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German Pages 310 [312] Year 1929
ERWIN REISNER
DIE GESCHICHTE ALS SÜNDENFALL UND WEG ZUM GERICHT GRUNDLEGUNG EINER CHRISTLICHEN METAPHYSIK DER GESCHICHTE
M Ü N C H E N U N D B E R L I N 1929 VERLAG V O N R . O L D E N B O U R G
Alle Redite, eirwcfiließlidi das der Übersetzung, vorbehalten Copyright 1929 by R. Oldenbourg, München und Berlin
Druck von R. Oldenbourg, Manchen.
VORWORT. Zwischen meinem zwar erst im Jahre 1924 erschienenen, aber in der Hauptsache bereits während des Krieges entstandenen ersten Buch — „Die Erlösung im Geist" — und diesem dritten liegt ein recht weiter Weg, der sich vielleicht durch den heute so geläufigen Gegensatz Idealismus —• Christentum hinreichend kennzeichnen läßt. Abgesehen von allen Dilettantismen, die jenem Erstlingswerk anhaften, stand ich damals, wie ich jetzt deutlich erkenne, vollkommen unter dem beherrschenden Einfluß der klassischen deutschen Spekulation, vor allem Schellings, und die dem idealistischen Denken typische Vorstellung einer allmählich pyramidenartig ansteigenden Werthierarchie blieb daher für den Aufbau des Systems durchaus bestimmend. Als ich dann einige Jahre später mein zweites Buch — „Das Selbstopfer der Erkenntnis" ausarbeitete, hatte ich den ursprünglichen Vernunftoptimismus zwar überwunden, aber das Ergebnis war am Ende doch nur eine Art „Tragizismus", nämlich eine pathetische Philosophie des Negativen, die genau besehen gleichfalls im Ästhetischen wurzelt und, wie alles Tragische überhaupt, ihrer Negativität zum Trotz kaum weniger als der naive Idealismus ein Kind des platonischen Eros ist. Allmählich erst wurde mir klar, daß die erkenntnistheoretischen Positionen dieses zweiten Buches, die ich auch heute noch aufrechterhalte, ihr ästhetisch-tragisches Pathos nur dann verlieren können, wenn zu ihnen ein Positives hinzutritt, das aber nicht ihre eigene dialektische Umkehrung sein darf, sondern aus einer dem philosophischen Denken selbst vollkommen unerreichbaren vernunfttranszendenten Sphäre herstammen muß. Und dieses Positive kann I*
— IV — nichts anderes sein als die uns ohne unser Zutun von außen her gegebene göttliche Offenbarung. Das Bekenntnis einer intellektuellen Schuld — und das ist meiner Uberzeugung nach jede echte Philosophie — ist nur dann ernst und aufrichtig, wenn es vor einem Anderen, nämlich vor Gott abgelegt wird, d. h. wenn der bekennende Mensch sich nicht selbst als den tragischen Heros seines Opfers bespiegelt. Auf dieser Einsicht ruht das vorliegende Buch. Obgleich auch hier sehr wesentliche Gedanken aus meinen beiden älteren Werken anklingen und sogar ihre letzte Ausgestaltung finden, ist doch der allgemeine Hintergrund ein prinzipiell anderer geworden. Ob damit auch schon ein endgültiger Abschluß gefunden ist, wage ich freilich nicht zu entscheiden, denn wer dürfte von sich behaupten reif zu sein. Im Januar 1929.
Der Verfasser.
INHALTSVERZEICHNIS. Einleitung Wesen und Gegenstand der philosophischen Erkenntnis. — Ich, Du und Es. — Raum und Zeit. — Sehen und Hören. — Licht und Schwere. — Das Wesen der Vergangenheit. — Das Gesetz der Verkehrung. — Der Sinn der historischen Forschung. — Die Historie als Gegenstand einer phänomenalistischen Geschichtsphilosophie. — Der Phänomenalismus des Raumes und der Phänomenalismus der Zeit. Paradies und S ü n d e n f a l l Der paradiesische Urzustand. — Das Verhältnis der Urzweiheit zu Gott. — Das Ur-Ich und das Ur-Du. — Das Verhältnis des Ur-Ich zu sich selbst. — Die Möglichkeit der Sünde. — Die Sünde als Abfall von Gott. — Die Sünde in ihrem Verhältnis zum Du. — Die Sünde in ihrem Verhältnis zum Ich. — Die drei Dimensionen. Der Weg des Abfalls. Die a r c h a i s c h e Zeit Sündenfall und Geschichte. — Die Reflexion auf Gott und das Wir. — Die theoretisch-technische, die religiöse und die ästhetische Lösung des durch die Sünde bedingten Zwiespaltes. — Ganzopfer und Halbopfer. — Ägypten und Israel. Die e r s t e k l a s s i s c h e E p o c h e oder die Sünde gegen G o t t . Allgemeine Charakteristik der Antike. — Der metaphysische Sinn der klassischen Statue. — Apollon und die griechischen Götter. — Die Erscheinung Jesu Christi. — Die antike Philosophie. Die zweite k l a s s i s c h e E p o c h e oder die Sünde gegen das Du Nähe und Ferne. — Die Verneinung des Du. — Das Problem der kirchlichen und weltlichen Gemeinschaft im Mittelalter. — Die Lösung des Konfliktes in der Renaissance. — Denken und Ausdehnung. — Die Relativierung der Schwere durch das kopernikanische System. — Der metaphysische Sinn des Gemäldes. Die Ethik der Renaissance. - - Die Bedeutung der Reformation. — Gegenreformation und christliche Kunst. — Die pantheistische Philosophie.
— VI — Die d r i t t e klassische E p o c h e oder die S ü n d e gegen d a s Ich Zukunft und Vergangenheit. — Der moralische Mensch. • - Der metaphysische Sinn des musikalischen Kunstwerkes. — D a s klassische Drama. — Die religiöse Situation im Zeitalter des deutschen Idealismus. — Die religiöse Musik. — Die Erkenntnistheorie Kants. — Idealismus und Musik. Die j ü n g s t e Zeit Der Sturm in die Zukunft. -— Die Krisis des wissenschaftlichen Denkens. — Die Krisis der Sittlichkeit. — Die Krisis der K u n s t . — Die „religiöse Erneuerung". — Die Philosophie der Gegenwart und der Phänomenalismus der Zeit. Die F o r m e n des V e r g a n g e n e n . Die E n t f a l t u n g d e r Z e i t Plusquamperfektum, Perfektum und Imperfektum. — Die E n t faltung der geschichtlichen Epochen aus der Ich-Verneinung. — Die Geschichte als Erinnerung. — Historie, Offenbarung und Mythos. Das historische Vergangenheitsbild Das historische Gestaltungsprinzip. — Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaft. - Die Entwertung der Vergangenheit in der historischen Anschauung. — Der historische Relativismus. Das mythische Vergangenheitsbild Die Vergangenheit als Du-Objekt. - - Der Mythos als Traumgesicht. — Der mythische Kern der attischen Tragödie. — Die Verfälschung des Mythos durch die historische Beurteilung. Die Dämonie des Mythos und ihre symbolische Bedeutung. Die D i a l e k t i k der Vergangenheit Die Gliederung des historischen Vergangenheitsbildes. — Der innere Widerspruch der Geschichte als Vergangenheit. — Die Dialektik des York]assischen. — Die Kultur Ägyptens. — Die Kultur des Mittelalters. Die Kultur des Barock. — Vorvergangenheit und Jetzt. Die O f f e n b a r u n g Offenbarung und Zeit. — Unmöglichkeit einer Bestätigung oder Widerlegung der Offenbarung durch die historische Wissenschaft. — Unmöglichkeit einer Begründung der historischen Wissenschaft durch die Offenbarung. Die Offenbarung des Anfangs. — Die Offenbarung der Mitte. Eros und Agape. - - Die Offenbarung des Endes.
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Einleitung. Obwohl die sogenannte „Wiedergeburt der Metaphysik" heute bereits zu den allgemein anerkannten geistesgeschichtlichen Tatsachen unserer jüngsten Epoche gehört, steht man dem geschlossenen metaphysischen System noch immer mit der alten Skepsis gegenüber. Der Relativismus beherrscht unser ganzes Denken offenbar viel zu sehr, als daß man mit reinem Gewissen etwas als wahr hinnehmen könnte, das seinem innersten Wesen nach auf absolute Geltung Anspruch erheben muß. Die einstigen Systeme haben sich ausnahmslos überlebt und wollen sich den Denkformen der Gegenwart nicht mehr anschmiegen. Aus diesem Grunde erscheint die Vermutung, daß auch jedes neue System morgen oder übermorgen im den historischen Kuriositätenschrank wandern wird, gewiß berechtigt. Trotzdem aber drängt das echte philosophische Denken seiner innersten Natur nach noch immer dem systematischen Ausbau zu, und so taucht am Ende unvermeidlich die Frage auf: Sollen wir uns im Bewußtsein, daß wir doch nur zeitbedingte Kostüme zustande bringen können, von der Philosophie endgültig abkehren oder sollen wir vielmehr ohne jede Selbstkritik, gleichsam mit zugekniffenen Augen metaphysische Wolkenschlösser bauen? Einen Ausweg aus diesem Dilemma scheint es nicht zu geben, es wäre denn ein System, das alle anderen möglichen Systeme in sich befaßt und vor allem die notwendige Zeitbedingtheit der ihm vorhergegangenen philosophischen Lösungsversuche aus seinem eigenen schlechthin allgemeingültigen Grundprinzip herleitet. Freilich wäre ein solches Unternehmen auch nicht gerade neu. Wir erinnern bloß an H e g e l , der Ähnliches wollte und sein Ziel, wie wir heute wissen, nicht zu erreichen vermochte. R e i s n e r , Geschichte als SOndenfall.
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Solche Reminiszenzen werden uns aber zunächst nicht abschrecken dürfen. Die Forderung nach einem letztgültigen System führt zu der Frage nach dem Warum der schließlichen Entthronung aller bisherigen Metaphysiken, und diese Frage berührt im Grunde nicht nur die Philosophie allein, sondern alle Kulturerscheinungen überhaupt; denn geradeso wie die Denkstile waren ja auch die Stile der Kunst, der öffentlichen Sitte usw. einmal lebendig und sind einmal gestorben. Alle diese Stile hatten den Zweck, irgendein bestimmtes, der Zeit geläufiges W e r t e r l e b n i s symbolisch zur Darstellung zu bringen. Die Kunst etwa arbeitete dabei mit den Mitteln der Sinnlichkeit, die Philosophie aber mit dem abstrakten rationalen Begriff. Da jedoch ein Wert niemals restlos in sein Symbol eingeht, und zwar um so weniger je mehr dieses begrifflicher Natur ist, und da weiterhin das Symbol als endliches Gebilde von vornherein dem Wandel unterliegt, wohingegen der Wert, wenigstens seiner Idee nach, der Zeit entzogen bleibt, ist jeder Versuch, Abbild und Urbild d a u e r n d aneinander zu binden, a priori aussichtslos. Diese uns übrigens ganz selbstverständliche Tatsache einsehen, heißt ja eben relativistisch denken. Dauernd ist nur erstens der Wert selbst, der aber niemals anders als im Symbol verstanden werden kann, und zweitens die U n f ä h i g k e i t des Ausdruckes, ihn zu erschöpfen und zu halten, bzw. im besonderen Hinblick auf die Philosophie: Die U n w e r t i g k e i t d e s r a t i o n a l e n B e g r i f f e s . Ein absolutes System müßte darum entweder ausdruckslos den Wert an sich ergreifen, was ein Widerspruch wäre, oder sich darauf beschränken, die Unwertigkeit des Begriffes und des Begreifens metaphysisch zu entwickeln, mit anderen Worten, nicht im absoluten Wert, sondern im absoluten U n w e r t sein unverrückbares Zentrum zu suchen. Ein solches System wird freilich Vielen im höchsten Grad unbefriedigend erscheinen, aber es gibt eben keine andere Möglichkeit für eine Philosophie, die einerseits dem unabweislichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit gerecht werden und andererseits die Periode des Relativismus, durch die wir nun einmal hindurchgegangen sind, nicht einfach aus der Geistesgeschichte streichen will. Die Metaphysik, die seinerzeit K a n t verabschiedet hat, war die Metaphysik der
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o b j e k t i v e n W e r t e . Sie zu erneuern bleibt natürlich ausgeschlossen; und ebensowenig läßt sich die Metaphysik der s u b j e k t i v e n Werte, die Metaphysik des Deutschen Idealismus, jemals wieder auffrischen. An beider Stelle aber hätte nun eben eine Metaphysik der objektiven u n d subjektiven Unwerte, d. h. der allgemeinen Wertlosigkeit zu treten. Damit erst wäre die Aufgabe nicht nur unserer Gegenwartsphilosophie, sondern — wie wir später noch deutlicher zu zeigen haben werden — der ganzen Philosophie überhaupt erfüllt. Der Urgegenstand der philosophischen Besinnung ist das erkennende Subjekt und nicht etwa die objektive Außenwelt. Die Philosophie untersucht das die Dinge wahrnehmende und denkende Ich und prüft dessen Erkenntnisresultate auf ihre Haltbarkeit. Nur auf dem Umweg über diese Selbstreflexion hat sie es dann auch mit den äußeren Gegenständen zu tun. Und das gilt, genau besehen, nicht einmal nur von der Philosophie allein, sondern vom begrifflichen Denken überhaupt, obgleich wir uns dieser Tatsache fast niemals klar bewußt werden. Die objektiven Erscheinungen lassen sich nämlich a l s s o l c h e bloß s i n n l i c h wahrnehmen, aber niemals in ihrer schlichten Gegebenheit intellektuell erfassen. Im Augenblick, da ich über ein Ding nachdenke oder richtiger, nachzudenken glaube, beziehe ich mich de facto nicht mehr unmittelbar auf das betreffende Ding, sondern auf mein sinnliches Affiziertsein, also auf mein Wahrnehmen, dem kein volles Vertrauen geschenkt und das eben deshalb vor den Richterstuhl des Intellektes gestellt wird. Die Reflexion bedeutet somit die Verneinung und Entwertung sowohl des Wahrgenommenen wie auch des Wahrnehmenden. Des Wahrgenommenen, weil ich der Erscheinung, so wie sie sich mir darbietet, nicht glaube, ihre Gegebenheit, ihren objektiven Selbstwert nicht anerkenne, des Wahrnehmenden, weil ich die Daten, die mir meine Sinne liefern, für unzulänglich und also mein eigenes sinnliches Ich für erkenntnisunmächtig halte. Diese zweite Tatsache kommt uns aber nur dann zum Bewußtsein, wenn wir im Reflexionsakt unsere Aufmerksamkeit ausdrücklich dem subjektiven Faktor des Wahrnehmungsvorganges zuwenden, das bedeutet, wenn wir ü b e r die l*
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R e f l e x i o n s e l b s t r e f l e k t i e r e n oder anders ausgedrückt: philosophisch denken. Die Philosophie rationalisiert also das rationalisierende Ich und bestreitet ihm damit den einzigartigen Wert, den es sich in der Reflexion zur ersten Potenz, die wir auch das „ w i s s e n s c h a f t l i c h e " Denken nennen können, kritiklos zuerkennt. Philosophisch denken heißt nichts anderes als den Verlust, den die Objekte durch den Intellekt an ihrem Gegebenheitswert erleiden, dem intellektuellen Ich zur Last legen und dieses als den wahren Brennpunkt aller objektiven Wertlosigkeit erkennen. Das „wissenschaftliche" Denken raubt den Dingen ihre sinnlichen Qualitäten, ihre E i gen-Schäften im wörtlichsten Sinn des Wortes, um sie auf diese Weise rational faßbar zu machen, das philosophische Denken reflektiert auf das wissenschaftliche Subjekt zurück, entdeckt hier den Ursprung der Negation und negiert diesen ebenso wie vordem die Objekte negiert wurden. Indirekt wird damit der Außenwelt ihr anfänglicher Wert zurückgegeben, aber—und dieses „aber" ist wohl festzuhalten — doch keineswegs für die philosophische Erkenntnis selbst, die ja als intellektueller Akt über die Reflexion und über die Negation niemals hinauskommen kann. Der Gegenstand der philosophischen Besinnung ist also lediglich das verneinende und eben deshalb gleichfalls verneinte Ich und nicht etwa der durch die Selbstverneinung indirekt anerkannte Außenwert. Aus diesem Grund allein bleibt jede Wertphilosophie grundsätzlich ausgeschlossen. Die Philosophie hat sich darauf zu beschränken, alles Negative, alles Rationale, alles Unlebendige, das wir in der empirischen Wirklichkeit vorfinden, auf die intellektuelle Apperzeption zurückzuführen. Sie hat mit anderen Worten die P h ä n o m e n a l i t ä t der kategorialen Naturgesetze aufzuweisen. Nicht ohne erhebliche Mitschuld der Philosophen wurde der Phänomenalismus häufig dem subjektiven Idealismus gleichgesetzt und für die extremste Übersteigerung der geistigen Hybris gehalten. Tatsächlich aber ist gerade der richtig verstandene, d. h. der im Sinne K a n t s verstandene Phänomenalismus alles eher als subjektivistischer Größenwahn. Das Nein gilt ja hier gar nicht den Dingen, sondern bloß ihrer Erscheinungsweise, den sie überkleidenden Kate-
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gorien und also dem menschlichen Intellekt, der der Natur seine Formen vorschreibt. Der echte Phänomenalist wird deshalb einigermaßen schuldbewußt an die eigene Brust schlagen und weit davon entfernt sein, nach dem Vorbild der spekulativen Idealisten die Macht und Kraft des menschlichen Geistes zu bestaunen. Bejaht wird von der phänomenalistischen und das heißt von jeder zu Ende gedachten Philosophie der verstandesmäßig allerdings niemals zu erfassende Selbstwert der objektiven Wirklichkeit, das sogenannte „Ding an sich", nämlich das Ding, so wie es abgesehen von jedweder kategorialen Umformung ursprünglich existiert. Und dieses Ding an sich darf weder als transzendentes Es vorgestellt werden, wie man in sinnwidriger Übertragung der Kategorien auch auf das gerade von ihnen Befreite vielleicht meinen könnte, noch auch als das sich nach idealistischer Auffassung in einem imaginären Anderen bloß spiegelnde subjektive Ich, sondern als ein D u , das bedeutet als ein durchaus reales und an sich werthaftes Gegenüber, das dem wahrnehmenden Subjekt in jeder Hinsicht wenigstens ebenbürtig ist. Wenn wir also behaupten, die Philosophie habe die naturgesetzliche Bedingtheit der Außenwelt dem Ich aufzubürden, so will damit gesagt sein, sie habe hinter den immer und ausschließlich negativen Kategorien ein von diesen völlig unabhängiges Du anzuerkennen, aber wohlgemerkt nur a n z u e r k e n n e n und nicht etwa zu e r k e n n e n ; denn über die Anerkenntnis reicht ihre Macht nicht hinaus, weil sie selbst in der negativen intellektuellen Sphäre gefangen bleibt. Sie kann niemals das Du in seiner noumenalen Gestalt ausfindig und anschaubar machen. Hier ist ihr die erste unüberwindliche Schranke gesetzt. Von der zweiten und bedeutungsschwereren wird noch später zu reden sein. Die bisherigen Überlegungen haben ergeben, daß die absolute Philosophie, die „philosophia perennis", nur jene sein kann, die mit der Verneinung, die dem philosophischen Denken als einzige Aufgabe zugeteilt ist, radikal Ernst macht und sich nicht aus irgendwelchen mehr oder weniger einleuchtenden Gründen einen angeblich rational zu bestimmenden Wert vorbehält; denn solange ein solcher Vorbehalt besteht,
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erscheint immer noch eine weitere Philosophie möglich, die das Werk der Phänomenalisierung fortsetzt und damit das frühere System über den Haufen wirft. Unseren weiteren Ausführungen müssen wir jetzt eine Voraussetzung zugrunde legen, die ihre Berechtigung freilich erst in der Folge wird erweisen können, die Voraussetzung nämlich, daß die ganze empirische Wirklichkeit, soweit sie naturgesetzlich oder kategorial bestimmt, also mit einem Wort negativ erscheint, das Ergebnis eines das Erkenntnissubjekt belastenden Verneinungsaktes ist. Das ursprüngliche Verhältnis zwischen Ich und Nicht-Ich, zwischen Mensch und Natur wäre nach dieser Grundannahme ein Ich-Du-Verhältnis gewesen, so wie es sich — allerdings auch nur cum grano salis — am Beispiel der idealisiert gedachten erotischen Liebe zwischen Mann und Weib veranschaulichen läßt. Wir meinen einen Zustand vollkommeren G l e i c h w e r t i g k e i t , G l e i c h b e r e c h t i g u n g und G l e i c h z e i t i g k e i t , in dem die Ausdrücke „ S u b j e k t " und „Objekt", denen immer etwas von Über- und Unterordnung, von Mehr- und Minderwert, von Bedingen und Bedingtsein anhaftet, ihren Sinn verlieren, weil eben die Liebe zum Du die Achtung vor dessen Unabhängigkeit vom Ich, vor dessen E i g e n h e i t , die als solche niemals bloßer Gegenstand werden kann, in sich schließt. Die einseitige Selbstbehauptung des Ich im A k t der Subjektwerdung, und das heißt nichts anderes als im Akt der Reflexion, bedeutet jedoch gleichzeitig die Herabminderung des Duwertes, nämlich die Vergegenständlichung des ursprünglich Gleichberechtigten. Aus dem Du wird so das E s , aus der lebendigen die tote Wirklichkeit, die Welt der Körper im Raum, an die wir uns stoßen und die wir sowohl zu uns wie auch zueinander, den Verstandeskategorien entsprechend, in Beziehung setzen. Dieser Objektivationsvorgang findet z. B. erfahrungsgemäß immer dann statt, wenn die Liebe zu einem anderen Menschen schwindet und an die Stelle der ursprünglichen Bejahung und Achtung die Verneinung und Verachtung tritt; denn verachten heißt das Verachtete als Objekt oder als Es betrachten, unter die naturgesetzlich bedingten Körper einreihen und ihm die Ebenbürtigkeit mit dem eigenen Selbst mindestens teilweise absprechen. Wenn das aber
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stimmt, so liegt doch die Vermutung nahe, daß das Maß der Rationalität, der Eshaftigkeit, das wir in unserer Außenwelt vorfinden, nichts weiter ist als eben das Maß u n s e r e r Vera c h t u n g f ü r sie. Das Du läßt sich als Du nur sehsinnlich wahrnehmen, das Es hingegen ist, wenn nicht n u r , so doch wenigstens a u c h Verstandesobjekt, und das Eindringen des Verstandes in die Gesichtswelt wird durch den R a u m , d. h. durch die Anschauungsform der T r e n n u n g sinnlich dargestellt. Raum und Reflexion gehören zusammen. Im Raum nimmt die vom Subjekt ausgehende Verneinung symbolische Gestalt an, er ist der A b s t a n d , der d a s V e r a c h t e t e vom V e r a c h t e n d e n s c h e i d e t . Das Nein wendet sich jedoch schließlich gegen den Verneiner selbst; denn auch das Ich wird im Raum begrenzt und beschränkt und verfällt wie jeder andere räumliche Körper den kategorialen Naturgesetzen. Es kommt mit anderen Worten von seinem Gegenüber auf keine Weise los. War es mit dem Du durch die positive Liebe und Achtung verbunden, so teilt es nunmehr mit dem verachteten Es dessen negative Gesetzlichkeit. Dies hat aber zur Folge, daß die Verneinung hier nicht zum Stillstand kommen kann, sondern noch um einen Schritt weiter gehen muß. Das Subjekt strebt ja eben nach Selbstbehauptung und lehnt daher jede wie immer geartete Bindung an das äußere Objekt ab. Es wird also auch sich selbst verneinen, sofern es den Bedingungen der räumlichen Welt unterliegt. Im Drang den Raum zu überwinden, strebt es aus sich heraus oder über sich hinweg; und die Form dieser Verneinung zweiten Grades, dieser Selbstverneinung ist die Zeit. Aber ebenso wie der Raum kehrt sich auch die Zeit am Ende gegen den Verneiner. Im Raum ist der Mensch begrenzt und beschränkt, in der Zeit endlich und vergänglich. J a , hier erfüllt sich überhaupt erst das Schicksal. Der Raum konnte nur entwerten, die Zeit jedoch v e r n i c h t e t , und somit ist sie, sofern sie nämlich das subjektive Leben trifft und tötet, die letzte, die endgültige A n t w o r t auf jenes erste Nein, das dem Du gelten sollte. Der Terminus „Antwort" erscheint hier um so berechtigter, als ja die Zeit in ihrer abstrakten Form selbst gar nicht töten kann, sondern zur Vollstreckung des von ihr gesprochenen Urteils eines konkreten Henkers
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bedarf, und dieser Henker ist nun ebendasselbe Es, eben dieselbe Natur mit all den starren unabänderlichen Gesetzen, die das Ich dem Du im ersten Vemeinungsakt vorgeschrieben hatte. Der Drang, über sich hinauszukommen, führt den Menschen zu keiner höheren Vollendung seines persönlichen Seins, sondern doch nur wieder in die Arme der Natur zurück. Dieses notwendige Überströmen oder besser Hineingerissenwerden ins Andere ist an s i c h wohl identisch mit der ursprünglichen Dubejahung. Auch der Liebende strömt in das Geliebte über. Während aber hier auf beiden Seiten das Leben steht, weshalb auch die schrankenloseste Hingabe keinen Lebensverlust bedeutet, wartet nach der Verneinung jenseits der Ichgrenzen der Tod. Das Subjekt wird von dem Nein, das es selbst geschaffen hat, verschlungen. Es leuchtet ein, daß sich in der Zeit, sofern sie das Ich bedroht und vernichtet, das Verhältnis von Subjekt und Objekt umkehren muß. Im Raum steht das Verneinende dem Verneinten objektivierend gegenüber, die Zeit jedoch macht den Verneiner zu i h r e m Objekt und sich selbst bzw. den Ursprung, aus dem sie hervorströmt, zum eigentlichen Subjekt alles Geschehens. Wir nennen den Abgrund, der die Zeit aus sich entläßt, die V e r g a n g e n h e i t und wollen damit ausdrücken, daß das Gewesene ein Erledigtes, ein Nicht-mehrSeiendes ist. Das Vergangene in diesem Sinn teilt mit dem räumlichen Gegenüber den Charakter des Verstandesobjektes. Es ist zwar kein Objekt im Raum, nicht Natur, sondern eben Objekt in der Zeit und das heißt G e s c h i c h t e , nicht das verneinte Andere, das verneinte Du, sondern, wie wir schon gehört haben, das verneinte Selbst bzw. der verneinte Selbstteil des Verneiners, aber eben doch ein vom gegenwärtigen Ich abgelöstes objektives Etwas, das den Kategorien irgendwie unterworfen erscheint. Wird jedoch die Zeit in ihrer schicksalhaften Bedeutung als todbringende Antwort gefaßt, so hört die Vergangenheit auf, das Vergangene zu sein. Sie bricht vielmehr über das Jetzt herein und macht gerade dieses zu einem Vergangenen. Das Vorher, das überwunden Geglaubte, erweist sich nun als das wahre Subjekt, als das Uranfängliche und Immerwährende. Und wenn es uns auch nicht möglich ist, hier mehr zu sehen als einen gesetzmäßigen
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Naturvorgang, so dürfen wir doch hinter den allein sichtbaren blinden Mächten des Geschickes den unsichtbaren Richter, den in Wahrheit uranfänglichen Herrn der Zeit, d. h. G o t t vermuten. Solange ich nun aber noch lebe und als Lebendiger in der Zeit von ihr noch nicht getötet bin, erscheint mir Gott nicht nur als der Richter, der mein Sein unter die Zeit gestellt hat, sondern auch als der Schöpfer, der mich in dieser nämlichen Zeit geschaffen hat und mich in ihr bis zu meinem Tode erhält. Mit anderen Worten: Ich muß mir ausnahmslos alles, Leben und Nichtleben, als Produkt der Zeit, als Werden und Vergehen, das will sagen als Auswirkung jenes Ursubjektes, das am Anfang steht und die gesamte Vergangenheit in sich befaßt, erklären. Und je weiter ich nach rückwärts in die Vergangenheit eindringe und mich damit gleichsam Gott nähere, um so vollkommener, um so lebendiger und zeitloser werden sich mir auch meine eigenen früheren Daseinszustände, die ja auf dieser Strecke liegen, darstellen, bis ich schließlich zu jenem Ausgangspunkt gelange, woselbst ich meine volle Lebendigkeit verloren habe, wo der Raum und die Zeit aus meiner Verneinung entsprungen sind. So betrachtet, das heißt unter dem Gesichtspunkt meines Aufgehobenseins, meines Objektseins, ist die Vergangenheit gerade nicht erledigt, sondern der wahre Inbegriff aller Werte, über welche die räumliche Gegenwartswirklichkeit nicht mehr verfügt. Die Zeit nimmt das Positive, das aus dem Raum verschwunden ist, in sich auf. Sie hat also — das erkennen wir jetzt schon ganz deutlich — eine doppelte Funktion, sie ist Todes- u n d Lebensbringerin in Einem, oder richtiger: sie ist Todesbringerin, aber gerade, indem sie den Tod bringt, nimmt sie das Leben in sich zurück und wird damit als Vergangenheit zur Bewahrerin desselben Lebens, das die Gegenwart verloren hat und immer weiter verliert. Wir sehen freilich diesen ganzen Vorgang gewöhnlich in einem anderen Licht. Wir glauben nur an das Leben, das die Gegenwart besitzt und halten das Vergangene für entschwunden. Wir erkennen nicht, daß das Leben als solches niemals vergehen kann und daß daher die Vergangenheit, die schon so unendlich viel Leben in sich eingetrunken hat, viel realer sein muß als unser armes Jetzt, an dem die
