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German Pages 283 [284] Year 1995
Die Gegenwart der Gerechtigkeit
Die Gegenwart der Gerechtigkeit Diskurse zwischen Recht, praktischer Philosophie und Politik Herausgegeben von Christoph Demmerling und Thomas Rentsch
Akademie Verlag
Titelbild: William Blake, „Die Steinigung Achams" (1800-05), Mischtechnik, 38 cm x 34,2 cm, Täte Gallery, London Redaktionelle Mitarbeit: Mischka Dammaschke
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Gegenwart der Gerechtigkeit: Diskurse zwischen Recht, praktischer Philosophie und Politik / hrsg. von Christoph Demmerling und Thomas Rentsch. - Berlin : Akad. Verl., 1995 ISBN 3-05-002821-1 NE: Demmerling, Christoph [Hrsg.]
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO T C 46. Alle Rechte, insbesondere die der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. All rights reserved (including those of translation into other languages). No part of this book may be reproduced in any form - by photoprinting, microfilm, or any other means - nor transmitted or translated into a machine language without written permission from the publishers. Lektorat: Peter Heyl Satz: Hans Herschelmann Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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I. Gerechtigkeitsmodelle zwischen Tradition und Gegenwart Pierre Aubenque (Paris): Das aristotelische Modell der Gerechtigkeit und die Grenzen seiner Anwendbarkeit
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José de Sousa e Brito (Lissabon): Die gerechte Begrenzung der Gerechtigkeit im Recht
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Gerhard Schönrich (Dresden): Der Vernunftbegriff des Rechts und die Logik der Gewalt
39
Alexander Somek (Wien): Die Moralisierung der Menschenrechte. Eine Auseinandersetzung mit Ernst Tugendhat
48
Marc Sagnol (Dresden): Recht und Gerechtigkeit bei Walter Benjamin
57
II. Probleme der Rechtsdeutung: Von der Interpretation zur politischen Praxis Paul Ricceur (Paris): Zu einer Hermeneutik des Rechts. Argumentation und Interpretation
69
David M. Rasmussen (Boston): Die Rechtswissenschaft und das Problem der Geltung. Kritische Bemerkungen zu Jürgen Habermas
79
Steven Lukes (Florenz): Multikulturalismus und Gerechtigkeit: „Politik der gleichen W ü r d e " und „Politik der Anerkennung". Überlegungen im Anschluß an Charles Taylor
99
Dick H o w a r d (New York/Stony Brook): Zwischen Recht und Gerechtigkeit. Politik der Urteilskraft versus Antipolitik
112
Christoph Demmerling (Dresden): Differenz und Gleichheit. Zur Anatomie eines Argumentes
122
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Inhaltsverzeichnis
III. Reichweite und Grenzen des Liberalismus Hermann Klenner (Berlin): Über die vier Arten von Gerechtigkeitstheorien gegenwärtiger Rechtsphilosophie
135
Christoph Menke (Berlin): Despotie, Individualismus, Vereinheitlichung. Tocqueville über Freiheit und Gleichheit
142
Richard Shusterman (New York/Philadelphia): Pragmatismus und Liberalismus
155
Chantal Mouffe (Paris/London): Das Paradoxon des politischen Liberalismus . .
181
IV. Gerechtigkeit, Differenz und die Gegenwart des Unrechts Thomas Rentsch (Dresden): Unmöglichkeit und Selbsttranszendenz der Gerechtigkeit
191
Wolfgang Engler (Berlin): Gerechte Menschen. Über Verantwortung im Ausnahmezustand
197
U d o Tietz (Berlin): Gerechtigkeit und Solidarität. Aspekte eines Konfliktes nach der deutschen Einheit
208
Wolfgang Bialas (Berlin): Gemeinschaft und Gesellschaft. Sozialphilosophische und zeitdiagnostische Variationen zum Thema
232
Annette C. Baier (Pittsburgh): Wir brauchen mehr als bloß Gerechtigkeit
249
Herta Nagl-Docekal (Wien): Die Kunst der Grenzziehung und die Familie. Eine feministische Kritik der Gerechtigkeitskonzeption von Michael Walzer . .
261
Anhang Autorenverzeichnis
277
Namenverzeichnis
279
Einleitung
Der Begriff der Gerechtigkeit kann als einer der umstrittensten Begriffe der politischen Philosophie und Ethik, aber auch der politischen Kontroversen unserer Tage gelten. Letztere, man braucht nur an die im Kontext der deutschen Vereinigung geführten Debatten zu denken, entzünden sich vielfach an unterschiedlichen - sich mitunter w i dersprechenden - Vorstellungen von Gerechtigkeit. Die politischen Entwicklungen in Europa, der Zusammenbruch der sozialistischen Systeme und der nun einsetzende Wiederaufbau, der zunächst im Sinne eines historischen Sieges der freien M a r k t w i r t schaft und der Werte des neuzeitlichen Individualismus praktiziert und gedeutet wurde, scheinen ganz und gar auf den Prämissen des klassischen liberalistischen Welt- und Menschenbildes zu fußen. Einer Interpretation der geschichtlichen Entwicklung im Sinn der Bestätigung des Liberalismus stehen jedoch die Unrechtserfahrungen der Menschen, vor allem derjenigen in den osteuropäischen Ländern und in der sogenannten „Dritten Welt", entgegen. Anlaß zu einer skeptischen Revision liberalistischer Grundorientierungen gibt auch der Blick in die Zentren des ehemaligen Westens, w o die Demokratie durch immer größere Teile der Gesellschaft erfassende Verelendungstendenzen bedroht wird. In der soziologischen Zeitdiagnose macht das Wort von der „Wiederkehr der A r m u t " die Runde. Obwohl der Liberalismus auch noch in der Gegenwart den Formen demokratischer Rechtsstaatlichkeit als selbstverständlicher Konsens zugrunde liegt, wird er von vielen Seiten gefährdet und in Frage gestellt. Lassen sich ökonomische, technologische und kommunikative Machtasymmetrien, welche in den modernen Gesellschaften verbreitet sind, überhaupt demokratisch beherrschen? Wird nicht die politische Substanz einer demokratischen Öffentlichkeit durch die mangelnde Transparenz der politisch-ökonomischen Machtprozesse, durch Medienkonzentration, durch neue und in ihrer Reichweite nicht einschätzbare Formen der Partikularisierung und Entsolidarisierung, durch Konsumismus und durch auf die Ebene des Politischen durchschlagende private Irrationalismen aufgelöst? Der Blick auf das Gefälle zwischen den armen und den reichen Weltteilen läßt die genannten Gefährdungspotentiale um so bedrohlicher erscheinen. Sind die unsere moderne Gesellschaft kennzeichnenden sozialen Pathologien, deren A u s w i r k u n g e n ein globales Ausmaß erreichen, lediglich in Teilbereichen kapitalistischer Demokratien w i r k s a m oder aber systematisch und strukturell in diese eingearbeitet?
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Einleitung
Auf dem Hintergrund der skizzierten Entwicklung ist die Verständigung über die Reichweite, aber auch die Grenzen des liberalistischen Modells zu einem zentralen Thema philosophischer, soziologischer und rechtstheoretischer Debatten geworden. Den theoretischen Bezugspunkt vieler Diskussionen bildet dabei immer noch der Versuch von John Rawls, mit seinem Buch A Theory of Justice (Cambridge/Mass. 1971) das normative Selbstverständnis liberaler Demokratien zu entschlüsseln. Diesem Entwurf folgte einige Jahre später mit Michael J. Sandels Liberalism and the Limits ofJustice (Cambridge/Mass. 1982) eine kommunitaristische Kritik, die den Liberalismus bereits auf der Ebene seiner Grundbegriffe in Frage stellte. Ins Kreuzfeuer der Kritik war die liberalistische Vorstellung von einem Unencumbered Seif geraten. Dem Liberalismus wurde vorgeworfen, mit seiner Betonung individueller Rechte von den konkreten Lebenssituationen der Menschen zu abstrahieren und insbesondere die Tatsache zu ignorieren, daß die Ausbildung einer individuellen Identität stets an einen Hintergrund gemeinsam geteilter Wertüberzeugungen und Normen gebunden ist. Das Erscheinungsdatum von Sandels Buch bezeichnet den Beginn der Debatte zwischen Liberalen und sogenannten Kommunitaristen, an der sich mittlerweile eine ganze Reihe von Autoren beteiligen. So hat beispielsweise Ronald Dworkin den Liberalismus im Rückgriff auf eine naturrechtliche Begründung des Rechts auf gleiche Achtung verteidigt, während Michael Walzer mit der Publikation von Spheres of Justice (New York 1983) dem Liberalismus im Rekurs auf die Vorstellung von einer gemeinschaftlich geteilten Idee des Guten erneut einen Gegenentwurf an die Seite zu stellen versuchte. Charles Taylor hat in seinem ausführlichen Essay Multiculturalism and „ The Politics of Recognition" (Princeton 1992) die Probleme, welche sich für einen differenzblinden Liberalismus gleicher Rechte angesichts der Anerkennungsansprüche ergeben, die vor allem in durch kulturelle und ethnische Vielfalt geprägten Gesellschaften aus der Perspektive je partikularer Lebensformen erhoben werden, diskutiert. 1 Die Diskussion um die Gerechtigkeit erschöpft sich jedoch nicht in der Alternative zwischen Kommunitarismus und Liberalismus. Mittlerweile mehren sich die Versuche, innerhalb sogenannter postmoderner Ansätze ethische und sozialphilosophische Fragestellungen explizit zu thematisieren. Auch diese kreisen, wie etwa Jacques Derridas Force of Law. The „Mystical Foundation of Authority" {New York 1990), vorrangig um das Problem der Gerechtigkeit. 2 Im Zentrum der dekonstruktiven Diskussion um Recht und Gerechtigkeit steht die Frage, inwieweit der moral- und rechtsphilosophische Universalismus angesichts der Ansprüche des Einzelnen, Heterogenen und Partikularen
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Im Rahmen dieser aus Amerika importierten Debatte sind inzwischen eine ganze Reihe v o n Untersuchungen erschienen; einige der wichtigsten Texte sind gesammelt in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. - N e w Y o r k 1993; eine umfassende Analyse dieser Diskussion findet sich bei Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits v o n Liberalismus und K o m m u n i t a rismus, Frankfurt/M. 1994.
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Dieser Text erschien zunächst zusammen mit zahlreichen anderen Beiträgen als Sondernummer zu einer Konferenz: Deconstruction and the Possibility of Justice, N e w York 1 9 9 0 ( C a r d o z o L a w Review, Vol. 11 [1990]); die G r u n d z ü g e einer „dekonstruktiven" Rechtsphilosophie skizziert Drucilla Cornell, The Philosophy of the Limit, N e w York - London 1992.
Einleitung
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versagt. Auf dem Hintergrund von Emmanuel Lévinas' „Philosophie des Anderen" oder auch Theodor W. Adornos Begriff des Nichtidentischen wird der Verschränkung von Recht und Gewalt nachgegangen. Die formalprozeduralen Gerechtigkeitsvorstellungen im Umfeld des Liberalismus erfahren ebenso eine Kritik wie die „substantialistischen" Entwürfe der Kommunitaristen. Die Frage nach der Gerechtigkeit bildet auch einen der zentralen Gesichtspunkte innerhalb des philosophischen Feminismus. Die Thematisierung der Unrechtserfahrungen, denen Frauen auch in den westlichen, „aufgeklärten" Gesellschaften immer noch ausgesetzt sind, verbindet sich hier oftmals mit einer Kritik liberaler, diskursethischer, also prozeduraler Gerechtigkeitsmodelle und nimmt manchmal Argumente postmoderner Herkunft auf. Bücher wie Carole Patemans The Sexual Contract (Stanford 1988) oder Iris M. Youngs Justice and the Politics of Difference (Princeton 1990) verdienen in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit. 3 Der vorliegende Band vereinigt kritische Analysen, die auch auf die neuere Tradition und die aktuellen Diskussionen der deutschen Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, die sich z. B. in dem von Robert Alexy, Ralf Dreier und Ulrich Neumann herausgegebenen Sammelband Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute. Beiträge zur Standortbestimmung (Stuttgart 1991) dokumentieren, bezogen werden können. 4 Einen Schwerpunkt der dort dokumentierten Diskussionen bildet die Thematik der Menschenrechte nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems, der Nachkriegsordnung und des Marxismus-Leninismus. Materiale Fragen der Gerechtigkeit, die durch die Menschenrechtsproblematik aufgeworfen werden, führen zu Fragen der Rechtspolitik, so z. B. in den Analysen von Martin Kriele. 5 Dieser Schwerpunkt beerbt nach der weltgeschichtlichen Zäsur des Untergangs der politischen Ordnung des Ostblocks in gewisser Weise die Geschichtsphilosophie des „Fortschritts im Bewußtsein der Freiheit" und stellt in diesem Sinn einen Hegelianismus des erreichten Standes demokratischer Verfassungsstaatlichkeit dar. Einige Beiträge des vorliegenden Bandes, etwa derjenige von Hermann Klenner, gehen in kritischer Perspektive auf diese Problematik ein. Auch die Klärung materialer Fragen der Gerechtigkeit steht - im Zusammenhang mit dem Multikulturalismus und jenen Fragen, die vor allem von der Frauenbewegung akzentuiert wurden - im Mittelpunkt vieler der hier versammelten Beiträge.
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Einen ersten Eindruck der Diskussion im Spannungsfeld v o n politischer Philosophie, Feminismus und Postmoderne vermittelt der Band: Seyla Benhabib, Judith Butler, Drucilla Cornell, Nancy Fräser, Der Streit um die Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Gegenwart, Frankfurt/ M. 1993; vgl. insbes. auch den dritten Teil „Die Geschlechterdimension und die Politik der Bedürfnisinterpretation" des Bandes v o n Nancy Fräser, Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, G e schlecht, Frankfurt/M. 1994, 1 7 3 - 2 9 1 .
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Zu diesem Band vgl. die instruktive Rezension von Eric Hilgendorf, „Rechtsphilosophie im vereinigten Deutschland. Einige Anmerkungen zu neueren Arbeiten", in: Philosophische Rundschau 40 (1993) 1 - 3 3 . Martin Kriele, Recht. Vernunft. Wirklichkeit, Berlin 1990; ders., „Die demokratische Weltrevolution. Warum sich Freiheit durchsetzt", in: Robert A l e x y u. a. (Hrsg.), Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute. Beiträge zur Standortbestimmung, Stuttgart 1991.
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Einleitung
Einen zweiten Schwerpunkt der deutschen Diskussion bilden - selbstverständlich neben dem „heißesten Eisen", der deutschen Vereinigung und ihrer Rechtsprobleme methodische Fragen, speziell Fragen der Begründung juristischer Argumentation. Im Anschluß an Jürgen Habermas, später dann an Karl-Otto Apel, hatte Robert Alexy seine Theorie der juristischen Argumentation (Frankfurt/M. 1978, 2 1991) an den kommunikations- und diskurstheoretischen Analysen der Universal- bzw. TranszendentalAnwenpragmatik orientiert. Klaus Günther hatte in Der Sinn für Angemessenheit. dungsdiskurse in Moral und Recht (Frankfurt/M. 1987) solche Diskurse vor allem mit Blick auf die Universalisierungsprinzipien von Habermas untersucht. Die transzendentalpragmatische Begründung bzw. Letztbegründung moralischer Normen stieß innerhalb der Diskussionen in der praktischen Philosophie der letzten Jahre auf vielfältige Kritik: Man warf ihr vor, das Spezifische der Moral zugunsten allgemeiner und formaler Rationalitätsstandards aus dem Blick zu verlieren. 6 Daß die Diskurstheorie auf den ersten Blick so gut zum Recht und zur juristischen Argumentation paßt, ja sich nachgerade in dieser zu erfüllen scheint, könnte sich diesem moralphilosophischen Defizit verdanken. Die Kritik, die in dem vorliegenden Band an dem Entwurf von Jürgen Habermas' Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats (Frankfurt/M. 1992) - z. B. von David M. Rasmussen geübt wird, läßt sich produktiv auf diesen Diskussionsstrang beziehen. Die Wiederentdeckung der Vernunft in den Strukturen der Sprache ist nicht unbedingt mit der philosophischen Freilegung der spezifischen Konstitution der Moral oder des Rechts gleichzusetzen. Insbesondere die liberalismuskritischen Beiträge im dritten Teil dieses Bandes geben zu bedenken, daß die formal-prozeduralen Bestimmungen des Rechts, die mit den transzendental- bzw. universalpragmatischen Verständnissen des Begründungsrationalismus übereinstimmen, faktisch einer Entpolitisierung im Angesicht tiefgreifender sozioökonomischer Unrechts- und struktureller Gewaltverhältnisse entsprechen können. Dementsprechend wurde an dem Gesamtkonzept von Faktizität und Geltung als der „rechtsstaatlichen Wende" 7 von Habermas kritisiert, daß die Diskurstheorie sich hier „ins Unverbindliche" auflöse bzw. lediglich zu den selbstverständlichen Grundbeständen allen liberalen Rechtsdenkens führe, so daß von dem dezidiert gesellschaftskritischen Projekt der älteren Kritischen Theorie „nichts mehr übriggeblieben" sei.8 Ein dritter und vierter Strang der deutschen Diskussion, der das Recht in der Tradition des Kritischen Rationalismus von Karl R. Popper und Hans Albert sozialtechno-
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Vgl. u. a. Rüdiger Bubner, Geschichtsprozesse und H a n d l u n g s n o r m e n . U n t e r s u c h u n g e n zur p r a k tischen Philosophie, Frankfurt/M. 1 9 8 4 ; A l b r e c h t Wellmer, Ethik und Dialog. Elemente des m o r a lischen Urteils bei K a n t und in der Diskursethik, Frankfurt/M. 1 9 8 6 ; Friedrich K a m b a r t e l , „ U n i versalität als L e b e n s f o r m . Zu den (unlösbaren) Schwierigkeiten, das gute u n d v e r n ü n f t i g e Leben ü b e r f o r m a l e K r i t e r i e n zu bestimmen", in: ders., Philosophie der h u m a n e n Welt. A b h a n d l u n g e n , F r a n k f u r t / M . 1 9 8 9 , 1 5 - 2 6 ; T h o m a s Rentsch, D i e K o n s t i t u t i o n der Moralität. Transzendentale A n t h r o p o l o g i e u n d praktische Philosophie, Frankfurt/M. 1 9 9 0 , 1 3 - 5 9 .
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S o L u d w i g Siep, in: D e r Spiegel 4 3 (1992), 292. Eric H i l g e n d o r f , a. a. O., 14.
Einleitung
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logisch9 oder in der klärungsbedürftigen Sprache der soziologischen Systemtheorie Niklas Luhmanns „funktional" versteht,10 berührt sich aufgrund seiner methodischen Ausklammerung von genuinen Fragen der praktischen Philosophie weniger mit den Beiträgen dieses Bandes. Auf dem Hintergrund der in groben Zügen skizzierten Diskussionslandschaft und der Sonderprobleme des deutschen Vereinigungsprozesses lassen sich mit Blick auf die Beiträge folgende Akzente setzen: 1. Die konkreten politischen Fragen nach Gerechtigkeit nötigen auch die sich in einem genuinen Sinn philosophisch verstehende Reflexion dazu, inhaltliche Antworten auf materiale, kontextbezogene Probleme der Praxis des menschlichen Zusammenlebens zu geben, statt es lediglich bei einem methodologischen, begründungsrationalistischen, formal-prozeduralen, transzendentalen, oder auch sozialtechnologischen oder funktionalistischen Zugang zum Recht zu belassen. 2. Es kann in der Philosophie nicht nur um Fragen der Begründung der Grund- und Menschenrechte und die Erarbeitung allgemeiner Vernunftbedingungen sowie unstrittiger universaler Diskursprinzipien gehen. Das Interesse muß sich ebenfalls auf Auslegungs- und Anwendungfragen, auf Fragen gegenwartsbezogener kritischer Hermeneutik und Interpretation im Kontext von Recht und Gerechtigkeit richten. Dies gilt auch in bezug auf die kritisch zu historisierende Autoritätswahrheit gern bemühter Traditionen (Aristoteles, Kant, Hegel). 3. Gegenüber einer faktische institutionelle Verhältnisse bestätigenden Herausarbeitung der internen Vernünftigkeit des Bestehenden (z. B. des demokratischen Rechtssystems der Vereinigten Staaten oder der europäischen Nationen) und somit des erreichten Standes institutionalisierter Rationalität, besteht die Aufgabe einer kritischen Philosophie auch darin, ideologische Scheinlegitimationen zu destruieren sowie konkrete Mißstände und tiefgründende Ursachen von Unrecht und kulturellem Unbehagen zu benennen und zu analysieren. Im ersten Teil des Bandes werden Beiträge zu traditionellen philosophischen Konzeptionen der Gerechtigkeit auf die Gegenwartsdiskussion bezogen. Pierre Aubenque untersucht die komplexe Binnendifferenziertheit des für die abendländische Tradition weithin prägenden aristotelischen Modells. Er stellt sich die Frage, welche Aspekte dieses Modells auch heute noch Geltung beanspruchen können. José de Sousa e Brito diskutiert in der Auseinandersetzung mit der Tradition des Utilitarismus von Bentham und des Positivismus von Hans Kelsen Argumente für die innere Begrenzung der Gerechtigkeit im Recht. Gerhard Schönrich präzisiert im Anschluß an Kant und in kritischer Diskussion von Otfried Höffes Konzeption eines „transzendentalen Tauschs" am Beginn der Rechtskonstitution die Argumente für eine prädiskursive Zwangsbefugnis zum
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Vgl. z. B. Hans Albert, „Erkenntnis, Recht und soziale Ordnung. Zur Rechts- und Sozialphilosophie des kritischen Rationalismus", in: Robert Alexy u. a. (Hrsg.), Rechts- und Sozialphilosophie in Deutschland heute, a. a. O., 1 6 - 2 9 . Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993.
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Einleitung
Rechtszustand. Alexander Somek diskutiert das Problem der Gewalt am Ursprung der Rechtsverhältnisse im Kontext einer „Moralisierung der Menschenrechte" und in der Auseinandersetzung mit Ernst Tugendhat. Schließlich analysiert Marc Sagnol Walter Benjamins so spekulative wie brisante Reflexion zum Verhältnis von Recht, Tragik und mythischer Gewalt, die man auch als linkes Pendant zu den Auffassungen von Carl Schmitt lesen kann. Anwendungsprobleme Der zweite Teil thematisiert das Spektrum der grundlegenden des Rechts. Daß die Probleme der Gerechtigkeit methodisch und systematisch mit den internen Strukturen einer Hermeneutik des Rechts verbunden werden müssen, exponiert der Beitrag von Paul Ricceur. Dabei setzt er sich vor allem mit der Konzeption Ronald Dworkins auseinander. David M. Rasmussen entwickelt eine eindringliche Kritik an Habermas' Kernthesen zum Verhältnis von Faktizität und Geltung. Diese Kritik bezieht sich auf den fragwürdigen Status der sprechakttheoretisch gewonnenen, quasitranszendentalen Idealisierungen gegenüber einem kritisch-hermeneutischen Rechtsverständnis. Steven Lukes macht darauf aufmerksam, daß sich im Zusammenhang mit der Frage nach der Gerechtigkeit in multikulturellen Gesellschaften der Antagonismus von Egalität und Anerkennung verstärkt. Er bedenkt verschiedene Lösungsansätze in der Auseinandersetzung mit Charles Taylor. Dick Howard entwickelt anschließend die Grundlinien zu einer Politik der Urteilskraft. Auf dem Hintergrund der mit dem Recht verbundenen Deutungsprobleme, angesichts des Scheiterns verschiedener Formen von Antipolitik - sowohl der bürgerlichen wie auch der marxistischen - und mit Blick auf den modernen Totalitarismus, macht er Vorschläge zu einem veränderten Politikverständnis. Christoph Demmerling schließlich erblickt in der Anwendungsproblematik den Kern des neueren Streites zwischen Vertretern eines differenz- und solchen eines gleichheitsorientierten Begriffs der Gerechtigkeit. In der Auseinandersetzung mit Jacques Derrida und Iris M. Young entwickelt er im Rückgriff auf Aristoteles' Begriff der Billigkeit einen Vermittlungsvorschlag. Der dritte Teil des Bandes rückt die Diskussion um die philosophischen Grundlagen des westlichen Liberalismus ins Zentrum. Hermann Klenner kritisiert in pointierter Form formalprozedurale Gerechtigkeitstheorien der Gegenwart (Rawls, Habermas) und favorisiert politisch deutlich konturierte materiale Bestimmungen von Gerechtigkeit im Sinne eines konkreten Humanismus der Menschenrechte. Christoph Menke untersucht, wie bereits in der Theoriebildung von Alexis de Tocqueville der Antagonismus von Gleichheit und Gewalt angesichts der Frage nach der Gerechtigkeit reflektiert wird. Richard Shusterman unterzieht die Varianten des amerikanischen Pragmatismus in ihrer klassischen (Dewey) und gegenwärtigen (Rorty) Form einer ideologiekritischen Analyse. Während Dewey noch sehr explizit und dezidiert die - in seiner Sicht notwendigen - sozioökonomischen Bedingungen einer liberalen Politik als den harten normativen Kern eines emanzipatorischen Liberalismus herausgearbeitet hatte, läßt Rortys Version wenig mehr als die Artikulation der gesellschaftsfernen, partikularen Lebensform von - nur vermeintlich freischwebenden - Akademikern erkennen. Shusterman stellt die Frage, welche Potentiale sich für eine gesellschaftskritische Erneuerung des Pragmatismus nutzen lassen. Chantal Mouffe schließlich konzentriert ihre Kritik an neueren Vorschlägen von John Rawls darauf, ein den Liberalismus kennzeich-
Einleitung
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nendes Paradoxon freizulegen. Letztlich führe der Liberalismus, so ihre These, zu einer Élimination des Politischen. Im vierten Teil des Bandes wird der Frage nach den Ursachen für den Zusammenhang von Unrecht und Gerechtigkeit nachgegangen. Verschiedene Typen von Unrechtserfahrungen werden in diesem Zusammenhang thematisiert. Thomas Rentsch versucht, in der philosophischen Behandlung der Gerechtigkeitsproblematik seit Piaton und Aristoteles eine negative Dialektik von Idealität und legalistischer Positivierung (Quantifizierung) zu diagnostizieren, deren systematische Konsequenzen auf den Gedanken einer Selbsttranszendenz der Gerechtigkeit und das Plädoyer für ein hermeneutisch zu konkretisierendes Differenzbewußtsein hinauslaufen. Das Problem der legalistischen Positivierung des Rechts steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Wolfgang Engler. Im Anschluß an E. Lévinas geht er der Differenz zwischen dem institutionalisierten Recht und der moralischen Praxis des „gerechten Menschen" nach, wobei er auf die Ambivalenz aufmerksam macht, die scheinbar unmittelbaren Gerechtigkeitsvorstellungen eigen ist. U d o Tietz thematisiert die Frage nach der Dialektik von Recht und Unrecht mit Blick auf spezifisch ostdeutsche Erfahrungen. Er nutzt das Vokabular der zeitgenössischen Sozialphilosophie, um zu einer Diagnose der Ursachen für das Unbehagen zu gelangen, welches sich in großen Teilen Ostdeutschlands als Befindlichkeit artikuliert. Der Beitrag von Wolfgang Bialas unternimmt den Versuch, diese Befindlichkeit mit Hilfe des soziologischen Begriffspaars Gemeinschaft und Gesellschaft zu beleuchten, nachdem er dieses Begriffspaar im ersten Teil seines Beitrags für eine Diskussion zeitgenössischer Gesellschaftsstheorien und deren Gerechtigkeitsvorstellungen verwendet hat. Annette C. Baier und Herta Nagl-Docekal kritisieren geläufige Gerechtigkeitsvorstellungen auf dem Hintergrund des in unserer Gesellschaft von Frauen erlittenen Unrechts. Sie machen deutlich, daß angesichts der materialen und handgreiflichen Probleme prozedurale Gerechtigkeitsvorstellungen einer Ergänzung bedürfen. Annette C. Baier setzt sich in erster Linie mit der im Anschluß an C. Gilligan entstandenen Debatte um eine „Ethik der Fürsorge" auseinander, H. Nagl-Docekal kritisiert M. Walzers Entwurf zu einem kommunitaristischen Gerechtigkeitsverständnis in feministischer Perspektive. Etwa zwei Drittel der Beiträge zu diesem Band gehen zurück auf Vorträge, die im Rahmen eines vom College International de Philosophie (Paris) und dem Institut für Philosophie der Technischen Universität Dresden veranstalteten Kolloquiums „Was ist Gerechtigkeit?" im Dezember 1993 in Dresden gehalten wurden. Allen Personen und Institutionen, die sich an dieser Veranstaltung beteiligt haben, sei an dieser Stelle gedankt. Danken möchten w i r auch Mischka Dammaschke, der uns als Redakteur der Deutschen Zeitschrift für Philosophie (Akademie Verlag) die Beiträge von A. C. Baier, W. Bialas, W. Engler, H . Nagl-Docekal, A. Somek und U . Tietz zur Verfügung gestellt und damit vor allem den letzten Teil dieses Bandes mitgestaltet hat. Zu danken ist ferner Brigitte Proft für ihre engagierte Mitarbeit bei der Erstellung eines einheitlichen Gesamtmanuskriptes, Petra Schellenberger, Thomas Blume und Pedro Schmechtig für ihre Hilfe bei der Korrektur der Texte. Berlin/Dresden im M ä r z 1995
Christoph Demmerling/Thomas Rentsch
I. Gerechtigkeitsmodelle zwischen Tradition und Gegenwart
Pierre Aubenque
Das aristotelische Modell der Gerechtigkeit und die Grenzen seiner Anwendbarkeit
Im fünften Buch d e r N i k o m a c h i s c h e n Ethik entwickelt Aristoteles eine umfassende und sich in verschiedene Richtungen verzweigende Auffassung von der Gerechtigkeit. Die Tradition hat aber vor allem einen Zweig dieses komplexen Gebildes abgesondert und als eigentlichen Beitrag von Aristoteles zu einer Theorie der Gerechtigkeit gewürdigt. Es handelt sich um die Gerechtigkeit der Verteilung, im scholastischen Latein justitia distributiva genannt, die dadurch charakterisiert wird, daß die zu vergebenden Güter unter den Menschen nicht gleichmäßig, sondern auf eine der Qualität des jeweiligen Empfängers proportionale Weise verteilt werden sollen. Dieses Modell des gerechten Verteilens ist durch die Tradition so sehr mit dem Namen von Aristoteles assoziiert worden, daß man es im folgenden der Einfachheit halber als aristotelisches Modell der Gerechtigkeit bezeichnen kann. Es gilt aber zu zeigen, daß schon bei Aristoteles dieses Modell bestimmten Bedingungen unterworfen wird, deren eventuelles Nichtvorhandensein die Anwendbarkeit des Modells in Frage stellt. Darüber hinaus sind diese Bedingungen selbst interpretationsbedürftig, so daß die faktische Anwendung des proportionalen Prinzips mehrere, sogar einander widersprechende Formen annehmen kann. Um so wichtiger und unentbehrlicher erscheint deshalb die andere von Aristoteles anerkannte, von den Interpreten aber oft vernachlässigte Art der Gerechtigkeit, die sogenannte justitia commutativa, welche nicht proportional fungiert, sondern auf der als absolut anzusehenden Gleichheit aller Menschen beruht. Eher als die pauschale Berufung auf das proportionale Modell könnte der Rekurs auf die subtileren Unterscheidungen von Aristoteles einiges Licht auf aktuelle Probleme der Gerechtigkeitsanwendung werfen. Die allgemeine Bedeutung von Gerechtigkeit, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann, ist die, nach welcher das Gerechte ( d i k a i o n ) das Gesetzmäßige (nomimon) ist (Eth. Nie., V, 2,1129a 34). 1 Mit Gesetz (nomos) ist der juristische Begriff des Gesetzes gemeint, das, was wir heute als Bestandteil des Rechts betrachten würden. In der Auffassung von Aristoteles befiehlt das Gesetz das, was gut ist, so daß die Gerechtigkeit, als Gesetzmäßigkeit oder Legalität verstanden, die ganze „Handlungssphäre
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O h n e weitere Angabe wird im folgenden auf die „Nikomachische Ethik" verwiesen. Mit wenigen Abweichungen folge ich der deutschen Übersetzung v o n Franz Dirlmeier, Berlin 1956.
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Pierre
Aubenque
des tugendhaften M e n s c h e n " (4, 1130b 5), d. h. das Gesamtgebiet der M o r a l abdeckt. H ö c h s t e n s unterscheidet sich die Gerechtigkeit in diesem weiten Sinn v o n den einzelnen Tugenden durch den rechtlich zwingenden Charakter, welchen sie jenen H a n d l u n gen auferlegt, die ohnehin auch durch die anderen Tugenden veranlaßt werden k ö n n ten; so kann man z. B . in Kriegszeiten aus zweierlei Beweggründen fest auf seinem Posten verharren: entweder aus M u t oder, wenn der M u t fehlt, aus „ G e r e c h t i g k e i t " , d. h. aus A c h t u n g vor dem Gesetz, das die Fahnenflucht verbietet. D i e Gerechtigkeit als Legalität, so k ö n n t e es scheinen, wäre nur die Ergänzung einer Moralität, die zu schwach ist, u m sich selber durchzusetzen. A b e r man muß ihr auch zwei positive Charakteristika zuschreiben, die aus ihr eine vollständige ( t e l e i a ) Tugend machen: die Gerechtigkeit ist nicht b l o ß Veranlagung, sondern Ausübung (chresis) der übrigen tugendhaften Veranlagungen (3, 1129b 31; vgl. 5, 1130b 20) und diese Ausübung erfolgt „im H i n b l i c k auf die anderen und nicht nur auf sich selbst" ( 1 1 2 9 b 32; vgl. 1130b 20). Gerechtigkeit ist „ein auf den anderen bezogenes G u t " ( a l l o t r i o n agathon).2 Dieser letzte Zug ist es, der den mannigfachen Bedeutungen der Gerechtigkeit eine bestimmte Einheit zusichert, 3 und wir werden ihn in einer spezifischeren F o r m bei der Analyse der Gerechtigkeit im engeren Sinn wiederfinden. D i e Gerechtigkeit im engeren Sinn ist jene „Teilerscheinung" (4, 1130a 14) der gesamten Gerechtigkeit, die auf die Gleichheit abzielt. „Das G e r e c h t e ist gleich", heißt es einfach im sechsten Kapitel der Nikomachischen Ethik, aber der K o n t e x t , der die G e rechtigkeit mit der Gleichheit identifiziert, erlaubt es zu verstehen, daß das G e r e c h t e das G l e i c h e ist. D i e s e positive Bestimmung ergibt sich am klarsten aus der Prüfung der entgegengesetzten lasterhaften Veranlagung, der sogenannten Pleonexie (2, 1129a 32). D i e Pleonexie ist, gemäß der E t y m o l o g i e , der Wunsch, mehr zu haben (to pleon airestbai, 1129b 7). 4 A b e r es stellen sich sofort die Fragen: M e h r w o v o n ? M e h r als was? M e h r als wer? Aristoteles drückt sich ziemlich genau über den ersten P u n k t aus. D i e Güter, v o n denen der Gewinnsüchtige (pleonektikos) „ m e h r " haben will, sind nicht alle Güter, sondern nur diejenigen, die einen Bezug zum guten oder schlechten L o s haben ( 1 1 2 9 b 2 - 3 ) , d. h. solche Güter, die nicht von uns abhängen und die Aristoteles an anderer Stelle als „die äußerlichen G ü t e r " ( t a ektos agatha) bezeichnet (I, 8, 1099a 31). Zu solchen G ü t e r n zählt Aristoteles die öffentlichen Ehrungen ( t i m e ) , das G e l d ( c h r e m a t a ) , und „sonstige Werte, die unter den Bürgern eines geordneten Gemeinwesens verteilt werden k ö n n e n " (5, 1130b 3 1 - 3 2 ) . Diese Aufzählung gilt für die Pleonexie und also auch für ihr Gegenteil, die Gerechtigkeit. M a n könnte aber in dieser Ausgangssituation der G ü t e r eine Schwierigkeit hinsichtlich des Wirkungsfeldes und der F u n k t i o n der Gerechtigkeit sehen. Weil die betroffe-
2 Diese Formulierung entnehme ich Piaton (Politik, III, 392b). 3 Die Bezogenheit auf den anderen gehört zu der gattungsmäßigen Definition der Gerechtigkeit (3, 1130a 33), was den vorher geäußerten Verdacht entkräftet, Gerechtigkeit sei ein mehrdeutiger („homonymer") Begriff (2, 1129a 27). 4 Es kommt auf das Gleiche hinaus, hinzuzufügen, daß der pleonektikos auch weniger (von den Nachteilen) haben will, denn „das geringere Übel ist ein Gut" (ebenda).
Aristotelisches Modell der Gerechtigkeit
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nen Güter Sache des Glücks (tyche) sind, scheinen sie der Beratung und der Wahl zu entgehen. Der Anteil, den jeder von uns daran hat, scheint durch Zufall (apo tyches) zu entstehen. A b e r die Tugend der Gerechtigkeit gibt sich nicht mit dieser Situation zufrieden, nach der w i r durch den Zufall der Geburt mit Gütern oder Adelstiteln versehen sind oder dank des Reichtums oder der Bildung unserer Familie eine Erziehung genießen konnten, die uns dazu prädestinierte, ehrenhafte Ämter auszuüben - oder, im Gegenteil, daß diese Vorzüge uns nicht beschert w o r d e n sind. Indem die Tugend der Gerechtigkeit sich vornimmt, diese Güter auf „gleiche" Weise zu verteilen, tritt sie der zufälligen Ungleichheit entgegen, die auf aleatorische Weise von Geburt und sozialer Stellung der Familie herrührt. W i e man treffend von der griechischen Ethik insgesamt gesagt hat, 5 ist die Tugend der Gerechtigkeit ein Mittel, u m den Zufall zu rationalisieren und insofern bis zu einem gewissen Grad auszuschalten. Der Ungerechte ist also derjenige, der mehr von jenen Gütern besitzen oder weniger von den Nachteilen ertragen möchte, die sich aus einer gerechten Verteilung der Güter ergeben (z. B. derjenige, der Steuern hinterzieht). Der Gerechte ist umgekehrt derjenige, der annimmt, einen „gleichen" Teil von jenen Gütern und von den entsprechenden Pflichten zu erhalten. Aber „gleich" in bezug auf w a s ? Auf diese Frage gibt Aristoteles nacheinander zwei Antworten. Die erste folgt stillschweigend aus der Weglassung jeder Beziehung: Der Gerechte w i r d k u r z u m „gleich" (2,1139a 34), und der Ungerechte „ungleich" (a 33) genannt; dasselbe gilt für die Eigenschaft dessen, w a s gerecht bzw. ungerecht ist und respektive als „gleich" bzw. „ungleich" qualifiziert w i r d (a 34, b 1). M a n kann daher annehmen, daß diese Gleichheit oder Ungleichheit auf irgend eine Weise eine immanente, selbstbezügliche ist. Es handelt sich für jedes Individuum um die Gleichheit in bezug auf sich selbst, u m die richtige Aneignung seines eigenen Wesens, u m die A n n a h m e seines eigenen Wertes, verbunden mit den Rechten und Pflichten, die dieser Wert erlaubt bzw. auferlegt. Der Ungerechte ist derjenige, der mehr verlangt als ihm gebührt oder weniger tut als er soll, weil er sich anmaßt, mehr zu sein als er tatsächlich ist. Vielleicht erinnert sich Aristoteles dabei an die platonische Definition der Gerechtigkeit in der Politeia (IV, 433ae), wonach diese Kardinaltugend darin besteht, daß jeder Teil eines Ganzen, sei es ein Individuum, eine Gesellschaftsklasse oder ein Seelenteil, „das Seine tut" (ta heautou prattei), d. h., seine Situation innerhalb des Ganzen annimmt, seine eigene Funktion erfüllt und, negativ ausgedrückt, seine Grenzen nicht überschreitet. Plotin w i r d die Formel weiter vereinfachen, indem er sagt, die Gerechtigkeit an sich sei to heautou schlechthin, 6 was man übersetzen könnte: die Selbstaneignung, der Selbstbesitz, insofern die Identität mit sich selbst. Die platonische Auffassung schloß diese Identität mit sich selbst nicht aus, sondern implizierte vielmehr, daß die der Gerechtigkeit unterworfenen Subjekte voneinander verschieden sind. Die eigene Funktion zu erfüllen hieß auch, die Funktion des anderen zu respektieren und nicht in sie überzugreifen. So darf z. B. in einem gerechten Staat
5 Vgl. Martha C. Nussbaum, The Fragility of Goodness. Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 1986. 6 Plotin, Enneaden, I, 2 (Von den Tugenden).
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der Wächter nicht in das Amt des Richters eingreifen und der Handwerker nicht in das A m t des Richters. D a bei Piaton die Verschiedenartigkeit nicht ohne Hierarchie denkbar ist, folgt aus der Identität eines jeden mit sich selbst eine Ungleichheit, sei es die der Überlegenheit oder der Minderwertigkeit, gegenüber dem anderen. Aristoteles hingegen zieht aus dem Identitätsbegriff keine solche Folgerung im Sinne einer natürlichen Ungleichheit zwischen den Menschen. E r läßt zumindest die Möglichkeit offen, daß die Identität mit sich selbst auch die Gleichheit mit den anderen in sich trägt. Wenn das „es selbst", das die Identität konstituiert, die Essenz oder die F o r m des Menschen ist, die allen Individuen der Art „Mensch" gemeinsam ist, dann sind die Menschen insofern untereinander gleich, als sie Menschen sind. Das gilt auch für die Sklaven, zwar nicht als Sklaven, aber als Menschen: man kann eine Freundschaft zu einem Sklaven schließen, sagt Aristoteles an anderer Stelle, 7 „insofern er Mensch ist". Definiert man den M e n schen als „dasjenige Lebewesen, das den Logos besitzt", dann folgt daraus, daß alle Menschen insofern gleichen Wertes bzw. gleicher Würde sind, als sie an dem ihrem Wesen innewohnenden Logos teilhaben. In den Ethiken zieht Aristoteles eine solche Schlußfolgerung nicht explizit; 8 diese Folgerung scheint mir aber die implizite Prämisse für die Theorie der kommutativen Gerechtigkeit zu liefern, welche eine, und nicht die unwesentlichere, Art der Gerechtigkeit ausmacht. Die zweite Art und Weise, den für die Gerechtigkeit konstitutiven Begriff der Gleichheit zu bestimmen, führt aber die Analyse zuerst auf einen anderen Weg. D e r U n g e rechte ist nicht nur derjenige, der schlechthin mehr haben will als das ihm Gebührende: E r will auch mehr haben als die anderen. Hier wird der Bezugspunkt der Beziehung klar angegeben: Es handelt sich um die Ungleichheit bzw. Gleichheit „des einen gegenüber dem anderen" (heterou heteron, V, 5, 1130b 33). Diese Beziehung läßt sich näher konkretisieren: Es geht um die Ungleichheit bzw. Gleichheit zwischen den Bürgern einer politischen Gemeinschaft (Politeia, b 32) im Hinblick auf die Art und Weise, wie Ämter, Vermögen und ähnliche Güter unter sie verteilt werden. Im Unterschied zu der absoluten Wesensgleichheit, für deren Einhaltung die kommutative Gerechtigkeit steht, ist die Gleichheit in den Verteilungen (dianomai) von Gütern das eigentliche Ziel der sogenannten „distributiven" Gerechtigkeit. Die Lehre von der distributiven Gerechtigkeit ist wohlbekannt und sie gilt im allgemeinen stellvertretend für die gesamte aristotelische Theorie der Gerechtigkeit, so daß die distributiv-proportionale Auffassung von der Gerechtigkeit als „aristotelisches Modell" derselben gelten mag. 9 Ich möchte aber auf die Vielfalt von Interpretationen
7
Eth. Nie., VIII, 13, 1161b 5 - 8 .
