulässigkeit der Verhältniswahl ohne überregionalen Verhältnisausgleich ausgehe, andererseits aber ein solches System am Maßstab der 5%-Klausel messe. Das sei ein "systemfremdes" Kriterium und passe nur, wenn die Verteilung der Sitze auf das ganze Wahlgebiet bezogen sei. Das Gericht werde der "Besonderheit von Wahlkreiswahlen ohne darüber hinausgehenden Ausgleich nicht wirklich gerecht,,475.
An dieser Argumentation Froweins - konsequent, gemessen an dem von ihm selbst entwickelten systemimmanenten Gleichheitsmaßstab -, wird deutlich, daß das BVerfG sich auf die moderne Lehre nicht einläßt, die jedes in sich "folgerichtige" Wahl system per se als legitim anerkennt: Es hätte danach die 5 %-Grenze für Beeinträchtigungen in die Erfolgswertgleichheit nicht unbesehen auf die Ebene der Wahlkreise übertragen dürfen. Das BVerfG hält vielmehr an seinen traditionellen Formulierungen fest, wonach ein Verhältniswahlsystem nichts anderes ist als eben ein Verhältniswahlsystem, mit der Folge, daß Erfolgswertgleichheit zu verlangen ist476 . Obwohl so nicht ausdrücklich gesagt, geht es deshalb davon aus, daß auch eine durch die Wahlkreiseinteilung bewirkte faktische Sperrwirkung in einem VerhäItniswahlsystem rechtfertigungs bedürftiger Gleichheitseingriff ist. Im konkreten Fall konnte das Gericht auf eine ausdrückliche KlarsteIlung verzichten, weil die klagende F.D.P. trotz der endgültigen Wahlkreiseinteilung in allen Wahlkreisen erfolgreich gewesen wäre, hätte es nicht die zusätzliche Grundmandatsklausel gegeben. Es genügte daher festzustellen, daß für diese keine Rechtfertigungsgründe ersichtlich waren. Alles in allem ist das BVerfG sichtlich darum bemüht, keine der beiden modernen Lehren zu übernehmen. Es schließt sich weder Nahten noch Frowein/Herzog ausdrücklich an, setzt sich aber auch zu keinem von ihnen in offenen Widerspruch. Der Ertrag der Entscheidung für die Gleichheitsdogmatik ist deshalb gleich null, eine klare, verbindliche Auslegung wird vom Verfassungs gericht nicht mehr gesichert.
BVerfGE 34, S. 81, 101. Frowein, AöR 99 (1974), S. 72, 86-89. 475 Frowein, AöR 99 (1974), S. 72, 88 f. 476 Daß es sich bei einem Wahlsystem mit mehr als 10 Mandaten pro Wahlkreis begrifflich um Verhältniswahl handelt, ist allgemeine Ansicht und wird auch von Frowein konzediert (S. 87, Fn. 95). Strittig ist nur, ob daraus automatisch das Erfordernis der landes weiten Erfolgswertgleichheit automatisch folgt. 473
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b) Unabhängige Wahlkreisbewerber Eine weitere Wahlrechtsentscheidung477 des BVerfG wurde 1976 durch eine Frage der Wahlkampfkostenerstattung ausgelöst. § 18 PartG in der Fassung vom 22. 7. 1967 sah eine Erstattung von Wahlkampfkosten nur für parteigebundene, nicht aber für unabhängige Wahlkreiskandidaten vor. Das Gericht sieht hierin eine ungerechtfertigte Diskriminierung der unabhängigen Bewerber: Wahlgleichheit und -allgemeinheit gelten auch für die Wahlvorbereitung. Die angeführten Argumente zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung stellen keinen "besonderen, zwingenden Grund" dar478 . Insbesondere aus der besonderen Aufgabe der Parteien zur Mitwirkung an der Willensbildung des Volkes aus Art. 21 GG läßt sich ihre allgemeine Unterstützung nicht rechtfertigen, lediglich die durch die Wahl verursachten Kosten sind ersatzfähig. Diese fallen aber bei parteilosen Bewerbern in gleicher Weise an. Die Wahlkampfkostenerstattung ist auch kein Mittel zu Verhinderung von Stimmenzersplitterung, der alleine und in ausreichendem Maße durch die 5 %- Klausel Rechnung getragen wird. Zulässig ist lediglich die Auslese von nicht ernstgemeinten Kandidaturen, die von vornherein nicht den Gewinn von Stimmen, sondern nur die Erlangung von Kostenerstattung bezwecken. Interessant ist die Entscheidung vor allem wegen der Stellungnahme des Gerichts zur Rolle der Parteien und zur Funktion der Personenwahl im BWahIG. Zwar seien die Parteien durch Art. 21 GG als "verfassungsrechtlich notwendige Instrumente für die politische Willens bildung des Volkes anerkannt". Dennoch werde die "Konsequenz eines idealtypisch zu Ende gedachten Parteienstaates ... , daß sich die Willensbildung des Volkes nur durch das Medium der Parteien vollzöge", durch das Bekenntnis zum freien Mandate in Art. 38 GG abgewehrt479 . Das Spannungsverhältnis zwischen beiden Vorschriften wird betont und ein Monopol der Parteien auf die Kandidatenaufstellung für verfassungswidrig erklärt. Eine solche Regelung würde neben der Allgemeinheit und Gleichheit auch der Freiheit der Wahl widersprechen. "Das Wahlvorschlagsrecht ist ... dem Aktivbürger als integraler Bestandteil seines Wahlrechts garantiert,,48o. Ferner wird in Wiederholung der bisherigen Rechtsprechung festgestellt, daß durch die Vorschal477 Entscheidung vom 9. 3. 1976, BVerfGE 41, S. 399 ff. (Unabhängige Wahlkreisbewerber 11); ähnlich Entscheidung des WPrGer Berlin vom 12. 11. 1975, NJW 1976, S. 560 ff.: Art. 26. Abs. 2 BerlVerf ist nichtig, weil er das Wahlvorschlagsrecht aufpolitische Parteien beschränkt. Darin liegt ein Eingriff in die von Art. 28 Abs. 2 GG garantierte Allgemeineheit und Gleichheit der Wahl, der nicht durch zwingde Gründe gerechtfertigt ist. 478 BVerfGE 41, S. 399,418 ff. 479 BVerfGE 41, S. 399, 416; Hervorhebung nicht im Original. 480 BVerfGE 41, S. 399, 417 f.
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tung der Mehrheitswahl im BWahlG erreicht werden soll, "daß zumindest die Hälfte der Abgeordneten eine engere persönliche Beziehung zu dem Wahlkreis hat, in dem sie gewählt worden sind." Auch mit diesem besonderen Anliegen der personalisierten Verhältniswahl ist die Diskriminierung von unabhängigen Bewerbern nicht vereinbar. 481
6. Betrachtung a) Entwicklung der Diskussion Mit der Stabilisierung der politischen Verhältnisse in der Bundesrepublik läßt die Brisanz der Wahlrechtsfrage nach. Über die Entschärfung kann auch der Lärm um die "Wahlreform" nicht hinwegtäuschen und nicht der durch ihr Scheitern ausgelöste, freiwillige Rücktritt von Innenminister Lücke. Für keine Partei ist das Wahlrecht mehr eine Grundsatzfrage wie noch 1956, jedes der beiden wichtigen Wahlsysteme, ebenso wie ein denkbarer Kompromiß oder der Status quo sind für die beiden großen Parteien im Prinzip akzeptabel und werden diskutiert - die Entideologisierung der Politik, die Annäherung der beiden Lager wird auch hier wirksam. Die "Wahlreform" ist ein letzter Anlauf, der parteipolitischen Entwicklung doch noch einen anderen Stempel aufzudrücken, praktisch durch Elirninierung der für das bestehende System so charakteristischen F.D.P. In der Staatswissenschaft schlägt sich dieser Bedeutungswandel nieder. Die beiden modemen Ansätze von Frowein/Herzog und Nohten sehen das Wahlrecht nicht mehr als Kern- und Wesensfrage der Demokratie, sondern nur noch als Mittel zu ihrer technischen Gestaltung. Etabliert, auch was ihre wissenschaftliche Akzeptanz angeht, sind inzwischen die Parteien als zentrale Institutionen der Demokratie. Sie sind als Träger der Repräsentation von allen, auch von "liberaler" Seite anerkannt482 ; der normative Gehalt des Art. 21 GG hat die Verfassungswirklichkeit geprägt und sich bewährt. Hier liegt die eigentliche Neuerung der Staatstheorie in den 60er Jahren, der Bruch mit der Weimarer Tradition. Auch hier liegt ein Grund für die Entschärfung der Wahlrechtsfrage: war doch bisher die Ablehnung von "Parteiherrschaft" eine der wichtigsten Triebfedern für die Ablehnung der Verhältniswahl. Dennoch bleibt der alte, grundSätzliche Dissens über die Funktionsweise von Wahlen in der Demokratie weiter bestehen, wenn auch auf niedrigerer Ebene als früher: Entscheidung oder Abbildung, Vereinheitlichung oder Darstellung der vorfindlichen Meinungsvielfalt der Wähler? Die Existenz 481 482
BVerfGE 41, S. 399, 423. Deutlich, m. w. N., BK-Badura, Art. 38, Rn. 35 ff.
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dieser zwei Vorstellungen wird von Frowein und Herzog, bewußt oder unbewußt, nicht zur Kenntnis genommen, die Vertreter der beiden radikalen Ansichten negieren den jeweils gegensätzlichen Standpunkt ohnehin. Beide Positionen sind einer sachlichen Auseinandersetzung nicht förderlich. b) Kritik der einzelnen Ansätze In den 60er Jahren beginnt also die "modeme" Wahlrechtsgeschichte. Die in dieser Ziel entwickelten Ansätze wirken unmittelbar bis in die Gegenwart und bilden heute die Grundlage der Argumentation in Einzelfragen. Eine kritische Würdigung ist deshalb geboten. Die - inzwischen - alte Lehre von Hermens kann nicht zeigen - je öfter sie wiederholt wird, desto weniger -, daß ihre Vorstellung von der Wahl als Entscheidungs- und Integrationsvorgang diejenige des Grundgesetzes ist; sie steht auch zunehmend im Gegensatz zu den tatsächlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik, die von Koalitionen und Kooperation der Parteien auf allen Ebenen geprägt ist, zementiert nicht zuletzt durch den Bundesrat. Die behauptete Gesetzmäßigkeit Verhältniswahl = Instabilität und "Anarchie" wird von der Entwicklung in Westeuropa mehr und mehr widerlegt. Die verfassungsrechtliche These von der grundsätzlichen Irrelevanz der Erfolgswertgleichheit bei Wahlen ist deshalb in dieser radikalen, ausschließlichen Form sicher nicht richtig. Ähnliches ist auch zur Lehre Hans Meyers zu sagen. Er versteift sich und hier liegt die Hauptschwäche - von Anfang an auf die Vorstellung von Wahl als "Abbildung", während er den Gedanken der "Entscheidung" überhaupt nicht, an keiner Stelle, auch nur erwähnt. Vielmehr sieht er den Sinn der Mehrheitswahl in der Entsendung von "Lokalvertretern" - der Nachweis, daß diese Funktion heute keine Relevanz mehr hat, fällt leicht, sie wird ja von niemandem behauptet; es handelt sich nurmehr um ein Spiegelgefecht. Die neuere Erklärung für die Mehrheitswahl, daß sie nämlich eine demokratische Entscheidung zwischen Parteiblöcken herbeiführen soll, bleibt unerwähnt und unwiderlegt. Nachdem er auf diese Weise die Abbildung der parteipolitischen Zuordnung der Wähler zum alleinigen denkbaren Zweck von Wahlen und damit den Erfolgswert der Stimme für das allein relevante Kriterium erklärt hat, fällt es ihm wiederum leicht, alle "funktionalen" Argumente für mehrheitsbildende Wahlsysteme zurückzuweisen. Denn diese stellen sich jetzt nur noch als rechtfertigungsbedürftige Eingriffe in die grundgesetzlich vorgegebene Erfolgswertgleichheit dar. Indem er die Argumente der Befürworter von mehrheitsbildenden Wahlsystemen solcherart mißversteht - gleichviel, ob bewußt oder unbewußt -, muß sein Nachweis mißlingen, daß aus dem Demokratieprinzip im Parteienstaat zwingend das Erfordernis der Erfolgswertgleichheit folgt.
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Auch die von ihm und anderen vorgetragenen ergänzenden Argumente ändern daran nichts: Es ist zwar richtig, daß ideengeschichtlich betrachtet das Wahlsystem stets Ausdruck eines bestimmten Gleichheitsverständnisses war. Die Regelungstechnik der Verfassung ist aber traditionell genau umgekehrt: unter der Weimarer Verfassung hatte man vom Wahl system, der Verhältniswahl, zurück auf die zugrundeliegende Gleichheitsvorstellung geschlossen. Das gleiche muß auch unter dem Grundgesetz gelten, der Verzicht auf die Festlegung des Wahlsystems ist ein Verzicht auf die Festlegung des Gleichheitsmaßstabes. Meyers Behauptung, eine "Kompetenzermächtigung" zur Durchbrechung der Wahlgleichheit durch das Wahlsystem könne im Schweigen der Verfassung nicht gesehen werden, ist deshalb ein Zirkel schluß. Er setzt nämlich voraus, daß das Grundgesetz den Gleichheitsmaßstab der Verhältniswahl vorschreibt, denn nur dann sind Abweichungen von der Erfolgswertgleichheit überhaupt rechtfertigungsbedürftig und bedürfen einer "Kompetenzermächtiung". Das aber gilt es gerade zu beweisen und könnte sich, wie die genetische Betrachtung gezeigt hat, nur durch Anordnung der Verhältniswahl in der Verfassung ergeben. Andere Regelungen, aus denen das hervorginge, gibt es nicht. Auch Maunz kann solche nicht aufzeigen. Wenn er aus der Existenz einiger parlamentsrechtlicher Vorschriften, welche die Arbeitsfähigkeit eines Mehrparteienparlaments sicherstellen sollen, den Schluß zieht, daß der Verfassung ein Mehrparteiensystem und damit die Verhältniswahl als Normalfall der Demokratie vorschwebe, so überspannt er die Intention der Verfassungsgeber. Die benannten Vorschriften sind auch dann sinnvoll, wenn die Verfassungsväter ein Mehrparteiensystem nur als eine von mehreren zulässigen Optionen gesehen haben. Es bleibt Dürigs These vom Verfassungswandel: die Akzeptanz in der Bevölkerung und die Verfestigung des politischen Systems führen dazu, daß heute die Verhältniswahl die einzige verfassungsmäßige Entscheidungsalternative für den Wahlgesetzgeber ist, will er sich nicht dem Vorwurf der unzulässigen Manipulation aussetzen. Ob die Verfestigung allerdings weit genug vorgeschritten ist, um schon eine ungeschriebene Fortbildung der Verfassung bejahen zu können, ist angesichts der breiten Anhängerschaft der Wahlreformbewegung in Wissenschaft und Politik jedenfalls für 1970 zweifelhaft. Die neue Lehre von Frowein und Herzog von der systemimmanenten Bestimmung des Gleichheitsmaßstabes ist am Ende der zweiten Phase der bundesrepublikanischen Wahlrechtsentwicklung nur ein Entwurf, ad hoc entwickelt im Rahmen eines Gutachtenauftrages, er läßt im Detail noch vieles offen. Aber es drängen sich auch grundsätzliche Einwendungen auf, die möglicherweise das ganze Konzept in Frage stellen.
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Kann es wirklich sein, daß die Wahlgleichheit ausschließlich systemimmanent gilt und der Systementscheidung des Gesetzgebers nachgeordnet ist? Daß dem Gesetzgeber beliebig viele "Wahlsysteme" zur Auswahl stehen und also die ehrwürdige Gleichheitsforderung nurmehr technische Bedeutung für Detailregelungen hat und nichts darüber aussagt, nach welchen Grundsätzen die Bildung des Volkswillens geschehen soll? - Das erscheint zweifelhaft, schon wegen der historischen Entwicklung. Immer ist in Deutschland, wohl auch in Frankreich, das Wahl system Folge einer bestimmten Vorstellung von staatsbürgerlicher Gleichheit in der Demokratie gewesen: bezieht sie sich funktional auf die Mitwirkung der Bürger an der Bildung des ideell verstandenen Volkswillens oder inhaltlich auf seine wirkliche Mitgestaltung durch sie? Wenn Frowein und Herzog die Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem ganz von dieser Grundsatzfrage lösen - sei es wiederum bewußt oder unbewußt - und die gesetzgeberische Entscheidung nur noch auf Willkür und Mißbrauch zu Lasten bestimmter politischer Gruppen hin überprüfen, so liegt darin die Gefahr, daß das gefundene und für verfassungsmäßig erklärte Ergebnis zwar widerspruchsfrei und folgerichtig, aber dennoch nicht "richtig" in dem Sinne ist, daß es eine sinnvolle Integration der Einzelwillen zum Gesamtwillen bewirkt. Der Prozeß der demokratischen Willensbildung setzt nach überliefertem Verständnis eben mehr voraus als nur ein neutrales, objektives Verfahren. Genügt es dem nicht, so kann ein Wahl system trotz aller technischen Vollkommenheit nicht überzeugen und auf Akzeptanz hoffen. Bloße "Chancengleichheit" besteht auch bei einer Lotterie, aber anders als in der attischen Demokratie würde heute niemand ein Losverfahren zur Besetzung von politischen Ämtern für einen legitimen Ausdruck des Volkswillens halten. Auch der zweite Schritt der Argumentation, die Prüfung der "Folgerichtigkeit", ist nicht unproblematisch; er hängt gleichsam in der Luft. Denn wie will man zeigen, daß eine bestimmte Regelung folgerichtig ist, wenn man zuvor nicht klärt, woraus denn und nach welchen Regeln gefolgert werden soll: Es muß der Sinn, die Bedeutung der Gesamtkonzeption festgestellt werden. Anders läßt sich nicht erklären, warum etwa gerade die Wahlkreisgröße systemprägendes Element sein soll, andere mehrheitsbildende Regelungen, wie etwa eine hohe Sperrklausei bei der Verhältniswahl, aber nur -ausgestaltendes? Oder weshalb entspricht die Erfolgswertgleichheit dem "Wesen" oder der "Natur" der Wahl in großen Wahlkreisen? Rein formale Gesetzmäßigkeiten, wie etwa: große Wahlkreise sind unvereinbar mit hohen Sperrklauseln, lassen sich nicht einfach so aufstellen. Sie gewinnen ihren Sinn erst, wenn geklärt ist, was der Zweck der großen Wahlkreise ist. Gleichheit, die innerhalb des Systems ja gelten soll, ist eben nicht identisch mit dem Fehlen von widersprüchlichen Regelungen. Sie verlangt darüber hinaus eine sachgemäße Berücksichtigung des Wesens, oder eben der "Natur" der zu regelnden Materie. Das Kriterium der nur forma-
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len, nicht materiellen Folgerichtigkeit reicht dafür nicht aus. Frowein und Herzog gelangen in ihren Gutachten nur deshalb zu schlüssigen Ergebnissen, weil sie unausgesprochen bestimmte Wertungen und Zweckvorstellungen der traditionellen Wahlrechtsdogmatik in ihre Prüfung einfließen lassen. Der systemimmanente Ansatz kann denkbarerweise in zwei verschiedene Richtungen weitergeführt werden: entweder es gelingt, ihn mit Gehalt anzureichern und die mit der demokratischen Wahl verfolgten Intentionen zu berücksichtigen: dann wird der formale Gleichheitsbegriff zu einem materiellen. Oder es gelingt nicht: dann kann das Kriterium der Folgerichtigkeit keine wirkliche ordnende Kraft entfalten und die Prüfung läuft letzten Endes auf eine bloße Willkür- und Mißbrauchskontrolle hinaus. Auch der Ansatz von Nahten ist noch keine ausgereifte Theorie zur verfassungsrechtlichen Beurteilung von Wahlgesetzen. Insbesondere erklärt er nicht juristisch stichhaltig, warum der Gesetzgeber, bei grundsätzlich bestehender Wahlfreiheit, nur zwischen zwei Systemalternativen wählen und im übrigen an den entsprechenden Gleichheitsmaßstab gebunden sein soll. Nohlen zeigt immerhin, vom politologischen Standpunkt aus, daß es nur zwei schlüssige Konzepte zur Bildung des Volks willens gibt. Die Umformung in staatsrechtliche Begriffe, mit denen eine Bindung des Gesetzgebers begründet werden könnte, leistet er nicht. In der Literatur ist Nohlens Ansatz kritisiert worden, meist gleichzeitig mit dem traditionellen Ansatz des BVerfG483 . Die beiden Repräsentationsprinzipien ließen sich nicht scharf voneinander abgrenzen, stünden sich nicht in antithetischer Ausschließlichkeit gegenüber. Vielmehr seien Mischwahlsysteme in gleitenden Abstufungen möglich. "Es sind ebenso mehr oder weniger proportionale Systeme denkbar wie solche mit mehr oder weniger mehrheitsbildender Wirkung .,. Eine Schwächung der Proportionalität kann zugunsten einer mehrheitsbildenden Wirkung ... ausgenutzt werden" und umgekehrt484 • Deshalb könne auch ein konkretes Wahlsystem nicht eindeutig zugeordnet werden. Mit welchem Maßstab etwa solle ein System mit abgeschlossenen Wahlkreisen und jeweils zwischen 5 und 10 zu vergebenden Sitzen gemessen werden? Die Kritik verkennt den Kern des Ansatzes von Nahten und wohl auch des BVerfG. Es geht überhaupt nicht um die Unvereinbarkeit von technischen Gestaltungselementen, sondern um die von Ideen. Es geht nicht um die Frage, auf welche Weise der Volks wille ermittelt wird, sondern mit wel483 Jesse, S. 148 ff.; Lenz, AöR 121 (1996), S. 337, 348; H. Meyer, Wahlsystem, S. 183 f. Zu dieser Kritik äußert sich Nohlen selbst: Wahlrecht und Parteiensystem, 1989, S. 109 f. 484 Meyer, Wahlsystem, S. 183.