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Zeit noch immer frißt. Die Zeit ist die Verneinerin und Vernichterin der Gegenwart bzw. des in der Gegenwart stehenden Menschen, sie versetzt alle Werte aus dem Jetzt in das Einst. So haben wir zwar gewiß unseren Lebensrest aus der Vergangenheit, aber doch nicht so, daß er uns von dort her zugeflossen wäre, sondern vielmehr so, daß wir einst selbst dort waren und von dort her abgefallen sind. Nicht die Vergangenheit, die Gegenwart ist das tatsächlich V e r - g a n g e n e . Indem der Mensch sein räumliches Gegenüber und damit auch sich selbst als den schlicht Wahrnehmenden negiert, tritt er aus dem Zustand des vollen Lebens heraus und in die Zeit hinein. Es scheint ihm nur so, als ob aus dem Einst Leben u n d Tod fließen würden. In Wahrheit treibt er sein eigenes Leben nach rückwärts in die Zeit hinein und empfängt dafür das Nichts. Er selbst ist der Vorwärtsschreitende. Die Vergangenheit aber beharrt in unwandelbarer Ewigkeit. Abgesehen von allem konkreten geschichtlichen Inhalt ist die Zeit nichts weiter als die leere Form der Ichnegation, der Ausdruck für die Nichtidentität des Subjektes mit seinem verlorenen Eigenwert. Sie gleicht insofern dem Raum, der, abgesehen von allen konkreten Naturinhalten, auch nur leere Form der Negation, aber eben der Dunegation ist. Daraus folgt, daß Raum und Zeit im gleichen metaphysischen Punkt absolut und abstrakt werden, das heißt die Form annehmen, die ihnen K a n t zuschreibt. In demselben Augenblick, da das Ich im Raum den letzten Rest an Durealität austilgt, verschwindet aus der Zeit der letzte Rest an Ichrealität. Die Zeit verliert ihren Charakter als w i r k l i c h e s Geschehen und wird zur qualitätslosen Geraden, zur „schlechten" Unendlichkeit, zur N ie he i t. Nur in dieser Form läßt sie sich mathematisch und überhaupt rational fassen, während die reale Bewegung, der dynamische Vorgang, wie man ja weiß, dem begrifflichen Denken entzogen bleibt. *
Die räumliche Welt, die Natur, ist die Welt der Gleichzeitigkeit und das bedeutet die Welt des G e s i c h t s s i n n e s , des Auges. Als Sehender bin ich weder Subjekt noch Objekt oder auch sowohl Subjekt wie Objekt des Gesehenen; denn
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im Akt der Gesichtswahrnehmung setze ich mich gleichzeitig dem Wahrgenommenwerden durch das Wahrgenommene aus. Das gilt wenigstens dann, wenn das Andere, das Gegenüber, ein Du ist. Aber nur in dieser ausgewogenen Zweiheit von Ich und Du, im simultanen Vorgang des Wahrnehmens und Wahrgenommenwerdens erfüllt der Gesichtssinn seine Urbestimmung, erweist er sich als der Sinn der Gleichzeitigkeit und auch der Gleichwertigkeit, der E b e n b ü r t i g k e i t . Wird dagegen dem Du sein Eigenwert genommen und setzt sich das Ich ausdrücklich als Subjekt, das will sagen a l s das zwar S e h e n d e , a b e r s e l b s t n i c h t Ges e h e n e , so erblindet damit nicht bloß das Objekt allein, sondern auch das Auge des Subjektes verliert die Fähigkeit, das ganze und wahre Wesen des Gesehenen zu erfassen; denn die blinde Natur steht nun im beherrschenden Raum, das heißt in einem u n s i c h t b a r e n Medium, dessen Unsichtbarkeit erstens den Mangel des Sehens und zweitens das nicht mehr wahrzunehmende Mehr des Gesehenen anzeigt. Der aus der Gegenwartswirklichkeit verdrängte Wert geht, wie früher dargetan wurde, in die Vergangenheit ein und macht mich von dort her zu seinem Objekt. Während ich mich, die zur Esheit erniedrigte Natur, sehsinnlich wahrnehmend, aktiv verhalte und das Andere meine aktive Wahrnehmung erleiden lasse, kehrt sich der Vergangenheit gegenüber das Verhältnis um. Hier bin ich der passive, der wahrgenommene oder, was dasselbe ist, der bloß l e i d e n d wahrnehmende Teil. Ich kann diese Vergangenheit nicht nach Willkür erkennen, so wie irgendein Ding der empirischen Gegenwart, sondern muß warten, bis sie mich erkennt und sich mir in ihrer Überlegenheit o f f e n b a r t . Ich kann sie nicht sehen und noch weniger denken, ich kann ihr nicht befehlen und ihr keine Kategorien vorschreiben. Ich kann nur v e r n e h m e n und g e h o r c h e n . Wie das Gesicht der Sinn der Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit, so ist das Gehör der Sinn der Vergangenheit und der Minderwertigkeit, und zwar der Vergangenheit und der Minderwertigkeit des h ö r e n d e n Ich. Der Redende ist hier Gott, und der Gegenstand seiner Rede ist die Kunde von der Vollkommenheit des Anfanges, die ich verloren habe. Aber nicht nur Gott als
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der Herr der Zeit, die ganze Vergangenheit überhaupt s p r i c h t in die Gegenwart. Auf der Brücke ihres Wortes, das vernommen sein will, schreitet das Einst in das Jetzt herüber. Daraus geht schon hervor, daß das Wesen der Geschichte nur vernommen, aber niemals erforscht werden kann, daß also alles, was wir gemeinhin für Geschichte halten und was tatsächlich das Ergebnis einer a k t i v e n Wahrnehmung, aber keineswegs das nur passiv hingenommene Wort einer Offenbarung ist, von der Vergangenheit ein durchaus unrichtiges Bild geben muß. Der Geschichtsforscher will die Vergangenheit sehen und verstandesmäßig begreifen. Die wahre Vergangenheit jedoch bleibt Angelegenheit des Ohres, sie kann nur gehört und geglaubt werden. Wenn das gesprochene Wort für uns nicht nur Medium der Offenbarung, sondern auch Verständigungsmittel von Mensch zu Mensch ist, so beweist gerade diese Tatsache vor allen anderen unsere Abgefallenheit; denn der sprechende Mensch setzt sich nicht nur als herrschendes Subjekt über das Du, das er anspricht, sondern auch an die Stelle Gottes, dem allein das Wort gebührt. Er wendet sich sozusagen aus einer usurpierten Ewigkeit an eine endliche Gegenwart, er behandelt das Du so wie er selbst nur von Gott behandelt werden könnte. Das alternierende Sprechen, die Wechselrede zwischen Mensch und Mensch, ist ein fortwährendes Sich-über-den-Anderenerheben und Von-ihm-erniedrigt-werden, ein unaufhörliches Auf-und-Ab, ein ärmliches Ersatzmittel für die Unmittelbarkeit des Sehens und Gesehenwerdens in einem einzigen gleichzeitigen Akt. Das nicht einfach gesehene, sondern angesprochene Du wird in den Raum u n d in die Zeit versetzt. Und eben weil ich den Anderen anspreche, statt ihn nur zu sehen, bin auch ich selbst ein Angesprochener, das heißt ein Verneinter. E s gibt ein einziges Wort, das zu sprechen dem Menschen aus seiner Zeitgebundenheit heraus erlaubt sein kann, das Wort „ H e r r " ! Nur dieses eine Wort klingt gleichsam in die Vergangenheit zurück. Jedes andere bleibt streng genommen Gotteslästerung, weil sich in ihm der sprechende Mensch selbst zum Herrn der Zeit und der Geschichte auf wirft. Unser ganzes Sprechen dürfte also nur ein demütiges Antworten sein, das
— 13 — eigentlich gar nicht den Zweck hat, gehört zu werden, sondern uns bloß das Gehörte nochmals und eindringlich zum Bewußtsein bringen soll. Wenn ein Mensch als Prophet oder als Apostel Sprecher der Wahrheit sein will, dann muß er sein eigenes Ich vollkommen ausschalten können, dann darf er nichts anderes sein als das passive Organ, dessen sich Gott aus seiner Ewigkeit her bedient, um von der Zeit vernommen zu werden. Wer dagegen vorgibt, aus eigener Erkenntniskraft in den Besitz der Wahrheit gelangt zu sein und diese zu verkünden, der verkündet tatsächlich die U r l ü g e . Damit erscheint eigentlich alle Philosophie gerichtet. Der Dichter fühlt sich immerhin noch als Werkzeug, wenn nicht Gottes, so doch wenigstens irgendeines überindividuellen Wertes. Der Philosoph jedoch bleibt uneingeschränktes Ich, das scharf umrissene Subjekt und Zentrum dessen, was er als vorgebliche Wahrheit ausspricht. Aber das gilt im Grunde eben doch nur von jener Wert-Philosophie, die wir gleich zu Anfang abgelehnt haben; denn offenbar lügt der Mensch bloß, wenn er behauptet, die p o s i t i v e Wahrheit zu sprechen, das heißt in seiner Rede oder in seinem System den Wert selbst begriffen zu haben. E r lügt aber nicht mehr, sobald sich sein Reden darauf beschränkt, die Ohnmacht und Verlogenheit alles bloß menschlichen Sprechens kundzutun und auf den uranfänglichen Gott als auf den einzigen der Wahrheit mächtigen Redner hinzuweisen. Diesen und keinen anderen Sinn hat eben die Philosophie, so wie wir sie hier verstehen, die rein n e g a t i v e Philosophie, die Philosophie des absoluten Unwertes. Sie will wohl auch gehört werden, und das ist zweifellos ein letzter ihr anhaftender Mangel, aber sie will nicht gehört werden, damit man sich mit ihr begnüge, sondern damit man über das viele Reden endlich zum Schweigen komme und zum Hören auf das Wort jenes Sprechers, der allein die Wahrheit hat. *
Im Zustand der Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit ist zwischen dem Ich und dem Du nichts als das L i c h t , das Medium des Sehens, der Ausdruck des H i e r - u n d - d o r t S e i n s in Einem. Darum nennt wohl auch H e g e l — Enzy-
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clopädie, § 275 — das Licht die einfache daseiende Idealität. Der Abfall von der Liebe zum Du ist der Abfall vom Licht und das heißt auch der Abfall von Gott; denn Gott als der gemeinsame Daseinsgrund des Ich und des Du webt in Gestidt des Lichtes und der Liebe zwischen seinen Geschöpfen. Wenn das Licht verneint wird, so tritt an die Stelle des Hierund-dort das Hier-oder-dort, das bedeutet einerseits der Raum als die Form der Trennung und andererseits die S c h w e r e als die Form der Einsamkeit und Absonderung. Über die Polarität von Licht und Schwere äußert sich H e g e l einmal in Anlehnung an ähnliche Gedanken S c h e l l i n g s : „Die schwere Materie ist t r e n n b a r in M a s s e n , weil sie konkretes Fürsichsein und Quantität ist; aber in der ganzen a b s t r a k t e n Idealität des Lichtes ist kein solcher Unterschied". Die Schwere ist nun aber nicht nur das Fürsichsein, also die Einsamkeit des Ich oder des Du, sie ist auch gerade der Ausdruck für ihre Verbundenheit, für ihr gegenseitiges Aufeinanderbezogensein, frei] ich nicht als Liebe und Leben, sondern als Vernichtung gefaßt. Sie ist eigentlich nichts anderes als die Form, die das L i c h t s e l b s t annimmt, wenn diesem der Raum als das Trennende entgegengesetzt wird. Denn wenn sich das Ich einmal vom Du ablöst und sich in seiner Einsamkeit für das allein Lebendige hält, dann muß ihm notwendig die Aufhebung der Einsamkeit und das Überströmen in das Du als Aufhebung seines Lebens erscheinen, dann wird Gott aus dem Schöpfer und Erhalter zum Zerstörer, dann verwandelt sich die Liebe selbst in Haß. Sowohl das Licht wie die Schwere negiert den Raum. Als bloß d i a l e k t i s c h e Gegensätze haben sie beide in ihm ihren realen Gegensatz 1 ). Während aber das Licht nur die negative Seite des Raumes, nämlich seinen Trennungscharakter aufhebt, zerstört die Schwere gerade umgekehrt sein Positives, das heißt sie vernichtet ihn als das Medium des gleichzeitigen Daseins. Sie bringt alles in einem einzigen Nichts-Punkt zum Verlöschen. Da auf das richtige Verständnis dieses Vorganges mit Rücksicht auf die späteren Ausführungen sehr viel ankommt, Unter welchen Bedingungen das ursprünglich undialektische gött liehe Licht zum dialektischen wird, kann erst später gezeigt werden.
— 15 — wollen wir das Gesagte mit anderen Worten nochmals wiederholen : An die Stelle des Lichtes, das die beiden Pole Ich und Du in E i n e m a n e i n a n d e r b i n d e t u n d d i s t a n z i e r t , weshalb wir auch von einem Hier-und-dort gesprochen haben, tritt infolge der einseitigen Selbstbetonung des Ich erstens der Raum, die Form der bloßen Getrenntheit, das Hier-oderdort und zweitens die Schwere, vorläufig als die Form der Besonderung sowohl im Hier wie im Dort. Die ursprüngliche Einheit des Lichtes zerfällt also in zwei Prinzipien. Natürlich gilt das nur für die Anschauungswelt des Ich; denn an sich selbst bleibt das Licht in seiner Ewigkeit und kann daher niemals zerstört oder geteilt werden. E s wird bloß in seiner n o u m e n a l e n Ungebrochenheit nicht mehr wahrgenommen. Sofern es aber doch fortbesteht, ohne in seiner wahren Natur erkannt zu sein, muß sich die von ihm bewirkte Aufhebung der Geschiedenheit, also sein verbindender Charakter, dem erblindeten Ich gleichfalls als realer Gegensatz des Raumes, nämlich als S c h w e r e darstellen. Die Schwere ist somit nicht nur die Form der Selbstbeschränkung im Subjekt, sondern auch die Kraft, die dieses gegen seinen Willen an das Andere fesselt, nicht nur Tendenz nach dem gesuchten Ichzentrum, sondern auch umgekehrt Prinzip der Aufhebung alles getrennt Existierenden in einem absoluten Nullpunkt. Gerade indem ich mich vom Objekt abzusondern trachte, verfalle ich ihm, und zwar durch genau die gleiche Kraft, die meine Absonderung bewirkt. Nur die schwere Materie ist nach dem oben zitierten Satze H e g e l s trennbar in Massen, aber auch nur die getrennten Massen werden von der Schwere gegenund ineinander getrieben. Als Antwort auf die Entwertung des Du im Raum erfolgt, wie wir gehört haben, die Negation des Ich in der Zeit. Die Zeit zerstört das Subjekt und mit ihm die ganze Raumwelt, das heißt die von jenem geschaffene neue Welt der Gleichzeitigkeit, die Welt des Hier-oder-dort, die R u h e d e s R a u m e s . Dasselbe aber läßt sich auch von der Schwere sagen. Auch sie vernichtet den Raum, indem sie die Distanzen zwischen den Körpern aufhebt; und das bedeutet, daß Zeit und Schwere grundsätzlich identisch sind oder genauer, daß sich die Schwere in der Form der Zeit verwirklicht. Aus der Gleich-
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zeitigkeit des Urzustandes gerät der Mensch in den Strom der Geschichte, aus dem göttlichen Licht fällt er ab in die Finsternis. Das Wort „abfallen" oder auch einfach „fallen" ist hier durchaus nicht nur metaphorisch zu verstehen; denn tatsächlich „ f ä l l t " d a s I c h im g a n z w ö r t l i c h e n S i n n seiner S e l b s t b e s o n d e r u n g wegen aus dem O b e n , a u s dem P a r a d i e s des L i c h t e s , in d e r Z e i t , d u r c h d e n R a u m , von d e r S c h w e r e e r g r i f f e n , n a c h u n t e n in d a s N i c h t s . Das im Nur-Hier vereinsamte Ich setzt die Liebe, das Licht, das verbindet, und in dem doch gleichzeitig der Eigenwert des Verbundenen erhalten bleibt, aus sich heraus. Es hat nun nicht mehr teil am Licht, ist nicht mehr das Liebende, das in dem einen Akt des Sehens s i c h s e l b s t vom Hier zum Dort hin und auch wieder vom Dort zum Hier zurück bewegt, sondern das von dem nun als Schwere erscheinenden Licht ohne Liebe, ja gegen den eigenen Willen Bewegte und Getriebene. Hier eröffnet sich uns übrigens der wahre metaphysische Kern der E i n s t e i n sehen Relativitätstheorie. Nach den allgemeinen Grundthesen dieser Theorie nimmt die Ausdehnung eines bewegten Körpers in der Bewegungsrichtung ab und wird schließlich gleich Null, wenn die Geschwindigkeit des Lichtes, das heißt die a b s o l u t e Geschwindigkeit erreicht ist. Auf dem Hier-und-dort, auf der Kontinuität, auf der tatsächlichen Gleichzeitigkeit der scheinbar nur in zeitlicher Aufeinanderfolge gegebenen Zustände beruht ja, wie man weiß, überhaupt die Möglichkeit der B e w e g u n g . Das Hieroder-dort hingegen ist die Form der B e w e g t h e i t , des Erleidens, das am bewegten Körper wahrgenommen wird. Hat nun irgendein Körper die absolute Bewegung, also das reine Hier-und-dort des Lichtes restlos außer sich, so ist er eben das absolut Bewegte, das extreme Nur- Hier oder Nur-Dort, der Punkt oder das Nichts. Dasselbe läßt sich aber auch umgekehrt ausdrücken: In dem seiner Konzentration auf den eigenen Schwerpunkt entsprechenden Maß gerät der Körper unter die Herrschaft der ihm transzendenten Lichtgeschwindigkeit, die ihn durch den Raum dem Dort zuschleudert und damit erst das letzte und eigentliche Ziel der Schwere verwirklicht. E i n s t e i n sucht an dem bekannten Beispiel des
— 17 — „Mannes im Kasten" klarzumachen, daß die Gravitation nichts weiter ist als die mit der Beschleunigung wachsende Trägheitsenergie des bewegten Systems, weshalb dieses die Tendenz hat, sich allmählich zu verkürzen und am Ende zu verschwinden bzw. von seinem eigenen Schwerpunkt aufgesogen zu werden. Das wesentliche Ergebnis bleibt also das gleiche, ob der Vorgang von dieser oder von jener Seite betrachtet wird, ob wir von der Schwere ausgehen und demgemäß die Beschleunigung für die notwendige Folgeerscheinung halten oder ob wir umgekehrt in Anlehnung an das Beispiel Einsteins die Beschleunigung als das zuerst Gegebene annehmen und die Schwere bzw. die Trägheit von ihr bedingt sein lassen. Der absoluten Geschwindigkeit der Bewegung entspricht die absolute Vernichtung des Bewegten. Und das bedeutet metaphysisch: Das Ich, das sich vom Du, von der Liebe abkehrt und mithin sein Auge dem Licht verschließt, geht mit zunehmender Beschleunigung dem Nichts entgegen. Nach der Lehre Einsteins erfährt jedoch nicht nur die räumliche, sondern auch die zeitliche Ausdehnung infolge der wachsenden Geschwindigkeit eine Verkürzung. Unter der zeitlichen Ausdehnung hat man hier natürlich die E i g e n z e i t , die „reale Dauer" ( B e r g s o n ) des bewegten Systems zu verstehen; denn dieses verliert, indem es zu einem Raumpunkt wird, auch seine zeitliche Existenz, das heißt sein L e b e n . Es erlischt in einem Z e i t p u n k t , im J e t z t . Das nur noch Bewegte hat alle Zeit außer sich, und diese äußere Zeit stellt sich ihm als qualitätslose Unendlichkeit, als Nie h e i t dar, während sie in ihrem noumenalen Sein gerade umgekehrt die Zeit des Lichtes, also das gleichzeitige Hier-und-dort, die Ewigkeit, die I m m e r h e i t ist. Das Licht als das Medium des Sehens, als das Lebenselement der Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit, ist das schlechthin Unbegreifliche, das verstandesmäßig niemals zu Erfassende; denn der Verstand hat ja eben nicht das s i c h t b a r e Du, sondern das d e n k b a r e Es zu seinem spezifischen Gegenstand, bzw. auch das Du wird in ein Es verwandelt, wenn das Erkenntnissubjekt die Lebenssphäre des Lichtes verläßt und von der sehsinnlichen zur intellektuellen Wahrnehmung übergeht. Diese Einsicht findet sich übrigens beReisner,
Geschichte als Süadenfall.
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reits bei F i c h t e , wenn auch freilich in der nachstehend angeführten Stelle das Wort „Licht" in einem mehr symbolischen Sinn verstanden werden muß: „dieses Prinzip (der Konstruktion oder des Begriffes)", heißt es im V. Vortrag der „Wissenschaftslehre" von 1804, „wird nun in seiner Absolutheit, das heißt als S o n d e r u n g in dem durchaus und an sich Einen, und als Eins Eingesehenen, was die innere Gültigkeit betrifft, vernichtet: als vernichtet schlechthin eingesehen, daher im absoluten L i c h t e , und durch das absolute Licht vernichtet. Und so wird das Wesen an sich, in dieser Vernichtung des absoluten Begriffes in Beziehung darauf unbegreiflich". Natürlich werden wir uns nicht in jeder Hinsicht mit dem Inhalt dieses komplizierten Satzes einverstanden erklären können. Fichte faßt hier vor allem das Licht durchaus idealistisch als das alles Reale in sich einsaugende Absolute. Wir aber verstehen darunter immer nur das z w i s c h e n dem Ich und dem Du waltende Medium des Sehens und derLiebe. Für uns ist Gott nicht absoluter Indifferenzpunkt oder absolutes Ich, sondern der vom Geschöpf grundsätzlich und ewig unterschiedene Schöpfer, der sich der Schöpfung nur in der Gestalt des Lichtes offenbart. Trotzdem aber spricht der zitierte Satz den wesentlichen und richtigen Gedanken aus, daß das Licht jedwede Reflexion, jedwedes begriffliche Denken aufhebt oder besser gesagt, überflüssig macht, daß sich weder das Sehen selbst noch das Gesehene als solches, das heißt das Du intellektuell bewältigen läßt. Das gleiche gilt selbstverständlich von der Bewegung überhaupt, sofern sie dem Bewegten nicht nur von außen her aufgezwungen, sofern dieses noch immer auch ein Hier-unddort und kein bloßes Hier-oder-dort ist, sofern es also L i c h t in sich h a t . Die reine Naturwissenschaft vermag eben deshalb die Bewegung lediglich als k i n e m a t i s c h e s Phänomen zu fassen, das bedeutet, für sie gibt es im b e w e g t e n K ö r per keine Bewegung, sondern an diesem vollzieht sich bloß ein Wechsel von ruhenden Einzelzuständen, die durch die innere Dynamik der subjektiven Wahrnehmung miteinander verknüpft werden. Und weil sich für die Naturwissenschaft wie überhaupt für das begriffliche Denken die Körper selbst niemals bewegen können, bleibt jede Ortsveränderung rela-
— 19 — tiv, so daß ich mir von zwei gegeneinander bewegten Körpern ganz nach Belieben entweder den einen oder den anderen als bewegt bzw. als in Ruhe befindlich vorstellen kann. Beide Körper sind eben de facto immer nur jener Bewegung unterworfen, die ihnen das reflektierende Subjekt zuschreibt oder richtiger beläßt. Sie sind vollkommen bewegt oder vollkommen bewegungslos, geradeso wie ein einziger im leeren Raum schwebend gedachter Gegenstand, je nachdem ob wir die Bewegung in ihn oder außer ihn verlegen. Was sich nicht selbst bewegt, sondern bewegt wird, ist im Grunde nichts weiter als eine quantitative Reihe von Raumpunkten, über die das Denken hingleitet und die einander in ihrer gänzlichen Qualitätslosigkeit und Nichtigkeit aufs Haar gleichen. Bewegt werden bedeutet somit aus einem Raumpunkt in den anderen verwandelt werden und mit sich selbst in der Zeit nicht identisch sein. Die passive Bewegtheit der Körper wird uns daher zum abstrakten Symbol des Todes. Die beiden folgenden Beispiele sollen das eben Ausgeführte kurz illustrieren und den Leser auf den inneren Zusammenhang des mechanischen Bewegungsphänomens mit anderen Phänomenen, die scheinbar abseits liegen, hinweisen. 1. Solange der Mensch den gestirnten Himmel lediglich oder doch vorwiegend als Gesichtsobjekt hinnahm, war für ihn die Bewegung der Sterne ganz folgerichtig ein Hier-unddort, eine gewollte Selbstbewegung göttlicher oder engelartiger Wesen. Die spätere ehrfurchtslose Reflexion auf diese Bewegung, der Versuch sie in Zahlen einzufangen, verwandelte aber das Gesichtsobjekt in ein Verstandesobjekt, das Du in ein Es, das Sich-Bewegende in ein nach äußeren Gesetzen Bewegtes. Damit verlor der Himmel seine Heiligkeit, aber damit verlor gleichzeitig auch die Erde den Anspruch auf ihre Ruhe. Das s u b j e k t i v e Gestirn mußte sich den nämlichen Gesetzen unterwerfen, denen es die anderen Sterne unterworfen hatte; denn alle Entwertung des Du kehrt sich am Ende gegen das entwertende Ich. 2. Aus dem Bedürfnis nach Überwindung des Raumes und der Zeit sind unsere modernen schnellen Verkehrsmittel entstanden. Mit ihrer Hilfe will der Mensch, bewußt oder unbewußt, die verlorene Gegenwart wiedergewinnen, den Ab2*
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stand von Ort zu Ort und von Augenblick zu Augenblick auf ein Minimum verkürzen. Die objektiven Ausdehnungen sollen wieder in das Subjekt hineingenommen werden. Tatsächlich aber ist der Mensch, der sich dieser Mittel bedient, gar kein Beweger, sondern vielmehr ein von den seine Maschinen treibenden ä u ß e r e n Naturkräften Bewegter. Während er Raum und Zeit zu bewältigen meint, Wird er in Wahrheit von ihnen bewältigt. Er gewinnt nicht das Hier-und-dort, sondern das Hier-oder-dort, und das zwar um so entschiedener, je rasender die Geschwindigkeit des Gefährtes ist, dem er sich anvertraut, dem er sich verschreibt. Wie der mit Lichtgeschwindigkeit vorwärtsgetriebene Körper, so schrumpft auch er, bildlich gesprochen, zu einem Nichts zusammen. Die Gegenwart, die Überallheit und Immerheit, die er zu erobern hofft, erweist sich als das Jetzt, als der zeitliche Nullpunkt. Die faktische Überwindung des Raumes und der Zeit wäre gleichbedeutend mit harmonischer Ausgeglichenheit und seliger Ruhe des Lebens. Die bloße Getriebenheit aber kennt nur die Hast, die metaphysische Angst vor den Unendlichkeiten, die sich stets von neuem auftun, wenn eine bestimmte Strecke durchmessen ist, die Angst vor dem Verschwinden in diesen Unendlichkeiten, und das will sagen vor dem Tod. *
Nach rückwärts in die Vergangenheit kann der Mensch aus eigenem Willensentschluß nichts währnehmen; denn als das der Zeit v e r f a l l e n e Geschöpf ist er kein Seher, noch weniger ein Denker, sondern nur ein Hörer und Horcher. Er muß also auf das Wort w a r t e n , das von dort her an ihn gerichtet wird. Die Vergangenheit bleibt, solange sie selbst schweigt, ein unergründliches Geheimnis, ein finsterer Abgrund, aus dem heraus sich Gott offenbart oder auch nicht offenbart, je nach seinem eigenen Ratschluß. Gott, der Herr der Geschichte, ist hier das Subjekt, das Bestimmende, der Mensch bloß das Objekt, das Bestimmte. Es kann also niemals in seiner Macht stehen, die Vergangenheit zur Offenbarung zu zwingen. Wohl aber läßt sich denken, daß er auch gegen das gesprochene Wort taub wird. Im Hörer besteht immer noch, wenngleich herabgeminderte Duqualität. Der Taube
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hingegen ist ein vollendetes Es, so wie der vor mir liegende tote Stein, der weder meine sichtbare Gestalt noch meine Stimme wahrzunehmen vermag. Diesem absoluten Eszustand nähert sich jedoch das Ich, indem es seine räumliche Gegenwartswelt und damit auch seine eigene subjektive Gegenwärtigkeit allmählich von sich abstößt; denn die Antwort darauf ist das Nein der Zeit. Je tiefer der Mensch fällt, um so tauber werden seine Ohren gegen das Wort der Offenbarung, das ihm erstens von Gott, dem Schöpfer und zweitens von einer vollkommenen Vergangenheit erzählt, um so ausdrücklicher nimmt das Einst den Charakter des finsteren Abgrundes an, aus dem alles Gegenwärtige auf eine völlig unbegreifliche Weise hervorgestiegen zu sein scheint. Der Wert des Anfanges versinkt in Verborgenheit und Vergessenheit. Wenn wir nun aber, solchermaßen taub geworden, unsere Vergangenheit gänzlich oder teilweise vergessen haben und das Gewesene nur noch eine ungeheure Leere ist, fühlen wir uns versucht, in diese Lehre, in die hinein wir doch eigentlich nur erwartungsvoll lauschen dürften, nach unserem eigenen Sinn und Geschmack Bilder zu projizieren, d. h. wir beginnen die Vergangenheit schließlich ebenso als Objekt zu behandeln wie die räumliche Natur. Wir stellen auch ihr unsere vollwertige Ichheit entgegen und degradieren sie zu einem Es. Statt die Negation unseres Jetzt durch die Zeit, unser mindestens relatives Nichtmehr-Sein zu erkennen, drehen wir das Verhältnis um und suchen das Einst als das Nicht-mehrSeiende und das heißt erst im vollen Sinn des Wortes als das Ver-gangene zu begreifen. Statt in die Vergangenheit zu horchen, ihre Rede bloß p a s s i v und bereitwillig zu vernehmen, wollen wir auch hier a k t i v Wahrnehmende sein. Wir wollen nicht hören, sondern sehen und verstandesmäßig erkennen. Dieser Tendenz kommt die Stummheit und Leere des Einstigen entgegen. Wir halten nämlich das Schweigen für die Stimme des Nichts, und so wird uns der Unwert, der Minderwert geradezu zum Kennzeichen des Vergangenseins überhaupt. Darüber hinaus aber unterwerfen wir auch das, was wir tatsächlich von unserer Vergangenheit wissen, diesem negativen Gestaltungsprinzip, so daß also selbst das Erinnerte