8
In der Politik wird die doppelte Charakterisierung des Menschen als „das von N a t u r aus politische Lebewesen" (I, 2, 1253a 2) und als „das Lebewesen, das den Logos besitzt" (a 10) in Verbindung mit der Fähigkeit gebracht, „das Gerechte und das Ungerechte wahrzunehmen" (a 1 4 - 1 5 , 1 7 ) . Alle Menschen sind deshalb von Natur aus gleich im Hinblick auf diese Fähigkeit.
9
Die angebliche Ausschließlichkeit dieses Modells kann zu Fehlurteilen über die Gesamtkonzeption von Aristoteles verführen, wie z. B. bei Bertrand Russell, Die Philosophie des Abendlandes, dt. Ubers., Zürich 1992, 195: „Nach unserer Meinung haben, zumindest in der ethischen Theorie, alle Menschen die gleichen Rechte, und Gleichheit ist für uns die Voraussetzung der Gerechtigkeit;
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hinweisen, die dieses Modell zuläßt, und somit auf die Grenzen seiner unmittelbaren Anwendbarkeit zu sprechen kommen. Das Prinzip der distributiven Gerechtigkeit besteht nicht in der Gleichheit schlechthin, sondern in einer Gleichheit, die doppelt relativiert wird (pros tikaitina; 6 , 1 1 3 1 a 16): im Verhältnis einerseits zu dem Wert des zugeteilten Gutes, andererseits zu dem Wert des Empfängers dieses Gutes. N u r dieses doppelte Verhältnis kann es ermöglichen, daß in einer aus welchen Gründen auch immer akzeptierten Situation der Ungleichheit die Gleichheit wieder hergestellt wird, und zwar in der F o r m der Gleichheit zweier Verhältnisse: Das Verhältnis zwischen den D i n gen soll dem Verhältnis zwischen den Personen gleich sein, d. h. dem Gesetz der P r o portionalität genügen, so daß jeder der an der Verteilung Teilhabenden soviel von den verteilbaren Gütern b e k o m m t , wie sein eigener Wert (axia, 1131a 2 4 ) es zuläßt. Das setzt selbstverständlich voraus (ohne diese Voraussetzung wäre das Proportionalitätsprinzip belanglos), daß die Empfänger von vornherein ungleich sind, was eine entsprechende Ungleichheit der ihnen zugeteilten Güter zur legitimen Folge haben soll. Diese A r t der Gleichheit der Verhältnisse zwischen ungleichen Mengen, von den griechischen Mathematikern „geometrische Gleichheit" oder auch „Analogie" genannt, unterscheidet sich grundsätzlich von der sogenannten „arithmetischen Gleichheit" zweier Termini. Schon Piaton hatte die Gerechtigkeit als einen Fall der Analogie gekennzeichnet, er maß aber dieser mathematischen Struktur eine kosmologisch-theologische Tragweite bei, 1 0 die bei Aristoteles unerwähnt bleibt. Anstelle einer theoretischen Begründung des Proportionalitätsprinzips zeigt A r i s t o teles die praktischen Nachteile seiner Nichtbeachtung: D i e proportionale Gerechtigkeit ist ein F a k t o r des sozialen Friedens, denn „Streitigkeiten und Zerwürfnisse ergeben sich, wenn entweder gleiche Personen nicht-gleiche Anteile oder nicht-gleiche Personen gleiche Anteile haben und zugeteilt erhalten" ( 6 , 1 1 3 1 a 2 2 - 2 3 ) . Man soll diese beiden Fälle der Nichtbeachtung proportionaler Gleichheit sorgfältig voneinander unterscheiden, denn sie haben sehr unterschiedliche Folgen. Was bedeutet es zunächst,
nach Aristoteles bedingt jedoch Gerechtigkeit nicht Gleichheit, sondern das rechte Verhältnis, das nur bisweilen Gleichheit ist." 10 Die Gleichsetzung von Gerechtigkeit mit Analogie (oder geometrischer Gleichheit) kommt zumindest von Piaton und vielleicht ferner von den Pythagoräern. Vgl. Piaton, Gorgias, 508a: „Es sagen ja doch die Weisen, mein Kallikles, daß die Gemeinschaft und Freundschaft und Wohlverhalten und Besonnenheit und Gerechtigkeit es sei, die Himmel und Erde, Götter und Menschen zusammenhalten, und deshalb nennen sie dies Weltganze Weltordnung, nicht aber Unordnung oder Zuchtlosigkeit. Du aber scheinst mir darauf nicht zu achten, und trotz all deiner Weisheit bemerkst du nicht, daß die Gleichheit, die geometrische meine ich, bei Göttern und Menschen allmächtig ist. Du aber glaubst dem Ubermaß (pleonexia) nachtrachten zu müssen; so deshalb, weil du die Geometrie vernachlässigst." Im politischen Bereich wendet Piaton die Struktur der Analogie auf die Verteilung der Funktionen zwischen den drei Gesellschaftsklassen an (wie im psychologischen Bereich auf die Verteilung der Vermögen zwischen den drei Seelenteilen), aber nicht auf die Verteilung der Güter zwischen den Individuen einer und derselben Klasse: Für die Wächter wird das „kommunistische" Muster eines gemeinschaftlichen und insofern gleichen Besitzes der verfügbaren Güter (und Frauen) ausdrücklich vorgesehen (Politik, IV, 423e; V, 457a—466d).
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daß gleiche Personen ungleiche Vorzüge erhalten? Es kann sich um das faktische Übersehen einer Gleichheitssituation handeln, wie z. B. gleiche Leistungen zweier Arbeiter, die jedoch ungleiche Löhne bekommen. Wenn eine solche Situation, typischer Fall für das Entstehen eines Gefühls der Ungerechtigkeit, von allen Seiten als ungleiche Behandlung Gleichberechtigter anerkannt wird, kann sie leicht von den Verantwortlichen der Verteilung korrigiert werden. Die Schwierigkeit besteht aber meist darin, daß eine faktische Gleichheit zwischen Individuen schwer feststellbar ist. Es fragt sich, wieviel und welche Bestandteile der Situation berücksichtigt werden sollen. Zum Beispiel unterscheiden sich zwei Arbeiter eines und desselben Unternehmens, auch wenn sie gleiche Leistungen erbringen, voneinander durch das Alter, die Dauer der Anstellung, die familiären Verpflichtungen usw.: Grund genug in unseren modernen Gesellschaften, um eine gewisse Ungleichheit der Entlohnungen zu rechtfertigen. Und was innerhalb eines Unternehmens als zulässig betrachtet wird, gilt noch mehr, wenn man die Arbeitsbedingungen und die ökonomische Gesamtsituation mitberücksichtigt, die von einem Unternehmen oder von einem Land zum anderen noch verschiedener sind. Die Vielzahl der möglichen Parameter macht die Anwendung des Proportionalitätsprinzips schwierig und entbindet nicht von der grundsätzlichen Entscheidung, die richtigen Parameter zu bestimmen. Ein anderer Fall der Ungerechtigkeit ist die Nichtbeachtung einer prinzipiellen Gleichheit, z. B. jener Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die Solon in Athen unter dem Namen isonomia eingeführt hatte und die zur Zeit von Aristoteles als einer der Grundsätze der demokratischen Verfassung angesehen wurde. In diesem Fall kann gegen die Chancengleichheit der Betroffenen hinsichtlich einer korrekten Anwendung des Gesetzes, z. B. bei der Bewerbung um ein öffentliches Amt, durch Praktiken der Bestechung, der Fälschung, der willkürlichen Bevorzugung eines Einzelnen verstoßen werden. Hier erkennt man einen anderen klassischen Fall der Ungerechtigkeit. Es ist aber zu bemerken, daß es in diesem Fall nicht die Proportionalität ist, die in Frage gestellt wird, denn da, w o eine prinzipielle Gleichheit der Rechte besteht, müssen die zuzuteilenden Befugnisse für alle gleich sein, so daß die Anwendung jedwedes Proportionalitätsprinzips sich erübrigt. Die zweite Art von Ungerechtigkeit, die Aristoteles erwähnt, ist die gleiche Behandlung ungleicher Personen. Während die umgekehrte Situation Unbehagen und Aufsehen erregt, sieht man hier nicht von vornherein, gegen welches ethische Prinzip in diesem Fall verstoßen wird. Wo liegt das Übel, wenn Individuen ungleichen Wertes den gleichen Anteil von Gütern bekommen, falls diese Bevorzugung des einen, sei sie zufällig oder auch absichtlich, keinem anderen schadet? Interessanterweise wird ausgerechnet dieser Fall in einer ganz anderen Tradition durch die neutestamentliche Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Matth. 20,1-16) betrachtet, aus der ich die für unseren Vergleich relevanten Züge entnehme. Der Herr braucht Tagelöhner für die Pflege seines Weinbergs; er stellt sie je nach Bedarf im Laufe des Tages an; mit jedem angestellten Arbeiter hat er den „gerechten" Tageslohn von einem Groschen vereinbart. Als er aber am Ende des Tages allen Arbeitern, auch denen, die erst „um die elfte Stunde" geholt wurden, den gleichen Lohn von einem Groschen bezahlen läßt, löst er den Protest derjenigen aus, die den ganzen Tag gearbeitet haben und „meinten, sie würden mehr emp-
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fangen" (20,10). D e m einen unter diesen erwidert der Herr (20,13-14): „Mein Freund, ich tue dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir eins worden u m einen Groschen? N i m m , w a s dein ist, und gehe hin ... Siehest du darum scheel, daß ich so gütig (agathos) bin?" In der biblischen Parabel geht es offensichtlich u m ein anderes Prinzip der Gerechtigkeit als das aristotelische. U m welches aber? Genügt es, daß der Geber sich auf seine Wahlfreiheit beruft (20,15): „Habe ich nicht Macht zu tun, was ich will mit dem M e i nen?" Es ist aber klar, daß Aristoteles und wir mit ihm eher darauf bedacht sind, die Güterverteilung von jeder auch scheinbaren Willkür auszunehmen: Sie soll durch ein objektives Gleichheitskriterium geregelt werden. N u n , Ungleiche als Gleiche zu behandeln, das ist ein klarer Verstoß gegen die Regel der geometrischen Gleichheit. 1 1 M a n kann jedoch vielleicht die so beschriebene Situation auch von einem aristotelischen Standpunkt aus zu rechtfertigen versuchen. Zwei Möglichkeiten bieten sich dafür an. Die erste besteht in der Behauptung, daß die Arbeiter des Weinbergs deshalb mit Recht gleich belohnt werden, weil sie dem Unterschied ihrer jeweiligen Leistungen z u m Trotz in einem grundsätzlichen Sinn gleich sind: Alle haben dieselben Bedürfnisse oder besitzen dieselbe W ü r d e . In diesem Fall würden w i r uns in der schon erwähnten Grenzsituation befinden, in der sich aufgrund der Gleichwertigkeit der Personen die geometrische Gleichheit auf eine arithmetische reduziert. W i r werden zu fragen haben, ob eine solche Lage, die eine einfache Gleichheit voraussetzt, selbst für Aristoteles nicht häufiger v o r k o m m t , als die Betonung des Proportionalitätsprinzips es ahnen ließe. M a n kann sich aber auch eine zweite „aristotelische" Interpretation der biblischen Parabel erdenken, die der Proportionalität ihre Rechte beläßt, und in diesem Sinne folgendermaßen argumentieren: Zwar werden die Arbeiter der elften Stunde überbezahlt, da sie für eine Stunde Arbeit denselben Lohn bekommen w i e jene, die zwölf Stunden gearbeitet haben, also für eine Stunde zwölfmal mehr; diese Bevorzugung aber kann als gerechte Kompensierung ihrer anfänglichen Benachteiligung angesehen werden. Wenn die Arbeiter der elften Stunde nicht früher gearbeitet haben, ist es nicht aus Faulheit, sondern weil „niemand sie gedingt hatte" (Matth. 20,6): sie sind also die Verlassenen bzw. die Ausgeschlossenen, die Glück- und Erfolglosen, mit einem Wort die Schwachen, die „Letzten" der Gesellschaft. Ist es also nicht legitim, ihnen einen momentanen und vorübergehenden Vorzug, eine Art Zuschuß, zu gewähren, der nicht willkürlich zu sein braucht, da er den von den Betroffenen durchlebten Schwierigkeiten und Leiden proportional berechnet werden kann? Dafür zu sorgen, daß die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten werden, w i e die Parabel es abschließend verkündet, ist eine A r t und Weise, die Gleichheit durch die Bevorzugung der Benachteiligten wieder herzustellen. Diese Interpretation entspricht wahrscheinlich nicht der Absicht dieser Stelle des Evangeliums, die eher auf die „Güte" Gottes und die Freiheit seiner Gnade hinweisen 11
An einer Stelle der Politik (II, 5,1263a 12ff.) bezeichnet Aristoteles eine ähnliche Situation wie in der Parabel als „ungleich", also ungerecht: „Wenn zwischen dem Genuß der Vorteile und der Arbeitsleistung keine Gleichheit eingehalten wird, so müssen unvermeidlich gegen die, die viel genießen oder bekommen und wenig leisten, von Seiten derer, die weniger bekommen und mehr leisten, Beschwerden laut werden."
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will. Sie hätte auch nicht von Aristoteles befürwortet w e r d e n können. N i c h t s d e s t o w e niger besitzt sie eine gewisse Aktualität. N u r eine negative A n w e n d u n g des P r o p o r t i o nalitätsprinzips in F o r m eines umgekehrten Verhältnisses des zugeteilten Gutes z u r sozialen Position der Person oder - was aufs gleiche h i n a u s k o m m t - einer direkten Proportionalität der zugeteilten Vorteile zu den vorher erlittenen Nachteilen erlaubt es, in einer sozialistischen oder sozialdemokratischen Perspektive zu rechtfertigen, daß die vorher Benachteiligten zumindest soviel, d. h. proportional mehr als die schon Privilegierten b e k o m m e n . N u r mit einem solchen A r g u m e n t konnte man es z. B. in den ehemaligen Ostblockländern begründen, daß Arbeiterkinder in die Universität a u f g e n o m m e n w u r d e n , ohne die gleichen Fähigkeiten nachweisen zu müssen, die von den B e w e r b e r n aus bis dahin privilegierten Klassen, falls sie überhaupt zugelassen w u r d e n , zu erlangen waren. So w i r d auch das Q u o t e n s y s t e m etwa in den U S A legitimiert, w o nach auch bei ungleichen Fähigkeiten und Leistungen dem zu schützenden B e w e r b e r gleiche oder sogar größere Chancen zugebilligt werden. N u r eine ähnliche Rechtfertigung kann Sonderrechte, d. h. überproportionale Rechte für Minderheiten, legitimieren, die sich bis jetzt diskriminiert fühlten. Selbst die in vielen Ländern praktizierte Progressivität der Personalsteuern, die für die Reicheren die Proportionalität der Steuer z u m E i n k o m m e n nach oben hin „korrigiert", geht in dieselbe Richtung. Aristoteles hätte solche Korrekturen am Proportionalitätsprinzip wahrscheinlich nicht akzeptiert, weil der Vorteil, der einigen - aus „Güte" eher als aus strikter Gerechtigkeit - gewährt wird, nicht umhin kann, andere u m ihren „gerechten" Teil zu bringen, vorausgesetzt, daß die Quantität der zu verteilenden Güter eine beschränkte ist. A u c h im Evangelium w a r die Unschädlichkeit der Bevorteilung die gesetzte B e d i n g u n g : „Ich tue dir nicht U n r e c h t " , w u r d e dem u m den proportionalen L o h n gebrachten A r b e i t e r tröstend versichert. Ist es aber der Fall? Die Schwierigkeit oder sogar die U n m ö g l i c h k e i t , diese Bedingung zu erfüllen, ist ein A r g u m e n t gegen die neuerdings von J o h n R a w l s vertretene Auffassung von der Gerechtigkeit. Laut R a w l s darf von einer gleichmäßigen Verteilung der Elementargüter unter der Bedingung abgesehen werden, daß d a d u r c h n i e m a n d e m geschadet w i r d und alle Beteiligten einen Vorteil davon haben. 1 2 M a n kann aber nicht beweisen, daß in einem geschlossenen wirtschaftlichen Ganzen die Bevorteilung der einen ohne die Benachteiligung der anderen erfolgen kann. R a w l s w ü r d e wahrscheinlich erwidern, daß es darauf ankommt, was man unter „Vorteil" versteht. Vorteilhaft kann es z. B. für die weniger Begabten sein, höhere B e z a h l u n gen für Kompetentere zu erdulden, w e n n die Kompetenz dieser zur Bereicherung aller beiträgt. Vorteilhaft kann auch für die gesellschaftlich Bevorzugten der freiwillige Verzicht auf einen Teil der ihnen proportional z u k o m m e n d e n Vorteile sein (z. B., indem sie überproportionale Steuern bezahlen), w e n n dieser Verzicht zu dem sozialen Frieden beiträgt, von d e m auch sie profitieren. Da aber die Vorteile der Ungleichheit eher subjektiv als objektiv sind und insofern kein natürliches F u n d a m e n t haben, m u ß zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft von vornherein vereinbart werden, w e l c h e U n g l e i c h heiten zugelassen w e r d e n können. R a w l s beruft sich deshalb auf kein objektives, ge-
12 J o h n Rawls, A T h e o r y of Justice, Cambridge/Mass. 1971, Abs. 11.
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schweige denn mathematisches Prinzip der Proportionalität und meint, daß annehmbare Ungleichheiten notwendigerweise nur auf einer vertragsmäßigen Entscheidung beruhen können. Nichts Ähnliches bei Aristoteles. Gerechtigkeit ist für ihn nie das Ergebnis einer Entscheidung, eine Art sekundäre Qualität, die auf Personen oder Situationen aufgrund eines Urteils projiziert werden könnte, sondern die reale Eigenschaft der als gerecht anerkannten Personen bzw. Situationen. Alle Menschen sind sich darüber einig, daß sich jede Verteilung nach objektiven Kriterien richten soll. Dieser Konsens ist nicht das Ergebnis einer Vereinbarung, sondern Zeichen der Natürlichkeit des Gegenstandes der Übereinstimmung. Insofern ist das Prinzip der proportionalen Verteilung ein natürlich fundiertes. Wenn alle Menschen in der impliziten Anerkennung dieses Prinzips übereinstimmen, ist es doch nicht auszuschließen, daß sie, wie im Fall anderer ethischer Begriffe, wie z. B. dem der Glückseligkeit, über den Inhalt solcher allgemeinen Voraussetzungen uneins sind. Es fragt sich also, an welchem natürlichen Wert die Gerechtigkeit einer Verteilung gemessen werden soll. Erstaunlich genug, antwortet Aristoteles, daß dieser Wert je nach der herrschenden politischen Verfassung ein anderer ist: in der Demokratie ist es die Freiheit als politischer Status des Bürgers; in der Oligarchie das persönliche Vermögen oder der Adel der Geburt; in der Aristokratie die Tugend (1131a
27-29).
Es mag für uns befremdlich sein, daß Aristoteles diese Verschiedenartigkeit konkurrierender Grundwerte beschreibt, ohne daran Anstoß zu nehmen. Wird die Gerechtigkeit dadurch nicht auf eine gewisse Willkürlichkeit ihrer Anwendungsbedingungen festgelegt und muß sie nicht darüber ihren natürlichen Charakter einbüßen? Man kann auf diesen Einwand zweierlei antworten. Erstens könnte man sich auf eine Hierarchie der politischen Verfassungen berufen, wonach die vollkommenste die Aristokratie ist, welche die Tugend zum Maßstab der Verteilung erhebt. Die natürlichste F o r m der Gerechtigkeit wäre die, die dem Kanon der Tugend folgt, wobei die Frage bis zu einem gewissen Grad offen bleibt, worin die Tugend in jeder Situation besteht und welche Tugenden in ihrer Differenziertheit von den Menschen jeweils als maßgebend anerkannt werden. 1 3 Vielleicht aus diesem Grund wählt Aristoteles einen anderen Weg, um die Naturgemäßheit des gerechten Verteilens in jedem konkreten Fall zu fundieren. Die Gerechtigkeit ist für ihn von dem Moment an hinreichend definiert, wo sie im Zusammenhang mit der Verfassung verstanden wird, in der sie auszuüben ist. 14 Die natürliche Gerechtigkeit ist diejenige, die mit ihrem institutionellen Rahmen jeweils im Einklang steht. Die Regeln der Gerechtigkeit, sagt Aristoteles, „sind nicht überall (pantackou) diesel-
13
So erklärt es sich, daß das Gefühl der Gerechtigkeit stark von den Tugendparadigmen abhängt, die zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gemeinschaft vorherrschen, so daß der historisch bedingte Wechsel dieser Paradigmen pauschal als „ungerecht" empfunden wird. D a r a u f h a t der letzte Ministerpräsident der D D R , Lothar de Maiziere, mit Recht hingewiesen, als er die Nichtbeachtung der „eingebrachten" Tugendmodelle aus der früheren Zeit, so bedenklich diese Zeit auch gewesen sein mag, als einen Faktor der Verunsicherung des Gerechtigkeitsgefühls in den neuen Bundesländern analysiert hat. 14 Vgl. 1130b 33.
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ben, da die F o r m der Regierung nicht überall dieselbe ist" (V, 10,1135a 2 - 5 ) . Im U n t e r schied e t w a zu dem Feuer, das aufgrund seiner physischen N a t u r auf die gleiche Weise in Persien und in Griechenland brennt, braucht man die Rechtsregeln nicht deswegen als widernatürlich und willkürlich zu betrachten, weil sie von einem Land z u m anderen unterschiedlich sind. Da die menschliche N a t u r sich hie und da verschieden m a n i f e stiert, ist es naturgemäß, daß das Gerechte sich hie und da verschieden v e r w i r k l i c h t , w e n n diese Verwirklichung jener Verfassung angemessen ist, die für das gegebene Volk und unter den gegebenen U m s t ä n d e n jeweils die beste ist. 15 In menschlichen A n g e l e genheiten schließt die Natürlichkeit die Wandelbarkeit nicht aus. Die Wandelbarkeit des Maßstabes schließt aber auch nicht aus, daß es gewisse K o n stanten gibt. Das Proportionalitätsprinzip, das die Ungleichheit voraussetzt, kann nicht bei jeder Gelegenheit angewandt werden, in den Fällen nämlich, w o keine U n g l e i c h h e i t besteht. H i e r greift die zweite A r t der Gerechtigkeit ein, die Aristoteles analysiert: die berichtigende ( d i o r t h ö t i k e ) oder kommutative Gerechtigkeit. 1 6 Es handelt sich u m diejenige F o r m der Gerechtigkeit, welche die Richtigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen ( s y n a l l a g m a t a ) sichert (5, 1131a 1). Darunter w i r d eine breite Vielfalt von Situationen subsumiert: einerseits „freiwillige", d. h. durch einen Vertrag geregelte Geschäfte (Verkauf, Kauf, Anleihe, Vermietung usw.); andererseits leidenschaftsbedingte - Aristoteles sagt „unfreiwillige" - Verhältnisse oder eher Mißverhältnisse, die d e m vernünftigen Willen entgehen (Aristoteles bringt hier eine lange Liste von solchen Fällen, die w i r heute als „Delikte" bezeichnen w ü r d e n : Diebstahl, Ehebruch, Kuppelei, falsches Zeugnis, Entführung, Mord, Beleidigung usw.) (5,1131a 8 - 1 0 ) . Diese zweite F o r m der Gerechtigkeit umfaßt also die Bereiche des Vertrags- und des Strafrechts. M a n k a n n annehmen, daß sie auch den Bereich des wirtschaftlichen Austausches mit einbezieht. 1 7 Dieses immense A n w e n d u n g s f e l d unterscheidet sich von d e m der distributiven Gerechtigkeit dadurch, daß es nur private, zwischenindividuelle Beziehungen einschließt, w ä h r e n d die distributive Gerechtigkeit sich mit der Verteilung von „gemeinschaftlichen Gütern" ( c h r e m a t a koina, 1131b 2 8 - 2 9 ) befaßt, d. h. mit jenen Gütern, über die die Polis verfügt und deren Verteilung dem jeweiligen Beitrag des Einzelnen z u m Wohl der politischen Gemeinschaft proportional angemessen sein soll (1131b 31). I m Fall privater Verhältnisse aber sind alle Menschen in ihren Rechten gleich, so daß hier ein Prinzip der „arithmetischen Proportion" (7, 1132a 2), d. h. des arithmetischen Mittels, angewendet w e r d e n soll: Es geht hier u m die Erhaltung und eventuelle Restaurierung einer arithmetischen Gleichheit. Aristoteles formuliert es folgendermaßen: Wenn
15
„Es gibt überall (pantachou) nur eine Staatsform, die die beste ist" (V, 10, 1135a 5). Ich gebe pantachou hier einen partitiven, nicht kollektiven Sinn. Auch Hans-Georg Gadamer scheint diese Stelle so zu verstehen („Wahrheit und Methode" [1960], in: ders., Gesammelte Werke I, 1990, 325). Vgl. Pierre Aubenque, „La loi selon Aristote", in: Archives de Philosophie du Droit, 25, 1980, 147-157, insbes. 154. 16 „Kommutativ" ist die traditionelle, von Thomas von Aquin stammende Ubersetzung. Man kann sie insofern beibehalten, als diese Art der Gerechtigkeit alle Formen des Austausches ( c o m m u t a r i o ) , auch den wirtschaftlichen, betrifft. 17 Siehe das ganze Kap. 8.
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ein Individuum A durch ein Individuum B einer Quantität M unrechtmäßig beraubt worden ist, dann wird die Gleichheit von A und B durch die Rückgabe von M wiederhergestellt, so daß das Endergebnis für jeden als das arithmetische Mittel zwischen den Situationen gelten kann, die sukzessiv aus dem Verlust bzw. der illegalen Bereicherung und dem Rückerwerb bzw. der Rückgabe entstehen. Diese etwas umständliche Berechnung soll klar machen, daß die kommutative Gerechtigkeit, auch wenn sie nicht proportional nach der Regel „Ungleiches zu Ungleichem" verfährt, nicht deswegen als Gleichmacherei mißverstanden werden darf. Was erhalten werden soll, das ist nicht eine Gleichheit der Situationen, die nie vorhanden war (z. B. mag es sein, daß der Bestohlene reicher ist als der Dieb und es nach dem Rückerwerb bleiben wird), sondern eine Gleichheit der Personen, die unabhängig von den Situationen ist. Diese absolute, nicht situationsbedingte Gleichheit der Personen ist das Prinzip, das angewandt werden soll, um einerseits die strenge Einhaltung der Verträge zu sichern und andererseits das Gleichgewicht wiederherzustellen, das durch ein Delikt erschüttert worden ist. Im letzteren Fall hat der Richter, der über den Fall urteilt, die Aufgabe „auszugleichen" (1132a 24), und zwar, in dem oben erwähnten einfachsten Fall des Diebstahls, durch die Erzwingung der Rückgabe oder, wenn die Rückgabe nicht möglich ist (wie z. B. im Fall einer irreversiblen Körperverletzung), durch die Auflage einer Entschädigung; hinzu kommt eine Bestrafung des Täters, die den Zweck hat, durch das dem Verurteilten auferlegte Leiden jenes Leiden möglichst auszugleichen, das das Opfer ertragen hat. Der Richter ( d i k a s t e s ) ist ein Vermittler, d. h. gemäß einer erfundenen, aber sinnvollen Etymologie derjenige, der durch zwei (dicha) teilt (7, 1132a 30-32). A u s diesem Prinzip der nichtproportionalen, absoluten Gleichheit zieht Aristoteles die für seine Zeit neue, ja, sogar revolutionäre Folgerung, daß die Justiz ohne Ansehen der Person urteilen soll, d. h. absehend von der sozialen Qualität von Opfer und Täter: 18 Ein Adliger, der einen Sklaven ermordet, soll nicht weniger bestraft werden als ein Sklave, der einen Adligen tötet. Diese Konsequenz folgt aus dem bedingungslosen Charakter des Prinzips der kommutativen Gerechtigkeit. Die scheinbaren Ausnahmen, die Aristoteles erwähnt, sind in Wahrheit keine. 1 9 Welches ist aber die Rechtfertigung dieses Prinzips ? Es beruht auf dem gleichen natürlichen Anspruch jedes Menschen auf den Besitz bestimmter Elementargüter, die für sein Leben schlechthin (to zen) und für eine gute Führung dieses Lebens (to eu zen) unentbehrlich sind. Die Liste der von Aristoteles aufgezählten Delikte gibt Auskunft über jene Güter, an denen unter keinen U m ständen gerüttelt werden darf: das Leben selbst, die Integrität der Person, das Eigentum als solches (nicht als quantifiziertes), die freie Verfügung über sich selbst (durch Entführung oder Prostitution verletzt), ein geregeltes Familienleben (durch den Ehebruch zerstört), der gute Ruf und die Selbstachtung (beide durch die Verleumdung erschüt18
V g l . V, 10, 1 1 3 2 a 4 - 5 : „Das G e s e t z sieht n u r auf den Unterschied des Schadens u n d es behandelt die Personen als gleiche (chretai es isois)."
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S o z. B. die rechtliche Regel, w o n a c h die Beleidigung des Trägers eines öffentlichen A m t e s s c h w e rer bestraft w i r d als die Beleidigung einer privaten Person ( 8 , 1 1 3 2 b 2 8 - 3 0 ) . G r u n d d a f ü r ist nicht, daß der A m t s t r ä g e r einen höheren W e r t hätte, sondern daß das in ihm und d u r c h seine Person h i n d u r c h Geschändete nicht n u r er selbst, sondern der Staat ist.
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tert) usw. D a aber der Genuß einiger von diesen Gütern, wie das Eigentum, die G e sundheit oder selbst das Leben zum Teil vom Zufall abhängig ist, kann die von Aristoteles für alle Menschen beanspruchte Gleichheit nur das gleiche Recht auf deren Besitz bedeuten, ein Recht, dessen Ausübung für jeden Einzelnen die gleiche Chance voraussetzt, zu diesen Gütern Zugang zu haben. Es gibt also für Aristoteles eine Gleichheit aller Menschen bezüglich der Ausübung von Rechten: Diese Gleichheit beruht auf einer gemeinsamen menschlichen Natur, die unter den Menschen gleich verteilt ist. Diese Gleichheit ist das Fundament der kommutativen Gerechtigkeit. In allen ihren Aspekten erfährt die Gerechtigkeit für Aristoteles eine natürliche Grundlegung. Diese Grundlegung aber ist eine doppelte: In seiner Beziehung zu der politischen Gemeinschaft hat jeder Mensch eine Stellung inne, er füllt eine Funktion aus, infolgedessen wird ihm ein Wert zuerkannt, in Verhältnis zu welchem er einen entsprechenden, proportional bestimmten Teil der sozialen Güter zugeteilt bekommt. A b e r in seiner privaten Beziehung zu den anderen Menschen, einer Beziehung also, die nicht von der politischen Gemeinschaft vermittelt wird, besitzt jeder Mensch das gleiche Recht wie alle anderen, eine gewisse Zahl von elementaren und unveräußerlichen Gütern zu genießen. 20 Während die Ausübung der Bürgerrechte die Beachtung der Proportionalität erfordert, sind die Menschenrechte unteilbar, unquantifizierbar und allgemein, denn sie gehören allen Menschen, insofern sie Menschen sind. D i e menschliche Natur ist doppelseitig: einerseits ist sie wandelbar und durch ihre politischen Erscheinungsformen innerlich differenziert; andererseits ist sie überall eine und dieselbe im Hinblick auf das Recht, das sie jedem Menschen zuspricht, sein eigentliches Seinkönnen, das ihm als Mensch zukommt, auf die ihm eigenste Weise zu verwirklichen.
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Diese Dualität von Modellen - proportional geregelte Verteilung einer beschränkten Quantität von Gütern unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft oder gleichmäßige Zuweisung eines abstrakten universalen Vermögens an alle Menschen - liegt dem berühmten M y t h o s v o n Protagoras zugrunde, wie er von Piatons Protagoras
( 3 2 0 c ff.) nacherzählt wird. In der ersten F o r m der Ver-
teilung geht es um technische Vermögen. Die universalen, ohne Ansehen der Person gleichmäßig vergebenen Güter sind der Anstand (aidös) und die Gerechtigkeit (dike). Der Demokrat Protagoras neigt klarerweise zu dem zweiten Modell. Aufgrund seiner hierarchischen Auffassung v o m Staat bevorzugt Piaton das erstere. Aristoteles nimmt die Qualität der Modelle an.
José de Sousa e Brito
Die gerechte Begrenzung der Gerechtigkeit im Recht
Die Tradition des abendländischen Denkens hat die Begriffe des Rechts und der Gerechtigkeit immer in einem Zusammenhang miteinander gedacht. Die Sprache lud bereits dazu ein: „Gerechtigkeit" stammt von „Recht" ab, wie etwa im Griechischen „dikaiosyne" von „dikaion" und im Lateinischen „iustitia" von „ius". In den modernen romanischen Sprachen, wie im Französischen, gibt es keinen etymologischen Zusammenhang zwischen „justice" und „droit". Dies ist zwar sehr modern, aber wer - w i e der thomistische Rechtsphilosoph Michel Villey - gerne Lateinisch denkt, ersetzt das Wort „droit" durch das Wort „juste", 1 wenn es darum geht, genau zu denken. U b e r die Worte hinaus führt die traditionelle Definition der Gerechtigkeit als Tugend bzw. Disposition oder „ständiger Wille, jedem sein Recht zu geben" („constans et perfecta voluntas ius suum unicuique tribuere") 2 zum Recht. Die moderne Fragestellung trennt die Frage nach dem Recht von der Frage nach der Gerechtigkeit. Daß sowohl Gesetze wie auch Gerichtsurteile ungerecht sein können, hat man immer schon gewußt: die Antigone des Sophokles und der platonische Sokrates haben bereits darüber nachgedacht. Typisch modern ist es jedoch, das Problem mit zwei weiteren Thesen zu verbinden: Mit der Auffassung, daß Sein und Sollen zu trennen sind und mit der Annahme, daß die Vernunft lediglich mit der theoretischen Wahrheit zu tun hat. Der Unterschied zwischen der Art und Weise, wie man lebt und der, wonach man leben sollte, 3 war für Machiavelli die methodische Grundlage einer wissenschaftlichen Politik, die sich der Frage nach der idealen Republik enthielt. Galilei hat schon aus dem modernen Wissenschaftsbegriff die kühne Folgerung gezogen, daß es im Recht ... weder Wahrheit noch Falschheit gibt, 4 ohne dies allerdings näher zu begründen. Aber erst H u m e hat beide Thesen miteinander verknüpft und maßgeblich formuliert: „no ought from an is" (aus Seinssätzen sind keine Sollenssätze abzuleiten). 5 Das ist Humes Gesetz, an dem sich die guten von den schlechten Moraltheorien schei1 2 3 4 5
Michel Villey, Questions de Saint Thomas sur le droit et la politique, Paris 1987, 114. Dig., 1.1.10. Vgl. Niccolò Machiavelli, Il Principe (De Principatibus), hrsg. von B. Richardson, Manchester 1979,44. Vgl. Galileo Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi. Le opere, Bd. VII, hrsg. v o n A . Favaro, Florenz 1 8 9 0 - 1 9 0 9 (Nachdruck: 1933), 78. David Hume, A Treatise of Human Nature, hrsg. v o n P. H. Nidditch, O x f o r d 2 1978, 4 5 5 f f .
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den, die solch einen logischen Fehler begehen, wie z. B. die Naturrechtslehre. Vielmehr sind unsere moralischen Unterscheidungen, wie gut oder böse, gerecht oder ungerecht, aus der Vernunft, d. h. von wahren Sätzen, nicht ableitbar, sondern durch Passionen und willentliche Zielsetzungen bestimmt. Auf der Grundlage dieser Überlegungen verlagerte man das Gebiet der Gerechtigkeit außerhalb des Seins und auch außerhalb der Vernunft. Hume ist somit der geistige Vater des Rechtspositivismus. In der Auseinandersetzung mit zwei der bedeutendsten Rechtspositivisten, die explizit auf H u m e zurückgegriffen haben - Jeremy Bentham und Hans Kelsen - werden wir sehen, wie in der Folge von Hume der Rechtspositivismus sich mit den drei Begriffen Recht, Gerechtigkeit und Vernunft auseinandersetzt. Anschließend möchte ich den wichtigsten Versuch einer Widerlegung des Rechtspositivismus in der heutigen Rechtsphilosophie, denjenigen von Dworkin, betrachten und daran anknüpfen.
1. Die moderne Frage nach Recht und Gerechtigkeit: Hume und Bentham Bentham hat Humes Gesetz auf das Recht so angewandt, daß er einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Recht, wie es ist, und dem Recht, wie es sein soll, annahm. Die Ausführungen in seinem ersten Werk, Fragment on Government von 1776, zeigen in der Terminologie und Gedankenwelt ganz deutlich die Abstammung von Hume: „To the province of the Expositor it belongs to explain to us what, as he supposes, the Law is: to that of the Censor, to observe to us what he thinks it ought to be. The former, therefore, is principally occupied in standing, or in enquiring after facts: the latter, in discussing reasons. The Expositor, keeping within his sphere, has no concern with any other faculties of the mind then the apprehension, the memory, and the judgement: the latter, in virtue of those sentiments of pleasure or displeasure which he finds occasion to annex to the objects under his review, holds some intercourse with the affections."6 Also ist das Recht eine Tatsache, die es zu beschreiben gilt, und gehört deswegen einer anderen Sphäre an als derjenigen der Gerechtigkeit, des Rechts wie es sein soll, der Moral. Es bleibt selbstverständlich zu erklären, was für eine Tatsache das Recht ist. Dazu sagt Bentham in einer Fußnote zum vorigen Text: „The establishment of a Law may be spoken of as a fact, at least for the purpose of distinguishing from any consideration that may be offered as a reason for such Law." Bentham distanziert sich allerdings von Hume in bezug auf seine Einschätzung der Vernunft. Mit Blick auf die Geschichte der Philosophie kann es als eine der wesentlichen Leistungen des Utilitarismus von Bentham gelten, die praktische Vernunft erneut wissenschaftsfähig gemacht zu haben. Außerdem hat er unabhängig von Leibniz (erst in diesem Jahrhundert wurde die Leibnizsche deontische Logik veröffentlicht) im Hinblick auf die Gesetze des Rechts eine Logik des Willens als eine Art deontische Logik
6 Jeremy Bentham, A Comment on the Commentaries and a Fragment on Government, hrsg. von J. H. Burns und H. L. A. Hart, London 1977, 397.
Begrenzung der Gerechtigkeit im Recht
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(von Gebot, Verbot und Erlaubnis) entwickelt. 7 Die methodische Trennung zwischen Sein und Sollen hat Bentham inspiriert, in der utilitären Vernunft ein erklärendes und ein deontologisches (oder „zensorisches") Prinzip zu unterscheiden. Nach dem erklärenden Prinzip wird bestimmt, wie sich jeder Mensch verhält, nämlich nach der jeweiligen Auffassung seines individuellen Interesses. Das deontologische Prinzip gibt Auskunft darüber, wie sich der Mensch verhalten soll: Sein Verhalten soll in höchstem Maß zum Wohlsein derjenigen sensiblen Wesen beitragen, auf die es einen gewissen Einfluß hat. 8 Das erklärende Prinzip würde nun aufweisen, wie sich eine Rechtspflicht konstituiert, nämlich durch die Wahrscheinlichkeit eines durch die rechtliche Sanktion verursachten Schmerzes im Falle, daß man nicht in entsprechender Weise handelt. Bentham hat später eine subtilere Theorie der Rechtspflicht entwickelt, wonach eine Rechtspflicht immer dann besteht, wenn der Gesetzgeber eine bestimmte Handlung gebietet oder verbietet. Daß es Sanktionen gibt, ist nur wesentlich für die Beschreibung des Gesetzgebers als politischem Vorgesetzten und somit als Gebotserteiler. Die heutigen Positivisten stehen der zuletzt genannten Erklärung näher, auch wenn sie über eine bessere Theorie der Rechtsquellen - etwa auf der Grundlage der Anerkennung durch die Rechtsanwendungsorgane und -Subjekte - verfügen, als mit dem Hinweis auf eine mit Sanktionen bewaffnete Souveränität gegeben ist. Das erklärende Prinzip würde auch erklären, welche Sanktionen geeignet sind, um die Konformität des persönlichen Interesses mit der Rechtspflicht zu gewährleisten. Nach dem deontologischen Grundsatz wird bestimmt, welche Inhalte das Recht haben soll, um das allgemeine Wohl zu maximieren. Nach einem solchen allgemeinen Vernunftgrundsatz würden wir auch wissen, wann es dem allgemeinen Wohl entspricht, dem Gesetz Gehorsam zu leisten oder ihn zu verweigern; letzteres ist der Fall, wenn es den Interessen aller eher dient, sich dem Gesetz zu entziehen, Widerstand zu leisten oder eine Revolution zu machen.
2. Kelsen oder die Aufhebung der Vernunft im Recht Kelsen ging zwar nicht von Hume aus, er näherte sich ihm jedoch im Laufe seines Lebens. Für Kelsen gehört das Recht nicht zum Bereich des Seins (wo Bentham es ansiedelte), sondern, da es aus Normen besteht, zum Bereich des Sollens. Das Recht als ein System von Normen kann sich deshalb nur durch dasjenige vom Normensystem der Gerechtigkeit unterscheiden, wodurch sich verschiedene Normensysteme ganz generell voneinander unterscheiden: durch die in ihnen geltende Grundnorm. „Sollen" ist nach Kelsen der subjektive Sinn eines menschlichen Willensaktes, der intentional auf das Verhalten eines anderen gerichtet ist. „Aber nicht jeder solche Akt
7
Vgl. José de Sousa e Brito, „Relire Bentham", in: Archives de philosophie du droit, 17 (1972), 458ff.
8
Vgl. José de Sousa e Brito, „Praktische Vernunft und Utilitarismus", in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 51 (1993), 8 7 - 1 0 1 , hier 90ff.