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1. Teil: Historische Untersuchung
chem Ziel. Nicht um das Können des Wahlgesetzgesetzgeber, beliebige Systemvarianten zu ersinnen, sondern um das Dülj"en: welche dieser Varianten sind zulässig, welche sind sinnvoll, welche unsinnig? Und die von Nohlen beschriebenen Repräsentationsprinzipien sind in der Tat unvereinbar - ihre verfassungsrechtliche Relevanz bleibe vorerst dahingestellt. Der "Volkswille", um dessen Ennittlung es bei jeder Wahl geht, kann entweder real oder ideal verstanden werden, er äußert sich entweder in der Entscheidung über Personen oder in der Entsendung von Vertretern der politischen Meinung jedes einzelnen Wählers, das Parlament bildet ihn entweder für oder anstelle des Volkes. Ein Mittelding oder ein Mischung ist auf der staatstheoretischen Ebene nicht denkbar. Denkbar ist nur die Berücksichtigung von einzelnen Argumenten der einen Anschauung im Rahmen der anderen aus Gründen der Staatspraxis, wie es sich etwa einerseits durch die Gewährleistung von Minderheitenschutz in einem System der Ideal-, andererseits beim Ausschluß von allzu kleinen Parteien in einem System der Realrepräsentation äußern kann. Die Kritiker erfassen Nohlens Ansatz nur oberflächlich, was sich auch daran zeigt, daß keiner von ihnen auf seine ausdrücklich genannten Grundlagen eingeht, vor allem die Ausführungen von C. J. Friedrich von 1948. Allenfalls ist ein drittes, von Nohlen nicht genanntes Modell zu unterscheiden, man mag es "korporative Repräsentation" nennen. Die Wähler werden nicht als solche repräsentiert, sondern als Mitglieder einer Körperschaft, sei es einer regionalen oder einer ständischen. Diese "Wahlkreise" sind dann nicht bloß technische Hilfsmittel, sondern Subjekte der Repräsentation. Dies ist das mittelalterliche Verständnis der Zeit vor Sieyes, es hat heute für die Parlaments wahl keine Bedeutung mehr, wohl aber für die Repräsentation von Gliedstaaten eines Bundesstaates, wie etwa im Falle des amerikanischen Senats, oder von ständisch gegliederten Gemeinwesen wie der Gruppenuniversität. Auch dieses dritte "Prinzip" kann im Rahmen der beiden anderen als untergeordneter Gesichtspunkt berücksichtigt werden.
111. Dritte Phase: Streit um Detailprobleme seit 1980 Im Jahre 1994 flammte anläßlich der Bundestagswahl mit ihren 16 Überhangmandaten die Wahlrechtsdiskussion nach Jahren der relativen Ruhe wieder auf - diesmal vor allem unter Verfassungsjuristen. Der Streit kulminierte in den beiden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 10.4. 1997485 . 485 BVerfGE 95, S. 335 (Überhangmandate III) und BVerfGE 95, S. 408 ff. (Grundmandatsklausel).
c. Entwicklung unter dem Grundgesetz
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In der vorläufig letzten Phase der Wahlrechtsdiskussion geht es nicht mehr um eine Reform des geltenden Wahlrechts - das BWahlG hat sich in seinen Grundzügen in der politischen Praxis als unverrückbar erwiesen und erfreut sich hoher Akzeptanz. Vielmehr streitet man um die Auslegung des geltenden Rechts. Im Zentrum stehen dabei die Überhangmandate sowie, als Dauerbrenner, die 5%-Klausel. Die Anhänger der beiden Richtungen "Demokraten" und "Liberale" - versuchen in dieser Phase gleichermaßen, ihrer Vorstellung von einem "richtigen" Wahlrecht im Wege der Interpretation des geltenden Rechts zur Wirksamkeit zu verhelfen. Die in der vorhergehenden Phase entwickelten, aber nicht ausgeführten dogmatischen Grundansätze werden (erst) jetzt konsequent in juristische Begriffe umgesetzt und auf Einzelprobleme angewendet - eine Generation später, von größtenteils jungen Wissenschaftlern486. Aus einer wahren Flut von Aufsätzen ragen neben mehreren Monographien487 an ausführlicheren Beiträgen heraus die Kommentierungen von Peter Badura und Norbert AchterberglMartin Schulte488 sowie die Darstellung der Rechtsprechung von Walter Paull 89 • In der Tradition der Arbeiten von Heller sowie von Frowein und Herzog stehen die beiden Rechtsgutachten von Markus Heintzen und Wolfgang Löwer490, die 1994 von der Reformkommission des deutschen Bundestages in Auftrag gegeben wurden.
486 Aus der vorigen Epoche der Diskussion ist lediglich Hans Meyer noch aktiv. Große Bedeutung haben vor allem seine Beiträge im Handbuch des Staatsrechts: HbStR 11, § 37 ("Demokratische Wahl und Wahl system") und § 38 ("Wahlgrundsätze und Wahlverfahren"), 1987; ferner KrV 1994, S. 312 ff. ("Der Überhang und anderes Unterhaltsames aus Anlaß der Bundestagswahl"). 487 Bis 1994 sind lediglich drei Dissertationen erschienen: Ernst Becht, Die 5 %Klausel im Wahlrecht, 1990; Ulrich Wenner, Sperrklausein im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986; zum bayrischen Wahlrecht: Klaus Unterpaul, Die Grundsätze des Landeswahlrechts nach der bayerischen Verfassung, 1991. Hinzu kommt die Untersuchung von Christofer Lenz, Ein einheitliches Wahlverfahren für die Wahl des europäischen Parlaments, 1995. Ausgelöst durch die Bundestagswahl 1994 entstanden dann die Arbeiten von Winfried Bausback, Verfassungsrechtliche Grenzen des Wahlrechts zum deutschen Bundestag, 1998; Holger Jakob, Überhangmandate und Gleichheit der Wahl, 1998 und Helmut Nicolaus, Demokratie, Verhältniswahl & Überhangmandate, 1995. 488 BK-Badura, Anhang zur Art. 38 (1997) und von MangoldtlKlein-Achterbergl Schulte, Art. 38, (1991). 489 AöR 123 (1998), S. 231 ff. 490 Reforrnkommission zur Größe des Deutschen Bundestages, Drucksachen NT. 9 (Heintzen) und 10 (Löwer). Letzteres ist erschienen unter dem Titel: Aktuelle Wahlrechtliche Verfassungsfragen, 1996. Interessant ist auch das Protokoll der Expertenanhörung der Kommission, abgedruckt in Drucksache Nr. 5. Teilnehmer waren ausschließlich StaatsrechtIer: Badura, Bryde, Knies, Mahrenholz, Püttner, Schneider sowie Heintzen und Löwer.
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1. Teil: Historische Untersuchung
1. BVerfG
Das BVerfG hielt lange Zeit an seiner Zurückhaltung in Wahlrechtsfragen fest. Nachdem in 80er Jahren nur vereinzelte "große" Entscheidungen ergangen waren, kam es nach 1997 zu einer ganzen Reihe von Wahlrechtsentscheidungen, in denen die traditionelle Position des Gericht erstmals seit 1952 teilweise in Frage gestellt wurde491 . Eine Sonderstellung nimmt dabei die Entscheidung zu den Überhangmandaten von 1997 ein492 : das Gericht fand dort nicht zu einer einheitlichen Begründung, es standen sich zwei zahlenmäßig gleichstarke Richtergruppen gegenüber, die jeweils mit völlig unterschiedlicher Begründung zu entgegengesetzten Ergebnissen gelangten. Beide Begründungen lehnen sich jeweils stark an eine der beiden in der Literatur entwickelten Lehren an und übernehmen im wesentlichen die dort vorgefundenen Argumente, ohne auch nur den Versuch eines befriedenden Komprorniß zu unternehmen. Sie sollen daher im Zusammenhang mit den jeweiligen Literaturmeinungen dargestellt werden.
Im Mittelpunkt der dogmatisch bedeutsamsten der neueren Entscheidungen steht die Grundmandatsklausel des § 6 Abs. 6 Satz 1 BWah1G493 . Es 491 Entscheidung vom 24. 11. 1988, BVerfGE 79, S. 169 ff. (Überhangmandate 11); vom 22. 5. 1979, BVerfGE 51, S. 222 ff. (Europawahl); vom 29. 9. 1990, BVerfGE 82, S. 322 ff. (Wahlvertrag); vom 26. 6. 1990, BVerfGE 83, S. 37 ff. (Ausländerwahlrecht); Entscheidungen vom 10. 4. 1997, BVerfGE 95, S. 335 (Überhangmandate III) und BVerfGE 95, S. 408 ff. (Grundmandatsklausel); Entscheidung vom 26. 2. 1998, BVerfGE 97, S. 317 ff. (Nachrücker). Diese betrifft die Wahlgleichheit nur mittelbar und erklärt sich aus der das Überhangmandate III-Urteil tragenden Begründung (s. u. Fn. 542); Entscheidung vom 16. 7. 1998, BVerfGE 99, S. 1 (Landeswahlrecht, dazu näher unten, 2. Teil, B. VII.). 492 BVerfGE 95, S. 335 (Überhangmandate III), Minderheitsvotum ab S. 367. Klare Zusammenfassungen der Entscheidung geben Badura, JZ 97, S. 681 ff. und Backhaus, DVBl. 1997, S. 737 ff. Bereits 1988 hatte das Gericht die Verfassungsmäßigkeit der Überhangmandate zu prüfen - BVerfGE 79, S. 169 (Überhangmandate 11). Die Entscheidung weicht dem Problem aus. Das Gericht zitiert seine Rechtsprechung aus dem 7. und dem 16. Band, derzufolge die durch Überhangmandate verursachte Verzerrung der Erfolgswertgleichheit "als notwendige Folge des besonderen Charakters der personalisierten Verhältniswahl mit dem Grundgesetz vereinbar ist, solange die Wahlkreise im Rahmen des Möglichen annähernd gleich groß sind". Es nimmt die grundsätzliche Kritik von H. Meyer zur Kenntnis, bezieht aber nicht zu ihr Stellung, weil im konkreten Fall die Verschiebung des rechnerische Erfolgswertes durch das eine bei der Wahl 1987 angefallene Überhangmandat im Rahmen der unvermeidlichen Unschärfen jedes Sitzverteilungsverfahrens lag. Auch 1995 hatte das Gericht zwei gegen die Überhangmandate von 1994 gerichtete Organstreitverfahren ohne Sachentscheidung wegen Fristversäumnisses für unzulässig erklärt: BVerfGE 92, S. 80 ff. 493 Entscheidung vom 10.4. 1997, BVerfGE 95, S. 408 ff.
C. Entwicklung unter dem Grundgesetz
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geht ausschließlich um den Bereich der Verhältniswahl. Das Gericht stellt bei dieser Gelegenheit seine traditionelle Dogmatik zur Frage der Rechtfertigung von Durchbrechungen der Erfolgswertgleichheit vollständig dar. Diese sind zulässig, wenn ein "zwingender Grund" sie erfordert. Als solche kommen neben einer Kollision mit anderen Verfassungswerten oder Wahlgrundsätzen auch Gründe in Betracht, "die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann. Dabei ist nicht erforderlich, daß die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen gebietet". Gedacht ist dabei an Gründe, die sich aus dem "Sachbereich Wahlen" ergeben. Gemeint sind die mit der Wahl verfolgten staatspolitischen Ziele, insbesondere die Sicherung des Charakters der Wahl als Integrationsvorgang und der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung. Dabei müssen "differenzierende Regelungen zur Verfolgung ihrer jeweiligen Zwecke geeignet und erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich daher auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird,,494. Gemessen an diesen Kriterien, wird die Grundmandatsklausel, obgleich ein Eingriff in die Erfolgswertgleichheit kleiner Parteien mit und ohne Grundmandate, gebilligt. Grund ist das Anliegen der Verhältniswahl, alle gewichtigen Anliegen im Volk möglichst wirklichkeitsnah abzubilden - Gedanke der Integration -, ohne dadurch die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu beeinträchtigen. Die Anknüpfung an das Kriterium der Erreichung von drei Grundmandaten bei Verfehlen der 5 %-Marke ist geeignet, diesen legitimen Zwecken zu dienen und überschreitet nicht das Maß des Erforderlichen. Auch die Entscheidungen zum Wahlvertral 95 und zur Europawahr 96 kreisen um die Zulässigkeit von Sperrklausein in der Verhältniswahl. Das Gericht hatte zu befinden, ob die einfache Erstreckung des BWahlG und insbesondere der 5%-Klausel des § 6 Abs. 5 auf das Gebiet der DDR in der besonderen Situation der Wiedervereinigung zulässig war. Außerdem ging es um die Frage der Zulässigkeit von Listenverbindungen und -vereinigungen. Das Europawahlgesetz von 1978 übernahm für die Listenwahl der 78 497 deutschen Abgeordneten zum Europaparlament ebenfalls die 5 %Klausel des BWahIG. Die Fragen werden mit dem traditionellen Instrumentarium der Wahlgleichheitsprüfung gelöst, das BVerfG bekräftigt die Grundbegriffe 498 : ForBVerfGE 95, S. 408, 418. Entscheidung vom 22. 5. 1979, BVerfGE 51, S. 222 ff. (Europawahl) und vom 29. 9. 1990, BVerfGE 82, S. 322 ff. (Wahlvertrag). 496 BVerfGE 51, S. 222 ff. 497 Dazu drei vom Berliner Abgeordnetenhaus gewählte. 494 495
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1. Teil: Historische Untersuchung
male, strikte, egalitäre Gleichheit als Grundprinzip der Demokratie, Zulässigkeit von Einschränkungen nur in eng umrissenem Spielraum und aus zwingenden Gründen, Rechtfertigung der 5 %- Klausel durch den Gedanken der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Die Argumentation aus diesen Grundsätzen zum BWahlG läßt sich uneingeschränkt auf das EuWG übertragen, obwohl nicht Art. 38 und 28 GG direkt, sondern nur der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 GG für die Europawahl gilt. Dem Sachbereich Wahlen sind aber die zu Art. 38 entwikkelten Grundsätze als ungeschriebenes Verfassungsrecht zu entnehmen499 . Das Europaparlament hat zwar weder die Funktion der Regierungswahl noch der Gesetzgebung und ist auf Kontrollaufgaben beschränkt. Auch diese Aufgabe kann ein großes Parlament aber nur mit Hilfe von leistungsfähigen Fraktionen bewältigen. Der nationale Wahlgesetzgeber muß daher auch hier dafür sorgen, daß keine Splittergruppen in das Parlament gelangen 5OO • Die Entscheidung wird also nur von einem der beiden bisher immer synchron genannten Aspekte der Funktionsfähigkeit der Wahl getragen, nämlich der Arbeitsfähigkeit des Parlaments. Der Aspekt der Mehrheitsbildung entfällt. Die rechtlich bedingten Strukturunterschiede der Parteieniandschaft501 in Ost und West dagegen mußte der Gesetzgeber bei der Gestaltung der Sperrklausei berücksichtigen. Insbesondere mußte er der Tatsache Rechnung tragen, daß Parteien aus dem Gebiet der DDR dadurch benachteiligt wurden, daß ihr bisheriger Wirkungsraum erheblich kleiner war als derjenige der bundesrepublikanischen. Eine auf das gesamte Wahlgebiet bezogene Sperrklausel war daher unzulässig. Außerdem bestätigt502 das Gericht die Gleichheitswidrigkeit der Privilegierung von Listenverbindungen, weil die bloße Verbindungserklärung von ansonsten unabhängigen Listen unter dem Gesichtspunkt der Wahl als Konkurrenz von unterschiedlichen politischen Anschauungen kein relevantes Kriterium ist503 . Anders ist das bei Listenvereinigungen, bei denen verschiedene Parteien eine einheitliche Liste aufstellen, um organisatorische Defizite in den neuen Ländern auszugleichen. Neben den "großen" Grundsatzentscheidungen zum Inhalt der Wahlgleichheit ist noch eine unscheinbare Entscheidung zum schleswig-holsteinischen Hochschulrecht aus dem Jahre 1984504 erwähnenswert. Das BVerfG BVerfGE 82, S. 322, 338 f. BVerfGE 51, S. 222, 234 f. 500 BVerfGE 51, S. 222, 234, 246-249. 501 BVerfGE 82, S. 322, 339 ff. 502 Diese Einschätzung führte schon 1953 zum Scheitern des Lehr'schen Gesetzentwurfes im 1. Bundestag. Siehe dazu oben, Abschnitt C. I., 3. m.N. 503 BVerfGE 82, S. 322, 345 f. 498 499
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versucht sich hier an einer Abgrenzung der Begriffe "personalisierte Verhältniswahl" (§ 39 S. 1 HRG 1980) und "Mehrheitswahl". Es stützt sich dabei auf das Kriterium der Entscheidungsregel: entweder müssen die Gewählten eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen oder die Sitze werden entsprechend dem Proporz auf die verschiedenen kandidierenden Gruppen verteilt. Das Gericht geht davon aus, daß "personalisierte Verhältniswahl" ein Unterfall der Verhältniswahl ist. Die Entscheidung zum Ausländetwahlrecht schließlich ist gleichheitsrechtlich nur insofern relevant, als daß sie die - für den staatlichen Bereich ohnehin selbstverständliche - Tatsache bestätigt, daß nur Deutsche Staatsangehörigen das Wahlrecht haben. Selbstverständlich ist das, weil die demokratische Legitimation nicht vom jeweils Betroffenen ausgeht, sondern vom "Volk" als einer "zur Einheit verbundenen Gruppe von Menschen"sos. Träger der Staatsgewalt ist daher das Staatsvolk, nicht die der Staatsgewalt Unterworfenen. Die Rechtsprechung des BVerfG bewegt sich bis 1997 ganz in den traditionellen Bahnen, ohne daß allerdings deren Grundlagen erwähnt und reflektiert werden. Alle untersuchten Wahlgesetze werden ausschließlich am Maßstab der Erfolgswertgleichheit gemessen, die Ausfluß eines wieder so genannten "der Verhältniswahl eigenen Prinzips" sein soll. Es findet sich kein Wort über eine systemimmanente Herleitung des Gleichheitsmaßstabes und von der Einbettung der Verhältniswahl in ein Mischsystem, die den Gleichheitsmaßstab beeinflussen könnte, auch nicht anläßlich des Überhangmandats von 1987. Die Tatsache, daß dessen Unschädlichkeit aber mit der mangelnden Relevanz für die rechnerische Erfolgswertgleichheit begründet wird, wirf ein deutliches Licht darauf, daß das Gericht das System des BWahlG - noch - einheitlich als Verhältniswahlsystem auffaßt. Auch die Hochschul-Entscheidung von 1984 läßt mit ihrer Anknüpfung an den Verteilungsmodus in dieser Hinsicht kein Problembewußtsein erkennen. 1997 kam es dann - angesichts der früheren Entwicklung überraschend zum großen Bruch: die Geltung der Erfolgswertgleichheit wurde in der Überhangmandate III-Entscheidung drastisch beschränkt. Soweit sie allerdings nach wie vor gelten soll, bleibt das Gericht bei der klassischen Definition.