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und Geoffenbarte von den Schatten der Vergessenheit umdüstert erscheint. Wird die Vergangenheit, wie immer ich sie mir ursprünglich vorstelle, dem Jetzt b e w u ß t entgegengesetzt, so verliert sie damit notwendig ihre Autonomie und nimmt für meine Wahrnehmung den Habitus des seiner Wesenheit beraubten Gegenwarts- oder Raumobjektes an, das heißt eben, sie wird gleichfalls ein Es. In der Terminologie S c h o p e n h a u e r s ausgedrückt, ist die räumliche Natur die Welt als Vorstellung, die Geschichte hingegen die Welt als Wille. Wenn ich nun aber auf diese Welt als Wille reflektiere, mache ich auch sie zu einer bloßen Vorstellungswelt, die als solche den Naturgesetzen, den Kategorien unterliegt. Und hier ist zu beachten, daß sich nach dem Grundgesetz aller Dialektik in der Reflexion auf irgendein Phänomen dessen eigene W e r t s c h i c h t u n g in ihr kontradiktorisches Gegenteil verkehrt, daß also im äußersten Fall gerade der absolute Wert in den absoluten Unwert umschlägt. Wir wollen dieses Gesetz in der Folge das G e s e t z d e r V e r k e h r u n g nennen. Der Wert als solcher kann niemals Objekt des Verstandes oder der Reflexion sein, weil reflektieren den Unwert setzen bedeutet. W© der Verstand ihn zu ergreifen sucht, entzieht er sich augenblicklich der Wahrnehmung und läßt an seiner Stelle ein Vakuum zurück, das nun aber der Reflektierende irrtümlicherweise für das Wesen selbst hält. Wird die Reflexion wieder rückgängig gemacht, so erscheint zwar auch der Wert wieder in seiner ursprünglichen Gestalt, aber dafür klafft an jener Stelle, wo die Reflexion ihn gesucht hatte, eine Lücke. Der bloße Scheinwert ist aufgehoben und vernichtet. Auf dem unmittelbaren Wissen um dieses Verkehrungsgesetz beruht zum Beispiel das sogenannte Schamgefühl. Wir scheuen uns, unser Innerstes, unsere höchsten Eigenwerte zu entblößen, von Anderen zum Objekt der Reflexion machen zu lassen oder auch selbst auf sie zu reflektieren, weil sie erstens durch die Reflexion in ihr Gegenteil verkehrt und zweitens durch die Rücknahme der Reflexion als Verkehrte aufgehoben werden. Der Schamhafte fürchtet also die Vernichtung seines Selbstwertes. Im allgemeinen freilich ist der Mensch grundsätzlich schamlos, auch in seiner Schamhaftig-
— 23 — keit; denn er lebt in der Erbsünde, die nichts anderes ist als Reflexion auf den subjektiven Eigenwert und dessen Erhebung über Gott und über das Du. Die Rücknahme der Reflexion bedeutet hier den Tod, nämlich den Untergang, das Verschwinden des Reflexionsobjektes, des Ich. Darauf bezieht sich wohl vor allem der biblische Satz von den Ersten, die die Letzten sein werden und von dem Obersten das zu unterst gekehrt wird. Dem Gesetz der Verkehrung entsprechend ändert natürlich auch die Vergangenheit ihr Gesicht, wenn der Mensch sich zu ihr nicht als Horchender und Lauschender, sondern als Sprechender und Denkender verhält. Nicht nur, daß er damit sein Ohr gegen die Worte, die von dort her klingen, verschließt und so aus der ganzen wahren Vergangenheit ein Meer des Schweigens macht, er vergewaltigt auch die Offenbarungen, die er einmal vernommen hat und vielleicht noch immer vernimmt. Er wirft sich, wo er nur Objekt sein dürfte, zum Subjekt des Erkennens auf, er verkehrt, indem er auf seine Geschichte reflektiert, die hier gegebene Wertordnung in ihr Gegenteil. Aus der Vollkommenheit des Anfanges, des Ausganges wird die Unvollkommenheit, aus der Unvollkommenheit des Jetzt die Vollkommenheit und endlich demgemäß aus dem Abfall von Gott, bzw. vom paradiesischen Urzustand der allmähliche Aufstieg aus dem Nichts zur Höhe. Die Vergangenheitsbetrachtung hat also zwei einander entgegengesetzte Hauptmöglichkeiten, erstens die des Vernehmens oder Hörens vom Einst her, wobei das Jetzt angesprochenes Objekt und die Geschichte sprechendes Subjekt bleibt, und zweitens die des Reflektierens oder Sprechens in das Einst hinein, wobei sich das Verhältnis umkehrt und der Geschichte die Verstandeskategorien, die Gesetze der Esheit vorgeschrieben werden. Das uns bei Nennung des Wortes „Geschichte" vorschwebende Vergangenheitsbild ist nun aber keineswegs das Produkt nur einer einzigen der eben erwähnten Betrachtungsweisen, sondern vielmehr die Resultante aus beiden. Welche Gesetze das Ineinanderspiel der Extreme regeln, kann hier noch nicht erschöpfend gezeigt werden, weil wir uns vorläufig damit begnügen müssen, das Denken durch Andeutungen und
— 24 — in Anlehnung an gewohnte Vorstellungen, die später nicht durchwegs aufrechtzuerhalten sein werden, auf die ungewohnteren vorzubereiten. Wir wollen also etwa annehmen, daß nicht alle Epochen der Vergangenheit in gleicher Weise die Reflexion herausfordern, sondern einige von ihnen aus bestimmten Gründen denMenschen zur Anerkenntnis ihres Eigenwertes bereit finden, während anderen wieder umgekehrt diese Anerkenntnis entschieden verweigert wird. Ein solcher Grund könnte zum Beispiel der z e i t l i c h e A b s t a n d selbst sein. E s leuchtet ein, daß die weiter zurückliegenden Epochen im allgemeinen durch ihre Überlegenheit das Jetzt entschiedener bedrohen und in Frage stellen als die verhältnismäßig jüngeren, weshalb die Haltung des bloßen Horchers jenen gegenüber einen Verzicht auf den Gegenwartswert zur Voraussetzung hätte, dem sich der Lebenswille instinktiv widersetzt. Das die Geschichte betrachtende Subjekt wird darum das Bedürfnis fühlen, sich von der Last der Überlegenheit zu befreien und das heißt durch die Reflexion den noumenalen Wert in Unwert zu verkehren. Die Überlegenheit der jüngeren Epochen hingegen läßt sich leichter ertragen, und so tritt die Reflexion hier mindestens nicht mit der gleichen Energie in Aktion. Das Ohr bleibt sozusagen der Stimme des Gewesenen noch offen. Irgendwo auf der Zeitstrecke werden sich nun diese beiden Tendenzen, der Wille zur Entwertung und die Bereitschaft zur Anerkenntnis, begegnen, und das zwar so, daß der Punkt der Begegnung selbst als der Kulminationspunkt, das heißt als das Zeitalter des höchsten Wertes, der höchsten in der Geschichte verwirklichten Vollkommenheit erscheint, während von ihm aus nach vorne gegen das Jetzt wie auch nach rückwärts gegen den Uranfang zu der Wertgehalt sukzessive abnimmt. Als ein solcher Punkt, als eine solche Epoche kann etwa die klassische Antike angesehen werden. Ohne der geläufigen Auffassung schroff zu widersprechen, darf man den Weg bis zu ihr hin einen Aufstieg, den Weg von ihr herwärts einen Abstieg der menschlichen, wenigstens der ästhetischen Kulturentwicklung nennen. Damit soll natürlich keine dogmatische Behauptung aufgestellt sein. Wir wollen hier bloß klarmachen, daß jenes Geschichtsbild, das gerade in der Antike zu kulminieren scheint, das Produkt
— 25 — einer ganz bestimmten Vergangenheitsanschauung ist. Der bedingungslose Verehrer des klassischen Altertums läßt sich bis zu diesem hin von der Geschichte ansprechen, verschließt jedoch seine Ohren gegen die Stimme der ferneren Epochen, j a er verkehrt deren Eigenwerte reflektierend in ihr kontradiktorisches Gegenteil. Die ganze Geschichte zerfällt somit für ihn in zwei Hälften, in eine subjektive diesseitige und eine objektive jenseitige. Einem ähnlichen Schicksal unterliegen übrigens alle geschichtlichen Perioden. Jede hat ihren aufsteigenden Ast, ihren klassischen Kulminationspunkt und ihre Spätzeit. Die Vergangenheit gewinnt so eine Struktur, die jener der räumlichen Natur mindestens verwandt ist; denn auch die Natur zerlegt sich bekanntlich nach einem dualistischen Prinzip in das Anorganische und das Organische, in das Pflanzenreich und das Tierreich usw. Einen den klassischen Epochen der Geschichte entsprechenden Kulminationspunkt kennt sie freilich nicht, weil ihr als dem im Raum ausgebreiteten Objekt, als dem Ergebnis eines bereits abgeschlossenen Entwertungsprozesses jenes noumenale Wertzentrum fehlt, das uns, wenn wir hören, aus der Vergangenheit anspricht. In der Natur, in dieser bloßen Vorstellungswirklichkeit, gibt es immer nur ein einziges Zentrum, nämlich das wahrzunehmende und reflektierende Ich selbst. Allerdings verliert auch die Vergangenheit mit zunehmender Ertaubung des historischen Forschers ihre Bedeutsamkeit. Der Berührungspunkt der beiden Tendenzen rückt immer näher an das Jetzt heran. J e ausdrücklicher der Gegenwartsmensch allen Wert für sich beansprucht, das heißt auf sich als auf das Ziel des Geschehens reflektiert und dementsprechend alles außer ihm Daseiende und Dagewesene herabsetzt, um so entschiedener erscheint ihm die Geschichte als reiner Aufstieg, bis schließlich der Höhepunkt mit dem Jetzt zusammenfällt. Der Augenblick, da dies eintritt, da jede Fähigkeit, in der Vergangenheit das vernehmungswürdige Überlegene zu erkennen, schwindet, ist aber auch der Augenblick des Todes; denn nun sind die der Gegenwart aus dem Einst zufließenden Nährstoffe verbraucht. Nun hat das Subjekt die Sphäre des Wertes vollkommen verlassen und die Schwelle zum Nichts überschritten. Im Sterben begreift der
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reflektierende und reflektierte Geist endlich seine eigene Negativität. Er findet sich auf einer Zeitstrecke, die für seinen Blick aus dem Nichts heraufsteigt und über das Nichts des versinkenden Jetztaugenblickes hinweg dem Nichts einer unendlich fernen Zukunft entgegeneilt. Diese qualitätslose Zeit ist eben das gänzlich veräußerte „Licht", so wie es sich dem zum absoluten Schwer- oder Trägheitspunkt zusammengeschrumpften Ich darstellt. *
Die bisherigen Überlegungen haben sich keineswegs im luftleeren Raum des absoluten Geistes bewegt, sondern ruhen auf durchaus konkreten und realen Grundlagen. Daß sich unser Geschichtsbild immer mehr dem rein begrifflichen, dem allmählichen Aufstieg aus dem Nichts usw. annähert, daß wir in die Vergangenheit nicht horchen, sondern sprechen wollen, daß wir, statt auf Offenbarungen zu warten, das Gewesene aus eigener Kraft zu ergründen suchen, daß also der Intellekt und nicht das Ohr das spezifische historische Organ unserer Zeit ist, das wird man kaum in Abrede zu stellen wagen. Gewiß ist die jüngere Geschichtsforschung gegen die naive Annahme eines kontinuierlichen Fortschrittes vom Unvollkommenen zum Vollkommenen längst skeptisch geworden, und es gibt heute keinen ernst zu nehmenden Historiker mehr, der mit dem beneidenswerten Optimismus des vergangenen Jahrhunderts an ein geschichtliches Entwicklungsgesetz nach dem Muster des Darwinismus glauben würde. Aber wenn man an die moderne Wissenschaft die Frage richtet, welches neue Prinzip sie denn wohl dem alten überlebten entgegenzusetzen habe, so ist die Antwort doch nur Verlegenheit. Die Mittel, mit welchen gearbeitet wird, sind übrigens aller Skepsis zum Trotz die alten geblieben, so daß man gegenwärtig beinahe von einem Positivismus oder von einem Als-Ob-Standpunkt auch der Geisteswissenschaften sprechen könnte. Der Positivismus ist jedoch stets verleugnete Resignation. Man glaubt zwar nicht mehr an den Wahrheitswert dessen, was man findet und erforscht, aber man verhält sich dessenungeachtet so, als ob man glauben würde oder doch wenigstens die wissenschaftliche Konstruktion nach den alten überkommenen Regeln für
— 27 — p r a k t i s c h brauchbar hielte. Dieser Standpunkt läßt sich schon in der Naturwissenschaft nur mit größten Schwierigkeiten aufrechterhalten. Immerhin gibt hier der Hinweis auf die technische Auswertungsmöglichkeit der Forschungsergebnisse der Weiterarbeit einen gewissen Schein von Berechtigung. Auf historischem Gebiet hingegen liegen die Verhältnisse wesentlich anders. Das Zeitobjekt, das Vergangenheitsobjekt ist praktisch in keiner Weise auswertbar. Hier kann der Sinn aller Forschung deshalb auch immer nur die Wahrheit sein und bleiben, weshalb der Positivismus oder Relativismus die ganze Wissenschaft einfach sinnlos machen muß. Uns interessiert hier aber weniger die Frage nach dem Wahrheitswert, den sich die wissenschaftlich betriebene historische Forschung selbst beimißt, als vielmehr die Methode, die, wie gesagt, allen bereits aufgestiegenen Zweifeln zum Trotz unentwegt weiter befolgt wird. Diese Methode gleicht in allen Stücken durchaus jener der Naturwissenschaft, das heißt auch sie unterwirft ihr Untersuchungsobjekt den Verstandeskategorien. Mehr über sie zu sagen, ist eigentlich gar nicht nötig; denn das allein reicht zu ihrer Charakterisierung vollkommen hin und beweist, daß hier nicht passiv, sondern aktiv wahrgenommen und daher der Ursinn der Geschichte geradewegs auf den Kopf gestellt wird. Es wäre aber auch sinnlos, nach irgendeiner neuen, dem Gegenstand angemesseneren Methode Ausschau halten zu wollen. Die Methode der streng rationalen Wissenschaft ist nämlich die einzige, die es überhaupt gibt und geben kann. Forschen und mit dem Verstand forschen, das heißt den Dingen die Kategorien vorschreiben, bedeutet ein und dasselbe. Darüber war sich schon K a n t vollkommen im klaren, und darüber kommt keine noch so spitzfindige oder verschrobene Wissenschaftstheorie hinweg. Entweder wird geforscht oder vernommen, jede weitere Möglichkeit bleibt a priori ausgeschlossen, und das Vernehmen ist natürlich keine Methode, die wir uns nach Belieben aneignen könnten, sondern bloß eine H a l t u n g , die alles Sprechen der Vergangenheit selbst überläßt. Es ist nun aber klar, daß die nicht abzuleugnende Entwertung und Verkehrung des Geschichtsbildes durch die Reflexion und die sich daraus ergebende Problematik der Ge-
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schichte ihre philosophische und das will eben sagen ihre p h ä n o m e n a l i s t i s c h e Lösung fordert, in der das Negative am Objekt als vom erkennenden Subjekt her bedingt erklärt wird. Wir haben also die Aufgabe, den die Geschichte in ihrer uns heute allgemein geläufigen Form gestaltenden Menschen erkenntnistheoretisch zu analysieren. Die „Historie" — und darunter wollen wir von nun an immer nur das besondere Geschichtsbild der Reflexion verstehen — ist ein Krankheitssymptom des zeitbedingten und der Zeit verfallenen Menschen. Die Heilung der Krankheit werden wir uns natürlich niemals zutrauen dürfen. Wohl aber wird es uns möglich sein, an Hand dieses Symptoms eine genaue Diagnose zu stellen und den Kranken, das heißt uns alle ohne Ausnahme, die wir aus dem Kerker unserer Intellektualität nicht heraus können, über seinen Zustand rücksichtslos aufzuklären. Einer der gegen jede systematische Geschichtsphilosophie auch heute noch erhobenen Haupt einwände besagt, daß die Geschichte ihrem Wesen nach ein Irrationales sei, weshalb die immer mit rationalen Mitteln arbeitende Philosophie an dem eigentlichen Kern des Gegenstandes notwendig vorbeisehen müsse. Die Geschichte ist, so meint man etwa, ein organisches Gebilde aus Gesetz und Freiheit. Der Verstand aber sieht immer nur das Gesetz, also nur die eine und offenbar weniger wichtige Seite des Ganzen. Dieses Argument verdient zweifellos Beachtung, ist aber auch durchaus nicht neu. Bereits S c h e l l i n g sagt einmal: „Es erhellt , daß ebensowenig eine absolut gesetzlose Reihe von Begebenheiten als eine absolut gesetzmäßige den Namen der Geschichte verdient"; und weiter, „daß alles, was nach einem bestimmten Mechanismus erfolgt, oder seine Theorie a priori hat, gar nicht Objekt der Geschichte sei. Theorie und Geschichte sind völlig Entgegengesetzte. Der Mensch hat nur deswegen Geschichte, weil, was er tun wird, sich nach keiner Theorie zum voraus berechnen läßt. Die Willkür ist insofern die Göttin der Geschichte". Gewiß sind Theorie und Geschichte, wie Schelling hier meint, völlig Entgegengesetzte. Aber diese an sich richtige Behauptung erfordert doch wohl eine genauere Definition des Geschichtsbegriffes. Daß die Geschichte ihrem wahren G e h a l t nach theoretisch nicht zu
— 29 — erfassen ist, ja daß sie das diametrale Gegenteil eines bloßen Verstandesobjektes darstellt, weil sie nicht erkannt, sondern gehört werden will, deckt sich vollkommen mit der hier vertretenen Auffassung. Aber unsere Geschichtsphilosophie hat es eben auch gar nicht mit jener Geschichte zu tun, die eine Angelegenheit des Horchens bleibt, sondern mit der ganz anderen, die sich der reflektierende Menschengeist gebaut hat. Und von dieser Geschichte behaupten wollen, sie sei der Theorie völlig entgegengesetzt, wäre widersinnig; denn sie ist ja selbst ein Produkt der Theorie. Wenn also der Geschichtsforscher, der mit den immer und ausschließlich rationalen Mitteln seiner Wissenschaft an die Vergangenheit herantritt, dem Philosophen verbieten will, die Gesetze dieser rationalisierten Geschichte an den Tag zu bringen, und sich ihm gegenüber auf die Irrationalität dessen beruft, das er selbst niemals als ein Irrationales behandelt, dann müssen wir ihn doch sehr bitten, erst einmal die eigene Methode einer strengen und rücksichtslosen Kritik zu unterziehen. Wir wiederholen daher nochmals: Die phänomenalistische Geschichtsphilosophie tastet die Vergangenheit, so wie sie an sich selbst ist, überhaupt nicht an. Ihr Objekt bleibt die H i s t o r i e , das nicht an sich reale, sondern erst vom forschenden Menschengeist intellektualistisclj gestaltete Geschichtsbild. Sie verfolgt lediglich das Ziel, die Phänomenalität dieses rationalen Geschichtsbildes aufzudecken, mit anderen Worten, zu zeigen, daß die nicht vernommene, sondern erforschte Geschichte gar nicht die Geschichte ist. Darüber hinaus wird sie allerdings noch dartun müssen, daß auch die wahre Geschichte, zwar nicht ihrem G e h a l t , wohl aber ihrem Verlauf nach einem strengen Gesetz gehorcht. Damit geschieht jedoch der berühmten „Irrationalität" durchaus kein Abbruch; denn als Verlauf, das heißt als rein zeitliches Phänomen ist die Vergangenheit auf jeden Fall ein Ergebnis der Reflexion, nämlich der Verneinung und Aufhebung entweder des Gewesenen durch das Jetzt oder des Jetzt durch das Gewesene. Die „wahre" Geschichte schlägt den Menschen mit seinen eigenen Waffen, sie stellt ihn unter die gleichen Kategorien, die er der Wirklichkeit im Raum und in der Zeit vorschreibt.
— 30 — Die unleugbare Tatsache, daß die v e r n o m m e n e Geschichte — und ein letzter Rest von ihr lebt auch noch in der rationalsten Historie — die Freiheit zur E r s c h e i n u n g bringt, hat zu dem irrigen Schluß geführt, die Freiheit sei auch das B e w e g u n g s p r i n z i p des historischen Geschehens. Hier verbirgt sich der Grundfehler des irrationalistischen Dogmas. Die in der Vergangenheit unter gewissen Voraussetzungen erscheinende Freiheit ist ja nichts weiter als der Wert, als die relative Vollkommenheit, von der wir uns entfernt haben. Daß aber der Prozeß der Entfernung von der Freiheit nicht selbst auch Freiheit sein kann, sondern dieser vielmehr kontradiktorisch entgegengesetzt sein muß, bedarf wohl keines umständlichen Beweises. Gerade weil also die Freiheit das Prinzip der Vergangenheit ist, haben wir in der Unfreiheit das Prinzip der Geschichte, das heißt des Abfalles von jener Vergangenheit zu suchen. Die landläufige Historie setzt jedoch die F r e i h e i t in d e n V e r l a u f u n d die U n f r e i h e i t in d e n G e h a l t d e r G e s c h i c h t e , sie läßt aus einem wenigstens relativ gebundenen Urzustand den Menschen durch Freiheit zur Gegenwart emporsteigen. *
Der ursprüngliche .dogmatische Phänomenalismus, der P h ä n o m e n a l i s m u s des R a u m e s , war noch durchaus starr. Er nahm das So-Sein der Vorstellungswelt als fixe Gegebenheit hin und unterschied sich insofern eigentlich gar nicht vom naiven Realismus. Die erkenntnistheoretische Kritik interessierte im Grunde bloß den Philosophen allein, aber nicht auch den wissenschaftlichen Denker; denn den Forschungsergebnissen wurde ja lediglich der m e t a p h y s i s c h e Wahrheitswert abgesprochen, auf den es der Wissenschaft als solcher nicht unbedingt ankommen muß. Auf diesem Standpunkt steht die Philosophie K a n t s . Kant spricht zwar von der „Idealität" nicht nur des Raumes, sondern auch der Zeit, aber unter d e r Zeit versteht er immer nur die qualitätslose unendliche Strecke, auf der sich die m e c h a n i s c h e n Bewegungsvorgänge abspielen, also in gewisser Hinsicht auch eine räumliche Kategorie, mit der sich insbesondere geschichtsphilosophisch nichts anfangen läßt. Die wenigen Stellen in der
— 31 — Antinomienlehre, die über den dogmatischen Raumphänomenalismus hinausweisen, sind weder von Kant selbst noch von seinen Nachfolgern ausgebaut worden. Das beinhaltet natürlich keinen Mangel. Die damalige Epoche war eben in der Lage, das sich i h r aufdrängende erkenntnistheoretische Problem raumphänomenalistisch in befriedigender Weise zu bewältigen. Aus der R e f l e x i o n a u c h a u f d a s r a u m p h ä n o m e n a l i s t i s c h e E r k e n n t n i s s u b j e k t ergibt sich nun aber in weiterer Folge mit Notwendigkeit der P h ä n o m e n a l i s m u s d e r Z e i t , weil ja, wie wir bereits wissen, die Zeit nur die Form ist, in der sich die Reflexion auf den Raum, bzw. auf die im Raum verneinte Gegenwartswelt und auch auf das Raumdenken darstellt. Wir können daher diesen Zeitphänomenalismus auch den Phänomenalismus z u r z w e i t e n P o t e n z nennen, der den Naturphänomenalismus der klassischen Philosophie in seiner Bedingtheit und Relativität aufdeckt, das heißt dessen absolute Geltung in Frage stellt. Da aber der solchermaßen neu gewonnene Standpunkt ein r e l a t i v i s t i s c h e r ist, muß er sich schließlich gegen sich selbst kehren, sozusagen s i c h s e l b s t v e r f a l l e n . Er begreift sich ebenso wie den naiven Realismus des Anfanges und den Raumphänomenalismus als bloße Anschauungsweise, die vom Entwicklungsgrad bzw. vom A b f a l l s g r a d des menschlichen Geistes abhängt. Der naive Realismus gilt insolange und insofern, als das Gegenwartsobjekt noch einen entsprechenden Gehalt an Selbstwertigkeit, das heißt an Duheit, aufzuweisen hat. Der Phänomenalismus des Raumes oder der Natur erscheint gefordert im Augenblick, da das kategoriale reflektierende Denken überhandnimmt und das Gegenüber ausdrücklich in ein Es verwandelt, diesem also seinen unmittelbar zu erfassenden Duwert raubt; denn nun muß sich das philosophische Ich selbst als die synthetische Einheit der Apperzeption, das heißt als den Brennpunkt aller gesetzhaften Naturnegation — und jedwede gesetzliche Bedingtheit ist Negation — erkennen. Noch aber weiß der Philosoph in diesem Stadium seines Denkens nicht, daß die nunmehrige Anschauung zeitlich relativ ist, sondern meint vielmehr, eine von allem Anfang an gültige Wahrheit gefunden
— 32 — zu haben. Er sieht daher in der Tatsache, daß der Mensch nur zu kategorialen Erfahrungen kommen kann, wohl eine Grenze für das Erkenntnisvermögen, aber doch noch nicht die Folge einer S c h u l d , bzw. er sühnt in der Selbstbeschränkung eine Schuld, die ihm als solche nicht bewußt wird. Dieses Bewußtsein kann sich erst mit der Reflexion auf die B e a n t w o r t u n g der Natur- oder Du-Verneinung, also mit der Reflexion auf die Zeit einstellen. Erst wenn der Mensch erkennt, daß nicht nur der negative Raum, sondern auch die Zeit, und zwar ausdrücklich die g e s c h i c h t l i c h e Zeit bloßes Phänomenon ist, und daß er in sich selbst auch den Brennpunkt dieser Anschauungsform zu suchen hat, sieht er die Schuldbedingtheit seiner Beschränkung ein. Wenn hier gesagt wird „bloßes Phänomenon", so heißt das natürlich nicht „bloßer Schein", etwa in dem Sinn, als ob die räumliche und geschichtliche Außenwelt für uns zwar nur Schein wäre, wir selbst aber in unserem eigenen Ich die lautere Wirklichkeit, das von allem Schein befreite Noumenon besäßen, so wie sich das ungefähr der spekulative Idealismus dachte, sondern vielmehr, daß g e r a d e wir bloßer Schein sind, sofern wir das Andere nur als Erscheinung wahrnehmen. Fassen wir aber unser Ich als Wirklichkeit, dann ist eben auch das Räumliche und Zeitliche außer uns so durchaus wirklich wie es nur überhaupt sein kann. Phänomenalist sein bedeutet somit in erster Linie sich selbst, und das Andere nur, soweit es durch das Selbst bedingt erscheint,.als Phänomenon begreifen. Aus dieser zeitphänomenalistischen Einsicht heraus wird jeder spekulative Idealismus und jeder wertphilosophische Optimismus zur Unmöglichkeit. Im ersten Abschnitt wurde gesagt, der Phänomenalismus stelle indirekt das Du, die Vollwirklichkeit der Gegenwartswelt wieder her. Das gilt aber, wie wir jetzt erkennen, streng genommen doch eigentlich nur vom Phänomenalismus des Raumes, also vom Phänomenalismus K a n t s . Der Phänomenalismus der Zeit bezieht sich jedoch bloß über diesen hinweg auf das räumliche Gegenüber. Im Grunde hat er es lediglich mit der Realität der Vergangenheit, vor allem mit der Realität Gottes als des Herrn der Vergangenheit zu tun. Der einzige Sinn aller richtig verstandenen Geschichtsphilo-
— 33 — sophie ist zuletzt der, die Leugnung Gottes wieder rückgängig zu machen, Gott auch für den erkennenden Menschengeist wieder in seine Herrschaft einzusetzen, freilich nur in Form der Verneinung des abgefallenen Menschen; denn die Philosophie kann nur verneinen und aufheben, mit anderen Worten nur der n e g a t i v e n S e i t e der G l a u b e n s f o r d e r u n g gerecht werden. Die Versuche unserer Zeit, dieser letzten philosophischen Pflicht auszuweichen, sind Legion. Sie alle aber kommen über den relativistischen Historismus nicht hinaus. Statt dem Jetzt das Nein entschieden zuzurufen, begnügt man sich mit ästhetisch-mythologisierenden und symbolistischen Halbheiten. Man will die Vergangenheit „erleben" und auf diese Weise ihrem Eigenwert Rechnung tragen, ohne dabei den festen Boden der eigenen Gegenwart zu verlassen. Aber mit solchen Schein- und Teillösungen kommt man eben doch nicht um die fatale Tatsache herum, daß auch der schönste erdichtete M ythos, wie ihn etwa die Männer des G e o r g e - K r e i s e s lieben, zu seinem realen Inhalt — und nur die Realität sollte doch in Frage stehen — letzten Endes ein unwiederbringlich Vergangenes, ein Nicht-mehr-Seiendes hat. Der ganze Historismus, zu dem auch der eben erwähnte Mythizismus gehört, ist nichts weiter als der Versuch, dem Einst zwar sein geraubtes Wesen zurückzugeben, dabei aber gleichzeitig dem Jetzt sein angemaßtes Wesen zu lassen. J a , man darf geradezu behaupten, daß die mit so viel Geräusch verkündete Wiederbewertung der Vergangenheit bloß den einen Zweck verfolgt, dem geforderten Opfer, das heißt dem radikalen Verzicht auf den Jetztwert auszuweichen. Man fühlt irgendwie das Bedrohliche der geistigen Situation und will sich nun gleichsam durch eine unbedeutende Abgabe, die nicht allzusehr schmerzt, von aller Schuld loskaufen. Dem historischen Relativismus wird die geschichtliche Zeit zu einer Wellenlinie, die zwar mit dem alten Fortschrittsglauben nicht mehr recht zusammenstimmt, auf der man aber immerhin zur Not leben kann. Die Geschichte erschöpft sich jedoch nicht in einem bloßen Auf-und-Ab. Sie hat eine sehr entschiedene Richtung, ein sehr eindeutiges Ziel, und dieses Ziel ist entweder der Wert, die Vollkommenheit, und zwar R e i s n t r , Geschichte als SOndeniall.