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hat auch objektiv diesen Sinn. Nur wenn er auch objektiv den Sinn des Sollens hat, bezeichnet man das Sollen als ,Norm'." 9 „Dies ist dann der Fall ..., wenn dieser Akt durch eine Norm ermächtigt ist, die darum als eine „höhere" Norm gilt. Der Befehl eines Gangsters, ihm eine bestimmte Geldsumme zu geben, hat denselben subjektiven Sinn wie der Befehl eines Steuerbeamten, nämlich den Sinn, daß das Individuum, an den der Befehl gerichtet ist, eine bestimmte Geldsumme leisten soll. Aber nur der Befehl des Steuerbeamten, nicht der Befehl des Gangsters hat den Sinn einer geltenden, den Adressaten verpflichtenden Norm, nur der eine, nicht der andere ist ein normsetzender Akt: weil der Akt des Steuerbeamten durch ein Steuergesetz ermächtigt ist, während der Akt des Gangsters auf keiner solchen ihn ermächtigenden Norm beruht." 10 Kelsen gelangt zu seinem Stufenbau der Rechtsordnung, in welcher die Verfassung als die höchste Norm (als Sinn eines ermächtigenden Aktes des verfassungsgebenden Organs) gilt. Es kann deshalb keine die Verfassung ermächtigende Norm geben, weil es keine entsprechenden Willensakte einer über der Verfassung stehenden Autorität gibt. Die ermächtigende Norm muß trotzdem vorausgesetzt werden, damit die verfassungsgebende Versammlung als zuständig und die Verfassung selbst als geltend gedacht werden können. Kelsen nennt sie die „Grundnorm". Wenn die Gerechtigkeit als geltendes Normensystem gedacht wird, muß auch dieses eine Grundnorm und eine höchste normgebende Autorität (d. h. Gott) voraussetzen. Zwei Normensysteme können jedoch nach Kelsen nicht gleichzeitig als geltend gedacht werden. Wenn das Recht als geltend gedacht wird, kann der Gerechtigkeit kein objektives Sollen zukommen. Konsequenzen dieser Art sind für Kelsen um so mehr unvermeidlich, als es für ihn keine logische Beziehung zwischen Normen gibt. Keine Norm läßt sich von anderen Normen ableiten. Zwei Normen können sich widersprechen und trotzdem beide gelten. Diese Lehre hat Kelsen allerdings erst relativ spät, insbesondere in seiner Allgemeinen Theorie der Normen entwickelt. 11 In der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre schreibt er: „Da Rechtsnormen als Vorschreibungen, das heißt als Gebote, Erlaubnisse, Ermächtigungen weder wahr noch unwahr sein können, ergibt sich die Frage, wie logische Prinzipien, insbesondere der Satz vom Widerspruch und die Regeln der Schlußfolgerung auf das Verhältnis zwischen Rechtsnormen angewendet werden können (so wie dies die Reine Rechtslehre seit jeher getan hat), wenn, traditioneller Anschauung nach, diese Prinzipien nur auf Aussagen anwendbar sind, die wahr oder unwahr sein können. Die Antwort auf diese Frage ist: daß logische Prinzipien, wenn nicht direkt, so doch indirekt, auf Rechtsnormen angewendet werden können, sofern sie auf die diese Rechtsnormen beschreibenden Rechtssätze, die wahr oder unwahr sein können, anwendbar sind. Zwei Rechtsnormen widersprechen sich und können daher nicht zugleich als
9
Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Wien 7. Ebd., 7f. Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, Hrsg. v o n K. Ringhofen und R. Walter, Wien 1979, 166ff.
2 1960,
10 11
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gültig behauptet werden, wenn die beiden sie beschreibenden Rechtssätze sich widersprechen; und eine Rechtsnorm kann aus einer anderen abgeleitet werden, wenn die sie beschreibenden Rechtssätze in einen logischen Syllogismus eingehen können." 12 Der Rechtssatz, der das Verbot der kommunistischen Partei zur Norm erhebt, widerspricht dem Rechtssatz nicht, der die Norm formuliert, die die kommunistische Partei erlaubt. Trotzdem können beide Normen nicht gleichzeitig als gültig gedacht werden. Gerade das Gegenteil sowohl der älteren wie der neueren Thesen Kelsens ist richtig: Es gibt sich widersprechende Normen und eine Normenlogik, die entsprechenden Rechtssätze widersprechen sich aber nicht. Mit seiner späteren Verneinung der Logik im Recht kommt Kelsen in Humes größte Nähe. Kelsen weiß auch warum: „In Bezug auf das Verhältnis von Sein und Sollen ist Hume konsequenter als Kant. Für ihn gibt es keine praktische Vernunft." 13
3. Die Wiedergewinnung der Gerechtigkeit durch Rechtsprinzipien nach Dworkin Ronald Dworkin hat eine großangelegte Attacke gegen den Rechtspositivismus auf das Hauptargument gestützt, daß er das Recht auf Regeln (Kelsen würde eher sagen: „auf Normen") reduziert. Von diesem Regelmodell werde jedoch unterschlagen, daß es im Recht auch Prinzipien und politische Maßnahmen (policies) gibt, die eine andere Logik haben als die Regeln. Die Prinzipien stehen nämlich in einer anderen Beziehung zu den Gegenbeispielen, die gegen seine Formulierung aufgestellt werden können, als die Regeln. Ein Gegenbeispiel zu einer Regel impliziert eine das Beispiel umfassende, konträre Regel und deswegen einen Regelkonflikt. Dieser Konflikt kann nur durch die Umformulierung oder Ungültigkeit einer der Regeln, die eine Ausnahme einführen, gelöst werden. Ein Prinzip kann aber einem anderen Prinzip oder einer Regel im Falle des Gegenbeispiels weichen, ohne dadurch ungültig zu sein oder umformuliert werden zu müssen. Das wird durch die spezifische Dimension eines Prinzips, durch sein Gewicht, das sich gegenüber anderen Prinzipien oder Regeln abwägen läßt, verständlich. U m ein einfaches Beispiel zu geben: Die Regel „Es ist verboten, einen Menschen zu töten" ist nur dann mit der Notwehr vereinbar, wenn sie eine Ausnahme für Notwehrfälle beinhaltet. Andererseits weichen die sonst in Notstandsfällen geltenden Prinzipien der Güterabwägung in einer Notwehrlage (also bei einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff) dem vorrangigen Prinzip: „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen." Dworkins Ausführungen über die Logik der Rechtsprinzipien ist grundsätzlich zuzustimmen. 14 Sie können aber nicht als ein Argument gegen den Rechtspositivismus gelten, sondern lediglich gegen diejenigen rechtspositivistischen Lehren, die den Stellenwert der Prinzipien und ihrer besonderen Logik verkennen. So kann z. B. Hart die 12 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, a. a. O., 76f. 13 Hans Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, a. a. O., 68. 14 Vgl. Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge/Mass. 1977, 22ff.; vgl. auch Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt/M. 1986, 75ff.
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Prinzipien in seine Rechtstheorie wohl integrieren, wie er es in seiner Antwort auf Dworkin getan hat. 15 Was der Rechtspositivismus nicht akzeptieren kann, ist der vernünftige Gebrauch der Rechtsprinzipien nach Dworkin. Während für die Rechtspositivisten nur die Prinzipien, die in den Rechtsquellen formuliert werden oder die aus den Vorschriften der Rechtsquellen logisch abgeleitet werden können, als Recht anerkannt werden können, sind für Dworkin alle diejenigen Prinzipien dem Recht immanent, die die bestmögliche Begründung für die in den Rechtsquellen vorhandenen Lösungen geben. 16 Dadurch werden nicht nur die Prinzipien der Vernunft im Recht (also die Prinzipien der Gerechtigkeit), sondern auch die vernünftigen (d. h. am besten durch die gesamten Prinzipien begründeten) Fallnormen der Gerichtsentscheidungen in den „hard cases" der Rechtslücken, Bestandteil des vorhandenen Rechts, d. h. des Rechts, das der Richter vorfindet und auf das er sich stützt, wenn er entscheidet. Der Unterschied zwischen Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft liegt dann lediglich in der Abstraktheit der letzteren. „Die Rechtswissenschaft", sagt Dworkin, „ist der allgemeine Teil der Rechtsanwendung" („Jurisprudence is the general part of adjudication"). 17 Die Rechtstheorie versucht, die Vereinbarkeit der gesamten Rechtspraxis mit der Rechtswissenschaft darzulegen. Es gibt keine klare Linie, welche die Rechtswissenschaft von der Rechtsanwendung oder von irgendeinem anderen Aspekt der Rechtspraxis trennt. 18 Wie ist dann Recht von Vernunftrecht, Rechtswissenschaft von Gerechtigkeitslehre zu unterscheiden? Zur Beantwortung dieser Fragen nimmt Dworkin eine Beschränkung an, die er die „fit"-Dimension nennt. Jeder Schritt der auslegenden Arbeit innerhalb der kommunizierenden Rechtswissenschaft und Rechtsanwendung muß sich an das vorherige Ganze des Rechts anpassen („fit"). Deswegen verfahren Rechtswissenschaft und -anwendung auch auslegend, also gemäß der hermeneutischen Methode. Die Auslegung versucht das ganze Recht jeweils im bestmöglichen Licht aufzuzeigen. Was geschieht in dem Fall, in dem sich das Recht als defizitär oder gar „schlecht" erweist? Was geschieht, wenn jede Auslegung, die immer noch paßt, das Recht der Gemeinschaft in einem schlechten Licht zeigt? Wenn also jede Auslegung zu einem ungerechten Ergebnis führt? Dworkin zufolge ist die,,/z'i"-Beschränkung in derartigen Fällen nur als diejenige eines Prinzips der Auslegung unter anderen zu verstehen, die überwunden werden kann: „The constraint fit imposes on substance, in any working theory, is therefore the constraint of one type of political conviction on another in the overall judgement which Interpretation makes a political record the best it can be Overall, everything taken in account." 1 9 Eine gerechte Entscheidung, die nicht mehr zu dem vorgegebenen Recht paßt, bleibt nach Dworkin eine rechtliche Entscheidung.
15 Vgl. Herbert Lionel Adolphus Hart, „El nuevo desafio al positivismo juridico", in: Sistema, 36 (1980) 3 - 1 8 ; ders., The Concept of Law, Oxford 2 1972, 259ff. 16 Vgl. Ronald Dworkin, Law's Empire, Cambridge/Mass. u. a. 1986, 225ff. 17 Ronald Dworkin, „Legal Theory and the Problem of Sense", in: Ruth Gavison (Hrsg.), Issues in Contemporary Legal Philosophy, Oxford 1987, 15. 18 Ebd.,14. 19 Ebd.
Begrenzung
der Gerechtigkeit
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4. Die gerechte Begrenzung der Gerechtigkeit im Recht Humes Differenzierung zwischen Sein und Sollen bleibt ein unveränderlicher Felsen, auf dem jede ethische Theorie weiterhin aufzubauen hat. Ihre Gültigkeit bleibt bestehen, ganz unabhängig von den Schwächen des Hauptarguments, für die sie verwendet wurde, nämlich für den Beweis, daß es keine praktische Vernunft gibt. Damit wird nicht verkannt oder bestritten, daß es Institutionen wie das Recht gibt, die an bestimmte Fakten, die Rechtsquellen und die Geltung von Normen anknüpfen. Solche Anknüpfungen erfolgen auf der Grundlage von konstitutiven Normen der Rechtsinstitutionen, wie etwa der Normen über Rechtsquellen. Dies scheint mir mit Humes Gesetz wohl vereinbar zu sein. Der Hinweis auf die Unterentwicklung der Bedeutungstheorie, die erst mit dem Spätwerk Wittgensteins und der philosophischen Sprachanalyse Oxforder Provenienz korrigiert wird, macht die Schwierigkeiten der Rechtspositivisten - sehen wir einmal von Hart ab - bei der Anwendung von Humes Gesetz auf das Recht und die Rechtswissenschaft erstmals verständlich. Die Unfähigkeit, aus den subtilen Bemerkungen Humes über den Sinn der Moralsätze Inspiration für die Analyse des Sinns der Rechtssätze zu schöpfen, ist ähnlich zu beurteilen. Hume hatte schon den Hinweis auf das zu beeinflussende Verhalten von dem moralischen Standpunkt der Beeinflussung, dem Standpunkt der „Humanität" unterschieden. Daran ließe sich die Überlegung anschließen, daß der gleiche Satz - etwa „Du sollst nicht töten" - einen anderen Sinn hat, je nachdem, ob er vom Propheten Moses, vom Gesetzgeber, von einem Juristen oder von einem Philosophen geäußert wird. Bentham hat zu Recht an der Trennung von Sein und Sollen festgehalten, obwohl er den restriktiven Vernunftbegriff der Moderne verwarf und die Regeln der praktischen Vernunft im Recht erforschte. Was er dann über die „Tatsache" des Rechts und über den Sinn der Gesetze und der Sätze der Rechtswissenschaft sagt, zeigt, daß er die Bemerkung Humes, ein Satz, der das Verhalten anderer zu beeinflussen suche, könne nicht als Aussage gedeutet werden, nicht ernst genommen hat. Bentham unternimmt sogar eine kognitivistische Mißdeutung der Gesetze, da er sie als Aussagen über die Existenz eines psychologischen Faktums, nämlich den Willen des Gesetzgebers, ansieht. Wenn der Gesetzgeber sagt „Es ist verboten, einen Menschen zu töten", macht er keine Aussage über sein eigenes psychisches Leben. Ein Verbot sagt nichts über den Geisteszustand der Person, die verbietet. Bentham erkennt dies sogar im Falle der Erlaubnis. Es kann mit drei verschiedenen inneren Willenszuständen des Gesetzgebers koexistieren: Er braucht das fragliche Verhalten nicht einmal zu betrachten; er kann es zwar betrachten, ohne allerdings eine Entscheidung darüber zu treffen; schließlich kann er entscheiden, den Einzelnen zwischen Tun oder Nichttun wählen zu lassen. Man kann zwar sagen, daß die Äußerung eines Imperativs konversationell (um mit Grice zu sprechen) einen bestimmten Willen des Sprechenden impliziert. Es ergibt allerdings keinen Widerspruch, wenn der Sprechakt behauptet und der entsprechende Wille verneint wird. Als Beispiel möchte ich auf den Fall des belgischen Staatsanwalts hinweisen, der Klage wegen Abtreibung erhoben hatte, um die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen politisch herbeizuführen.
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Ähnliches gilt für jede F o r m der Reduzierung der Rechtsnormen auf Aussagen (etwa - so Bentham 2 0 - über die Wahrscheinlichkeit von Sanktionen oder - so Alf Ross 2 1 von zukünftigen gerichtlichen Entscheidungen). Damit meine ich nicht, daß man eine deskriptive Wissenschaft des Rechts, wie die des römischen Rechts, nicht entwickeln kann. Diese These hängt nicht von einer Sprachphilosophie ab, die Imperative auf Aussagen reduziert. So unterscheidet Kelsen zwischen der Rechtsnorm, die der Sinn eines Willensaktes ist und weder wahr noch falsch sein kann, und dem Rechtssatz, der die Existenz einer Rechtsnorm behauptet oder verneint und wahr oder falsch ist. Ich bin nicht ganz sicher, was Kelsen unter einer Aussage über die Existenz einer N o r m versteht. Ich selbst würde sagen, zu behaupten, daß es eine N o r m gibt, ist nichts anderes, als zu sagen, daß sie gilt, und das ist äquivalent mit der Behauptung der N o r m selbst, die keine Aussage ist. Auf einer zweiten Ebene kann man natürlich von einer bestimmten N o r m aussagen, daß sie aus Tatbestand und Rechtsfolge besteht. Diese Aussage ist wahr oder falsch. Dann meint man nicht, was man sonst mit N o r m e n meint - nämlich das Recht - , sondern die Normsätze. Ich stimme einigen Interpreten 2 2 von Kelsen darin zu, daß der Unterschied zwischen „meaning" und „use" auf Rechtsnormen angewendet werden kann, glaube aber nicht, daß Kelsen dies je intendiert hat. Die Sätze der Rechtswissenschaft, wenn man darunter, wie gewöhnlich, die Rechtsdogmatik versteht, sind Sätze, deren Ziel es ist, Fallnormen zu formulieren und die Begriffe, Prinzipien und N o r m e n zu bestimmen, die es erlauben, Fallnormen zu formulieren. 2 3 Sie sagen, wie die Rechtssubjekte und die Rechtsorgane sich zu verhalten haben, wenn sie sich gemäß dem Recht verhalten wollen. Diese Sätze sagen es nicht autoritativ, also von einer Machtstellung aus, weil der Jurist sie sagt, sondern weil sie Bestandteil des Rechts sind. D e r Jurist orientiert das Verhalten anderer nach dem Recht, als ein Rechtsberater, ein Iurisconsultus. Die typischen Sätze der Rechtswissenschaft sind also eine Art von Sprechakten, die Kennyfiats genannt hat. 2 4 Ich komme nun zur Rolle der Vernunft und also der Gerechtigkeit im Recht, wobei ich mich nicht mit der rationalen Begründung einer Gerechtigkeitstheorie befassen kann. Ich sagte bereits, daß es ein bleibender Verdienst Benthams war, den restriktiven Vernunft- und Wissenschaftsbegriff der Moderne überwunden zu haben. Dabei war seine Theorie der praktischen Vernunft so erfolgreich, daß sie die klassische Volkswirtschaft als Wissenschaft - mitunter auch als normative Wissenschaft - bis heute legitimierte. Hinsichtlich des Rechtes hat er aber die Rolle der Vernunft allzu stark eingeschränkt. Ich möchte jedoch zunächst auf zwei andere Aspekte der Rationalität des Rechts hinweisen:
20 Vgl. z. B. Jeremy Bentham, Fragment on Government, a. a. O., 429f.; ders., „Chrestomatia", hrsg. von M. J. Smith/W. H . Burston, Oxford 1983, 202. 21 Alf Ross, On Law and Justice, London 1958, 40. 22 So M. P. Golding, „Kelsen and the Concept of 'Legal System'", in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 47 (1961) 3 5 5 - 3 8 6 . 23 Vgl. etwa Philipp Heck, Grundriß des Schuldrechts, Tübingen 1929, 471ff. 24 Anthony Kenny, Will, Freedom and Power, Oxford 1975, 39.
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der Gerechtigkeit
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1. Das Recht ist nur Teil einer weiteren Praxis des Gesetzgebers und eines jeden von uns. Die Schaffung, Änderung und Derogation (teilweise Einschränkung) des Gesetzes sowie die Anwendung des Rechts durch die Gerichte und Rechtssubjekte sind Teil einer allgemeinen Praxis dieser Personen. Gesetze und Gewohnheiten, Verträge und richterliche Entscheidungen sind als Mittel zu anderen Zwecken intendiert und können deswegen nur durch praktisches Folgern verstanden werden, das von Prämissen ausgeht, die nicht Bestandteil des Rechts sind. Eine allgemeine Theorie des praktischen Argumentierens hätte deswegen die Beziehungen zwischen der Rechtspraxis im weiteren Sinne und den anderen Teilbereichen des sozialen Handelns und der menschlichen Praxis überhaupt, darunter die besondere Idealpraxis der Moral als Gegenstand der philosophischen Ethik, aufzuklären. 2. Die allgemeinen Grundsätze des Völkerrechts und der meisten Verfassungen (die oft Erklärungen der Menschenrechte beinhalten) und wenigstens ein großer Teil des Privatrechts und der allgemeine Teil des Strafrechts (durch das Schuldprinzip) enthalten nicht nur implizit und explizit (durch allgemeine Klauseln, die auf die Vernunft oder auf Treue und Glauben verweisen) Hinweise auf Rationalität, sondern sie beanspruchen, das Werk der Vernunft selbst zu sein, so daß - wenn eine Folgerung sich als unvernünftig erweist - sie in solchen Materien nicht mehr als rechtlich gelten kann. Das heißt aber nicht, daß ich Dworkin auf seinem Wege begleite, der - mit dem methodischen Unterschied, der von der „fit "-Dimension aufgezwungen wird - zum Aufgehen der Rechtslehre in der Gerechtigkeitslehre führt. Die,, fit "-Dimension ist kein politisch relevanter Gesichtspunkt unter anderen in einer letzten Endes politischen Entscheidung des Juristen. Sie ist ein Teil der Spezifität der Rechtspraxis, die sie von der philosophischen Praxis der Ethik unterscheidet und dadurch dem Sollen der Rechtsnormen einen spezifischen Sinn gibt, der sie von den Normen der Ethik unterscheidet. Dabei sollte das Recht eines Verfassungsstaates als eine begründete Begrenzung der Gerechtigkeit aufgefaßt werden. Es gibt jedoch verschiedenartige Grenzen der Rationalität im Recht, so daß das Gesamtbild viel komplexer aussehen muß. Eine wichtige Quelle der Komplexität rührt daher, daß es vernünftig ist, Formen von Entscheidungsprozessen einzuführen, die die Zahl oder die Arten der Sätze, die im rechtlichen Folgern zugelassen werden, beschränken. In einem Gerichtsverfahren dürfen z. B. nur bestimmte Personen zu bestimmten Zeitpunkten argumentieren und ihre Argumente sollen mit bestimmten Rechtsquellen - insbesondere Gesetzen und Richtersprüchen - vereinbar sein. Diese Grenzen charakterisieren sogar wesentlich die Rolle der Vernunft im Recht. Das Recht ist sozusagen begrenzte praktische Vernunft. Es gibt nicht mehrere Arten institutioneller Vernunft, sonst könnte man die Institutionen, darunter das Recht, eigentlich nicht intern kritisieren. Ich glaube aber, daß es eine Kritik des Rechts gibt, die sich innerhalb des Rechts Geltung verschafft und zur Rechtskorrektur führt. Und diese ist, entgegen der Meinung des Rechtspositivismus und folglich Benthams, dem größten unter den Rechtspositivisten, rechtliche und nicht moralische Kritik. Die Regeln dieser Rechtskritik sind die der praktischen Philosophie überhaupt mit einigen vernünftigen Einschränkungen. Da diese Einschränkungen aber von der Vernunft selbst diktiert werden, werden sie auch im Falle des rechtlichen Ungehorsams, des Widerstandsrechts
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und der Revolution (als Revolution der Vernunft) rational begrenzt. Das Recht ist also vernünftigerweise begrenzte Vernunft. Und die Rechtswissenschaft wäre deswegen eher als eine Anwendung der Ethik, also als „Rechtsphilosophie in Arbeit" zu bestimmen.
Gerhard Schönrich
Der Vernunftbegriff des Rechts und die Logik der Gewalt
Daß mit Blick auf die rasant zunehmende wechselseitige ökologische und ökonomische Abhängigkeit aller Menschen auf diesem Globus ein kulturinvariantes und deshalb universal gültiges Recht wünschenswert ist, wird nicht ernsthaft zu bestreiten sein. Strittig ist nur, wie ein solcher Rechtsbegriff vor allem denen gegenüber begründet werden kann, die an partikularen Vorstellungen festhalten oder erst gar nicht in einen Rechtszustand eintreten wollen. Wenn das Recht, wie Kant angenommen hat, analytisch mit der Befugnis zu zwingen verbunden ist, dann ist vor allem strittig, ob und in welchem Maße dieser Zwang gegen den Rechtsverweigerer zur Geltung gebracht werden kann. Die entscheidende Frage lautet: Wie unterscheidet sich der dem Recht immanente Zwang von dem Zwang des Naturzustands, von der Gewalt also, die Einzelne oder Gruppen willkürlich gegeneinander ausüben? Reicht die Forderung nach strenger Reziprozität dieser Gewaltverhältnisse aus, um ihnen die Qualität des Rechtszustands zu verleihen? Wenn ja, wie läßt sich dann die Gewalt gegen den Rechtsverweigerer legitimieren? D a s Konzept der Reziprozität als Kriterium gedacht, weckt den Verdacht einer unzureichenden Bestimmung, denn auch die wechselseitigen Beziehungen der Angehörigen einer Räuberbande oder die Beziehungen einer dem Gesetz der Blutrache unterworfenen Gesellschaft genügen diesem Kriterium. Dies soll in einem ersten Schritt vorgeführt werden. Der Frage nach einem angemesseneren Kriterium geht der zweite Teil der folgenden Überlegungen nach, indem die Reziprozität auf den Freiheitsbegriff bezogen wird. Unter diesem Aspekt erscheint die Reziprozität nicht mehr als der Grenzfall eines Tausches, in dem Gleiches gegen Gleiches getauscht wird, sondern als genuiner Tausch von Ungleichem, also nicht mehr von Gewalt und Gegengewalt, sondern von Freiheit gegen Sicherheit. Sollen jedoch auch gegenüber einem Rechtsverweigerer Begründungslasten übernommen werden, dann reicht die so reformierte Begründungsfigur nicht mehr aus. In einem dritten Schritt versuche ich, ein Argument zu skizzieren, das das verbliebene Defizit begleichen kann.
1. Die Reziprozität der Gewalt Eine ebenso einfache wie unmittelbar einleuchtende Konstruktion des zwangsbewehrten Rechtszustandes unterwirft den Handlungsraum dem Gesetz der Gleichheit von
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Schönricb
Wirkung und Gegenwirkung. Demjenigen, der das Recht verletzt, w i r d diese Verletzung in strenger Proportionalität auch vergolten. In dem Maße, wie der Rechtsverletzer Gewalt anwendet, wird auch Gewalt gegen ihn angewendet. A m klarsten hat dieses Modell wohl Kant formuliert: „Das Gesetz eines mit jedermanns Freiheit notwendig zusammenstimmenden wechselseitigen Zwanges, unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit, ist gleichsam die Konstruktion jenes Begriffs, d. i. Darstellung desselben in einer reinen Anschauung a priori, nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung" (MSR, B 37Ì). 1 Freilich läßt sich Kants Begriff von Recht nicht auf diese quasi-physikalische Reziprozität beschränken. Gleichwohl kann die Konstruktion der aufeinander reagierenden Körper als Eröffnungszug benutzt werden. Sie hat ihr historisches Vorbild in dem, was René Girard die „wesenhafte Gewalt" nennt. 2 Gemeint ist der endlose Zirkel von Gewalt auslösender Gewalt in den Blutrache praktizierenden Gesellschaften. Wer Blut vergießt, dessen Blut wird auch vergossen. Jede Vergeltung durch Rache ruft folglich nach neuer Vergeltung. Einmal angestoßen, droht die Kette der eskalierenden Vergeltung die Gesellschaft zu zerstören. Girard beschreibt drei kategorial verschiedene Weisen, mit dieser existenzbedrohenden Gewalt fertig zu werden: (1) die „opfergebundene Abführung des Rachegedankens"; (2) die „Erschwerung der Rache durch gütliche Einigung"; (3) das „Gerichtswesen". 3 Die kategoriale Ordnung folgt hier dem Effizienzgrad der ausgeübten Kontrolle. Im versöhnenden (Menschen-)Opfer w i r d die wesenhafte Gewalt durch einen als „heilig" legitimierten Gewaltakt beschwichtigt; das Ritual muß die Einmütigkeit in der Abwehr der alle bedrohenden Gewalt jedoch immer wieder neu herstellen. Es hat nur vorbeugende, keine wiederherstellende Wirkung. Weniger krisenanfällig ist der Versuch, eine Einigung durch Institutionen wie dem gerichtsähnlichen Zweikampf auf Dauer zu stellen. Ein solches Verfahren steht zwischen dem religiösen Opferritual und der effizientesten Weise der Wiederherstellung: dem Gerichtswesen. In der Perspektive Girards erscheint das Gerichtswesen tatsächlich als die konsequente Rationalisierung des Racheprinzips. 4 Weil die gerichtliche Autorität nicht im Dienste einer der streitenden Parteien, sondern im Dienste aller steht, kann sie die Gewalt der Rache in ihrem Lebensnerv treffen, vorausgesetzt, sie verfügt über das Gewaltmonopol. Die vom Gerichtswesen betriebene Vergeltung ruft nicht wieder nach neuer und damit eskalierender Vergeltung, geschieht sie doch im Namen aller. U n d ihre Entscheidung kann nicht angezweifelt werden, wird sie doch unparteilich gefunden. Die Begründung der Effizienz des Gerichtswesens, die Girard liefert, nämlich Allgemeinheit des Willens und Unparteilichkeit, deckt sich - das ist die eigentliche Überra-
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Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, hrsg. v o n Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956, Bd. IV (wie hier im folgenden: MSR, zit. mit der Paginierung der zweiten Auflage [B]). René Girard, Das Heilige und die Gewalt, Frankfurt/M. 1992 (Orig.: La violence et la sacré, Paris 1972), 49. Ebd., 36. Vgl. ebd., 38f.
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schung - mit der Beschreibung, die den kantischen und auch den diskursethischen Rechtsbegriff auszeichnen. 5 Der Standpunkt des Rechts ist der Standpunkt eines allgemeinen Willens, w i e er etwa durch Rollentausch erreicht werden kann. Unparteilichkeit wiederum drückt sich darin aus, daß nicht nur alle, sondern alle in genau dem gleichen Maße beteiligt sind, keiner also privilegiert werden darf. Kurz, ein solcher Standpunkt ist der Standpunkt der Vernunft. Wenn Girard das so beschriebene Gerichtswesen in die direkte Verlängerung der Reihe stellt, die mit rituellen Menschenopfern beginnt, wenn er also keinen qualitativen Sprung im Übergang zum Gerichtswesen sieht, das seiner Analyse zufolge denselben Mechanismus darstellt, nur „unendlich viel effizienter", 6 dann muß dies als Herausforderung an die Proponenten eines transzendentalen Vernunftbegriffs des Rechts verstanden werden. Tatsächlich ist für Girard der Rekurs auf eine dem Gewaltgeschehen transzendente Instanz nichts anderes als eine bloße Mystifizierung: Es gibt keinen U n terschied zwischen Gerichtswesen und Rache, so wenig, wie es in den religiösen Gesellschaften einen Unterschied zwischen dem heiligen Opferritual und der Gewalt selbst gibt. Girards Analyse, die in der Beschreibung des Gerichtswesens als perfektionierter Reziprozität von Gewalt und Gegengewalt terminiert, erscheint so als historische Projektion der Konstruktion, von der Kant spricht, wenn er das zwangsbewehrte Recht „nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetze der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung" versteht.
2. Der Freiheitstausch Die Schwierigkeiten des quasi-physikalischen Modells strenger Reziprozität liegen auf der Hand. Die dem Gerichtswesen übertragene Gewalt wäre nur die einsinnige Fortsetzung der Logik der ursprünglichen Gewalt. Indem Gewalt mit Gewalt vergolten wird, wird Gleiches gegen Gleiches getauscht, nur eben rationeller als in den Opferritualen. Mit Vernunft meinen wir jedoch eine andere Qualität: Wir wollen die Reziprozität als Ausdruck unserer Freiheit begreifen können. Der bisher unterbelichtet gebliebene Teil des Kant-Zitats verlangt deshalb auch ein Z u s a m m e n s t i m m e n des wechselseitigen Zwanges „unter dem Prinzip der allgemeinen Freiheit". Die mit dem Freiheitsbegriff eröffnete Dimension erfordert ein anderes Organisationsprinzip des Handlungsraumes: einen Tausch von Ungleichem. Nach Hobbes läßt sich die Konstitution des Rechtszustandes als Ergebnis der Wahl von rationalen Egoisten erklären. Indem sie die Gewalt auf eine zentrale Instanz übertragen, verzichten sie auf die Freiheit, selbst diese Gewalt auszuüben. Sie tauschen diesen Freiheitsverzicht gegen die dafür hergestellte Sicherheit vor den beliebigen Gewaltanwendungen anderer. Der so gesicherte Handlungsspielraum ist dem Naturzustand willkürlicher Gewaltanwendung vorzuziehen, denn der Rechtszustand dient dem Interesse, überhaupt han-
5 Vgl. Gerhard Schönrich, Bei Gelegenheit Diskurs, Frankfurt/M. 1994, 68ff. 6 Vgl. René Girard, Das Heilige und die Gewalt, a. a. O., 39.
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dein zu können, sehr viel besser als der unsichere Naturzustand. Im Naturzustand m u ß jeder gewärtig sein, Opfer eines Stärkeren zu werden (auch mehrere Schwache, die sich verbünden, können dieser Stärkere sein). Auch hier gilt das Prinzip der Reziprozität, insofern der Freiheitsverzicht nur auf der Basis der Gegenseitigkeit funktioniert: Der Tausch erfaßt alle am gleichen endlichen Handlungsspielraum beteiligten Individuen. In diesem Verständnis ist er allgemein. Er ist aber auch unparteilich, insofern nicht nur alle Betroffenen, sondern alle Betroffenen in gleichem Maße beteiligt werden. In genau dem Maße, wie ich auf die Ausübung meiner Willkürfreiheit verzichte, muß auch jeder andere verzichten. Der Tausch ist genau dann gerecht, wenn er allgemein und gleichmäßig ist. Denn nicht jede Einschränkung der Willkürfreiheit ist legitim; nur die kann als legitim gelten, die - unter Ausschluß jedweder Privilegierung - jeden gleichmäßig trifft. Im Unterschied zu dem physikalisch modellierten Verhältnis reziproker Gewaltvergeltung wird hier der unvermeidliche Zwang gegen den Rechtsverletzer durch den Rekurs auf ein höherstufiges Interesse begründet. Otfried Höffe spricht von einem „transzendentalen Interesse" an der eigenen Handlungsfähigkeit und entsprechend von einem „transzendentalen Tausch" von Freiheitsverzicht gegen Sicherheit. 7 Als transzendental kann das Interesse gelten, das die Bedingung der Möglichkeit dafür bezeichnet, ungefährdet durch die Zufälle des gesetzlosen Naturzustands überhaupt Interessen zu entwickeln und zu verfolgen. Transzendental ist der Tausch, insofern er ein Verfahren vorgibt, das mit der Eröffnung des Rechtsraums die Bedingung der Möglichkeit für die weitere konkrete rechtliche Ausgestaltung beschreibt. Die qua transzendentalen Tausch mit dem Gewaltmonopol ausgestattete Instanz reagiert, wenn sie selbst Gewalt anwendet, nicht einfach bloß auf Gewalt - sie sichert eben dadurch den von den rationalen Egoisten gewählten Handlungsraum und damit deren Handlungsfreiheit. Die Gewaltanwendung gegen den, der unter Gewaltanwendung diese Handlungsfreiheit stört oder gar zerstört, muß sich dann aus dieser Freiheit legitimieren lassen. Für Kant ist dieser Zusammenhang analytisch: Die Befugnis zu zwingen, d. h. Gewalt gegen den Rechtsverletzer anzuwenden, leitet Kant daraus ab, daß die Hindernisse der äußeren Freiheit selbst zu verhindern sind. Die Verhinderung der Hindernisse ist im Rechtsbegriff schon enthalten: „Recht und Befugnis zu zwingen bedeuten also einerlei" (MSR, B 36). Entscheidend ist, daß Kant diesen Freiheitsbegriff als äußere Ubereinstimmung unter einem allgemeinen Gesetz versteht: „,Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc.' Wenn also meine Handlung, oder überhaupt mein Zustand, mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tut der mir Unrecht, der mich daran hindert; denn dieses Hindernis (dieser Widerstand) kann mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen." (MSR, B 33f.) Die Konstruktion des begrifflichen Zusammenhangs von äußerer Freiheit und Verhinderung der Hindernisse dieser Freiheit w ü r d e beträcht-
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Otfried Höffe, „Ein transzendentaler Tausch: Zur Anthropologie der Menschenrechte", in: Philosophisches Jahrbuch 99 (1992) 1 - 2 8 , hier 20ff.
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lieh an argumentativer Kraft verlieren, w ü r d e man sie auf die an einem materialen Gesichtspunkt orientierte Wahl zwischen einer Lebensweise in der beschriebenen H a n d lungsfreiheit u n d einer Lebenweise nach Prinzipien der Blutrache oder gar des gesetzlosen N a t u r z u s t a n d s zurückführen. W ä r e der Gesichtspunkt, den die Wahl z u g r u n d e legt, tatsächlich material und nicht formal, dann könnte die Lebensweise der H a n d lungsfreiheit nicht allgemeinverbindlich gemacht werden. Denn w a r u m sollten die Inhalte, die ich mit dem Leben in Handlungsfreiheit verbinde, denen v o r z u z i e h e n sein, die andere mit einem Leben gemäß der Blutrache oder der W i l l k ü r des N a t u r z u s t a n d s verbinden? Auf der Ebene der Inhalte müßte zwischen Werten gewählt werden; w a s aber ist mit denen zu tun, die diese Werte nicht teilen? 8 Darin, daß sie Fragen nach der Verbindlichkeit von N o r m e n von Fragen nach dem guten Leben abkoppelt, liegt ja der entscheidene Argumentationsvorsprung einer Theorie kantischen Typs. Kant insistiert auf einem rein formalen Gesichtspunkt, den er in aller Härte nicht nur gegen jeden Rechtsverletzer, sondern auch gegen den wendet, der d e m einmal eröffneten R e c h t s r a u m gar nicht beitreten will. A u c h der Ü b e r g a n g v o m N a t u r z u s t a n d in den Rechtszustand darf notfalls durch Gewalt hergestellt werden. Wer hier wartet, schadet nicht nur sich selbst, sondern der Idee des Rechts: „Er darf also nicht abwarten, bis er e t w a durch eine traurige Erfahrung von der entgegengesetzten Gesinnung des letzteren belehrt w i r d ; denn w a s sollte ihn verbinden, allerst durch Schaden klug zu w e r d e n , da er die N e i g u n g der Menschen überhaupt über andere den Meister zu spielen ( . . . ) in sich selbst hinreichend w a h r n e h m e n kann, und es ist nicht nötig, die w i r k l i c h e Feindseligkeit abzuwarten; er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der i h m schon seiner N a t u r nach damit d r o h t " ( M S R , B 42). U n t e r der Voraussetzung eines endlichen Handlungsraumes, der ein A u s w e i c h e n der Individuen unmöglich macht, ist die fingierte Wahl zwischen Lebensformen gegenstandslos. Kant stellt hier auch gar nicht auf eine Diskurssituation ab, in der sich der Rechtsv e r w e i g e r e r über den auf ihn ausgeübten Z w a n g beschweren könnte. Der D i s k u r s ist erst der nächste Zug; er kann erst nach d e m Eröffnungszug stattfinden. (Im D i s k u r s zeigt sich dann, daß der Verweigerer den auf ihn ausgeübten Z w a n g nicht kritisieren kann, ohne für seine Kritik genau die Bedingungen von Handlungsfreiheit in A n s p r u c h zu nehmen, gegen die er sich gewendet hat.) Wer schon „seiner N a t u r nach damit droht", Gewalt a n z u w e n d e n , der darf selbst mit Gewalt in den Rechtsraum g e z w u n g e n werden. Das aber ist im Prinzip jeder. Deshalb ist der Z w a n g z u m Ü b e r g a n g in den Rechtszustand nicht nur ausnahmslos auf jeden anwendbar; er ist vor allem prädiskursiv, insofern es im Eröffnungszug auf die Zustimmung der Beteiligten gar nicht a n k o m m e n darf - im Interesse der Handlungsfreiheit aller und unabhängig von irgendwelchen Inhalten einer Lebensform. Wenn der analytische Zusammenhang von Freiheit und Verhinderung der Hindernisse dieser Freiheit durch Z w a n g eine formale B e g r ü n d u n g ist, so ist
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Steinvorth hat neuerdings eine Analyse vorgelegt, die genau dieser „materialen" Linie folgt; er gelangt demnach auch nur zu einer eingeschränkten Gültigkeit der Begründung des rechtlichen Zwangs. Vgl. Ulrich Steinvorth, „Zur Begründung der Befugnis des Rechts zu zwingen", in: Logos. Zeitschrift f ü r systematische Philosophie, Neue Folge, Bd. I (1994), 3 2 1 - 3 3 3 , hier 326f.
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es die z w a n g s w e i s e Einbeziehung eines Rechtsverweigerers in den endlichen H a n d l u n g s r a u m auch. Denn die D u l d u n g nur einer Verletzung w ä r e dann aus begrifflichen Gründen die Zerstörung des Rechtsbegriffs selbst.
3. Ein transzendentalpragmatisches Argument A u c h die zweite Stufe der Rekonstruktion des Vernunftbegriffs v o m Recht als transzendentaler Tausch hat die Fatalität faktisch ausgeübter Gewalt noch nicht abgestreift. Was ist die G e w a l t a n w e n d u n g gegen den Rechtsverweigerer anderes als die Fortsetz u n g der von Girard beschriebenen wesenhaften Gewalt? Der Verdacht, n u r eine R a tionalisierung dieser ursprünglichen Gewalt zu sein, verstärkt sich noch, w e n n die jed e m Diskurs entzogene Vorgängigkeit dieser G e w a l t a n w e n d u n g berücksichtigt w i r d . Was die Stärke des Kantischen Konzepts zu sein schien, nämlich die Herstellung eines analytischen Zusammenhangs zwischen Freiheit und z w a n g s w e i s e r Verhinderung der Hindernisse dieser Freiheit, scheint sich nun als empfindliche Schwäche herauszustellen. W i e soll der so konzipierte Begriff noch von der willkürlich ausgeübten M a c h t irgendeiner zentralen Instanz (etwa H o b b e s ' sterblichem Gott Leviathan) unterschieden w e r d e n k ö n n e n ? U n d w i e kann er sich qualitativ von der a n o n y m e n Gewalt der Blutrache abheben? Selbst die Charakteristika der Allgemeinheit und Unparteilichkeit lassen sich, wie Girard gezeigt hat, durch konsequente Rationalisierung auf dieser G r u n d lage erzeugen. Die bislang ins Feld geführten Überlegungen beschreiben nicht den ganzen Begriff des Rechts, w e d e r den Kantischen noch den diskursethischen. Ausgespart w u r d e das M o m e n t der freien Zustimmung. Der transzendentale Tausch, der z u r wechselseitigen Einschränkung der Willkürfreiheit führt und damit den Rechtsraum eröffnet, m u ß als freier Vollzug gedacht werden, w e n n der Rechtsbegriff die Qualität eines praktischen Vernunftbegriffs annehmen soll. W i r d er in der beschriebenen Weise durch nackten Z w a n g erreicht, dann verhalten sich die beteiligten Individuen nicht noch einmal frei zu der Etablierung des Rechtsraumes. Die Frage nach der Legitimation w ä r e z u r bloßen M a c h t f r a g e geworden. Der Gedanke eines freien Vollzugs des Tausches setzt die M ö g lichkeit voraus, sich dem Tausch und damit der Eröffnung des Rechtsraums auch zu verweigern. Sicher ist es eine Frage der Klugheit, ob man die M ö g l i c h k e i t der eigenen w i l l k ü r l i c h e n G e w a l t a n w e n d u n g gegen die Sicherheit vor der W i l l k ü r anderer tauscht u n d so die eigene Handlungsfähigkeit garantiert. Im Gegensatz zu der wesenhaften Gewalt, aber auch im Gegensatz zu der gegen den Verweigerer angewendeten rechtlichen Gewalt z w i n g e n Vorteilsüberlegungen aber nicht. Ich bin frei, gegen meine Interessen, sogar gegen das transzendentale Interesse an meiner H a n d l u n g s f ä h i g k e i t zu verstoßen; k u r z ich bin frei, mich gegen die Vernunft zu entscheiden. Eine solche Überlegung setzt allerdings eine Diskurssituation voraus. 9 Wer in einen Diskurs eintritt, präsupponiert rechtlich geordnete Verhältnisse; er k ä m p f t nicht mehr
9
Vgl. im folgenden Gerhard Schönrich, Bei Gelegenheit Diskurs, a. a. O., 72ff.