504 Entscheidung vom 28. 3. 1984 (2. Senat), BVerfGE 66, S. 291 ff., insbesondere S. 303-305. Ganz ähnlich die Entscheidung vom 22. 10. 1985 (1. Senat), BVerfGE 71, S. 81 ff. (Bremische Arbeitnehmerkammern), dazu Bausback, S. 156. 505 BVerfGE 83, S. 37, 51.
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2. Wahlgleichheit als "Erfolgschancengleichheit" Ein Teil der Literatur verneint die Relevanz der Erfolgswertgleichheit im Wahlsystem der Bundesrepublik. Grundlage ihrer Argumentation ist ein formaler, systemimmanent gewonnener Gleichheitsmaßstab. Einen Versuch zur tiefergehenden dogmatischen Fundierung unternehmen dabei nur Christofer Lenz, der die Wahlgleichheit erstmals ausführlich im europäischen Kontext untersucht506 , und Winfried Bausback, der die Bedeutung der Wahlen aus dem Blickwinkel des Demokratieprinzips erschließt. Die übrigen Beiträge dieser Richtung 507 befassen sich in erster Linie mit der Untersuchung von Einzelfragen, vor allem mit den Überhangmandaten. Ihr theoretischer Hintergrund läßt sich nur mittelbar aus dem tatsächlich beschrittenen Weg der Untersuchung herleiten. Auf dieser Lehre beruht die das Urteil tragende Begründung der Überhangmandate III-Entscheidung der Richter Kruis, Kirchhof, Winter und Jentsch 508 . a) Gleichheitsmaßstab Als selbstverständliche Grundlage gehen alle Autoren zunächst vom Erfordernis der Zählwertgleichheit bei allen Wahlsystemen aus. Der darüber hinausgehende Gleichheitsmaßstab zerfällt in zwei Bereiche, gemäß der zuerst von Herzog formulierten Unterscheidung509 : 506 Lenz, Ein einheitliches Wahlverfahren für die Wahl des europäischen Parlaments, 1995, 1. Teil: Europarechtliches Gebot zur Schaffung eines gleichen Europawahlrechts, 2. Teil: Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben für das Wahlrecht. Kürzer, nur auf die Bundesrepublik bezogen: Die Wahlrechtsgleichheit und das Bundesverfassungsgericht, AöR 121 (1996), S. 337 ff. 507 BK-Badura, Anhang zu Art. 38, Bearbeitung 1997; Markus Heintzen, Rechtsgutachten zu Fragen des Bundestagswahlrechts im Hinblick auf die Wahl zum 14. Deutschen Bundestag, 1996; Holger Jakob, Überhangmandate und Gleichheit der Wahl, 1998; Eckhard Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Refonn, 1985; Steffen Kautz, Überhangmandate und Gleichheit der Wahl, NJW 1995, S. 1871 ff.; Wolfgang Löwer, Aktuelle wahlrechtliche Verfassungsfragen, 1996; Ute Mager/Robert Uerpmann, Überhangmandate und Gleichheit der Wahl, DVBI. 1995, S. 273 ff.; Hans-Jürgen Papier, Uberhangmandate und Verfassungsrecht, DVBI. 1997, S. 265 ff.; Thomas Poschmann, Wahlgleichheit und Zweistimmensystem, BayVBI. 1995, S. 299 ff.; Waldemar Schreckenberger, Zum Streit über die Verfassungsmäßigkeit der Überhangmandate, ZParl 26 (1995), S. 678 ff.; Christian Starck, Die Vergrößerung der Mehrheit durch Überhangmandate, F.A.Z. v. 15. 11. 1995, S. 15; Wolf Reinhard Wrege, Ende der Überhangmandate im Bundestag, Jura 1997, S. 113 ff. 508 BVerfGE 95, S. 335, 349-367. 509 Ganz deutlich: Wrege, Jura 1997, S. 113, 115.
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Bei der Entscheidung über das Wahlsystem und bei der Kombination einzelner Elemente ist der Wahlgesetzgeber weitgehend frei, es findet nur eine Willkürkontrolle statt (Gleichheit des Systems): es muß ein legitimer Zweck verfolgt werden und die Kombination darf nicht widersprüchlich seins 10, die einzelnen Elemente müssen sich "stimmig einfügenSlI" oder "sachlich kompatibel seins 12". Es findet insoweit keine Folgerichtigkeits- oder über die Willkürkontrolle hinausgehende Gleichheitsprüfung im engeren Sinne statt. Denn "das Argument der Folgerichtigkeit kann prüfungsmaßstäblich die Schnittstelle von Mehrheitswahl und Verhältniswahl nicht erfassen, weil es für die Kombination keine Folgerichtigkeit gibt"s13. Das bedeutet, daß solche Regelungen des Wahlgesetzes, die Ausdruck der Systementscheidung sind, von vornherein keinen relevanten s14 Gleichheitsverstoß beinhalten können, unabhängig davon, ob sie die rechnerische Erfolgswertgleichheit beeinträchtigen oder nicht. "Die Wahlsystementscheidung des Gesetzgebers kann nicht am Grundsatz der Gleichheit der Wahl gemessen werden, weil durch sie jener erst konturiert wird"sls. Die Gleichheit innerhalb des Systems dagegen ist streng zu beurteilen: Einzelregelungen müssen folgerichtig aus dem vom System vorgegebenen Gleichheitsmaßstab entwickelt sein, Durchbrechungen sind rechtfertigungsbedürftig und haben den vom BVerfG entwickelten Anforderungen zu genügen, sind also nur aus zwingenden Gründen und in eng begrenztem Umfang zulässigs 16. Diese FolgerichtigkeitspTÜfung ist eine echte GleichheitspTÜ510 BVerfGE 95, S. 335, 349 f. und 354 nennt die Personenwahl und den gliedstaatlichen Aufbau der Bundesrepublik; BK-Badura, Anh. z. Art. 38, Rn. 52; Heintzen, Gutachten, S. 22: Entweder die Durchsetzung gleichwertiger Verfassungsprinzipien oder andere Wertungen, die in der jeweiligen Rechtsgemeinschaft anerkannt sind, wie etwa Integration oder "staatspolitische Gründe". Außerdem (S. 19) ergeben sich aus der Systemgerechtigkeit "bestimmte Einschränkungen", deren Umfang aber "nicht klar" sei; ferner: MagerlUerpmann, DVBl. 1995, S. 273, 275; Löwer, Gutachten, S. 22. 511 Heintzen, Gutachten, S. 88. 512 Poschmann, BayVBI. 1995, S. 299, 301. 513 Löwer, Gutachten, S. 130; Bausback, S. 189-197; ebenso Kautz, S. 1873: Folgerichtigkeit muß nur innerhalb jeden Abschnitts der Wahl gelten. 514 Darüber darf nicht hinwegtäuschen, daß Löwer und Heintzen in ihren Gutachten zu Beginn jeweils ausführlich auf den abstrakten Inhalt der Wahlgleichheit eingehen. Sie kommen zum Ergebnis, daß "Durchbrechungen der formalen Gleichheit" mit "verfassungsbezogenen Zwecken" gerechtfertigt werden können, weil die Erfoglswertgleichheit nur "grundsätzlich" gelte. Sie lehnen sich also an die Terminologie des BVerfG an (Löwer: S. 24; Heintzen: S. 31 f. und S. 79). Ihr tatsächliches Vorgehen bei der Untersuchung der Einzelfragen entspricht dann aber der dargestellten Methode, welche bei systemcharakterisierenden Regelungen gerade nicht von rechtfertigungsbedürftigen "Durchbrechungen" einer an sich für das ganze System geltenden Gleichheit ausgeht. So ausdrücklich Heintzen, S. 89; Löwer, S. 123 f. 515 Heintzen, Gutachten, S. 88.
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fung, die dann am Maßstab der Erfolgswertgleichheit vorzunehmen ist, wenn der zu untersuchende Abschnitt des Wahl verfahrens den Regeln der Verhältniswahl folgt 517 • Im Mehrheitswahl-Abschnitt fordert die Wahlgleichheit statt dessen insbesondere die möglichst gleichmäßige Größe der Wahlkreise518 . Andere als diese beiden Grundmodi der Umsetzung von Stimmen in Mandate werden an keiner Stelle genannt: jeder einzelne Verfahrensschritt ist entweder das eine oder das andere. Der durch diese zwei Elemente - willkürfreie Systemgestaltung und systemspezifische Gleichheit innerhalb des Systems - geprägt Inhalt der Wahlgleichheit wird mit dem seinerzeit von Herzoi19 eingeführten Begriff als "Erfolgschancengleichheit" bezeichnet52o . Der entscheidende Schritt ist in diesem Schema ist die Kennzeichnung derjenigen Einzelbestimmungen, die das System ausmachen. Feste Regeln sind hierfür noch immer nicht formuliert worden. Zum Teil wird, in eher technischer Betrachtungsweise, jeder funktionell abgrenzbare Teil des Wahlverfahrens als selbständige Einheit gesehen und auf die Aufstellung eines einheitlichen systemspezifischen Maßstabes überhaupt verzichtet: Zur Systementscheidung gehören die Vorschriften, die das Zusammenspiel der einzelnen Abschnitte regeln 521 . Andere begreifen "System" als eine materielle Grundentscheidung über die mit der Wahl verfolgten Ziele und Zwecke, die aus der Gesamtheit der Einzelnormen des Wahlgesetzes mit den Mitteln der juristischen Auslegung herauszukristallisieren ist522 . Anders 516 BVerfGE 95, S. 335, 354: " ... wenn dabei die Gleichheit der Wahl im jeweiligen Teilwahlsystem gewahrt wird ... "; Bausback, S. 193 f.; Wrege, Jura 1997, S. 113, 115. 517 BVerfGE 95, S. 335, 352 f.; vgl. BK-Badura, Anh. z. Art. 38, Rn. 13; Heintzen, Gutachten, S. 89; Kautz, NJW 1995, S. 1871, 1873. 518 BVerfGE 95, S. 335, 353; Lenz, AöR 121 (1996), S. 337, 355; Poschmann, BayVBl. 1995, S. 299, 301; BK-Badura, Anh. z. Art. 38, Rn. 12; vgl. Kautz, S. 1872. 519 Gutachten, S. 43. 520 BVerfGE 95, S. 335, 353; Lenz, AöR 121 (1996), S. 337, 354 f.; Poschmann, BayVBI 1995, S. 299, 301; Löwer, Gutachten, S. 20 und BK-Badura, Anh. z. Art. 38, Rn. 12, sprechen zwar von "Erfolgswertgleichheit", meinen damit aber auch nur, daß jeder Wähler in gleicher Weise "zum personellen Wahlergebnis und damit zur Parlamentsbildung beitragen" muß, meinen also der Sache nach das Gleiche. Umgekehrt verwendet H. Meyer den Begriff der "Erfolgschancengleichheit" im Sinne der auf die Parteien bezogenen Erfolgswertgleichheit. Das alles führt zu einer gewissen Begriffsverwirrung. 521 Löwer, Gutachten, S. 123 ff.; Kautz, NJW 1995, S. 1871, S. 1872; Poschmann, BayVBI 1995, S. 299, 301; vgl. auch, aus kritischer Perspektive, Backhaus, DVBl. 1997, S. 737, 739. 522 BVerfGE 95, S. 335, 356 f.; Heintzen, Gutachten, S. 79: "Ideelles Prinzip"; Schneider bei der Anhörung der Reformkommission (oben Fn. 490), S. 71.
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als der insoweit verwandte Nahlen kennen sie aber auf der Ebene des Wahlsystems keinen numerus clausus von nur zwei Grundtypen. Sie geben der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers mehr Raum, indem sie auch detailliertere Regelungen noch zur Systementscheidung rechnen. Eine Einzelregelung ist nach diesem Ansatz Ausdruck des Systems, wenn sie "notwendig" zur Verwirklichung der diesem zugrundeliegenden Zwecke ist. Praktisch bedeutet das: eine Regelung gehört zum System, wenn sich durch ihren Fortfall der Gesamtcharakter ändern würde. Nach Wrege 523 schließlich ist die Systementscheidung ausschließlich durch historische Auslegung zu ermitteln: welches Wahl system hat der Gesetzgeber ursprünglich gewählt? b) Dogmatische Begründung Begründet wird das systemimmanente Gleichheitsverständnis in erster Linie mit der Gestaltungsfreiheit des Wahlgesetzgebers, die entstehungsgeschichtlich untermauert und normativ in Art. 38 Abs. 2 GG verankert wird. Sie umfaßt nicht nur die beiden "Grundtypen" Mehrheits- und reine Verhältniswahl, sondern auch und gerade Zwischen- und Mischformen: "Der Wahlgesetzgeber ist vom Grundgesetz eben nicht nur dazu ermächtigt worden, eine Systemoption einzulösen; folglich sind auch Systemvariationen möglich ... ,,524. Dies ergibt sich aus der vom parlamentarischen Rat geteilten Erkenntnis, daß die reinen Formen der klassischen Wahlsysteme jeweils praktische Nachteile aufweisen, die auf vielfaltige Weise durch Beimengung ausgleichender, systemfremder Elemente ausgeglichen werden müssen525 . Zum Teil wird für auch die traditionelle Rechtsprechung des BVerfG für den systemimmanenten Gleichheitsmaßstab in Anspruch genommen. Dafür beruft man sich auf die seit dem 1. Band bekannten Formulierungen des Gerichts: "Innerhalb jeden Abschnitts der Wahl muß Folgerichtigkeit herrschen". "Wenn die Entscheidung für einen zusätzlichen Verhältnisausgleich fallt, muß in diesem Teil des Wahlverfahrens auch die Wahlgleichheit in ihrer spezifischen Ausprägung für die Verhältniswahl beachtet werden. ,,526 Diese Berufung auf das BVerfG ist aber äußerst fragwürdig, denn das Gericht betont im selben Atemzug, daß speziell das BWahlG einen übergreiWrege, DVBl. 1997, S. 114 und 115 f. Löwer, Gutachten, S. 22; ebenso BVerfGE 95, S. 335, 354 und 349 f. 525 BVerfGE 95, S. 335, 351; Löwer, Gutachten, S. 111 ff.; Heintzen, Gutachten, S. 15 ff. 526 BVerfGE 1, S. 208, 246 f. (SSW I), zitiert nach Kautz, NJW 95, S. 1871, 1872, von dem die Hervorhebungen stammen. Ebenso Mager/Uerpmann, DVBl. 1995, S. 273, 275. 523
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fenden Verhältnisausgleich vorsehe und daher nach den Regeln der Verhältniswahl zu beurteilen sei und nicht etwa nach einem "gemischten" oder "modifizierten" Maßstab. Die Mehrzahl der Autoren ist sich dessen auch bewußt527 ; sie beschränken sich daher auf den Nachweis, daß das systemimmanente Vorgehen der Rechtsprechung nicht widerspricht: das Gericht orientiert sich zwar an der Erfolgswertgleichheit als Maßstab, wendet sie aber nur "grundsätzlich" an und gestatte Durchbrechungen. Dabei hat es das "eigentliche Verhältnis von Systembindung und Ausgestaltungsfreiheit des Gesetzgebers ... systematisch noch nie reflektiert,,528. Auch die Richter des BVerfG selbst vermeiden in diesem Punkt die Berufung auf die alte Rechtsprechung, handeln also offenbar im Bewußtsein, diese weiterzuentwickeln529 .
Lenl 30 schließlich wendet sich dezidiert gegen die überkommene Rechtsprechung des BVerfG und denkt den formalen, technischen Gleichheitsbegriff konsequent zu Ende, indem er die Unterscheidung zwischen Systemwahl und -ausgestaltung ganz aufgibt: Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers umfaßt jede Detailregelung, die Wahlgleichheit hat keine über das Gebot der Chancengleichheit hinausgehende Bindungswirkung für die Systemgestaltung durch das Wahlgesetz. Er begründet das mit folgendem Gedankengang: Jedes Wahlsystem entfaltet eine gewisse "Konzentrationswirkung" , das heißt, es fördert die Konzentration der Wähler auf eine beschränkte Anzahl von Parteien. Am neutralsten von allen ist die reine Verhältniswahl, die nur den natürlichen Wahlquotienten (Zahl der abgegebenen Stimmen geteilt durch die Zahl der zu vergebenden Sitze) kennt. Die Konzentrationswirkung läßt sich in zwei Richtungen steigern: entweder durch Erhöhung der Sperrklausel oder durch zunehmende Zerstückelung des Wahlgebiets in abgeschlossene Wahlkreise. Irgendwo in diesem Kontinuum liegt jedes denkbare Wahlsystem. Auch "Verhältniswahl" und "Mehrheitswahl" sind keine "Grundtypen" sondern lediglich "Namen für bestimmte, besonders markante Wahlverfahren auf dem Kontinuum,,531. Die Rechtsprechung, derzufolge es (nur) zwei unterschiedliche Ausprägungen der Wahlgleichheit, die der Mehrheitswahl und die der Verhältniswahl gibt, verkennt diese Dogmatik. Folglich ist auch die 527 Lenz, AöR 121 (1996), S. 337, 344; Poschrnann, BayVBI 1995, S. 299, 301; Schreckenberger, ZParl 26 (1995), S. 678, 680; darstellend auch Backhaus, DVBI. 97, S. 737 ff. (der selbst allerdings den Ansatz über die Erfolgschancengleichheit ablehnt). 528 Löwer, Gutachten, S. 22; Heintzen, Gutachten, S. 20 f. 529 BVerfGE 95, S. 335, 359 f.: Hier wird ausführlich nachgewiesen, daß kein Widerspruch zur bisherigen Rechtsprechung besteht. 530 s. Fn. 505. 531 Lenz, AöR 121 (1996), S. 337, 344.
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These von der Selbstbindung des Gesetzgebers durch die Systementscheidung falsch. "Der vom BVerfG angenommenen ,Abgrund der Argumentation' besteht in Wirklichkeit nicht". Der Schluß von der Zulässigkeit der Mehrheitswahl auf diejenige von weniger restriktiven Systemen, etwa ein System mit lO%-Klausel, ist "ein korrekter Schluß a maiore ad minus,,532. Auch die Interpretation der "Grundtypen" als Repräsentationsprinzipien im Sinne Nohlens lehnt Lenz ab, weil auch hier der Punkt auf dem Kontinuum nicht zu ermitteln ist, an dem "der Bereich der Verhältniswahl verlassen wird und das Reich der Mehrheitswahl beginnt,,533. Zudem führt die Beschränkung auf die zwei "Grundtypen" dazu, daß nur die Systeme am Rand des Kontinuums zulässig sind, während "dem Gesetzgeber gerade die gemäßigten Wahlverfahren versperrt werden, die zwischen reiner Verhältniswahl und relativer Mehrheitswahl in der Mitte des Kontinuums liegen,,534. Die Wahlgleichheit ist deswegen nichts anderes als Erfolgschancengleichheit im Sinne Herzogs: nur die gezielte Benachteiligung bestimmter Parteien oder Wähler, etwa durch fehlerhafte Wahlkreiseinteilung, ist danach verboten. Überhangmandate und Grundmandate werden damit zu einem Problem der "reinen Rechtspolitik". "Der Wahlgesetzegeber hat ... einen wesentlich größeren Spielraum als bisher angenommen. 535 " Zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommen aus einer völlig anderen Richtung Ute Mager und Robert Uerpmann 536 . Sie sehen die Wahlgleichheit als Ausprägung des Allgemeinen Gleichheitssatzes und wenden die vom BVerfG für diesen entwickelte Dogmatik an. Danach sind an gesetzliche Differenzierungen zwischen Personengruppen strengere Anforderungen zu stellen als an solche zwischen Sachverhalten. Nun sind aber Eingriffe in die Zählwertgleichheit eine Ungleichbehandlung von Personen, Eingriffe in die Erfolgswertgleichheit solche von Sachverhalten. Letztere, etwa durch die Einführung der Mehrheitswahl, sind daher schon bei Vorliegen von sachlichen Gründen zulässig, erstere nur aus "zwingenden Gründen". Auch hiernach gilt also für systembedingte Verzerrungen der Erfolgswertgleichheit lediglich das allgemeine Willkürverbot. ' 532 Lenz AöR 121 (1996), S. 337, 345; im Ergebnis ebenso ausdrücklich Kautz. NJW 1995, S. 1871, 1873 und, wenn auch vorsichtiger, Löwer. Gutachten S. 24 und 21, der ebenfalls die Unterscheidung Systemwahl und -ausgestaltung letztlich aufgibt, die systemspezifischen Einschränkungskriterien für inhaltsleer hält und konsequent Sperrklauseln und Überhangmandate qualitativ für gleichwertig hält. 533 Lenz, AöR 121 (1996), S. 337, 348. 534 Lenz. AöR 121 (1996), S. 337, 353. Die Annahme, die Systeme "in der Mitte des Kontinuums" seien "gemäßigter" als die am Rande, ist allerdings fragwürdig: eher scheinen die Ränder gemäßigt und die Mitte, etwa eine 20%-Sperrklausel, radikal zu sein (so auch Bausback. S. 176). 535 Lenz. AöR 121 (1996), S. 337, 356. 536 MagerlUerpmann. DVBI. 1995, S. 276.