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— 34 — die Vollkommenheit im Jetzt, wie der erblindete Adam glaubt, oder das Nichts, wie wir hier glauben. Unsere Geschichtsphilosophie kehrt das herkömmliche Vergangenheitsbild radikal um, so daß alles, was wir in das Jetzt zu setzen gewöhnt sind, dem Anfang und alles, was wir in den Anfang setzen, dem Jetzt zufällt, bzw. daß alles, was wir gemeinhin für wirklich halten, als unwirklich und alles, was wir für unwirklich halten, als wirklich erkannt wird. Dieser notwendigen Umkehrung wegen werden wir vor allem den zeitlichen Abstand, den V e r g a n g e n h e i t s g r a d jedes geschichtlichen Phänomens als einen dessen Erscheinungsweise bestimmenden Faktor mit in Rechnung stellen müssen. Wir erkennen nämlich, daß der Vergangenheitsgrad, der mit dem N e g a t i o n s g r a d zusammenfällt — da ja ihm entsprechend das Vergangene als Nichtmehr-Seiendes gesetzt wird — rein als solcher für das Wie des Geschichtlichen konstitutive Bedeutung hat. Und an dieser Kardinaleinsicht wird in Hinkunft keine Geschichtsphilosophie vorbeigehen können. Wir stellen uns also mit aller Entschiedenheit auf den nur scheinbar paradoxen Standpunkt, daß jedes geschichtliche Ereignis, jede geschichtliche Person, jede Kulturerscheinung usw. wenigstens zum Teil als S c h ö p f u n g des J e t z t zu gelten hat und auch n u r als s o l c h e zu verstehen ist. Es wäre sonach vollkommen sinnlos, sich etwa in die Seele des Ägypters, des Griechen oder des mittelalterlichen Menschen „hineinleben" zu wollen, um so hinter das Geheimnis der objektiv vorliegenden Kulturrelikte zu kommen. Die Seele, aus der sich hier einzig und allein etwas verstehen läßt, ist meine eigene in ihrem zeitlichen Jetzt. Das Nicht-mehr-Sein, die Unwirklichkeit und die wenigstens relative Minderwertigkeit des Vergangenen habe ich, ebenso wie nach K a n t die kategorialen Naturgesetze, mir zuzuschreiben. Dabei bleibt aber zu beachten, daß in der Geschichte mit der zeitlichen Entfernung vom Jetzt die Ichbedingtheit des Erscheinenden sukzessive zunimmt, weil ja Vergangen-Sein Verneint-Sein bedeutet. So wird also etwa die ägyptische Kultur viel entschiedener als jene des 18. Jahrhunderts in ihrem besonderen Charakter aus dem historischen Abstand zu erklären sein; denn dieser größere Abstand ist nur die Form, in der sich das Nein, das von mir in die Zeit
— 35 — gesprochen wird und das auf mich zurückfällt, manifestiert, die Form, die das ganze Wesen jener Kultur e n t s c h e i d e n d bestimmt. Zum Schluß wäre noch zu bemerken, daß die phänomenalistische Geschichtsphilosophie das Fazit aller Philosophie überhaupt und damit die Philosophie der T o d e s s t u n d e ist. Wir aber leben noch und sind als Lebendige nicht imstande, diese Philosophie r e s t l o s zu Ende zu denken. Ein letztes Ungelöstes wird also immer noch für jenen Augenblick erübrigen, da alle Rede verstummt.
Paradies und Sündenfall. In der Erzählung vom Paradies gibt die biblische Offenbarung dem endlichen Verstand ein hinreichend angemessenes Bild von dem ewigen Urzustand und der Sündenlosigkeit des nach dem Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen. Gewiß wird hier das erste Paar wie überhaupt die gesamte Natur als in der Zeit aus dem Nichts hervorgegangen dargestellt, aber diese Darstellung ist doch nur ein Symbol für den abgefallenen Menschen, dem die Fähigkeit mangelt, das Ewige als Realität zu fassen und der nicht anders als eben in zeitlicher Form denken und vorstellen kann. Immerhin dürfen wir behaupten, daß Adam, wenn er die Möglichkeit hatte, sündenlos zu bleiben und sündenlos ewig zu leben, also o h n e E n d e in seinem ursprünglichen Zustand zu verharren, insofern a u c h k e i n e n A n f a n g in der Zeit gehabt haben konnte. Das In-Ewigkeit-Sein setzt das Von-Ewigkeit-her-Sein notwendig voraus, und wie das zeitliche Ende, so ist auch der zeitliche Anfang erst ein Ergebnis des Sündenfalls. Vorher waren die ersten Menschen, obgleich in einem überzeitlichen Sinn von Gott geschaffen, gerade so unentstanden wie Gott selbst. Und das gilt natürlich von der ganzen paradiesischen Wirklichkeit überhaupt. Auch sie ist kein in der Zeit Gewordenes, sondern ein von Ewigkeit her Gewesenes und von Gott Gewolltes. Die Vorstellung einer Kosmogonie, einer Weltentstehungsgeschichte, vor allem eines Anfangszustandes, da die Erde noch wüst und leer war und der Geist Gottes schöpfungsträchtig über den Wassern schwebte, konnte sich erst nach dem Verlust der Vollkommenheit einstellen. Dem nunmehr der Zeit verfallenden Menschen mußte seine geschöpfliche Abhängigkeit, seine Bedingtheit durch Gott als Entstehung in der Zeit erschei-
— 37 — nen. Die Sünde machte ihn zu einem Vergehenden und zu einem Entstandenen. In der Schöpfungsgeschichte vor dem Sündenfall haben wir nur das Korrelat zu der Sterbensgeschichte n a c h dem Sündenfall zu sehen, und was immer in ihr den Charakter der Zeitlichkeit trägt, kommt aus dem Aspekt des sich dem Tode nähernden Menschen, der das Paradies aus den Niederungen seiner Abgefallenheit wahrnimmt, wenn er es nämlich überhaupt wahrnimmt. Der Urzustand selbst aber weiß nichts von alldem; denn solange das „posse non pecare" gilt, gilt auch, wenigstens potentialiter, die Unentstandenheit. Die uns fast wie ein logischer Widerspruch anmutende Einheit von Geschaffensein und Ewigkeit war im ersten Menschen p a a r , in dem klaren Gegenüber des Ich und des Du schlichte Tatsache. Hier, in dieser Einheit, in dieser reinsten Gottebenbildlichkeit — und nicht etwa in Gott selbst, wie die mystische und idealistische Philosophie seit jeher geglaubt hat, — hat man die wahre „Idee" des Menschen zu suchen. Gott steht vollkommen jenseits aller geschöpflichen Spekulationen und aller Verbindungslinien, die sich etwa zwischen den einzelnen Vollkommenheitsgraden des Geschaffenen ziehen lassen. Die Vorstellung als ob Gott irgendwo in der Verlängerung der Strecke zu finden wäre, die von uns aus zum Paradiese hinführt, stammt geradeso wie die Zeitlichkeit der Weltschöpfung aus der Sünde, ja ist vielleicht sogar deren eklatanteste Manifestation, nämlich die Umdeutung der, wenn auch nur noch potentiellen Gottebenbildlichkeit in Gottgleichheit. Die Sündenlosigkeit und latende Ewigkeit des paradiesischen Zustandes hingegen beruht gerade darauf, daß die scharfe Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf nicht angetastet wird, daß der Mensch sich ausdrücklich als den von Gott Geschaffenen weiß, aus diesem Wissen heraus lebt und von G o t t D i s t a n z h ä l t . Das bedeutet aber selbstverständlich keineswegs bewußte Unterordnimg, denn damit wäre ja wieder die Vorstellung von Vollkommenheitsgraden verknüpft, sondern lediglich das beglückende Gefühl der Geborgenheit in Gott, des vollendeten Glaubens und unerschütterlichen Vertrauens. Hier ist Gott auch eigentlich noch nicht der Sprecher,
— 38 — der sich dem Menschen durch sein „ W o r t " offenbart. Er ist vielmehr der sich ständig Mitteilende, der niemals Schweigende, der sein Geschöpf in keinem einzigen Augenblick Verlassende. Das W o r t G o t t e s f ä l l t z u s a m m e n m i t dem ewigen L i c h t , so wie es im Johannes-Evangelium heißt: „In ihm (im Wort) war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen". Das Wort war also ein gegenwärtiges und zeitloses, kein aus der Vergangenheit gehörtes, wie alle Worte, die wir kennen. Erst nach dem Sündenfall „ h ö r t e " Adam die Stimme Gottes im Garten, erst jetzt wurde er von Gott im wörtlichen Sinne angesprochen, d.h. zum Objekt, zum minderwertigen e n d l i c h e n Geschöpf gemacht. Erst jetzt, nachdem er Gott mit sich verglichen hatte, erkannte er auch umgekehrt s i c h mit Gott verglichen, und dieser Vergleich schleuderte ihn in die Zeit, in die Daseinsform des Sprechens und des AngesprochenWerdens. Wenn gesagt wird, das Wort Gottes falle mit dem Licht in Eines zusammen, so soll das natürlich nicht heißen, Gott sei dem Licht wesensgleich. Mit einer solchen Auffassung kämen wir doch wieder nur zu den Postulaten der idealistischen Philosophie, von der wir uns mit aller Entschiedenheit fernhalten wollen. Gott ist nicht das Licht, er spendet es bloß oder vielleicht richtiger: er teilt sich den ersten Menschen in Lichtgestalt mit. Ob nur in Lichtgestalt oder auch noch in anderer, das läßt sich von uns aus nicht entscheiden. Wenn die Bibel Gott wie einen Menschen schildert, der mit Adam und Eva durch das Paradies schreitet, so haben wir jedenfalls keinen Grund, in diesem Bericht bloß eine kindliche Fabel zu sehen. Es wäre doch wohl denkbar, daß die ersten Menschen, die in ihrer Gottebenbildlichkeit um so vieles mehr als wir Personen waren, auch Gott, den Inbegriff alles Persönlichen überhaupt, als Person wahrnehmen konnten. Wie dem aber auch immer sein mag, wir wollen uns hier jeder Spekulation enthalten und nur bekennen, daß das unmittelbare Verhältnis des ersten Menschenpaares zu Gott unser Begriffsvermögen übersteigt, und daß wir uns damit begnügen müssen, im ewigen Licht die paradiesische Selbstoffenbarung Gottes zu erkennen.
— 39 — Wenn Gott spricht, so wendet er sich mit seinem Wort an diesen und jenen 1 ) und nur bedingt und jedenfalls m i t t e l b a r auch an die Anderen. Wenn er aber als Licht scheint, so schenkt er sich damit u n m i t t e l b a r der gesamten Schöpfung, ja er teilt sich hier geradezu als derjenige mit, in dem alles ohne Ausnahme in völlig gleicherweise beschlossen ist und ruht. Daher verhält sich auch im Zustand der Urzweiheit niemals das Subjekt, also Adam, allein, sondern immer nur gemeinsam mit dem Du, also mit Eva, zu Gott. Das Licht ist der Ausdruck der Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit. In ihm gibt es keine Absonderimg und keinen Individualismus, in ihm herrscht die vollkommenste Gemeinschaft. Eine Ahnung davon lebt auch in uns noch immer nach. Wohl sind wir Individualisten, und wohl gilt für uns die These von der Unmittelbarkeit jedes Einzelnen zu Gott, aber wir fühlen trotzdem, daß sich alle lebendige Religion nur in der Gemeinde bewähren könnte. Kann sie das nicht mehr, und erkennen wir uns im Religiösen wie auch sonst überall auf unsere Subjektivität beschränkt, so beweist eben gerade dieser Umstand deutlich unsere Gottesferne und die Unlebendigkeit unserer Religiosität. Die „Unmittelbarkeit jedes einzelnen zu Gott" ist im Grunde nichts als ein sehr euphemistischer Ausdruck für die Unmittelbarkeit jedes einzelnen zu seiner subjektiven Gottlosigkeit. Adam und Eva sind freilich nicht als e i n z e l n e unmittelbar zu Gott, aber doch auch nicht mittelbar einer durch den anderen, sondern eben unmittelbar als Z w e i h e i t , als Gemeinschaft. Das ist gewiß eine für uns Individualisten nur schwer zu vollziehende Vorstellung; denn für uns verbindet sich mit dem Begriff der Beziehung zum Nebenmenschen auch immer schon jener der Abhängigkeit von ihm. Wir haben die Liebe nicht mehr, die in dieser Beziehung erst die Verwirklichung der eigenen Persönlichkeit findet. Wir haben das Licht nicht mehr, das sich immer in gleicher Weise an das Ich und an das Du verschenkt und dessen ganze eigene Unmittelbarkeit des Sich - Verschenkens an beide die nämliche Unmittelbarkeit der Beziehung beider zueinander und in ihrer Ge') Also etwa an einen Propheten oder Apostel.
— 40 — meinschaft wieder zum Licht hin bedingt. Wir ziehen uns in die Einsamkeit unserer Einzelseelen zurück und nennen dann das leidvolle, oft verzweifelte Warten auf die Offenbarung durch das gesprochene Wort u n s e r e Unmittelbarkeit. Der Einsame ist kein Sehender mehr, sondern nur noch ein Horchender und in seinem ungeduldigen Horchen ein von Gott Verlassener. *
Die m e t a p h y s i s c h e Frage nach der Erschaffung Adams und Evas, d. h. die Frage nach der Entstehung der Zwei aus dem einigen Absoluten, die seit jeher das gnostischidealistische Denken beschäftigt hat, ist die typische Frage der Sünde selbst, nämlich des Menschen, der sich als Zweites, als Ich neben dem Du oder als Du neben dem Ich nicht genügt, sondern die All-Einheit Gottes für sich in Anspruch nimmt. Diese Frage bleibt aber grundsätzlich unlösbar, weil wir in unserem Denken ebenso wie in unserer naiven sinnlichen Wahrnehmung von allem Anfang an dualistisch bedingt, als Zweiheiten geschaffen sind. Das reine abstrakte Denken drängt allerdings der Einheit zu und sucht die sich vor allem dem Gesichtssinn bietende Dualität von Subjekt und Objekt aufzuheben bzw. es ist darauf aus, die Wirklichkeit des Objektiven zu zerstören, das Gegenüber des Ich in ein bloßes Nicht-Ich, das Du in ein Es zu verwandeln. Der Intellekt will die Negation. Sein Ziel ist immer und ausnahmslos die Herstellung der absoluten Einheit im Ich selbst, und zwar auf dem Weg über die Verneinung alles außer ihm Befindlichen. Mit anderen Worten: Er sucht die Vollwirklichkeit und Vollwertigkeit Gottes, die das reine J a ist und gar nichts anderes sein kann, durch das Nein zu gewinnen. Dieser einzige Zweck schwebt dem verstandesmäßigen Denken selbst dann vor, wenn sich das denkende Ich seiner letzten Absichten gar nicht klar bewußt ist, ja sogar, wenn es meint, mit den Mitteln des Verstandes gerade das reale Wesen seiner Objekte, das „Ding an sich" finden zu können. Daraus geht schon hervor, daß der Intellekt den Zustand der Urzweiheit von Ich und Du, wie er uns in der
— 41 — Offenbarung vom Paradies entgegentritt, niemals zu begreifen vermag. In jeder Reflexion wird das Objekt, also das Du mit den Kategorien überkleidet und so zu einem Bedingten, zu einem wenigstens relativen Nicht-Ich und Nichts herabgesetzt, stillschweigend als das dem Ich gegenüber Minderwertige angesehen. Die Gleichwertigkeit und Ebenbürtigkeit von Ich und Du kann eben nur der Gesichtssinn verstehen, und so bleibt auch uns, wenn wir uns jenen ursprünglichen verlorenen Zustand vergegenwärtigen wollen, keine andere Möglichkeit als das Hirn durch das Auge zu ersetzen. Für das Auge aber hat die Zweiheit als solche reale Existenz, und zwar in der Weise, daß beide Pole wohl nur in ihrer Polarität bestehen — kein Ich ohne Du und kein Du ohne Ich —, aber dennoch niemals Eines sein oder werden können. (Der Satz „Kein Du, kein Ich; kein Ich, kein Du" findet sich übrigens auch bei F i c h t e , „Wissenschaftslehre" von 1794, aber die Bezeichnung des Objektes als „Du" wirkt innerhalb eines philosophischen Systems, das in allem Gegenständlichen bloß die Beschränkung oder die Aufhebung des Ich, also ein Nicht-Ich sieht, wie ein Fremdkörper; denn das ist ja eben gerade das Wesentliche, wenn auch gewiß für den Verstand Paradoxe am Du, daß es das Ich nicht aufhebt und nicht einmal beschränkt. Wo dagegen von Aufhebung und Beschränkung die Rede ist, dort haben wir es nicht mehr mit einem Du, sondern bereits mit einem Es zu tun; und wie alle idealistischen Philosophen kennt auch Fichte das Objekt eigentlich nur in seiner Esform.) Das ursprüngliche Ich-Du-Verhältnis unterscheidet sich ebenso wie von der göttlichen All-Einheit, auch von der nachparadiesischen individuellen Vielheit grundsätzlich. Wo es eine Mehrzahl gibt, fehlt das absolute Gleichgewicht, das jenen Anfangszustand kennzeichnet. Das Du kann nur ein einziges sein, weil ich nur einem einzigen Menschen gleichzeitig in die Augen sehen, nur mit einem einzigen durch das L i c h t verbunden sein kann. Die Vielheit der „Nächsten" dagegen gehört in eine Welt, in der die Sprache oder der Gedanke, nicht aber das Auge herrscht. Das gesprochene Wort hat die Mehrzahl der Hörer geradezu zur Voraussetzung, sogar dann, wenn es sich zufällig nur an einen
— 42 — Einzelnen richtet. Die Sprache ist eben das Vehikel des Intellektes. Jedes Wort bedeutet einen Begriff, unter den sich eine Vielheit von Dingen schematisch zusammenfassen läßt, und somit postuliert es auch, indem es ausgesprochen wird, eine Vielheit. Der Sprecher degradiert den Angesprochenen zum Es, zum minderwertigen Objekt, zum gleichgültigen Einzelfall, der gemeinsam mit anderen ebenso gleichgültigen Einzelfällen derselben begrifflichen Allgemeinheit zugehört. Nach der subjektiven Seite hin bedeutet die Überschreitung der dem Geschöpf innerhalb des Ich-DuVerhältnisses gesetzten Grenzen Annäherung an die der Zweiheit übergeordnete Einheit, nach der objektiven Seite hin Auflösung oder Zersplitterung; denn eben weil sich das Ich in der Reflexion auf sein Eigensein selbst als das absolut Eine zu begreifen sucht, hebt es die persönliche Geschlossenheit seines Gegenüber auf, zerlegt dieses in eine Vielheit von Individuen und schließlich in eine unendliche Zahl von Atomen, die als Nichts-Punkte im leeren Raum verschwinden. Nur das Auge allein ist das Organ der Dubezogenheit. Der Sprecher nimmt dem Du, indem er es anspricht, den vollen Selbstwert. Die Sprache zerstört die Keuschheit, die ursprünglich zwischen dem Ich und dem Du besteht. Sie verneint einerseits die Realität des Angesprochenen, aber sie setzt andererseits, da sie ja gehört sein will, die verneinte Realität doch auch wieder voraus, sie bejaht also sozusagen das Angesprochene in seiner Verneintheit, s i e will das V e r n e i n t e a l s s o l c h e s w i r k l i c h h a b e n , und das eben ist das Kriterium des unkeuschen Verhältnisses zum Du. Wir können nicht von Liebe s p r e c h e n , ohne damit erstens unsere Keuschheit zu verlieren und zweitens das Geliebte zu entehren. Um dieses Verhängnis kommt auch kein Dichter jemals herum. Wir wollen unsere Liebe dem Anderen in Worten mitteilen, aber indem wir sie mitteilen, indem wir sie gleichsam von den Augen auf die Zunge verlegen, wird sie auch schon zur Lüge. Georg S i m m e l sagt an einer Stelle seiner Soziologie: „In dem Blick, der den Anderen in sich aufnimmt, offenbart man sich selbst; mit demselben Akt, in dem das Subjekt sein Objekt zu erkennen sucht, gibt es sich hier dem Objekt preis" und: „Man kann nicht durch
— 43 — das Auge nehmen, ohne zugleich zu geben". Dieses wechselseitige Sich-Anblicken, dieses In-sich-Aufnehmen und SichVerschenken in einem einzigen ewigen Akt ist eben die keusche Liebe des ersten Paares vor dem Fall, das wahre Urbild aller Liebe überhaupt; und deshalb gibt uns auch nur die von geschlechtlicher Begierde noch verhältnismäßig ungetrübte empirische Liebe eine gewisse Möglichkeit, die sündenlose paradiesische Seligkeit zu ahnen. Während sonst das ganze Leben immer irgendwie traumhaft und schattenhaft bleibt, und zwar gerade dann vor allem, wenn wir uns an seinen Härten stoßen, wird in den wenigen Augenblicken reinster Liebe unmittelbar eine Wirklichkeit wach, an der zu zweifeln dem Liebenden völlig unmöglich wäre, die jeden Subjektivismus zunichte macht und uns bereit findet, um ihretwillen alles übrige als bloßen Schein hinzugeben. Abgesehen von der religiösen Ergriffenheit ist die Liebe allein ein Letztgültiges, ein Hinweis auf jene Ewigkeit, die den anderen Werten des diesseitigen Lebens — auch dem ästhetischen Genuß — durchaus fehlt. Natürlich darf hier gerade nicht an das Geschlechtliche gedacht werden; denn dieses verkehrt j a eben die reale Liebeswelt in eine dämonische Traumwelt, setzt an die Stelle des Gesichtes die Sprache, die Reflexion und nimmt dem Du den echten Gehalt, den nur das Auge wahrnehmen kann. Die reine Liebe ist kein Verlangen nach dem Besitz des Geliebten, sondern bewußtes Einssein mit ihm in der d u r c h d a s L i c h t g e s e t z t e n D i s t a n z , ein Gefühl vergleichbar dem, das uns vor einem vollendeten Kunstwerk erfaßt, nur freilich bei weitem befriedigter und erfüllter, weil ja das, was hier bestenfalls bloßes Versprechen bleibt und auf eine außerwirkliche Welt hinweist, in der Liebe seine ganze Wirklichkeit findet. Der ästhetische Genuß kommt nur über ein Opfer hinweg zur Ausschaltung des Willens. Die wahre Liebe aber fordert kein Opfer. Hier schweigt der Wille, weil nichts mehr zu wollen erübrigt. Nach S c h e l l i n g öffnet die K u n s t dem Philosophen „das Allerheiligste, wo in ewiger und ursprünglicher Vereinigung, gleichsam in einer Flamme brennt, was in der Natur und Geschichte gesondert ist, und was im Leben und Handeln,
— 44 — ebenso wie im Denken, ewig sich fliehen muß". Wenn Schelling hier statt „Kunst" „Liebe" gesagt hätte, so hätte er damit einer letzten Wahrheit Ausdruck gegeben. Die Kunst ist, von allen anderen ihr sonst noch anhaftenden Fragwürdigkeiten vorläufig ganz abgesehen, schließlich doch nur ein Surrogat oder ein sehr unzulängliches Symbol für die absolute Liebe, die wir in unserer Wirklichkeit nicht mehr entdecken können. In dieser Liebe aber brennt tatsächlich in einer Flamme, was in Natur und Geschichte, d. h. in Raum und Zeit gesondert erscheint. Die Welt der Liebe und des Lichtes umgreift jede mögliche Realität, außer der Realität Gottes, der sie schafft. Sie hat die Ewigkeit des vollkommenen Ebenbildes in sich, die Bewegtheit der Zeit ebenso wie die Ruhe des Raumes. Sie gleicht jener kristallenen Wasserkugel, die in G o e t h e s „Paria" die Brahminenfrau aus dem Flusse hebt, die aber zwischen den Fingern zerrinnt, im Augenblick, da das schöpfende Weib, den vorbeischwebenden schönen Gott begehrend, seine Reinheit verliert. Mit einigem Vorbehalt darf man freilich auch das geliebte Du ein „Kunstwerk" des liebenden Ich nennen. Nicht ohne tiefen Grund läßt die biblische Offenbarung das Weib aus der Rippe des Mannes hervorgehen. Wenn Adam beim Anblick Evas in die begeisterten Worte ausbricht: „Das ist doch Bein von meinem Beine und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin heißen, darum, daß sie vom Manne genommen ist", so glauben wir hier fast einen Künstler zu hören, der sein eigenes vollendetes Werk bestaunt. Das Ich muß eben etwas von sich hergeben, damit das Du Wirklichkeit werden kann. Auch die Liebe hat schließlich einen gewissen Verzicht oder, wenn man will, ein gewisses „Opfer" zur Voraussetzung; denn alles Geliebt Werden ist immer nur die Antwort auf ein liebendes SichVerschenken. Wäre Adam vollkommen unbeteiligt an der Existenz Evas, dann könnte ihm diese niemals gleichwertiges und ebenbürtiges Gegenüber sein, sondern müßte ein fremdes Nebengeschöpf bleiben, das zwar auch aus den Händen des einen Schöpfers stammt, zu dem aber kein unmittelbarer Weg der Liebe hinüberführt. Das R i p p e n o p f e r Adams ist
— 45 — so nichts weiter als das z e i t l i c h e Symbol für den ewigen Akt des Anschauens, in dem sich der Schauende gleichzeitig den Blicken des Du aussetzt, also für die Liebe in ihrer lichthaften Urgestalt. Der Beitrag des Mannes bleibt aber am Ende eben doch nur eine Rippe, ein Knochenstück, das will sagen ein nahezu unorganischer und toter Bestandteil seiner Gesamt Wesenheit. Das Geistige und wahrhaft Lebendige des Weibes kommt nicht vom Mann, sondern ist genau ebenso wie das Leben Adams selbst ein unmittelbares Geschenk von oben. Nach der Schrift läßt Gott den Mann, bevor er ihm die Rippe nimmt, in einen tiefen Schlaf versinken. Damit soll offenbar das durchaus U n b e w u ß t e des Mitschöpfertums angedeutet sein. Das Weib ist wohl vom Manne g e n o m m e n , aber nicht aus seinem Willen erzeugt. Adam reflektiert nicht auf seine Teilhaberschaft, sondern anerkennt Gott als den alleinigen Schöpfer. Auch darin finden wir eine notwendige Bedingung für die Gleichwertigkeit Evas; denn wenn Adam in der Gefährtin ein Geschöpf seines eigenen Willens sehen würde, wenn er also seinen Beitrag gleichsam w a c h e n d geleistet hätte, dann wäre j a das Gleichgewicht von vornherein gestört, dann wäre der Mann nicht der Schauende und Angeschaute, sondern der Sprecher, der das Du anspricht und damit ausdrücklich zu seinem Objekt macht, dann wäre er geneigt, die Rippe, die, wie gesagt, doch nur ein totes Stück Knochen ist, mit dem ihn aus den Augen des Weibes anblickenden Leben zu verwechseln. Das Ich muß also wohl zum Sein des Du beigesteuert haben, aber es darf von seiner Leistung nichts wissen, es muß den Abstand wahren, den Gott in Form des Lichtes zwischen beide gesetzt hat. Die idealistische Philosophie stellt dem Ich unvermittelt das Nicht-Ich entgegen und betrachtet dann den sich aus diesem Urwiderspruch ergebenden Prozeß als dialektische Vermittelung der Gegensätze. Wir hingegen setzen umgekehrt die vollzogene Vermittelung, nämlich das Gleichgewicht von Ich und Du, an den Anfang und werden von hier aus den Abfall bis hin zum schroffsten Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich sich entwickeln sehen. Dieser Abfall ist der Abfall vom Licht, der Abfall von der Ausgewogenheit der
— 46 — Liebe und der wechselseitigen Wahrnehmung. Die Geschichte des Sehens fällt mit der Geschichte des Lebens überhaupt zusammen. Das Gesicht wird von der Sünde zerstört. *
Der Mensch, auch der noch sündenlose Mensch des paradiesischen Urzustandes, hat aber nicht nur zu Gott und zum Du, sondern auch zu sich selbst ein Verhältnis. E r ehrt und er achtet in sich genau ebenso wie im Du das G e s c h ö p f G o t t e s , und diese Achtung gebietet ihm erstens, seine Gottebenbildlichkeit nicht fortzuwerfen und zweitens den Abstand zwischen seiner eigenen Subjektivität und O b j e k t i v i t ä t zu respektieren, d. h. sich selbst nicht „zu nahe zu treten" und dementsprechend a u c h d a s Du sich nicht zu nahe treten zu lassen. Die Achtung vor dem Du, die Achtung vor dem Ich und die Achtung vor dem göttlichen Licht, das zwischen beiden webt, gehören untrennbar zusammen. Es gibt keine Ehrfurcht vor Gott ohne Liebe zum Du und keine Liebe zum Du ohne Achtung vor dem subjektiven Selbstwert. Diese Wahrheit bringt das dreifache c h r i s t l i c h e L i e b e s g e b o t in einfachster Form zum Ausdruck: ,,Du sollst Gott, deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und von allen deinen Kräften" und: „Du sollst deinen N ä c h s t e n lieben wie d i c h selbst". Es gibt eine Art Selbstbehauptung, einen heiligen Stolz, könnte man vielleicht sagen, der nichts mit prometheischem Trotz zu tun hat. Und wenn sogar noch dieser Trotz in seiner ganzen Verstocktheit eine gewisse, nicht wegzuleugnende Ehrwürdigkeit behält, ja uns geradezu Achtung für den hart bleibenden Sünder abnötigt, so offenbar nur deshalb, weil auch hier, obgleich mißverstanden und verkehrt, noch immer ein Rest von jener pflichtmäßigen Selbstbewahrung lebt. Der Mensch kann in seiner Auflehnung gegen Gott ein Heros bleiben, wenn er dabei an dem Bewußtsein, ein Geschöpf Gottes zu sein, mutig festhält. Das klingt freilich wie ein Widerspruch und ist ja auch im Grunde einer, aber eben ein Widerspruch, der lediglich daher kommt, daß der seinen geschöpflichen Eigenwert eifersüchtig hütende Mensch in Gott, gegen den er rebelliert, den Schöpfer aller Werte, also auch
— 47 — des eigenen nicht erkennt. Im übrigen ist, wie noch ausführlich gezeigt werden soll, der prometheische Heros viel mehr eine ästhetische als eine existentielle Möglichkeit, und es erscheint durchaus fraglich, ob ein Mensch über die kurze Dauer eines augenblicklichen Irrtums hinaus Gott ablehnen und dabei gleichzeitig sein Selbst achten kann; denn tatsächlich ist die demütige Haltung dem Schöpfer gegenüber mit dieser Achtung vor dem von ihm geschaffenen Ich wesensidentisch. Und wenn wirklich einmal ein wahrhaft selbstbewußter Mensch Gott Trotz bietet, dann handelt es sich offenbar nur um einen falschen Namen für ein Phantom. Allerdings schließt auch eine solche Gottblindheit die Sünde bereits ein; denn der Sündenlose weiß eben wer und was Gott ist. Unter dem „Selbstbewußtsein" des Menschen im paradiesischen Zustand hat man sich natürlich kein e i n s a m e s Reflektieren auf die eigene Vollkommenheit oder Unvollkommenheit vorzustellen, so wie wir es aus unserer endlichen Erfahrung nur zu genau kennen, sondern lediglich eine Art Freude über das Sich-Geschaffen- und Sich-Gehalten Wissen von Gott und über das Sich-Geliebt-Wissen vom Du. Trotzdem tragen wir kein Bedenken, diesem Zustand den Namen des Selbstbewußtseins zu geben. Es wäre hier wieder an das Erlebnis der reinen, durch keine geschlechtlichen Begierden getrübten Liebe zu erinnern. Wer überhaupt weiß, was mit dieser Liebe gemeint ist, der weiß auch, daß in ihr eine absolute Klarheit des Bewußtseins herrscht, die mit Dumpfheit oder Sinnesumnebelung, mit Rausch oder dionysischer Ekstase nichts zu schaffen hat, ja allen diesen wollüstigen Gefühlen des unbewußten Versinkens und Ertrinkens im „wogenden All", das heißt nämlich im Nichts, auf ewig diametral entgegengesetzt bleibt. Gerade die klare Scheidung von Gott, Ich und Du, die nur durch die Liebe überbrückt wird, zeichnet die Bewußtseinshaltung des paradiesischen Zustandes aus. *
Die Geschöpflichkeit des Menschen bedeutet im Hinblick auf die unendliche Vollkommenheit Gottes zwar ein Weniger, aber durchaus keinen Unwert, und selbst der Aus-
— 48 — druck „Weniger" darf, da er unserer getrübten Vorstellungswelt entnommen ist, nur mit größter Vorsicht gebraucht werden. Zwischen Gott und Mensch besteht überhaupt keine Vergleichsmöglichkeit, also auch kein Mehr und kein Weniger. Der paradiesische Adam ist nicht weniger vollkommen als Gott, sondern a l s E b e n b i l d Gottes gleichfalls schlechthin vollkommen. Wenn wir uns dessenungeachtet des Wortes „Weniger" auch weiterhin bedienen, so wollen wir damit in Ermangelung eines entsprechenderen Ausdruckes eben bloß jenen Abstand bezeichnen, der das Geschöpf vom Schöpfer grundsätzlich trennt. Zur Negation wird dieser Abstand erst durch die bewußte Entgegensetzung, durch die Unterscheidung zwischen Göttlich und Ungöttlich, zwischen Gut und Böse. Der Vergleich, die Sünde bedingt die Annahme eines Gott feindlichen finsteren, dämonischen oder mindestens tellurischen Prinzips, das einige Denker, wie etwa J a k o b B ö h m e oder S c h e l l i n g , da es ihnen die Absolutheit Gottes zu gefährden schien, als „Urgrund" wieder in Gott zurückverlegt haben. Aber in Gott gibt es tatsächlich keine Finsternis und keine dumpfe mütterlich-empfängnissüchtige Materie, sondern nichts als Licht, und auch das Geschöpf ist ursprünglich nichts als eine Geburt aus diesem Licht, ein freiwilliges G e s c h e n k des L i c h t e s . Das gilt sowohl vom Ich wie vom Du, nur erscheint das Du von der Geschöpflichkeit zum Schöpfer hin und nicht vom Schöpfer in die Geschöpflichkeit geschaffen. Adam geht unmittelbar aus der formenden Hand Gottes hervor, Eva hingegen wird aus der Rippe Adams gebildet. Hier erweist sich die Berechtigung des bekannten Satzes, der Mann sei Natur gewordener Geist, das Weib Geist gewordene Natur. In beiden aber ist genau dasselbe Gleichgewicht, genau dieselbe Realität. Adam erkennt s i c h in Eva wieder, nur sozusagen von der anderen Seite her, nämlich nicht von Gott, sondern zu Gott. Das Weib ist seine eigene Fleisch gewordene Antwort an den Schöpfer, der ihn geschaffen hat, der gebethafte Dank für sein Dasein. Die Geschöpflichkeit bedingt nun aber die Freiheit der Entscheidung für oder gegen Gott, für den Lebensbaum oder
— 49 — für den Erkenntnisbaum. Das Geschöpf hat rein als solches die Möglichkeit — freilich nur die Möglichkeit und keineswegs die Nötigung —, sich mit Gott zu v e r g l e i c h e n und damit sein Weniger, sein b l o ß e s Weniger als an sich seiende Wirklichkeit zu setzen. Hätte es diese Möglichkeit nicht, dann wäre es eben gar kein Geschöpf, gar kein von Gott unterschiedenes und selbständiges lebendiges Wesen. Durch den Vergleich mit Gott kehrt sich jedoch das ursprüngliche wahre Verhältnis augenblicklich um; denn ich kann mich nicht mit einem mir Überlegenen bewußt vergleichen, ohne damit auch meine U n t e r l e g e n h e i t als A b h ä n g i g k e i t und seine Ü b e r l e g e n h e i t als wenigstens teilweise V e r n e i n u n g meines eigenen Selbst zu empfinden. Der Vergleich hat also zur unmittelbaren Folge, daß Gott der Schöpfer und Inbegriff alles Positiven als das Vernichtende und das heißt auch schoil als das N e g a t i v e , das Weniger der Geschöpflichkeit, dessen Vernichtung gefürchtet und abgewehrt wird, hingegen als das P o s i t i v e erscheint; und das eben ist j a die Umkehrung des tatsächlichen Verhältnisses, eine Umkehrung, die nachträglich vielleicht t h e o r e t i s c h berichtigt werden kann, die aber insofern nicht mehr rückgängig zu machen ist, als die einmal aufgetauchte Unterscheidung zwischen Positiv und Negativ, zwischen Gut und Böse dem sündigen Bewußtsein bedingungslos eingeschrieben bleibt. Ich kann also wohl auch als abgefallener Mensch, als Sünder einsehen, daß meine Bewertung Gottes als des mich mit Vernichtung bedrohenden Negativen sowie meines eigenen Ich als des bedrohten Positiven falsch war, aber ich kann den einmal gesetzten Gegensatz von J a und Nein nicht mehr aus der Welt schaffen. Ist nicht Gott das Nein und bin nicht ich das J a , so ist eben umgekehrt Gott das J a und bin ich das Nein. In dieser so einfachen Wahrheit liegt das ganze Geheimnis von der Unabwendbarkeit des Todes wie überhaupt der Sühne beschlossen. Jede Sünde ist Unterscheidung zwischen Gut und Böse, jede Sühne die Sinnverkehrung des ursprünglichen Gegensatzverhältnisses, nämlich so, daß der sühnende Sünder sich selbst als den Quellpunkt des Bösen und der Negation begreift oder begreifen muß. Die Sünde ist Vergleich oder Reflexion zur ersten Potenz, die Sühne Reflexion zur R e i s n e r , Geschichte als Saadenfall.