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um sein Leben, noch bedroht er andere - hier gilt nur der Zwang des besseren Arguments. Dann aber ist die mögliche Entscheidung gegen die Vernunft des transzendentalen Tausches nicht mehr radikal; sie nimmt die Gestalt der Rechtsverletzung an. In dieser Konstellation nämlich kann nun einem solchen Kontrahenten ein performativer Widerspruch nachgewiesen werden. Indem er sich mit Argumenten gegen den im Falle einer Rechtsverletzung auszuübenden Zwang wendet, nimmt er die mit dem Diskurs gegebene Rechtssicherheit für sich in Anspruch. Die zwangsbewehrte Rechtssicherheit ist das, was er auf der propositionalen Ebene in seiner Rechtmäßigkeit bestreitet und im performativen Vollzug der eigenen argumentativen Kritik aber beanspruchen muß. Wer sich auf die Argumentation im Diskurs einläßt, hat mit seiner Zustimmung zum Diskurs auch den Rechtszustand anerkannt, auf dem der Diskurs aufruht. Der gegen ihn ausgeübte Zwang läßt sich dann so rekonstruieren, als sei er von dem Rechtsverletzer selbst verursacht; denn aufgrund des analytischen Zusammenhangs von Recht und Befugnis zu zwingen, hat der Rechtsverletzer auch der entsprechenden Zwangsanwendung gegen ihn zugestimmt. 10 Anders liegt der Fall des Rechtsverweigerers. Seine Handlungsweise will radikal sein, er will den Sprung vom Naturzustand in den Rechtszustand gar nicht erst mitvollziehen. Nun hilft gegen jemand, der sofort losschlägt, nur die vorbeugende Gewalt. Insofern aber auch der Rechtsverweigerer - auf die Aufforderung zum Gewaltverzicht hin - überlegen muß, wenn er sich gegen den Rechtszustand entscheidet, verzichtet er zumindest einmal auf Gewaltanwendung. Auch wenn das Ergebnis seiner Überlegung unter Mißachtung der eigenen Vorteilsüberlegungen die Rückkehr zur willkürlichen Gewalt ist, hat er in diesem einen Fall doch mehr anerkannt, als er in dem einmaligen Dialog zuzugeben bereit war. Mit Hilfe der pragmatischen Einbettung der Vorteilsüberlegung in einen durch punktuellen Gewaltverzicht bestimmten Raum kann die radikale Verweigerung unterlaufen werden. Natürlich kann der Verweigerer zur Gewaltanwendung zurückkehren, mit der Konsequenz, daß er sich erneut den gegen ihn gerichteten vorbeugenden Zwangshandlungen unterwerfen muß. Die Pointe der Kantischen Überlegung zielt darauf, daß wohl der Eintritt in den Diskurs, nicht aber der Übergang in den Rechtszustand verweigert werden kann. Da eine Begründung der Befugnis zu zwingen nur in der Gestalt der Argumentation erfolgen kann, ist der Rechtsverweigerer nur ex post zu überzeugen. Dies gilt zunächst in dem schwachen Sinn, daß der Rechtsverweigerer genau dann, wenn er den gegen ihn ausgeübten Zwang kritisiert, sich auf den Standpunkt des rechtlich gesicherten Diskurses begeben muß. Ohne diesen Schritt hat er gar keine Chance, Kritik zu üben und Begründungen für die gegen ihn gerichtete Gewalt zu verlangen. Vollzieht er aber diesen Schritt, ist er schon gefangen. Aus dieser Rückbindung an den Diskurs folgt, daß das principium exeundi e statu naturali nur gegenüber Teilnehmern am Diskurs begründet werden kann. Steinvorth meint deshalb, der Rechtszwang sei nur negativ zu rechtfertigen, insofern er aus den genannten Gründen eben von niemandem kritisiert
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Vgl. hierzu Edmund Sandermann, Die Moral der Vernunft. Transzendentale Handlungs- und Legitimationstheorie in der Philosophie Kants, Freiburg - München 1989, 13f.
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werden könne. Positiv gerechtfertigt sei er nur vor denen, „die ein Leben in allgemeiner Selbstbestimmung für besser halten als ein Leben außerhalb solcher Selbstbestimmung". 1 1 Den, der draußen bleibe, könne das Argument nicht überzeugen. Diese schwache, an das Faktum eines Diskurses gebundene Form des Arguments unterbietet aber die rechtsphilosophischen Überlegungen, wie sie Kant anstellt. Der Zwang gegen die Verhinderung der Freiheit ist positiv begründet gerade auch dann, wenn der Rechtsverweigerer nicht in einen Diskurs eintritt. Daraus, daß dem Rechtsverweigerer das Argument trivialerweise nur ex post vorgeführt, die Einsicht nur im nachhinein andemonstriert werden kann, folgt nicht schon die Negativität der Begründungsleistung. Dies würde nur dann die Folge sein, wenn Vernunft und Diskurs (wie in der Diskurstheorie von Apel) gleichgesetzt würden - ein dem Diskurs vorausgehender Vernunftentschluß gar nicht gedacht werden könnte. Einen solchen diskursunabhängigen Vernunftentschluß nimmt im übrigen Steinvorth selbst an, wenn er der Vernunft die Möglichkeit zuspricht, sich auch für die Vernunftlosigkeit zu entscheiden. 1 2 Im Rahmen der Gleichsetzung von Diskurs und Vernunft käme ein solcher Vernunftgebrauch dem Wahnsinn gleich; die Frage, die Steinvorth stellt, nämlich: ob man auch ein Leben ohne vernünftige Selbstbestimmung führen will, wäre dann gerade nicht mehr ernsthaft zu stellen. Wird der Vernunft ein Vorsprung vor ihrer Inkorporation im Diskurs eingeräumt, dann ist die Gewalt, die jeden an einem endlichen Handlungsraum Beteiligten in den Rechtszustand zwingt, auch positiv zu begründen. Der entscheidende Aspekt ist, daß es sich in dem notfalls erzwungenen Ubergang vom Naturzustand zum Rechtszustand um die Herstellung eines bloß äußeren Verhältnisses handelt. Wirkliche Kooperation und vorgetäuschte Kooperation gelten hier gleichviel. Jeder Verstoß gegen das äußere Freiheitsgesetz ist ebenso eindeutig feststellbar wie die von der Rechtsverweigerung ausgehende Bedrohung, weil es hier auf die Rechtsgesinnung gar nicht ankommt. Die mögliche Täuschung wird erst auf der sekundären Stufe des Diskurses bedeutsam, w e n n ein Teilnehmer dadurch zum Parasiten der Diskurssituation wird, daß er nur mit dem geheimen Vorbehalt teilnimmt, auszusteigen, wenn es ihm zum Vorteil gereicht. Gegenüber einem solchen Teilnehmer wirkt das Universalisierungsprinzip tatsächlich negativ. Es sondert die Maximen aus, die, wie die parasitäre Teilnahme, selbstwidersprüchlich werden. In dieser Rolle tritt das Universalisierungsprinzip aber als Moralprinzip auf, nämlich nur solche Maximen zuzulassen, die sich universalisieren lassen. N u r hier kann man dann auch aufgrund einer vernünftigen Überlegung zu dem in Kants Sinne vernunftwidrigen Ergebnis kommen, mit selbstwidersprüchlichen Maximen sein Leben zu bestimmen. Es mag hier dahingestellt bleiben, wie solche Maximen unter Inanspruchnahme der Vernunft zu konzipieren sind. Solange sie das äußere Verhältnis der Individuen unberührt lassen, weil sie mit dem äußeren Freiheitsgesetz in Einklang zu bringen sind, bleiben entsprechende Handlungen ohne Widerstreit möglich.
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Ulrich Steinvorth, „Zur Begründung der Befugnis des Rechts zu zwingen", a. a. O., 326. Ebd., 327.
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Einen Widerstreit der Handlungen reflektiert nur das Rechtsprinzip. Weil es hier keine parasitäre Teilnahme gibt, kommt es nicht auf die Gesinnung, sondern allein auf das äußere Verhältnis der Handlungen im Raum an. Freilich wird auch der Widerstreit am Widerspruch einer Maxime zu dem Prinzip abgelesen: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen" ( M S R , B 33). D e r Widerspruch einer Maxime zu diesem Prinzip zerstört die äußere Freiheit und entzieht den Handlungen ihre Grundlage, weil er sie in Widerstreit zueinander bringt. D e r Übergang in den Rechtszustand beschreibt also eine Realisationsbedingung der Handlungsfreiheit, wenn man so will: eine ontologische Bedingung, ohne die die im Diskurs thematische Freiheit, zu täuschen und zu lügen, selbst sinnlos würde. D a ß der Handlungsraum dem Prinzip äußerer Freiheit entsprechen muß, kann als vernünftig eingesehen werden, auch wenn eine diskursive Verständigung darüber erst nach der Eröffnung eines solchen Rechts-Raumes zustande kommen kann. E r ist ratio essendi des Diskurses. Diese Vorgängigkeit bedeutet nur, daß der Vernunftbegriff des Rechts tiefer liegt als der Begriff vernünftiger Kommunikation, die wiederum als ratio cognoscendi des Rechts gelten kann. Die Priorität des Rechtsbegriffes bedeutet vor allem, daß die Reziprozität der äußeren Freiheit auch noch dem vorausliegt, was Kant die subjektive Willkürfreiheit nennt. Die subjektive Willkürfreiheit ist aber die Beliebigkeit der Gewaltanwendung. Sie unter ein Gesetz zu zwingen, heißt nun nicht, die fragliche Gesetzmäßigkeit durch Rationalisierung zu erzeugen. Die Effizienzsteigerung der G e walt in der Gestalt, die Girard als „Gerichtswesen" beschreibt, bleibt dem Naturzustand verhaftet; sie ist der Naturzustand in der Weise der Perfektionierung der Willkürfreiheit. Als Naturzustand bedarf sie keiner Rechtfertigung. Hier nach Vernunft oder Unvernunft zu fragen, ist überflüssig; die Antwort heißt immer: so verfahren wir eben. D e r Gewalttheoretiker hat kein Argument mehr gegen den Rechtsverweigerer. O b w o h l auch für den Vernunfttheoretiker kantischer Provenienz der Ubergang in den Rechtszustand unausweichlich ist, kommt es für ihn auf die Einsehbarkeit an. Sie macht die Qualität des Rechtszustandes aus und unterscheidet ihn vom Naturzustand - auch wenn dies argumentativ nur ex post zu leisten ist. Deshalb kann der Rechtszustand auch nicht durch eine Steigerung der Effizienz der wesenhaften Gewalt herbeigeführt, sondern nur im Sprung erreicht werden.
Alexander Somek
Die Moralisierung der Menschenrechte Eine Auseinandersetzung mit Ernst Tugendhat 1
1. Gerade weil zuzugeben ist, daß Schelling kein politischer Denker war, 2 sollte die Selbstverständlichkeit zu denken geben, mit der er in einer frühen Arbeit ausspricht, was zweifelsfrei ein Hauptaugenmerk der politischen Philosophie der Neuzeit war: „Nun behaupte ich, indem ich die Selbstheit des Willens behaupte, nichts anderes als mein Recht. Also wird jede Behauptung meines Rechts gegen einen widerstreitenden Willen zugleich Aufhebung dieses Willens, d. h. Zwang desselben. Also w i r d mein Recht im Gegensatz gegen den fremden Willen nothwendig zum Zwangsrecht." 3 Auch w e n n die Deduktion nicht wirklich zu überzeugen vermag, so beeindruckt wenigstens, w i e unumwunden hier noch das Problem der Gewalt am Ursprung der Rechtsverhältnisse zur Kenntnis genommen wird. Denn die Philosophie der Gegenwart scheint der Einsicht, daß subjektive Rechte in ihrer ganzen Unentbehrlichkeit auch unfreundliche Züge haben, 4 mittlerweile den Rücken zugekehrt zu haben. Sie hat den Akzent zunehmend darauf verlagert, über die Existenz „moralischer Rechte" tiefsinnig zu werden. Bei diesen soll es sich nun freilich um Rechte handeln, die nicht zwingen, um Ansprüche also, deren Einforderung sich im schrillen Appell erschöpft, im despektierlich zur Schau getragenen Groll oder in der gekonnt plazierten verächtlichen Geste. Wer freilich unter „Recht" wirkliches Recht versteht, muß hier nachdenklich werden. Die Rede von „moralischen Rechten" kann doch nur insofern plausibel sein, als sie den fundamentalen Charakter eines Interesses unterstreicht. N ä h m e man solche Inter-
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3 4
Den Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft Ethik am Institut f ü r Philosophie der Universität W i e n sei an dieser Stelle f ü r ihre obstinate Kritik herzlich gedankt. Vgl. die einleitenden Bemerkungen bei Jürgen Habermas, „Dialektischer Idealismus im Ubergang zum Materialismus - Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes", in: ders., Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien, Frankfurt/M. 2 1 9 7 1 , 1 7 2 - 2 2 7 . Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, „Neue Deduktion des Naturrechts (1796)", in: ders., Werke, hrsg. v o n M. Schröter, Bd. 1, München 1927, 201 (§ 150). Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), in: ders., Werke in zwanzig Bänden, hrsg. v o n Eva Moldenhauer und K . Markus Michel, Frankfurt/M. 1 9 6 9 - 7 1 , Bd. 7, 180 (§ 94).
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essen ernst, wären sie mit rechtlichem Zwang zu bewehren. 5 D e n n nach wie vor behauptet sich im Rechtsdenken, was Jhering in einem einprägsamen Bild festhielt: E i n subjektives R e c h t , das nicht zwingt, k o m m t dem L i c h t gleich, das nicht leuchtet. 6 W o liegt das P r o b l e m ? Zunächst wird man geneigt sein, es für eine rein „semantische" Frage zu halten, ob zwischen moralischen und juristischen R e c h t e n unterschieden wird. Allenfalls sollte die Zweckmäßigkeit den Ausschlag geben. N u n ist, wie wir spätestens seit L u h m a n n wissen, das Unterscheiden kein harmloser Vorgang, blendet es sich doch selbst für die Folgelasten, die es in seinem Vollzug auf sich lädt. 7 D i e Z w e c k mäßigkeit wird damit in der Tat zum Problem. 8 A b e r mit ihr steht nicht nur die mangelnde U n s c h u l d begrifflicher Differenzierungen zur Debatte. D e n n entgegen der juristischen Fixiertheit auf den Zwang scheint es doch im R a h m e n der Moralbegründung erforderlich zu sein, der E b e n e gewaltsamer Rechtsdurchsetzung eine Schicht moralischer R e c h t e vorzuschalten, um signalisieren zu können, daß M e n s c h e n überhaupt R e c h t e haben und nicht bloß Anteile am Gesamtnutzen, die zuweilen an sie ausgeschüttet werden. 9 E s wird sich zeigen, daß beide Problemkreise miteinander verbunden sind. Zu erörtern ist also, o b die Folgelasten einer gutgemeinten Unterscheidung v o m moralischen Standpunkt aus überhaupt vertretbar sind. 2. In dem der Begründung von Menschenrechten gewidmeten Kapitel von Tugendhats Vorlesungen über Ethikw findet sich eine scharfsinnige B e m e r k u n g über den rekursiven Charakter der Unterscheidung zwischen moralischen und juristischen R e c h t e n . Sie betreffe, wie Tugendhat richtig bemerkt, nicht bloß ein begriffliches P r o b l e m , sondern den U m s t a n d , ob es v o m moralischen Standpunkt aus selbst wünschenswert sein k ö n ne, die E x i s t e n z moralischer R e c h t e anzunehmen (346). Daran will Tugendhat im weiteren freilich keinen Zweifel lassen. Schließlich fügt sich allein schon die Begründung v o n Pflichten aus der Perspektive von Rechten zu gut in sein K o n z e p t einer M o r a l universeller A c h t u n g ein (80f., 3 0 4 - 3 0 7 ) . Bereits die generelle Verleihung von moralischen R e c h t e n 1 1 streiche heraus, daß einer Person von allen anderen etwas geschuldet werde, das sie auch einfordern könne (348). Dadurch werde die Person als S u b j e k t und
5
Vgl. demgemäß zur Definition des subjektiven Rechts als „rechtlich geschütztes Interesse" bei Rudolph von Jhering, D e r Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner E n t wicklung, Bd. 3, Leipzig 5 1906, 339.
6 7
Vgl. Rudolph von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, Leipzig 2 1884, 332. Siehe bloß Niklas Luhmann, „Identität - was oder wie?", in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 2 1992, 1 4 - 3 0 .
8
Wenn man einmal von der Problematik absieht, beide F o r m e n von Rechten hinsichtlich ihrer Quelle zu unterscheiden. Vgl. dazu Judith Jarvis Thomson, The Realm of Rights, Cambridge/ Mass. - L o n d o n 1990, 7 3 - 7 8 .
9
Vgl. Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, Cambridge/Mass. 2 1978, 93, 2 6 6 - 2 7 8 .
10
Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt/M. 1993. Die Seitenverweise im Text bezie-
11
Moralische Rechte werden nach Tugendhat durch die moralische Gesetzgebung verliehen und
hen sich auf diese Ausgabe. folgen nicht gleichsam analytisch aus dem „absoluten Wert" der Person ( 3 4 4 - 3 4 6 ) .
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nicht als bloßes O b j e k t von Pflichten anerkannt. Zudem k o m m e n u n m e h r klar z u m A u s d r u c k , daß die Materie der Pflichten mit der Perspektive, die ein unparteiischer Beliebiger bei der Verallgemeinerung einnimmt (83), aufs engste v e r w o b e n ist: „Uberhaupt w i r d jetzt auch schärfer unterstrichen, was freilich im kategorischen Imperativ von vornherein enthalten war, daß nunmehr alles aus der Perspektive derer, die R e c h t e haben, beurteilt w i r d . O b w o h l der Begriff des Rechts auf dem der Verpflichtung aufruht, ist es inhaltlich so, daß die Pflichten aus den Interessen und Bedürfnissen u n d den aus diesen folgenden Rechten sich ergeben: die Rechte folgen aus den Bedürfnissen, w e n n dies bei unparteilicher Beurteilung als wünschenswert erscheint." (348f.) Die darin liegende Verstärkung der M o r a l ermögliche es, die B e g r ü n d u n g von Rechten aus d e m Z u s a m m e n h a n g mit reziproken Pflichten zu lösen und unmittelbar auf elementare Bedürfnisse zu beziehen (349). N a c h Tugendhat sollen sich daraus z w e i Konsequenzen ziehen lassen, die verdeutlichen, w o d u r c h sich seine Position von der typisch liberalen 1 2 H e r v o r h e b u n g der negativen Freiheit der Bürger im Verhältnis z u m Staat unterscheidet. Erstens w e r d e außer Streit gestellt, daß die Menschenrechte p r i m ä r gegenüber allen anderen und nur aushilfsweise gegenüber d e m Staat bestehen (349-351). Zweitens erhielten nun die positiven Rechte auf Unterstützung durch andere eine systematische Priorität v o r der A b s c h i r m u n g von Freiräumen (355). 13 Da allerdings das elementare menschliche Bedürfnis nach A u t o n o m i e es nicht zulasse, die Befriedigung von B e d ü r f nissen und Interessen einfach zu verwalten, verwandelten sich die ursprünglichen Verpflichtungen z u r U n t e r s t ü t z u n g in einem weiteren Schritt in Verpflichtungen „zur H i l fe zur Selbsthilfe", und nur bei denjenigen, die sich nicht mehr selbst helfen können, habe die unmittelbare Unterstützung einzugreifen (355, 361). Vor diesem H i n t e r g r u n d skizziert Tugendhat ein globales P r o g r a m m für die Realisierung sozialer Rechte auf U n t e r s t ü t z u n g und Wohlstand (360f., 389f.). W i e sollte es aber u m die Durchsetzung solcher Rechte bestellt sein? Auf begrifflicher Ebene schließt Tugendhat von der horizontalen Verpflichtung aller, die M e n s c h e n rechte einer/s jeden zu schützen, auf die moralische Verpflichtung z u r G r ü n d u n g des Staates, dem er die A u f g a b e zuweist, die Ausfallbürgschaft f ü r die Menschenrechte zu übernehmen (349-351). N a c h Tugendhats A n s a t z hätte dies freilich vor allem f ü r den durch Leistungsrechte eingeräumten statuspositivus zu gelten, der sich e t w a in der allgemeinen Gewährleistung des Rechts auf Arbeit und des Rechts auf Alters-, K r a n k e n und Unfallversicherung manifestiert (358). U n d in der Tat setzt sich Tugendhat kritisch mit einigen Standardeinwänden auseinander, die gegen die Verbürgung sozialer G r u n d rechte wiederholt vorgebracht worden sind (361f.). Gleichwohl nehmen an diesem Punkt auch seine Überlegungen, und z w a r angesichts der Konsequenz, daß ein justitiabler Schutz von Leistungsrechten unter gegebenen U m s t ä n d e n eine enorme A u s w e i t u n g der Kompetenzen der Verfassungsgerichte erforderlich machen w ü r d e , eine Wendung,
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Vgl. dazu auch Tugendhats kritische Auseinandersetzung in: „The Controversy A b o u t Human Rights", in: Herlinde Pauer-Studer (Hrsg.), Norms, Values, and Society, Dordrecht - Boston London 1994, 3 3 - 4 2 , hier 37-39. „Der Freiheitsbegriff kann der Auflistung der Grundrechte nicht vorangestellt werden" (358).
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die als bemerkenswert zu verbuchen ist. Tugendhat hält nämlich fest: „Es besteht, grundsätzlich gesehen, keine Notwendigkeit, diejenigen Rechte, die als moralisch grundlegend angesehen werden, in ihrer politischen Sicherung von einer Zweidrittelmehrheit statt von einer einfachen Mehrheit des Parlaments abhängig zu machen" (362). Es sieht daher so aus, als ob es nach Tugendhat moralisch zulässig wäre, wenigstens bei manchen Menschenrechten darauf zu verzichten, sie auf einer Ebene zu verankern, die J o h n Marshall nicht ohne Pathos als die des „fundamental law" bezeichnet hat. 1 4 Sie würden vielmehr eine Sorte von Rechten darstellen, die als bloße Forderungen an den Gesetzgeber ergehen. Aber wären dies dann Rechte im starken (juristischen) oder schwachen (moralischen) Sinn? D e r von Tugendhat ob seines kontraktualistischen Ansatzes geschmähte Locke wollte hier keine Unklarheiten aufkommen lassen. E r hat nämlich im Eigentum, anders als Tugendhat meint (350), keineswegs ein moralisches Recht, sondern von Beginn an einen gegenüber allen anderen durchsetzbaren Anspruch gesehen. 1 5 U n d als einer der letzten Vertreter einer radikal calvinistischen Politik 1 6 hat er klargestellt, daß gegenüber einer Staatsgewalt, die dieses Recht nicht garantiert, der Widerstand erlaubt ist. 1 7 Wäre nicht darin das Vorbild für die allgemein wünschenswerte „Verstärkung des moralischen Rechts" zu erblicken? 3. Damit stehen wir vor der Paradoxie, durch die jede Begründung von Menschenrechten hindurch muß. Sie hat Positionen, 1 8 die im Verhältnis zur Institution als unbedingt auftreten, von ihrer institutionellen Realisierung abhängig zu machen, und somit das Sollen mit Blick auf das Sein zu formulieren. 1 9 Denn andernfalls gerät sie in die Situation, bei der Begründung von Menschenrechten jene Unbestimmtheit zu produzieren, vermöge derer die moralische Überlegung sich dem wohligen Gefühl überlassen kann, wenigstens Haltung zu beweisen. D e r sich hier abzeichnenden Alternative lassen sich Konturen verleihen, indem man sich das Muster vergegenwärtigt, dem die Begründung von Rechten in der politischen Philosophie der Neuzeit folgt. 2 0 Zunächst wird in einem hypothetisch angenommenen Naturzustand den Menschen die Innehabung von Rechten in einem unverkürzten Sinn
14 Vgl. Marbury von Madison, 5 U.S. (1 Cranch), 137 (1803), 176. 15 Vgl. John Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), Frankfurt/M. 1977, II, 2, 203 (§7). 16 So Quentin Skinner, The Foundations of Modern Political Thought, vol. 2: The Age of Reformation, Cambridge/Engl. 1978, 239. 17 Vgl. John Locke, Zwei Abhandlungen, a. a. O., II, 13, 293f, (§ 151). 18 Zu Grundrechten als Positionen siehe Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt/M. 1986, 163 f. 19 Getreu der Sentenz Hegels: „Was sein soll, ist und ist zugleich nicht." So Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I (1812), in: ders., Werke in zwanzig Bänden, a. a. O., Bd. 5, 143. 20 Sie ist, mit anderen Worten, als moralisches Begründungsverfahren zu deuten. Vgl. im übrigen nunmehr die Darstellung bei Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, Darmstadt 1994.
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(Tugendhat: „im starken Sinn" [350]) zugeschrieben. Mangels staatlicher Gewalt bleibt es hier den Menschen selbst überlassen, ihre Rechte durchzusetzen. Die damit im Vergleich zur Stipulation moralischer Rechte vorerst bloß in Aussicht gestellte eminente „Verstärkung" der moralischen Pflicht, den anderen als autonomes Wesen zu achten, darf gleichwohl nicht unterschätzt werden. Die Menschen würden allen anderen die Achtung ihrer Person bezeugen, indem sie zum Beweis der intersubjektiven Anerkennung auch Zwang gegen sich gelten ließen. 21 Allerdings wird dies im Naturzustand bloß in Aussicht gestellt, denn in ihm läßt sich eine solche Bekundung von Achtung auf eine allgemein akzeptable Art nicht erbringen, weil die Einforderung von Achtung in Mißachtung umschlägt. Das Gedankenexperiment soll demgemäß zeigen, daß sich die private Rechtsdurchsetzung, will sie nur allgemein akzeptabel sein, ad absurdum führt. Folglich muß auf dieser Ebene auch noch offen bleiben, ob universell gültige subjektive Rechte überhaupt ein geeignetes Medium darstellen, fundamentale Interessen zu schützen. In dem daran anschließenden Begründungsschritt geht es auch nicht mehr darum, diese allen Menschen gemeinsamen Interessen freizulegen, sondern die Bedingungen ausfindig zu machen, unter denen der von subjektiven Rechten ausgehende Zwang akzeptabel ist. Das bedeutet es eben, Rechte und nicht die ihnen vorgelagerten schutzwürdigen Interessen zu begründen. Es ist daher nicht weiter verwunderlich, daß an dem Punkt, w o der Naturzustand zugunsten des gesellschaftlichen Zustandes zu verlassen ist, die Positionen sich dahingehend unterscheiden, ob sie zwangsbewehrte Rechte als Medien, die universelle Achtung fundamentaler Interessen zu bekunden, für akzeptabel halten. Ist die Schlußfolgerung negativ, w i r d die Gewährleistung von Rechten von der Staatsräson abhängig gemacht; ist sie positiv, sind die Rechte kraft des am Ausgang des Naturzustands abgerungenen Verzichts auf private Durchsetzung durch eine mit Zwangsmonopol ausgestattete Anstalt zu sichern. Damit erreicht die Begründung von Rechten den ersten Punkt, an dem sie geschichtliche Kontingenz in sich aufzunehmen hat. Denn die erforderliche Sicherungsanstalt läßt sich nicht deduzieren. Es bedarf vielmehr der A n k n ü p f u n g an eine vorfindliche Institution, für die der Staat, der sich dem L a w of Nations unterwirft, zum Modell geworden ist. Der Territorialstaat der Neuzeit markiert damit die erste Stelle, an der die Begründung von Menschenrechten - die nunmehr mit der Feststellung der allen gemeinsamen fundamentalen Interessen in ein spannungsvolles Verhältnis gerät - sich von den institutionellen Bedingungen, solche Rechte zu realisieren, abhängig macht. 2 2 M i t ihm ist aber auch der zweite Punkt bezeichnet, an dem die Begründung in eine weitere geschichtliche Abhängigkeit gerät. Denn wenn die M e n schen in der Tat Rechte haben, dürfen diese natürlich auch nicht von der staatlichen Gewalt, die zu ihrem Schutz eingerichtet ist, mißachtet werden. Daher haben - ein Problem, das Tugendhat umgeht, indem er das Problem wechselseitiger Hilfe auf N a t u r k a tastrophen fixiert (351) - die zum politischen Körper vereinigten Bürger die kollektive
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Das ist bekanntlich das H a u p t t h e m a v o n Fichtes Grundlage des Naturrechts (1796). Vgl. näher D i e t e r G r i m m , „Die G r u n d r e c h t e im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft", in: ders., Die Z u k u n f t der Verfassung, F r a n k f u r t / M . 1 9 9 1 , 6 7 - 1 0 0 , hier 74.
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Selbsthilfe gegenüber der tyrannischen Staatsmacht in Reserve zu halten. Insofern hat die These von der „Gleichursprünglichkeit" privater und öffentlicher Autonomie 23 auch einen handfesten politischen Sinn. Den Menschenrechten läßt sich nur Geltung verschaffen, wenn sie von einer selbstorganisierten solidarischen Öffentlichkeit getragen werden.24 Die richtig verstandene Volkssouveränität ist daher, anders als Tugendhat vermutet, 25 kein Stolperstein der Menschenrechte, sondern deren ultima causa efficiens. Wegen der unerfreulichen Konsequenzen und unsicheren Aussichten jeglicher Ausübung von Widerstand, die deshalb eben nicht, wie die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung schon wußte, „for light and transcient causes" geschehen dürfe, sind im letzten Begründungsschritt die subjektiven Rechte auf jenes Maß zu reduzieren, von dem zu erwarten ist, daß es bei gegebenen Umständen von einer legitimen Staatsgewalt auch garantiert werden kann. Bei der Formulierung von Menschenrechten insofern Zurückhaltung zu üben, ist Ausfluß ihres rechtlichen Charakters - und dieser der stärkste Ausdruck des wechselseitigen Respekts unter Fremden. Dafür sind die Menschenrechte aber auch nichts Liebes, denn im schlimmsten Fall darf der Conducator eben an die Wand gestellt werden, wenn dies erforderlich ist, um die Errichtung einer neuen Staatsgewalt gewährleisten zu können. Daß die Begründung unveräußerlicher Menschenrechte paradoxerweise stets in einem konkreten geschichtlichen Kontext vollzogen werden muß, verweist auf einen dritten Punkt ihrer Verwobenheit mit geschichtlicher Kontingenz, der ihnen den Charakter einer Antwort auf vergangene Unrechtserfahrungen verleiht. Sie errichten ein Bollwerk gegen historisch erfahrene Versagungen von Anerkennung und Respekt. Deswegen ist die Staatsgewalt der primäre Adressat der Verpflichtung gewesen. Zuzugeben ist freilich, daß die Unsichtbarkeit des Privatrechts dem liberalen Grundrechtsverständnis in der Tat den Blick darauf verstellt hat, 26 daß die Menschenrechte, weil sie den Staat binden, Räume der Lebensentfaltung freigeben, die so ausgestaltet sein sollten, daß das Gebot der wechselseitigen Achtung der Menschen als gleiche Rechtspersonen eine Einlösung erfährt. Der Staat hat sich nicht bloß des Eingriffs zu enthalten, er hat die Menschenrechte zu garantieren.27 Aus beiden Gründen sind sie in der Form eines „higher law" zu institutionalisieren, das den Gesetzgeber wie die Verwaltung bindet. Die Direktiven, solche Garantien in die Tat umzusetzen, um die in Menschenrechten bezeichneten Interessen auf faire Weise zu schützen, sind freilich selbst wieder in historisch wandelbare Vorstellungen über den Aufbau der Gesellschaft und die angemessene Dis-
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Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992, 163f. Vgl. generell John Dewey, The Public and its Problems (1927), Chicago 1974. Vgl. Ernst Tugendhat, „The Controversy About Human Rights", a. a. O., 35. Vgl. hierzu Dieter Grimm, „Grundrechte und Privatrecht in der bürgerlichen Sozialordnung", in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987, 192-211. Vgl. etwa zur Regelung rechtsgeprägter Schutzbereiche: Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, Heidelberg '1993, 59f.
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tribution sozialer G ü t e r eingebettet. 2 8 A n ihnen werden daher auch die Wandlungen des konkreten Grundrechtsverständnisses insgesamt ablesbar. 2 9 4. Rückblickend betrachtet muß das liberale Menschenrechtsverständnis aus zwei G r ü n den engherzig anmuten. Erstens werden die R e c h t e unter dem Vorzeichen eines r ü c k sichtslos marktwirtschaftlichen Sozialmodells weitestgehend negativ formuliert; zweitens setzt es, was den U m f a n g ihrer Gewährleistung angeht, den S c h l u ß p u n k t der Rechtsbegründung an ihren naturständischen Anfang. D a m i t entsteht der E i n d r u c k , als ließen sich mit den Menschenrechten alle fundamentalen Interessen abdecken. A u s letzterem kann man aber auch lernen, daß die Begründung v o n Menschenrechten u m sichtig vorzugehen hat, wenn sie jene fundamentalen Interessen aussondert, die sich unter gegebenen institutionellen Bedingungen auch als subjektive R e c h t e realisieren lassen. D e n n am E n d e steht jene kollektive Gewalt, die, o b w o h l sie den Moralisten ordinär dünkt, als unerfreuliche K o n s e q u e n z des Umstandes hinzunehmen ist, daß moralische Pflichten durch R e c h t e bewahrt werden. Das bedeutet nicht, daß den v o n Tugendhat unter dem Titel sozialer Rechte benannten fundamentalen Interessen ein geringerer Stellenwert zukäme. N u r lassen sich vielleicht nicht alle unter gegebenen Bedingungen in den Rang des „higher law" erheben. H i e r f ü r sind differenzierte institutionelle Ü b e r l e g u n g e n anzustellen. D e s h a l b hat die P h i l o s o p h i e die K o m p e t e n z , M e n s c h e n r e c h t e zu begründen, an eine Rechtswissenschaft in staatsbürgerlicher A b sicht abzutreten, die in Auseinandersetzung mit dem detaillierten A u s d r u c k sozialer Integration - den Rechtsinstituten - die Erweiterung bestehender Gewährleistungen experimentell durchspielt. 3 0 Tugendhat hat freilich den umgekehrten Weg gewählt. E r schließt v o n den fundamentalen Interessen unmittelbar auf die staatliche Gewährleistung, ohne die K o n s e quenzen der rechtlichen Absicherung zu problematisieren. Seine Argumentation reicht daher nicht hin, die Menschenrechte als R e c h t e zu begründen, und leistet nicht mehr, als den fundamentalen Charakter von Bedürfnissen und Interessen zu unterstreichen. D e s w e g e n hat die Moralisierung der Menschenrechte auch hinzunehmen, daß das U n veräußerliche ihr unbestimmt wird. D e r Staat gewährleistet kein G r u n d r e c h t auf M i n desteinkommen. Was ist zu tun? Soll man gegen den untätigen G e s e t z g e b e r mit tugendhaftem E r n s t anmoralisieren? Diesfalls hielte man freilich Trümpfe in der H a n d , die nicht stechen können, „moralische R e c h t e " eben, die sich freilich, die internationale E n t w i c k l u n g belegt dies, zur Zufriedenheit des G e m ü t s in zahlreichen Katalogen ausbuchstabieren lassen. I m Schlaraffenland der Rechte, die b l o ß sein sollen, kann man
28 Vgl. Peter Koller, „Gesellschaftsauffassung und soziale Gerechtigkeit", in: G. Frankenberg (Hrsg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Frankfurt/M. 1994, 129-159. Zum „Rechtsparadigma" vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, a. a. O., 472ff. 29 Vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, a. a. O., 300-309. 30 Für erste Versuche vgl. Roberto M. Unger, The Critical Legal Studies Movement, Cambridge/ Mass. 1986; ders., False Necessity. Anti-Necessitarian Social Theory in the Service of Radical Democracy, Cambridge/Engl. 1987; Alexander Somek, „Gleichheit. Vom Eingriff zum Rechtsverhältnis", in: Juridikum 5 (1994), 4 2 - 4 6 .
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getrost vergessen, daß die Realisierung dem Ermessen der Staaten überlassen wird. Aber selbst wenn sich hier die Analogie zum Schicksal der iura connata des vorkritischen Naturrechts 3 1 aufdrängt, wird kein Menschenrechtsmoralist sich damit abfinden wollen, die Menschenrechte in letzter Konsequenz für „verlorene Rechte" zu halten. 32 Und aus diesem Grund müssen Menschenrechte, deren rechtlicher Charakter nicht begründet wird, permanent zwischen „stark" und „schwach" alternieren. 33 Denn selbst wenn sie vor der institutionellen Realisierung schwach werden, hat ein starker Anspruch aufrechterhalten zu werden, der sich gleichwohl zur Konkretisierung nicht entschließen kann. Schon Hegel wußte, daß das Geheimnis des „leeren Sollens" darin besteht, unnachgiebig zu sein. 34 Es ist nicht weiter erstaunlich, daß die inflationäre Proliferation der stark/schwachen Menschenrechte in deren Eindämmung resultiert. 35 Der Wert dieser Rechte liegt nicht in ihrem Bezug auf verfassungsrechtliche Bedingungen ihrer realen Einlösung, sondern in etwas ganz anderem. Der Unternehmungsgeist, mit dem fundamentale Interessen in scheinbare Rechtspositionen transformiert werden, folgt einer monotonen Weisung, die von Menschenrechtsmoralisten nur zu gerne mit der Festigkeit sittlichen Überzeugtseins verwechselt wird. Er ist ein Symptom für die Unbestimmtheit sozialer Integration, durch die sich das postkonventionelle Moralbewußtsein die Absenz eines traditionalen Ethos supplementiert. Wenn man sich einmal über abstrakte moralische Aufträge einig geworden ist, kann man sich in dem Glauben wiegen, die Rechte der Menschen zu kennen. Das stiftet zwar Gemeinschaft, es funktioniert aber auch nur unter der Bedingung, daß der tugendhafte „happy talk" 3 6 jene Bestimmtheit meidet, zu der verfassungsrechtliche Gewährleistung und politische Praxis sich nötigen müssen. Der wohlmeinende Konsens beruht auf Unbestimmtheit. 3 7
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Das vorkritische Naturrecht verstand sich ja als bloßes consilium an den Fürsten. Vgl. Jan Schröder, „Naturrecht und positives Recht in der Methodenlehre von 1800", in: Ralf Dreier (Hrsg.), Naturrecht und Wertbezug des Rechts, Stuttgart 1990 (Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Beiheft 37), 129-140, hier 132. Die urständischen iura connata mußten mit dem Eintritt in den staatlichen Zustand aufgegeben werden. Vgl. Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, 75. Oder, um ein Bild von Derrida aufzugreifen: zu „blinken" (vgl. Jacques Derrida, „The Law of Genre", in: Glyph 7 [1980] 202-229). Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), in: ders., Werke in zwanzig Bänden, a. a. O., Bd. 3, 446f. Zur Inflation von Rechten als Steuerungsmedien vgl. Richard Münch, „Recht als Medium der Kommunikation", in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 13 (1992), 67-87. Diesen selbst als durchaus geglückt zu bezeichnenden Ausdruck fand ich bei Pierre Schlag, „Normativity and the Politics of Form", in: University of Pennsylvania Law Review 139 (1991), 801-932, hier 832. Damit wird freilich nicht behauptet, daß die Rechtsordnung von Unbestimmtheit frei wäre, sie kehrt dort wieder, allerdings in verwandelter und mittels begrifflicher Differenzierungen handhabbarer Form.
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Es mag durchaus sein, daß solche normative Unbestimmtheit für die soziale Integration moderner Gesellschaften unverzichtbar ist. Aber vielleicht ist es dennoch moralisch besser, die inhaltliche Feststellung fundamentaler Interessen („moralischer R e c h te") von der Begründung der Menschenrechte zu unterscheiden. Andernfalls ginge etwas verloren, das vom moralischen Standpunkt aus zwar nicht erfreulich, aber gleichwohl wünschenswert ist. Daran haben bereits die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung keinen Zweifel gelassen, als sie der Feststellung über die Zwecke, die dem Staat aufgrund der angeborenen und unveräußerlichen Menschenrechte vorgegeben sind, die Konsequenz nachsetzten: „That whenever any F o r m of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or abolish it, and to institute new Government . . . " Sie haben, wie die Geschichte lehrt, den Grundsatz beherzigt: O h n e Widerstand keine Menschenrechte.
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Recht und Gerechtigkeit bei Walter Benjamin
In einer klassischen philosophischen Konzeption ist die Gerechtigkeit ein zu erreichendes Ideal, das Recht ein Instrument, um sich diesem Ideal möglichst zu nähern, ein Werkzeug, das seine konkrete Verwirklichung ermöglichen soll; die Gerechtigkeit haftet dem göttlichen Bereich an, das Recht ist eine Errungenschaft des Menschen, die darauf zielt, das Göttliche zu fassen, zu ergreifen, zu kodifizieren und zu konkretisieren, und somit eine Gerechtigkeit anwendbar werden zu lassen, die als solche nur Gott vorbehalten ist. Hier werden wir feststellen, daß Benjamin diese Interpretation umkehrt und aus dem Recht eine mythische, dem Menschen vorausliegende Institution macht, die immer wieder in der Welt der Menschen auftaucht. Gegenüber dem Recht erscheint die göttliche Gerechtigkeit als eine befreiende, emanzipierende, die Schuld tilgende Macht, und die Aufgabe des Menschen ist es, sie zu ergreifen. Bei Benjamin auf explizite Weise, wie implizit bei Kafka, tritt die gleiche Opposition zwischen Recht und Gerechtigkeit wie zwischen dem Mythischen und dem Göttlichen in Erscheinung. Die Benjaminsche Opposition von Recht und Gerechtigkeit ist somit nicht die Wiederaufnahme der lateinischen Begriffe gleicher Wurzel;'*« und justitia, auch nicht die der griechischen Termini dike und dikaiosyne, sondern bezieht sich eher auf die lateinische Opposition von jus und fas oder auf den Zusammenstoß des verdinglichten, mythischen Rechts Kreons mit den ewigen, ungeschriebenen Gesetzen der Antigone. Auf geheime, jedoch noch tiefere Weise findet man in der Benjaminschen Theorie eine biblische Opposition zwischen zwei Formen von Justiz wieder, nämlich der menschlichen Justiz der Gerichte (mischpath), und, der göttlichen Gerechtigkeit ( t z e d e k ) , die fähig ist, das Recht zu zerstören und die Schuld zu tilgen. Wir werden auch feststellen, daß die Gegenüberstellung, die Benjamin hier aufstellt, in dessen für sein ganzes Denken wesentliche Trauerspieltheorie eingehen wird, die er im Ursprung des deutschen Trauerspiels darlegt. In der platonischen Konzeption der Gerechtigkeit, wie man sie im Staat dargestellt finden kann, ist die Gerechtigkeit eine Idee, ein unerreichbares An-sich, das im Recht und in den Gesetzen zu der am meisten geeigneten Verwirklichung kommt. Der ideale Staat, den Piaton errichtet, ist der Versuch, eine Gemeinschaft zu realisieren, die wirklich auf der Idee der Gerechtigkeit gründen würde, in der jedes Mitglied mit der ihm gebührenden Aufgabe beschäftigt wäre und eine genau bestimmte Rolle im Funktionieren der Gesellschaft hätte. Paradoxerweise, jedoch unausweichlich, kann eine derartige Gesellschaft nur auf einem zwingenden System beruhen, das den Individuen ein
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starres Recht auferlegt, wodurch der platonische Staat einem autoritären Staat ähnelt. Die Utopie Piatons kündigt gewissermaßen diejenige von Marx an, da dessen kommunistische Gesellschaft die Verwirklichung einer egalitären Idee der Gerechtigkeit als sozialer Gerechtigkeit sein wollte, in der jeder nach seinen Fähigkeiten geben und nach seinen Bedürfnissen erhalten würde, aber zugleich notwendigerweise in ein äußerst zwingendes und autoritäres Rechtssystem mündete, das die Idee der Gerechtigkeit selbst umkehrte, der sie dienen wollte. Die aristotelische Auffassung der Gerechtigkeit ist eine ganz andere. In der Nikomachischen Ethik ist selbstverständlich nicht von einer „Idee der Gerechtigkeit" die Rede, sondern die Gerechtigkeit wird gewissermaßen zerteilt und nach ihren „Akzidentien" untersucht, immer in Beziehung zu einer (gerechten oder ungerechten) Handlung oder einem sozialen Handeln. Bei Aristoteles gibt es keine historische Reflexion über das Vorher und Nachher von Gesetzen und Gerechtigkeit und über die mögliche Zufälligkeit der Gesetze, so daß eine gerechte Handlung als die bestimmt wird, „die das Gesetz und die bürgerliche Gleichheit achtet". 1 Das Recht scheint eine Erfindung der Menschen zu sein, um der Gerechtigkeit zuvorzukommen: „Denn Recht ist da, wo die Beziehungen von Mensch zu Mensch durch das Gesetz geordnet sind und das Gesetz ist da, wo unter Menschen Ungerechtigkeit möglich ist." 2 Erscheint das Recht bei Aristoteles vor allem in der Form des vom Menschen geschaffenen Gesetzes, so besteht auch ein „Naturrecht": das Recht des Menschen über seine Kinder z. B. oder sogar über seine Sklaven scheint ihm ein Naturrecht zu sein, während das Recht des Mannes über seine Frau, das kein natürliches ist, vom Gesetz festgelegt ist. Somit ist Aristoteles derjenige, der die Unterscheidung zwischen einem „Naturrecht" und einem „Gesetzesrecht" (oder „positiven Recht"), folgenreich in die Rechtsphilosophie einführt: „Das Naturrecht hat überall dieselbe Kraft der Geltung und ist unabhängig von Zustimmung oder Nicht-Zustimmung (der Menschen). Beim Gesetzesrecht ist es ursprünglich ohne Bedeutung, ob die Bestimmung so oder anders getroffen wurde, wenn es aber festgelegt ist, dann ist es verbindlich." 3 Diese Unterscheidung von Natur- und Gesetzesrecht wird von Spinoza wieder aufgenommen und verstärkt, insbesondere in seinem Theologisch-politischen Traktat, und übt auf das ganze politische Denken des 18. Jahrhunderts eine große Wirkung aus. Das höchste Gesetz der Natur ist, laut Spinoza, daß „jedes Ding in seinem Zustande, so gut es vermag, zu beharren sucht, und zwar nur mit Rücksicht auf sich selbst". 4 Daher erweist sich das Naturrecht als untrennbar verbunden mit der Auffassung eines den Gesetzen vorangehenden „Naturzustandes", in dem das Gesetz des Stärkeren gilt, genau wie in der Natur „mit dem höchsten natürlichen Recht die großen Fische die kleinen fressen". 5
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Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129b (Übers, von Franz Dirlmeier, Berlin 7 1979, 96). E b d , 1134a (109). Ebd., 1134b (110). Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, 16. Kap., aus dem Lateinischen von Jakob Stern (1886), hrsg. von Helmut Seidel, Leipzig 1967, 261. E b d , 260.