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c) Exempel: Subsumtion von Überhangmandaten und 5 %- Klausel Das System des BWahlG wird, frei nach seinem § 1, als "personalisierte Verhältniswahl"s37 oder als "Zwei-Stimmen-System"s38 bezeichnet. Der von ihm vorgeschriebene Gleichheitsmaßstab ist grundsätzlich die Erfolgswertgleichheit, die aber zugunsten des beabsichtigten Personalisierungseffektes von vornherein gewissen Einschränkungen durch Elemente der Mehrheitswahl unterliegtS39 . Die ursprüngliche These des BVerfG, das System des BWahlG unterliege wegen des nachgeschalteten Verhältnisausgleichs insgesamt der Erfolgswertgleichheit, wird also aufgegeben. Das ergibt sich aus dem BWahlG selbst, das an mehreren Stellen, so etwa bei der Ermöglichung von parteilosen Kandidaturen, den Willen erkennen läßt, einer partei unabhängigen Persönlichkeitsentscheidung der Wähler auch gegen den Proporz zur Wirksamkeit zu verhelfen. Das ist überhaupt der Sinn der Einführung des Zwei-Stimmen Systems, im Gegensatz etwa zum Einstimmen-System in Nordrhein-Westfalen, in dem der Persönlichkeitswahl keine eigenständige Rolle zufällt. Diese Interpretation wird auch historisch untermauert, etwa mit dem Hinweis auf die Kritik am Weimarer Wahlsystem, unter deren Einfluß der Gesetzgeber gestanden habes4o . Die Überhangmandate sind nach dieser Sichtweise unproblematisch Ausdruck der SystementscheidungS41 , denn gerade die Entscheidung des Gesetzgebers, die durch die Personenwahl entgegen dem Parteienproporz der Zweitstimmen zustandegekommenen Mandate nicht auszugleichen oder verfallen zu lassen, ist das bedeutendste Mittel, der Personenwahl zu eigenständigem Gewicht zu verhelfen - nicht zuletzt durch die in ihnen zum Ausdruck kommende "Prämierung" von überdurchschnittlich erfolgreicher Wahlkreisarbeit. Ähnliches gilt für die Einführung der Landeslisten, durch die das Entstehen von Überhangmandaten gefördert wird: sie sind Ausdruck der Dezentralisierungstendenz des BWahIG, welche ebenfalls das System prägt. Überhangmandate sind daher nicht mit dem Maßstab der Erfolgswertgleichheit zu messen. Und weil jedes einzelne Überhangmandat als Wahlkreismandat nach den Regeln der Mehrheitswahl einwandfrei zustandegeEtwa Papier, JZ 1996, S. 265, 270; Poschmann, BayVBI 1995, S. 299, 300. Poschmann, BayVBI 1995, S. 299, 300; vgl. Löwer, Gutachten, S. 125. 539 BVerfGE 95, S. 353, 356 f.; BK-Badura, Anh. z. Art. 38, Rn. 53; Heintzen, Gutachten, S. 76 f.; Löwer, Gutachten, S. 124 ff.; Papier, JZ 1996, S. 265, 270; Poschmann, BayVBI 1995, S. 299 ff.; Starck, F.A.Z. v. 15. 11. 1995, S. 15. 540 Löwer, Gutachten, S. 106 ff.; vgl. Wrege, Jura 1997, S. 113, 115 f. 541 Etwa BVerfGE 95, S. 358 und in der Sachverhaltsdarstellung kurz zusammengefaßt: S. 344 f.; BK-Badura, Anh. z. Art. 38, Rn. 55 ff. 537
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kommen ist542 (sofern die Wahlkreiseinteilung korrekt ist), sind sie gleichheitsrechtlich nicht zu beanstanden und ohne zahlenmäßige Beschränkung zulässig. An dieser Stelle machen die Richter des BVerfG einen überraschenden "Rückzieher" und weichen von der Lehre ab 543 : die Geltung der Erfolgswertgleichheit ist vom Gesetzgeber zwar zugunsten der Personalisierung zurückgenommen. Das ist aber nur solange von der ursprünglichen Intention gedeckt, wie Überhangmandate nur in "begrenzter Anzahl" anfallen. Als Richtwert für das Maß der gewollten Einschränkungen der Erfolgswertgleichheit kann die 5 %-Klausel dienen. Sollte dieser Wert etwa wegen des verstärkten Anfall von Überhangmandaten überschritten werden, müßte man von einem Verstoß gegen die vom Wahlgesetz definierte Gleichheit ausgehen. Die 5 %-Sperrklausel dagegen ist nicht Ausdruck der Systementscheidung für die personalisierte VerhältniswahI 544 . Sie dient weder dem Zweck der Personalisierung noch dem der annähernd anteilmäßigen Verteilung der Mandate auf die Parteien, sondern soll die Zersplitterung des Parlaments verhindern. Sie ist also einschränkende Ausgestaltung des eigentlichen Systems. Weil sie den Teil der Wahl - die Verteilung von Sitzen auf die Listen - betrifft, der den Regeln der Verhältniswahl unterliegt, ist sie als solche am Maßstab der Erfolgswertgleichheit zu messen. Sie ist als Durchbrechung dieses Maßstabes nur zulässig, wenn sie die strengen Kriterien der Gleichheitsprüfung erfüllt. Das ist nur bis zur Höhe von 5 % der Fall. Das System des BWahlG wird durch diese Auslegung im Ergebnis zu einem Grabensystem545 . Einziger sichtbarer Teil des Grabens, der durch die weitgehende Verrechnung mit den Listenmandaten zum größten Teil zugeschüttet ist, sind die Überhangmandate und die erfolgreichen parteilosen Wahlkreisbewerber. Denn Personenwahl und Listenwahlelemente werden trotz des Verhältnisausgleichs als voneinander unabhängige Abschnitte des Wahlverfahrens angesehen, die jeweils eigenen Gesetzen gehorchen. Be542 So ausdrücklich BVerfGE 95, S. 335, 357 und auch die eigentlich die Unmittelbarkeit der Wahl betreffende Nachrücker-Entscheidung BVerfGE 97, S. 317 ff., welche von dieser Prämisse ausgeht und konsequent beim Ausscheiden eines Wahlkreiskandidaten in einem Land mit Überhangmandaten das Nachrücken eines Listenkandidaten für unzulässig erklärt. 543 BVerfGE 95, S. 335, 365 f. 544 Heintzen, Gutachten, S. 89. 545 BVerfGE 97, S. 317 ff., 324 f. (Nachrücker); Badura, 1Z 97, S. 681, 683 spricht von "Mischsystem" in Abgrenzung zu "Verhältniswahlsystem"; Püftner bei der Anhörung der Reformkommission (oben Fn. 490), S. 70; in aller Deutlichkeit der Streit Mahrenholz-Löwer, ebd. S. 73/74; zutreffend insoweit auch Meyer, KrV 1994, S. 312, 338.
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gründet wird das damit, daß das der vom Gesetzgeber in erster Linie gewollten Personalisierung besser entspreche. Auffällig ist, daß die modemen Vertreter des formalen Gleichheitsbegriffs das BWahlG anders beurteilen, als die Begründer der Lehre in den 70er Jahren. Frowein und Herzog hatten bei dessen Charakterisierung übereinstimmend - wie das BVerfG - an den "vollen", bundesweiten Verhältnisausgleich angeknüpft546 . Aus dessen "Natur" ergebe sich, daß das "Prinzip" der Erfolgswertgleichheit voll gelte. Freilich waren damals die Überhangmandate noch nicht als Problem erkannt worden 547 . 3. Wahlgleichheit als "Eifolgswertgleichheit"
Die übrigen Autoren 548 bewegen sich auf dem Boden des "demokratisehen" Wahlverständnisses und postulieren für das Wahlsystem der Bundesrepublik die Geltung der Erfolgswertgleichheit als Maßstab. Hauptvertreter dieses Lagers ist weiterhin Hans Meyer549 , dessen 1974 entwickelte Lehre ihre theoretische Basis bildet und von ihm in den 80er Jahren wiederholt und verfeinert550 wurde. Zusätzlich dazu wird aber vor allem aus dem BWahlG selbst argumentiert. Mit teilweise anderer Herleitung, im Ergebnis aber übereinstimmend, liegt dieser Ansatz der abweichenden Ansicht der Richter Graßhof, Limbach, Hassemer und Sommer zur Überhangmandate III-Entscheidung des BVerfG zugrunde.
Frowein, Gutachten, S. 13; Herzog, Gutachten, S. 42 ff. Frowein, AöR 99 (1974), S. 72, 94 f., hält Überhangmandate nur so lange für zulässig, wie sie die "Ausnahme" bleiben. Wegen dieses bei der Rechtfertigung von Überhangmandaten eher hinderlichen Ergebnisses vermeiden es die Befürworter von Überhangmandaten wohl auch, sich auf Frowein und Herzog zu berufen, obwohl sie methodisch in deren Nachfolge stehen. 548 v. MangoldtlKlein-AchterberglSchulte, Art. 38; Ralph Backhaus, Neue Wege beim Verständnis der Wahlgleichheit?, DVBI. 1997, S. 737, 740 ff.; Werner Hoppe, Die Verfassungswidrigkeit der Grundmandatsklausel, DVBI. 1995, S. 265 ff.; Jörn lpsen, Das Zwei-Stimmen System des BWahlG - reformbedürftig?, JA 1987, S. 232 ff.; Ernst Gottfried Mahrenholz, Über den Satz vom zwingenden Grund, FS Graßhof, S. 69 ff.; Helmut Nicolaus, Wahlunrecht und Ausgleichsmandate, ZRP 1995, S. 251 ff.; ders., Demokratie, Verhältniswahl & Überhangmandate, 1995; Klaus Unterpaul, Zunehmende Zahl der Überhangmandate unbedenklich?, NJW 1994, S. 3267; Ulrich Wenner, Sperrklausein im Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, 1986, S. 153 ff.; vgl. auch Dirk EhlerslMarc Lechleitner, Die Verfassungsmäßigkeit von Überhangmandaten, JZ 1997, S. 761 ff.; Gerald Roth, Mit drei Direktmandaten in den Bundestag?, NJW 1994, S. 3269 ff. 549 S. o. Fn. 486. 550 HbStR § 37; ähnlich: Wenner, S. 155 f.; Bakker, ZRP 1994, S. 457 ff. 546 547
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a) Theoretische Grundlage Gleichheitsmaßstab - jedenfalls für die Beurteilung des BWahlG und der ihm verwandten Wahlgesetze - ist also die Erfolgswertgleichheit; es gelten prinzipiell die von RStGH und BVerfG für die Verhältniswahl entwickelten Kriterien: Durchbrechungen - egal ob durch oder innerhalb des Systems sind nur zulässig, wenn zwingende Gründe von Verfassungsrang sie rechtfertigen. Dabei ist eine strenge Gleichheitsprüfung durchzuführen, insbesondere müssen die Durchbrechungen verhältnismäßig sein. Die Gründe für die Ungleichbehandlung551 müssen hinreichend gewichtig sein, sie muß erforderlich sein und der angestrebte Zweck muß zur Gleichheitseinbuße in einem angemessenen Verhältnis stehen. Die Geltung der Erfolgswertgleichheit für die Regelungen des BWahlG wird aus der Anordnung des übergreifenden Verhältnisausgleichs hergeleitet552 . Jedenfalls dadurch hat der Gesetzgeber sich den Regeln der Verhältniswahl unterworfen. Das hat auch das BVerfG immer wieder festgestellt und konsequent etwa Überhangmandate immer am Maßstab der Erfolgswertgleicheit gemessen. Die Mehrheitswahlelemente haben nur untergeordnete Bedeutung, Ziel der Verrechnung der Direkt- mit den Listenmandaten ist es, der Mehrheitswahl ihre merhheitsbildende Wirkung zu nehmen und sie auf die Ermöglichung der Personenwahl zu beschränken553 . Trotz der Kombination ist das BWahlG ein echtes Verhältniswahlsystem, Sinn der Mehrheitswahlelemente ist ausschließlich die Personalisierung, nicht die Beeinflussung der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundestages. Die parteipolitische Zusammensetzung soll sich ausschließlich nach den Zweitstimmen richten. Hinter diesen Überlegungen steht - von vielen Autoren unausgesprochen - die Auffassung, daß die Verhältniswahl in der modernen Demokratie ohnehin von Verfassungs wegen vorgeschrieben ist. Es kann nicht angenommen werden, daß die Verfassung eine derart zentrale Frage wie den Inhalt der Wahl gleichheit offenläßt, ihre Beantwortung folgt vielmehr schon aus dem Demokratieprinzip: "Diese Verknüpfung von strikter Wahlgleichheit 551 In BVerfGE 95, S. 335, 399 und 376 f. werden in Anlehnung an die Sperrklauselentscheidungen genannt: die staatspolitischen Ziele der Parlamentswahl, wie etwa der Personalisierungsgedanke, der Schutz anderer Wahlrechts grundsätze und andere von der Verfassung geschützte Belange. 552 Meyer, in: HBStR 11, § 38 Rn. 46 und KrV 1994, S. 312, S. 383 und 343; EhlerslLechleitner, JZ 1997, S. 761, 762; Schmidt, ZRP 1995, S. 91, 91; Unterpaul, NJW 1994, S. 3267, 3267 f.; AchterberglSchulte, a.a.O. Rn. 142; Nicolaus, ZRP 1995, S. 251, 252; vgl. Bryde bei der Anhörung der Reforrnkommission (oben Fn. 490), S. 65. 553 Meyer, HBStR 11, § 37 Rn. 36.
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und dem demokratischen Prinzip verträgt sich mit einem erweiterten Gestaltungsspielraum bei der Bestimmung des Wahl systems nicht".554 Meye"s55 weist zusätzlich auf die praktischen Erfahrungen mit dem Zwei-Stimmen-System hin, das seinen ursprünglichen Zweck - die Ennöglichung der Wahl einer Persönlichkeit unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit - nur in sehr geringem Umfang erreicht. In aller Regel ist die unterschiedliche Abgabe von Erst- und Zweitstimme nicht durch die Person des Wahlkreiskandidaten, sondern durch koalitionstaktische Erwägungen bestimmt. Aus diesem Grund ist die Zweistimmigkeit an sich überflüssig, die entsprechenden Vorschriften des Wahlgesetzes müßten entsprechend ihrer Bedeutung eher einschränkend ausgelegt werden.
Die Gruppe um die Richterin Grasshof geht, anders als Meyer - von dem traditionellen, systembezogenen Ansatz des BVerfG aus. Sie räumen dem Wahlgesetzgeber einen Gestaltungsspielraum ein, allerdings beschränkt auf drei Systemalternativen: entweder Mehrheitswahl oder Verhältniswahl oder ein "echtes" Mischwahlsystem, welches sich dadurch auszeichnet, daß es "die mehrheitsbildende Funktion der Mehrheitswahl und die repräsentationsfördernde Funktion der Verhältniswahl nebeneinander zur Geltung (bringt), indem die Gesamtzahl der Parlaments sitze nicht einheitlich nach einem der beiden Verfahren verteilt wird". Das System des BWahlG ist danach ein Verhältniswahlsystem, in dem in vollem Umfang die Erfolgswertgleichheit gilt556 . Die nicht der Gleichheitsprüfung unterliegende Systementscheidung wird also auf den Bereich der Grundsatzentscheidung557 begrenzt, der "Abgrund der Argumentation" zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl wird beibehalten558
554 Backhaus, DVBl. 1997, S. 737, 740; Bakker, ZRP 1994, S. 457 ff.; Meyer, HBStR 11, § 37 Rn. 22; Ipsen, JA 1987, S. 232, 235; Wenner, S. 155 f. Siehe die kritische Stellungnahme dazu bereits oben, 11. 6 b). 555 HBStR 11, § 38 Rn. 54; ähnlich schon Ipsen, JA 1987, S. 232, 235. 556 BVerfGE 95, S. 335, 373; ebenso wohl EhlerslLechleitner, JZ 1997, S. 761 ff.; Hoppe, DVBl. 1995, S. 265, 268. 557 Deutlich wird das auf S. 390: " ... daß der Gesetzgeber schon bei seiner Entscheidung für ein bestimmtes Wahlsystem - und nicht erst bei dessen Ausgestaltung - den Grundanforderungen der Wahlrechtsgleichheit genügen muß." Der Widerspruch zu S. 372, wo festgestellt wurde, daß "sich die Frage, ob eine wahlrechtlich relevante Ungleichheit vorliegt, nicht unabhängig von dem jeweiligen Wahlsystem entscheiden läßt", ist nur aufzulösen, wenn die dem Gesetzgeber zustehende Systementscheidung als eine von der technischen Gestaltung losgelöste prinzipielle Grundsatzentscheidung verstanden wird. Ausdrücklich und klar: Mahrenholz, FS Graßhof, S. 69, 82; vgl. in diesem Sinne auch Backhaus, DVBl. 1997, S. 737, 742: "Grundstruktur des Systems". 558 BVerfGE 95, S. 335, 372.
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b) Beispiel Überhangmandate und 5 %- Klausel Überhangmandate bewirken eine Verzerrung der Proportionalität zwischen Sitzen und den für die Parteien abgegebenen Zweitstimmen und sind damit zweifellos eine rechtfertigungsbedürftige Durchbrechung der Erfolgswertgleichheit. Der Rechtfertigungsversuch über den Personalisierungsgedanken hält dem strengen Gleichheitsmaßstab nicht stand559 . Um das Ziel zu erreichen, eine enge Bindung zwischen den Abgeordneten und einem Wahlkreis herzustellen, ist es nicht erforderlich, eine Störung des Parteienproporzes durch Überhangmandate zuzulassen. Es existieren zwei Möglichkeiten, das zu verhindern. Entweder kann man den benachteiligten Parteien Ausgleichsmandate zuteilen. Oder man kann die Verrechnung der von einer Partei errungenen Wahlkreismandate mit den ihr nach dem Zweitstimmenergebnis insgesamt zustehenden Mandaten anders als nach dem geltenden § 7 Abs. 2 BWahlG auf Bundesebene durchführen und erst anschließend die verbleibenden Listenmandate auf die Landeslisten der Parteien verteilen56o . Diese Möglichkeiten führen zwar zu einer Verschiebung der Zahl der aus den einzelnen Ländern in den Bundestag entsandten Abgeordneten. Das rechtfertigt aber ebenfalls nicht die Verzerrung der Erfolgswertgleichheit, denn das Anliegen der Berücksichtigung der Ländergrenzen bei der Wahl zum Bundesparlament ist zwar zulässig, aber von niedrigerem Rang als die Wahlgleichheit 561 . Die Einschränkung des Parteien- zu Gunsten des Länderproporzes ist daher ein ungerechtfertigter Eingriff in den in erster Linie auf die parteipolitsche Zusammensetzung des Parlaments gemünzten562 Grundsatz der Wahlgleichheit. Auch historisch wird nachgewiesen, daß der Wahlgesetzgeber stets ein reines Verhältniswahlsystem einführen wollte: der Parlamentarische Rat hat
559 BVerfGE 95, S. 335, 399 ff.; Backhaus, DVBl. 1997, S. 737, 742; Meyer, HBStR 11, § 38 Rn. 33 und KrV 1994, S. 312, 346 f.; Schmidt, ZRP 1995, S. 91, 92; Unterpaul, NJW 1994, S. 3267, 3269; vgl. AchterberglSchulte, a.a.O., Rn. 143. Eine griffige Zusammenfassung der Argumentation findet sich in der Sachverhaltsdarstellung in BVerfGE 95, S. 335, 341-343. Vgl. ausführlicher zu den Überhangmandaten unten, 2. Teil, B. V. 560 Für diese Möglichkeit setzt sich insbesondere Nicolaus, NJW 95, S. 1001 ff. und ZRP 1995, S. 251, 253, ein. Er vertritt sogar die These, § 7 BWahlG sei schon in der geltenden Fassung in diesem Sinne auszulegen. Dagegen aber überzeugend BVerfGE 95, S. 335, 347 f. (hier noch übereinstimmend); Löwer, Gutachten, S. 101 ff. 561 BVerfGE 95, S. 335, 401 f.; Meyer, KrV 1994, S. 312, 320 und 341; Schmidt, ZRP 1995, S. 91, 93. 562 Das begründet ausführlich Meyer, HBStR 11, § 37 Rn. 6.