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— 50 — zweiten Potenz, aber sie bleibt eben doch Reflexion und kann als solche den Unterschied, das Nein nicht aufheben. Diese abstrakten Erwägungen wollen aber durchaus keine Deutungen der biblischen Erzählung vom Paradies und vom Sündenfall sein, etwa in dem Sinn, als ob durch sie die konkrete handgreifliche Darstellung der Offenbarung überflüssig gemacht wäre. Der Lebensbaum, der Erkenntnisbaum und der Genuß der verbotenen Frucht, das sind zweifellos nicht nur kindliche oder primitive Symbole für an sich „geistige" Dinge, sondern lebendige sinnliche Wirklichkeiten, vielleicht sogar die sinnlichsten, die sich überhaupt denken lassen. Das Verbot Gottes war, wir können das ohne weiteres annehmen, tatsächlich ein S p e i s e v e r b o t . Von allen unseren „natürlichen" Verrichtungen ist ja das Essen ganz offensichtlich das ichbezüglichste. Hier kann der Mensch unmöglich von sich absehen, hier dient er ausdrücklich sich selbst und nur sich selbst. Nicht einmal der Geschlechtsgenuß ist im gleichen Grad egoistisch; denn er hat immerhin, auch in seinen niedrigsten Formen, eine gewisse Sympathie für das Du zur Voraussetzung. Wenn also Adam just um einer Speise willen das göttliche Gebot übertritt, so bedeutet das die denkbar entschiedenste Wendung zum eigenen Ich, und mit dieser Wendung ist dann selbstverständlich alles andere, was wir sonst noch Sünde nennen, auch die Geschlechtlichkeit, mitgesetzt. Ohne Einsicht in den metaphysischen Sinn des Essens und Trinkens bliebe das christliche Abendmahl unverständlich; denn hier soll eben gerade die selbstsüchtigste Handlung Gott dargebracht, soll der Mensch veranlaßt werden, ohne jeden Vorbehalt von sich abzusehen und Gott zu dienen: Esset nicht, um zu genießen, sondern zu m e i n e m Gedächtnis. *
Der Sünder sieht in Gott nicht mehr den ewigen Grund, das ewige Zentrum alles Lebens, sondern die ursächliche Bedingung und damit auch die Begrenzung seiner geschöpflichen Existenz. Er reflektiert auf sein Verhältnis zu Gott und wendet es so nach dem G e s e t z d e r V e r k e h r u n g ins Gegenteil. Er setzt sich an die Stelle Gottes, an die Stelle des
— 51 — Lichtes, d. h. er macht das wahre Licht zu seinem Widerspiel, also zur Finsternis oder, sofern es aller Reflexion und Verkehrung zum Trotz der Urgrund des Daseienden bleibt, zur schweren M a t e r i e . Vor dem Sündenfall gab es nur die Dreiheit G o t t — Du — Ich. Im Sündenfall aber wird Gott objektiviert, und aus jener ursprünglichen Dreiheit wird nun die andere: I c h — Du — E s , wobei das „Es" nichts weiter ist als das Produkt der Reflexion auf Gott, das absolut Rationale im Gegensatz zum absolut Irrationalen, nicht die lebendige und vertraute, sondern die tote und f r e m d e Wirklichkeit, nicht der geistige und persönliche Grund über uns, sondern der tote „Grund" u n t e r uns, der Grund, auf dem unsere Füße stehen und von dem wir nicht loskommen, der uns als mütterlicher Schoß hervorgebracht zu haben scheint und der uns, wenn wir sterben, wieder in sich zurücknimmt. Auf Gott kann man eben nicht reflektieren. Versucht man ihn trotzdem mit dem Verstand zu fassen, so entzieht er sich der Wahrnehmung, und zurück bleibt sein kontradiktorisches Gegenteil, auf das nun, da ja der Mensch glaubt, in ihm Gott selbst oder besser das letzte allmächtige Prinzip begriffen zu haben, alles übertragen wird, was sich vom Schöpfer in seiner Beziehung zum Geschöpf nicht ablösen läßt. Aber das Verhältnis zum schöpferischen Prinzip wird jetzt ein leidvolles; denn was der tote Grund seinen Geschöpfen schenkt, ist nicht das wahre Leben, sondern der Keim des Todes. Erst jetzt erweist sich die Abhängigkeit von Gott im vollen Sinne des Wortes als Abhängigkeit, nämlich als Begrenzung und Verneinung. Das Es ist also in erster Linie die Erde, an die sich der Mensch gefesselt sieht, der Inbegriff der S c h w e r e , die alles in einem einzigen Punkt aufzuheben und die freie Einzelexistenz des Geschöpfes zu vernichten sucht. Auch das Licht bindet die Wesen aneinander, aber doch in ganz anderer Weise. Es ist Verknüpfung und Trennung in Einem. Das v e r k e h r t e Licht, das reflektierte Licht oder die Schwere hingegen ist rationale mathematische Einheit, d. h. dimensionsloser Punkt, absolute Negation. Im Paradies erscheint die Schlange als das Symbol des Erdhaften und Schweren, als die Verführerin zur Reflexion auf Gott und zur Bejahung des eigenen gegen4*
— 52 — göttlichen Prinzips. Sie will, daß der Mensch zwischen Gut und Böse unterscheiden lerne, das bedeutet, daß er seine bloße Geschöpflichkeit, sein „Weniger", wie wir früher gesagt haben, als das eigentliche Reale und Gute setze und in allem Nichtgeschöpflichen das Böse, den Ursprung des Todes erkenne. Der Mensch dürfte sein Verhältnis zu Gott überhaupt nicht denken, sondern nur einfach in schlichter Dankbarkeit hinnehmen; denn im Denken des Verhältnisses a : b liegt implicite auch das Denken der Umkehrung b : a und das bedeutet Gottes zum Menschen. Wer aber dieses Verhältnis denkt, macht Gott zu seinem Objekt und stellt sich über ihn. über die Urvoraussetzung alles Denkens. Er wagt es, Gott, der allein das Wort in sich hat, a n z u s p r e c h e n und wird damit selbst ein von Gott in der Zeit und aus der Zeit heraus Angesprochener, er zwingt sozusagen Gott, sein ewiges Licht auszulöschen und sich von nun an nicht mehr dem Auge, sondern, wenn überhaupt, nur noch dem passiven, empfangenden Ohr zu offenbaren. Sehr tiefsinnig deutet einmal Karl B a r t h in seinem „Römerbrief" den erhobenen Arm Gottes auf dem die Erschaffung Evas darstellenden Teilgemälde der sixtinischen Decke als eine Geste der Warnung vor dem G e b e t , zu dem sich die Hände des erwachenden Weibes falten. Daß M i c h e l a n g e l o selbst etwas Ähnliches ausdrücken wollte, ist wohl kaum anzunehmen, aber die Deutung Barths bleibt nichtsdestoweniger richtig und aufschlußreich. Das erste Gebet ist tatsächlich die erste Gotteslästerung. Jeder Beter macht Gott zum Hörer und reflektiert irgendwie auf seine eigene geschöpfliche Abhängigkeit von ihm, als von dem B e h e r r s c h e r der Schöpfung. Der angebetete und angesprochene Gott hat immer etwas von einem Dämon, von einem Fetisch, den man seiner anerkannten Überlegenheit zum Trotz mit magischen Mitteln zur Erfüllung der menschlichen Bedürfnisse zwingen zu können meint. Im Akt des Ansprechens allein liegt schon die Voraussetzung einer gewissen Minderwertigkeit, einer Eshaftigkeit, also des widergöttlichen satanischen Prinzips in Gott selbst, und diese Voraussetzung ist die Ursünde. J e weiter wir uns von Gott entfernen, je ausdrücklicher wir unsere ge-
— 53 — schöpfliche Bedingtheit bloß tellurisch verstehen, um so lästerlicher wird das Gebet; denn um so weniger können wir Gott ansprechen, ohne gleichzeitig auf den Abstand zwischen ihm und uns zu reflektieren, ohne ihn also im Ansprechen mit Entschiedenheit zum Objekt zu machen. Im Geist und in der Wahrheit kann nur das Kind und der Unschuldige beten, d. h. jener, dem das Verhältnis des Sprechers zum Angesprochenen als des Aktiven zum Passiven noch gar nicht bewußt geworden ist. Wir Menschen von heute aber sind unendlich weit entfernt von aller Kindlichkeit, und so muß uns vor allem das Gebet verboten sein. Indem der Mensch zu Gott redet, zerstört er die Ewigkeit des Paradieses. Im Paradies hat die Gegenwart alle Zeit in sich. Der redende Mensch aber setzt die Zeit in sein Verhältnis zu Gott und beansprucht für sich die dem Zeitablauf entgegengesetzte Form der Dauer, das will sagen das J e t z t . Diese Reflexion auf die g e s c h ö p f l i c h e Gegenwart ist nur eine besondere Seite der schon besprochenen Reflexion auf das Licht; denn im Licht im Hier-und-dort, im ruhenden Gleichgewicht der Schöpfung offenbart sich j a eben die Gegenwart als ewige Dauer, als ein sozusagen zeitlich-zeitloser Zustand. Wird aber auf diese Gegenwart reflektiert, so verkehrt sie sich ebenso wie das Licht in ihr polares Gegenteil, in den Punkt, in das Nichts, in das Jetzt, über das die Zeit, aus der heraus der strafende Gott spricht oder aus der uns das gegengöttliche Es, die „fremde Wirklichkeit" mit Vernichtung bedroht, hinweggleitet. Es bleibt also im Grunde vollkommen gleichgültig, ob ich die Entstehung der Endlichkeit aus dem Ansprechen Gottes und dem damit verbundenen Setzen der Zeit als der Bahn, auf der sich das Wort bewegt, oder aus der Reflexion auf die Zeitlosigkeit des Geschöpfes erkläre. Beides ist nur ein einziger Akt, nämlich wieder die Bejahung der bloßen Geschöpflichkeit bzw. die Verneinung der Abhängigkeit vom Schöpfer. Wir können den Sprung aus der Ewigkeit des Paradieses in die Zeitlichkeit unserer empirischen Welt freilich auf keine Weise fassen, wir können uns nicht vorstellen, wie ein an sich dauerloser Zustand plötzlich in Dauer umschlagen, mit anderen Worten: wie der sündenlose Mensch unvermittelt zum Sünder werden
— 54 — kann, aber dieses Unvermögen hebt die Notwendigkeit der Annahme nicht auf. Es ist nur selbstverständlich, daß der mit seinem starrsinnig behaupteten Jetzt einmal in den Strom der Zeit geratene Mensch die klare E r i n n e r u n g an den einstigen Vollkommenheitszustand verloren, das Paradies und den noch immer in paradiesischer Gegenwärtigkeit gereiften Entschluß zur Sünde v e r g e s s e n haben muß.1) Schon in dem ersten Abschnitt dieses Kapitels wurde darauf hingewiesen, daß das Leben mit seinem Ende auch seinen Anfang bekommt, daß also der Abgefallene als solcher nicht nur nicht mehr in Ewigkeit, sondern auch nicht mehr von E w i g k e i t her existiert. Mit dem Sündenfall entscheidet sich der Mensch für seine Geschöpflichkeit und damit für seine G e s c h a f f e n h e i t , für seinen Anfang in der Zeit. Als der Abgefallene war er eigentlich gar niemals im Paradies und hat mit seiner Erinnerung auch seine Vergangenheit verloren, oder richtiger: er hat erst jetzt eine Vergangenheit, die aber eben, weil sie bloße Vergangenheit, das heißt Nicht-mehr-Sein ist, in das Urchaos, in den tellurischen Urgrund und nicht in die Ewigkeit einmündet. Er erscheint sich nunmehr „gemacht" aus Erde, aus der Substanz der Schlange und vermag auch das Paradies, sofern es ihm auf unbegreifliche Weise von Gott geoffenbart ist, nur als ein „Gemachtes" zu verstehen. Der Tod wird also nicht durch die Geburt, sondern umgekehrt die G e b u r t d u r c h den T o d gesetzt und bestimmt. Das sündige Geschöpf vergißt, indem es von Gott abfällt und sterblich wird, seine eigene ursprüngliche Ewigkeit, es begreift sich wie als Vergehendes so auch als Gewordenes und Entstandenes. Der Verlust Gottes, der Verlust des Lichtes fällt mit dem Verlust der Erinnerung zusammen. Für die später folgenden Ausführungen wäre als wesentlichstes Ergebnis dieses Abschnittes festzuhalten, daß der Sündenfall im Verhältnis zu Gott die Verkehrung des ewigen Schöpfertums in sein Gegenteil und daran anschließend die Ablehnung dieses Gegenteils als des uns bedingenden und mit ' ) Vgl. die Ausfahrungen K i e r k e g a a r d s in den „Philosophischen Brocken" Ober die sokratisch-platonische irduryaif.
— 55 — Vernichtung bedrohenden finsteren Prinzips, also, in Einem gesehen, die Ablehnung und Negation Gottes bedeutet. Das sündige Geschöpf lehnt sich gegen den Schöpfer auf, nicht nur sofern er dieses und jenes, sondern sofern er überhaupt ist; denn es will eben ein Ungeschaffenes sein. Von den anderen Wesensseiten der Sünde wird noch zu reden sein. Vor allem und in erster Linie aber heißt sündigen immer Gott verneinen, Gott ansprechen. Das radikale Nein ist der innerste Kern, die Entelechie des gesprochenen Wortes überhaupt. In der Einleitung wurde behauptet, alle Verneinung richte sich zunächst auf ein Gegenüber im Raum, womit gesagt zu sein scheint, daß gar nicht eigentlich Gott, sondern vielmehr das Du das ursprünglich und zuerst Verneinte oder wenigstens das zur Verneinung irgendeiner seiner Wesensseiten Herausfordernde ist. Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruches bietet aber keine Schwierigkeiten; denn eben in der Tatsache, daß der Mensch, daß Adam ein gleichzeitiges und gleichwertiges Du sich gegenüber findet, kommt j a seine eigene Geschöpflichkeit zum Ausdruck, und somit muß sich notwendigerweise die Ablehnung der Gottbedingtheit in erster Linie gegen das Du kehren, dessen bloße Existenz dem Ich sein „Weniger" im Verhältnis zu Gott ständig vor Augen hält und in dessen Gestalt sich ihm seine relative Begrenztheit objektiv faßlich darstellt. Das Du wird aber nicht ebenso wie Gott dem Gesamtgehalt nach, sondern nur sofern es gleichfalls gottbedingt, das heißt von Gott her dem Menschen als ein Zweites entgegengestellt erscheint, abgelehnt,weil es nur insofern eine Beschränkung der dem Ich geschenkten Freiheit und Eigenmacht bedeutet. Dagegen bleibt es als Produkt des Ich, als Bein von dessen Bein und Fleisch von dessen Fleisch, also als R i p p e durchaus unverneint. ,,Darum wird ein Mann seinen Vater und Mutter verlassen, und an seinem Weibe hangen, und sie werden sein Ein Fleisch." Wie Adam am eigenen Selbst gerade die Unterschiedenheit von Gott, das gewisse „Weniger" bejaht und für sein eigentlich Positives hält, so auch am Selbst Evas; denn in ihrem „Weniger" stammt ja Eva vom Manne und nicht von Gott her.
— 56 — Das Du wird in einem einzigen Akt verneint und bejaht, bejaht und verneint, und zwar verneint gerade indem es bejaht wird, weil das Bejahte nichts anderes ist als die Gottabgekehrtheit, die Gemeinschaft mit dem Ich, sofern dieses ebenfalls von Gott abgekehrt ist, also das N e g a t i v e . Ein Etwas seiner negativen Seite nach bejahen heißt aber es verneinen. Wenn Adam nur die Rippenhaftigkeit, nur die Materialität des Weibes sucht, seine Gottgegebenheit jedoch zurückweist, so stößt er es damit in das Nichts, in die Lichtlosigkeit, in die Schwere. Die Liebe zu dem nur geschöpflich gefaßten Du erweist sich so besehen als verkannter Haß. „Wir (Ich und Du) wollen sein wie Gott", das heißt: Wir wollen allein die „Synthese", die Einheit sein, die Gott durch das Licht zwischen uns herstellt. Diese dem Licht entgegengesetzte Einheit ist aber, wie wir wissen, der absolute Nullpunkt, auf den die Schwere zielt, das Nichts, in das für den reflektierenden Geist die göttliche All-Einheit umschlägt. So verfällt das erste Paar, indem es sich von Gott abwendet, gerade jenem Prinzip, das es in Gott selbst verlegt und dem es mit allen Mitteln zu entkommen sucht. Gott wird verneint, weil der Mensch seine bloße Ebenbildlichkeit als Beschränkung empfindet. Der beschränkende Gott aber ist tatsächlich nicht mehr der wahre, nicht mehr der Herr der Liebe und des Lichtes, sondern bereits der umgedeutete, der in sein Gegenteil verkehrte, also der dämonisch gedachte Inbegriff der Vernichtung und der Schwere, von dem sich der Mensch nun erst recht zu befreien trachtet. Wie immer aber auch Gott erscheinen mag oder richtiger vorgestellt werden mag, die Abwendung von ihm und die Hinwendung des Geschöpfes zum isolierten eigenen Selbst fällt auf jeden Fall mit der Hinwendung zum Nichts zusammen, und so gerät der Sünder notwendig in den Abgrund, dem er durch immer weitere Potenzierung der Sünde entfliehen will. Seit jeher hat man den ersten Sündenfall der ersten geschlechtlichen Vereinigung von Mann und Weib gleichgesetzt oder zu dieser doch wenigstens in engste Beziehung gebracht. Nun steht für uns wohl fest, daß Sünde in der Hauptsache etwas anderes ist als Geschlechtlichkeit, nämlich Revolution gegen die Herrschaft Gottes, aber wir werden
— 57 — trotzdem zugeben müssen, daß jene Meinung insofern ihre Berechtigung hat, als die Verkehrung des Lichtes in die Schwere mit der Verkehrung der reinen in die geschlechtliche Liebe untrennbar verknüpft bleibt und es sich daher hier eigentlich nur um verschiedene Spiegelungen oder Darstellungsweisen ein und desselben Vorganges handelt. Die geschlechtliche Einswerdung von Ich und Du kommt der Aufhebung des v o n G o t t z w i s c h e n b e i d e g e s e t z t e n A b s t a n d e s gleich, eben der Aufhebung des Lichtes, und umgekehrt die Aufhebung des Lichtes oder des Abstandes dem Zusammenfall der Körper, der Herstellung jener gewissen Einheit, d e r e n p r ä g n a n t e s S y m b o l A d a m s R i p p e i s t , der Vernichtungseinheit des Schwereprinzips (Sie werden sein ein Fleisch!). Die Abkehr von Gott, das sich selbst an Gottes Stelle Setzen, ist das sich selbst als Licht Setzen bzw. die Inanspruchnahme der im göttlichen Licht verwirklichten Synthese für den Menschen. Das Geschöpf aber findet von sich aus, da es vom Schöpfer grundsätzlich und ewig unterschieden bleibt, niemals einen Weg zum Licht, sondern immer nur die abschüssige Bahn zur Finsternis, und in der Finsternis eben treffen sich die von ihren Begierden getriebenen Leiber. Die Liebe steht im leuchtenden Tag, die Geschlechtlichkeit gehört der Nacht. 1 ) Der Abwendung vom Licht und der Aufhebung des geheiligten Abstandes entspricht natürlich auch eine wenigstens teilweise Herabsetzung und Entwertung des Du. ') Unter der „Geschlechtlichkeit" verstehen wir hier nicht nur das grob Sinnliche, sondern auch bereits jene mit Vorbehalt noch rein zu nennende E r o t i k , die Kunst und Dichtung seit jeher verherrlicht haben. Diese im engeren Sinn erotische Liebe sucht wohl nicht bewußt den sexuellen Genuß, j a widerstrebt ihm in ihren Anfangsstadien oft geradezu, aber indem sie die Einheit von leb und Du als a u s s c h l i e ß l i c h e n Wert setzt, indem sie sozusagen von Gott absieht und für sich selbst Absolutheit beansprucht, verfällt sie notwendig der Dialektik, hat sie trotz allem den Keim der Sexualität in sich und droht ständig in sinnliche Begierde umzuschlagen. Sie gleicht in dieser — wie noch in mancher anderer Hinsicht —• der S o n n e , d. h. dem retlektierten, dem geballten ungöttlichen Licht, das gleichfalls dialektisch ist und seiner Dialektik wegen untergehen muß, also dem Gesetz der Schwere unterworfen bleibt.
— 58 — Das Ich tritt dem Du zu nahe, es nimmt sozusagen auch den diesem von Gott zugewiesenen Platz ein und bringt damit seine Mißachtung für dessen Eigenexistenz, für dessen selbständige Geschöpflichkeit zum Ausdruck. Die unaufhebbare Andersartigkeit und Unterschiedenheit des Geliebten, die dem wahrhaft Liebenden gerade Widerspiegelung und Abglanz des Göttlichen ist, erscheint jetzt als bloße Abweichung von der Vollkommenheit, die das Ich für sich allein beansprucht, und das will sagen, als bloße Abweichung vom Wert überhaupt. Das Unwertige oder Gegenwertige aber ist das Es, und daher hält das Ich oder der Mann das Weib oder das Du für verknüpft mit diesem, das heißt mit der Schwere, mit dem Unten, mit der Erde, und zwar in demselben Maße als ihm der G e i s t , das Oben sein eigenes Sonderprinzip zu sein scheint. Das Weib wird so aus einem Gleichwertigen ein Minderwertiges, a u s e i n e m A n g e s c h a u t e n e i n A n g e s p r o c h e n e s , ein Bedachtes und Reflektiertes. Im sündenlosen Zustand der Urzweiheit waren Anschauen und Angeschautwerden, Besitzen und Besessenwerden Eines. Durch den Sündenfall treten sie auseinander, verliert der Gesichtssinn die Herrschaft und das von ihm Wahrgenommene die Möglichkeit voll zu befriedigen. Auch unsere heutige empirische Wirklichkeit läßt den Charakter dieses Überganges vom Sehen zum Sprechen noch deutlich erkennen. Wir wissen z. B., daß selbst der indezenteste Blick für eine Frau niemals so entwürdigend ist wie das Wort, das sie klar und brutal zur geschlechtlichen Hingabe auffordert; denn erst durch dieses Wort wird sie ihres Eigenwertes gänzlich beraubt und ausdrücklich zum Objekt des sie begehrenden Mannes gemacht, aus einem gleichfalls sehenden Du in ein nur noch hörendes und der Esheit angenähertes passives Wesen verwandelt. Und genau besehen ist jedes Wort der Liebe, auch das zarteste lyrische Gedicht nicht ausgenommen, eine solche Aufforderimg zum Geschlechtsakt, wenn nicht dem Inhalt, so doch jedenfalls dem Geist nach, aus dem die hörbare Sprache nun einmal ihr Leben hat. Das Sprechen nimmt dem Eros die Flügel, und der flügellose Eros ist nur noch ein plumper, der Erde verhafteter Kobold.