Recht und Gerechtigkeit
hei Benjamin
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Gegenüber diesem „Naturrecht" mußten sich die Menschen einigen, um sich vor dem Konflikt ihrer Begehren zu schützen und gründeten das Gesetzesrecht oder positives Recht. Dieses ist demnach ein Werk des Menschen, es ist das Ergebnis eines „Paktes" zwischen den Menschen, eines Paktes, der bei Rousseau die Form des contrat social, des Gesellschaftsvertrages, annehmen wird. Wie bei Aristoteles wird bei Spinoza die Gerechtigkeit von dem Gesetzesrecht abgeleitet und nicht umgekehrt: „Gerechtigkeit ist eine feste Gesinnung, jedem zu lassen, was ihm nach dem bürgerlichen Rechte zukommt; Ungerechtigkeit dagegen, unter dem Schein des Rechts jemand entziehen, was ihm nach der wahren Auslegung des Gesetzes zukommt." 6 Hegel, der eine seiner ersten veröffentlichten Schriften in Jena der Kritik des Naturrechts widmete, untersucht in der Rechtsphilosophie vor allem das positive Recht, welches ein Bestandteil des objektiven Geistes ist: „Was an sich Recht ist, ist in seinem objektiven Dasein gesetzt, d. i. durch den Gedanken für das Bewußtsein bestimmt, und als das, was Recht ist und gilt, bekannt, das Gesetz-, und das Recht ist durch diese Bestimmung positives Recht überhaupt." 7 Genau von hier, von dieser Unterscheidung zwischen Naturrecht und positivem Recht, gehen die Reflexionen Benjamins in seinem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt aus, in dem er jede Auffassung eines „Naturrechts" scharf angreift. Wenngleich er dem positiven Recht das Verdienst zuerkennt, die Rechtsinstitution zu historisieren und die Gewalt geschichtlich zu sanktionieren (oder nicht), so verwirft er jedoch jedes Vorhergehen des Rechts vor der Gerechtigkeit, jede Ableitung der Gerechtigkeit vom Recht. Im Gegenteil kann man bei Benjamin eine Umkehrung der traditionellen Auffassung des Verhältnisses von Recht und Gerechtigkeit feststellen, da letztere als eine befreiende, von Gott eingesetzte Kraft erscheint, die dem Menschen erlauben soll, der Welt des Mythos zu entfliehen, die im Recht zur Darstellung kommt. Der Interpretation des Rechts als Errungenschaft des Menschen, die der Ungerechtigkeit des „Naturrechts" ein Ende setzt, stellt Benjamin eine Auffassung entgegen, bei der das Recht im Mythos, in den unvordenklichen Zeiten der Menschheit verankert ist und von der Gerechtigkeit gebrochen wird. Noch bevor er diese Auffassung in Zur Kritik der Gewalt darstellte, hatte er sie im Aufsatz über Schicksal und Charakter zu Wort kommen lassen, indem er dort das Recht wie ein dämonisches Gebiet schilderte, in dem Unglück und Schuld herrschen: „Es gilt also, ein anderes Gebiet zu suchen, in welchem einzig und allein Unglück und Schuld gelten, eine Waage, auf der Seligkeit und Unschuld zu leicht befunden werden und nach oben schweben. Diese Waage ist die Waage des Rechts." 8 Das Gebiet des Rechts erscheint bei Benjamin wie eine verdinglichte Welt, eine mythische, undurchdringliche Welt, ähnlich der, die Kafka im Prozeß beschreibt: eine Welt der Willkür, in der jede Gerechtigkeit und jede Berechtigung abwesend sind, wo die 6 7 8
Ebd., 270. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hrsg. v o n Hermann Klenner, Berlin 1 9 8 1 , 241 (§ 2 1 1 ) . Walter Benjamin, „Schicksal und Charakter", in: ders., Gesammelte Schriften (im folgenden: GS), Frankfurt/M. 1977, Bd. II, 174.
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Verurteilung der Schuld vorangeht und die Schuld mit sich bringt: „Das Schicksal zeigt sich also in der Betrachtung eines Lebens als eines verurteilten, im Grunde als eines, das erst verurteilt und darauf schuldig wurde. Das Recht verurteilt nicht zur Strafe, sondern zu Schuld. Schicksal ist der Schuldzusammenhang des Lebendigen." 9 Seit dem Aufsatz Uber Schicksal und Charakter wird das Recht, als Überbleibsel aus dem Dämonischen, radikal der Gerechtigkeit entgegengestellt, mit der es ein genauso antithetisches Begriffspaar bildet wie Schicksal und Charakter oder Mythos und Tragödie: „Mißverständlich, auf Grund ihrer Verwechslung mit dem Reiche der Gerechtigkeit, hat die Ordnung des Rechts, die nur ein Uberrest der dämonischen Existenzstufe des Menschen ist, in der Rechtssatzungen nicht deren Beziehungen allein, sondern auch ihr Verhältnis zu den Göttern bestimmten, sich über die Zeit hinaus erhalten, welche den Sieg über die Dämonen inaugurierte." 10 Entgegen den Behauptungen der ganzen Tradition der Rechtsphilosophie stellt das Recht nicht eine Errungenschaft des Menschen dar, seine Emanzipation von den mythischen Gewalten, die die Menschheit beherrschten, sondern es ist nur deren verhängnisvoller Uberrest, während die Tragödie dem entkommen war: Benjamin drückt es in einem sehr starken Satz aus, den er wortwörtlich im Ursprung des deutschen Trauerspiels wieder aufnehmen wird: „Nicht das Recht, sondern die Tragödie war es, in der das Haupt des Genius aus dem Nebel der Schuld sich zum erstenmale erhob, denn in der Tragödie wird das dämonische Schicksal durchbrochen." 11 Die Tragödie ist für Benjamin nicht, wie es die verbreitetste klassische Theorie auffaßt, die Wiederherstellung einer „sittlichen Weltordnung", die von einem Verbrechen gestört worden wäre. Im Gegenteil: „In der Tragödie besinnt sich der heidnische Mensch, daß er besser ist als seine Götter, aber diese Erkenntnis verschlägt ihm die Sprache, sie bleibt dumpf. Schuld und Sühne legt sie nicht abgemessen in die Waagschale, sondern rüttelt sie durcheinander (...) Das Paradoxon der Geburt des Genius in moralischer Sprachlosigkeit, moralischer Infantilität ist das Erhabene der Tragödie." 12 In seiner Kritik der Gewalt führt Benjamin diese Gedanken weiter und präzisiert seine Gegenüberstellung von Recht und Gerechtigkeit, die eine weitere Gegenüberstellung einschließt, nämlich zwischen einer mythischen, erst rechtsetzenden, dann rechtserhaltenden Gewalt und einer göttlichen, rechtszerstörenden Gewalt, Vorläuferin der revolutionären Gewalt. Gleich am Anfang gibt Benjamin an, daß „die Aufgabe einer Kritik der Gewalt sich als die Darstellung ihres Verhältnisses zu Recht und Gerechtigkeit" 13 umschreiben läßt, wobei diese beiden Begriffe die „Sphäre" bezeichnen, in der sich die Gewalt bewegt. Die ehrgeizige Aufgabe, die sich Benjamin stellt, ist die Grundlegung einer „Geschichtsphilosophie des Rechts und der Gewalt", die an die Stelle der bisherigen Theorien, näm-
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Ebd., 175. Ebd., 174. Ebd.; vgl. ders., Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: G S I, 288. Ebd., 175. Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt", in: G S II, 179.
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lieh vom Naturrecht und vom positiven Recht, treten könnte - genau wie er später eine „Geschichtsphilosophie der Tragödie" anstreben wird. Während das Naturrecht die Gewalt als ein Produkt der Natur betrachtet, „gleichsam ein Rohstoff, dessen Verwendung keiner Problematik unterliegt", soweit deren Zwecke gerechte Zwecke sind, betrachtet das positive Recht, worauf sich Benjamin provisorisch stützt, die Gewalt in ihrem historischen Werden und unterscheidet zwischen einer historisch sanktionierten und einer historisch nicht sanktionierten Gewalt. Die Zwecke einer solchen Gewalt nennt Benjamin Naturzwecke, wenn sie nicht sanktioniert sind, Rechtszwecke, wenn sie von der Geschichte sanktioniert werden. Die staatliche Gewalt kann dazu beitragen, Naturzwecke in Rechtszwecke zu verwandeln, wie z. B. im Falle eines Krieges, der nach Unterzeichnung des „Friedens" ein neues Recht begründet. Die staatliche Gewalt erscheint hier als „rechtsetzend", kann aber auch zugleich „rechtserhaltend" sein und als solche bedrohend, der verhängnisvollen Sphäre des Schicksals verhaftet. Für das positive Recht besteht das Interesse der Menschheit „in der Darstellung und Erhaltung einer schicksalhaften Ordnung". 1 4 Unter den Strafen, die für die Drohung der rechtserhaltenden Gewalt am charakteristischsten sind, scheint die Todesstrafe paradoxerweise nicht nur die schrecklichste, sondern auch die schwächste zu sein, denn ihre Kritik stellt das Ganze ihrer mythischen Herkunft in Frage: „Ist nämlich Gewalt, schicksalhaft gekrönte Gewalt, dessen Ursprung, so liegt die Vermutung nicht fern, daß in der höchsten Gewalt, in der über Leben und Tod, wo sie in der Rechtsordnung auftritt, deren Ursprünge repräsentativ in das Bestehende hineinragen und in ihm sich furchtbar manifestieren." 1 5 Deshalb ist die Kritik der Todesstrafe und deren Abschaffung, wie Derrida treffend kommentiert, Infragestellung des gesamten Prinzips des Rechts. 1 6 Die Todesstrafe, bei der das „Schicksal in eigner Majestät" sich zeigt, ist ein Berührungspunkt von rechtsetzender und rechtserhaltender Gewalt. Diese beiden Arten von Gewalt treffen sich auch noch an einem anderen Ort, aber diesmal in einer „gleichsam gespenstischen Vermischung" 1 7 , das ist die Polizei, die eine Gewalt zu Rechtszwecken ausübt, „aber mit der gleichzeitigen Befugnis, diese in weiten Grenzen selbst zu set_
a
zen . Mit Berufung auf den rechtsetzenden Mythos kommt Benjamin zum Abschluß seiner Kritik der Gewalt. Die mythische Gewalt ist „in ihrer urbildlichen F o r m bloße Manifestation der G ö t t e r " . Indem Prometheus die Götter herausfordert, ruft er deren Gewalt hervor, aber setzt damit ein neues Recht, das er den Menschen bringt.
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Ebd., 187.
15 Ebd., 188. 16 Jacques Derrida, „Force de loi. Le fondement mystique de l'autorité" in: Deconstruction and the Possibility of Justice, Cardozo Law Review 11 (1990), 1004 (dt. Übers, von Alexander Garcia Düttmann: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität", Frankfurt/M. 1991, 89). 17 Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt", in: GS II, 189.
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„Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung. Macht ist das Prinzip aller mythischen Rechtssetzung." 18 Dieses Prinzip kommt zu einer folgenschweren Anwendung im Staatsrecht. Denn die Grenzziehungen, die die Friedensverträge des mythischen Zeitalters bestimmen, sind der Ausdruck der wesentlichen dämonischen Zweideutigkeit des Rechts: Da, wo eine Grenze gezogen wird, ist es dem Sieger wie dem Besiegten verboten, sie zu überschreiten, genau wie das Recht den Reichen und den Armen verbietet, unter Brückenbögen zu schlafen. So ahnt Georges Sorel in seinen Réflexions sur la Violence (1906), daß die Anfänge des Rechts in den „Vor"rechten der Könige und der Großen liegen. „Denn unter dem Gesichtspunkt der Gewalt, welche das Recht allein garantieren kann, gibt es keine Gleichheit, sondern bestenfalls gleich große Gewalten." Für Benjamin ist die mythische Manifestation der Gewalt ein Zeichen, daß sie jeder rechtlichen Gewalt eigen ist und daß diese vernichtet werden soll. Der mythischen Gewalt setzt er eine „reine, unmittelbare Gewalt" entgegen, fähig, ihr entgegenzuwirken. Sie wird als die göttliche Gerechtigkeit definiert, die alles, was mit Mythos und Recht zu tun hat, vernichtet: „Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal." 19 Und symptomatisch illustriert er seine Äußerung mit einer Geschichte aus der Bibel, nämlich mit der Zerstörung der Rotte Korah durch Gott, 20 einer nicht blutigen, nicht rächerischen, sondern entsühnenden Zerstörung: tzedek, die göttliche Gerechtigkeit, übertrifft und vernichtet mischpath, das Recht und die Justiz der menschlichen Gerichte. 21 An dieser Stelle ist es notwendig, die anregende und verwirrende Interpretation von Derrida einzubeziehen. In seiner „Dekonstruktion" von Benjamins Aufsatz setzt Derrida dessen Unterscheidung von mythischer und göttlicher Gewalt mit einer Unterscheidung von griechischer und jüdischer Welt gleich, die angesichts der „Endlösung" besonders schwer erscheine. Behauptet doch Benjamin, im Unterschied zur griechischen Gewalt, die blutig sei, sei die jüdische göttliche Gewalt „auf unblutige Weise letal", wie in der unblutigen Zerstörung der Rotte Korah. Sollte demnach die unblutige Vernichtung der Juden in den Gaskammern als ein Ausdruck „göttlicher Gewalt" gedeutet werden? 22 Nachträglich wirft dieser Gedanke tatsächlich ein schauervolles Licht auf Benjamins Text. Allerdings deckt sich bei Benjamin die Unterscheidung von mythischer und göttlicher Gewalt nicht vollkommen mit der von griechischer und jüdischer Welt, sondern göttliche Gerechtigkeit ist auch innerhalb der griechischen Welt eine Überwindung des Mythos, z. B. in der Tragödie (Prometheus, König Ödipus, Antigone, Orestie), die sich im Kampf gegen den Mythos behauptet - und andererseits enthält 18 19 20 21
Ebd., 198. Ebd., 199. 4. Moses 16. Dieser hebräische Einfluß auf Benjamin wird v o n Gershom Scholem nachgewiesen, zit. nach: Giulio Schiavoni, Walter Benjamin, Sopravvivere alla cultura, Palermo 1980, 179. 2 2 Jacques Derrida, Gesetzeskraft, a. a. O., Postscriptum 123f.
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auch die jüdische Welt mythische Gewalten (Baal, das goldene Kalb usw.), die die göttliche Gerechtigkeit brechen. Das Unblutige kann auch kein zureichendes Kriterium für die göttliche Gerechtigkeit sein und gerade der hitlerische Wahnsinn der „Endlösung" - der in den Gaskammern zwar unblutig war, nicht jedoch bei allen anderen Formen der Massenvernichtung - kann nur als ein Rückfall in den Mythos gedeutet werden, als „Radikalisierung und totale Ausbreitung des Mythischen, der mythischen Gewalt" (wie Derrida selbst schreibt), als Rückfall in die Zeit vor der Tragödie, in der auch das Recht das Individuum nicht geschützt hat. Die Benjaminsche Auffassung von Recht und Gerechtigkeit geht in seine Trauerspieltheorie ein und kann im Grunde nur im Lichte dieser Theorie des Trauerspiels und der Tragödie verstanden werden, die er in seinem Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels entwickelt. Benjamin weist dort das Vorhandensein eines tiefen Unterschieds nach, einer radikalen Opposition zwischen der Tragödie einerseits, die aus einem unerbittlichen Kampf mit dem Mythos entstand und bei der die Geschichte und die Gerechtigkeit aus einer willkürlichen dämonischen Welt entspringen, und dem Trauerspiel andererseits, das deren, der Moderne eigentümliches, Verfallsprodukt ist, bei dem der Mythos wieder zum Vorschein kommt, die Geschichte wieder zur Natur wird und wo auch die höchsten Figuren in den Geschichtsprozeß eingeschrieben sind und zu Kreaturen werden. Die unversöhnliche Opposition von Recht und Gerechtigkeit, die auch die Form eines Konflikts von Recht und Tragödie annimmt, wird Bestandteil der Unterscheidung von Trauerspiel und Tragödie, so daß Benjamin im Ursprung des deutschen Trauerspiels wortwörtlich diesen Satz aus Schicksal und Charakter aufnimmt: „Nicht das Recht, sondern die Tragödie war es, in der das Haupt des Genius aus dem Nebel der Schuld sich zum erstenmale erhob, denn in der Tragödie wird das dämonische Schicksal durchbrochen." 23 Die zweideutige Welt des Schicksals, der Dämonen und der Schuld, die uns im Recht vergegenständlicht erschien und die Benjamin auch als die beschrieben hat, in der sich die Barocktrauerspiele oder auch Goethes Wahlverwandtschaften bewegen, diese Welt wird von der Tragödie durchbrochen: „Die griechische, die entscheidende Auseinandersetzung mit der dämonischen Weltordnung, gibt auch der tragischen Dichtung ihre geschichtsphilosophische Signatur. Das Tragische verhält sich zum Dämonischen wie das Paradoxon zur Zweideutigkeit." 24 Wie ein Leitmotiv in seiner Kritik steht das Zweideutige als ein Zeichen für das Mythische: Benjamin schreibt den Dämonen den Charakter der Zweideutigkeit zu, der auch dem Recht eigen ist, wenn er die „mythische Zweideutigkeit der Gesetze" 25 angreift. Dieser Zweideutigkeit wird von der Tragödie ein Ende gesetzt. „In allen Paradoxien der Tragödie - im Opfer, das, alter Satzung willfahrend, neue stiftet, im Tod, der
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Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: GS I, 288.
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Ebd. Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt", in: GS II, 198.
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Sühne ist und doch das Selbst nur hinrafft, im Ende, das den Sieg dem Menschen dekretiert und dem Gotte auch - ist die Zweideutigkeit, das Stigma der Dämonen, im Absterben." 26 Was die attische Tragödie charakterisiert, ist sowohl ihre Verwandtschaft mit dem Prozeß, dem sie entsprungen ist, als auch die Tatsache, daß „eine höhere Gerechtigkeit aus der Überzeugungskraft der lebendigen Rede erwuchs, als aus dem Prozeß der mit Waffen oder in gebundenen Wortformen einander widerstreitender Sitten. Das Ordal wird durch den Logos in Freiheit durchbrochen." 27 Das Tragische entsteht also in jener „höheren Gerechtigkeit", die der „tiefe aischyleische Zug" 28 war, in jenem Paradoxon, das die Geburt des Genius begleitet und das Recht zerstört. Das Trauerspiel verhält sich zur Tragödie wie das Recht und der Mythos zur Gerechtigkeit. Die Benjaminsche Auffassung von Recht und Gerechtigkeit ist nicht nur ein wichtiger Bestandteil seiner Theorie des Trauerspiels und der Tragödie, sie ist auch, auf tiefere Weise, ein erstaunlicher Berührungspunkt zwischen dem Werk Benjamins und demjenigen Kafkas. In der Welt Kafkas wirkt das Schicksal in seiner vollen Zweideutigkeit, die Gesetze, die dem Menschen auferlegt sind, tragen das Siegel der Willkür, sie sind undurchdringlich, sind nicht die gleichen für alle. Im Mythos verankert sind die Gesetze das Zeichen einer Welt, aus der Gott abwesend ist und in der folglich keine Gerechtigkeit herrschen kann. 29 „Es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens, meint K., daß man nicht nur unschuldig, sondern unwissend verurteilt wird." 30 Kafkas Werk scheint die Illustration der Definition des Rechts zu sein, der wir bei Benjamin begegnet sind, nämlich des Rechts als einer mythischen Institution, in der weder Zufall noch Glück noch Gerechtigkeit herrschen, sondern ausschließlich das Schicksal, das Unglück und die Schuld: „Die Gesetze des Schicksals, Unglück und Schuld, erhebt das Recht zu Maßen der Person; es wäre falsch anzunehmen, daß nur die Schuld allein im Rechtszusammenhang sich fände; nachweisbar ist vielmehr, daß jede rechtliche Verschuldung nichts ist als ein Unglück." 31 Jene mythische Welt, die bei Kafka auftaucht, und der Benjamin bereits in Goethes Wahlverwandtschaften in der Form der Ehe begegnet war, 32 die er auch als solche angegriffen hatte, jene Welt wird als eine bezeichnet, die „weit hinter die Zeit der ZwölfTafel-Gesetzgebung in eine Welt zurückführt, über die einer der ersten Siege geschrie-
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Walter Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: G S I, 288. Ebd., 295. Ebd., 288. Vgl. auch Stéphane Mosès, L'ange de l'histoire. Rosenzweig, Benjamin, Scholem, Paris 1992, 208-216. Franz Kafka, Der Prozeß, Kap. 3. Walter Benjamin, „Schicksal und Charakter", in: G S II, 174. Vgl. Walter Benjamin, „Goethes Wahlverwandtschaften", in: G S I, 130: Es sind „die mythischen Gewalten des Rechts und die Ehe ist in ihnen nur Vollstreckung eines Unterganges, den sie nicht verhängt".
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benes Recht war". 3 3 In jener mythischen Welt, die auch noch wie eine „Sumpfwelt" 3 4 beschrieben wird, charakterisiert sich die Gesetzgebung dadurch, daß sie denen nicht bekannt ist, die ihr zum Opfer fallen. „Gesetze und umschriebene N o r m e n bleiben in der Vorwelt ungeschriebene Gesetze. D e r Mensch kann sie ahnungslos überschreiten und so der Sühne verfallen." 3 5 Kafkas Helden schlagen in einer Welt um sich, in der alles im voraus entschieden ist, in der nichts geändert werden kann, wo das Unbegreifliche und das Irrationale herrschen, wo der Mensch nur ein immer unglückliches „bucklicht Männlein" ist und nie die Aussicht bekommt, durch das Tor zum Gesetz hindurchzukommen, auch wenn er den Torhüter bestechen sollte, und obwohl gerade dieses Tor ihm allein bestimmt war. Dennoch ist die Welt Kafkas noch älter als diejenige des Mythos, schreibt Benjamin: „Die Welt des Mythos ist unvergleichlich jünger als Kafkas Welt, der schon der Mythos die Erlösung versprochen hat." 3 6 Die dämonischen Kräfte aus unvordenklichen Zeiten tauchen seltsamerweise gerade in der von Kafka beschriebenen modernen Welt wieder auf. Nichtsdestoweniger ist Kafka der Lockung des Mythos nicht gefolgt, wie es seine Fabel über das „Schweigen der Sirenen" zeigt, in der Odysseus sich nicht nur an den Mast binden läßt, sondern sich die Ohren mit Wachs verstopft, um nicht vom Mythos verführt zu werden, und zwar obwohl die Sirenen „eine noch schrecklichere Waffe als den Gesang" gewählt hatten: ihr Schweigen. 37
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Walter Benjamin, „Franz Kafka", in: GS II, 412. Ebd., 428. Ebd., 412, zit. nach: „Zur Kritik der Gewalt", in: GS II, 198. Ebd., 415. Franz Kafka, „Das Schweigen der Sirenen", in: ders., Beim Bau der chinesischen Mauer. Prosa und Betrachtungen aus dem Nachlaß (1931), Leipzig - Weimar 1979, 28.
II. Probleme der Rechtsdeutung: Von der Interpretation zur politischen Praxis
Paul Ricceur
Zu einer Hermeneutik des Rechts: Argumentation und Interpretation
Mein Beitrag zu diesem Symposium, das sich der Idee der Gerechtigkeit widmet, ist wesentlich epistemologischer Art. Er beschäftigt sich mit dem Rechtsdenken (raisonnement juridique). Ich möchte im wesentlichen zeigen, daß die noch kaum begonnene Debatte zwischen einer um den Begriff der Interpretation zentrierten und einer auf dem Begriff der Argumentation basierenden Theorie als Entsprechung derjenigen Debatte angesehen werden kann, die in der Linguistik und Semiotik sowie im weiteren Sinne in den Sozialwissenschaften - insofern diese Textwissenschaften sind — stattgefunden hat. Die Protagonisten dieser paradigmatischen Debatte waren die beiden emblematischen Begriffe des Verstehens und des Erklärens. Vor dem Hintergrund dieser alten Debatte möchte ich zeigen, daß ebenso, wie die gegenwärtige Hermeneutik zu einem weniger dichotomischen, dialektischeren Verständnis der Beziehung zwischen „Verstehen" und „Erklären" hat übergehen müssen, auch die Theorie des Rechtsdenkens eine Situation hinter sich lassen muß, in der die Begriffe der Interpretation und der Argumentation noch als antagonistisch angesehen werden. Dies zu zeigen bedeutet in meinen Augen, zu einer Hermeneutik, des Rechts beizutragen, deren Berechtigung neben der Auslegung religiöser und der Philosophie profaner Texte, allgemeiner gesagt neben der Texthermeneutik, noch zu wenig anerkannt wird. Diese Einbeziehung des Rechtsdenkens in den Bereich der Hermeneutik scheint mir durch deren Ausweitung auf den Bereich der Sozialwissenschaften begünstigt zu werden, insofern nämlich das Modell des Textes auf das ganze Feld der sozialen Praxis ausgedehnt werden kann. Natürlich stellt sich das Problem, je nachdem, an welchem „Ort" das Rechtsdenken zur Anwendung kommt, in unterschiedlicher Weise. Drei „Orte" sind zu unterscheiden: Die Dogmatik als privilegierter Bereich der professionellen Juristen (die sich zum überwiegenden Teil an der Universität befinden), die das positive Recht erzeugende legislative Tätigkeit und schließlich die gerichtliche Handlung als bevorzugter „Ort" der Anwendung des Rechts innerhalb der Gerichte und Gerichtshöfe, wo es Aufgabe der Richter ist, im kodifizierten Rahmen eines Prozesses Recht zu sprechen. Ich möchte mich am dritten dieser „Orte" aufhalten, denn ich schlage vor, im Prozeß der Anwendung, den eine alte hermeneutische Tradition nach der subtilitas intelligendi und der subtilitas explicandi ansiedelt und indem sich gewissermaßen die Dialektik von Interpretation und Argumentation reflektiert und konzentriert die rechtliche Entsprechung derjenigen Dialektik zu sehen, mit der es die am Begriff des Textes orientierten Disziplinen zu tun haben.
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Bevor wir die miteinander konkurrierenden Theorien betrachten, können wir uns verdeutlichen, welche Rolle die Anwendung auf dem Weg vom geschriebenen Gesetz zur Urteilsverkündung unvermeidlicherweise spielt. Die Anwendung einer Rechtsregel ist tatsächlich ein sehr komplexer Vorgang, bei dem sich die Interpretation der Tatsachen und die Interpretation der Rechtsnorm gegenseitig bedingen. Dieselbe Verknüpf u n g der Tatsachen einer Rechtsangelegenheit kann auf unterschiedliche Weise interpretiert werden. 1 Man entwirrt niemals mit letzter Sicherheit alle Fäden der Geschichte, in die ein Angeklagter verwickelt ist; und diese oder jene Lesart ihrer Verkettung ist schon durch die Vermutung, unter welche Rechtsregel eine solche Verkettung den betrachteten Fall subsumiert, beeinflußt. Die Rechtsregel ihrerseits stellt eine open structure dar, die sie von früheren Interpretationen ähnlicher Fälle abhängig macht. Aber die von der Präzedenzfallregel präsupponierte Idee ähnlicher Fälle resultiert gerade aus der Interpretation des Grades der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit mit früheren Fällen. Damit der Rechtssyllogismus funktioniert, muß also immer zugleich die Rechtsnorm als einen Fall „abdeckende" und der Fall als von der N o r m „abgedeckter" interpretiert werden. Dies bedeutet, daß der Anerkennung des vagen Charakters der Rechtssprache, der Normenkonflikte, des Schweigens des Gesetzes zu noch unbekannten Fällen und der Notwendigkeit, sich für den Buchstaben oder den Geist des Gesetzes zu entscheiden, nichts Skandalöses mehr anhaftet. In ihrer Anwendung erkennen wir die Rechtsnorm nicht nur als zwingend an, sondern stellen auch ihre Veränderlichkeit auf die Probe; hier findet das weiter oben beschriebene Spiel der wechselseitigen Interpretation von Gesetz und Tatsachen statt.
1. Von der Interpretation zur Argumentation Mit Hilfe einer so einfachen Überlegung, wie wir sie gerade angestellt haben, können wir uns die Konkurrenz, ja sogar den Konflikt zwischen dem erfinderischen, innovativen Geist, dem Schöpfer des oben beschriebenen Prozesses, und dem Zwang, der mit dem in der Argumentation erhobenen Anspruch der Richtigkeit verknüpft ist, verdeutlichen. Die beiden Dimensionen der Kreativität und der Normativität werden nämlich nur unabhängig voneinander bewundert, einesteils von einer Theorie wie derjenigen Ronald Dworkins, die den Hauptakzent auf die Freiheit des Interpreten im oben genannten Sinne legt, anderenteils von einer Theorie der Argumentation wie derjenigen Robert Alexys und Manuel Atienzas. 2 Es ist bemerkenswert, daß Dworkin die Interpretationsfrage im Ausgang von der sehr genauen und sogar sehr spitzfindigen Diskussion des Paradoxes formuliert, das die hard cases, die schwierigen Fälle, für die Rechtspraxis darstellen; wir haben es dem-
1
Vgl. Wilhelm Schapp, In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, F r a n k f u r t / M . 1985. 2 Vgl. Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt/M. 1978 ( 2 1991); Manuel Atienza, Theoria de la argumentación juridica, Madrid 1989. 3
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nach mit einer Strategie zu tun, die ihren Ausgang bei einer mit Beginn der richterlichen Tätigkeit auftauchenden Ratlosigkeit nimmt und von da aus zu allgemeinen Betrachtungen über die allgemeine Kohärenz der Rechtspraxis fortschreitet. Auf diesem Wege stößt der Autor von Matter of Principle auf die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Interpretation. Auf den ersten Blick hat das durch die hard cases aufgeworfene Problem nichts mit einer Theorie der Interpretation zu tun. Erst nach einer Widerlegung der rivalisierenden Theorien ist der Weg frei für die Reflexion auf das Kohärenzprinzip der Rechtspraxis. A m Anfang steht die Frage, ob es in den schwierigen Fällen immer eine gerechte Antwort gibt. Die Widerlegung der „no right answer" genannten These bereitet auf eine auf den ersten Blick überraschende Weise den Weg für eine Theorie, die den Begriff der Interpretation für relevant hält. Wann ist nun aber der Richter mit einem als schwierig angesehenen Fall konfrontiert? Dann, wenn keine der den existierenden Gesetzen entnommenen rechtlichen Verfügungen die Norm zu bilden scheint, unter die eine bestimmte Angelegenheit subsumiert werden könnte. Warum dann mit der Verbissenheit und Subtilität, wie Dworkin sie entfaltet, gegen die No-answer-Thtsc kämpfen? U m der positivistischen Rechtstheorie, der permanenten Zielscheibe Dworkins, entgegenzuarbeiten. Gemäß dieser, reduziert man sie auf ihr Skelett, werden die Gesetze von jemandem vorgeschrieben, dem die Rolle eines Gebietenden zukommt, sie werden also durch ihren pedigree identifiziert; wobei die Intention des Gesetzgebers eine logische Folge dieses ersten Axioms darstellt. Außerdem sollen sie nichtäquivoke Verfügungen bestimmen (wir sehen hier die hermeneutische Frage zum Vorschein kommen, insofern diese nämlich mit der irreduziblen Mehrdeutigkeit von Texten verbunden ist). Drittes Axiom: Wenn im geltenden Recht keine Antwort auf die gestellte Frage enthalten zu sein scheint, wird die Beurteilung der Angelegenheit dem freien Ermessen des Richters überlassen. Die Widerlegung dieser drei Hauptthesen wird die Grundlage einer Theorie der Interpretation abgeben. Erstens ergibt sich der Sinn eines Gesetzes nicht aus semem^et/zgree\ in den Worten einer nichtintentionalistischen Theorie des literarischen Textes ausgedrückt: Der Sinn des Gesetzes, wenn es einen gibt, ist im Text und seinen intertextuellen Beziehungen zu suchen und nicht im Gebot eines Gesetzgebers, der juristischen Entsprechung der dem Autor eines literarischen Textes unterstellten Intention. Zweitens haben dem Urteil positivistischer Theoretiker wie Hart zufolge die explizitesten Gesetze eine open structure im Sinne eines Textes, der für unvorhersehbare konstruktive Interpretationen offen ist. Die Widerlegung der dritten These aber, die dem richterlichen Ermessen die Rolle des Lückenbüßers zugesteht, wird den direkten Weg für eine Interpretationstheorie bahnen: Wenn das „Ermessen" des Richters die einzige Antwort auf das Schweigen des Gesetzes ist, dann ist die Alternative für jede rechtliche Charakterisierung der Entscheidung fatal: entweder ist sie willkürlich, d. h. außerhalb des Gesetzes, oder aber sie tritt in den Bereich des Rechts nur kraft ihres gesetzgebenden Anspruchs ein; allein die Fähigkeit, einen Präzedenzfall zu schaffen, bewahrt den Rechtscharakter der dem freien Ermessen entsprungenen Entscheidung. Daher rührt das folgende von Dworkin gesehene Problem: Wie läßt sich die Vorstellung rechtfertigen, daß es immer eine gültige Antwort gibt, ohne entweder der Willkür oder dem Anspruch des Richters, als Gesetzgeber aufzutreten, anheimzufallen?
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In diesem entscheidenden Augenblick stößt die Rechtstheorie auf das M o d e l l des literarischen sowie das Submodell des narrativen Textes, welches unter der Feder D w o r kins zum Paradigma des literarischen Textes wird. Bleiben wir einen A u g e n b l i c k auf der E b e n e einer allgemeinen T h e o r i e des literarischen Textes: D i e in der Literaturkritik getroffene Unterscheidung zwischen textimmanenter Bedeutung und A u t o r i n t e n t i o n hat ihre rechtstheoretische Entsprechung in der Unterscheidung zwischen dem Sinn des Gesetzes und der Entscheidungsinstanz, welche der Rechtspositivismus zur Q u e l l e des Rechts macht. Das literarische U n t e r n e h m e n ist für die Rechtstheorie in kanonischer H i n s i c h t interessant, sobald sich die Interpretation auf das stützt, was der Text, so wie er sich der Kette seiner Leser darbietet, zuläßt. Was man mit Bedauern das Vers c h w o m m e n e oder Vage des literarischen Textes genannt hat, stellt für das, was wir entsprechend das rechtliche U n t e r n e h m e n nennen können, keine Schwäche mehr, sondern eine Stärke dar. Das narrative Modell b e k o m m t nun ein besonderes Relief, sofern sich die Interpretation für die R e k o n s t r u k t i o n des Textsinns sichtlich auf Ü b e r e i n s t i m m u n g s - , R i c h t i g keits- oder Anpassungsverhältnisse zwischen der vorgeschlagenen Interpretation einer schwierigen Passage und der Interpretation des ganzen Werks stützt. W i r erkennen in diesem„/ü'i" das berühmte hermeneutische Prinzip einer wechselseitigen Interpretation von Teil und G a n z e m wieder. D i e Einschätzung eines solchen Übereinstimmungsverhältnisses entgeht der Alternative zwischen Beweisbarkeit und Willkür. G e w i ß sind auf dieser E b e n e Kontroversen möglich, doch kann ein Kritiker behaupten, eine Interpretation sei besser, wahrscheinlicher, plausibler, akzeptabler als eine andere (wobei all diese A u s d r ü c k e präzisiert werden müssen). E s zeigt sich jetzt, daß die No-answer-T\iese, o h n e es zu wissen, mit der Beweisbarkeitsthese solidarisch ist, mit der T h e s e nämlich, daß ein Urteil von Argumenten gestützt wird, deren Wahrheit sich einem jeden aufdrängen würde, der die Sprache versteht, in welcher der Rechtssatz formuliert ist. H i e r ist vielleicht die Stelle, an der D w o r k i n , von der rivalisierenden Beweisbarkeitsthese verblendet, den M o m e n t , w o die Interpretation auf eine Argumentationstheorie z u rückgreifen müßte, verpaßt, eine Argumentationstheorie, die, das werden wir später sehen, ebenfalls der Alternative von Beweisbarkeit und Willkür entgeht. A b e r treiben wir die Ausbeutung des literarischen Modells in seiner spezifisch narrativen F o r m weiter voran. In welchen K o n t e x t müssen die von D w o r k i n erwähnten Tatsachen der „narrativen K o h ä r e n z " eingebettet werden, damit sie die These des interpretativen„/i'f K (der Ü b e r einstimmung und Anpassung der Interpretation) bestätigen? W i r müssen den isolierten und punktuellen Fall eines Urteils verlassen und die Perspektive einer G e s c h i c h t e des rechtlichen U n t e r n e h m e n s einnehmen, also die zeitliche D i m e n s i o n dieses U n t e r n e h mens in R e c h n u n g stellen. In diesem Zusammenhang rekurriert D w o r k i n auf die F a b e l einer Kette von Erzählern, von denen ein jeder der Abfassung einer G e s c h i c h t e sein Kapitel hinzufügt, einer Geschichte, dessen Gesamtsinn keiner ihrer E r z ä h l e r allein bestimmt, den aber jeder voraussetzen muß, wenn er sich die Suche nach maximaler K o h ä r e n z als Regel zu eigen macht. Diese Antizipation der narrativen K o h ä r e n z vermittelt gemeinsam mit dem Verständnis der vorausgehenden Kapitel einer Geschichte, die jeder Erzähler als schon begonnene vorfindet, der Suche nach dem „fit" eine d o p -
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pelte Bürgschaft: einesteils die Präzedenzfälle, anderenteils das vorausgesetzte Ziel des sich entfaltenden Rechts im ganzen. Anders gesagt: einerseits das bereits Geurteilte, andererseits das antizipierte Profil des in seiner Geschichtlichkeit betrachteten rechtlichen Unternehmens. Leider hat Dworkin nicht die Gelegenheit ergriffen, seinen allgemeinen Begriff des „fit" - oder genauer die narrativistische Version dieses „fit" - mit einer Argumentationstheorie zu verbinden, die sehr gut als Kohärenzprinzip übernommen werden könnte, ob dieses nun auf die narrative Kohärenz reduzierbar ist oder nicht. Die vorgeschlagenen Synonyme „Integralität" und „Identität" machen den zu unbestimmten Begriff der Kohärenz in keiner Weise präziser. Es wird höchstens an Begriffe appelliert, die sich schon in Stephen Toulmins Buch The uses of Argument (1958) finden, wie z. B . „ weight", „ importance", „guarantee", „ rebuttal" etc.; lauter Begriffe, die in den Bereich einer noch inchoativen Argumentationstheorie fallen, wie Alexy und Atienza sagen würden. D e r Grund dafür liegt in der Tatsache, daß Dworkin viel stärker am politisch-moralischen H o r i z o n t des rechtlichen Unternehmens interessiert ist. Dafür nimmt er alle Nachteile in Kauf: den unendlichen Charakter der Kontroverse, der nur durch den starken K o n sens einer demokratischen Gesellschaft kompensiert werden kann (wir erkennen hier den neuesten Rawls und seinen „Konsens durch Verdeckung" wieder); die Fragilität von Urteilen, die von der Annahmefähigkeit durch verschiedene betroffene Zuhörerschaften erfordert wird (die in den Prozeß verwickelten Parteien, die dogmatischen Juristen). Das ist der zu zahlende Preis für die Konzeption eines von seinem pedigree, wie D w o r k i n sagt, abgelösten Gesetzes. D e m Modell der Erzählung verdankt Dworkin, trotz einer gewissen Naivität angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der Narrativität, die Berücksichtigung der „Rechtspraxis" in ihrer geschichtlichen Entwicklung, insofern er die „Rechtsgeschichte" zum Interpretationsrahmen macht. D o c h sein Interesse für die politisch-moralische Dimension entfernt ihn am Ende von einer formalen Theorie der rechtlichen Argumentationen. 3
3
Dieses Interesse verstehen wir besser, wenn wir dem Abschnitt „Law as Interpretation" in A Matter of Principle (Cambridge/Mass. u. a. 1985) den Aufsatz „Is L a w a System of Rules?"
nusPhilosophy
of Law ( O x f o r d 1977) gegenüberstellen. Die Rechtsauffassung dieses bemerkenswerten Aufsatzes beruht auf einer Hierarchie zwischen den verschiedenen normativen Bestandteilen des Rechts. Wieder einmal bestimmt der Streit mit dem Positivismus Harts das Spiel. Denunziert wird hier die Komplizenschaft zwischen der starren Rechtsauffassung, die an der Vorstellung einer eindeutigen Regel festhält, und dem Dezisionismus, der darauf hinausläuft, die Ermessensfreiheit des Richters zu vergrößern. Eindeutigkeit, darauf wird beharrt, ist ein Charakteristikum der Regeln. keine Eigenschaft der Prinzipien,
Sie ist
die in letzter Instanz ethisch-rechtlicher N a t u r sind. Das etablier-
te Recht als Regelsystem erschöpft das Recht als politisches Unternehmen nicht. N u n tragen Prinzipien leichter zur Lösung schwieriger Fälle bei als Regeln. Im Unterschied zu den Regeln jedoch sind die Prinzipien nicht durch ihre Herkunft identifizierbar (wer hat sie verordnet? Gewohnheit, Macht, eine unantastbare Legislative, Präzedenzfälle), sondern durch ihre eigene normative Kraft. Ferner schließt, im Unterschied zu Regeln zweiten Grades, ihr moralisch-politischer Status Eindeutigkeit aus. Sie sind jedesmal von neuem zu interpretieren. U n d von jeder Interpretation kann man sagen, daß sie diese oder jene Lösung „begünstigt" („compte en faveur de"), mehr oder weniger „gewichtet/abwägt" („pèse") und ohne Notwendigkeit zu ihr neigt („incline sans nécessité"),
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2. Von der Argumentation zur Interpretation In der vorhergehenden Theorie finden wir bereits einen Ansatzpunkt für die Berücksichtigung der Argumentation, da es hier nicht nur um Interpretation, sondern auch um Kohärenz geht. Das grundlegende Argument einer Theorie rechtlicher Argumentation wie derjenigen Alexys oder Atienzas aber beruht auf dem Anspruch auf Richtigkeit, den das abschließende Urteil und bereits vor ihm der Argumentationsprozeß implizieren. Das Abwägen des Für und Wider im Interpretationsstreit ist schon ein Fall von Argumentation, es müssen Gründe angegeben und ein Diskurs zugelassen werden. Die generelle These der Theoretiker der rechtlichen Argumentation (argumentation juridique) besagt, daß letztere nur ein spezieller Fall des allgemeinen normativ-praktischen Diskurses ist. Der kritische Punkt liegt demnach in der Verbindung der beiden Ebenen, insofern nämlich auch auf der Ebene der Beschränkungen und besonderen Verfahren der rechtlichen Argumentation sich die Gelegenheit bieten könnte, Interpretation und Rechtfertigung ineinanderzuschieben, selbst wenn unsere Autoren dies nur gelegentlich tun. Bleiben wir daher einen Moment lang auf der Ebene des normativpraktischen Diskurses. Diese drei Begriffe sind erklärungsbedürftig: unter Praxis verstehen wir den gesamten Bereich menschlicher Interaktionen; diesen betrachten wir genauer unter dem Gesichtspunkt der Normen, die ihn regeln, und die, als Normen, einen Anspruch auf Richtigkeit erheben (frz.: rectitude, engl.: correctness); und dies mittels eines Austauschs von Argumenten, deren Logik der einfachen formalen Logik nicht genügt, ohne sich jedoch der Willkür des Dezisionismus oder der sogenannten Intuition der intuitionistischen Moraltheorien zu überlassen, was den Begriff der Ermessensfreiheit sogleich einem starken Verdacht aussetzt. Der Begriff des Diskurses schreibt einen bestimmten Formalismus vor, der in einem solchen Grade mit demjenigen der Argumentation übereinstimmt, daß sich die Begriffe „Diskurs" und „Argumentation" tendenziell decken. Von Habermas und der Erlanger Schule übernehmen wir die Analyse des in jedem normativ-praktischen Diskurs erhobenen Anspruchs auf Richtigkeit: „Richtigkeit" ist ein anderer Name für Verständlichkeit, sobald diese das Kriterium der universalisierbaren Kommunizierbarkeit anerkennt. Ein gutes Argument ist dasjenige, welches idealerweise nicht nur verstanden, für plausibel gehalten würde, sondern für alle betroffenen Parteien akzeptabel wäre. Wir erkennen hierin die Habermassche These des potentiellen Einverständnisses auf der Ebene einer Gemeinschaft ohne Grenzen und Zwänge wieder. In diesem Horizont eines universalen Konsenses stehen die formalen Regeln eines jeden Diskurses, der einen Anspruch auf Richtigkeit erhebt. Diese im Grunde wenigen Regeln machen den wesentlichen Kern der universalen Diskurspragmatik aus, deren normativer Akzent gegenüber jeder Reduktion auf um mit Leibniz zu reden (vgl. Discous de métaphysique [EA 1846], §§ 31f.). Vor allem muß der „sense of appropriateness", der sich in der Geschichte des Rechtsberufs und der gebildeten Öffentlichkeit entwickelt hat, einer Prüfung unterzogen wer-den. Daher ist es weder möglich, eine komplette Liste aller Ausnahmen aufzustellen, noch alle gültigen Prinzipien anzugeben. Das Vokabular so mancher Urteile, wie z. B. „unvernünftig", „fahrlässig", „ungerecht" oder „bedeutsam", von denen es im „common law" reichlich gibt, vermerkt die Rolle der Interpretation noch im Wortlaut des Urteils.