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ursprünglich eine Bundesliste vorgesehen, die Einführung der Landeslisten geht dagegen auf einen "Oktroy" der Besatzungsmächte zurück563 . Die Gruppe um die Richterin Grasshof hält, insofern abweichend, eine kleine Zahl von Überhangmandaten für zulässig, weil ihr Ausgleich eine erhebliche Komplizierung des Wahlverfahrens mit sich bringen würde 564 . Sofern das Maß der mit jedem Verteilungsverfahren verbundenen Unschärfe im Stimmen/Mandatsverhältnis nicht überschritten wird, kann diese geringe, unerhebliche Verzerrung mit der Vereinfachung des Wahl systems gerechtfertigt werden. Das ist ihrer Ansicht nach auch das Motiv der Väter des Wahlgesetzes gewesen. Wächst aber, wie nach der Wiedervereinigung, die Zahl der Überhangmandate strukturell bedingt an, so kann dieser Gedanke den Gleichheitsverstoß nicht mehr aufwiegen. Die entsprechende Regelung des Wahlgesetzes wird dann durch Änderung der tatsächlichen Umstände insgesamt verfassungswidrig565 . Die 5 %-Klausel wird von den meisten Vertretern dieser Ansicht sehr skeptisch gesehen566 . Die Gründe, die in den 50er Jahren für ihre Aufrechterhaltung und ihre Höhe genannt wurden, müßten heute, unter völlig veränderten Umständen, neu überprüft und vermutlich revidiert werden. 4. Betrachtung
Der Dualismus in der deutschen Wahlrechtsdiskussion hält bis heute an, die Fronten sind sogar besser auszumachen als in der vorigen Epoche, denn "vermittelnde" Ansätze werden kaum gesucht: selbst das an sich das alte Kompromißmodell des BVerfG weiterverfolgende Minderheitsvotum zur Überhangmandate III-Entscheidung befleißigt sich bei der Abwägung der verschiedenen Argumente im Ergebnis doktrinärer Strenge im Sinne der einen Seite. a) Die beiden "Lager" Auf der einen Seite steht die "demokratische" Richtung, deren Hauptvertreter nach wie vor Hans Meyer ist. Inhalt und Begründung haben sich Backhaus, DVBl. 1997, S. 737, 742; Meyer, KrV 1994, S. 312,342. BVerfGE 95, S. 335, 395 ff. Ähnlich auch EhlerslLechleitner, JZ 1997, S. 761 ff. Sie differenzieren zwischen Überhangmandaten nach § 6 Abs. 5 und solchen nach § 6Abs. 3 S. 2 BWahIG. Erstere könnten praktisch nicht auftreten und seien daher unbedenklich; letztere seien wegen der Möglichkeit des "umgekehrten Erfolgswertes" ein systemwidriger Gleichheitsverstoß. 565 Das verkennt Lenz, NJW 1997, 1534, 1536, wenn er fragt, was mit den über die Unerheblichkeitsmarge hinausgehenden Überhangmandaten passieren soll. 566 Frotscher, DVBl. 1985, S. 917, 926 f.; Wenner, Ergebnis. 563
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nicht wesentlich verändert, nur liegt der Schwerpunkt heute auf der Auslegung des BWahIG. Kernpunkt ist die These, daß das Grundgesetz und, ihm folgend, das Wahlgesetz, die reine Verhältniswahl mit nur engen, unumgänglichen Einschränkungen vorschreibt. Das ergebe sich unmittelbar aus dem Demokratieprinzip. Demgegenüber hat die "liberale" Lehre einen fortschreitenden Wandel erfahren. In den 60er Jahren hatten sich ihre Vertreter noch weitgehend auf die Forderung nach Einführung der Mehrheitswahl oder eines anderen mehrheitsbildenden Wahlsystems konzentriert. Nachdem dieser Kampf zumindest mittelfristig verlorengegeben werden mußte, haben sie sich heute auf die Auslegung des geltenden Rechts in ihrem Sinne verlegt; bei Licht betrachtet geht es um die Aufweichung des vom BVerfG für das BWahlG entwickelten "demokratischen" Gleichheitsmaßstabes mit dem Erfordernis der Erfolgswertgleichheit. Ihr Vorgehen gleicht dem ihrer Vorgänger in der ersten Hälfte der Weimarer Zeit, die damals die ausdrückliche Festlegung der Verfassung auf die Verhältniswahl hinweg interpretieren wollten. Praktisch führt der Weg zu einem "neuen" Begriffsverständnis der Wahlgleichheit im liberalen Sinne über die Ausdehnung des Bereichs der Systementscheidung auf weitere Detailregelungen des Wahlgesetzes. Die Zahl der dem Gesetzgeber offen stehenden Systemalternativen wird erweitert (gemäßigte Variante der "liberalen" Lehre). Exemplarisch ist die Unterscheidung zwischen "reiner" und "personalisierter" Verhältniswahl mit je eigenem Gleichheitsmaßstab. Der letzte Schritt wird erst in jüngster Zeit von einigen Autoren getan: Die gänzliche Aufgabe der Unterscheidung zwischen Systementscheidung und -ausgestaltung und damit die Reduktion der Wahlgleichheit auf einen einheitlichen Maßstab für alle Systeme, nämlich das "Erfolgschancengleichheit" genannte Willkürverbot (radikale Variante). Die Relevanz der Erfolgswertgleichheit hinsichtlich der parteipolitischen Zuordnung der Wähler, auch nur für Teilbereiche des Wahlverfahrens, ist damit vollständig abgeschafft, in konsequenter Umsetzung des "liberalen" Wahlund Demokratieverständnisses. b) Inhalt des Streites Der Streit spitzt sich - vom Ergebnis her gesehen - auf die Frage zu, ob die Erfolgswertgleichheit, bezogen auf alle Sitze und alle Wähler, maßgebliches Kriterium für die gleichheitsrechtliche Beurteilung der Wahl ist oder nicht. Auf diese Frage laufen alle einzelnen Streitpunkte hinaus, die im Laufe der Diskussion um die Überhangmandate aufgetaucht sind: Sind Überhangmandate Listen- oder Direktmandate, sind sie durch Erst-oder durch Zweitstimmen legitimiert? Das meint eigentlich: sind sie Teil des Verhältniswahlabschnitts des Wahlverfahrens oder nicht? - Ist die Recht-
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1. Teil: Historische Untersuchung
mäßigkeit der sie zulassenden Vorschriften ex post oder ex ante zu beurteilen? Ex post unter dem Gesichtspunkt der Erfolgswertgleichheit, die ein rein rechnerischer, also nachträglich aus dem Wahlergebnis zu ermittelnder Wert ist, ex ante hinsichtlich der Chancengleichheit, die im Augenblick der Stimmabgabe gegeben sein muß. Aber noch an einer anderen Stelle kommt der grundsätzliche Dissens zum Tragen: bei der Gewichtung der Wahl gleichheit im Verhältnis zu anderen Rechtsgütern im Rahmen des "zwingenden Grundes" als Rechtfertigung von Differenzierungen im Verhältniswahl-Abschnitt eines Wahlsystems. Die "demokratische" Lehres67 setzt hier die egalitäre Gleichheit als absoluten Höchstwert, Einschränkungen sind selbst aus verfassungsrechtlich verankerten Gründen nur zulässig, wenn sie "obligatorisch" sind, es also erwiesener Maßen nicht anders geht. In der Erforderlichkeits- und der Verhältnismäßigkeitsprüfung werden strenge Anforderungen gestellt. Aus "liberaler" Sicht dagegen sind die Grenzen auch im Verhältniswahlabschnitt weiter gezogen, sofern darüber überhaupt nachgedacht wird und Differenzierungen nicht ohnehin als "systembedingt" qualifiziert werdens68 . Das BVerfG, am ausführlichsten in der Grundmandatsklausel-Entscheidung, knüpft hier allerdings an seine traditionelle Rechtsprechung an: dem Gesetzgeber wird ein gewisser Beurteilungsspielraum hinsichtlich Notwendigkeit und Art von Differenzierungen eingeräumt, er muß sich lediglich von nachvollziehbaren, sich aus der Natur der Sache ergebenden Gründen leiten lassen. Zu diesen gehören nicht nur technisch zwingende, wie etwa unvermeidliche Unschärfen jeden Urnrechungsverfahrens, sondern auch "staatspolitische", wie etwa die Abwendung einer "Störung des Staatslebens"s69. Ob hierin ein Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung liegt, wie Heintzen meint, wird noch zu untersuchen sein. Jedenfalls steuert das Gericht für den Bereich der Verhältniswahl in seinen einvernehmlichen Entscheidungen einen vermittelnden Kurs zwischen den beiden "reinen" Theorien. Beide heute vertretenen Ansätze, so gegensätzlich sie sind, haben eine gemeinsame Konsequenz, nämlich die teilweise oder vollständige Verschüttung des vom BVerfG in den 50er Jahren konstatierten "Abgrundes der 567 Etwa Hoppe, DVBl. 1995, S. 265, 269 ff.; Meyer, KrV 1994, S. 312, 341: " ... geht es dabei nicht um die normale Gleichheit, bei der vernünftige Gründe Abweichungen legitimieren können, sondern um die ,strikte' Gleichheit. Es geht immerhin um einen fundamentalen Glaubenssatz der Demokratie ... ". Vgl. Mahrenholz bei der Anhörung der Reformkommission (oben Fn. 490), S. 69. 568 Etwa BK-Badura, Anh. zu Art. 38, Rn. 19 f. Eine Ausnahme ist Heintzen, DVBl. 1997, S. 744, 747, und Gutachten, S. 64 ff., der trotz seines Ansatzes über den systemspezifischen Gleichheitsbegriff für den Verhältniswahl-Abschnitt einen strengen Maßstab vertritt. 569 So in der - von Heintzen für strenger gehaltenen - Entscheidung Überhangmandate III (Minderheitsvotum): BVerfGE 95, S. 335, 376.
C. Entwicklung unter dem Grundgesetz
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Argumentation" zwischen Mehrheits- und Verhältniswahl. Sowohl Lenz als auch Meyer ordnen die Wahl systeme in ein Kontinuum mit fließenden Übergängen ein, lediglich die Bewertung ist gegensätzlich: Der eine hält das ganze Kontinuum für zulässig, der andere nur den einen Endpunkt. Die weniger radikalen Befürworter der Erfolgschancengleichheit bauen durch die Anerkennung von ausdifferenzierten Mischsystemen breite Brücken über den Abgrund. c) Folgerungen Der gesicherte Bestand der Wahl gleichheit ist kleiner denn je. Einigkeit herrscht nur darüber, daß Art. 38 GG einen speziellen Gleichheitssatz enthält, der zwar die logische Struktur des allgemeinen Gleichheitssatzes aufweist, inhaltlich aber einen strengeren Maßstab vorgibt. Streitig ist dagegen der im Einzelnen geltende Gleichheitsmaßstab sowie dessen methodische Herleitung, die Einordnung des BWahlG und schließlich der Begriff des "zwingenden Grundes" im Rahmen der Verhältniswahl. Beide sich gegenüberstehenden Ansätze in Literatur und Rechtsprechung weisen jeweils erhebliche Schwächen in der Begründung auf, so daß es ihnen an Überzeugungskraft fehlt 57o : Beim "liberalen" Ansatz ist das nach wie vor die Unschärfe des Begriffs der "Erfolgschancengleichheit". Einheitliche Kriterien für die Abgrenzung von systemkonstituierenden und -ausgestaltenden Regelungen existieren auch heute nicht, so daß niemals mit Sicherheit gesagt werden kann, ob denn nun für eine konkrete Vorschrift der weite oder der strenge Gleichheitsmaßstab gelten soll. Die demokratische Theorie krankt weiterhin am Mangel einer soliden dogmatischen Fundierung. Ihre Herleitung aus dem Demokratieprinzip ist anfechtbar, wie schon 570 Alle im Laufe der Zeit vertretenen Ansätze lassen sich nicht nur jeweils einer bestimmten politischen Richtung zuordnen, sondern sind auch geradezu idealtypische Beispiele für die von Böckenförde, NJW 1996, S. 289 ff. dargestellten verschiedenen Methoden der Verfassungsinterpretation und ihre jeweiligen Schwächen: Der Systemimmanente Gleichheitsmaßstab von Frowein, Herzog u. a. ist Ergebnis der "traditionellen Auslegung" von Art. 38 GG, er krankt, wie von Böckenförde abstrakt beschrieben, an mangelnder Berücksichtigung von politischen Wertungen und staatstheoretischen Prämissen. Ergebnis "topischer" Auslegung ist die Lehre H. Meyers, die wegen des im Wahlrecht fehlenden, von ihm aber implizit vorausgesetzten "gemeinsamen Vorverständnisses" des zentralen Begriffs scheitert. Leibholz' Parteienstaatslehre ebenso wie die Lehre von Hermens beruhen auf der "wirklichkeitswissenschaftlichen " Methode, sie können nicht überzeugen, weil gegensätzliche soziologische bzw. politologische Thesen aufeinanderprallen. "Konkretisierend" schließlich geht das frühe BVerfG vor, welches zwar für den Einzelfall überzeugende Ergebnisse liefern kann, dessen Begründung aber dogmatisch und wertungsmäßig gleichsam in der Luft hängt.
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1. Teil: Historische Untersuchung
gezeigt wurde 571 , und ein neuer Begründungsansatz ist seit den 70er Jahren nicht mehr versucht worden. Obwohl die beiden Richtergruppen im 2. Senat des BVerfG sich in dem Theorienstreit jeweils auf unterschiedliche Seiten stellen und nicht zu einer einheitlichen Sichtweise finden, erkennen sie immerhin mit richterlichem Judiz, daß keiner der beiden Ansätze letztlich befriedigen und befrieden kann. Die zwei gegensätzlichen Begründungen der Überhangmandate IIIEntscheidung enthalten jeweils eine pragmatische Einschränkung der "reinen" Lehre: die tragenden Richter begrenzen, gemessen an ihrem theoretischen Ansatz in fragwürdiger Weise, die Zahl der zulässigen Überhangmandate auf 5 % der regulären Sitze des Bundestages; die unterlegenen Richter wollen, entgegen ihrer grundsätzlichen Ablehnung von Überhangmandaten, solche dann anerkennen, wenn das Stimmen/Mandateverhältnis nicht über das bei jedem Umrechnungsverfahren unvermeidliche Maß hinaus verfälscht wird. Das richterliche Unbehagen, das mit den von der Lehre bereitgestellten Argumentationsmustem nicht hinreichend erfaßt werden kann, ist ein deutliches Indiz dafür, daß der "richtige" Ansatz irgendwo zwischen den radikalen Positionen liegen muß. Ein solcher vermittelnder Ansatz existiert indes heute, nach der allgemeinen Aufgabe der traditionellen Rechtsprechung des BVerfG, nicht mehr. Es wurde versäumt, deren Grundlagen rechtzeitig herauszuarbeiten und darzustellen, was damit zusammenhängt, daß nie eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Wahlrecht aus staatsrechtlicher Sicht stattgefunden hat, mit Ausnahme der Schrift von Hans Meyer von 1974. Dieser bemüht sich aber gerade um eine Neuausrichtung der Dogmatik im "demokratischen" Sinn, unter scharfer Ablehnung der bisherigen Linie der Rechtsprechung. Deren ursprünglicher Hintergrund, ebenso wie derjenige der Entstehung des Art. 38 GG im parlamentarischen Rat ist so - jedenfalls in der juristischen Diskussion - in Vergessenheit geraten. Die Situation am Ende der 90er Jahre weist verblüffende Parallelen zu derjenigen in der Weimarer Zeit auf: es stehen sich zwei von unterschiedlichen Ideologien getragene Ansichten über den Inhalt der Wahlgleichheit gegenüber, die jeweils versuchen, das geltende Recht für sich in Anspruch zu nehmen. Die Überbrückung des ideologischen Grabens muß da ansetzen, wo auch der RStGH angesetzt hat: bei der Benennung der politischen Grundsatzfrage und ihrer eindeutigen Beantwortung entsprechend der maßgeblichen Entscheidung des zuständigen Verfassungs- beziehungsweise Gesetzgebers. Diese umfaßt vor allem die Entscheidung zwischen dem "demokratischen" und dem "liberalen" Wahlverständnis. Erst dann kann mit
571
s.o. 11. 6. b), S. 132.
D. Schlußbetrachtung
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juristischen Mitteln der Gleichheitsmaßstab aus der "Natur des Sachbereichs Wahlen" entwickelt werden. Der Bereich der politischen Grundentscheidung muß vom Bereich der juristischen Auslegung unterschieden werden, politische Ziele müssen mit politischen Mitteln, gegebenenfalls mit einer grundlegenden Wahlreform, verfolgt werde, nicht mit den Mitteln ergebnisorientierter Auslegung des geltenden Rechts.