— 59 — Wie das Göttliche durch die Reflexion für die menschliche Auffassung dunkler materieller Urgrund wird, so auch das Du, sofern es aus dem göttlichen Willen hervorgegangen ist. Das Schaffen Gottes erscheint jetzt nicht mehr als freier zeitloser Akt in der Ewigkeit des Lichtes, sondern als zeitliches Werden nach starren Naturgesetzen. Aus dem D a s e i n s g r u n d wird die D a s e i n s u r s a c h e . Und die gleiche Umwandlung erfährt das weibliche Du von seiner Gottbedingtheit her, die nunmehr Naturbedingtheit ist. Die Geliebte, die in ihrem antwortenden Blick sich dem Liebenden schenkt und ihm ihr Selbst indem Maße erschließt, als er ihr im Anschauen das eigene überläßt, wird jetzt unbeschenkte Schenkerin, das heißt Gebärerin oder Mutter, also bloße U r s a c h e . Im Zeugungsakt reflektiert der Mann auf seinen Anteil an der Entstehung des Du, auf sein Rippenopfer und betrachtet das Weib als durch sich bedingt, als ein von ihm abhängiges Geschöpf, das er nach Belieben wieder in sich zurücknehmen und an dessen Stelle er sich nach Belieben setzen darf. Für die andere und im Grunde ausschlaggebende Wesensseite der Geliebten aber, für ihre Geistigkeit, die unmittelbar aus den Händen des Schöpfers stammt und sich der Wahrnehmung nur im Abstand des Lichtes gibt, wird er blind. Das Verhältnis zum Weib nimmt damit jedoch dialektischen Charakter an. Wie das reflektierende Sich-über-Gott-Stellen des Menschen, dessen Abhängigkeit von Gott im negativen Sinne zur Folge hat, so gerät auch der Mann in Abhängigkeit vom Weibe, wenn er dessen Gottbedingtheit in Naturbedingtheit verkehrt. Seine eigene Leiblichkeit, also seine geschöpfliche Identität mit dem Du scheint ihm schließlich von diesem her gewirkt zu sein. Er muß sich notgedrungen selbst als ein vom Weibe Geborener erkennen. Geben und Nehmen, Besitzen und Besessenwerden, Anschauen und Angeschautwerden, Zeugen und Geborenwerden, das waren im Lichtleben des Urzustandes gleichzeitige simultane Akte oder eigentlich nur verschiedene Ansichten desselben Aktes. Jetzt aber ist aus der Simultaneität die Alternation geworden. Die Geburt folgt der Zeugung z e i t l i c h a l s A n t w o r t , und die Zeugung selbst kann nichts anderes sein als gleichfalls eine Antwort auf eine noch frühere Geburt
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Das ewige, im Licht gesehene und im Sehen geliebte Du schafft als Teilhaber am göttlichen Daseinsgrund ewig das Ich. Das verendlichte angesprochene Du aber schafft als bloße Daseinsursache am Ich gleichsam vorbei ein Drittes, nämlich das K i n d , und dieses erst wird in seinem Wachsen zur Begrenzung, zum Stellvertreter und Ablöser des Vaters. Der Mann begreift sich nicht nur als vom Weibe geboren, sondern auch als von der Frucht des Weibes verneint und aufgehoben. Sein Leben ist nur noch eine einzige kurze Etappe zwischen Geburt und Vernichtung. Was vor jener war und was nach dieser kommt, das fällt nicht mehr in den Bereich seiner Existenz. J e d e Geburt bedeutet ein Nein als Antwort auf das erste Nein, das der Vater im Zeugungsakt der geschöpflichen Unabhängigkeit des Weibes gesprochen hat, eine handgreifliche Widerlegung des männlichen Wahnes, in der geschlechtlichen Liebe vom Du Besitz ergriffen zu haben. Das eigenartige Überflüssigkeitsgefühl, das jeden Mann am Kindbett seiner Frau überkommt, stammt nicht so sehr aus dem peinlichen Bewußtsein, nicht helfen zu können, als vielmehr aus der ahnungsmäßigen Erkenntnis, durch das sich hier abspielende Ereignis als Ich endgültig erledigt und abgesetzt zu sein, und zwar abgesetzt zu sein gerade infolge der gleichen Handlung, in welcher der Mann sein Selbst bis zur Absolutheit zu steigern glaubte. Was uns am Verhältnis zwischen Mann und Weib in urbildhafter Form offenbar wird, bleibt aber keineswegs auf dieses Verhältnis allein beschränkt, sondern läßt sich überall dort beobachten, wo ein Mensch den anderen seiner geschöpflichen Gleichwertigkeit beraubt und zum bloßen Mittel im Dienste subjektiver Zwecke herabsetzt. Den Nächsten in irgendeiner Weise für sich benützen heißt immer auch schon, seine Duheit verneinen und ihn als bloßes Es betrachten, bildlich gesprochen, seinen Eigenwert ausschließlich in seiner Rippenhaftigkeit suchen. Und die Antwort auf diese Entwertung ist immer eine Art Geburt, die Hervorbringung eines Dritten, eines Ablösers in der Zeit. Auch hier wendet sich das Es am Ende gegen das Ich und erweist sich, gerade weil es nicht der Grund, sondern nur die gesetzhafte Ursache des Lebens sein kann, als dessen Bedingung und Verneinung.
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So bringt etwa das entrechtete Proletariat, das heißt die zum E s erniedrigte Menschenmasse in der Revolution den Bevorzugten deren eigene Vergänglichkeit zum Bewußtsein. Obwohl in Wahrheit die Sünde vom Manne ihren Ursprung nimmt, erscheint in der biblischen Offenbarung dennoch E v a als Verführerin. Das widerspricht aber in keiner Weise unserer Darstellung. Tatsächlich kommt alle Verführung vom Du; denn das Du ist das Zünglein an der Wage des Schicksals, das den Menschen vor die Entscheidung stellt, zwischen seiner Gottebenbildlichkeit und seinem „Weniger", zwischen seiner Geistigkeit und seiner Rippenhaftigkeit zu wählen. Das Du ist ja eben das Geschöpf Gottes und des Menschen zugleich. Es fordert diesen daher gleichsam auf, sich von Gott abzukehren und auf das eigene Schöpfungswerk, auf den eigenen Beitrag, auf das Bein von seinem Bein und das Fleisch von seinem Fleisch stolz zu sein. Das Weib verleitet den Mann vom Baum der Erkenntnis zu essen, das heißt die Tat zu entschleiern, die Gott vollbrachte, während Adam s c h l i e f . Der sündige Mensch will nicht schlafen und nicht sein schlafendes Ich vertrauensvoll der Hand des Schöpfers überlassen, sondern wachen und im Wachen selbst Schöpfer sein. Er will seinen Beitrag kennen und aus diesem Beitrag gegen Gott seine Eigenrechte ableiten. Er will mit dem Du, das er allein gezeugt zu haben meint, von sich aus die göttliche Einheit herstellen, die ihm das eifersüchtige Licht zu verwehren scheint, und das Licht auslöschen. So ist also das Weib, wie es die Bibel schildert, wohl die Verführerin zur Sünde, aber doch nicht in der Weise, daß es darum auch in erster Linie für die Sünde verantwortlich wäre. Verantwortlich bleibt vielmehr der Mann allein; denn nur er wird von Gott vor die Entscheidung gestellt. Eva hingegen verkörpert in sich gewissermaßen die F r a g e G o t t e s . Sie verlockt Adam zum Genuß der verbotenen Frucht, aber sie verlockt ihn — wenn der Ausdruck hier erlaubt ist — doch auch zur Standhaftigkeit. Sie hat nicht nur die Neigung, der Schlange zu gehorchen, sondern auch die andere, ihr den Kopf zu zertreten, und ihre Wahl hängt lediglich von der Wahl des Mannes ab. Darum eben ruft Gott nach
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dem Sündenfall: „Adam, wo bist d u ? " und nicht: „Eva, wo bist d u ? " Bedeutet die Sünde im Verhältnis zu Gott restlose und, wie früher gesagt wurde, r a d i k a l e Negation, so gilt dasselbe nicht auch von ihrem Verhältnis zum Du. Hier ließe sich mathematisch-symbolisch eher von e i n e r halben V e r n e i n u n g sprechen. Das Du ist das durch das Ich hindurch gesprochene Wort Gottes. Es wird verneint als Wort G o t t e s , aber nicht als das d u r c h d a s I c h h i n d u r c h gesprochene Wort, als Gebilde des Schöpfers, aber nicht als Rippe, nicht als Werk des Menschen. Man beachte hier den Ausdruck; denn das , , W e r k " wird uns später immer wieder beschäftigen und stets in allen seinen möglichen Formen auf Eva als auf sein eigentliches Urbild zurückweisen. Der wachend wirkende oder werkende Mensch ist der d u b e z ü g l i c h e Sünder, der sein Gegenüber in einem Akt bejaht und verneint, der statt zu schlafen und Gott das Schaffen zu überlassen, die Kraft des Schöpfers für sich selbst in Anspruch nimmt. *
Es erübrigt nun bloß noch eine kurze Betrachtung des Sündenfalls in seiner Bedeutung für das eigene Ich des Sünders. Alles Wesentliche über diesen Punkt enthalten ja eigentlich schon die beiden letzten Abschnitte; denn wir wissen, daß sowohl die radikale Negation Gottes wie die teilweise oder bedingte Negation des Du nur notwendige Begleiterscheinungen einer unbedingten Bejahung des geschöpflichen „Weniger", der Gottverschiedenheit und Gottabgekehrtheit im Ich darstellen. Der Mensch zieht den unendlichen Wert des Schöpfers auf sich herab, spricht Gott an und wird damit selbst ein in die Z e i t gestelltes angesprochenes Objekt, und das zwar ebenso von Gott wie vom Du aus, das heißt er erscheint sich als von Gott in einer Vergangenheit aus dem Nichts geschaffen und in einer Zukunft dem Nichts des Todes entgegengeführt, und er erscheint sich weiterhin als geboren vom mütterlichen Weibe und von der zur Mutter gemachten Geliebten bzw. von deren Leibesfrucht abgelöst und in das Gewesene zurückgestoßen. Schon der Zeugungs-
- 63 — akt, in dem der Mann nicht nur dem Weibe zu nahe kommt, sondern auch umgekehrt dieses sich zu nahe kommen läßt, offenbart die in der scheinbaren Selbstbehauptung verborgene Selbstverneinung. Der die göttliche Lichtschranke zwischen Ich und Du mutwillig durchbrechende Mensch wirft seine eigene geschöpfliche Würde, seine Gottebenbildlichkeit hin, gerade indem er sich bis zur Gottgleichheit zu erheben glaubt. Wir haben bereits erwähnt, daß in dem christlichen Grundgebot der Liebe zu Gott, zum Du und zum eigenen Ich der Vollkommenheitszustand vor dem Sündenfall als Forderung ausgedrückt erscheint. Diese drei Liebesrichtungen sind die drei D i m e n s i o n e n , in denen das vollwirkliche oder gottebenbildliche Geschöpf ursprünglich lebt. Sie bezeichnen eindeutig die drei Komponenten dessen, was wir als Ganzes die „ S i t t l i c h k e i t " nennen wollen, das r e l i g i ö s e , das e t h i s c h e und das m o r a l i s c h e Element des G u t e n . Der Ausdruck „Religion" ist eindeutig. Dagegen werden die beiden Begriffe „ E t h i k " und „Moral" hier wesentlich eingegrenzt. Wir verstehen nämlich in der Folge unter dem Ethischen bloß das Gute, sofern es sich auf das Du, das will sagen auf den Nächsten bezieht, unter dem Moralischen die von jedweder Außenbeziehung überhaupt losgelöste Eigensittlichkeit des Subjektes selbst. Als Richter kommt demnach im ersten Fall Gott, im zweiten die soziale Gemeinschaft, im dritten das Gewissen in Frage. Selbstverständlich wird sich eine vollkommen scharfe Trennung der drei Gebiete niemals durchführen lassen, schon deshalb nicht, weil, wie wir j a wissen, jede Verfehlung gegen einen der drei Beziehungspunkte stets auch die beiden anderen in Mitleidenschaft zieht. Es gibt keine Sünde gegen Gott, die nicht auch das Gewissen belasten würde und keine Mißhandlung des Nächsten, die nicht auchAuflehnung gegen die göttlichen Gebote, j a gegen Gott selbst wäre. „Was ihr getan habt Einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." Trotzdem aber ist die Scheidung vor allem aus methodologischen Gründen durchaus berechtigt. Es wird noch Gelegenheit sein, zu zeigen, daß die Menschheit in den verschiedenen Stadien ihres geschichtlichen Lebensweges keineswegs
— 64 immer in gleicher Weise auf die Stimme des Gewissens, auf das göttliche Gebot und auf das soziale Gesetz reagiert, sondern daß sich vielmehr jede einzelne Epoche vor den übrigen durch das stärkere Hervortreten einer besonderen Komponente des Gesamtsittlichen auszeichnet. Wenn wir früher die drei Komponenten „Dimensionen" genannt haben, so sollte das nicht nur ein beliebiges Wort sein, an dessen Stelle auch irgendein anderes treten könnte. Wir denken hier vielmehr tatsächlich an die drei Dimensionen des Raumes oder der im Raum gegebenen Körper. Wohl sind diese geometrischen Dimensionen mit jenen des Sittlichen nicht wesensidentisch, aber sie haben zu ihnen ihre unverkennbare symbolische Beziehung, die von hellsichtigeren Zeitaltern auch erkannt worden ist. Daß das Oben und Unten die Richtung zum Göttlichen bzw. zum gegengöttlichen Schwerpunkt versinnbildlicht, leuchtet sogar uns noch unmittelbar ein. Aber auch die horizontale Längen- oder Tiefendimension, das Vorne und Hinten, wird als Richtung auf das Du, auf das Gegenüber verständlich, sobald man in Betracht zieht, daß in ihr — die normale Körperhaltung natürlich vorausgesetzt — das Auge, also das spezifische Organ des Dusinnes wahrnimmt. Weniger überzeugend mag die Breite als Symbol der subjektiven Eigendimension erscheinen. Immerhin berechtigt uns die verschiedene Bewertung der rechten und linken Seite, hier gleichfalls eine ähnliche Beziehung zu suchen. Nach B a c h o f e n s tiefgründigen Kommentaren zu den Mythen des Altertums bedeutet die Linke das Weibliche oder genauer die Bindung des Menschen an die tellurischen Mächte, also an das nämliche negative Prinzip, das die erste Dimension durch das Unten, die zweite durch das Hinten ausdrückt. Der Wertgegensatz wird hier offenbar nur deshalb nicht ebenso sinnfällig wie in den beiden anderen Fällen, weil das Ich sich selbst, wenn überhaupt, so doch keineswegs mit der gleichen Entschiedenheit verneint wie Gott und das Du, mit anderen Worten, weil es die Unterscheidung zwischen Gut und Böse, von der es sein Verhältnis zum Schöpfer und zum Nebenmenschen bestimmen läßt, nicht auch auf die eigene Person anwendet, sondern diese gerade als über allen Gegensätzen stehend betrachten will.
— 65 — Im übrigen legen wir all dem vorläufig keine allzu große Bedeutung bei. Ob wir uns den vollwirklichen Menschen nur im geistigen Sinne dreidimensional denken, das heißt gleichmäßig bezogen auf Gott, auf das Du und auf das eigene Selbst, oder ob wir dafür halten, daß die geistige Dreidimensionalität in der körperlichen ihre symbolische Entsprechung finden müsse, ist jedenfalls für die unmittelbar folgenden Untersuchungen nicht von wesentlichem Belang. Die späteren Kapitel werden, wie wir hoffen, die Berechtigung des Ausdruckes immer deutlicher erweisen.
K c i t n c r , Geschichte als Sdndenfall.
Der W e g des Abfalls. Die archaische Zeit. Die eben abgeschlossenen Ausführungen sollten das Verständnis eröffnen für den Schicksalsweg der Menschheit, den wir die „ G e s c h i c h t e " nennen; denn diese Geschichte ist der S ü n d e n f a l l s e l b s t , so wie er sich dem getrübten Blick des Sünders in zeitlich auseinandergelegter Form darstellt, der a c h t e S c h ö p f u n g s t a g , der aber kein Schöpfungstag Gottes, sondern der des Menschen ist, das heißt nämlich der gewisse Tag, da Adam von der verbotenen Frucht ißt und, wie ihm vorhergesagt war, des Todes stirbt, der Tag, da die von Gott aufgebaute vollkommene Welt von der Sünde zerstört wird und aus ihrer ursprünglichen Ewigkeit in den Strom der Zeit gerät. Wollten wir uns den Sündenfall lediglich als ein einmaliges und endgültig abgeschlossenes Geschehnis der fernsten Vergangenheit vorstellen, an das dann erst die eigentliche Geschichte anknüpft, so müßten wir erstens die Tatsache, daß wir, die wir doch an jener Vergangenheit gar nicht teilhaben, dennoch ihre Schuld aufgebürdet erhielten, für höchst ungerecht halten, und müßte zweitens auch die Geschichte selbst für uns sinnlos werden; denn es läßt sich auf keine Weise verstehen, was eine in unbestimmte Fernen verlaufende Zeitstrecke, die doch am Wesentlichen gar nichts mehr ändert, zu bedeuten haben sollte. Die Lehre von der Erbsünde und die Geschichte können eben nur dann wahrhaft sinnvoll erscheinen, wenn sich in dieser uns bekannten Geschichte, der wir mit unserem endlichen Leben einmal angehören, der Sündenfall sowie das von Gott angedrohte Sterben vollzieht, wenn also mit anderen Worten diese Geschichte der W e g zum G e r i c h t ist. Nicht Adam, der Urvater und Einzel-
— 67 — mensch hat seine rein individuelle Schuld auf uns vererbt, sondern wir a l l e sind Adam; das heißt Adam erscheint s i c h s e l b s t , indem er den Tod erleidet, nicht mehr als einzige und einige subjektiv männliche Urperson, sondern als eine in Raum und Zeit ausgebreitete Vielheit von vergänglichen Individuen. Sein Sündigen ist auch schon sein Sterben, und das Jüngste Gericht ist der endgültige Abschluß dieses Prozesses, nämlich die Vollendung der Sünde und die Vollendung der Todesstrafe in Einem. Der gleiche Vorgang, der sich uns in der biblischen Offenbarung an einem einzigen Menschen, an dem M e n s c h e n a n s i c h sozusagen, urbildhaft darstellt, nimmt in der empirischen Geschichte seine nicht geoffenbarte, sondern konkret wirkliche Gestalt an. Damit soll aber die biblische Erzählung keineswegs bloß metaphorisch gedeutet sein, so etwa als ob Adam nur eine „mythologische" oder bildliche Personifikation der Gesamtmenschheit wäre. Unserer Meinung nach steht Adam vielmehr tatsächlich a l s s o l c h e r , also als einzelner am A n f a n g der Geschichte und ist doch auch gleichzeitig der Inbegriff der g a n z e n Geschichte. Die Zeitlichkeit des Geschehens ebenso wie die Vielheit der Individuen entstammt ja nur unserer Blindheit, und so müssen wir eben ihn, der wir selbst sind, der unsere eigene v e r l o r e n e Gesamtheit ist, ohne unsere Blindheit, das heißt ohne unsere zeitliche und räumliche Bedingtheit notgedrungen an den Anfang, in die Verlorenheit, in die Vergangenheit setzen. Adam selbst erscheint s i c h im Anfang als Adam und sieht späterhin, nach dem Sündenfall sein eigenes Adam-Sein im Gewesenen. Das damit berührte Problem der Zeitphänomenalität wollen wir aber in diesem Kapitel noch nicht ausschöpfen. Hier soll vielmehr die Geschichte, so wie sie sich uns zeigt, als ein wirklicher Vorgang schlicht hingenommen werden. Wir müssen deshalb vorläufig so sprechen, als ob das zeitliche Vergangenheitsbild in seiner uns geläufigen Form als solches einfach Realität hätte und werden die grundsätzliche Frage nach dem Warum gerade dieser Erscheinungsweise gar nicht aufwerfen. Augenblicklich handelt es sich nur um den Versuch, die in ihren groben Konturen ausnahmslos bekannte Geschehnisreihe als den vorgezeichneten Abfallsweg des 5*
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Menschengeschlechtes verständlich zu machen. Das Wort „Geschichte" ist j a freilich durchaus nicht eindeutig. Was etwa der Historiker unserer Zeit so nennt, fällt nicht zusammen mit der Geschichtsauffassung der biblischen Offenbarung oder mit dem mythologischen Vergangenheitsbild des antiken Griechentums, und wir sind heute längst nicht mehr dogmengläubig genug, um irgend einer dieser Anschauungen ungeprüft den Vorrang vor den beiden anderen einräumen zu können. Der Philosoph muß deshalb wohl sein Vorgehen einigermaßen begründen, wenn er sich um die verschiedenen Thesen und Hypothesen der historischen Fachwissenschaften wenig kümmert und, wie es eben hier geschieht, seinen Ausführungen einfach den biblischen Bericht zugrunde legt bzw. sich erst dort an die profane Geschichte hält, wo die Schrift keine Auskünfte mehr zu geben hat. Leider sehen wir uns aber gezwungen, in dieser Hinsicht vorläufig die Wohlmeinung des Lesers in Anspruch zu nehmen. Alle dringlichen Fragen, die sich auf die Berechtigung der gegewählten Methode beziehen, mögen einstweilen zurückgestellt werden. Das folgende Kapitel soll dann die wünschenswerten Aufklärungen bringen. Dort wird zu zeigen sein, daß wir die Geschichte, wenn wir in ihren Sinn überhaupt eindringen wollen, tatsächlich nur von der göttlichen Offenbarung her erfassen können und daß alle nicht geoffenbarten, sondern von der menschlichen Forschung oder von der menschlichen Dichtung geschaffenen Vergangenheitsbilder den Stempel des Unzulänglichen, ja des grundsätzlich Falschen und Verkehrten an sich tragen. Daß mit dieser gewiß unerläßlichen Klarlegung nicht gleich begonnen werden kann, hat seinen Grund in der fatalen Eindimensionalität des sprachlichen und schriftlichen Ausdruckes, dessen wir uns auch hier bedienen müssen, wo ein mehrdimensionales Problem zur Diskussion steht. *
Durch den Abfall zerstört der Mensch, wie wir gehört haben, sein dreifaches Verhältnis zu Gott, zum Du und zum eigenen Selbst, wobei allerdings die Abkehr von Gott der wesentliche Kern dieses ganzen Vorganges bleibt, während die Zerstörung des Du- und des Ich-Verhältnisses eigentlich
— 69 — nur als Folge- oder Begleiterscheinung hinzutritt. Die G e s c h i c h t e b r i n g t n u n die d r e i S e i t e n des S ü n d e n f a l l s in e x p l i z i t e r F o r m z u r D a r s t e l l u n g . Der Mensch löst sich gleichsam schrittweise von seinem vollkommenen Ursprung los, indem er zuerst Gott, dann das Du und zuletzt sich selbst aufzuheben trachtet. In jedem einzelnen Stadium des Weges nach abwärts versucht er aber auch, den verlorenen Zustand, das verlorene Gleichgewicht, die verlorene Ewigkeit zurückzugewinnen, und zwar nehmen diese Versuche der Dimension oder Wesensseite entsprechend, auf welche der Nachdruck gelegt wird, verschiedene Formen an. Das Streben des sündigen Menschen kann also entweder lediglich von dem Wunsch geleitet sein, den dem eigenen Ich aus dem Abfall erwachsenen Schaden wieder gut zu machen oder dahingehen, dem Du den geraubten vollen Wert zurückzuerstatten oder endlich in dem reinsten und höchsten Verlangen gipfeln, die Alleinherrschaft Gottes ohne Rücksicht auf das Wohl des Geschöpfes und unter radikalem Verzicht auf jeden eigenen Anspruch verwirklicht zu sehen. Wir wollen in Hinkunft den ersten Lösungsversuch den e g o i s t i s c h e n , den zweiten den ä s t h e t i s c h e n und den dritten den r e l i g i ö s e n bzw. allgemeiner den s i t t l i c h e n nennen. Die Urdreiheit Gott-Mann-Weib begründet also den Charakter nicht nur der einzelnen Etappen des Sündenfalls und das heißt der Geschichte, sondern ebenso auch jenen des konkreten geschichtlichen Handelns, der Kulturerscheinungen im weitesten Sinn des Wortes, der Lösungen und Scheinlösungen aller Konflikte, die sich notwendig aus dem Abfall ergeben. Da die drei Dimensionen ihre Beziehungen zu den einzelnen S i n n e n haben, läßt sich hier mehr als bloß bildlich auch von Lösungsversuchen des Hörens, des Sehens und des Denkens sprechen. Der religiöse Mensch nämlich öffnet sein Ohr dem göttlichen Wort, er will nur Hörer sein. Der äthetische hingegen fordert ein gleichwertiges und gleichzeitiges Du, ein geliebtes und liebendes Gegenüber, also sozusagen ein Gesichtsobjekt. Der Egoist aber verneint alles, was außer ihm existiert, er will weder hören noch sehen, sondern sprechen oder, was ja im Grunde dasselbe sagt,
— 70 — denken. Er überkleidet das Andere mit den Kategorien des Verstandes und setzt es auf diese Weise zum Es, zum Nichts herab. Er kann deshalb auch der t h e o r e t i s c h e Mensch heißen, wobei unter der Theorie die abstrakt vorgestellte, vom verneinten Objekt abgezogene bloße Form der Verneinimg und das bedeutet der E s - W a h r n e h m u n g im Gegensatz zur Du-Wahrnehmung, die eine Angelegenheit des Auges und zur Gott-Wahrnehmung, die eine Angelegenheit des Ohres ist, verstanden sein will. Gott wird gehört, das Du wird gesehen, das Es, das N i c h t - I c h wird gedacht. Im ersten Fall ist das Verhalten des Menschen reine Passivität, im zweiten Passivität und Aktivität zugleich, im dritten reine Aktivität und das heißt auch schon Anmaßung der göttlichen Allmacht. Zu beachten bleibt allerdings, daß das bloße Denken lediglich eine Verhaltungsweise des Subjektes und noch kein objektives Wirken ist. Ich kann mich mit jedem Ding, auch ohne zu ihm in unmittelbaren Kontakt zu treten, denkend beschäftigen, aber ich kann ein Sichtbares nicht sehen, wenn es nicht gegenwärtig ist und ein Hörbares nicht hören, wenn es mir nicht seine Realität direkt zum Bewußtsein bringt. Der Akt des Wahrnehmens bleibt daher im Denken von der ihm entsprechenden objektiven Tätigkeit ebenso geschieden wie das Ich vom Es als von seinem bewußt kontradiktorischen Gegensatz. Während etwa der lebendige Glaube an Gott ohne gottgefälliges praktisches Verhalten oder die Liebe zum Du ohne aktives Sich-Verschenken ausgeschlossen erscheint und wir deshalb das Vorhandensein des Glaubens oder der Liebe mit Recht in Zweifel ziehen, wenn die entsprechenden Werke fehlen, wird es keinem Menschen einfallen, z. B. die gedankliche Arbeit eines Ingenieurs gering einzuschätzen, nur weil er die von ihm erfundene und entworfene Maschine nicht auch wirklich gebaut hat. Der theoretische Mensch ist der in sich selbst webende, der alles, was er ist, auch ohne, ja eigentlich nur ohne jede Beziehung zum Andern ist, und so erscheint ihm dieses Andere sogar dann noch überflüssig, wenn es verneint wird, bzw. Verneinung und Überflüssigwerden für das denkende Ich fallen in Eins zusammen. Diese Bemerkungen sind wichtig, weil die offensichtliche Geschiedenheit von Theorie und Praxis dazu
— 71 — verleiten könnte, die Entwertung des Lebens und der Welt durch das theoretische Denken gar nicht ernst zu nehmen und zu glauben, der Mensch könne sich in seiner subjektiven Abgezogenheit sehr wohl theoretisch verhalten, ohne dabei an dem So-Sein des außer ihm Existierenden irgend etwas zu verändern. Darauf muß eben erwidert werden, daß nur der das Andere — Gott, das Du oder auch das eigene objektivierte Selbst — tätig Verneinende überhaupt imstande ist, sich in die Einsamkeit seiner Reflexion zurückzuziehen. Von allen Lösungsmöglichkeiten des durch die Sünde bedingten Zwiespaltes liegt die theoretisch-technische am nächsten, weil sie sich ja aus dem Charakter des Abfalles selbst ergibt. Bereits die Abkehr von Gott, das Ansprechen Gottes ist Reflexion auf Gott, Verkehrung seiner Absolutheit in Esheit, in ein Objekt des Verstandes und also Theorie. Man hat sich vorzustellen, daß in Adam vor dem Sündenfall die Beziehungen zu Gott, zum Du und zum Ich gleichsam g e s c h i c h t e t lagen, und zwar in der Weise, daß die erste die tiefste und die letzte die oberflächlichste oder objektivste war. In seiner Gottbezüglichkeit und Gottebenbildlichkeit ruhend erkennt sich Adam als von Gott gewolltes Geschöpf und sieht gleichsam von dort auf seine eigene Geschöpflichkeit herab. Im Sündenfall kehrt sich aber dieses Verhältnis um. Adam blickt nun nicht mehr von seiner Gottverbundenheit auf seine Geschöpflichkeit, sondern von dieser auf jene zurück, die Anschauung verkehrt sich in Re-flexion. Damit wird jedoch die ganze ursprüngliche Ordnung der Beziehungen, die Schichtung, wie früher gesagt wurde, auf den Kopf gestellt. Das Ruhen in Gott wird zur Abhängigkeit vonGott. Und jetzt erst setzt das im eigentlichen Sinn theoretische Verhalten ein, nämlich die intellektuelle Bearbeitung und Abscheidung des r e f l e k t i e r t e n Göttlichen, des Es, von dem man sich abhängig fühlt, und damit auch das praktische Streben, sich von diesem Es zu befreien, also der K a m p f gegen die S c h w e r e und gegen den T o d im denkbar weitesten Sinn der Ausdrücke. Die Dimension auf Gott, die wir von nun an der Kürze wegen die I. Dimension nennen wollen, kehrt ihre negative Seite heraus, das will sagen, sie weist nach u n t e n , und dieses Unten, dieses
— 72 — Reich der Naturmächte und Dämonen, trachtet nun der Mensch, der das Oben, den Platz Gottes für sich in Anspruch nimmt, endgültig zu besiegen. Auf das Du wird vorläufig noch nicht reflektiert, die Gemeinschaft mit ihm bleibt noch unangetastet, so daß sich also der Mensch in diesem Anfangsstadium der Sünde gleichsam als W i r oder W i r - I c h bloß dem absoluten Es, der Schwere, dem ins Unten verkehrten göttlichen Oben und damit indirekt auch Gott entgegenstellt. Er stößt die I. Dimension ab und entscheidet sich für ein z w e i d i m e n s i o n a l e s Sein. Schon jetzt wird deutlich, daß die hier gegebene Auffassung des Reflexionsvorganges jener des Idealismus bis herauf zu den vorsichtigen Neukantianern schroff entgegensteht, und es ist mit eine Aufgabe dieses Buches, die idealistische Philosophie als die typische Philosophie des in seine Gottfremdheit verstrickten Menschengeistes zu entschleiern. Der Idealismus nämlich ist grundsätzlich der Meinung, das denkende Subjekt könne sich durch Reflexion auf sich selbst zu immer höheren Graden der Bewußtheit, ja schließlich zum „Bewußtsein überhaupt" emporarbeiten und sb dem Absoluten wenigstens in unendlichem Progreß näherkommen. Wir hingegen wollen feststellen, daß gerade das Umgekehrte zutrifft, daß jeder Reflexionsakt das Herabsteigen auf eine tiefere Stufe und die d i a l e k t i s c h e V e r k e h r u n g der früheren, also der tatsächlich höheren, in ihr polares Gegenteil bedeutet. Der reflektierende Mensch gleicht auch noch als abstrakter Erkenntnistheoretiker prinzipiell dem Urvater Adam, der, indem er die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis genießt, von seiner Gottbezüglichkeit auf sein bloßes Geschöpf-Sein herabsinkt und dann von hier, also von seiner angemaßten Gottähnlichkeit oder Gottebenbürtigkeit aus im Gefühl des prometheischen Überwinders auf jene und auf ihren ewigen Bezugspunkt Gott zurückblickt. Es läßt sich nun aber auch der Fall denken, daß der bereits abgefallene Mensch die durch die Sünde gegebene Situation richtig erfaßt, das heißt die Negativität des objektiven Es als Folgeerscheinung seiner eigenen Reflexion auf Gott und damit als s e i n e S c h u l d begreift. Allerdings kann er niemals von sich aus zu dieser Erkenntnis finden, sondern nur dann,
— 73 — wenn er von dem verneinten und verlorenen Gott angesprochen wird, wenn von o b e n h e r das Wort der Offenbarung an sein Ohr dringt und er dieses als ein unverdientes Geschenk der Gnade vernimmt. Wie dem aber auch sein mag, jedenfalls ergreift ihn nun das Wissen um seine Schuld, und er fühlt sich veranlaßt oder doch wenigstens dringend aufgefordert, d i e R e f l e x i o n z u r ü c k z u n e h m e n . Gelegentlich dieser Rücknahme stellt sich aber heraus, daß das eigentliche Es gar nicht Gott bzw. die entgöttlichte objektive Natur der Schwere, sondern das abgefallene Ich selbst ist, daß sich eben dieses von Gott abgekehrt und damit dem U n t e n v e r s c h r i e b e n , also verneint hat. Die e x i s t e n t i e l l und n i c h t n u r t h e o r e t i s c h vollzogene Rückwendung kommt deshalb einer Abstoßung des entwerteten Ich und das bedeutet einem S e l b s t o p f e r gleich. Der dem göttlichen Gebot Gehorsame anerkennt so die Pflicht, die I I I . D i m e n s i o n , d . i . die Ichdimension, hinzugeben und solcherweise s e i n e S c h u l d zu s ü h n e n . Er strebt also genau wie der früher geschilderte beharrliche Sünder, der theoretisch-technische oder egoistische Mensch, einem z w e i d i m e n s i o n a len Zustand zu. Aber diese Zweidimensionalität befaßt eben nicht die II. und III., sondern die I. und II. Dimension in sich, und auch die II., die Du-Dimension nur insofern, als das Du Geschöpf und Ebenbild Gottes, d. h. nicht bloßes Produkt aus der Rippe Adams ist. Hier findet sich vielleicht eine hinreichende Erklärung für die oft bemerkten scheinbaren Widersprüche in den das Verhältnis zum Nächsten betreffenden Lehrsätzen Christi. Während nämlich Christus einerseits immer und immer wieder die Nächstenliebe zum Angelpunkt aller Sittlichkeit macht, befiehlt er anderseits doch auch seinen Jüngern, ihre Eltern, Geschwister, Kinder, Gatten und Freunde zu hassen und ruft sogar seiner eigenen Mutter die harten Worte zu: ,,Weib, was habe ich mit dir zu schaffen!" Diese Widersprüche wären tatsächlich unlösbar, wenn eben nicht das Du a priori zwei einander entgegengesetzte Seiten in sich vereinigt hätte, zwei Naturen, von denen die eine, die schrankenlos geliebt werden soll, aus dem Geist Gottes, die andere aber, die Jesus zu hassen befiehlt, aus der Rippe Adams stammt.