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eine strategische Argumentation, die eine Verhandlung beherrscht, welche Zwängen aller A r t unterworfen ist und auf E r f o l g anstelle von Richtigkeit abzielt, stark unterstrichen werden muß. A u f den sich sofort erhebenden Einwand, daß ein solcher Konsens außerhalb des E r w a r t b a r e n liegt, daß er unrealisierbar ist, antworten wir, daß der Begründung (oder Rechtfertigung) gerade aufgrund ihres kontrafaktischen Charakters der transzendentale Status einer unendlichen Aufgabe z u k o m m t . D e m Einwand, diese Begründung allein sei unzureichend, entgegnen wir, daß es gerade die Aufgabe der rechtlichen A r g u m e n tation ist, die allgemeinen Regeln des normativen Diskurses auf einem speziellen Feld, d e m des R e c h t s , zu ergänzen. A u f den Einwand schließlich, die Argumentationstheorie k ö n n e gerade kraft ihres idealen Charakters systematischen Verzerrungen als Alibi dienen, antworten wir, daß das Ideal des potentiellen Einverständnisses in sich selbst die Bedingungen einer regelgeleiteten Kritik empirischer Einverständnisse enthält, die mehr oder weniger erpreßt oder aus Interessenkoalitionen hervorgegangen sind, die, allgemeiner gesagt, ein faktisches Gleichgewicht zwischen konfligierenden Kräften darstellen. W i e wir vorhin festgestellt haben, weist die Universalpragmatik nur eine geringe A n z a h l von Regeln auf. Sie sind jedoch für eine Diskursethik ausreichend. D i e einen regeln den Eintritt in den Diskurs: Alle haben ein gleiches Beitragsrecht, niemandem wird das W o r t verwehrt. Andere Regeln begleiten den Diskurs während seines gesamten Verlaufs: J e d e r m u ß die an ihn gestellte Forderung akzeptieren, G r ü n d e anzugeben, und zwar, wenn möglich, das beste Argument, oder seine Weigerung zu begründen. A n d e r e Regeln regulieren den Ausgang des Diskurses: Jeder muß die K o n s e q u e n z e n einer Entscheidung akzeptieren, wenn die gut begründeten Bedürfnisse eines jeden befriedigt werden. H i e r k o m m t so etwas wie eine Interpretation in den Diskurs hinein, denn Bedürfnisse oder Interessen sind von Verständnis und B e w e r t u n g abhängig und müssen, u m gehört oder zugelassen zu werden, bereits den ersten Test einer geteilten E i n s c h ä t z u n g durch Gemeinschaften variabler G r ö ß e hinter sich haben. Insofern wir uns bereits auf der E b e n e der Kommunizierbarkeit befinden, gelangen Interessen und Bedürfnisse in F o r m eines gemeinsamen Verständnisses in den geregelten Diskurs hinein. D i e formale Normativität k o m m t also nicht ohne eine vorausgesetzte Normativität aus, durch die sich eine besondere Position als diskutabel, d. h. letztlich plausibel, darstellt. Schließlich wird eine innerhalb eines begrenzten diskursiven R a h m e n s gefällte Entscheidung Akzeptabilitätsbedingungen auf der E b e n e dessen, was C h . Perelman eine universale Zuhörerschaft genannt hat, 4 unterworfen. Eigentlich gibt es eine ganze R e i he betroffener Zuhörerschaften; hierbei handelt es sich u m die A u f n a h m e v o n Seiten anderer Diskursinstanzen, die sich ebenfalls und auf konkret verschiedene Weise u m Richtigkeit bemühen. A m E n d e dieser schnellen Erinnerung an die konstitutiven Regeln des allgemeinen vernünftigen praktischen Diskurses können wir sicherlich zugestehen, daß der Begriff der idealen Sprechsituation durch seinen kontrafaktischen Charakter einem jeden D i s kurs, in dem die Partner durch Argumente zu überzeugen suchen, einen H o r i z o n t der
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Vgl. Chaim Perelman, Traité de l'argumentation. La nouvelle rhétorique, Brüssel 1988.
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Richtigkeit vermittelt: Das Ideal wird nicht nur antizipiert, sondern ist schon am Werk. A b e r es muß ebenso unterstrichen werden, daß sich das Formale nur dann in den Gang eines Diskurses einfügen kann, wenn es sich mit bereits öffentlich bekannten Interessenbekundungen verbindet, mit Äußerungen von Bedürfnissen also, die von prävalenten Interpretationen geprägt sind, welche schon einen Anspruch auf Legitimität erheben und sich daher für würdig halten, diskutiert zu werden. Auf diese Weise stoßen wir auf die Frage, was in einer gegebenen geschichtlichen Situation diskursiv möglich ist. Andernfalls könnten wir nicht einmal von einer jedem Protagonisten des Diskurses unterstellten und von ihm erforderten Problematisierungsfähigkeit reden. Es ist jetzt der Moment gekommen, den Rechtsdiskurs als besondere Art der G a t tung des allgemeinen praktischen Diskurses zu bestimmen. Bevor wir über die Zwänge reden, die den Rechtsdiskurs spezifischen Einschränkungen unterwerfen, muß zunächst, wie wir es zu Beginn dieses Aufsatzes bereits getan haben, an die Verschiedenheit der Orte, an denen sich der Rechtsdiskurs abspielt, erinnert werden. Die Gerichtsinstanz mit ihren Gerichtshöfen, Gerichten und Richtern, die wir hier als paradigmatische Instanz behandeln, ist nur einer der Orte, an denen der Rechtsdiskurs stattfindet: Ü b e r ihr befindet sich die legislative Instanz als Gesetze hervorbringende und neben/über ihr die Instanz der Juristen, die sich in F o r m dessen, was die deutschsprachigen T h e o retiker „Rechtsdogmatik" und die französischsprachigen „doctrine" nennen, zum Ausdruck bringt. D e m müßte, mit Perelman, die öffentliche Meinung und letzten Endes die universale Zuhörerschaft hinzugefügt werden, deren Diskurs die Theorie der Juristen, die von den legislativen Körperschaften erlassenen Gesetze und schließlich die durch die Gerichtsinstanzen gefällten Entscheidungen unterworfen werden. Von allen diesen Instanzen ist die Gerichtsinstanz den stärksten Beschränkungen unterworfen, die in der Lage sind, eine Differenz zwischen dem allgemeinen praktischen Diskurs und dem Rechtsdiskurs herzustellen. Erstens spielt sich der Diskurs innerhalb eines eigenen institutionellen Rahmens ab (Gerichte und Gerichtshöfe). Innerhalb dieses Bereichs werden nicht alle Fragen zur Debatte zugelassen, nur diejenigen, die sich in den kodifizierten Prozeßrahmen einfügen. I m Prozeß selbst sind die Rollen ungleich verteilt (der Angeklagte ist nicht freiwillig anwesend; er ist vorgeladen). Darüber hinaus ist die Beratung Verfahrensregeln unterworfen, die selbst kodifiziert sind. Fügen wir noch hinzu, daß die Beratung in einem zeitlich begrenzten Rahmen stattfindet, im Unterschied zur Rechtsdogmatik und bis zu einem gewissen Grad auch zu den Beratungen der legislativen Instanz. Schließlich endet der Diskurs vor der Gerichtsinstanz nicht mit einem Einverständnis und strebt, zumindest auf den ersten Blick, noch nicht einmal ein Einverständnis an, selbst wenn bei einer weitergehenden Überlegung das Rechtsurteil auf die Erhaltung des öffentlichen Friedens abzielt, letzten Endes also auf so etwas wie ein Einverständnis. D o c h im Gerichtssaal heißt zu urteilen zu entscheiden, und somit die Parteien auseinanderzubringen, eine angemessene Distanz zwischen ihnen zu schaffen. Schließlich darf man die auf dem Richter lastende Verpflichtung zu urteilen, nicht aus dem Blick verlieren. Was wird unter diesen einschränkenden Bedingungen aus den Regeln des allgemeinen normativen Diskurses? Die These unserer Autoren ist die, daß sich der Richtigkeitsanspruch eines rechtlichen Arguments in nichts von demjenigen eines jeden ande-
7.u einer Hermeneutik des Rechts
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ren Diskurses unterscheide. Die allgemeine Norm ist implizit. Der Verlierer oder der Verurteilte sind idealerweise in die Anerkennung dieses als von allen anwesenden Parteien akzeptiert unterstellten Anspruchs einbezogen. Diese implizite Voraussetzung drückt sich in bestimmten Rechtssystemen in der Pflicht aus, eine Entscheidung zu begründen. Doch selbst, wenn die Entscheidung nicht öffentlich begründet wird, wird sie zumindest durch die verwendeten Argumente gerechtfertigt. Deshalb kann ein Richter nicht gleichzeitig in einer Angelegenheit entscheiden und sagen, sein Urteil sei ungerecht. Ein solcher performativer Widerspruch wäre genauso eindeutig wie derjenige eines Sprechers, der sagte, die Katze sei auf der Matte und er glaube es nicht. Wenn der auf Richtigkeit abzielende allgemeine normative Diskurs nicht den Horizont für die rechtliche Argumentation abgäbe, könnte der Idee des vernünftigen Argumentierens gar kein Sinn verliehen werden. Wenn sich also die Theorie des normativen Diskurses neuen Einschränkungen zu unterziehen hat, müssen diese sich mit den formalen Regeln verbinden, ohne letztere auch nur in geringster Weise abzuschwächen. Welcher Platz kann nach dem gerade Gesagten der Interpretation eingeräumt werden? Der Rekurs der Argumentation auf die Interpretation scheint mir bereits auf der Ebene dessen, was Alexy der „externen Rechtfertigung" gegenüberstellt, zwingend zu sein. Die „interne Rechtfertigung" betrifft den logischen Zusammenhang zwischen Prämisse und Konklusion; sie bestimmt demnach die Argumentation als logisches Schließen. Nun läßt sich der Rechtssyllogismus aber nicht auf den direkten Weg der Subsumtion eines Falls unter eine Regel reduzieren, sondern muß darüber hinaus dem Anpassungscharakter der Anwendung dieser oder jener Norm auf diesen oder jenen Fall Genüge tun. Wir erkennen hier etwas von der von Dworkin erwähnten Übereinstimmungsregel wieder; die Anwendung einer Regel ist in der Tat, wie wir seit Beginn dieses Abschnitts gezeigt haben, ein sehr komplexer Prozeß, bei dem sich die Interpretation der Tatsachen und die Interpretation der Norm gegenseitig bedingen; die syllogistische Form verdeckt die Arbeit der gemeinsamen Interpretation von N o r m und Tatsachen durch wechselseitige Anpassung. Die Universalisierung taugt daher nur als Kontrollregel des Prozesses der wechselseitigen Anpassung von interpretierter N o r m und interpretierter Tatsache. In diesem Sinne ist die Interpretation der Argumentation nicht äußerlich, sie bildet ihr Organon. Ganz gleich, wie es sich auf der formalsten Ebene des rechtlichen Schließens auch verhalten mag, auf der Ebene dessen, was Alexy „externe Rechtfertigung", d. h. Rechtfertigung der Prämissen nennt, scheint mir die Verflechtung von Argumentation und Interpretation unbestreitbar. Erinnern wir zunächst daran, daß die grundlegendste Beschränkung, welche die rechtliche Argumentation erfährt, von der Tatsache herrührt, daß der Richter nicht der Gesetzgeber ist, daß er das Gesetz anwendet, d. h. seinen Argumenten das geltende Recht einverleibt. Wir begegnen hier dem vagen Charakter der Rechtssprache wieder, den möglichen Normenkonflikten, dem Schweigen des Gesetzes zu neuen Fällen sowie der Gelegenheit, und oft der Notwendigkeit, sich zwischem dem Buchstaben und dem Geist des Gesetzes zu entscheiden. An zweiter Stelle kommen die Zufälle und tastenden Versuche der eigentlichen empirischen Untersuchung. Die „Tatsachen" dieser oder jener Angelegenheit, nicht nur
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ihre Bewertung, sondern schon ihre schlichte Feststellung, sind Gegenstand gerichtlicher Auseinandersetzungen, wo, einmal mehr, die Interpretation der Norm und die Interpretation der Tatsachen ineinandergreifen. Hier ist es wieder legitim, an Dworkin zu erinnern, insofern er nämlich beharrlich wiederholt, daß die „Tatsachen" einer Rechtsangelegenheit keine bloßen Fakten, sondern sinnbeladen, also interpretiert sind. An die dritte Stelle können wir, immer noch auf der Ebene der Prämissenrechtfertigung, den Rekurs auf und die Anleihen bei der Rechtstheorie, bei dem, was Alexy Rechtsdogmatik nennt, stellen. Hier drängt sich ein Vergleich mit der von Dworkin eingeführten Unterscheidung zwischen „Regel" und „Prinzip" auf. Doch wir haben mit letzterem feststellen können, wie sehr sich der Rekurs auf Prinzipien vom Rekurs auf Regeln unterscheidet. Die Regel zwingt, die Prinzipien „neigen zu" (inclinent), gewichten diese oder jene Behauptung mehr oder weniger stark etc. Selbst die Absicht des Gesetzgebers kann, wenn sie geltend gemacht wird, Anlaß zur Kontroverse geben: Wollte der Gesetzgeber, daß wir M als W interpretieren? Zielte er auf einen letzten Zweck jenseits der Norm N ab? So wird unter anderen aus diesem Grund ein Argument, das sich auf die Absicht des Gesetzgebers beruft, einer „Abwägung" unterzogen. Jedenfalls ist die Absicht, selbst wenn sie bekannt wäre, nicht eindeutig. Eine besondere Behandlung muß hier dem Argument des Präzedenzfalls zuteil werden. Die Anerkennung der Ähnlichkeit wirft ein Problem auf: Wenn man sagt, diese oder jene Lösung schaffe einen Präzedenzfall, dann trifft man bereits eine Auswahl im Thesaurus der Rechtsurteile. Und unter welchem Aspekt sind sich zwei Fälle ähnlich? Wir stoßen hier wieder auf das jeweilige Abwägen der Ähnlichkeiten und der Unterschiede. Wären wir uns diesbezüglich einig, bliebe noch die Frage, welche Ähnlichkeiten und welche Unterschiede für die betrachtete Angelegenheit relevant sind. Der Präzedenzfall verweist auf eine Ähnlichkeit, die weder gegeben noch erfunden ist, sondern hergestellt wird. Dworkin nennt das eine konstruktive Interpretation. Vielleicht müßte man in letzter Instanz den bei gegenwärtiger Rechtslage unlösbaren Fällen einen Platz einräumen; Dworkin ist mit der Behauptung, es gäbe auf die durch die hard cases aufgeworfene Frage immer eine gerechte Antwort, zweifellos zu weit gegangen; er tat dies, um dem alles überwuchernden Rekurs einer positivistischen Konzeption des Rechts auf die Ermessensfreiheit zu konterkarieren. Die tragischen Fälle, von denen Atienza häufig spricht, appellieren nämlich an einen schwer formalisierbaren Sinn für Angemessenheit (équité, fairness) oder wie man auch sagen könnte, für Richtigkeit (justesse), eher als für Gerechtigkeit (justice). Am Ende dieser Erörterung wird mir der Leser vielleicht darin zustimmen, daß die Verflechtung von Argumentation und Interpretation auf der Gerichtsebene die genaue Entsprechung der Verflechtung von Erklären und Verstehen im Bereich der Diskursund Textwissenschaften darstellt. Aus dem Französischen
von Beate Döring
(Berlin/Paris).
David M. Rasmussen
Die Rechtswissenschaft und das Problem der Geltung Kritische Bemerkungen zu Jürgen Habermas
1. Hobbes, Hegel und die Vorgeschichte des Verhältnisses von Faktizität und Geltung Man könnte mit der Beobachtung beginnen, daß die Beziehung zwischen den Diskursen des Rechts als Disziplin und der Philosophie niemals harmonisch gewesen ist. Das Verhältnis zwischen den beiden war nicht immer auf eine platonische Weise leidenschaftlich, obwohl doch Piaton die Dichter aus seiner Republik hinauswerfen wollte, weil sie zu Korruption und Rechtsbruch neigten. Denken wir an Hobbes, der für die Tugenden der Souveränität wider die Vorstellungen von einer sich selbst regulierenden Rechtsdisziplin argumentierte, welche durch Lord Coke und sein Vertrauen in die praktische Orientierung der Jurisprudentia repräsentiert wurden; oder an Blackstone, der versuchte, die Rechtsdisziplin vor den Gerichtshöfen zu bewahren, oder auch an Hegel, der Hugo über die Unterschiede zwischen dem historischen und philosophischen Zugang zum Studium des Rechts belehrte. Die Differenzen zwischen der rechtlichen Verfahrensweise und der philosophisch-politischen Reflexion waren nicht leicht zu überwinden. Hobbes war durch seine Schilderung der zentralen Stellung des Souveräns und der Souveränität im politischen Diskurs sicher der Rücksichtsloseste der drei genannten Autoren, die glaubten, die bloße Berufung auf die Autorität des Rechts und dessen Prinzipien der Selbstregulation mit argumentativen Mitteln ablösen zu können. Wäre Hobbes' Darstellung von der zentralen Rolle des Souveräns schlüssig, müßte das Recht zusammen mit den anderen Organen des Staates dessen wachsamem Auge unterstellt werden. Man kann mutmaßen, daß die Statthalter des Rechts sich von diesem Argument nicht sehr beeindruckt zeigten. Dies verhielt sich in der Tat so, da das Souveränitätsargument keine bindende Autorität besaß. Andererseits sprach etwas für Hobbes: das Recht nahm in der von ihm entwickelten Theorie des modernen Staates einen nachvollziehbaren Platz ein. Vom erklärenden Standpunkt aus mußte es eigentümlich wirken, das Recht als eine separate Entität mit selbsterzeugender Kraft zu verstehen. Also mußte Hobbes die Autorität, welche den Richtern und Gerichten in bezug auf die Rechtsinterpretation zugebilligt wurde, durch die Autorität eines Souveräns ersetzen, dem durch die politischen Subjekte nach vorheriger Vereinbarung Treue gelobt worden war.
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David, M. Rasmussen
Anwälte, Richter und Angehörige der Gerichte sind selbstverständlich auch politische Subjekte, weshalb für sie die gleichen Bedingungen gelten wie für alle anderen. Für ihre Sache konnten sich Anwälte und Richter nicht auf den modernen Staat per se, sondern auf die „Tradition" als Autorität berufen. Zweifellos gab es die Rechtstradition vor dem modernen Staat, um den Hobbes so bemüht war. Anwälte und Richter konnten die der Vergangenheit innewohnende Weisheit, die Weisheit der früheren Entscheidungen und das selektive Verdienst des Wissens um die Gesamtheit des Rechts für sich in Anspruch nehmen. Tatsächlich konnten sie nicht nur zur Weisheit der Vergangenheit Zuflucht nehmen, sondern auch zu ihrer von Berufs wegen trainierten Fähigkeit, das Recht zu reinterpretieren. Mit welchem Recht zwang Hobbes ihrer professionellen Identität eine politische Beurteilung auf? Sicher, Hobbes hatte keine Tradition, auf die er bauen konnte, keine Autorität jenseits der Autorität der Vernunft. Seine Art Vernunft hatte ihren Ursprung in der These, daß der moderne Staat in bezug auf die Notwendigkeit der Souveränität mit einem bestimmten Konsens begann. 1 Im Verhältnis zu den Ansprüchen, welche die Rechtsgemeinschaft auf die organische Gesamtheit der Rechtstradition bezogen artikulierte, schien der Anspruch von Hobbes schwach zu sein. Sollte das Recht vom Standpunkt der Tradition aus betrachtet werden, so würde seine Geltung einen nahezu überhistorischen Status beanspruchen können. Sollte dagegen Hobbes recht haben, dann würde das Recht seinen inhärenten Anspruch auf Autorität, seine Autorenschaft einzig in den Händen von Menschen finden, d. h. in den Händen jener souveränen Subjekte, die Schöpfer des modernen Leviatban waren. Vom Standpunkt seiner Gegner auf dem Gebiet des Rechts aus, scheint Hobbes' Argument auf einem sehr begrenzten Beweis zu beruhen, auf einer Fiktion, die die Ursprünge (negativer) Rechte und deren potentielle Destruktivität betrachtet und auf die Notwendigkeit aufmerksam macht, in eine konsensuelle Übereinstimmung einzutreten, um ein totales Desaster zu vermeiden und zumindest die Vorzüge des Überlebens zu sichern. Bei dieser Debatte zwischen Recht und Philosophie ging es nicht einfach um Vernunft. Das Recht konnte sich wie die Philosophie auf die Vernunft berufen. Hobbes' Gegner, Sir Edward Coke, stützte sich tatsächlich auf „eine ausgebildete Vollkommenheit der Vernunft, erlangt durch lange Studien, Beobachtungen und Erfahrungen". 2 In Hobbes' Sicht bestand das grundlegendere Problem jedoch in der Frage, ob es sich um die Vernunft der Richter oder des Gemeinwesens handelte: „Whose reason it is?" U m für die Vernunft des Gemeinwesens zu argumentieren, hätte eigentlich über die „Juris prudentia" (die praktische Weisheit der Richter) hinausgegangen werden müssen. Statt dessen betonte Hobbes, daß die Vernunft in einem Gemeinwesen einem höheren Be-
1
Die politische Theorie, die sich auf den Konsensbegriff gründet, beginnt mit Hobbes. Indem er den Ursprung der Gesellschaft aus einem „Naturzustand" betont, macht er darauf aufmerksam, daß auf der Grundlage bestimmter Annahmen über das rationale Eigeninteresse v o n Menschen, eine gewisse Ubereinkunft zwischen verantwortlich Handelnden erreicht werden muß, w e n n deren gemeinsames Interesse darin besteht, vom Naturzustand in einen gesellschaftlichen Zustand überzugehen.
2
Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651), hrsg. v o n Iring Fetscher, aus dem Englischen v o n Walter Euchner, Frankfurt/M. 1 9 8 4 , 2 0 7 .
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und das Problem der Geltung
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fehl untergeordnet werden muß. Er berief sich zu diesem Zweck auf das Prinzip der Widerspruchsfreiheit: „... da der Staat in seiner Vertretung nur eine Person ist, kann nicht leicht eine Widersprüchlichkeit der Gesetze entstehen. Und wenn sie entsteht, so ist dieselbe Vernunft in der Lage, sie durch Auslegung oder Änderung zu beseitigen." 3 In diesem Sinn kann die politische Philosophie der Legalität eine Art von Folgerichtigkeit verleihen, die sie in Anbetracht ihrer eigenen Praxis des „long study" nicht liefern kann. Da die praktische Rechtsprechung Folgerichtigkeit nicht garantieren konnte, betrachtete Hobbes ihre Leistungen eher zynisch. „Denn es ist möglich, daß ein langes Studium irrtümliche Urteile vermehrt und befestigt, und wo die Menschen auf einem schlechten Grund bauen, da wird die Ruine um so größer, je mehr sie bauen, und die Gründe und Ergebnisse derer, die in gleicher Zeit und mit gleichem Fleiß studieren und beobachten, sind widersprüchlich und müssen es bleiben." 4 Hobbes' Argument hat gewisse Grenzen. Obwohl er glaubte, er könne kluge (prudentielle) Formen der Argumentation mit mehr kalkulativen Arten der Rationalität beschneiden, begriff er nicht, daß das eigentliche, von ihm vorgebrachte Argument seine Rechtfertigung in der fiktiven Darstellung einer ursprünglichen Zeit fand, die jeder kalkulativen Form der Rationalität widerstand. Es ist im Gegenteil jetzt klar, daß die Uneinigkeit der praktischen Vernunft der Richter nur hätte überwunden werden können, wenn man bereit gewesen wäre, sich mit Hobbes' Darstellung von den Ursprüngen der politischen Gesellschaft auf dem Hintergrund des Naturzustandes einverstanden zu erklären. Das einzige Argument, auf das sich Hobbes berufen konnte, war der negative Hinweis auf eine Gesellschaft ohne den Vorteil des Vertrages. Mit dem Fehlen jedes anderen Beweises haben die Richter - selbst aus der Sicht der Vernunft - den Sieg davongetragen. Im Gegensatz zur Vernunft des Souveräns konnte sich die Vernunft der Richter auf bestimmte Literatur berufen, die sowohl durch Sitte und Tradition als auch durch Erfahrung und professionelle Praxis unterstützt wurde. Hegel hat die Grenzen des Hobbesschen Ansatzes offensichtlich begriffen. Er versuchte, sich dem Problem des Verhältnisses von Recht und Philosophie von „innen" - aus der Perspektive der Rechtsentwicklung - zu nähern, statt es von außen zu attackieren. Indem er dem historischen Zugang zum Recht zustimmte, konnte er argumentieren, daß die Philosophie nicht nur einen wahrhaft historischen Standpunkt einnehmen, sondern ihn auch einen Schritt weiterführen könne. Zur Unterstützung verwies er auf Montesquieu: „In Ansehung des im Paragraphen zuerst genannten geschichtlichen Elements im positiven Rechte hat Montesquieu die wahrhafte historische Ansicht, den echt philosophischen Standpunkt, angegeben, die Gesetzgebung überhaupt und ihre besondern Bestimmungen nicht isoliert und abstrakt zu betrachten, sondern vielmehr als abhängiges Moment einer Totalität, im Zusammenhange mit allen übrigen Bestimmungen, welche den Charakter einer Nation und einer Zeit ausmachen; in diesem Zusammenhange erhalten sie ihre wahrhafte Bedeutung, sowie damit ihre Rechtfertigung." 5 3 Ebd. 4 Ebd. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: ders., Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt/M. 1970, Bd. 7, 35 (§ 3).
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Die Strategie Hegels unterscheidet sich deutlich von der Hobbesschen. Hegels Unterscheidung zwischen historischen und philosophischen Aspekten führte zu dem Rekurs auf eine Vernunft innerhalb der Rechtstradition. Die Gesetzgebung ist nicht „isoliert" anzuwenden, sondern in bezug auf eine bestimmte Zeit und als etwas, das zum geistigen Gepräge einer Nation gehört. Dieser Auffassung zufolge kann das Recht nicht als eine separate Ganzheit verstanden werden. Obwohl das Recht unter diesem Gesichtspunkt in historischer Perspektive zu behandeln ist, trifft Hegel eine strenge Unterscheidung zwischen dem Historischen und Philosophischen. Er bemüht sich, diese Unterscheidung zu erklären. Es ist eine „rein historische Aufgabe", die Gesetze so zu betrachten, wie sie erscheinen. Es ist jedoch auch zu erwägen, daß einzelne Gesetze „rechtlich und vernünftig" sein können. Deshalb kann sich die Philosophie über das Historische hinaus auf eine höhere Stufe der Rechtfertigung begeben. Wie Hegels Polemik gegen Hugo veranschaulicht, ist es tatsächlich dieser Unterschied zwischen dem Historischen und Philosophischen, den Hegel hinsichtlich des Prinzips der Interpretation beibehalten will. Er warnte davor, den Unterschied zwischen dem Philosophischen und dem Historischen zu verdunkeln, was dazu führen würde, „den Standpunkt zu verrücken und die Frage nach der wahrhaften Rechtfertigung in eine Rechtfertigung aus Umständen, Konsequenz aus Voraussetzungen, die für sich etwa ebensowenig taugen usf., hinüberzuspielen ..." 6 Hegel warnt zudem davor, daß bei solcher Vorgehensweise das „Relative" an die Stelle des „Absoluten" und die „äußerliche Erscheinung" an die Stelle der „Natur der Sache" gesetzt würde. Das Resultat ist, daß „die geschichtliche Rechtfertigung ... dann bewußtlos das Gegenteil dessen tut, was sie beabsichtigt". 7 Sein Beispiel bezieht sich auf die Umstände der historischen Rechtfertigung eines Phänomens, wobei die Bedingungen für die historische Rechtfertigung nicht länger existieren. „So, wenn z. B. für Aufrechterhaltung der Klöster ihr Verdienst um Urbarmachung und Bevölkerung von Wüsteneien, um Erhaltung der Gelehrsamkeit durch Unterricht und Abschreiben usf. geltend gemacht und dies Verdienst als Grund und Bestimmung für ihr Fortbestehen angesehen worden ist, so folgt aus demselben vielmehr, daß sie unter den ganz veränderten Umständen, insoweit wenigstens, überflüssig und unzweckmäßig geworden sind." 8 Der Standpunkt, den Hegel gegen Hugo vertritt, ist gut gewählt. Wenn es die Rolle der Philosophie ist, das Recht zu interpretieren, dann werden ihre Ergebnisse von denen der historischen Interpretation verschieden sein. Von Hobbes' Standpunkt aus gesehen, scheint Hegel die tobende Schlacht zwischen Recht und Philosophie überwunden zu haben. Statt seine Auffassung der der Richter und Anwälte entgegenzusetzen, macht Hegel die Rechtstradition unter dem Begriff der Interpretation zu einem für die philosophische Reflexion geeigneten Gegenstand. Wenn Philosophie und Recht dem gleichen Prinzip der Interpretation unterliegen, und wenn
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Ebd., 36. Ebd., 37. Ebd.
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das Recht Ausdruck einer bestimmten F o r m der Rationalität ist, ist es nicht schwer, für die Unterordnung des Rechts unter die Prinzipien der Rationalität zu plädieren. 9 In diesem Sinne war Hegel an der Geltung des Rechts interessiert. I m Gegensatz zu Hobbes erhebt Hegel aber den Anspruch, mittels des Rechts und nicht außerhalb des Rechts zu argumentieren. Indem Hegel eine Methodik einführte, die aus dem Inneren des faktischen Rechts wirken wollte, fand er einen Weg, dem Recht einen sicheren Status zu verleihen. Soweit wie Hegel an der zeitgenössischen Entwicklung des deutschen Rechts interessiert war, bildete die Faktizität des Rechts Grundlage jeder nachfolgenden Interpretation. Das Recht war jedoch in dem Maße, wie es aus der Perspektive seines impliziten Anspuchs auf Rationalität zu interpretieren war, durch die Anerkennung eines gewissen Begriffs der rationalen Geltung gerechtfertigt. I m Ergebnis wird - selbst bei Hegel - der Begriff „Rationalität", der hinter dem der „Interpretation" versteckt ist, fundamental. Man erinnert sich des an Lord C o k e gerichteten Hobbesschen Nachtrages „wessen Vernunft ist es". Jenseits von Hobbes scheint Hegel eine Art Arbeitsteilung zwischen dem Historischen und dem Philosophischen vorauszusetzen. Dies wiederum führt zu der Annahme, daß das Problem der Rationalität als der exklusive Besitz des professionellen Philosophen beansprucht werden kann, und daß gleichzeitig der Historiker oder der Richter keine entsprechende Fragen nach Wahrheit und Geltung braucht. Wenn Richter, Anwälte und Historiker so geneigt wären, würde es Hegel, als dem Hüter der Vernunft erlaubt sein, sich diesem Moment der rationalen Reflexion hinzugeben. Es würde ihm gestatten, die Geschichte des Rechts innerhalb seiner breiteren narrativen Rekonstruktion des modernen politischen Lebens, einschließlich der Moral, des ethischen Lebens und der demokratischen Willensbildung, zu plazieren. D a ß die Rechtsgemeinschaft dazu geneigt war, möchte ich bezweifeln.
2. Die Rechtsphilosophie von Jürgen Habermas Die rechtswissenschaftliche These, von der sich Habermas leiten läßt, ist einfach. 1 0 D e r beste Teil der Rechtswissenschaft - so der Grundtenor der Argumentation - den R o nald Dworkins kritisches hermeneutisches Prinzip verkörpert, reicht zwar weit, aber nicht weit genug. Dworkins Prinzip ist nicht in der Lage, sich selbst in einem intersub-
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Der Ausdruck „nicht schwer" mag in diesem Zusammenhang der Erläuterung bedürfen. Hegels klassische Formulierung, daß dasjenige, „was wirklich ist, auch vernünftig ist", führt angewandt auf das Recht zu dem Versuch, dessen implizite Rationalitätsansprüche zu explizieren. Das Recht kann dann als eine Art Chiffre gelesen werden, welche eine Rationalitätsform erschließt, die auf einer höheren Ebene zu rechtfertigen ist.
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Ich beziehe mich im folgenden auf: Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt/M. 1992 (im Text als F G zitiert). Ich werde mich auf das rechtswissenschaftliche Argument im fünften Kapitel konzentrieren. Dieses Kapitel ist eine Art Prisma, in dem sich zentrale Argumente des Buches bündeln. So können das sprachphilosophische Argument (Kap. I), das Argument für die Gleichursprünglichkeit der privaten und öffentlichen Autonomie (Kap. III), das Argument für die Rekonstruktion der
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jektiven Sinn z u verstehen. 1 1 D a s ist eine hartnäckige T h e s e , da sie das P r o b l e m d e r I n t e r p r e t a t i o n mit demjenigen der D e m o k r a t i s i e r u n g v e r b i n d e t . H a b e r m a s m u ß s o w o h l unterstellen, daß I n t e r p r e t a t i o n eine Idealisierung radikaler A r t e r f o r d e r t , als auch, daß d u r c h eine s o l c h e Idealisierung eine F o r m v o n Intersubjektivität k o n s t i t u i e r t w i r d . I m K o n t e x t seiner Kritik behauptet H a b e r m a s , D w o r k i n sei d u r c h die E i n f ü h r u n g eines kritischen M o m e n t s in die I n t e r p r e t a t i o n z w a r auf d e m richtigen W e g e , s c h e i t e r e aber, da er nicht in d e r L a g e sei, die Idealisierung auf eine intersubjektive E b e n e zu bringen. M e i n e V e r m u t u n g ist, daß die A n s p r ü c h e an die Idealisierung u n d an die Intersubjektivität nicht stark genug sind, u m die beabsichtigte Kritik der R e c h t s w i s s e n s c h a f t zu b e g r ü n d e n . D i e S c h w ä c h e in d e r A r g u m e n t a t i o n ergibt sich genau an d e m P u n k t , an d e m H a b e r m a s f ü r die Auffassung votiert, das I n t e r s u b j e k t i v i t ä t s p r o b l e m k ö n n e auf der E b e n e der Idealisierung o d e r - u m den klassischen p h i l o s o p h i s c h e n B e g r i f f z u b e n u t z e n - auf d e r transzendentalen E b e n e gelöst w e r d e n . H a b e r m a s ' g e s a m t e A r g u m e n t a t i o n für das d e l i b e r a t i v - d e m o k r a t i s c h e P a r a d i g m a b a u t d a r a u f auf. O b w o h l ich die A u f f a s s u n g v o n H a b e r m a s teile, daß das d e l i b e r a t i v - d e m o k r a t i s c h e P a r a d i g m a in den M i t t e l p u n k t der rechtswissenschaftlichen I n t e r p r e t a t i o n gestellt w e r d e n sollte (das ist d e r einzigartige B e i t r a g des B u c h e s ) , bleibe ich skeptisch g e g e n ü b e r d e m t h e o r e t i s c h e n F u n d a m e n t , das H a b e r m a s errichtet, u m seinen A n s p r u c h a u f r e c h t z u e r h a l t e n .
Rolle der Verfassungsrechtsprechung (Kap. VI) und das Argument für das deliberative Paradigma (Kap. I X ) als Argumente betrachtet werden, welche ihre Legitimität im Kontext der Rechtswissenschaft erlangen. Habermas' eigene Kritik der Rechtswissenschaft wird nur in dem Maß gelten können, in dem sich die Hauptthesen des Buches auf der Ebene der Rechtswissenschaft anerkennen lassen. 11 Der Terminus „intersubjektiv" bedarf der Erläuterung. Im Kontext der klassischen deutschen Philosophie wird er gewöhnlich auf Hegels Versuch bezogen, den cartesianischen Dualismus und Kants subjektzentrierten Begriff der Autonomie zu überwinden. Der gegenwärtige Gebrauch freilich geht auf Husserls Bemühung zurück, das Problem des Solipsismus in den Griff zu bekommen. Hegels Konstruktion der Philosophie auf der Grundlage wechselseitiger Anerkennung sollte Kants auf der Idee autonomer Subjekte fußende Konstruktion überwinden. Hegel versuchte zu zeigen, daß das Selbstbewußtsein nur existieren kann, wenn es durch ein anderes Selbstbewußtsein erkannt und anerkannt wird. Diese These wurde für seine Kritik der modernen politischen Philosophie bestimmend. Marx integrierte sie in seine Kritik der politischen Philosophie und der politischen Ökonomie. In der neueren deutschen Philosophie hatte jedoch allein Husserl versucht, zu einer transzendentalen Theorie der Intersubjektivität zu gelangen. Habermas bringt seine Terminologie an zentralen Stellen in Ubereinstimmung mit der Transzendentalphilosophie. Die grundlegenden Begriffe der Geltung und der Verständigung lassen sich bis zu Husserls Projekt zurückverfolgen, Gewißheit auf einer transzendentalen Ebene zu erreichen. Natürlich folgt Habermas Husserl nicht bei der Formulierung einer Theorie der Intersubjektivität innerhalb der Grenzen der Subjektphilosophie. Er unternimmt diesen Versuch vielmehr im Rahmen des sprachphilosophischen Paradigmas. Beide jedoch wollen das Problem intersubjektiver Geltung auf transzendentaler Ebene lösen. Ich betrachte Habermas' „kommunikative Hypothese" als eine andere Form eines Arguments für Intersubjektivität. Zur weiteren Erläuterung vgl. David M. Rasmussen, Reading Habermas, Oxford 1990.