D. Schlußbetrachtung Die Analyse der Dogmengeschichte der Wahlgleichheit hat gezeigt, daß diese nur im Zusammenhang mit der Theorie der Demokratie insgesamt zu verstehen ist. Zwei im Ansatz verschiedene Sichtweisen von "Volksherrschaft" prägen auch die Vorstellung davon, wann die Wahl "gleich" ist. Begründung, Bezeichnung und Bewertung der bei den Sichtweisen wechseln im Lauf der Zeiten und werden den Veränderungen der politischen Wirklichkeit und der theoretischen Begriffe angepaßt. Meilensteine sind vor allem die Erfindung der Idee der "Repräsentation" durch den Abbe Sieyes und, speziell in Deutschland, die Entstehung der modemen politischen Volksparteien, deren erste die SPD der wilhelminischen Epoche gewesen ist. Repräsentation und Parteien sind aber nur Bausteine der politischen Ordnung, die nahezu beliebig kombinierbar sind und von beiden GrundRichtungen gleichermaßen verwendet werden. So kann allein aus der Existenz von politischen Parteien noch nicht geschlossen werden, daß es sich um eine "demokratische" Struktur handelt, aus der eines repräsentativen Parlaments und dem Fehlen von Elementen der unmittelbaren Demokratie nicht auf eine "liberale". Das zeigt der Vergleich mit ausländischen Systemen: In Frankreich herrscht das "demokratische" Verständnis der Volkssouveränität, dennoch werden in erster Linie Personen gewählt, Struktur und Rolle der Parteien sind mit derjenigen in Deutschland nicht vergleichbar. Umgekehrt in Großbritannien: dort gibt es zwar straff organisierte und dauerhafte Parteien, die das politische Leben vollständig beherrschen, es herrscht aber traditionell das "liberale" Staatsverständnis. Welchen Charakter ein politisches System letztlich trägt, kann nicht abstrakt aus seinen Gestaltungselementen abgeleitet werden, die in unterschiedlichen tatsächlichen Verhältnissen ganz verschieden zu bewerten sein können. Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Anschauungen liegt danach nicht in den einzelnen Gestaltungselementen. Er liegt vielmehr in dem Verständnis dessen, was "repräsentiert" werden soll: des "Volkswillens,,572. Die Wurzeln der hier so genannten "liberalen" Anschauung liegen in einem gewissen Mißtrauen gegenüber dem tatsächlichen, dem real vorhande-
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1. Teil: Historische Untersuchung
nen "Volk" als Ansammlung von Individuen zugrunde, das als irrationale, gefährliche "Masse" empfunden wird. Zweck der Repräsentation und des sie begründenden Vorganges, der Wahl, ist die "Gestaltung des Wählerwillenss73 " zu etwas Anderem und Besserem, die Kanalisierung, die inhaltliche Transformation der tatsächlichen, inhomogenen Einzelwillen zu einem geläuterten und letztlich vernünftigen "Volkswillen"s74. Die Wahl ist das verfahrens mäßige Korsett, mit dessen Hilfe einerseits der gefährliche reale Volks wille gebändigt, vereinheitlicht und die Regierung in die Hände von wenigen Berufenen gelegt wird, den ordnungsgemäß bestellten Staatsorganen, diese aber andererseits auch kontrolliert und am Machtmißbrauch gehindert werden. In diesem Sinne ist die Wahl in erster Linie Funktion des Staates als des der Menge der Individuen gegenüberstehenden und sie lenkenden Über-Ichs des Volkes. Das grundSätzliche Mißtrauen der Liberalen gegenüber der realen Masse des Volkes äußert sich besonders deutlich, wenn die Anhänger der Mehrheitswahl es für nötig halten, vermittels der Wahl Volk zu "integrieren", zu "sammeln" und "zur politischen Vernunft zu erziehen". Man dürfe den Wähler nicht "überfordern" und müsse ihm deshalb eine "einfache Fragestellung" vorlegen575 . 572 Knapp charakterisiert von Dreier, AöR 113 (1998), S. 450, 450-453; Starck, FAZ v. 31. 2.1997, S. 11. Genauer und differenzierend Böckenförde, FS Eichenberger, S. 301 ff., vgl. auch HbStR I, § 22, Rn. 3; Demmler, S. 72 ff. Insofern haben die das Wahlverfahren regelnden Nonnen konstitutive Bedeutung für den Inhalt des "Volkswillens". Die in der Weimarer Zeit vertretenen metaphysischen Theorien (oben B. H. 1. b», nach denen der "Volkswille" als Ausprägung des "Volksgeistes" ganz unabhängig von Verfassungsnonnen existiert sind seit 1945 überholt und werden nicht mehr vertreten. Gerade die Anhänger der Mehrheitswahl betonen den "säkularen" Charakter der Wahl als reine Machtfrage. 573 Exemplarisch: Unkelbach, Grundlagen, These 4. 574 "Die Wahl ist ein Vorgang, der Sein und Wollen des Bürgers über die Beschaffenheit, in der man sie vorfindet, hinausbringen soll .... Diese repräsentierende Funktion der Wahl kommt etwa darin zu Ausdruck, daß sie ein einigeres Parlament hervorbringen soll, als das Volk selbst in sich einig ist" (Krüger, Staatslehre, S. 251). Am schönsten drückt dieses Verständnis der volonte generale kein Geringerer als Goethe aus (Maximen und Reflexionen Nr. 154, zitiert nach Starck, JZ 1989, S. 601, 602): "Wir brauchen in unserer Sprache ein Wort, das, wie Kindheit sich zu Kind verhält, so das Verhältnis Volkheit zum Volk ausdrückt. Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind; der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk. Jene spricht immer dasselbe aus, ist vernünftig, beständig, rein und wahr; diese weiß niemals für lauter Wollen, was es will. Und in diesem Sinne soll und kann das Gesetz der allgemein ausgesprochene Wille der Volkheit sein, ein Wille, den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige wahrnimmt, und den der Vernünftige zu befriedigen weiß und der Gute gern befriedigt". 575 Abg. Kroll (CDU) im Parlamentarischen Rat, W A, 2. Szg., bei: Rosenbach Nr. 2, S. 30: "Man stellt immer Fiktionen vom ,politischen Staatsbürger' auf und meint, daß der Massenwähler in der Lage sei, die Dinge, über die er in der Wahl entscheiden soll, auch wirklich zu beurteilen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß das nicht der Fall ist, sondern wir haben die Grundstruktur des über-
D. Schlußbetrachtung
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Die "demokratische" Anschauung identifiziert dagegen, ausgehend vom Ideal der Volksversammlung, den Staat mit der Gesamtheit seiner Bürger; seine Organe sind bloße Handlanger des selbst souveränen Volkes. Der "Volkswille" ist die Resultante aus den realen Einzelwillen der Wähler, nichts von ihnen absolutes Höheres, sondern ein Komprorniß 576 . Die Wahl muß diesen möglichst zuverlässig und unverändert sichtbar machen, was wiederum in den heutigen Flächenstaaten am getreusten und wirkungsvollsten durch das Mittel der parlamentarischen Repräsentation möglich wird, deren Rolle mithin eine ganz andere ist. Die Pluralität der Meinungen soll im Parlament erhalten bleiben, die Koalition ist nicht Krankheit der Demokratie, sondern Ausdruck politischer Kultur577 . Das Mißtrauen der Demokraten richtet sich nicht gegen die "Masse", sondern gegen die "Obrigkeit", den vom Volk verschiedenen, diesem gegenüberstehenden organisierten Staat, als potentielle Quelle von Unfreiheit und Willkür. Diesen gilt es soweit wie möglich einzuschränken, die Macht muß in den Händen des wirklichen Volkes verbleiben, dessen Sachwalter entweder, je nach dem politischen System, die Parteien oder die gewählten Abgeordneten oder ein direkt gewähltes Einzelorgan sein können. Beide Vorstellungen waren und sind in Deutschland lebendig und präsent, sowohl in der Lehre als auch in der Staatspraxis. Das politische Leben ist von gegensätzlichen Elementen geprägt, weder die normativen noch die tatsächlichen Verhältnisse sind eindeutig: Einerseits blüht das Parteiwesen auf allen Ebenen, "unabhängige" Politik gibt es nicht. Das politische Leben wird ganz überwiegend nicht von Kampfabstimmungen und Entscheidungen zwischen gegensätzlichen Positionen geprägt, sondern von Kompromissen und letztlich vom Konsens aller oder der meisten Parteien. Es herrscht allenthalben großes Mißtrauen gegenüber jeder Form von autoritären obrigkeitlichen Entscheidungen, gegen "Führung" schlechthin, sowie Empfindlichkeit gegen die Benachteiligung von Minderheiten. All das sind Ausprägungen eines "demokratischen" Verständnisses. Andererseits sind die Wahlen häufig mehr Persönlichkeits- als Partei wahlen, die Person des Spitzenkandidaten gibt den Ausschlag. Auch haben sich trotz Parteienpluralismus zwei politische Blöcke gebildet, die sich bei der Ausübung der Macht abwechseln.
fragten Wählers vor uns. Daraus resultiert die Demagogie in der Propaganda. Das sind sehr gefährliche Erscheinungen, mit denen man sich auseinandersetzen muß." 576 "... nicht etwa, wie man dem Parlamentarismus, seine Realität mit seiner Ideologie verwechselnd, fälschlich unterstellte: eine ,höhere', absolute Wahrheit, ein über den Gruppeninteressen stehender absoluter Wert; sondern ein Kompromiß" (Kelsen. Wesen und Wert, S. 58). 577 Meyer, Wahlsystem, S. 209 f.
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1. Teil: Historische Untersuchung
Das Grundgesetz bezieht nicht eindeutig Stellung. Es verzichtet einerseits auf jede Form von unmittelbarer Demokratie und stärkt die Regierung, geht aber andererseits auch von einem Vielparteienparlament ohne feste Mehrheit aus und kennt keine Staatsgewalt, die nicht vom Parlament legitimiert ist. Darum kann keine von beiden Grundhaltungen als "falsch" bezeichnet werden, keine von ihnen ist undemokratisch, in sich unschlüssig, wird von der Verfassung abgelehnt oder widerspricht den tatsächlichen Verhältnissen - auch wenn möglicherweise heute eher eine Tendenz hin zur "demokratischen" Variante festzustellen ist578 . Der Verfassungsjurist muß beide als gegeben hinnehmen. Welcher von beiden der Vorzug zu gegeben ist, kann allein politisch entschieden werden. Gemeinsam ist beiden Varianten von Volkssouveränität und Demokratie die Forderung nach egalitärer, formaler staatsbürgerlicher Gleichheit. Nach heutiger Anschauung kann es ohne Gleichheit keine wirkliche Demokratie geben579 . Hierin liegt der entscheidende Unterschied zu allen Formen des Stände- oder Klassenstaates, der nach langem Ringen noch im 19. Jahrhundert überwunden wurde. Darum ist die Wahlgleichheit als solche, der zentrale Punkt der staatsbürgerlichen Gleichheit, ausdrücklich in der Verfassung fixiert. Offen läßt die Verfassung, nach welchem der beiden Prinzipien und mit welchen Gestaltungselementen sie umgesetzt werden soll - jedenfalls im Bereich des Wahlrechts. Dennoch ist diese ein wichtiges, vielleicht das ausschlaggebende Element: Hier entscheidet sich, welches der bei den Demokratiemodelle die Oberhand gewinnt58o . Darum ist das Wahlrecht zum bevorzugten Zankapfel der politischen Lager geworden. Der Inhalt der Gleichheitsforderung ist verschieden, je nachdem in welchem politischen System man sich bewegt. Der Bezugspunkt der Wahlgleichheit ist eine anderer, je nachdem wie man die Funktionsweise der Wahl begreift: Ist für die Bildung des Volkswillens die Entscheidung des Wählers für oder gegen einen Kandidaten, für oder gegen eine Regierung 578
S. 11.
Ähnlich sieht das wohl Bausback, S. 171; auch Starck, FAZ v. 13. 2. 1997,
Statt aller: Böckenjörde, HbStR I, § 22, Rn. 41 f. Insofern trifft die Feststellung G. Jellineks, obwohl seinerzeit nicht speziell auf das Walrecht gemünzt, noch immer zu (Das Verhältnis der Abgeordneten zur Wählerschaft, 1881, Gesammelte Schriften, S. 371, 372 f.): "Das Verhältnis des Abgeordneten zur Wählerschaft spiegelt das Wesen des ganzen Staates wider. Wenn von dem Leben eines Staates nichts weiter bekannt wäre, als wie er seine Volksvertretung organisiert, und wie diese Organisation von den Wählern und Abgeordneten aufgefaßt wird, so könnte man hieraus allein mit völliger Sicherheit den gesellschaftlichen, rechtlichen und politischen Zustand dieses Staates bestimmen". 579
580
D. Schlußbetrachtung
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wesentlich, oder ist es die Abbildung seiner individuellen politischen Anschauung im Parlament? Wenn die Funktion des Wählers im Staat eine verschiedene ist, so ist es auch der Inhalt der Gleichheitsforderung. Wenn man, und das ist angesichts der dargestellten Entwicklung in Deutschland unvermeidlich, zwei unterschiedliche Deutungen von "Demokratie" als grundsätzlich zulässig anerkennt, dann muß man hinnehmen, daß es keinen einheitlichen, für beide gleichermaßen gültigen Gleichheitsmaßstab geben kann.
2. Teil
Systematische Untersuchung A. Inhalt der Wahlgleichheit Schon Platon erörtert im "Staat" die Frage der Gleichbehandlung der Geschlechter und dringt dabei zum Kern jeder rechtlichen Gleichheitsproblematik vor. Er weist auf die Folgen einer vorschnellen Argumentation hin: ,,(Sie) glauben, ein echtes Streitgespräch zu führen, während sie nur leeres Stroh dreschen, denn sie können den Gegenstand des Streites nicht in seine Artbegriffe zerlegen und danach betrachten, sondern suchen die Widerlegung der Behauptung nur im Wortlaut und führen so gegeneinander ein Wortgefecht, keine ernste Erörterung"l. Auch eine systematische Untersuchung der Wahlgleichheit muß, wenn nicht leeres Stroh gedroschen werden soll, von der logischen Grundstruktur aller Gleichheitssätze ausgehen. Die Wahlgleichheit ist seit Helle? nicht mehr im Lichte der allgemeinen Gleichheitsproblematik gesehen worden und dementsprechend "in ihre Artbegriffe zerlegt" worden. Sie wurde stets unabhängig von der allgemeinen Gleichheitsdogmatik erörtert - teils wegen der dieser selbst innewohnenden Unschärfe, teils wegen des streitigen normtechnischen Verhältnisses von Art. 38 zu Art. 3 GG. Ganz unabhängig von diesem Verhältnis gelten aber die logischen Strukturen der Gleichheit auch für die Gleichheit der Wahl, obwohl jene in der Bundesrepublik vor allem am Beispiel des Art. 3 Abs. 1 GG erörtert werden. In diesem Rahmen kann dann den speziellen, sich vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung abzeichnenden Inhalten der Wahlgleichheit nachgegangen werden. An dem daraus entwickelten allgemeinen Schema sind schließlich die noch offenen Probleme zu prüfen.
1 Platon, Staat, 454a, bei der Erörterung der Gleichbehandlung von Männem und Frauen im Idealstaat. 2 Heller, Gleichheit, S. 328: "Im übrigen aber muß der Sinn der Wahlrechtsgleichheit mit dem Gehalt des allgemeinen Gleichheitsgebotes übereinstimmen. Die Entscheidung der ganzen Streitfrage hängt einzig und allein davon ab, welchen Sinn man dem Begriff der Gleichheit im allgemeinen, der Wahlrechtsgleichheit und der Gleichheit im Rahmen des Verhältniswahlrechts im besonderen beilegt".
A. Inhalt der Wahlgleichheit
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I. Allgemeine Struktur der Gleichheitssätze Die Dogmatik der Gleichheitssätze - insbesondere der hier allein interessierenden Gleichheit des Gesetzes - ist im Vergleich zu derjenigen der Freiheitsrechte durch eine gewisse Unschärfe und Konfusion geprägt. In den letzten 20 Jahren, etwa seit 1980, hat eine verstärkte Auseinandersetzung zur Neukonturierung und inhaltlichen Ausfüllung insbesondere von Art. 3 Abs. 1 GG als der zentralen Gleichheitsnorm geführt. Im überbordenden Schrifttum3 und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herrscht dabei eine nur schwer überschaubare Vielfalt der Terminologie. Im Grundsatz herrscht aber mittlerweile eine weitgehende Übereinstimmung; die zu konstatierenden Unschärfen sind zum größten Teil rein begrifflich oder betreffen Einzelfragen4 . Sie führen allerdings häufig, und das gilt besonders für das ohnehin streitbefangene und unklare Gebiet der W ahlgleich~ heit, zur Verwirrung der Diskussion.
1. Logische und begriffliche Grundlagen Die Grundkonstellation der Gleichheit des Gesetzes: Zwei Personen werden durch eine abstrakte gesetzliche Regelung unterschiedlich behandelt, die an ein sie unterscheidendes Merkmal anknüpft. Obwohl sich zwei Menschen immer in zahlreichen Gesichtspunkten unterscheiden, gleichzeitig aber in ebenso vielen übereinstimmen, entscheidet sich das Gesetz für einen bestimmten Gesichtspunkt und erklärt ihn für "wesentlich", das heißt die Ungleichbehandlung tragend5 . Der Gesichtspunkt, unter dem Gleichheit beziehungsweise Ungleichheit besteht, heißt tertium comparationis, Differenzierungs- oder Anknüpfungskriterium. Der Grund, aus dem heraus das Kriterium wesentlich sein soll, ist der Differenzierungsmaßstab; bei Gesetzen ist das immer das Ziel oder der Zweck der Regelung. 6 3 Grundlagen der Darstellung: Manfred Gubelt, in: v. Münch, Art. 3, Rn. 11-16 (Darstellung der Literatur mit umfangreichen Nachweisen) und Rn. 16a-35 (eigenes Schema); Christian Starck, in: v. MangoldtiKlein, Art. 3, Rn.lO ff.; Lerke Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 1-37 (die aktuellste und klarste Darstellung des Forschungsstandes); Paul Kirchhof, in: HbStR V, §§ 124, 125; Gerhard Leibholz, DVBl. 1951, S. 193 ff.; Friedrich Schoch, DVBl. 1988, S. 864, 873 ff.; Michael Sachs, JuS 1997, S. 124 ff.; Christoph Link (Hg.), Der Gleichheitssatz im modemen Verfassungsstaat, Symposion zum 80. Geburtstag von Leibholz, mit Referaten von Starck und Kommers sowie Diskussion; siehe auch VVDStRL 47 (1988) mit Referaten von Zippelius und G. Müller; jüngst auch Christoph Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 ff. 4 So auch Sachs-Osterloh, Art. 3, Rn. 7, Fn. 11. 5 Radbruch: "Gleichheit ist immer nur die Abstraktion von gegebener Ungleichheit", zitiert nach Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3., Rn. 1.
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2. Teil: Systematische Untersuchung
Die Forderung nach rechtlicher Gleichbehandlung kann angesichts dieser Konstellation nicht auf identische Behandlung aller zielen (schematische oder "mathematische" Gleichheit), sondern auf Behandlung eines Jeden gemäß seinen Eigenheiten, auf das platonische und aristotelische "suum cuique" also (verhältnismäßige, "rechtliche" Gleichheit) 7. Der Gesetzgeber ist bei der Entscheidung für ein bestimmtes Differenzierungskriterium nicht frei, sondern unterliegt inhaltlichen Bindungen, die sich aus den der jeweiligen Rechtsgemeinschaft zugrundeliegenden Wertvorstellungen von dem ergeben, was "wesentlich" ist8 . Kern der Gleichheitsprüfung ist eine Wertentscheidung über Bedeutung und Gewicht von Unterschieden und Gemeinsamkeiten einerseits und von den verfolgten Zielen andererseits: Was ist das jedem zustehende "Seine" im Sinne der platonischen Forderung? - Die Antwort ergibt sich aus der "Natur", dem "Wesen" des jeweiligen Sachverhaltes, so, wie er von der Rechtsgemeinschaft bewertet wird. Die inneren Konturen des Gleichheitssatzes müssen aus den "immanenten Prinzipien der Rechtsordnung selbst9 " hergeleitet werden; insofern ist der Gleichheitssatz "relativ" und "wertungsoffen"lO. "Gleichheit" verlangt also, daß einer gesetzlichen Differenzierung ein rationaler, "sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund" für die Anknüpfung an das gewählte Kriterium zugrundeliegt, der die Differenzierung zu tragen vermag l l : diese muß geeignet sein, einem bestimmten, vom Gesetzgeber verfolgten Ziel zu dienen, wobei sowohl das Ziel als auch das Mittel mit den Wertvorstellungen der jeweiligen Rechtsgemeinschaft vereinbar sein müssen. Das so verstandene, als "Willkürverbot" bezeichnete Gleichheitsprinzip ist Voraussetzung für 6 Zur Terminologie etwa Gubelt, in: v. Münch, Art. 3, Rn. 16a und 18 f.; Kirchhof; HbStR V, § 124, Rn. 1 ff. und 21 f.; Schoch, DVBI. 1988, S. 864, 873. 7 Platon, Gesetze, 757 d: "das Gerechte ... aber besteht in dem, was wir eben gesagt haben, nämlich darin, daß man den Ungleichen jeweils das für sie naturgemäß Gleiche zukommen läßt (tO ö[xmov ... ö' fan 'to V1JvöTj AEX8T) , 'to XaLa qnJmv Laov aVLaoLl; Exua'tO'tE öo8ev)" und 744 c: "Gleichheit mit Hilfe der Ungleichheit, aber Verhältnismäßigkeit"; differenzierter Aristoteles, Politik, l280a: "So scheint das Recht darin zu bestehen, daß Gleiches zuerteilt wird, und es besteht auch wirklich darin, aber nicht daß Allen, sondern nur den Gleichen, denn eben so gut gilt auch wieder die Zuteilung von Ungleichem für gerecht und ist es auch, aber wieder nur eben nicht an Alle, sondern an die Ungleichen ... ", und 1283a. Genauer: Leibholz, DVBI. 1951, S. 193, 195, Fn. 19 (m.w.N.); Heller, Gleichheit, S. 329; Gubelt, in: v. Münch, Art. 3, Rn. 17; Dürig, in: MID, Art. 3 I, Rn. 1 f.; Osterloh, in. Sachs, GG, Art. 3, Rn. 4 ff.; Schoch, DVBI. 1988, S. 864, 873 f. 8 Jülich, Chancengleichheit, S. 96 f. 9 Triepel, Goldbilanzverordnung und Vorzugsaktien, 1924, S. 30, dazu ausführlich Kirchhof, HbStR V, § 124, Rn. 86. IO Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 15. 11 Vgl. Leibholz, DVBI. 1951, S. 193, 195.