— 74 — Bedeutet also die theoretisch-technische Lösung die Herstellung eines zweidimensionalen Zustandes durch Abstoßung der gottbezüglichen bei Überbetonung der ichbezüglichen Dimension, so verwirklicht demgegenüber die religiöse zwar gleichfalls ein zweidimensionales Sein, aber gerade durch Abstoßung des Ich im Hinblick auf Gott. Zwischen diesen beiden Extremen bleibt jedoch noch eine dritte Möglichkeit offen, nämlich die nur t e i l w e i s e Rücknahme der Reflexion, so daß das abgefallene Ich wohl sein Selbst aufgibt, aber eben nicht im ganzen geforderten Ausmaß, sondern im Bewußtsein des Erfolges, den es von seinem Opfer für sich erwartet. Der Mensch will aus den Niederungen seiner Abgefallenheit her an der Wiederherstellung des vollkommenen Urzustandes Anteil nehmen, will, ohne sich restlos verloren zu haben, in das neue Paradies einziehen oder mit anderen Worten: kein G a n z o p f e r , sondern nur ein H a l b o p f e r bringen. Statt aus der Hoffart des Denkens und Sprechens zum willigen Hören, aus der Ichbezüglichkeit v o r b e h a l t l o s zur Gottbezüglichkeit zurückzukehren, bleibt der Opfernde sozusagen auf halbem Weg, nämlich in der S p h ä r e des S e h e n s , des Anschauens stehen. Die sehsinnliche Anschauung ist aber, wie wir wissen, die Form der Du-Wahrnehmung, und so läßt sich sagen, daß hier der Versuch gewagt wird, Gott nicht den ihm allein gebührenden Platz, das Oben einzuräumen, sondern ihn im G e g e n ü b e r zu bannen. Das Anerkennen des Oben hätte nämlich die radikale Selbstaufhebung des Anerkennenden, die Vernichtung des Ich, das selbst wie Gott sein wollte, zur Folge, und eben dieser Konsequenz der religiösen Forderung will der Halbopfernde entgehen. Er sucht den aus der Sünde geborenen Gegensatz von Gut und Böse, von Oben und Unten auszugleichen nicht indem er das Böse auf sich nimmt oder, was dasselbe bedeutet, sein empirisches Selbst ohne Rückhalt dem Unten überantwortet, sondern indem er die beiden Pole innerhalb seiner Wirklichkeit g e s t a l t e n d zur Synthese bringt. Der schwärmerische Glaube an die Wiederherstellbarkeit verlorener Synthesen ist bis auf den heutigen Tag das Merkmal des ä s t h e t i s c h e n Typus geblieben. Der ästhetische Mensch gibt Gott nicht die ihm zustehende Ehre, das
— 75 — heißt er wendet das Unten nicht in das Oben zurück, er begnügt sich vielmehr mit der Anerkennung Gottes in DuF o r m . E r h e b t das U n t e n b l o ß bis zur Höhe des H o r i z o n t e s e m p o r , auf dem er s e l b s t s t e h t . Eben dieser nur halben Anerkennung des Göttlichen entspricht die gleichfalls nur halbe Opferung des Ich. In der religiösen Lösung wird Gott aus dem Unten in das Oben und das Ich umgekehrt aus dem usurpierten Oben in das verdiente Unten gewendet, in der ästhetischen hingegen werden beide Akte, die ja freilich nur verschiedene Ansichtsseiten ein und desselben Aktes sind, in der Mitte des Weges, dort wo sie zur Begegnung kommen, gehemmt. Das Ich tritt, sich von oben herablassend, dem von unten heraufgehobenen Göttlichen gegenüber, und so verschmelzen Göttliches und Menschliches in gemeinsamer Duheit zu einem synthetischen Ganzen. Das Ergebnis ist der Gott-Mensch oder Mensch-Gott in Gestalt eines B i l d e s und das heißt ein ä s t h e t i s c h e s O b j e k t oder ein S y m b o l . Als sichtbares Zeichen sucht das Symbol allein vermöge seiner S i c h t b a r k e i t in Du-Form darzustellen, was seinem ganzen Wesen nach wohl alle Sichtbarkeit begründet, aber selbst unsichtbar bleibt. Das bedeutet, je nachdem, von welcher Seite der Vorgang betrachtet wird, die Herabwürdigung Gottes oder die Vergötzung des Du. Wie seinerzeit hört der Mensch abermals statt auf das göttliche Gebot auf die verführerischen Worte des Weibes. Der ästhetische Akt, in dem Gott als Bild geschaffen werden soll, gleicht im Prinzip durchaus der Erschaffung Evas aus dem Geist Gottes und aus der Rippe des Mannes; denn der Mensch gibt einen Teil und läßt den anderen Gott geben. Während aber diese Teilung ihren Sinn und ihre Berechtigung hat, wenn das Produkt ein dem Manne ebenbürtiges Geschöpf ist, wird sie hier, wo es sich ja um kein gleichwertiges Du, sondern eben um Gott handelt, zur Blasphemie. Das ästhetische Symbol, das Kunstwerk, ist also eine Wiederholung der Weibschöpfung, wobei jedoch nunmehr in Du-Form das Göttliche und das Menschliche gemeinsam angeschaut werden sollen, und zwar das Menschliche in seiner ursprünglichen Vollkommenheit. Man könnte deshalb auch sagen, der ästhetische Mensch kehrt nicht bis
— 76 — zur Ehrfurcht vor Gott, sondern nur bis zur Ehrfurcht vor Adam oder noch richtiger, bis zur Anbetung der m e t a p h y s i s c h e n E i n h e i t von Adam und Eva, von Ich und Du zurück. 1 ) Er vergöttert die Synthese, die „ I d e e des M e n s c h e n " , womit gleichzeitig Gott in die geschöpfliche Sphäre herabgezogen und die dem Menschen von Anbeginn gesetzte Schranke der Dualität überschritten wird. Nimmt der Religiöse das Wort Gottes einfach an, indem er sich lediglich als Hörer und Gehorcher verhält, so ist der ästhetische Gestalter immer Hörer u n d Sprecher, Nehmender u n d Gebender, Liebender u n d Geliebter zugleich, eben Sehender oder Schauender. Die Kunst gibt das vernommene göttliche Wort gleichsam weiter, aber nicht in dessen reiner Form, sondern gebrochen und in seinem Fluß gehemmt durch den Weitergebenden. Der Künstler schläft nicht wie Adam, da ihm Gott die Rippe nahm, er weiß sich vielmehr wachend wenigstens als tätiger Mitschöpfer seines Werkes. — Der Sünder, der sich an Gottes Stelle setzt, hebt die unendliche Distanz zwischen sich und dem Allmächtigen auf, der Religiöse stellt diese Distanz durch sein Selbstopfer vor dem Angesicht Gottes wieder her, der ästhetische Mensch endlich setzt Gott sozusagen auf D u - D i s t a n z . E r anerkennt ihn nicht als das ewige Licht, sondern bloß als das im Licht Gesehene. Das Rohmaterial, das der schaffende Künstler zu bearbeiten hat, ist erstens das E s und zweitens das Ich, das bedeutet im Anfangsstadium des Sündenfalles, mit dem wir es vorläufig allein zu tun haben, erstens die Schwere bzw. die ausschließlich dem Schwergesetz unterworfene anorganische Materie und zweitens das die Schwere und die Materie bewußt wahrnehmende s i n n l i c h e o d e r körperliche Subjekt. Die ästhetische Aufgabe wird also darin bestehen, dieses Subjekt in die schwere Materie h i n e i n z u b i l d e n , beide Pole gegeneinander zu führen und zu harmonischer Verschmelzung zu bringen. Und je nachdem, ob die Aufmerksamkeit des bildenden Künstlers mehr der halben Weshalb im Grunde alle Kunst, auch die „religiöse", eine Schöpfung des Eros ist.
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Rückführung der Schwere zum Licht, des Unten zum Oben bzw. zur gleichwertigen Mittellage des Gegenüber oder aber umgekehrt der Herabsenkung des Selbst in die Schwere gehört, wird das Werk mehr den Charakter des Göttlichen oder des Menschlichen anzunehmen scheinen. Ob aber so oder so, jedenfalls bleibt es ein Du, dessen spezifische Kategorie weder die Heiligkeit Gottes noch die Rationalität des Es, sondern die S c h ö n h e i t des W e i b e s und das heißt die besondere Wertform des Du-Objektes ist. Auf der ästhetischen Halblösung beruht alles, was wir im engeren Sinne mit dem Wort „ K u l t u r " zu bezeichnen pflegen, das heißt jedes Sichtbar- oder überhaupt Wahrnehmbar-Werden von Werten innerhalb des diesseitigen Lebens der Menschheit und der Völker. Kultur als bloß menschliche Schöpfung ist niemals etwas anderes als die ins Irdische übertragene Errungenschaft der Losgelöstheit vom Irdischen, des Verzichtes auf das Irdische, also euphemistisch ausgedrückt eine schöne Lüge, eine bloße Scheinlösung. Wenn uns das Vorhandensein einer Kultur trotzdem das Recht gibt, auf einen gewissen tatsächlichen Wertgehalt zu schließen, so liegt das daran, daß der von Gott gänzlich abgelöste Mensch auch zum Halbopfer unfähig wird, und daß infolgedessen die bloße Möglichkeit des Halbopfers immer auch die Möglichkeit des vollwertigen existentiellen Ganzopfers zur Voraussetzung hat. Was wir also hier in Wahrheit schätzen, ist gar nicht die Kultur selbst, die auf alle Fälle ein Scheinwert bleibt, sondern die den unseren überlegenen Anlagen ihrer Schöpfer. Man hat sich insbesondere seit S p e n g l e r angewöhnt, die Kultur für den polaren Gegensatz der sogenannten „Zivilisation" zu halten. Diese Meinung beruht aber auf einem grundsätzlichen Irrtum; denn der wahre Gegensatz der Zivilisation ist einzig und allein das Religiöse in seiner Aufhebung aller bloß menschlichen Zwecke. Die Kultur bleibt immer nur ein Kompromiß. Sie ist Halbreligion und auch Halbzivilisation. Inmitten seines technischen, zweckhaften und erfolgsüchtigen Lebens baut sich der Mensch diese Scheinwelt auf, nicht als Schöpfung eines vorher nicht dagewesenen Wertes, sondern als E r s a t z w e r t für ein endgültig
— 78 — Verlorenes, dessen tatsächliche Wiederherstellung ein weit radikaleres Opfer erfordern würde. Die Vorstellung, daß dem Kulturzeitalter ein relativ unvollkommener, roher und kulturloser Zustand vorangegangen sei, muß abgetan werden. Die Kultur entsteht erst in dem Augenblick, da sie nötig wird, d. h. da sich der Mensch aufgefordert weiß, das Opfer zu leisten. Solange sie noch fehlt, fehlt auch diese Nötigung, weil das Leben selbst über Werte verfügt, die alle Schein- und Ersatzwerte überflüssig machen. Jeder einzelne Augenblick der Geschichte hat genau so viel Kultur als dem jeweiligen Abgefallenheitsgrad der Menschheit entspricht. Damit ist auch schon gesagt, daß gerade die Epochen des Anfanges bei weitem kulturträchtiger sind als die späteren; denn schließlich stellt auch das Halbopfer an den Menschen Ansprüche, denen er aus seiner Verlorenheit heraus nicht mehr gerecht werden kann, ohne dabei seinen letzten subjektiven Wertrest zu verlieren. Aus dem Halbopfer wird dann sozusagen das Viertelopfer, das Achtelopfer, das Sechzehntelopfer, bis sich am Ende alle Kulturschöpfung in ein auch vom Du abgekehrtes treibhausartiges Wesen innerhalb der todkranken sterbenden Ichsphäre auflöst. In der ältesten Zeit unserer Geschichte wird die religiöse Lösung von Israel, die ästhetisch-kulturelle von Ägypten repräsentiert. Dem israelitischen Volk als dem auserwählten Träger der göttlichen Offenbarung ist die Aufgabe zugeteilt, das Selbstopfer zu bringen und die Wiedergeburt im Geist zu vollziehen. Ägypten dagegen wählt den Weg des ästhetischen Halbopfers, das heißt es sucht die Gottheit als Du im Bilde, im sichtbaren Symbol zu fassen. Das zeitweise Zusammentreffen gerade dieser beiden Völker, die vorübergehende Knechtschaft Israels und endlich der Auszug aus Ägypten hinter der göttlichen Feuersäule her, die Leiden des auserwählten Volkes in der Wüste Sinai, das bedeutet im Reich des Verzichtes und des Opfers und schließlich die Verheißung des gelobten Landes, das alles wirft ein scharfes Licht auf die Rollen, die beiden Völkern im Drama der Weltgeschichte zugedacht waren. Natürlich bedeutet aber die Auserwählung Israels keinen Lohn für irgendwelche Verdienste oder Vorzüge. Das jüdische Volk ist um nichts besser als seine Nach-
— 79 — barn, in mancher Hinsicht vielleicht sogar schlechter 1 ), aber WEIS in ihm von Anbeginn der religiösen Forderung widerstrebt, ist nicht so sehr die ästhetische als vielmehr die egoistische, die erfolgsüchtige Möglichkeit, also das genaue Gegenteil des Religiösen: das Selbst-wie-Gott-sein-Wollen. Daher auch die bis zum heutigen T a g zu beobachtende Mißdeutung der Auserwähltheit. Und gerade diese heillose Verlorenheit in der Sünde bewahrte das israelitische Volk vor der Hybris des typischen Kulturmenschen. Der Jude pocht nicht auf seine eigene Ehre und Würde als Mensch wie der mehr heroische Heide, er kennt seine geschöpfliche Niedrigkeit und sieht von allem Anfang an in Gott den ihm unendlich überlegenen, den ewig drohenden, strafenden und rächenden Herrn. Er ist der Zöllner, mit dem sich Gott lieber einläßt als mit dem Gerechten, weil er ihm in seiner Selbstverachtung ein willigeres Werkzeug ist. Gewiß erscheint der Weg von der Niedrigkeit zur Höhe weiter als jener andere, der von der Mittellage seinen Ausgang nehmen könnte, aber diese Mittellage hält sich ja eben für Erfüllung, und deshalb trennt in Wahrheit sie die tiefere Kluft von Gott. Der ästhetische Mensch, der Heide im weitesten Sinn des Wortes, hat seinen Lohn dahin, nämlich seinen Du-Gott oder Halb-Gott, den er sich selbst als gleichgewichtiges, immer gegenwärtiges und niemals aus den Fernen des Vergangenen her zürnendes Gegenüber geschaffen hat. Ihm wird zur bloßen Torheit, zu einer der Rede und der Beachtung unwürdigen Verstiegenheit, was dem pharisäischen Juden aufwühlendes Ärgernis ist. Er lacht nur darüber, und die Lächerlichkeit tötet auch das Religiöse. Darum konnte es nur ein Jude und nicht ein Grieche oder Römer sein, den der Herr auf dem Weg nach Damaskus gleichsam mit einem einzigen Ruck von unten nach oben wandte. Die Sünde ist ein dialektischer Akt, eine Verkehrung und die Sühne ebenfalls. Der ästhetische Mensch ') ,,Nicht hat euch der Herr angenommen, und euch erwählet, darum daß euer mehr wäre denn alle Völker; denn du bist das kleinste unter allen Völkern". (5. Mose 7. 7.). Es ist ja gerade das ,,Verdienst** Israels, daß n i c h t s sein Verdienst ist, daß sich nichts auf besondere V o r z ü g e dieses Volkes zurückführen läßt, während die übrigen Völker Vorzüge haben, auf sie pochen und sich so der göttlichen Gnade verschließen
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aber sucht sich der Dialektik zu entziehen, sucht das zur Entscheidung auffordernde strenge Entweder-Oder durch sein kompromißlerisches Sowohl-als-Auch zu ersetzen und demgemäß in die verhängnisschwere Gegensätzlichkeit dieser abgefallenen Welt das undialektische Gleichgewicht des paradiesischen Urzustandes hineinzuzaubern. Israel und Ägypten bezeichnen jedoch nur den Anfang der Geschichte, den ersten Schritt oder den Auftakt des Sündenfalls. Die Verkehrung des Lichtes in die Schwere, des Oben in das Unten hebt hier wohl an, ist aber noch nicht vollzogen. In dieser archaischen Vorzeit beginnt erst die große Auseinandersetzung des Menschen mit seinem Schöpfer, mit dem Einen und Ungeteilten, eben mit dem Gott Israels, mit dem V a t e r , der den Menschen zwar aus dem Paradies verstoßen hat, ihn aber doch noch immer a l s V a t e r aus der Vergangenheit, aus den Tiefen des Verlorenen her anspricht und sich ihm durch seine Propheten offenbart. Diese Tatsache allein macht die Heiligkeit der isrealitischen Geschichte aus und gibt auch noch der Kulturwelt Ägyptens eine Größe und Erhabenheit, wie sie kein späteres Zeitalter mehr besessen hat. Gemessen an dem Isrealiten, verkörpert der Ägypter wohl das ästhetische Prinzip, aber seinen Bildnissen und Götzen fehlt noch jene naturalistische Menschenähnlichkeit, die wir in späteren Epochen antreffen. Der Kunsthistoriker sieht darin vielleicht einen Mangel. Wir aber müssen verstehen lernen, daß hier gerade eine ursprüngliche Ehrfurcht vor dem Göttlichen ihren Ausdruck findet, eine Ehrfurcht, die schon der klassische Grieche nicht mehr kennt. Nur weil der Ägypter noch nicht vollkommen gottlos ist, fühlt er sich verpflichtet, seinen sichtbaren Symbolen ein von der empirischen Menschengestalt abweichendes Aussehen zu geben. Das Symbol bleibt noch Durchblick für etwas, das über dem Menschen thront und von ihm grundsätzlich verschieden ist, das also nicht restlos in die DuForm eingeht. Wohl tragen die ägyptischen Götzenbilder gewöhnlich Tierköpfe und scheinen damit keine göttliche, sondern gerade umgekehrt eine untermenschliche oder dämonische Realität zu symbolisieren. Aber das hat seinen Grund in der d u r c h die h i s t o r i s c h e P e r s p e k t i v e b e d i n g t e n
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V e r k e h r u n g des Gewesenen, worüber im zweiten Hauptteil dieses Buches noch ausführlich zu sprechen sein wird.
Die erste klassische Epoche oder die Sünde gegen Gott. Was sich in der archaischen Vorzeit allmählich vorbereitet, findet in der A n t i k e seine Vollendung. Erst jetzt ist die Reflexion auf Gott, den Schöpfer und damit auch die Verkehrung des ewigen Lichtes in die Schwere als in das beherrschende negative Naturprinzip wirklich vollzogen. Erst jetzt fühlt sich der Mensch r e i n t h e o r e t i s c h von der Bindung an ein transzendentes persönliches und geistiges Wesen endgültig befreit. Da ihm nunmehr das Göttliche bloß in Es-Form, der „ G r u n d " bloß als das Unten erscheint, begreift er sich selbst ausdrücklich als dessen werthaften Gegensatz, als allein geistbegabtes und damit allem Naturhaften grundsätzlich überlegenes Ich. Selbstverständlich bleibt nichtsdestoweniger die natürliche Bindung in Gestalt des Schwereprinzips bestehen, j a diese Bindung macht sich sogar noch empfindlicher bemerkbar als früher, aber sie betrifft nicht den Menschen, sofern er sich vermöge seiner Geistigkeit von den der Schwere unterworfenen Körpern toto genere unterscheidet oder doch wenigstens zu unterscheiden glaubt. Der Mensch ist überzeugt, zur Herrschaft über die durchaus unwertige Natur berufen zu sein. Das spezifische Wesen des Objektiven verkörpert sich für ihn in der toten anorganischen, der Formung erst bedürftigen und auch zugänglichen Materie, in der amorphen Masse, vor allem im S t e i n . Dieser toten Materie als der eigentlichen Repräsentantin des Nichtmenschlichen gegenüber weiß er sich mit seinen Mitmenschen, d. h. mit dem Du solidarisch. Sein Selbst ist also noch nicht streng individualistisch, sondern mehr kollektivistisch gefärbt, kein Ich in dem uns geläufigen Sinn, sondern eher ein „Wir" oder präziser ein „Wir-Ich", also ein wohl individuelles Ich, in das aber die durchaus positiv empfundene Gemeinschaft mit dem Du immer noch hineinklingt. Abgestoßen erscheint lediglich die I. Dimension, das Oben, an dessen Stelle das Unten als eine dem Wesen des Menschen Reisner, Geschieh« als Sündenfall.