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Der theoretische Anspruch von Habermas U m mein Argument zu entwickeln, möchte ich mich den fundamentalen Thesen von Faktizität und Geltung zuwenden. Habermas behauptet zu Beginn seiner Arbeit, die Wendung hin zur Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts mache deutlich, daß die A n sprüche der Rationalität als Telos der sprachlichen Verständigung eingeschrieben seien. Wie jenen gut bekannt ist, die mit dem früheren Werk von Habermas vertraut sind, soll die sprachphilosophische Analyse des Verständigungsprozesses die Philosophie vor Zugeständnissen an die Subjektphilosophie bewahren. Sie versetzt die Philosophen in die Lage, eine intersubjektive Theorie des rationalen Handelns zu formulieren, ohne in den Aporien der Subjektivitätstheorien des 19. Jahrhunderts steckenzubleiben. Habermas nimmt an, daß die Bedingungen von Verständigungsprozessen eine performative Haltung erfordern, die eine Verpflichtung zu bestimmten Präsuppositionen einschließt. Das heißt, daß die Teilnehmer, die in den Verständigungsprozeß einbezogen sind, Ziele verfolgen „müssen", die ohne Vorbehalt als „illokutionär" definiert werden können. Vereinfacht und idealisiert ausgedrückt: Die Teilnehmer sind in einem Verständigungsprozeß verpflichtet, nach jenen Vereinbarungen zu handeln, die als ein Ergebnis dieses Prozesses erreicht wurden. Dies ist aber nur wahr, wenn und nur wenn die Ansprüche, die in den Vereinbarungen inbegriffen sind, gelten. Folglich kann man wie Habermas argumentieren, daß Geltung den Kern des Verständigungsprozesses ausmacht. Auf der Basis seiner grundlegenden Sicht des Verständigungsprozesses nimmt H a bermas an, Geltung sei nur durch Idealisierungsprozesse erreichbar; durch eine Idealisierung, die dem gewöhnlichen Verlauf empirischer Verständigung gegenübergestellt wird. Mit anderen Worten, um eine Übereinstimmung über die Geltung eines gewissen
Anspruches zu erzielen, der im Verständigungsprozeß
vorgebracht
wurde, ist es erfor-
derlich, Faktizität und Geltung einander gegenüberzustellen. Aus dieser Sicht müssen Individuen, die kommunikativ handeln, gewisse „Idealisierungen" vornehmen, die die Verpflichtung zu „pragmatischen Voraussetzungen kontrafaktischer A r t " betreffen. Auf der Grundlage solcher Annahmen, die sich auf die dem Verständigungsprozeß implizite Rationalität beziehen, entwickelt Habermas folgende These: „Ein Kranz unvermeidlicher Idealisierungen bildet die kontrafaktische Grundlage einer faktischen Verständigungspraxis, die sich kritisch gegen ihre eigenen R e s u l t a t e richten, sich selbst transzendieren kann" ( F G , 18). Habermas glaubt weiter, aus dieser These folge, daß die „Spannung zwischen Idee und Wirklichkeit in die Faktizität sprachlich strukturierter Lebensformen selber" einbricht ( F G , 19). Habermas geht davon aus, daß die Spannung zwischen Faktizität und Geltung, die als eigentlicher Kern der Sprache innewohnt, ebenfalls die soziale Ordnung beeinflußt. Diese Annahme fußt auf der Uberzeugung, daß die Einsichten, die aus der Sprechakttheorie abgeleitet wurden, in die Präsuppositionen der alltäglichen Kommunikationspraxis eingebettet sind. Ist dies richtig, dann sind die Idealisierungen, die der Sprache implizit sind, die illokutionären Bindungskräfte der Sprechakte, die „für die Koordinierung der Handlungspläne verschiedener A k t o r e n " ( F G , 33) in Anspruch genommen werden. In gewissem Sinne entwickelt Habermas an dieser Stelle eine These, die für die argumentative Struktur seines Buches wesentlich ist. E r behauptet, daß das, was
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dieser Interpretation zufolge für die Sprache gilt, auch für die Gesellschaft gilt. Ist dies richtig, dann läßt sich eine weitere Frage stellen: Was stabilisiert vom gesellschaftlichen Standpunkt aus das Verhältnis von Faktizität und Geltung? Die Prämisse der These wird folgendermaßen formuliert: „Mit dem Begriff des kommunikativen Handelns, der sprachliche Verständigung als Mechanismus der Handlungsorientierung in Anschlag bringt, erhalten auch die kontrafaktischen Unterstellungen der Aktoren, die ihr Handeln an Geltungsansprüchen orientieren, unmittelbare Relevanz für den Aufbau und die Erhaltung sozialer Ordnungen; denn diese bestehen im Modus der Anerkennung von normativen Geltungsansprüchen" (FG, 33). Das würde bedeuten, die fundamentalen Rationalitätsansprüche, deren Fokus der Verständigungsprozeß bildet, könnten nicht nur Annahmen über die Natur der Sprache, sondern auch über die Gesellschaft enthalten. Habermas sagt: „Das bedeutet, daß die in Sprache und Sprachverwendung eingebaute Spannung von Faktizität und Geltung in der Art und Weise der Integration vergesellschafteter, jedenfalls kommunikativ vergesellschafteter Individuen wiederkehrt und von den Beteiligten abgearbeitet werden muß" (FG, 33).
Die Gleichursprünglichkeit von privater und öffentlicher Autonomie Parallel zu den theoretischen Überlegungen, welche die Gegenüberstellung und das Verhältnis von Faktizität und Geltung betreffen, beschäftigt sich Habermas mit der Rolle des Rechts im Verhältnis zur Geschichte der politischen Philosophie. In den klassischen Diskussionen wurde die Frage nach der Geltung des Rechts auf indirekte Weise mitgeführt. Etwa als z. B. Hobbes versuchte, seine Leser dazu zu bringen, der Behauptung zuzustimmen, daß der einzige Ausweg aus dem Krieg aller gegen alle in einer expliziten Einwilligung in die Herrschaft eines Souveräns und einer impliziten Einwilligung in die Begriffe eines von verschiedenen politischen Parteien geschlossenen Vertrags bestünde. Bei Kant und Rousseau wird die Frage noch radikaler gestellt, weil sie die Notwendigkeit eines Einverständnisses mit dem Recht und seinen Legitimitätsansprüchen ernst nehmen. In diskurstheoretischen Begriffen manifestiert sich die Spannung zwischen Faktizität und Geltung, weil das „gesatzte R e c h t . . . sich der Grundlagen seiner Legitimität nicht allein durch eine Legalität versichern (kann), die den Adressaten Einstellungen und Motive freistellt" (FG, 51). Oder mit den Begriffen, in denen Kant und Rousseau das Problem formulierten: Der Anspruch auf Legitimität seitens einer auf Rechten aufgebauten Rechtsordnung kann nur durch die sozial integrative Kraft des „konkurrierenden und vereinigten Willens aller freien und gleichen Bürger" bewahrt werden. An dieser Stelle rekonstruiert Habermas die klassische politische Tradition, um für die Gleichursprünglichkeit der privaten und der öffentlichen Autonomie zu argumentieren. Bis hierher haben seine Überlegungen deutlich gemacht, daß das Recht folgende Bedingungen erfüllen muß: Es muß nicht nur die Grundlage für die „soziale Integration von Wirtschaftsgesellschaften" liefern, sondern auch „den prekären Bedingungen einer Sozialintegration genügen, die sich letztlich über die Verständigungsleistungen kommunikativ handelnder Subjekte, d. h. über die Akzeptabilität von Geltungsansprüchen vollzieht" (FG, 110). Einfach gesagt: Das Recht hält die Gesellschaft auf der Grund-
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läge seiner Kraft, sich durchsetzen zu können, zusammen. Das Recht ist ein Z w a n g s mittel. A b e r die Bedingung für die Möglichkeit seiner Z w a n g s d u r c h f ü h r u n g ist, daß es gilt. Damit das Recht gilt, m u ß es Legitimität für diejenigen besitzen, auf die es angew a n d t w i r d . Wenn man mit den Rechten anfängt, w i e es die moderne politisch-philosophische Tradition tat, dann w i r d es ein Problem, die Rechte, „die Bürger einander zuerkennen müssen, w e n n sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven Rechts legitim regeln w o l l e n " , zu bestimmen (FG, 109). Der politischen Tradition zufolge mußten Rechte, die „subjektive Freiheiten" waren, als Verpflichtungen eingehalten werden. U m jedoch legitim zu sein, mußten sie aus „demokratischen Gesetzgebungsverfahren" abgeleitet werden, die ihre „Teilnehmer mit den normativen E r w a r t u n g e n der Gemeinwohlorientierung konfrontieren". Das bedeutet, daß eine fundamentale Verbindung zwischen den Menschenrechten und der Volkssouveränität gegeben sein muß. Bei Kant w u r d e diese Beziehung in der Ableitung individueller A u t o n o m i e aus dem universellen Gesetz gesucht, während Rousseau, der der Wahrheit näher kam, sie durch den Versuch, den individuellen und den Allgemeinwillen in Wechselbeziehung zu setzen, begründete. H i e r zahlt sich die demokratische Lesart der modernen Rechtsbildung aus. „Der gesuchte interne Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten liegt im
normativen Gehalt eines Modus der Ausübung
politischer
Autonomie,
der nicht schon
durch die Formen allgemeiner Gesetze, sondern erst durch die Kommunikationsform diskursiver Meinungs- und Willensbildung gesichert w i r d " (FG, 133). Habermas versucht, mit d e m A r g u m e n t noch einen Schritt über den extrem subjektiven Charakter der Tradition hinauszugehen, indem er die Einsichten der Sprechakttheorie auf das Dilemma der Ableitung öffentlicher Rechte aus subjektiven Freiheiten anwendet. Er unterstellt, daß private und öffentliche Autonomie gleichursprünglich sind. Dies, so lautet das A r g u ment, läßt sich verstehen, w e n n deutlich geworden ist, daß die „die Substanz der M e n schenrechte ... dann in den formalen Bedingungen für die rechtliche Institutionalisierung jener A r t diskursiver Meinungs- und Willensbildung (steckt), in der die Souveränität des Volkes rechtliche Gestalt annimmt" (FG, 135). Mit anderen Worten: Gegenseitige A c h tung und gleiche A n w e n d u n g sind der diskursiven Form des Verständigungsprozesses eingeschrieben, durch den sich Autonomie intersubjektiv konstituiert.
3. Habermas' Kritik der Hermeneutik Insofern diese grundlegenden A n n a h m e n der Praxis von Recht und Politik i n n e w o h nen, sind aus den Ü b e r l e g u n g e n von H a b e r m a s zwei Lehren zu ziehen: Ein R ü c k k o p p lungsprozeß zu demokratischen Verfahren m u ß an jeder Stelle stattfinden u n d jeder M e c h a n i s m u s m u ß als solcher - ob nun Verwaltung, Legislative oder J u d i k a t i v e - diesem P r o z e ß dienen. Wenn die erste theoretische A n n a h m e besonders letzteres beansprucht, w i r d dies die Funktion der Judikative stark einschränken. Das ist keine U b e r raschung, aber es w i r d wahrscheinlich die alte Schlacht zwischen Recht und Philosophie w i e d e r neu entfachen, auf die ich zu Beginn meines Textes anspielte. Auf jeden Fall sind, w i e w i r sehen werden, die grundlegenden Parameter f ü r die Kritik der R e c h t s w i s senschaft bereits errichtet w o r d e n .
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In Kapitel V „Unbestimmtheit des Rechts und Rationalität der Rechtsprechung" nimmt Habermas an, das „Rationalitätsproblem" sei das fundamentale Problem der richterlichen Entscheidung. Ich vermute, daß die Hobbessche Frage: „Wessen Vernunft ist es?" für den Versuch, Philosophie und Recht zu integrieren, auch weiterhin Relevanz beanspruchen kann. In der Nachfolge Hegels definiert Habermas das „Rationalitätsproblem" in Form der Frage, „wie die Anwendung eines kontingent entstandenen Rechts intern konsistent vorgenommen und extern rational begründet werden kann, um gleichzeitig Rechtssicherheit und Richtigkeit zu garantieren" (FG, 244). Erst durch die Abwesenheit des Naturrechts, welches sowohl Sicherheit als auch Rechtmäßigkeit garantieren könnte, wird dieses Problem aufgeworfen. Aus dieser Sicht müssen Rechtsentscheidungen sowohl „konsistent" als auch „rational akzeptabel" sein. Deshalb wird von der Rechtsprechung gesagt, daß sie über die Gerichtsentscheidungen hinausreicht, da ihr Standards auferlegt sind, die einen breiteren Bezugsrahmen beanspruchen können. Es ist die Strategie dieses Kapitels, verschiedene philosophische Zugänge zum Recht - juristische Hermeneutik, Rechtsrealismus, Rechtspositivismus und in einem gewissen Ausmaß die Bemühungen im Umfeld der „Critical Legal Studies" - im Kontext des Rationalitätsproblems zu situieren. Ganz gleich, ob diese Strategie funktioniert oder nicht, sie dient dazu, uns eine besondere Sicht der Art und Weise zu vermitteln, in der die philosophische Theorie auf die Rechtsinterpretation Einfluß nehmen sollte. Gleichzeitig nimmt sie aus Gründen der theoretischen Darstellung eine gewisse Trennung von Problemen der Faktizität und der Geltung an. Man bemerkt, daß keine dieser theoretischen Positionen in der Lage ist, das Rationalitätsproblem aufzuwerfen, da es ihnen nicht gelingt, Faktizität und Geltung angemessen zu unterscheiden. Keine der Positionen kann sich mit Fragen der Geltung beschäftigen. Die Kritik der juristischen Hermeneutik, welche in dem Sinne die ehrwürdigste unter den untersuchten Positionen ist, da sie der Moderne zeitlich vorherging, beruht auf der Situationsabhängigkeit ihrer Interpretationspraxis. Habermas' Behauptung besagt im wesentlichen, daß die Standards der Interpretation relativ sind, da sie sich nur auf das Vorverständnis des Richters beziehen können. Letzteres wiederum ist seinerseits durch den „sittlichen Traditionszusammenhang" geformt. Die juristische Hermeneutik wird dann als eine kontextualistische Position charakterisiert, die, wegen ihres besonderen Standortes innerhalb der Tradition, keine Standards jenseits der Tradition in Anspruch nehmen kann. Die Prinzipien, so heißt es bei Habermas, die in den Prozessen der Rechtsprechung Verwendung finden, können sich nur „aus der Wirkungsgeschichte derjenigen Rechts- und Lebensform legitimieren, in der sich der Richter selbst kontingenterweise vorfindet" (FG, 245). Zweifellos spiegelt diese Kritik Habermas' starken Argwohn gegenüber den sogenannten kontextualistischen Positionen im Recht und in der Moraltheorie wider. In seiner Sicht sind kontextabhängige Positionen an Traditionen gebunden, die gewaltsam sein können. Wie auch immer - die Überwindung kontextabhängiger Positionen erfordert Formen der Idealisierung, die sich als schwer zu rechtfertigen erweisen könnten. Tatsächlich dreht sich das Argument letztlich nicht um die Kritik der Kontextabhängigkeit, sondern um die Legitimität der Idealisierungsverfahren. Wie wir gleich sehen werden, ist es die Hermeneutik, die, wenn sie in den Status
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einer kritischen H e r m e n e u t i k erhoben w i r d , eine Spur der Idealisierung aufweist, die bei näherer Ü b e r p r ü f u n g zu einer Diskurstheorie des Rechts führt. M e h r noch: D i e hermeneutische Position ist als die beste auszuzeichnen, weil sie, o b w o h l ihre Standards kontextabhängig sind, wenigstens Standards besitzt, die einen Bezug zur M o r a l haben. Dies gilt, o b w o h l die hermeneutischen Position keinen w i r k l i c h e n Unterschied zwischen Ethik und M o r a l macht, der ja für die Diskurstheorie fundamental ist. H a b e r m a s betrachtet auch Rechtsrealismus und Rechtspositivismus in kritischer Perspektive. Der Rechtsrealismus gilt als eine A r t Skeptizismus, w ä h r e n d der Rechtspositivismus nach den Regeln der klassischen Kritik am Positivismus, w o n a c h er seine eigenen Prinzipien nicht rechtfertigen kann, abgelehnt w i r d . „Die Legitimation der Rechtsordnung im ganzen verlagert sich auf den Anfang, d. h. auf eine G r u n d - oder Erkenntnisregel, die alles legitimiert, ohne selbst einer rationalen Rechtfertigung fähig zu sein; sie m u ß als Teil einer historischen Lebensform faktisch eingewöhnt, also gew o h n h e i t s m ä ß i g akzeptiert sein." (FG, 247f.) Die Kritik des Rechtsrealismus f ü h r t H a b e r m a s unter dem Einfluß der „Critical Legal Studies" fort, die zu zeigen versucht haben, daß es keinen wesentlichen Unterschied zwischen richterlichen Entscheidungen und politischen Entscheidungen gibt. Die Behauptung lautet, daß Rechtsrealisten i m G r u n d e g e n o m m e n Skeptiker sind, die die richterliche Entscheidung einer Vielzahl von Faktoren zuschreiben: Interessen, Klassen, politischen Ausrichtungen, Macht usw. Wenn sie Skeptiker sind, so können sie den Standards des Rationalitätsproblems nicht genügen. „Die Realisten können nicht erklären, w i e die Funktionsfähigkeit des R e c h t s s y stems mit einem radikal rechtsskeptischen Bewußtsein der beteiligten Experten vereinbar ist" (FG, 247). A u c h w e n n es der Rechtsrealismus war, der das Vertrauen der Positivisten mit ihren Ansprüchen auf A u t o n o m i e und Richtigkeit untergraben hat, kann w e d e r der Rechtsrealismus noch der Rechtspositivismus das Rationalitätsproblem, so w i e es H a b e r m a s aufgeworfen hat, lösen. D e r interessanteste - und man möchte hinzufügen: kontroverseste - Aspekt der kritischen Strategie von H a b e r m a s besteht in seiner Interpretation von R o n a l d D w o r k i n s Rechtsphilosophie. Die zentrale These lautet, D w o r k i n habe eine „kritische H e r m e neutik" konstruiert, die im Gegensatz zur gewöhnlichen juristischen H e r m e n e u t i k nicht mit d e m „Vorverständnis normativer Überlieferungen" im Zusammenhang stehe, sondern vielmehr auf die „kritische Aneignung einer institutionellen Geschichte des Rechts" bezogen sei. N a c h dieser Interpretation führt D w o r k i n die Rechtsphilosophie über ihren kontextabhängigen, historischen Bezugsrahmen hinaus, indem er ein M o m e n t der Idealisierung in die A n a l y s e einbringt. Somit überwindet er die Beschränkungen der juristischen H e r m e n e u t i k , des Rechtsrealismus und des Rechtspositivismus, denen verschiedene F o r m e n von Kontextabhängigkeit v o r g e w o r f e n w u r d e n . H a b e r m a s liest D w o r k i n so, als habe er im wesentlichen zwei Dimensionen beigesteuert, die in den früheren Positionen gefehlt haben sollen; z u m einen habe er deutlich gemacht, daß Rechtsentscheidungen zu einem gewissen moralischen Inhalt Bezug haben können, z u m anderen darauf hingewiesen, daß der moralische Inhalt über einen besonderen historischen Kontext hinausgeht. Dies gelinge D w o r k i n , so heißt es, indem er sich auf ein Prinzip berufe. Der Rechtspositivismus m u ß beispielsweise zu möglicherweise w i l l kürlichen Entscheidungen Zuflucht nehmen, weil er sich in Konfliktsituationen (den
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sogenannten „hard cases") nicht auf Prinzipien außerhalb des Rechtssystems beruft. Er muß das Problem der „Unbestimmtheit" auf „dezisionistische" Weise lösen. Die Berufung auf ein Prinzip führt uns über die Annahme hinaus, das Recht sei ein „geschlossenes ... Regelsystem" und ziehe im Fall eines Konflikts eine gewisse „Unbestimmtheit" nach sich. Es ist wichtig zu bemerken, daß Habermas die Berufung auf ein Prinzip als „höherstufige Rechtfertigung von Normanwendungen" interpretiert ( F G , 256). Es ist genau die Berufung auf ein Prinzip, die Dworkin von der normalen Hermeneutik unterscheidet. „Da diese Prinzipien nicht wiederum, wie die juristische Hermeneutik annimmt, nur als historisch bewährte Topoi dem Überlieferungszusammenhang einer ethischen Gemeinschaft entnommen werden können, bedarf die Auslegungspraxis eines Bezugspunktes, der über eingelebte Rechtstraditionen hinausweist" ( F G , 256). Das ist der kontroverse Punkt. Dworkins Berufung auf ein Prinzip wird einfach in die Habermassche Darstellung von der Notwendigkeit zur Rechtfertigung verwoben. Man fragt sich jedoch, ob eine solche Charakterisierung zutrifft. Von der kritischen Hermeneutik heißt es, daß sie sich auf eine gewisse Form der Ahistorizität beruft, die ihrerseits zur Trennung des kontextabhängigen historischen Beweises von der Theorie führt. I m Sinn seiner Interpretation bemerkt Habermas: „Diesen Bezugspunkt der praktischen Vernunft erklärt Dworkin methodisch anhand des Verfahrens konstruktiver Interpretation, inhaltlich mit dem Postulat einer Rechtstheorie, die das jeweils geltende Recht rational rekonstruiert und auf den Begriff bringt" ( F G , 256). Sonach bediene sich Dworkin - wie Habermas - der Verfahren der „rationalen Rekonstruktion", die das Phänomen der Geltung im Recht rechtfertigen und verfahrensmäßig berücksichtigen. O b Dworkin dieser Charakterisierung seiner eigenen Theorie folgen würde oder nicht, bleibt fraglich. U m den skizzierten Zugang zu Dworkins Gedanken weiter zu entwickeln, muß Dworkins Law's Empire auf der Folie von Taking Rights seriously und A Matter of Principle interpretiert werden. Dworkin z. B. schreibt in Law's Empire-. „Constructive interpretation is a matter of imposing purpose on an object or practice in order to make of it the best possible example of the form or genre to which it is taken to belong . . . " (zit. nach: F G , 257). Habermas interpretiert dies wie folgt: „Mit Hilfe eines solchen Verfahrens konstruktiver Interpretation soll jeder Richter grundsätzlich in jedem Fall zu einer ideal gültigen Entscheidung gelangen können, indem er die vermeintliche ,Unbestimmtheit des Rechts' dadurch kompensiert, daß er seine Begründung auf eine ,Theorie' stützt." ( F G , 257f.) Mit der Tradition der Hermeneutik ließe sich argumentieren, daß Dworkin sich in der zitierten Bemerkung auf das klassische Prinzip des Vorzugs bezieht. Wenn dem so ist, stellt dies die Notwendigkeit für die Art des Rechtfertigungsverfahrens in Frage, für die Habermas Evidenz beansprucht. Es würde auch bedeuten, Dworkin eigne sich viel weniger als es scheint für die Art der Interpretation, die Habermas vertritt. Folgt man dem Gedanken der Habermasschen Interpretation, so führt die Inanspruchnahme eines Prinzips auf Dworkins Seite zu der breiteren Verteidigung einer Kohärenzdoktrin, die Dworkin - der Hermeneutiker - in die Hände des Richters legt. Herkules ist in der Lage, die Doktrin der Unbestimmtheit im Recht zu überwinden, da er sich auf die „bestmögliche Theorie" berufen und die „rationale Rekonstruktion" ausführen kann. Gleichermaßen ist er durch die Aufrechterhaltung des klassischen Prinzips der „Integrität" in der Lage, die Interpretation des
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Rechts auf der Grundlage von Idealen zu stützen, die der politischen Gemeinschaft entnommen wurden. „Die Verpflichtung des Richters, den einzelnen Fall im Lichte einer Theorie zu entscheiden, die das geltende Recht als Ganzes aus Prinzipien rechtfertigt, ist Reflex einer vorgängigen, durch den Gründungsakt der Verfassung bezeugten Verpflichtung der Bürger, die Integrität ihres Zusammenlebens dadurch zu wahren, daß sie sich an Prinzipien der Gerechtigkeit orientieren und einander als Mitglieder einer Assoziation von Freien und Gleichen achten" (FG, 264).
4. Probleme des Ansatzes von Habermas Wie ich bereits festgestellt habe, ist die rechtswissenschaftliche These gegenüber Dworkin eine einfache. Während Dworkins „kritische" Hermeneutik die „Idealisierung" einbaut, ist sie gleichwohl nicht in der Lage, die InterSubjektivität zu berücksichtigen. Dworkins Versagen ist - so interpretiert - dann als Ergebnis seiner „Rationalitätstheorie" zu begreifen. Habermas pflichtet Frank Michelmans treffender Kritik an D w o r k i n enthusiastisch bei: „Hercules ... is a loner." So gesehen, kann Herkules, der die klassische Tugend der Integrität - eine öffentliche, politische Tugend - vertreten hat, gegen sich selbst verwendet werden, um zu zeigen, daß die Interpretation tatsächlich nicht in der Subjektivität eines Richters, sondern in der „offenen Gesellschaft von Verfassungsinterpreten" verankert ist. Folgt man dem letzten Schritt in der Argumentation, könnte aus einem kleineren Problem der Konzeption von Habermas ein größeres werden. Habermas knüpfte auf eigenwillige Weise an die modernen Debatten in der deutschen Philosophie an, indem er Idealisierungen gegen die hermeneutische Kritik von Idealisierungen verteidigte. 1 2 Es geht mir darum, deutlich zu machen, daß die gegenwärtige Kritik der Hermeneutik im Namen einer Form der Idealisierung ein „riskantes" Bestreben ist, welches - jenseits der hermeneutischen Kritik des Transzendentalismus - zu einem größeren Problem der Argumentation von Habermas führt. Meiner Ansicht nach beansprucht Habermas' Argumentation zu viel für eine Theorie der Rationalität. Sie beansprucht gleichzeitig zu wenig für die Sprache, obwohl sie einer Form der Sprachphilosophie zu verdanken ist. Die Theorie der Intersubjektivität, die den Mittelpunkt des Buches bildet, ist zu schwach, u m die Argumentation für die Demokratisierung zu stützen. Schließlich ist die Kritik an Dworkin zu einfach, da sie annimmt, ein interpretativ-hermeneutischer Zugang umgehe leichtfertig Fragen der Intersubjektivität. Die moderne Hermeneutik hat hingegen ihren Ursprung nicht im Solipsismus, sondern in der Kritik des Solipsismus. 1 3 Es geht mir jedoch nicht einfach um eine Verteidigung der Hermeneutik. Ich
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Obwohl dies f ü r viele Werke von Habermas charakteristisch ist, gilt es vor allem für die frühen Debatten mit Gadamer. Ich beziehe mich auf Heideggers frühe Husserlkritik in der Einleitung zu Sein und Zeit, auf Gadamers Begriff der Horizontverschmelzung, auf Merleau-Pontys und Ricoeurs Kritik der transzendentalen Phänomenologie und auf Derridas Husserlkritik.
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möchte vielmehr den Ansprüchen einer Argumentation folgen, die vielleicht zu leichtfertig davon ausgeht, daß man Intersubjektivität auf einer transzendentalen Ebene rekonstruieren kann. U m zu klären, was in dieser Argumentation auf dem Spiel steht, will ich mit D w o r k i n jene Elemente der Habermasschen Geltungsansprüche rekonstruieren, die ich in dieser Diskussion früher erwähnte. Strittig ist dabei die zentrale These des Buches, die ich die „Geltungsthese" nenne. Habermas' Ausgangsbehauptung war, daß die Ansprüche der Rationalität „dem sprachlichen Telos der Verständigung eingeschrieben" sind. Arbeitet man dies aus, muß eine gewisse Auffassung von der Natur der Geltung unterstellt werden. U m Verständigung zu erzielen, ist es für die Beteiligten erforderlich, illokutionäre Ziele zu verfolgen, die in Richtung einer Übereinkunft tendieren. D e r Standard, nach dem Übereinkünfte beurteilt werden können, ist der Standard der Geltung. Somit besteht der erste Schritt der Argumentation darin, anzunehmen, daß die Geltung dem Verständigungsprozeß eingeschrieben ist. D e r zweite Schritt besteht in der Behauptung, Geltung könne nicht auf einer normalen Ebene, d. h. auf der Ebene der Faktizität erreicht werden. So ist es erforderlich, Faktizität und Geltung einander gegenüberzustellen. Habermas' kontroverseste Annahme entwickelt sich zwischen dem ersten und dem zweiten Schritt seiner Argumentation. U m vom ersten Schritt zum zweiten zu gelangen, ist es nötig, sich in einen Idealisierungsprozeß zu verwickeln. Es handelt sich - dies ist bekannt - um die moderne Version eines klassischen philosophischen Arguments, das zuerst von I m m a nuel Kant in die deutsche Philosophie eingeführt und später von Edmund Husserl aufgegriffen wurde. Habermas rekonstruiert dieses klassische Argument als eines, das eine fundamentale sprachliche These zur Kommunikation enthält. Mit anderen Worten: U m den Schritt von der Faktizität zur Geltung zu machen, ist es nötig, sich kontrafaktisch eine Gemeinschaft von Interpreten vorzustellen, deren Absicht es ist, gemäß den „illokutionären" Anforderungen der Rede zu einer Übereinkunft zu gelangen. D e r Begriff der Geltung ist für diesen Prozeß fundamental, da er das Kriterium dafür bietet, zu einer Übereinkunft zu gelangen. Im Gegensatz zu Kant behauptet dieses Argument, die traditionelle Problematik der „Rechtfertigung" zu integrieren, ohne daß diese auf die idealistische Dimension der reinen Autonomie beschränkt wird. I m Gegensatz zu Husserl beansprucht das Argument, die Dimension der Geltung auf der Ebene der Intersubjektivität zu gewinnen. Darüber hinaus wird beansprucht, die Dimension der Intersubjektivität im Bereich einer Sprachphilosophie und nicht im Rahmen der B e wußtseinsphilosophie anzusiedeln. Kantisch gesprochen, geht es bei der Unterscheidung zwischen Faktizität und Geltung darum, das klassische Problem der rationalen Grundlage für moralisches Handeln auf der Basis einer sprachphilosophischen Begründung zu behandeln. Phänomenologisch geht es darum, die intersubjektive Dimension auf einer transzendentalen Ebene zu erreichen. Die dritte historische Tradition, auf die Habermas sich bezieht, ist die Kritische Theorie. Kurz gesagt, erscheint das K o n z e p t der Kritik hier auf der Ebene der Geltung wieder, das für die Theorien der Rationalität, wie sie von Hegel und Marx gebildet und von Horkheimer und Adorno ausgeführt wurden, zentral war. Gesteht man die Unterscheidung zwischen Faktizität und G e l tung zu, ist es möglich, den Begriff Geltung im Sinne eines Standards oder Kriteriums kritisch neben die Faktizität zu stellen, der es erlaubt, faktische Ansprüche zu beurtei-
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len. M a n könnte dann mutmaßen, daß vom Habermasschen Standpunkt aus die A n sprüche der Kritischen Theorie, die seiner Meinung nach in den Arbeiten von H o r k heimer und Adorno verlorengegangen waren, auf der Ebene der Geltung, d. h. auf transzendentaler Ebene, rehabilitiert werden können. Mit Blick auf die rechtswissenschaftliche Dimension der Argumentation besteht die Aufgabe darin, die Rechtswissenschaft in den Kontext der Rationalitätsthematik einzufügen. 1 4 Unser Problem besteht im Status der „Idealisierung." 1 5 Wie wir gesehen haben, ist es nach Habermas das Problem der kritischen Hermeneutik, daß sie, wenn sie kritisch ist, keinen Bezugspunkt jenseits von sich selbst besitzt. Dieses Argument besteht im wesentlichen aus zwei Schritten: 1. Wenn die Hermeneutik der Ebene der Faktizität angemessen ist, ist sie zugleich kontextgebunden und nicht in der Lage, einen kritischen Bezugsrahmen auszubilden. 2. Die kritische Hermeneutik, die zwar den richtigen Schritt über die Faktizität hinaus macht, kann das Problem der Geltung immer noch nicht intersubjektiv angehen. Während also Dworkins Herkules in der Lage ist, über den Bereich der Faktizität hinauszugehen, ist er - wiederum aus dieser Sicht unfähig, einen intersubjektiven Bezugsrahmen herzustellen. Diese Argumentation kann auf zwei Arten widerlegt werden. Die erste kreist um die N a t u r der Hermeneutik, während die zweite das Problem der Idealisierung im Verhältnis zu einer kritischen Hermeneutik betrifft. Es ist hier wiederum nicht mein Anliegen, die Hermeneutik zu verteidigen, sondern den fundamentalen Status der Idealisierung für das „Rationalitätsproblem", w i e es H a bermas dargestellt hat, in Frage zu stellen. Ich kann mich des Verweises auf jenen Diskussionsstrang nicht enthalten, der den historischen Hintergrund der Argumentation von Habermas bildet, nämlich die Debatte zwischen der Hermeneutik und der Phänomenologie. Im Prinzip begann diese Debatte mit einem gewissen Zweifel an der M ö g lichkeit, Fragen der Interpretation auf transzendentaler Ebene zu lösen. Zweitens wurde bezweifelt, ob die zweite und dritte Generation von Phänomenologen, was ja auch für Husserl galt, das Problem der Intersubjektivität auf transzendentaler Ebene würden lösen können. U m es mit Hilfe der Unterscheidung von Faktizität und Geltung auszudrücken: Die moderne Hermeneutik begann damit, daß sie den Bezug zur phänomenologischen Reduktion aufgab und statt dessen vorzog, auf der Ebene der Fakti-
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Indem er den Schwerpunkt auf Rationalitätsansprüche setzt, wird Habermas genötigt, seine eigene Rationalitätstheorie einem Test zu unterziehen. Das mag nicht die beste Strategie gewesen sein, weil man unwillkürlich zu den sehr kontroversen Ansprüchen einer auf der Sprechakttheorie basierenden Rationalitätstheorie zurückgeführt wird. Die theoretischen Ansprüche, die Habermas im ersten Kapitel von F G erhebt, sind ein wirklicher Test f ü r seine Kritik der Rechtswissenschaft. 1 5 Der Begriff „Idealisierung" muß erläutert werden. Ich habe bereits angeführt, daß Idealisierung bedeutet, daß innerhalb der Sprache „ein Kranz unvermeidlicher Idealisierung ... die kontrafaktische Grundlage einer faktischen Verständigungspraxis (bildet), die sich kritisch gegen ihre eigenen Resultate richten, sich selbst transzendieren kann". Dies zeigt, daß Habermas ein transzendentales System entweder aus der Sprache heraus- oder in die Sprache hineinlesen will. Daher verstehe ich das Argument für die Idealisierung als Argument für ein transzendentales System, obgleich es bei der Sprache ansetzt und gewiß nicht im Inneren der Subjektivität.
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zität zu verbleiben. Einerseits mag dies die Ansprüche an die Reichweite der Vernunft begrenzt haben, andererseits jedoch wurde das Problem des Solipsismus vermieden, um das sich Husserl in seinen späteren Schriften bemüht hatte. Die hermeneutische Wende in der deutschen Philosophie führte zu dem Versuch, das Problem der Intersubjektivität auf der Ebene der Faktizität zu lösen. Kurz gesagt, das monologische Modell des „solitären" Denkens wurde zugunsten eines dialogischen16 Modells aufgegeben. Letzteres schließt den Anderen mit Hilfe des Interaktionsbegriffs ein. Es geht hier nicht um Erfolg oder Mißerfolg der Hermeneutik in der deutschen Philosophie. Das Problem ist allein der Status der Kritik der „Idealisierung". Erfordert Interpretation Idealisierung? Habermas wollte uns glauben machen, eine derartige Denkbewegung auf der Grundlage von Rationalitätsansprüchen sei notwendig. Strittig ist die Geltungsthese. Nach Habermas erfordert Geltung Idealisierung, und das Ziel rationaler Argumentation wird als Errungenschaft der Geltung betrachtet. In der neueren Philosophie wurde diese These durch Husserl verbreitet. Auf der normalen Erfahrungsebene der mundanen Einstellung konnten Geltung, Wahrheit und wirkliche Evidenz nicht garantiert werden. Husserl argumentierte daher für die Notwendigkeit, die phänomenologische Epoche auszuführen. Das Problem der phänomenologischen Reduktion besteht darin, daß sie nach Husserls eigenem Zeugnis in einer Art transzendentalem Solipsismus endet.17 Schaut man aus der Perspektive der Geschichte der deutschen Philosophie auf Habermas, kann ihm die Auffassung zugeschrieben werden, daß sich die Legitimität transzendentaler Argumente bewahren läßt, wenn man sich der Sprache zuwendet. Wenn wir das Problem der Idealisierung vom Gesichtspunkt der Sprechakttheorie aus betrachten, d. h. vom Standpunkt der impliziten Verpflichtungen, zu denen sich Sprechende selbst in Sprechakten verpflichten, so ist es möglich, die Intersubjektivität auf transzendentaler Ebene zu rekonstituieren. Es ist tatsächlich nicht nur möglich, sondern auch notwendig, diesem Prozeß zu folgen. Im Rahmen des skizzierten Arguments erfordern die impliziten Rationalitätsansprüche,
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D e r hermeneutische Zugang zum Text wie zum Diskurs nahm ein „interaktives" Modell auf der Grundlage eines „Dialoges" mit den Anderen an, der „intersubjektive" Erfahrung hervorbringen sollte. Mit Blick auf die Kritik, welche der hermeneutische Ansatz an der transzendentalen Phänomenologie übte, muß dies auch auf die spätere Generation von Phänomenologen bezogen werden, die die Idee einer „genetischen Konstitution" aufgegeben hatten. Natürlich gibt es G r e n zen des hermeneutischen Begriffs der Intersubjektivität. Heideggers Analyse des Mitseins ist in dieser Hinsicht enttäuschend und Gadamers Begriff der Horizontverschmelzung nimmt eine A r t Traditionsgrenze an. Aber mein Anliegen ist es nicht, einen besonderen Status für die H e r m e n e u tik über ihren intersubjektiven Ausgangspunkt hinaus zu beanspruchen. Auf Begrenzungen der Hermeneutik aufmerksam zu machen oder ihr solipsistische Tendenzen zu unterstellen, sind zwei verschiedene Dinge.
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Ich beziehe mich hier auf Husserls fünfte Cartesianische
Meditation
(vgl. E d m u n d Husserl,
Cartesianische Meditationen, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Elisabeth Ströker, Bd. 8, H a m b u r g 1992, 9 1 - 1 5 5 ) . In diesen Vorlesungen, die 1929 gehalten wurden, macht Husserl im wesentlichen darauf aufmerksam, den Anderen nicht so, wie das Selbst konstituieren zu können. Daraus läßt sich der Schluß ziehen, daß es unmöglich ist, auf transzendentaler Ebene eine gültige F o r m der Intersubjektivität ausweisen zu können.
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und das Problem
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die als sprachliches Telos den Verständigungsprozessen eingeschrieben sein sollen, vermutlich eine derartige Wendung. Aber ist dieses Moment der Idealisierung notwendig durch die Geltungsthese bewerkstelligt worden, wie es Habermas uns glauben machte? Offengestanden ist diese Wendung nur notwendig, wenn Intersubjektivität nicht schon auf der Ebene der Faktizität gegeben ist. Im Rückgriff auf die Begriffe der Argumentation gegen Dworkin kann man fragen, ob Herkules tatsächlich ein Einzelgänger ist, wie Michelman behauptete. Ich bezweifle, daß es notwendig ist, dieser sehr spezifischen Form der Idealisierung zu folgen, wenn man die Sprache eines Anderen oder die Sprache eines Rechtstextes interpretieren müßte, und wenn man annehmen müßte, die wirkliche Aufgabe bestünde darin, ihn unter den Bedingungen des Dialoges mit dem Text richtig zu verstehen. Obgleich dies im Verständigungsprozeß der Fall sein mag, würde ich das Geltungsproblem nicht vermeiden. Ich würde die genaueste, beste Interpretation haben wollen, die man in kritischer Perspektive akzeptieren könnte und die im Falle der Rechtswissenschaft mit bestimmten Normen übereinstimmen würde. Aber ich bezweifle ernsthaft, daß ich, um zu einer gültigen Interpretation zu gelangen, Faktizität von Geltung trennen würde, oder genauer: könnte. Tatsächlich tritt das Problem der Interpretation exakt auf der Ebene der Faktizität auf. 18 Habermas verwechselt eine bestimmte Form von politischem Engagement mit Rationalität. 19 Er will uns glauben machen, daß die impliziten Rationalitätsansprüche uns zur Anpassung an ein bestimmtes rationales Verfahren nötigen, das in seiner Struktur wesentlich demokratisch ist. Demnach werden wir, wenn wir einem speziellen rationalen Verfahren folgen, über kontextabhängige Interpretationen hinausgeführt und bilden eine bestimmte „Gemeinschaft von Interpreten", die unter den strengen Regeln der Sprechakte zu einer gültigen Übereinkunft gelangen können. Ich stelle die „noble" Absicht dieser Forderung keineswegs in Frage, aber ich bezweifle ernsthaft, daß dies auf der Grundlage der Konformität mit den Rationalitätsansprüchen erreicht werden kann. Wenn Habermas behauptet, Herkules sollte sich über sich selbst hinaus auf den breiteren Bereich der Verfassungsinterpreten beziehen, so stimme ich ihm zu. Ich glaube aber, der Richter würde dies auf der Grundlage eines gewissen „Konsenses" über die Interpretationspraxis innerhalb einer gegebenen politischen Gemeinschaft tun. Ich bezweifle ernsthaft, daß Akte der Rechtsprechung auf der Grundlage einer bestimmten Verpflichtung gegenüber eingegangenen Rationalitätsansprüchen ausgeführt werden. 18
Wenn ich dies auf einer mehr traditionellen Ebene zu diskutieren hätte, w ü r d e ich sagen, daß Geltung kein Gegenstand genetischer Konstitution ist. Anders gesagt, die Geltungsansprüche innerhalb der Sprache sind auf der Ebene der Faktizität gegeben. Wenn ich den weitergehenden Anspruch erheben sollte, daß man den Prozeß einer spezifischen Idealisierungsform durchlaufen müsse, so müßte ich die Sprechakttheorie als einen besonderen Fall in der Sprache „privilegieren", der Idealisierung notwendig macht. Die Ressourcen der Sprache sind viel zu reich, um die „Isolation" eines solchen Anspruchs zu legitimieren.
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Ich stimme mit Habermas' Argument überein, daß es in Fällen v o n Rechtsentscheiden einen Rücklaufmechanismus zur breiteren demokratischen Gemeinschaft geben sollte. Das scheint mir jedoch ein politischer Anspruch zu sein, der zwar auf der Grundlage v o n Verpflichtung und Glauben zu legitimieren ist, aber nicht mit impliziten Rationalitätsansprüchen verwechselt werden sollte.