A. Inhalt der Wahlgleichheit
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Rechtsstaatlichkeit überhaupt und Grundgebot der Menschenwürde: Durch grundlose Diskriminierungen würde der Mensch zum bloßen Objekt der Staatsgewalt degradiert. 12 Die maßgeblichen Wertvorstellungen sind nach heutigem Verständnis weitgehend aus den Normen des Grundgesetzes abzuleiten\3. Wo das nicht möglich ist, weil eine ausdrückliche oder implizite Aussage fehlt, müssen sie aus dem Gedanken der Sachgerechtigkeit entwickelt werden. Es muß versucht werden, die "Natur" des zu regelnden Sachverhaltes in den Augen der Rechtsgemeinschaft zu erfassen, sein "Wesen", seinen "objektiven Sinn" oder die "den Dingen innewohnenden Ordnung", die Ausdruck der zugrundeliegenden Rechtsidee ist l4 .
2. Inhaltliche Konkretisierungen Der Spielraum des Gesetzgebers bei der Bestimmung der Unterschiede, die "wesentlich" sind und eine Ungleichbehandlung zu rechtfertigen vermögen, ist verschieden, je nachdem, wie stark die Wertvorstellungen durch die Rechtsordnung strukturiert sind: sind sie wenig ausdifferenziert, so ist es in weitem Umfang Aufgabe des demokratischen Gesetzgebers, die Rechtsordnung zu konkretisieren und die erforderlichen Wertungen vorzunehmen. Je dichtere Wertungen die Rechtsordnung dagegen selbst ausdrücklich oder implizit enthält, desto weniger Raum bleibt dem Gesetzgeber. Aussagen über die Zulässigkeit von Regelungszielen und die Wertigkeit von Rechtsgütem enthält das Grundgesetz etwa in den Staatszielbestimmungen, den Grundrechten, aber wohl auch in der bundesstaatlichen Kompetenzordnung. Je enger der Bezug einer Differenzierung zum Schutzbereich eines Grundrechts ist und je intensiver die Auswirkungen auf diesen sind, desto höher ist etwa das Interesse an Gleichbehandlung in diesem Punkt zu veranschlagen 15 . Je höherrangig dagegen das Regelungsziel ist, desto eher 12 Leibholz, DVBI. 1951, S. 193, 195; Kirchhof, HbStR V, § 124, Rn. 86 ff.; Dürig, in: MID, Art. 3 I, Rn. 3 erkennt als einzig zulässiges Differenzierungskriterium die Menschenwürde an: da aber die Grundrechte jeweils einen Aspekt der Menschenwürde konkretisieren und das GG insgesamt auf sie bezogen ist, besagt das nichts anderes. 13 Schon Leibholz, DVBI. 1951, S. 193, 197 f. am Beispiel von Art. 2 I GG; Gubelt, in: v. Münch, Art. 3, Rn. 21 f., 28; Kirchhof; HbStR V, § 124, Rn. 32 f. und 94 ff. sowie, Rn. 226; Schoch, DVBI. 1988, S. 864, 872; Starck, in: v. Mangoldt/ Klein, Art. 3 Rn. 15 ff. 14 Dazu grundlegend: Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: FS für R. Laun (1948), S. 157, insbes. 159 und 161 f.; vgl. auch Rainer Schmidt, JZ 1967, S. 402, 404. 15 Etwa Kirchhof, HbStR V, § 124, Rn. 161. Hieraus gewinnt auch die Unterscheidung des 1. Senats des BVerfG CE 55, S. 72, 88, dazu Sachs, JuS 1997,
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2. Teil: Systematische Untersuchung
darf in seinem Interesse differenziert werden. Ausnahmsweise enthält das GG auch ausdrückliche Aussagen zur Gleichheit, vor allem in den speziellen Gleichheitssätzen wie Art. 3 Abs. 3 GG, nach denen bestimmte Differenzierungskriterien unter keinem denkbaren zulässigen Maßstab wesentlich sein können 16 . Im Zusammenspiel dieser Kategorien lassen sich in Deutschland vier Intensitätsgrade 17 der Bindung des Gesetzgebers durch die Werteordnung der Verfassung unterscheiden, die allerdings nicht als starre "Stufen", sondern als Fixpunkte auf einer gleitenden Skala zu verstehen sind, deren Handhabung im Einzelnen 18 nach wie vor nicht restlos geklärt ist. Die erste Ebene bildet das Willkürverbot in seiner ursprünglichen Form: Es muß überhaupt einen sachlichen, rational nachvollziehbaren Grund für die vorgenommene Differenzierung geben. Überprüft wird hier nur die Eignung der gesetzlichen Unterscheidung zur Verfolgung des angestrebten Zieles. Es handelt sich um eine Evidenzprüfung. Das Willkürverbot kommt unter dem Grundgesetz zur Anwendung, wenn es um geringfügige Differenzierungen ohne große Relevanz für die Grundrechtsausübung geht 19 . Auf der zweiten Ebene wird vom Gesetzgeber eine Abwägung zwischen dem verfolgten Ziel und dem Interesse an Gleichbehandlung verlangt, was nur möglich ist, wenn die Verfassung zur Wertigkeit der betroffenen Rechtsgüter hinreichend konkrete Aussagen trifft. Das ist vor allem in grundrechtsnahen Bereichen der Fall. Eine solche Angemessenheitsprüjunlo meint das BVerfG mit der sogenannten "Neuen Formel", wenn es verlangt, daß "Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen (müssen), daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen können,,21.
S. 125 ff. m. w. N. und bereits ähnlich Nawiasky, VVDStRL 3, S. 29) zwischen Ungleichbehandlungen von Personen und Sachverhalten ihren Sinn: letztere betreffen die regelmäßig Personen zugeordneten Rechtsgüter nur mittelbar und damit normalerweise weniger intensiv. Ausdrücklich BVerfGE 91, S. 346, 363 und Sachs, a.a.O., S. 128 Fn. 63, 64. 16 Gubelt, in: v. Münch, Art. 3, Rn. 20; Starck, in: v. Mangoldt/Klein, Art. 3, Rn. 16 f. 17 Der Supreme Court der USA hat für die equal protection clause des 14. amendements ähnliche Strukturen erntwickelt. Er kennt allerdings nur zwei Stufen, einerseits die "rational-basis-Formel", andererseits den "strict-scrutinity-Maßstab". Diese entsprechen in etwa der hier dargestellten 1. und 3. Stufe. Dazwischen gibt es in jüngerer Zeit Ansätze, zusätzlich einen "substantial-rationality-standard" zu entwikkeIn, welcher der 2., vom BVerfG angewandten Stufe entspricht. Vgl. dazu Kommers, in: Link, Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, S. 31 ff. 18 Dazu ausführlich Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 25 ff. 19 Dazu Kirchhof, HbStR V, § 124, Rn. 93 ff. 20 Dazu Kirchhof, HbStR V, § 124, Rn. 161 ff.
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Auf den ersten beiden Ebenen bewegt man sich im Anwendungsbereich des allgemeinen Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG. Die nächsten Stufen werden erst beim Bestehen spezieller Gleichheitsaussagen des Grundgesetzes betreten: Die dritte Ebene ist erreicht, wenn der Rang des durch die Ungleichbehandlung betroffenen Rechtsgutes außergewöhnlich hoch ist: Der Gesetzgeber hat dann nicht mehr die Möglichkeit, zwischen mehreren angemessenen Anknüpfungsalternativen auszuwählen, sondern muß die am wenigsten das Rechtsgut "Gleichheit" beeinträchtigende auswählen (Relatives Difjerenzierungsverbot). Man könnte, in der Sprache des Planungsrechts, von einem "Optimierungsgebot" zugunsten der Gleichheit sprechen, oder, in der Terminologie der Grundrechtsprüfung, vom Kriterium der Erforderlichkeit. Die Anknüpfung an ein an sich zulässiges Kriterium aus einem zulässigen Grund in angemessener Weise ist auf dieser Stufe dennoch unzulässig, wenn eine gleich wirksame, aber weniger differenzierende Regelung möglich wäre. Eine so weitgehende Einschränkung des Gesetzgebers kann nur selten angenommen werden, etwa dann, wenn sich die Differenzierung in der Nähe eines der ausdrücklichen Anknüpfungsverbote in Art. 3 Abs. 3 GG22 abspielt oder im besonders sensiblen Kernbereich der Ausübung der Freiheitsrechte. Inhalt und Anwendbarkeit der "Erforderlichkeit" im Rahmen der Gleichheitsprüfung sind recht strittig und ungeklärt. Das liegt daran, daß bei einem Vergleich, anders als bei einem Grundrechtseingriff, zwei betroffene Rechtsgüter in den Blick genommen werden, Vorteile für das eine durch Nachteile für das andere erkauft werden müssen. Es kann deshalb nur schwer gesagt werden, welche Regelung die "mildere" ist. Das BVerfG jedenfalls nimmt im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG keine Erforderlichkeitsprüfung vor: "Es kommt aber nicht darauf an, ob der Gesetzgeber die jeweils gerechteste und zweckmäßigste Regelung getroffen hat,,23. Ganz ausnahmsweise nur kommt die vierte Ebene ins Spiel: dem Gesetzgeber bleibt überhaupt kein Spielraum für Differenzierungen, es besteht ein absolutes Difjerenzierungsverbot. In diesen Fällen ist nach der vom GG 21 BVerfGE 55, S. 72, 88; dazu Gubelt, in: v. Münch, Art. 3, Rn. 14 und 29; schon Leibholz, DVBl. 1951, S. 193, 195 spricht von Willkür, wenn der Grund des Gesetzgebers in einem "offenbar völlig unzulänglichen Verhältnis" zur gesetzlichen Regelung steht. 22 Der Gehalt des Art. 3 Abs. 3 ist insoweit umstritten, er wird teils als absolutes, teils als relatives Anknüpfungs- bzw. Differenzierungsverbot verstanden (Dazu ausführlich m.N. Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 239 ff.). 23 Etwa BVerfGE 64 S. 158, 168 f., st. Rspr. Zur Problematik Sachs, JuS 1997, S. 124, 129; Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3 Rn. 95; Starck, in: Link, Der Gleichheitssatz im modemen Verfassungsstaat, S. 51, 62, vgl. auch S. 66; vgl. Lerche, in: HbStR V, § 122 Rn. 17; jüngst eingehend Brüning, Gleichheitsrechtliche Verhältnismäßigkeit, JZ 2001, S. 669 ff.
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2. Teil: Systematische Untersuchung
selbst vorgenommenen Wertung eine Ungleichbehandlung in jedem Falle ungeeignet oder unangemessen. Absolute Differenzierungsverbote enthalten einerseits die speziellen Gleichheiheitssätze des Art. 3 III GG in Gestalt von Anknüpfungsverboten an bestimmte Kriterien 24 . Und umgekehrt sind im Falle der Unzulässigkeit eine bestimmten Regelungszieles alle in seinem Interesse vorgenommenen Differenzierungen verboten. Sind diese vier Stufen durch ein zunehmendes Gewicht des Interesses an Gleichbehandlung gekennzeichnet, so gibt es auch gegenläufige Wertungen in Gestalt von Differenzierungsgeboten. Solche sind anzunehmen, wenn die Förderung eines Rechtsgutes gerade auf Kosten der Gleichbehandlung gefordert ist, etwa durch das Sozialstaatsprinzip oder durch Grundrechte wie Art. 6 GG, der eine Förderung der Familien gebietet. Es lassen sich relative und absolute Differenzierungsgebote unterscheiden. Erstere lassen im Rahmen der Erforderlichkeit Raum zur Berücksichtigung der Gleichheit, letztere schreiben eine bestimmte Differenzierung zwingend vor. Differenzierungsgebote ergeben sich ebenfalls aus der Verfassung selbst oder der Natur des zu regelnden Sachverhaltes?S Der größte Teil der inhaltlichen Vorgaben der grundgesetzlichen Werteordnung ist nicht ausdrücklich geregelt und wurde erst im Laufe der Zeit in Rechtsprechung und Lehre entwickelt und konkretisiert. Diese Entwicklung ist das Gegenstück zu einer fortschreitenden Erosion der ungeschriebenen, in der Gesellschaft präsenten Wertvorstellungen. Gleichzeitig wurde in Deutschland die Zuständigkeit des Gesetzgebers immer mehr in Frage gestellt, die den Gleichheitssatz ausfüllenden Wertungen durch Benennung und Artikulation der in der Gesellschaft vage vorhandenen Vorstellungen zu definieren. An seine Stelle traten die das Grundgesetz interpretierenden Instanzen26 : Je mehr Wertungen in das Grundgesetz hineingelesen (und damit festgeschrieben) werden, desto weniger Raum bleibt für den demokratischen Gesetzgeber. Aus diesem Grunde genügte in den frühen Jahren der Bundesrepublik das Willkürverbot als Richtschnur für den Gesetzgeber, genauere Aussagen waren der Verfassung für weite Rechtsgebiete ohnehin nicht zu entnehmen27 . Nur für manche, insbesondere für politisch umDazu soeben Fn. 22. Schach, DVBl. 1988, S. 862, 869; dazu Starck, in: Link, Der Gleichheitssatz im modernen Verfassungsstaat, S. 51,65 ff. 26 Vgl. etwa noch Leibholz, DVBl. 1951, S. 193, 198 und 195: " ... , daß im allgemeinen der Gesetzgeber über die Erheblichkeit der Verschiedenheiten der tatsächlichen Voraussetzungen zu entscheiden hat". Siehe dazu auch Osterloh, in: Sachs, GG, Art. 3, Rn. 7, Fn. 11. 27 Die verbreitete Kritik (etwa Schach, DVBl. 1988, S. 864, 875 m.w.N.) an der "Leerformelhaftigkeit" der Willkürformel verkennt, daß auch schon die Leibholz'sche Lehre die Notwendigkeit von Wertungen in der GleichheitspfÜfung erkannt hatte und stellt dies zu Unrecht als Erkenntnis der neueren Zeit dar. 24
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kämpfte Gebiete hielten die Verfassungsgeber ausdrückliche Aussagen in Gestalt von speziellen Gleichheitssätzen für erforderlich28 . Neben der Gleichberechtigung der Geschlechter gehört dazu vor allem die Wahlgleichheit. 11. Systematisches Verhältnis zur Wahlgleichheit Die Wahlgleichheit als spezieller Gleichheitssatz stimmt strukturell mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG überein. Inhaltlich sind bei seiner Ausfüllung die besonderen Wertungen für den betroffenen Sachbereich "Wahlen" heranzuziehen. Art. 38 GG ebenso wie Art. 3 Abs. 1 GG sind Ausprägungen des allgemeinen, rechtsstaatlichen Gleichheitsgedankens, gelten aber für verschiedene Sachverhalte. In diesem Sinne kann man sagen, daß die Wahlgleichheit den allgemeinen Gleichheitssatz für den Sachbereich Wahlen konkretisiert, ohne daß damit schon das normative Verhältnis von Art. 3 und Art. 38 GG bestimmt wäre?9 In der Rechtsprechung des BVerfG, die in diesem Punkt auf Formulierungen von Leibholz zurückgeht 30 , klingt diese Beziehung recht undeutlich an. Es ist dort wörtlich die Rede von der "übergeordneten Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes für die Wahlgleichheit", der diese "überlagert". Erklärlich wird diese schwer verständliche, wenn nicht gar paradoxe3 ! Formulierung aus der historischen Entwicklung. Der RStGH hatte zunächst, bis zum Württemberg-Urteil im Jahre 1929, die Wahlgleichheit "strikt" oder 28 Sachs, HbStR V, § 126, Rn. 16 f.: " ... es gibt für die Verfassung nur eine maßgebliche Gleichheit. Diese Gleichheit ist durch Art. 3 Abs. 1 GG für alle Lebensbereiche und für jede denkbare Differenzierungsrichtung geschützt. Gründe, diesen umfassenden Gleichheitsschutz durch besondere Garantien zu ergänzen, liegen zumal in spezifischen historischen Gefährdungslagen, aus denen besonders dringliche Gleichheitsanforderungen für bestimmte Lebensbereiche oder gegenüber bestimmten Unterscheidungskriterien erwachsen". 29 BVerfGE I, S. 208, 242 (SSW I) und BVerfGE 99, S. I, 11 (Landeswahlrecht) mit umfangreichen Nachweisen auf die Rechtsprechung; deutlich BayVerfGH 27, S. 153, 163; Frowein, AöR 99 (1974), S. 72, 81; Forsthoff, AöR 76 (1950/51), S. 369, 373; Jülich, Chancengleichheit, S. 98 f.; MagerlUerpmann, DVBI. 1995, S. S. 273, 276; Rinck, DVBI. 58, S. 221, 222; Wahlrechtskommission, S. 28: "verbindliche Ausdeutung" auf dem Gebiet des Wahlrechts; vgl. EhlerslLechleitner, JZ 1997, S. 761, 762. Zum Verhältnis zu Art. 3 GG unten, 2. Teil, VII. 30 Leibholz, JW 1930, S. 3042, 3042: "Ausstrahlungen des in Art. 109 Abs. 1 RVerf verbrieften Gleichheitssatzes ... Die Bedeutung des inneren Zusammenhanges zwischen Wahlrechtsgleichheit und allgemeinem Gleichheitssatz zeigt sich hier vor allem daran, daß die Wahlrechtsgleichheit im Wesentlichen nicht anders wie der dieser zugrundeliegende Satz des Art. 109 RVerf ausgelegt werden darf'; Strukturprobleme, S. 41, 44; ähnlich auch Wahlrechtskommission, S. 28. 31 So H. Meyer, Wahlsystem, S. 148.