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fremde Komponente der natürlichen Dreidimensionalität getreten ist. Die II. und die III. Dimension hingegen sind bewahrt; und man könnte deshalb dieses Stadium des Abfalles der gemeinsamen Auflehnung Adams u n d Evas gegen Gott gleichsetzen. Ich glaube, B a c h o f e n sagt einmal, der antike Mensch sei der Mensch vor dem Geschlechtsakt. Die erstaunlich tiefe Wahrheit dieser Behauptung wird hier offenbar; denn die Negation, das sündhafte Nein, richtet sich eben tatsächlich noch gar nicht gegen das Du und führt darum auch nicht zu dessen Mißbrauch und Vergewaltigung. Die Dusphäre ist noch kaum problematisch, und somit fehlt die klar bewußte Unterscheidung zwischen Gut und Böse im erotischen Verhältnis, also zwischen der reinen Liebe der Seelen und der bloß fleischlichen Vereinigung der Körper. Anders gewendet: Der Mensch merkt noch nicht, daß es eben die S c h w e r e ist, in die er Gott verkehrt, durch die er Gott verneint hat und die ihm nun lediglich als objektives Naturprinzip erscheint, daß es also diese selbe Schwere ist, die ihn an das Du triebhaft fesselt und der er gerade in seiner Solidarität mit dem Du verfällt. Er glaubt vielmehr, im bloßen Wir, losgelöst von Gott, auch das Licht als das ihn mit seinem Gegenüber ewig verbindende Medium zu besitzen. Er hält sein eigenes Wir-Ich für den wahren Träger des Lichtes. — Man darf hier nicht etwa zum Gegenbeweis gewisse soziale Erscheinungen wie die Sklaverei u. ä. ins Treffen führen wollen. Derartige Tatsachen stützen gerade umgekehrt unseren eigenen Standpunkt; denn die Sklaverei ist nur dort möglich, wo die unüberbrückbare Kluft zwischen Ich und Du noch nicht besteht und wo eben deshalb dem Verhältnis zum Nächsten die tiefere Problematik durchaus fehlt. Der „Sklave" des Altertums ist gar nicht der Vergewaltigte, für den wir ihn halten. Er wäre das nur dann, wenn er u n s e r Sklave wäre. Das spezifische Organ der Objekterfassung ist in dem Stadium, von dem jetzt geredet wird, das Gesicht ergänzt durch den Tastsinn, den Sinn der S c h w e r e w a h r n e h m u n g . Das Gesehene wird „haptisch" auf seine Realität geprüft. Das bedeutet natürlich eine Art Reflexion auf das Sehen, eine teilweise Intellektualisierung der Sinnlichkeit, aber doch
— 83 — in der Weise, daß dem Intellekt eine lediglich sekundäre, dienende Rolle zukommt, während das Auge das eigentlich bevorzugte Organ bleibt. Im übrigen gilt der Antike das Denken selbst als Wahrnehmung, nämlich als Wahrnehmung von Realitäten höherer Ordnung, von I d e e n , also als eine vollkommenere Sinnlichkeit. — Wo der Widerstand der schweren Materie empfunden wird, trachtet man ihn, soweit weder die religiöse noch auch die ästhetische Lösung in Frage steht, theoretisch zu erfassen und technisch zu bewältigen. Die Antike ist die erste große Aufklärungszeit der Geschichte. In der Gestalt des Prometheus, der den Menschen das Feuer vom Himmel herabholt, hat sie sich ihren mythischen Heros und das eigentliche Symbol aller Aufklärung überhaupt geschaffen. Aber auch die meisten übrigen Heroen tragen unverkennbar prometheische Züge und geben sich als Sinnbilder der die Schwere besiegenden Menschenkraft zu erkennen, als Personifikationen der Idee jenes Geschlechtes, das aus dem Dunkeln ins Helle, aus der Finsternis des Unten in das Reich des Lichtes und der Freiheit strebt. *
Dem ersten Triumphgefühl der Aufklärung folgt aber bald die Einsicht, daß die bloß theoretisch-technische Bewältigung des Schwereprinzips nicht dessen endgültige Erledigung bedeuten kann und daß der Mensch der Materie am Ende doch verfallen bleibt, auch wenn er sich ihr als geistiges Wesen überlegen fühlt. Der unvermeidliche Tod, der schließliche Sieg des Hades über alle geschaffenen Wesen ist eben der Sieg des Unten oder der Schwere über die horizontale Ebene des irdischen Daseins bzw. über das Oben, das sich der Mensch erobert zu haben glaubt. Diese Einsicht drängt zu Lösungsversuchen anderer Art, und zwar ist die Lösung, nach der der klassische Mensch in erster Linie greift, die ä s t h e t i s c h e . Sie liegt ihm schon deshalb außerordentlich nahe, weil für ihn, wie bereits wiederholt betont wurde, das Gegenüber, das Du, noch kaum problematisch ist und er somit hoffen darf, in der Du-Form den Ausgleich aller ihn bedrängenden Widersprüche finden zu können, und weil er außerdem, was damit ja wohl enge zusammenhängt, der 6*
— 84 — s i n n l i c h wahrnehmende Mensch ist, der in seiner Wahrnehmung den Gesamtwert ergreifen will. Der ästhetische Gestalt ungswille setzt sich deshalb das Ziel, die I. Dimension, die Gottbezüglichkeit des Menschen für die Anschauung wiederherzustellen und sucht dieses Ziel durch das Halbopfer des Wir-Ich an die Schwere, das heißt durch dessen Einbildung in die Materie zu verwirklichen. Der tote S t e i n oder das tote E r z soll aus seiner Schweregebundenheit erlöst werden und Du-Form, das will sagen organische Gestalt annehmen. Aus der Gegeneinanderführung des Wirich und der schweren Materie ergibt sich so als vollkommenes ästhetisches Produkt die k l a s s i s c h e S t a t u e , der im menschenähnlichen Standbild verkörperte Gott. Es ist also keineswegs ein Zufall oder eine bloß technische Angelegenheit, wenn der griechische Plastiker seine Werke gerade in Marmor oder in Erz bildet und nicht etwa in Holz schneidet oder aus Teig knetet. Der Stein wird hier vielmehr zum sinnfälligen Repräsentanten jenes Prinzips, das durch das künstlerische Schaffen erlöst und aufgehoben werden soll, zum Repräsentanten des Unten, dem er vermöge der ihn beherrschenden Schwere ständig zuzustreben scheint. Und wie der Stein nicht gleichgültiges Material, sondern Stoff im Gegensatz zur Form und wie diese metaphysisch determiniert, so ist auch die vollendete Statue nicht bloß ein allegorisches Sinnbild des Gottes, den sie darstellt, sondern ganz und gar dieser Gott selbst, so wie er sich dem Menschen gleichsam zum Lohn für das gebrachte Halbopfer leibhaftig offenbart. Die Worte S c h e l l i n g s : „Wo weder das Allgemeine das Besondere, noch das Besondere das Allgemeine bedeutet, sondern wo beide absolut eins sind, ist das Symbolische," gelten im besonderen für die antike Götterstatue. Hier fließen tatsächlich Symbolisierendes und Symbolisiertes bis zur völligen gegenseitigen Durchdringung ineinander. Freilich muß demgegenüber die Frage aufgeworfen werden, ob ein solches Symbol, das in der sichtbaren Gestalt seine Vollendung findet und in keiner Weise über das Sichtbare hinausweist, noch als Symbol Gottes oder überhaupt des Göttlichen angesprochen werden darf. Die antike wie jede klassische Kunst ist optimistischer
— 85 — Naturalismus. Das wahrhaft göttliche Symbol hingegen muß sich dem Naturalismus widersetzen und den sichtbaren Körper für das Übernatürliche transparent machen. Creuzer nennt an einer Stelle seiner berühmten „Symbolik und Mythologie" das antike Symbol im Gegensatz zu den „mystischen" Symbolen der ägyptischen und archaischen Vorzeit „ p l a s t i s c h " und bemerkt dazu: „Hier strebt das Wesen nicht zum Überschwenglichen hin, sondern, der Natur gehorchend, fügt es sich in deren Form, durchdringt und belebt sie. Jener Widerstreit zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen (vgl. den oben zitierten Satz S c h e l l i n g s ) ist also aufgelöst, dadurch daß jenes, sich selbst begrenzend, ein M e n s c h l i c h e s (von mir gesperrt) ward. Aus dieser Läuterung des Bildlichen einerseits und aus der freiwilligen Verzichtleistung auf das Unermeßliche anderseits erblüht die schönste Frucht alles Symbolischen. Es ist das Göttersymbol, das die Schönheit der Form mit der höchsten Fülle des Wesens wunderbar vereinigt, und weil es in der griechischen Skulptur am vollendetsten ausgeführt ist, das p l a s t i s c h e Symbol heißen kann." Besser läßt sich das ZusichselbstKommen des sichtbaren ästhetischen Ausdruckes in der Antike kaum beschreiben. Aber eben indem dieser sichtbare Ausdruck zu sich selbst kommt und zum vollendeten Kunstwerk wird, hört er endgültig auf Symbol Gottes zu sein und bedeutet nur noch in Du-Gestalt die I d e e des M e n s c h e n , des a priori in die sichtbare Wirklichkeit gestellten Geschöpfes. Das Absolute ist in die relative Welt der Gestalten herabgeholt, ist säkularisiert oder richtiger: Der für Gott blind und taub gewordene Mensch hält seine Idee für das Absolute und betet das Symbol dieser Idee an. Nicht das „ H e i l i g e " , sondern das S c h ö n e ist die eigentliche Wertkategorie der Du-Sphäre, der ästhetischen Sphäre, und eben deshalb hat man auch mit vollem Recht seit jeher in A p o l l o n , in dem schönen Gott und nicht im Allvater Zeus den vorzüglichsten Vertreter des klassischen griechischen Geistes gesehen. Apollon ist tatsächlich der Gott der Griechen schlechthin, der Gott, der in seiner sinnlich wahrnehmbaren äußeren Gestalt die ganze ihm spezifische Werthaftigkeit, die aber natürlich nur eine ästhetische Wert-
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haftigkeit sein kann, zur Darstellung bringt. Nicht ohne tiefsten Grund führt Apollon gerade den B o g e n und die L e i e r , die beide in ihrer „gegenstrebigen Vereinigung", wie sich H e r a k l i t (Diels, Fragment 51) ausdrückt, das Ineinandergehen des Auseinanderstrebenden verständlich machen sollen, also sinnfällige Symbole der ästhetischen Harmonie überhaupt, des zum Ausgleich gekommenen Gegensatzes von Oben und Unten sind. Die Dialektik der empirischen Wirklichkeit wird hier wohl nicht geradezu geleugnet — wir wissen ja, daß Heraklit, der den Krieg für den Vater aller Dinge hielt, selbst durch und durch Dialektiker war —, aber sie wird auch nicht als unheilbarer Bruch, als unerbittliches Entweder-Oder begriffen, sondern zum Ausgangspunkt, eben zum „Vater" der Vollkommenheit, das heißt nämlich der vom Menschen zustandegebrachten ästhetischen Synthese gemacht. Damit ist ihr jedoch ihr ganzer schwerer Ernst genommen; denn wenn der Gegensatz an den Anfang gestellt und die Harmonie als Aufgabe dem Menschen in die Hand gegeben erscheint, bleibt natürlich kein Raum mehr für die Schuld, aus der alle Widersprüche hervorgewachsen sind. Der griechische Gott, der seine Realität dem Halbopfer, dem Rippenopfer und nicht der eigenen von Ewigkeit zu Ewigkeit währenden Allmacht verdankt, ist nur ein idealisiertes Geschöpf und trägt als solches mit an allen jenen Beschränkungen, die sich vom Geschöpflichen zum Unterschied vom wahrhaft Göttlichen nicht trennen lassen. Er ist vor allem kein all-einiger, sondern nur ein einzelner unter anderen göttlichen Individuen. Im ästhetischen Bereich muß die absolute unanschaubare Einheit notwendig in eine Vielheit von Wesensseiten oder Ideen auseinanderfallen, weil sie, so wie sie an sich selbst besteht, dem Auge unfaßbar bleibt. Das Du ist zwar ein geliebtes Gegenüber, aber eben doch ein Gegenüber und als solches begrenzt, und begrenzt sein bedeutet für die Einheit: geteilt sein. Im übrigen hat bereits S c h e l l i n g in seiner „Philosophie der Kunst" über diesen Gegenstand fast alles Wesentliche gesagt. Besonders zu erinnern wäre an den Satz: „Mythologie ist die notwendige Bedingung und der erste Stoff aller Kunst." Die Gottbezüg-
— 87 — lichkeit wird dem Menschen eben auch zum ersten Problem seiner künstlerischen Tätigkeit und sie muß in der ästhetischen Sphäre unfehlbar zur G ö t t e r bezüglichkeit werden. Die ästhetische Lösung, für die sich bereits das ägyptische Volk entschieden hatte, findet in der klassischen Antike ihren konsequenten Abschluß. Damit soll aber nicht gesagt sein, daß erst dem Griechen etwas gelungen wäre, wonach der Ägypter noch vergeblich gerungen hätte. Das B e d ü r f n i s nach ästhetischer Auseinandersetzung mit der I. Dimension wird vielmehr überhaupt erst in der Antike wirklich dringend, weil erst jetzt das Oben restlos in das Unten verkehrt und damit zur Abstoßung reif geworden ist. Im archaischen Zeitalter war der Prozeß des Abfalls noch gar nicht so weit vorgeschritten. Der Mensch konnte damals vieles Gott anheimstellen, womit er später als schwaches Geschöpf selbst den Kampf aufnehmen mußte. Das erklärt hinlänglich die scheinbare Gebundenheit, Schwerfälligkeit und Strenge der vorklassischen Kunststile. Während sich die Antike gezwungen sah, ihre ganze Kraft aufzubieten, um dem schweren Stein die äußere Form der menschlichen Gestalt aufzuprägen, deutete der Ägypter diese Form bloß an und überließ im übrigen den Stein seinem eigenen Gesetz, das eben für ihn bei weitem nicht im gleichen Maß wie für den Griechen das n e g a t i v e Gesetz der Schwere war. Erst wenn das Oben fehlt, das den Mächten der Tiefe die Wage hält bzw. diese überhaupt in sich aufgehoben hat, beginnt das Unten dem ästhetischen Auge unerträglich zu werden. *
Der dem ägyptischen zeitlich parallel laufende Schicksalsweg Israels findet seine Erfüllung nicht in der apollinischen Schönheit der griechischen Statue, sondern im Leiden und im Kreuzestod J e s u C h r i s t i . Christus allein bringt schließlich in Wahrheit das geforderte Ganzopfer, das vorbehaltlose Opfer des Ich bzw. des Wir-Ich und stellt damit als der „neue A d a m " , das heißt als Stellvertreter der g e s a m t e n Menschheit das Oben, die erste Dimension ihrer positiven Urbedeutung nach, die göttliche Absolutheit und Heiligkeit wieder her. Neben der I. bleibt hier jedoch auch die I I . Di-
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mension bestehen. In dem gleicherweise aus Gottesliebe und Nächstenliebe gebrachten Opfer auf Golgatha wird auch das Du, der andere Mensch bejaht, sofern er nämlich Geschöpf Gottes und nicht bloß Bein vom Beine und Fleisch vom Fleische des sündigen Adam ist. Die erbarmungslos strenge Zweidimensionalität des Kreuzes kann als Antwort gedeutet werden auf das dreidimensionale klassische Kunstwerk, das dem dugerichteten ästhetischen Menschen den paradiesischen Vollkommenheitszustand mit Umgehung des geforderten Opfers in dieses abgefallene Leben zurückzaubern sollte. Die rationale Zweidimensionalität versinnbildlicht hier die wahre Verfassung der gottabgewandten und eben deshalb gleichfalls zum Kreuzestod verurteilten Welt. Allerdings besteht trotzdem zwischen Jesus Christus und dem antiken Kunstwerk eine auffallende Parallele. In beiden nämlich erscheint das Göttliche mit dem Menschlichen zur Einheit verbunden. Als das Fleisch gewordene Wort Gottes, als das Du tritt der Heiland in die Geschichte ein. Aber — und hier eben stoßen wir auf den grundsätzlichen Unterschied — dieses Du ist k e i n ä s t h e t i s c h e s , kein schönes und in seiner Schönheit befriedigendes Du wie etwa der „androgyne" griechische Gott, wie Apollon. Christus will nicht in der angenommenen menschlichen Gestalt die Harmonie der beiden Naturen zur Darstellung bringen, sondern gerade umgekehrt die Illusion, als ob es eine solche Harmonie überhaupt jemals geben könnte, endgültig zerstören. Als Sterbender wirft er sein g a n z e s Menschentum ab, um nach drei Tagen als g a n z e r Gott aus dem Grabe hervorzugehen. Die Anknüpfung an die typische Vorstellungswelt der Antike hat also gerade den Sinn, diese ad absurdum zu führen. Hatte der archaische Mensch, der Israelit wie der Heide, als der erst am Beginn des Sündenfalls stehende, noch immer einen Rest von Möglichkeit, sich unmittelbar auf Gott, auf den lebendigen Daseinsgrund zu beziehen, weil er ihn ja noch nicht radikal in die Schwere, in das Unten, in die bloße Ursache verkehrt hatte, so erschöpfen sich demgegenüber für den antiken Menschen alle Wertwahrnehmungs- und Wertbeziehungsmöglichkeiten in der Du-Form. Nur für das Ge-
— 89 — genüber hat diese Epoche noch ein Organ. Und deshalb eben mußte Gott, um den Menschen von seiner Blindheit zu befreien, erstens Du-Gestalt annehmen und zweitens aus der angenommenen Gestalt durch sein Opfer hindurch zu sich selbst zurückkehren. Wir haben gehört, daß der klassische Heide das geforderte Opfer nur zur Hälfte bringt. Er wendet das Unten nicht ins Oben, die Schwere nicht ins Licht, sondern begnügt sich mit der Verschmelzung beider knapp über dem Horizont, das heißt auf der Höhe seines eigenen diesseitigen Lebens. Jesus Christus aber läßt sich von der h i m m l i s c h e n Höhe herab auf eben diese Ebene des menschlichen Daseins, geht in die Du-Form ein und vollzieht dann von hier aus die Scheidung, indem er sein Menschliches dem Unten hingibt, sein Göttliches aber durch die Auferstehung wieder in den Himmel emporführt. So wird er in seiner Du-Gestalt zum Durchgang und Durchblick nach beiden Richtungen hin, als Du zum sichtbaren Symbol dessen, was grundsätzlich und ewig jenseits aller Duheit beschlossen liegt. Nur durch die Wahrnehmung Gottes im s t e r b e n d e n Mittler, nur durch den Glauben an den sich opfernden und in göttlicher Herrlichkeit auferstehenden Sohn kann deshalb der Mensch dieser Epoche den Weg zum Vater und damit auch zur Jenseitigkeit des Paradieses zurückfinden. Damit soll aber natürlich keineswegs behauptet sein, daß Christus lediglich für den Menschen seine» Zeit der Erlöser oder Versöhner gewesen wäre. Sein Werk geht vielmehr ausnahmslos die gesamte Menschheit an, also a l l e Epochen der Geschichte. Sein Tod scheidet ein für allemal das Diesseitige vom Jenseitigen. Hier wird die dialektische Rückwendung nach oben zur Wirklichkeit, die Rückwendung, die ihre Geltung bis zuletzt behält und gerade erst am Tage des Jüngsten Gerichtes in ihrer ganzen schweren Bedeutung offenbar werden soll. Darum heißt es j a : „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt." Die E r d e wurde von Christus freilich nicht erlöst, wie alle Pelagianer und alle rückwärtsgewandten Juden unter den Christen auch heute noch gerne glauben möchten. Seine selbstgewählte Aufgabe war bloß die, der unerlösten und an sich unerlösbaren irdischen Wirklichkeit ihren absoluten Gegenpol im Reich der Auf-
— 90 — erstehung zu zeigen. Die Zinsgroschen tragen auch nach der Zeit Christi noch immer das Bild des Kaisers und nicht das ewig verborgene Angesicht des Vaters. Als M i t t l e r aber konnte Jesus allerdings nur in der Antike erscheinen, weil nur damals der Mensch wie gebannt auf das Du blickte und vom Du die erlösende Tat erwartete. Diese Erwartung war an sich natürlich götzendienerisch und sündhaft. Aber der Sohn Gottes nahm, um die Welt zu retten, sogar die Sünde auf sich. Grundsätzlich bleibt die Opfertat Christi von allen ihr rein äußerlich gleichenden Selbstopfern der mythischen Götter, Halbgötter und Heroen verschieden. Jesus stirbt als Mensch und ersteht auf als Gott. Die Heilande der heidnischen Mythologie aber, wie Dionysos usw., gewinnen, geradeso wie der sich verbrennende und aus seiner Asche zu neuem Leben erwachende Wundervogel Phönix, immer nur ihre a l t e Gestalt wieder und bewegen sich ewig in einem sinnlosen Kreislauf, der keinen Schritt über die ästhetische Sphäre hinauskommt. Dionysos stirbt als Du und ersteht auf als Du, und der antike Mensch siebt in diesem sich ständig wiederholenden Vorgang nichts weiter als die urbildhafte Darstellung seines eigenen ästhetischen H a l b o p f e r s ; denn eben weil das Opfer — auch das Opfer des Dionysos — nur ein halbes ist, wird die Auferstehung ii. der ursprünglichen Gestalt möglich, kann sich der Opfernde, ohne von Grund aus umgestaltet, ohne wahrhaft „ w i e d e r g e b o r e n " zu werden, zurückgewinnen. Das Opfer wird hier sozusagen a priori mit Vorbehalt gebracht, am Beispiel der S o n n e gemessen, die ja gleichfalls allabendlich mit einem „Vorbehalt" unter dem Horizont verschwindet, nämlich mit dem Vorbehalt ihrer Auferstehung am kommenden Morgen. Das Sonnenlicht ist überhaupt die ästhetische Form des Lichtes nämlich das g e b a l l t e und das heißt das verdinglichte oder vergötzte Licht. Das leuchtende Gestirn erscheint gleicherweise dem göttlichen Oben wie dem dämonischen Unten zuzugehören, von beiden entgegengesetzten Polen der I. Dimension beherrscht zu sein, halb aus dem Geist Gottes und halb aus der Rippe Adams zu stammen, genau ebenso wie das Weib und wie das in Stein gemeißelte Bildwerk,
— 91 — das der schaffende Künstler als neues Du vor sich hinstellt. Apollon, der Gott des Bogens und der Leier, der Symbole des im,.Auseinanderstreben Ineinandergehens",ist ganz folgerichtig auch der Sonnengott. Der ästhetische Geist kommt über die Sonne und über den K r e i s , den ihre Bahn beschreibt, nicht hinweg. Das in den Anfang zurückkehrende Ende bleibt der letzte Schluß aller bloß menschlichen Weisheit, das letzte Gesetz der nur irdischen Wirklichkeit. Wenn der archaische Israelit Josua die Sonne stille stehen sah zu Gibeon und den Mond im Tale Ajalon, weil die Lichter des Himmels für ihn noch teilhatten am ewigen Licht des Vaters, so wird dem klassischen Griechen eine solche Offenbarung nicht mehr geschenkt. Für ihn ist das Halb und Halb, das wechselnde Oben u n d Unten ein unumstößliches Gesetz, dem auch seine Götter unterworfen bleiben. Wie der dionysische Mythos, so ist auch die aus ihm hervorgegangene attische Tragödie lediglich ein Halbopfer und kein wahres Opfer, obgleich hier ganz zweifellos die negative Seite des ästhetischen Gestaltungsaktes, also eben das Opfer nachdrücklicher betont, ja eigentlich allein dargestellt erscheint. Trotzdem aber wird das ganze Pathos des auf der Bühne leidenden und untergehenden Helden für den Zuschauer nur der Anlaß, sich selbst als den N u t z n i e ß e r d e r K a t h a r s i s zu bespiegeln. Ist der Heros der sterbende, so der Zuschauer der auferstehende oder bereits auferstandene Dionysos, der das Opfer hinter sich hat und nun in Betrachtung versunken seine bessere Gegenwart genießen darf, der aus dem Aspekt des Sonnenaufganges oder des Mittags die Ereignisse des Sonnenunterganges an sich vorüberziehen läßt, der sich mit wachenden Augen an die Schrecknisse seiner Nacht und seiner Träume, da er selbst in den Fesseln des Unten, der chthonischen Dämonen lag, befriedigt zurückerinnert. *
Es ist kein bloßer Zufall, daß P i a t o n , der größte Philosoph der Antike, ursprünglich tragischer Dichter war; denn ebenso wie die Tragödie hat auch die Philosophie der Griechen vor allem die negative, also die Opferseite des ästhetischen Gestaltungsaktes, zu ihrem Gegenstand. Das philosophische
— 92 — Denken überhaupt, nicht nur das griechische allein, ist, wie schon in der Einleitung ausdrücklich gesagt wurde, R e f l e x i o n z u r z w e i t e n P o t e n z , das heißt bewußte Rückwendung des ursprünglich den Außendingen zugewandten Denkens auf das denkende und wahrnehmende Selbst. Der Philosoph macht also an Stelle der ins Negative verkehrten, getöteten, abgestoßenen und eben deshalb der rationalen wissenschaftlichen Bearbeitung zugänglichen Dimension, mit einem einzigen Wort, an Stelle des Es, das dieses Es erfassende bzw. produzierende subjektive Ich zum eigentlichen Objekt seiner Untersuchungen. E r reflektiert nur indirekt auch über die Dinge, direkt aber über sein Wahrnehmen und Denken. Diese Reflexion zur zweiten Potenz setzt mit voller Kraft allerdings erst dann ein, wenn die ästhetische Halblösung nicht mehr voll zu befriedigen vermag, wenn das duförmige Werk sein Gleichgewicht infolge der gesteigerten Reflexion zur e r s t e n Potenz allmählich verliert und aus seiner anfänglichen reinen Du-Sphäre in die Es-Sphäre abzugleiten droht; denn nun verliert es die Fähigkeit, in seiner sichtbaren Schönheit den ganzen Umfang des geforderten Wertes zu spiegeln oder zu symbolisieren. Diese Verschiebung bedeutet vor allem eine Entwertung, eine Entmächtigung des Ichteiles, den das Halbopfer in das Werk hineingebildet hatte, also in unserem speziellen Fall die Entwertung des sinnlich körperlichen Menschen, des subjektiven, wahrnehmenden Gegenpols der Schwere. Das klassische plastische Kunstwerk bringt j a eben die das Schwereprinzip versinnlichende Materie, den toten Stein mit der lebendigen menschlichen Körperlichkeit zur harmonischen Verschmelzung. Wird nun dieses Verschmelzungsprodukt selbst Gegenstand der Reflexion, so wächst die negative Hälfte, das ist der Anteil der Schwere, über das ursprüngliche Maß hinaus und zieht gleichsam das geopferte Ich mit in ihren Bereich hinein. Und eben diesem versinkenden Ich wendet sich das philosophische Denken zu, um dessen eigene Es-Natur, dessen eigene tiefere Wesensgemeinschaft mit seinem negativen Komplement festzustellen und es damit a l s I c h t h e o r e t i s c h a u f z u h e b e n . Gewiß hebt auch schon die ästhetisch-künstlerische Lösung das Ich als Ich im strengen Sinn auf, aber hier handelt es sich doch nur
— 93 — um ein Opfer im Hinblick auf das Du, weshalb das Geopferte in der neu geschaffenen Du-Gestalt, im gleichwertigen Gegenüber sein Selbst zurückgewinnt. In der philosophischen Reflexion hingegen wird die Du-Sphäre überschritten und der geopferte Ichteil ausdrücklich dem Nicht-Ich, dem Es überantwortet. Die Aufhebung nimmt infolgedessen einen weit ernsteren Charakter an und nähert sich offensichtlich dem Lebensopfer, dem Ganzopfer. Der Philosoph kann den Erfolg seines Opfers nicht mehr wie der klassische Künstler in einem schönen sinnlich wahrnehmbaren Bild finden, sondern muß zu einem über der sinnlichen Welt errichteten geistigen Ideenreich seine Zuflucht nehmen. Ganz ähnlich wie die Tragödie gibt auch die Philosophie o b j e k t i v nur das Pathos und nicht die Katharsis. Das Ideenreich freilich ist unpathetisch, aber damit auch unphilosophisch; denn die Philosophie als Angelegenheit des reinen Denkens, das heißt der Reflexion, bleibt durchaus auf das Es, auf das lediglich Negative beschränkt. Ihr wahres Geschäft erschöpft sich also restlos in der theoretischen Feststellung der Eshaftigkeit oder der Negativität auch des an das Es-Objekt gebundenen Subjektes. Die Ideen als p o s i t i v e Vorstellungsgebilde hingegen sind bereits wieder Produkte der ästhetischen Gestaltung oder, wie man ebensogut sagen könnte, der D i c h t u n g . In ihrer verneinenden Haltung dem Ich gegenüber berührt sich die Philosophie mit der Religion, die ja gleichfalls im Ganzopfer indirekt zugunsten Gottes und direkt zugunsten des Es auf das Ich Verzicht leistet. Während aber die Religion dieses Selbstopfer in e x i s t e n t i e l l e r Form bringt, verhält sich die Philosophie bloß theoretisch konstatierend. Sie opfert — wenigstens gilt das von jedem Idealismus und also auch vor allem von der klassischen Philosophie der Griechen — nur im Hinblick auf einen intellektuell angeschauten und das will sagen ästhetischen Halbwert. Der platonische Eros mag noch so stürmisch über die gegebene Wirklichkeit hinaus und reineren ätherischen Welten zustreben, als Eros bleibt er trotzdem ein ästhetischer Gott, nämlich der Gott der ausschließlichen Liebe zum Du. Aber selbst wenn sich die Philosophie von allen ästhetischen und erotischen Illusionen ab-
— 94 — kehrt, wenn sie alle Ideen fallen läßt und sich auf ihr negatives Geschäft der Ichverneinung beschränkt, trennt sie von der lebendigen Religion noch immer eine unüberbrückbare Kluft; denn auch der konsequenteste Philosoph steht als das denkende und reflektierende Subjekt, das er ist, grundsätzlich diesseits des ihm als Pflicht aufgetragenen Opfers, und er muß diesseits stehen bleiben, solange er überhaupt denkt. Der „existierende Denker" K i e r k e g a a r d s ist deshalb eine contradictio in adjecto. Die Philosophie stellt aber nicht nur den Anspruch der ihr unmittelbar voraufgegangenen künstlerischen Lösung, sondern auch jenen der W i s s e n s c h a f t in Frage, und hier, auf erkenntnistheoretischem Gebiet also, erwächst ihr erst ihre eigentliche Aufgabe. Die Wissenschaft, das heißt das Denken als einfache objektive Es-Wahrnehmung, entwertet die Außendinge und verlegt damit indirekt den Gesamtwert in das denkende Ich. Die Philosophie hingegen macht dieses, die Dinge entwertende Ich selbst als Es offenbar und zeigt, daß die spezifische Esheit der ihm erscheinenden Außenwelt in ihm ihre Wurzeln hat, also mit ihm letzten Endes wesensidentisch ist. Die äußere Schwere etwa stellt sich der philosophischen Überlegung schließlich als eine bloße Widerspiegelung der dem w a h r n e h m e n d e n S u b j e k t e i g e n e n Schwerenatur dar. Das Ich wird für die Negativität der gegenständlichen Welt gewissermaßen verantwortlich gemacht. Die klare Formulierung dieser wesentlichsten Aufgabe aller Philosophie bleibt freilich einer viel späteren geistesgeschichtlichen Epoche vorbehalten, dem Prinzip nach aber ist sie doch auch schon der klassischen Philosophie des Griechentums ahnungsmäßig bewußt. Wenn etwa P i a t o n dem sinnlichen Menschen die Fähigkeit abspricht, Ideen wahrzunehmen, so legt er damit indirekt die relative Minderwertigkeit und bloße Abbildhaftigkeit des Wahrgenommenen dem wahrnehmenden Ich zur Last. In dieser grundsätzlichen Wendung offenbart sich uns Piaton (bzw. S o k r a t e s ) als der erste echte Philosoph. Das „Ding an sich" verbirgt sich für ihn u n s i c h t b a r hinter den Erscheinungen. Worin die Minderwertigkeit der erfahrbaren Wirklichkeit den Ideen gegenüber zu suchen ist und welche Kategorien es sind, die das
— 95 — Subjekt den Gegenständen notgedrungen vorschreiben muß, wird freilich von Piaton noch nicht eindeutig festgelegt; denn zu seiner Zeit war noch keine einzige Kategorie soweit ins Theoretische abgeglitten, daß sie der restlosen , , p h ä n o m e n a l i s t is c h e n " Auflösung bedurft hätte. Außerdem bezieht sich der ganze Phänomenalismus Piatons — wenn wir das Wort hier schon gebrauchen wollen — lediglich auf die Wahrnehmung und nicht auf das eigentliche Denken. Vielmehr ergreift der Mensch gerade im Denken das noumenale Sein, nämlich die Ideen, wobei Denken freilich nicht diskursives Denken in dem uns geläufigen Sinn, sondern eher eine Art geistiges Schauen — &v&nvrj