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2. Teil: Systematische Untersuchung
mathematisch interpretiert und praktisch keine Ausnahmen zugelassen. 1932 vollzog er dann als Reaktion auf die Argumente von Leibholz und Heller eine gewisse Kehrtwendung und akzeptierte Differenzierungen, die sich aus dem "Zweck der Wahlen" oder der "Natur des zu regelnden Sachbereichs" ergaben. Begründet wurde diese neue Interpretation mit den kurz zuvor für den allgemeinen Gleichheitssatz erarbeiteten Erkenntnissen. Der Verweis auf die "übergeordnete Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes" besagt daher nicht mehr, als daß auch bei der Wahl der "rechtliche" und nicht der "mathematische" Gleichheitsbegriff anzuwenden ist, der aber, wie gezeigt, als formales Denkmuster stets mit den jeweils einschlägigen Wertungen zu füllen ist. Er besagt nicht, daß die sonst den allgemeinen Gleichheitssatz ausfüllenden Wertungen, etwa in Gestalt des Willkürverbots, auch für die Wahl gelten 32 . Die Kritik Hans Meyers 33 und anderer an dem angeblichen Paradoxon von der übergeordneten Bedeutung des allgemeinen Gleichheitssatzes für die speziellere Wahlgleichheit behauptet in der Sache nichts anderes, auch sie läßt grundsätzlich Differenzierungen aufgrund von "Wahlzweck und der Eigengesetzlichkeit des Wahlsystems" ZU34. Die Gegenüberstellung von "relativer" Gleichheit des Art. 3 Abs. 1 und "absoluter" bei Art. 38 ist angesichts der aufgezeigten Struktur der Gleichheitssätze verfehlt und beruht auf einem alten, unrichtigen Verständnis35 : "Absolute", mathematische Gleichheit gibt es im Recht nicht. Rechtliche Gleichheit ist immer relativ 36 . 32 Ebenso BVerfGE 99, S. 1, 9 (Landeswahlrecht), wenn auch bezüglich der historischen Entwicklung etwas ungenau; Jülich, Chancengleichheit, S. 101. 33 H. Meyer, Wahlystem, S. 134--137; Antoni, ZParl 1980, S. 93, 98; Recht, S. 59-63; Murswiek, JZ 1979, S. 48, 50; Wenner, S. 147 ff.; ähnlich Heintzen, Gutachten, S. 18. 34 H. Meyer, Wahlsystem, S. 149 und S. 123; Murswiek, JZ 1979, S. 48, 50. 35 Meyer (1974) meint, der allgemeine Gleichheitssatz lasse "Wertungen bis zur Willkürgrenze" zu und spricht ihm ausschließlich einen "quasi prozessualen Sinn" zu (Wahlsystem, S. 147 f.). Das ist so nach dem oben Dargestellten offensichtlich nicht richtig. 36 Schon Platon, Gesetze, 757 k , "Denn von den zwei Gleichheiten, die es gibt und die zwar denselben Namen haben, in Wirklichkeit aber in vielem einander geradezu entgegengesetzt sind, vermag die eine jeder Staat und jeder Gesetzgeber ... einzuführen, nämlich die nach Maß, Gewicht und Zahl gleiche ... ; aber die wahrste und beste Gleichheit vermag nicht mehr jeder so leicht zu erkennen. Dem Größeren teilt sie nämlich mehr, dem Kleineren weniger zu und schenkt so jedem das, was seiner Natur angemessen ist"; Aristoteles, Politik, 1283 a: "Da aber nun weder diejenigen, welche nur in einem Stück gleich sind, darum schon in allen Stücken gleich, noch die, welche nur in einem ungleich, darum schon in allem ungleich sein müssen, so sind notwendigerweise alle diejenigen Verfassungen, nach denen es so zugeht, verfehlt"; Heller, Gutachten, S. 12: "Kein einziger Rechtsbegriff, und wäre es der radikalste Gleichheitsbegriff, kann von allen tatsächlichen Verschiedenheiten als rechtlich irrelevanten Erscheinungen absehen. Die logisch-mathemati-
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Das gilt auch für die Wahl gleichheit, die ebenso wie der allgemeine Gleichheitssatz auf einen Lebenssachverhalt bezogen ist, so daß eine schematische Gleichbehandlung auch hier zwangsläufig zur Gleichbehandlung von Ungleichem führen würde und damit "ungleich" wäre: die aus der Natur des Lebenssachverhaltes folgenden und dem Zweck der Regelung entsprechenden Differenzierungen müssen, und das ist unzweifelhaft, auch im WalIlrecht gezogen werden. Alles andere ist "flagranter Unsinn", wie Richard Thoma für den allgemeinen Gleichheitssatz formuliert 37 • Rein terminologisch ist die Frage, ob eine Ungleichbehandlung von "wesentlich" Ungleichem als "gerechtfertigt" angesehen oder aber überhaupt nicht als rechtlich relevante Gleichheitsbeeinträchtigung angesprochen wird. Die vorzunehmende Prüfung bleibt jeweils die gleiche. Die Kritik richtet sich der Sache nach nicht gegen die Einordnung der Wahlgleichheit als spezieller rechtlicher Gleichheitssatz, sondern gegen die Art und Weise, in der die Rechtsprechung die in ihr enthaltenen Wertungen konkretisiert hat. Die Formel von der "übergeordneten Bedeutung" wird ausschließlich als Einfallstor für als zu weitgehend erachtete Einschränkungen wahrgenommen und nicht als Hinweis auf einen an sich selbstverständlichen logischen Zusammenhang. Der eigentliche Streitpunkt zwischen dem BVerfG und seinen Kritikern ist die Frage, inwieweit die am Zusammenhang der Wahlgleichheit anzutreffenden Differenzierungsverbote relative oder absolute sind, wie streng also gesetzgeberische Differenzierungen zu überprüfen sind - dazu näher sogleich38 . III. Inhalt von Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl im besonderen Die Forderung des Art. 38 Abs. 1 GG nach "gleicher" Wahl beinhaltet ein ganzes Bündel von Wertentscheidungen für die Durchführung der demokratischen Wahl, die meist in langen politischen Kämpfen durchgesetzt wurden, die aber der schlichte Wortlaut nicht erkennen läßt. Ihr Inhalt muß schen Begriffe dagegen sind in der Tat reine Denkformen, die sich mit keiner individuellen Wirklichkeit einlassen und eben deshalb von allen Verschiedenheiten und Bewertungen absehen können. Es muß also die absolute, logisch-mathematische Gleichheit scharf unterschieden werden von der relativen, immer nur in gewissen Beziehungen vorhandenen, verhältnismäßigen Gleichheit der Jurisprudenz; die erstere wäre, zu Ende gedacht, die Negation der Rechtsordnung selber". Ebenso Jülich, Chancengleichheit, S. 97; Sachs, HbStR V, § 126, Rn. 16 f.; Erichsen, Jura 1984, S. 22, 25. 37 Thoma, DVBI. 1951, S. 458, auch zitiert von Meyer, Wahlsystem, S. 135 Fn. 43. Siehe hierzu auch die Zitate oben, Fn. 7. 38 III. 2. d).
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daher vor allem aus der Entstehungsgeschichte abgeleitet werden: Welche konkreten Ziele verfolgten die verschiedenen Verfassungsgeber mit ihrer Aufnahme in den Verfassungstext, welche demokratietheoretischen Anschauungen lagen dem zugrunde und welche Modifikationen und Wandlungen haben diese Ideen und Anschauungen im Laufe der Zeit erfahren? Dabei kann zum größeren Teil auf gesicherte, soll heißen allgemein anerkannte und unbestrittene Ergebnisse zurückgegriffen werden, denn in den meisten Einzelfragen besteht Einigkeit über Inhalt und Bedeutung der Wahlgleichheit. Umstritten sind lediglich einige wenige Punkte. Es kann daher versucht werden, die gesicherten Erkenntnisse einer Gesamtschau zu unterziehen und die sichtbar werdenden Wertungen zu verallgemeinern und sie den dogmatischen Strukturelementen der Gleichheitssätze zuzuordnen. Mit den so gewonnen Maßstäben können dann die noch offenen Fragen im Wege der Subsumtion angegangen werden. In Rechtsprechung und Lehre wurde dieser Versuch einer Erfassung der Wahlgleichheit auf einer abstrakten Ebene noch nicht unternommen, man beschränkt sich auf die Verwendung vager Begriffe wie etwa "absolut zwingende, anerkennenswerte Gründe" und "Sicherung staatspolitischer Ziele", die dann für jedes Einzelproblern gesondert konkretisiert und mit Inhalt erfüllt werden.
1. Allgemeinheit der Wahl Die Wahlgleichheit ist nur schwer von der Allgemeinheit der Wahe 9 zu trennen, die bei Licht besehen ebenfalls ein Gleichheitssatz ist: Sie besagt, daß jeder Bürger das Wahlrecht hat, daß also jeder Bürger bei der Einräumung des Wahlrechts gleich behandelt werden muß. Die Wahl-Gleichheit betrifft dann die Ausübung des einmal verliehenen Wahlrechts und gilt nicht für jeden Bürger, sondern nur für die Wähler. Beide Grundsätze lassen zahlreiche und umfangreiche Ausnahmen zu, die im Grundsatz den gleichen Regeln folgen. Ihre gemeinsame Behandlung ist daher sinnvoll, zumal auch die - kleinen - Unterschiede aufschlußreich sind und der gesicherte Bestand bei der Allgemeinheit größer ist als bei der Gleichheit. Die historische Bestandsaufnahme ergibt, daß der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl, als Gegensatz zum "beschränkten Stimmrecht", ursprünglich gegen Zensuswahlrechte gerichtet war. Das Wahlrecht sollte unabhängig von Vermögen, Bildung, Familienstand und Beruf jedem Bürger zustehen. Später kam hinzu, bewirkt durch den in Art. 3 Abs. 3 GG festge39 Dazu näher die umfangreiche Kommentarliteratur zu Art. 38 Abs. 1 GG; außerdem insbesondere Jacobi. FS R. Schmidt, S. 59, 82; Leibholz. JW 1929, S. 3042, 3043; Lenz, Ein einheitliches Wahlverfahren, S. 123 f.; Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38, Rn. 79; Sachs. HbStR V, § 126, Rn. 6 und 137; Wahlrechtskommission, S. 27 f.; vgl. G. Meyer. Entstehung, S. 2 f.
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haltenen Anschauungswandel, daß bei der Einräumung des Wahlrechts auch Differenzierungen aus Gründen der Rasse, der Religion und, als jüngste Neuerung, des Geschlechts unzulässig sein sollen. Für zulässig wird dagegen seit jeher die Anknüpfung an andere persönliche Merkmale gehalten: Kinder (Art. 38 Abs. 2 GG), Geisteskranke (§ 13 BWahIG) und Ausländer dürfen nicht wählen, das Wahlrecht von Beamten und Soldaten kann teilweise, in Ansehung des passiven Wahlrechts, beschränkt werden (Art. 137 Abs. 1 GG, vgl. § 2 Nr. 2 RWahIG) Auch der Ausschluß Wohnsitzloser und nicht im Wählerverzeichnis eingetragener Bürger vom Wahlrecht (§ 14 BWahIG) wird weithin für zulässig gehalten. Dieses Mosaik von Verboten und Ausnahmen läßt sich. unproblematisch den Begriffen der Gleichheitsdogmatik zuordnen: Die zulässigen Ausnahmen von der Allgemeinheit des Wahlrechts geben Aufschluß darüber, zu welchen Zwecken Differenzierungen vorgenommen werden dürfen, die unzulässigen bezeichnen Anknüpfungsverbote. Die meisten der zulässigen Ausnahmen lassen sich aus dem Wesen der Wahl als der Staatsfunktion erklären, die der Bildung des Volkswillens aus der Summe der Einzelwillen dient. Kinder und Geisteskranke können aus tatsächlichen Gründen keinen eigenverantwortlichen, rechtlich relevanten Willen bilden. Ausländer sind per definitionem nicht Teil des Volkes, um dessen Willen es geht. Beamte sind Teil eines anderen Bereichs der Staatsorganisation als des Staatsorgans "Volk". Soweit sie diese andere Funktion wahrnehmen, sind sie nicht Teil des Volkes, sondern des Staatsapparates40. Anders verhält es sich bei der Anknüpfung an Wohnsitz und Eintragung ins Wählerverzeichnis, die das Ziel der (technischen) Funktionsfähigkeit des Wahlvorgangs verfolgen. Deutlich wird hier die Abhängigkeit des Inhalts eines Gleichheitssatzes von den wandelbaren Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft hinsichtlich dessen, was wesentlich ist. Der Gehalt der Allgemeinheit der Wahl hat sich immer wieder geändert, wenn sich die Beurteilung von Rolle und Rechten etwa von Frauen, Beamten, Soldaten und Bediensteten in Staat und Gesellschaft geändert hat. Der Differenzierungsgrund "Wesen der Wahl" ist seiner Natur nach ein absolutes Differenzierungsgebot, Differenzierungen, die aus ihm folgen, müssen nach der Natur der Sache logischerweise getroffen werden, wenn 40 Dazu Kirchhof, HbStR V, § 124, Rn. 184 f. (Beamte). Zur Behandlung von häuslichen Angestellten G. Meyer, Entstehung, S. 7, zum Wahlrecht von Ausländern Kelsen, Wesen und Wert, S. 17 f.: keine für das Wahlrecht wesentliche Eigenschaft (1).
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überhaupt eine "Wahl" stattfinden soll. Es bleibt kein Raum für eine Abwägung oder Wertung des Gesetzgebers. Er hat lediglich einen gewissen Beurteilungsspielraum bei der Bewertung der tatsächlichen Grundlagen, etwa bei der Frage, wer als geisteskrank gilt und welches Mindestalter die nötige Einsichtsfahigkeit garantiert. Hinsichtlich der "Funktionsfähigkeit der Wahl" ist der Spielraum des Gesetzgebers größer, schon wegen der Vielfalt der technischen Gestaltungsmöglichkeiten. Man wird aber auch hier annehmen müssen, daß er angesichts des hohen Ranges des Wahlrechts Differenzierungen so weit wie möglich vermeiden muß, daß also ein relatives Differenzierungsverbot besteht und der Maßstab der "Erforderlichkeit" gilt. Ein absolutes Anknüpfungsverbot enthält der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nicht für alle persönlichen Merkmale schlechthin, sondern nur für die genannten Kriterien, die sich - ungenau - als "soziale Merkmale" zusammenfassen lassen, also Stand, Vermögen, Beruf, Familienverhältnisse, Geschlecht, Bildung, Rasse und Religion. Dahinter steht eine Wertung, die eng mit dem Verständnis der Verfassung vom Wesen der Demokratie zusammenhängt, daß nämlich angesichts des Menschenrechts, an der Bildung der volonte generale mitzuwirken, eine Anknüpfung an die genannten Kriterien unter keinem denkbaren Gesichtspunkt sinnvoll und angemessen sein kann. Grundlage dieser Erwägungen ist ein Demokratieverständnis, das einerseits - in naturrechtlicher Tradition - das Wahlrecht, also das Recht, an der Willens bildung der Gemeinschaft teilzuhaben, als ein Menschenrecht begreift, welches jedem Einzelnen allein aufgrund seines Menschseins zusteht, unabhängig von persönlichen Leistungen oder Befähigungen. Andererseits wird aber auch, vor allem bei dem Ausschluß des Wahlrechts für Beamte, erkennbar der positivistischen Vorstellung von der Wahl als Staatsfunktion Rechnung getragen, derzufolge das Volk bei der Wahl des Parlaments als Staatsorgan tätig wird. Nach der Vorstellung des Grundgesetzes fallen beide Bedeutungen zusammen41 •
2. Gleichheit der Wahl Nach dem gleichen Muster kann auch der Grundsatz der gleichen Wahl untersucht und sein Inhalt erst aufgeschlüsselt und dann verallgemeinert werden.
41 "In ihnen fällt die Äußerung des Volkswillens mit der Bildung des Staatswillens zusammen", Magiera, in: Sachs, GG, Art. 38, Rn. 73; vgl. BVerfGE 20, S. 56, 98.
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a) Bestandsaufnahme42 Der Grundsatz der Wahlgleichheit im engeren Sinne betrifft die Ausübung des Stimmrechts. Seine Aufnahme in die Weimarer Verfassung - das Wahlgesetz der Paulskirche und Bismarcks Reichsverfassung hatten nur die Allgemeinheit der Wahl gekannt - war historisch vor allem gegen die erheblichen Größenunterschiede der Wahlkreise im Kaiserreich und gegen das bis dahin bestehende preußische Dreiklassenwahlrecht gerichtet, das den Wählern je nach Steuerleistung ein unterschiedliches Stimmgewicht einräumte. Die ursprüngliche Intention wurde bald dahingehend verallgemeinert, daß ebenso wie bei der Allgemeinheit der Wahl jegliche Differenzierung aus sozialen Gründen unzulässig sein sollte. In der späteren Weimarer Zeit sah der RStGH den Gleichheitsgrundsatz im Zusammenhang mit dem ebenfalls neu in die Verfassung aufgenommenen Grundsatz der Verhältniswahl und forderte die strikte Gleichbehandlung aller Stimmen in jedem Stadium des Verfahrens, also Erfolgswertgleichheit. In den 60er Jahren schließlich kam es zu einer weiteren Verallgemeinerung: Jeder Wähler und jeder Kandidat sollte die gleichen "Erfolgschancen" haben. Im Einzelnen ist das Bild der unstreitigen Differenzierungsverbote und -erlaubnisse nicht so klar wie bei der Allgemeinheit. Die meisten Verbote lassen unter bestimmten Umständen und in einem gewissen Umfang Ausnahmen zu. Als unzulässig wird jedwede Differenzierung des Stimmgewichts aus den genannten sozialen Gründen Stand, Vermögen, Beruf, Familienverhältnisse, Geschlecht, Bildung, Rasse und Religion43 angesehen, ferner eine ungleiche Wahlkreiseinteilung, wenn die Größenunterschiede einen gewissen, in der Höhe unklaren Prozentsatz erreichen. Bei mehrstufigen Wahl verfahren sind Sperrklauseln, welche die Berücksichtigung mancher Stimmen auf der nächsten Stufe des Verfahrens bei Nichterfüllung bestimmter zahlenmäßiger Voraussetzungen auf der vorigen Stufe ausschließen, ab einer gewissen Höhe der Zahl der betroffenen Stimmen unzulässig. Das BVerfG setzt diesen Wert bei 5 % der abgegebenen Stimmen an. Zulässig sind dagegen geringe Unterschiede in der Wahlkreiseinteilung und niedrige Sperrklauseln, auch Differenzierungen im Vorbereitungsstadium der Wahl durch unterschiedliche Zulassungsvoraussetzungen für etablierte und neue Bewerber sowie - häufig nicht im Zusammenhang mit der Wahl gesehen - die Ungleichbehandlung von politischen Parteien und sonstigen Wählergruppen: Nur erstere dürfen an der Listenwahl teilnehmen44 . Toleriert werden bei mehrstufigen Verfahren auch kleinere Unschärfen des 42 Einzelnachweise siehe oben Teil I und unten B. II.-VII. sowie in der einschlägigen Kommentarliteratur. Eine ähnliche Darstellung wie hier bei Jacobi, in: FS R. Schmidt (1932), Bd. 1, S. 59 ff. 43 Aufzählung etwa in BVerfGE 6, S. 84,91.
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Rechenverfahrens. Zu erinnern ist schließlich daran, daß jedes Wahlverfahren dazu führt, daß eine beträchtliche Anzahl von Stimmen keinen Erfolgswert hat, oder, anders ausgedrückt, an irgendeiner Stelle des Verfahrens "unter den Tisch fällt". Bei der Mehrheitswahl etwa sind das die für den im Wahlkreis unterlegenen Kandidaten abgegebenen Stimmen, bei der reinen Verhältniswahl mindestens die Stimmen für solche Parteien, die den Wahlquotienten (Anzahl der abgegebenen Stimmen geteilt durch die Zahl der zu vergebenden Sitze) nicht erreichen. b) Anknüpfungsverbote Unproblematisch läßt sich daraus zunächst ableiten, daß die Wahlgleichheit, ebenso wie die Allgemeinheit der Wahl, ein absolutes, das heißt unter keinem Gesichtspunkt zu durchbrechendes Anknüpfungsverbot an die sozialen Kriterien Stand, Vermögen, Beruf, Familienverhältnisse, Geschlecht, Bildung, Rasse und Religion enthält. Auf diesen historischen, das heißt am frühesten erkannten Kern der Gleichheitsforderung - und nur hieraut5 bezieht sich der Begriff "formale" Gleichheit46 : er bezeichnet, als Synonym zu "egalitärer" Gleichheit, die naturrechtliche Wertung, daß in Ansehung der staatsbürgerlichen Rechte jeder Bürger, ohne Rücksicht auf Leistung oder einen sonstwie zu bestimmenden "Wert", von Natur aus gleich ist. c) Differenzierungsziele Weiter lassen sich aus der Bestandsaufnahme die Gründe ableiten, aus denen Abweichungen von der absoluten Gleichheit der Wahl zulässig sind, die zulässigen Differenzierungsziele also. Sie sind im Kern identisch mit den bei der Allgemeinheit erkannten. Die sich aus dem Wesen der Wahl als Willensbildungsprozeß ergebenden Einschränkungen sind so selbstverständlich, daß sie kaum als Gleichheitsproblem wahrgenommen werden. Aufgabe einer Wahl ist es, die unendliche Vielfalt der Einzelwillen faßbar zu machen, indem das Meinungsspektrum 44 Vgl. dazu BVerfGE 41, S. 399 ff. (Unabhängige Bewerber II); E 97, S. 317, 323 (Nachrücker); WPrGer Berlin, NJW 1976, S. 560; Anm. Linck, ebd. S. 56 m. w. N. Unzulässig ist aber der völlige Ausschluß unabhängiger Bewerber von der Wahl. 45 H. Meyer, Wahlsystem, S. 137-140 vermischt die Begriff "formale" und "strikte" Gleichheit, obwohl in den von ihm angeführten Zitaten aus der Rechtsprechung immer nur von der formalen Gleichheit die Rede ist. Ungenau auch BK-Badura, Anh. zu Art. 38, Rn. 19; Wahlrechtskommission, S. 35. 46 Leibholz, JW 1929, S. 3042 und Gleichheit (1925), S. 24 f.; auch schon oben, 1. Teil, B. Il. 3. b), S. 43, Fn. 189.
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durch Kategorisierung so vereinfacht wird, daß es durch ein Parlament dargestellt werden kann47 • Sinn der Wahl ist Reduktion der Vielfalt durch unterschiedliche Gewichtung. Die sich aus diesem Anliegen ergebenden Differenzierungen des Erfolgswertes folgen daher aus dem Wesen der Wahl, so die Erfolglosigkeit der unterlegenen Stimmen bei der Mehrheitswahl und die Unschärfen des Umrechnungsverfahrens bei der Verhältniswahl48 • Das gleiche gilt für die Privi1egierung von Parteien bei jeder Art von Listenwahl. Nach der eindeutigen Wertung des Art. 21 GG können neben Einzelpersonen auch Personenvereinigungen Träger politischer Anschauungen sein und deshalb in