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H a b e r m a s mutet der Rationalitätstheorie zu viel zu. Es ist klar, daß die „ k o m m u n i kative" intersubjektive Grundlage der Interpretation innerhalb und nicht jenseits des Interpretationsrahmens gegeben wird. Es ist falsch anzunehmen, ein intersubjektiver R a h m e n müsse durch R e k u r s auf den Gesichtspunkt der Vernunftansprüche hergestellt w e r d e n . Das scheint der kleinste Fehler der A r g u m e n t a t i o n zu sein, w e l c h e zu schnell versucht, die hermeneutischen Interpretationsansprüche auf der Basis einer Berufung auf Idealisierungen zu beschneiden. Offen gesagt, habe ich w e n i g H o f f n u n g , daß der demokratische Interpretationskontext durch eine U b e r e i n k u n f t bezüglich der N a t u r der Rationalität hergestellt w e r d e n kann, w e n n er nicht durch Interpretationsprozesse bereits besteht. Ich bin mit der grundlegenden Intention der Kritik von H a bermas einverstanden. Richter sollten sich mit der demokratischen Gesellschaft r ü c k koppeln, in der die Rechtsentscheidungen getroffen werden. Ich hege jedoch ernsthafte Zweifel, ob dies durch die Idealisierungsansprüche errreicht w e r d e n kann. Wenn aber H a b e r m a s zu viel von einer Rationalitätstheorie verlangt, so fordert er von der Sprache zu wenig. 2 0 Kann man einfach unterstellen, daß die Verpflichtung der Philosophie auf die sprachphilosophische Wende uns z w i n g t , mit den B i n d u n g s k r ä f t e n einer bestimmten Interpretation von Sprechakten übereinzustimmen? Dieser A n s p r u c h w i r d , w i e w i r gesehen haben, als k o m m u n i k a t i v e r (intersubjektiver) A n s p r u c h a r t i k u liert. Diese A r t von A r g u m e n t kann mit zwei Einschränkungen versehen w e r d e n : 1. Intersubjektivität ist bereits auf der Ebene der Faktizität gegeben. Ich nehme an, H e r k u les w e i ß schon, w i e er die Sprache gebrauchen soll. Er meint ungefähr das gleiche w i e jedermann, der Worte gebraucht. K o m m u n i k a t i o n besitzt bereits faktisch einen intersubjektiven Charakter. Daher benötigt man keine Idealisierung, u m den intersubjektiven C h a r a k t e r der K o m m u n i k a t i o n zu etablieren. Wenn dies so ist, w a r u m sollte m a n die spezifische F o r m der Idealisierung übernehmen, die H a b e r m a s empfiehlt, u m mit
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Im Sprachgebrauch v o n Habermas gibt es einen merkwürdigen Aspekt, der ihn zu der A n n a h m e führt, die Sprechakttheorie w ü r d e die Lösung des Intersubjektivitätsproblems auf der Geltungsebene erlauben. Er behauptet, daß die „kommunikative Vernunft" einen „normativen Gehalt" hat, weil sich „der kommunikativ Handelnde auf pragmatische Voraussetzungen kontrafaktischer A r t einlassen muß. Er muß nämlich Idealisierungen vornehmen - z. B. Ausdrücken identische Bedeutungen zuschreiben ..." (FG, 18). U m einen Konsens zu erreichen, ist es erforderlich, A u s drücken „identische Bedeutungen" zuzuschreiben. Genau dies ist meinem Verständnis zufolge nötig, um das traditionelle Problem der InterSubjektivität auf transzendentaler Ebene zu lösen. Ich möchte darauf hinweisen, daß wir, wenn wir Habermas folgen, für die Lösung des Intersubjektivitätsproblems einen bestimmten Preis zu zahlen haben. Der Preis besteht darin, daß das A n d e r e reduziert wird auf das, was mit dem Selbst „identisch" ist. Ich habe hier die klassischen Begriffe des Selbst und des Anderen aus der Bewußtseinsphilosophie benutzt. Mit Habermas' Begriffen könnte man fragen: W i e ist ein Konsens möglich? A u s sprachphilosophischer Sicht ist er möglich, weil wir „Ausdrücken identische Bedeutungen zuschreiben" können. In traditionelleren Begriffen bedeutet dies, daß das Andere auf das Selbst reduziert werden kann. Ich w ü r d e es unterstützen, daß man an dieser Stelle eine Spur der alten „Identitätsphilosophie" wiederfindet, die seit ihrem A n f a n g bei Hegel bestimmten Formen einer kritischen Theorie schwer zur Last gefallen ist. U m dieses Problem zu überwinden, wäre es notwendig, noch einmal die Sprache zu betrachten, diesmal aus einer anderen Sicht als der der Sprechakttheorie.
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einer spezifischen Version der Sprechakttheorie übereinzustimmen. In diesem Sinne ist der A n s p r u c h gegenüber der Sprache zu eng. Bezieht die Sprache die intersubjektive Verpflichtung auf jeder Ebene ein, w a r u m sollten w i r dann die Ebene der Sprechakte als die einzige wählen, mit der w i r übereinstimmen? 2. Es folgt, daß keine N o t w e n d i g k e i t d a f ü r besteht, der besonderen, zur Etablierung von Geltung empfohlenen F o r m der Idealisierung zu folgen. Wenn H a b e r m a s nicht in der Lage ist, seine Theorie der Idealisierung auf der Ebene des Zusammentreffens mit jener Position der Rechtsprechung zu rechtfertigen, die er als „kritische H e r m e n e u t i k " bezeichnet hat, läßt sich fragen, ob das, w a s ich einen „kleineren" Fehler der Argumentation genannt habe, sich nicht zu einer „größeren" Schwachstelle seines Buches auswächst. Eines der interessantesten U n t e r n e h m e n des Buches ist sicherlich der Versuch, private und öffentliche A u t o n o m i e als gleichursprünglich aufzufassen. Vom Standpunkt der politischen Theorie betrachtet, verleiht diese R e k o n zeptualisierung der öffentlichen A u t o n o m i e dem Buch eine demokratische Stoßkraft. Eben diese D e n k b e w e g u n g garantiert der Rechtsordnung durch den „ k o n k u r r i e r e n den und vereinigten Willen freier und gleicher Bürger" Legitimität. A b e r w i e ist dieser „vereinigte W i l l e " - abgesehen vom Idealisierungsprozeß - abgeleitet w o r d e n ? Sicherlich liegt H a b e r m a s richtig, w e n n er sagt, das Recht erfordere mehr als eine z w i n g e n d e Kraft, u m seine Legitimität zu garantieren. Er hat auch darin Recht, daß es einen fundamentalen Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität geben muß. Richtig mag auch seine Behauptung sein, daß öffentliche Rechte nicht von subjektiven Freiheiten allein abgeleitet w e r d e n können. Wie auch immer - z w i n gend sind seine Ü b e r l e g u n g e n nur dann, w e n n man dazu bereit ist, seine ursprüngliche Idealisierungsthese gelten zu lassen. Ich w ü r d e anerkennen, daß die langersehnte Verb i n d u n g zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität für die Interpretation gegeben ist. A b e r es ist etwas anderes zu behaupten, daß sie durch Interpretation etabliert w i r d . H a b e r m a s ist in der Lage, einen demokratischen Bezugsrahmen zu sichern, aber nur auf transzendentaler Ebene. Die Auffassung, daß eine Verbindung zwischen M e n schenrechten und Volkssouveränität geschaffen werden sollte, kann man teilen. Wer die Basis dieser Verbindung jedoch einer bestimmten Version der Rationalität entnehmen möchte, der müßte sich auf eine bestimmte Art von Konsens beziehen, der nicht existiert. Als ob die Vernunft allein die demokratische Willensbildung konstituieren könnte. 2 1
5. Schlußbemerkungen Ich möchte noch einmal auf das Verhältnis von Philosophie und Recht z u r ü c k k o m men. M e i n e m Urteil nach gehört Faktizität und Geltung zur großen Tradition der P h i losophie des Rechts. Ich denke, daß es seinen Platz in der deutschen Tradition der ge-
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Ich möchte noch hinzufügen, daß ähnliche Argumente auf der Ebene der „Verfassungsrechtsprechung" (Kap. VI) und im Kontext des „prozeduralistisch-deliberativen Paradigmas" angebracht werden könnten (Kap. IX).
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wichtigen rechtstheoretischen Werke einnehmen wird, wie sie z. B. von Hegel oder von Weber geschrieben wurden. Das Buch von Habermas kombiniert auf vielfältige Weise philosophische Einsichten Hegels mit soziologischen Einsichten Webers. Dadurch, daß Habermas Probleme der Demokratisierung akzentuiert, hat er einen wahrhaft eigenen Beitrag zu den gegenwärtigen Diskussionen um den Platz des Rechts in der modernen Gesellschaft geleistet. Die Geschichte des Verhältnisses von Recht und Philosophie ist in Faktizität und Geltung eingegangen, so daß es gleichzeitig ein sehr traditionelles Buch ist. Wie Hobbes diese Tradition damit begann, auf der Grundlage einer bestimmten Auffassung von „Vernunft" zu versuchen, die Ansprüche der Rechtswissenschaft aus den Händen der Richter zu „reißen", so versucht Habermas, seine Leser - insbesondere die Rechtsgemeinschaft - davon zu überzeugen, daß ein spezifischer Anspruch an die Vernunft das moderne Recht auf einen fundamental-demokratischen Kurs bringen wird. Das ist ein kühner Anspruch. Die Architektonik des Buches von Habermas ist beeindruckend. Dennoch bleibe ich skeptisch gegenüber der Kraft seines Anspruchs. Beschränkt man die Reichweite der Vernunft auf ihren transzendentalen Aspekt, als ob man zunächst durch ein Nadelöhr hindurch müßte, wird der Leser allein gelassen, die Mängel des substantiellen Anspruchs der Demokratisierung, die auf der Ebene der Faktizität anzusiedeln sind, zu erwägen. Hobbes verhielt sich gegenüber Lord Coke korrekt, als er die Frage stellte, „wessen Vernunft es ist". Das Problem des Buches von Habermas ergibt sich aus der schmalen Basis des Vernunftbegriffs. Obwohl das Buch bis zur Schwelle des deliberativen Paradigmas führt, erwartet man einen angemesseneren Begriff von Vernunft, der dies auch wirklich ausfüllen könnte. Aus dem Amerikanischen
von Ursula Scheller und Petra Schellenberger
(beide
Dresden).
Steven Lukes
Multikulturalismus und Gerechtigkeit: „Politik der gleichen Würde" und „Politik der Anerkennung" Überlegungen im Anschluß an Charles Taylor
In welchem Ausmaß ist die Politik der gleichen W ü r d e mit der Politik der Anerkennung vereinbar? 1 Diese Frage versteht sich wahrscheinlich nicht von selbst, so daß ich zunächst mit Hilfe philosophischer Überlegungen erläutern möchte, was mit den im Titel genannten Wendungen - Politik der gleichen W ü r d e und Politik der Anerkennung - gemeint ist. Dann werde ich mich der genannten Frage in historischer und soziologischer Perspektive zuwenden. Vorab jedoch ein Wort zu meinem Politikverständnis. Ich folge Ralf Dahrendorfs Unterscheidung zwischen konstitutioneller und normaler, alltäglicher Politik. Erstere beschäftigt sich mit einem Rahmen sozialer Ordnung. In ihr geht es um die Spielregeln, gemäß denen die normale Politik verfahren soll. Revolutionäre Perioden, wie beispielsweise 1989, sind Zeiträume, in denen die normale Politik außer Kraft gesetzt wird. Die Aufmerksamkeit richtet sich dann auf Probleme der Demokratie und der Bürgerrechte, die charakteristische Anliegen konstitutioneller Politik sind. Normale Politik hingegen beschäftigt sich mit den „von Interessen und sonstigen Präferezen bestimmten Richtungen des Handelns innerhalb dieses Rahmens". Dahrendorf nennt als Beipiele für die Belange konstitutioneller Politik freie und gerechte Wahlen, während er z. B. eine Kampagne zur Privatisierung der Stahlindustrie für eine Angelegenheit normaler Politik hält. 2 Natürlich ist diese Unterscheidung anfechtbar. Einige Autoren, wie z. B. H a y e k , sind der Meinung, daß vieles von demjenigen, was normalerweise zu den Belangen der normalen Politik gezählt wird, einen konstitutionellen Status hat: sie sehen, daß gewisse politische Programme bereits in den eigentlichen Rahmen einer freien Gesellschaft eingreifen. Dennoch werde ich diese Unterscheidung im folgenden mit Bezug auf die staatliche Ebene verwenden. Ich sage jedoch nichts zur internationalen oder supranationalen Politik oder zur regionalen, lokalen oder interpersonellen Politik. 1 Diese Unterscheidung übernehme ich aus Charles Taylors Aufsatz „The Politics of Recognition", in: A m y Gutmann (Hrsg.), Multiculturalism and ,The Politics of Recognition', Princeton 1992 (dt.: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Mit Kommentaren von A m y Gutmann, Steven C. Rockefeiler, Michael Walzer, Susan Wolf, übers, von Reinhard Kaiser, hrsg. von A m y Gutmann, Frankfurt/M. 1993). 2 Ralf Dahrendorf, Betrachtungen über die Revolution in Europa in einem Brief, der an einen Herrn in Warschau gerichtet ist, Stuttgart 2 1991, 33f.
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1. Philosophie Was ist unter einer Politik der gleichen Würde und einer Politik der Anerkennung zu verstehen? Ich möchte diese Begriffe nicht verwenden, um verschiedene Typen von politischer Praxis zu kennzeichnen, sondern mich mit ihnen auf die normativen Prinzipien beziehen, die der faktischen Politik zugrunde liegen. Standards oder Normen also, die Bürger, Politiker und Angestellte des Staates erfüllen sollten, die von der Kritik eingefordert werden, wenn sie nicht erfüllt werden und die staatliche Institutionen in ihren Funktionen sowie die Ergebnisse politischer Vorgänge legitimieren. Die Prinzipien der gleichen Würde und der Anerkennung, ob nun explizit ausgesprochen oder nur implizit akzeptiert, sollen dasjenige voranbringen und beschränken, was man von der Politik - sowohl von konstitutioneller als auch normaler - erwartet. Obwohl beide Prinzipien oft verletzt wurden oder man von ihnen abwich, funktionieren sie als operative Ideale und normative Zwänge. Kurz, es handelt sich um Prinzipien der politischen Moral, die den Gehorsam gegenüber maßgeblichen Entscheidungen des Staates rechtfertigen sollen. Beide der hier in Frage stehenden Prinzipien - das Prinzip der gleichen Würde und das Prinzip der Anerkennung - sind in einem spezifischen Sinne egalitär. Jedes ist eine Interpretation des Grundgedankens, daß der Staat seine Bürger als Ebenbürtige behandeln muß. Die Grundidee der Gleichbehandlung ist vornehmlich ein moderner politischer Grundsatz, obwohl er alte religiöse Wurzeln im Judentum, im Christentum und im Islam hat. Seine Grundlagen wurden im Zeitalter der Aufklärung geschaffen; in einer Zeit, die in wachsendem Maße unzugänglich wurde für den älteren Grundsatz unterschiedlicher Ehre und des ungleichen Status. Dieser ließ sich aus jenen sozialen Hierarchien herauslesen, gegen die Rousseau so wütend anging. Mit der Idee der Gleichbehandlung wurde das Verhalten des Staates, den Interessen einiger Stände oder Klassen oder Gruppen mehr Gewicht als denen anderer zuzugestehen, geächtet. Sie schrieb vor, den Interessen von jedermann gleiches Gewicht zu verleihen. Jedermann, wie Bentham sagte, zählt als einer und keiner zählt mehr als einer. Mit dem Prinzip der gleichen Würde wird dieser Grundgedanke auf eine besondere Weise, die Abstraktion und Unvoreingenommenheit bzw. Blindheit gegenüber Unterschieden impliziert, interpretiert. Dies wird besonders an der Art deutlich, in der Kant dieses Prinzip zum Ausdruck bringt. Seine philosophische Interpretation dieses Prinzips offenbart ihr Fundament in der Aufklärung. Würde ist für Kant ein wesentlicher Wert, der wegen der Autonomie des Einzelnen Achtung, sogar Verehrung verdient. Autonomie wird von Kant bekanntlich als Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung verstanden, d. h. als Fähigkeit, nach selbstgegebenen Prinzipien zu urteilen und zu leben. Der Schlüsselgedanke besteht darin, daß Menschen wegen ihrer universellen Fähigkeit respektiert werden müssen, auf der Grundlage der Kenntnis von Alternativen und des Wissens, daß auch alle anderen autonom sind, zu ihren eigenen Ansichten darüber, wie sie leben sollen und was für sie von Wert ist, zu gelangen. Menschen zu respektieren heißt dann, sie in dem Sinn autonom zu behandeln, daß sie ihr Leben von innen heraus leben können und jede sie betreffende Entscheidung kritisieren, einschätzen und für diese gerechtfertigte Gründe fordern können. Im negativen Sinne bedeutet dies, sie nicht
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zu einem bestimmten Leben zu zwingen; positiv bedeutet dies, daß man die Bedingungen ihrer Autonomie sichert. Sie gleichermaßen zu respektieren heißt, diese universelle Fähigkeit als hinreichenden Grund für eine solche Behandlung anzusehen. Dies gilt in jedem Fall, auch unabhängig davon, in welchem Ausmaß sie verwirklicht wird. Der Fremde, der Irregeführte und der Böse, nicht weniger als der Unwissende, der Nichtkompetente und jene, die nicht in der Lage sind, ihre angenommene Autonomie auszuüben, sie alle müssen auf die gleiche Art und Weise behandelt werden: als Personen, die in der Lage sind, ihr eigenes Leben auf der Grundlage ihrer eigenen Einsichten zu leben, welcher Art diese Einsichten immer auch sein mögen. Andererseits bedarf ihre Freiheit, so zu leben, einer Einschränkung durch die Notwendigkeit, jedermanns Freiheit, sein eigenes Leben führen zu können, zu sichern. Die Rolle des Staates besteht darin, einen Ordnungsrahmen zu sichern und aufrechtzuerhalten, in dem ein solches Leben innerhalb von Institutionen und auf der Basis von Regeln, die gerecht sind, gelebt werden kann - ein Rahmenwerk, das auf der Basis der Gründe bzw. Ursachen, die alle nach gründlichem Nachdenken als gerecht akzeptieren können, für alle vertretbar ist. Das Prinzip gleicher Würde verlangt, kurz gesagt, die Menschen als gleiche Wesen zu behandeln, indem es ihren Interessen gleiches Gewicht beimißt, wobei ihre Interessen auf eine allgemeine und sehr abstrakte Art verstanden werden. Das Prinzip besagt, daß die Interessen von jedermann in der Führung eines wertvollen, selbstbestimmten Lebens bestehen - eines Lebens, das er oder sie für gut halten würde, nachdem es kritisch eingeschätzt und mit Alternativen verglichen wurde. Dieses sehr abstrakte, aber nicht leere Prinzip läßt sich auf verschiedene Weise erläutern. Zunächst schließt es aus, daß den Menschen durch Zwang, Manipulation oder Paternalismus ein bestimmtes Leben aufgezwungen wird. Die Menschen können in die Kirche oder aus der Kirche getrieben werden und sie können von Geburt an der Gehirnwäsche unterzogen werden. Ihre Würde jedoch wird mißbraucht, wenn das religiöse oder nicht-religiöse Leben, das sie führen, nicht ihr eigenes ist. Zweitens schreibt das Prinzip die Neutralität des Staates in dem Sinn vor, daß Staatspolitik und staatliche Handlungen niemals auf der Grundlage der Annahme gerechtfertigt werden können, daß eine bestimmte Konzeption des guten Lebens von Natur aus mehr wert ist als eine andere. Dies nämlich würde bedeuten, dem Leben einiger Bürger einen größeren Wert als demjenigen anderer zuzubilligen. Der Staat darf seine Politik und seine Handlungen natürlich auch nicht auf der Grundlage rechtfertigen, daß irgendeine Konzeption des Guten oder Lebensweise von Natur aus geringer ist. Würde er so verfahren, so würde das bedeuten, daß er diese Lebensformen verächtlich macht oder degradiert. Die Neutralität fordert vom Staat oder von sonst jemandem keinen Skeptizismus oder Relativismus gegenüber moralischen Werten. Sie stellt lediglich eine Forderung oder einen Zwang für den Staat dar, keine maßgeblichen Entscheidungen zu treffen, die sich auf Rechtfertigungen gründen, welche sich auf Bewertungen der Überlegenheit und U n terlegenheit bestimmter Lebensformen berufen. Eine weitere, wichtige Anwendung des Prinzips besteht darin, daß sich der Staat nicht auf Rechtfertigungen verlassen darf, die sich auf nicht allen Bürgern zugängliche Gründe berufen, etwa religiöse Gründe, die zu einem spezifischen Glauben gehören und vielleicht für diejenigen unverständlich sind,
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welche diesen Glauben nicht teilen. Würde sich der Staat auf solche Rechtfertigungen verlassen, so wäre es nicht auszuschließen, daß diejenigen ausgegrenzt und geringer geschätzt würden, die ihre Kultur nicht einbringen können. Eine letzte Bemerkung noch zur Neutralität: Diese Forderung bezieht sich auf die Ursachen bzw. Gründe, auf deren Basis der Staat agiert und die er zur Rechtfertigung anbietet. Das Prinzip der Neutralität spricht von der Neutralität der Rechtfertigung. Es hat natürlich nichts zu tun mit dem absurden und nicht verwirklichungsfähigen Prinzip, daß Staatspolitik und staatliche Handlungen in ihren Auswirkungen neutral sein müssen und keinen einzelnen und keine Gruppe auf Kosten einer anderen beeinträchtigen dürfen. Eine dritte Konsequenz des Prinzips der gleichen Würde ist die Nichtdiskriminierung: Niemand und keine Gruppe oder Klasse von Personen darf diskriminiert werden, weil sie sind, wer sie sind, weil sie mit gewissen Merkmalen und Eigenschaften geboren wurden, oder auf eine gewisse Art und Weise leben, oder gewisse Ideen oder Ziele haben. In diesem Sinne muß das Prinzip der gleichen Würde - wie die Gerechtigkeit - blind sein gegenüber irrelevanten Unterschieden. Relevant sind einzig diejenigen Differenzen, die darüber Auskunft geben, ob universelle Prinzipien in einem bestimmten Fall anwendbar sind oder nicht. Viertens diktiert das Prinzip der gleichen Würde eine bestimmte Perspektive. Es schreibt vor, eine losgelöste oder unparteiische Perspektive einzunehmen, die von besonderen Interessen und loyalen Gesinnungen abstrahiert. Es schließt die Verpflichtung ein, keine Art der Politik und der politischen Handlung von einem besonderen Standpunkt aus zu betrachten. Positiv formuliert: sie in einer Weise zu betrachten, welche die Betroffenheit aller Beteiligten einschließt. Zu beachten ist, daß diese Forderung zu denjenigen gehört, die nicht nur dem Staat und seinen Staatsdienern auferlegt werden, sondern auch den Bürgern. Von ihnen erwartet man, daß sie die Perspektive der Unparteilichkeit in ihre Einschätzungen einbeziehen, wenn ihnen Rechtfertigungen der staatlichen Politik offeriert werden. Was wäre z. B. eine gerechte Besteuerung oder Verteidigungspolitik? Bei der Entscheidung solcher Fragen bittet der Staat die Bürger darum, diese unparteiisch zu betrachten, unter Abstraktion von den eigenen Interessen, obwohl er natürlich ebenfalls danach trachtet, letztere damit in Einklang zu bringen und zu koordinieren. Schließlich ist „gleiche Würde" in einem gewissen Sinne individualistisch, da sie Individuen als verschiedene Adressaten der Gleichbehandlung ansieht und annimmt, daß die Grundlage für diese gleiche Behandlung in der Autonomie jedes Individuums liegt - seiner oder ihrer Fähigkeit, ein wertvolles Leben auf der Basis einer individuellen kritischen Einschätzung zu führen. Inwieweit unterscheidet sich nun das, was ich - Charles Taylor folgend - als das Prinzip der Anerkennung bezeichnet habe, von der Grundidee, Menschen als Gleiche zu behandeln, indem ihren Interessen gleiches Gewicht beigemessen wird? Das Prinzip der Anerkennung ist auf einer niedrigeren Abstraktionsstufe angesiedelt. Es impliziert Parteilichkeit und insistiert auf Differenz. Hier kommt es auf die einmalige Identität eines Individuums oder einer Gemeinschaft an; auf die Identität - und dies ist in dieser Diskussion besonders relevant - eines Individuums als eines Mitglieds einer Gemeinschaft. Das Prinzip der Anerkennung stammt auch aus der Aufklärung, allerdings aus
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der Aufklärung in einem weiteren Sinne. Es ist vor allem ein Produkt der Gegenaufklärung und im besonderen der romantischen Reaktion auf die Aufklärung. In den Augen der Romantiker stand die Aufklärung für die Apologie eines abstrakten Universalismus. Ihr w u r d e eine uniforme, undifferenzierte und ethnozentrische Sicht der Menschheit unterstellt. Die Aufklärer tendierten dazu, Momente kultureller Mannigfaltigkeit einfach als darstellende Etappen auf dem Wege zu einer kosmopolitischen Zukunft anzusehen, so, wie es von Condorcet vorausgesagt worden war - ein einziges Ganzes bildend und zu einem einmaligen Ziel mit einer einzigen universellen Sprache führend. Wie Sir Isaiah Berlin deutlich gezeigt hat, haben die deutschen Romantiker als Zeitgenossen von Kant eine völlig neue Weltanschauung entwickelt: „Von aller wirklichen Macht abgeschnitten, unfähig, sich in die bürokratische Ordnung, die den traditionellen Lebensformen übergestülpt wurde, zu fügen, mit einem sehr ausgeprägten Bewußtsein der Unvereinbarkeit ihrer im wesentlichen protestantisch-christlichen, moralistischen Gesinnung mit der wissenschaftlichen Einstellung der französischen Aufklärung und verfolgt von dem kleinlichen Despotismus unzähliger Duodezfürsten, beantworten die Begabtesten und Unabhängigsten unter ihnen die Untergrabung ihrer Welt seit den Erniedrigungen ihrer Großväter durch die Armeen Ludwigs XIV. mit wachsender Empörung." 3 Die „neue Sicht des Menschen und der Gesellschaft", so schreibt Berlin, betonte „die Lebenskraft, die Bewegung und den Wandel ..., hinsichtlich derer sich Einzelne oder Gruppen eher unterschieden als glichen, den Reiz und den Wert von Mannigfaltigkeit, Einzigartigkeit und Individualität, eine Anschauung, für die die Welt ein Garten ist, in dem jeder Baum und jede Blume in der ihr eigenen Weise wächst und das verkörpert, was die Umstände und ihre eigene individuelle Natur hervortreiben, weshalb keine nach den Formen und Zielen anderer Organismen beurteilt werden darf." 4 Hier geht es nicht um die Anerkennung dessen, was alle gemein haben, sondern um Anerkennung dessen, was unterscheidend und einmalig ist. Die zuletzt genannte Forderung w i r d typischerweise von jenen erhoben, die für Opfer sprechen, oder von jenen, die sich als solche sehen, als Opfer der Aussschließung und Verunglimpfung. Aber Anerkennung durch wen? In der Geschichte bildete sehr oft die Nationalität die Grundlage der Anerkennung. Nationalisten haben gewöhnlich versucht, Nationalstaaten zu schaffen und somit Anerkennung von Seiten ihrer ehemaligen Unterdrücker oder Kolonisatoren und vom Rest der Welt durch unabhängige staatliche Macht erhalten. Manche wurden von dieser Tatsache so tief beeindruckt, daß sie den Nationalismus nachgerade als Forderung nach einem souveränen Staat definierten. Die Forderung nach Anerkennung kann jedoch auch andere Formen annehmen, sogar unter den Nationalisten. Sie besteht wesentlich in dem Anspruch, daß diejenigen, die ausgeschlossen und
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Isaiah Berlin, „Nationalism. Past Neglect and Present Power", in: ders., Against the Current. Essays in the History of Ideas, London 1979 (dt.: „Der Nationalismus", in: Wider das Geläufige. Aufsätze zur Ideengeschichte, übers, v o n Johannes Fritsche, Frankfurt/M. 1994, 4 6 7 - 4 9 4 , hier 486f.). Ebd., 486.
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verunglimpft wurden, ernst genommen und von denjenigen als Gleichberechtigte behandelt werden sollten, durch die sie ausgeschlossen und verunglimpft wurden. In den letzten Jahrzehnten sind derartige Ansprüche zunehmend innerhalb von Nationalstaaten gestellt worden, und so wird die Forderung zu einer Forderung an den Staat, die Ansprüche der Ausgeschlossenen anzuerkennen. Aber was ist der Staat aufgerufen anzuerkennen? Nicht, wie beim Prinzip der gleichen Würde, das geteilte individuelle Vermögen jedes der Ausgeschlossenen, ein autonomes Leben zu führen, sondern ihre gemeinschaftliche, kollektive Identität. Dieser sehr oft verwendete und sehr oft mißbräuchlich verwendete Begriff bezeichnet etwas unersetzlich Wichtiges und Unangreifbares: die Art des Lebens, die für eine besondere Gruppe oder Kategorie von Personen charakteristisch ist; der Begriff der kollektiven Identität bezeichnet einen Aspekt der Lebensführung, ohne den das Leben der betroffenen Personen weniger Wert hätte. Auf diese Weise beanspruchen kulturelle und subkulturelle Gruppen Anerkennung und beziehen sich auf ihre kulturelle Identität, ihre kulturellen Traditionen und Sitten, wie auch Feministinnen auf Lebensweisen und Beziehungsmuster Bezug nehmen, die unterdrückt worden sind und in patriarchalischen, männlich dominierten Gesellschaften nicht verfügbar waren. Kurz, das Prinzip der Anerkennung schreibt die Behandlung der Menschen als gleicher Wesen vor, wobei ihren Interessen gleiches Gewicht zuerkannt wird. Ihre Interessen werden dabei im Sinn ihrer je partikularen Lebensführung verstanden, welche sie mit jenen teilen, die die gleiche Identität besitzen. Aus dem Prinzip der Anerkennung lassen sich verschiedene Schlüsse ziehen, die denjenigen, die aus dem Prinzip der gleichen Würde folgten, gegenübergestellt werden können. Wie das Prinzip der gleichen Würde ist auch das Prinzip der Anerkennung der Manipulation und dem Paternalismus feindlich gesonnen. Aber nicht deshalb, weil solche Machtformen die Autonomie vermindern, sondern vielmehr, weil sie die Authentizität vergessen und unterdrücken: Authentizität verstehe ich hier im Sinn des genuinen Ausdrucks besonderer Werte. Zweitens, steht das Prinzip der Anerkennung dem Anspruch auf die Neutralität von Rechtfertigungen direkt und eindeutig feindlich gegenüber. Diese Feindseligkeit findet sich gegenwärtig vor allem in drei Versionen: Derpartikularistischen Version zufolge besteht der Fehler des Neutralitätsanspruchs in dessen wurzellosem Kosmopolitismus; in dieser Perspektive gelten Liberalismus (und in früheren Zeiten Marxismus-Leninismus) als fremde, farblose Zwänge, denen eine Verbindung mit dem je besonderen Leben, mit konkreten Traditionen fehlt. Als zweite Version ist die skeptische relativistische Position zu nennen, derzufolge Neutralität gar nicht möglich ist. Denn alle Gründe für Handlungen des Staates sind bereits intern mit divergierenden moralischen und politischen Standpunkten, deren Unterschiede radikaler Natur sind, verbunden. Die dritte Version ist die hegemonistische Version, nach der es sich bei den Ansprüchen der meisten liberalen Staaten auf neutrale Rechtfertigung immer um unberechtigte, verstellte Formen von Beherrschung handelt, die eine bestimmte Lebensweise favorisieren, während sie zugleich einen Universalismus heucheln, der für die Unterschiede blind ist. Als dritte Konsequenz aus dem Prinzip der Anerkennung ergibt sich die Auffassung, daß eine Praxis der Nichtdiskriminierung prinzipiell nicht realisiert werden kann.
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Diskriminierungserfahrungen reichen teilweise so tief, daß sie kaum kompensiert werden können. Formale Chancengleichheit und Antidiskriminierungsgesetze können die Quellen der ungerechten Behandlung, auf die das Prinzip der Anerkennung reagiert, nicht adäquat behandeln. Der Begriff der Diskriminierung ist zu farblos, um die unzähligen Erniedrigungen, die durch die Arroganz und Unachtsamkeit der kulturell Mächtigen und Bevorzugten hervorgerufen werden, um die Verunglimpfung und die Minderwertigkeitsgefühle, welche die beleidigten Opfer erfahren, zu beschreiben. Die Befürworter des Prinzips der Anerkennung schlagen jedoch manchmal spezielle Maßnahmen der Diskriminierung vor, um die Interessen einzelner Gruppen zu schützen. Sie verteidigen spezielle Gesetze und spezielle Interpretationen der bestehenden Gesetze, um eine besondere Gemeinschaft oder auch Gemeinschaften für eine spezielle Behandlung auszusondern, damit diese ihre Unverwechselbarkeit entwickeln und bewahren. Als Beipiel mag man an die von Charles Taylor angeführte Debatte in Kanada denken, in der es um die Frage ging, ob die Bewohner der Provinz Quebec innerhalb Kanadas eine „eigene Gesellschaft" bilden. Natürlich können die Verteidiger der gleichen Würde auch „affirmative action" 5 und positive Diskriminierung favorisieren und sogar besondere Gesetze und die Beschränkung der Rechte anderer akzeptieren, um besondere Kontexte kultureller Mitgliedschaft zu bewahren. Aber all dies tun sie, um Ungerechtigkeiten der Vergangenheit zu korrigieren und um gleiche Bedingungen der Autonomie zu schaffen. Die Anhänger der Anerkennung sind auf etwas anderes aus: Sie wollen, daß der Staat Blüte und Überleben besonderer Lebensformen unterstützt und wegen des ihnen eigenen Wertes fördert. Viertens verhält sich das Prinzip der Anerkennung aus den bereits angedeuteten Gründen skeptisch gegenüber Abstraktion und Unparteilichkeit. Das ist kaum überraschend, denn sein eigentlicher Grund ist ja die Forderung nach einer Unterstützung genau der Parteilichkeit, der die differenzblinde Abstraktion feindlich gegenübersteht. Schließlich ist das Prinzip der Anerkennung nicht in dem gleichen Sinn individualistisch, in dem es das Prinzip der gleichen Würde ist. Ersteres nämlich behandelt Individuen als Mitglieder von Gemeinschaften und betrachtet sie als Träger kollektiver Eigenschaften. Und hier liegt vielleicht der Punkt, an dem sich die beiden Prinzipien am deutlichsten unterscheiden: Dem Prinzip der Anerkennung zufolge sind Individuen auf eine besondere Weise (als Mitglieder ihrer Gruppe) identifizierbar. Dem Prinzip der gleichen Würde gemäß werden sie nicht als auf eine besondere Weise identifizierbar betrachtet und deshalb lassen sie sich offensichtlich in beliebiger Form identifizieren. 6
5 Mit dem Begriff der affirmative action bezeichnet man in den Vereinigten Staaten gesetzliche Maßnahmen zur dezidierten Bevorzugung benachteiligter Bevölkerungsgruppen wie Schwarze, Frauen usw. (Anm. d. Ubers.) 6 An dieser Stelle weist der Autor mit Hilfe eines so nicht ins Deutsche übertragbaren Satzes darauf hin, daß auf der Grundlage des Prinzips der gleichen Würde sinnvoll eigentlich gar nicht von „Identität" bzw. „Identifizierbarkeit" geredet werden kann. Im Originaltext heißt es: „... the equal dignity principle regards individuals as identified in no particular way and therefore as potentially any of the following: identifiers, non-identifiers, ex-identifiers, trans-identifiers, multi-identifiers or antiidentifiers." (Anm. d. Ubers.)
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2. Geschichte Nachdem ich die philosophischen Linien nachgezeichnet (vielleicht überzeichnet) habe, die deutlich machen sollten, was diese beiden Prinzipien mit sich bringen und nach sich ziehen, möchte ich nun einige skizzenhafte Bemerkungen zur Geschichte machen. Ich unterstelle, daß die Geschichte des Westens seit der Aufklärung ein langer Kampf zwischen diesen beiden Prinzipien gewesen ist und das Prinzip der gleichen Würde bislang weitgehend die Oberhand behalten hat. Ich meine natürlich nicht, die Geschichte des Westens sei eine wunderbare Geschichte der Whigs gewesen, eine Geschichte des ununterbrochenen Fortschritts in Richtung „gleicher Würde" und der Unterdrückung des Partikularismus, sondern ich denke, daß die Politik der gleichen Würde sich über weite Strecken gegen die Politik der Anerkennung durchgesetzt hat, sofern man sie beide als normative Prinzipien betrachtet, welche die konstitutionelle und normale Politik in unseren Gesellschaften führen und begrenzen. Wo immer konstitutionelle Demokratien errichtet wurden und einigermaßen gut funktionierten, wurden sie durch die Politik der gleichen Würde beherrscht. Mehr noch: Die Politik der gleichen Würde hat mit ihrem Eintreten für die Universalisierung des Wahlrechts und die Erweiterung der bürgerlichen und politischen Rechte kraftvollen egalitären Druck erzeugt und sich dynamisch über die Zeit hinweg entwickelt. Das auffälligste Beispiel einer solchen Dynamik ist die Geschichte der Gesetzgebung in den USA, wie sie sich nach dem Fall Brown versus the board of education im Jahre 1954 entwickelte. Als erstes wurden die Rassentrennungsgesetze in den 50er Jahren beseitigt, danach wurden die Gesetze über die bürgerlichen Rechte und Wahlrechte in den 60er Jahren verabschiedet, schließlich verfolgte man in den 70er Jahren verschiedene Bildungsprogramme und solche der „affirmative action", die weitere Maßnahmen zur Unterstützung anderer benachteiligter Gruppen - Puertoricaner, Frauen und Behinderte - nach sich zogen. Und tatsächlich hatte diese US-amerikanische Gesetzgebung eine beträchtliche, weltweite Auswirkung und lieferte das Modell für verschiedene internationale Abkommen. Indessen hat, wie das letzte Beispiel zeigt, diese, zunächst auf der Ebene der konstitutionellen Politik operierende, egalitäre Dynamik weite Bereiche der normalen Politik durchdrungen. T. H. Marshalls bekannte These von der schrittweisen Ausweitung der Bürgerrechte von bürgerlichen auf politische, ökonomische und soziale Rechte, kann zwar in verschiedener Hinsicht kritisiert werden, 7 aber obwohl diese Ausweitung sich in den meisten Ländern sicherlich nicht als eine ungestörte Entwicklung vollzogen hat, bringen die Überlegungen Marshalls eine grundsätzliche Wahrheit zum Ausdruck. Ich würde tatsächlich so weit gehen und sagen, daß die grundsätzliche Tagesordnung der normalen Politik innerhalb des Spektrums der meisten westlichen Demokratien durch die Politik der gleichen Würde strukturiert worden ist. Deren Substanz hat zum großen Teil aus den Verteilungskämpfen im Kontext des Kapitalismus bestanden. Auf der
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Vgl. T. H. Marshall, Citizenship and Social Class, mit einem Essay v o n T. B o t t o m o r e , L o n d o n 1992.
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Begründungsebene jedoch lautete die Frage: In w e l c h e m A u s m a ß und auf welche Weise sollte der Staat intervenieren, u m für alle seine Bürger gleiche Gerechtigkeit zu sichern? Genau diese Frage hat das „Links-Rechts-Gemenge" der demokratischen Politik untermauert, an das w i r uns seit Beginn des letzten Jahrhunderts g e w ö h n t haben. Die L i n k e hat die angeführte Frage immer in einem progressiven interventionistischen Geist beantwortet; Fortschritt w u r d e dabei verstanden als Erweiterung des U m f a n g s u n d Bereichs einer differenzblinden Gleichbehandlung. Natürlich hat die L i n k e i m m e r aus verschiedenen G r u p p i e r u n g e n bestanden - die mehr libertinären oder anarchischen Varianten sind mißtrauisch oder feindlich gegenüber dem Staat geblieben und glauben, daß eine größere Gleichheit nur „von unten" k o m m e n kann. U n d natürlich hat die marxistische L i n k e immer proklamiert - mitunter nur rhetorisch - , daß sich die eigentliche Frage nach der gleichen Gerechtigkeit in einer zukünftigen Welt des Uberflusses, w i r k l i c h gemeinschaftlicher Beziehungen und vollkommener Rationalität, in einer Welt, in der alle gleich frei sein werden, als obsolet erweisen w ü r d e . Historisch betrachtet, hat jedoch die L i n k e - zuerst die liberale und radikale Linke, dann die sozialistische und sozialdemokratische Linke - die Vorreiterrolle bei der Durchsetzung der egalitären D y n a m i k in der normalen Politik der westlichen Demokratien übernommen. Die Rechte hat das Prinzip der gleichen W ü r d e größtenteils nicht abgelehnt, sondern sich vielmehr f ü r dessen w e n i g e r extensive Verwirklichung eingesetzt. D a f ü r gab es gleich mehrere G r ü n d e : ö k o n o m i s c h e Ü b e r z e u g u n g e n , Klasseninteressen, politische oder religiöse Ideologien und gewöhnlich die Auffassung, daß die politischen M a ß n a h m e n der Linken ohnehin nur zu neuen und größeren Ungleichheiten führen w ü r d e n . Verschiedene Richtungen der Rechten haben die christlich-demokratischen den sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten vorgezogen, marktwirtschaftliche gegenüber planwirtschaftlichen M o d e l l e n privilegiert und eine private statt einer öffentlichen Gesundheitsfürsorge empfohlen. Insgesamt haben sie dem Begriff der Chancengleichheit eher eine enge und formale Interpretation als eine weite und essentialistische Deutung gegeben. F ü r die Rechte m u ß der A n s p r u c h des Prinzips der gleichen W ü r d e darin gesehen w e r d e n , einem H i n t e r g r u n d permanenter sozialer und ökonomischer Ungleichheiten entgegenz u w i r k e n , die aber letztlich als uneliminierbar, natürlich oder gar gerechtfertigt angesehen werden, wohingegen die Linke diesen Hintergrund als ihren eigentlichen Kampfplatz begreift oder - u m es eschatologisch ausdrücken - als genau den Ort, an d e m das neue J e r u s a l e m erbaut w e r d e n soll. D i e Politik der A n e r k e n n u n g hat diese Art der normalen Politik, ob links oder rechts, i m m e r herausgefordert. Sei es außenpolitisch in Form von Kämpfen u m die nationale U n a b h ä n g i g k e i t , sei es innenpolitisch in F o r m von nationalen, regionalen und religiösen B e w e g u n g e n . Politiker und Parteien der Linken und Rechten haben auf diese Herausforderung reagiert, indem sie danach getrachtet haben, sie sich anzugleichen u n d sie zu domestizieren. Die Forderungen nach A n e r k e n n u n g haben sie als F o r m e n oder M i t tel einer differenzblinden Politik der gleichen individuellen Rechte interpretiert. So hat m a n nationale U n a b h ä n g i g k e i t s b e w e g u n g e n unterstützt und mit ihnen schließlich auch Verhandlungen geführt; unter der optimistischen A n n a h m e freilich, man könne Staaten schaffen, in denen eine differenzblinde Politik aufblühen w ü r d e . Bis z u m Zweiten Weltkrieg unterstützten viele Liberale den internationalen Schutz der Minderheitenrechte,
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um einen gerechten und stabilen Hintergrund für die Garantie der individuellen R e c h t e zu sichern. In der Innenpolitik wurden partikularistische Forderungen von I m m i g r a n ten und anderen als Forderungen nach Geldmitteln behandelt und angenommen, daß die Integration der Ausgeschlossenen in das Verteilungssystem zu einer S c h w ä c h u n g ihres Partikularismus führen würde. Diese Strategie der Anpassung hat sich an vielen O r t e n als besonders erfolgreich erwiesen, was die interessante Frage aufwirft, ob und in welchem Ausmaß partikularistische oder sogar separatistische Forderungen als sichere Mittel gelten können, welche den sozialen und politischen Einschluß z. B . von I m m i granten sichern. D i e marxistische Tradition ging sogar noch weiter, indem sie nationalistische, ethnische und religiöse Forderungen zu epiphänomenalen Erzeugnissen der Klassengesellschaft degradierte, die für eine Mobilisierung zum Klassenkampf gebraucht werden konnten, aber dazu bestimmt waren, sofort zu verschwinden, sobald dieser gewonnen sein würde. D i e Welt verändert sich ständig. D i e Herausforderung, welche die Politik der A n e r kennung darstellt, wächst, während die Möglichkeiten, sich ihr zu widersetzen, sich verringern. Ich habe hier nicht allgemein den in allen Teilen der Welt grassierenden Nationalismus im Auge, sondern denke vor allem an seine Ausbreitung in den R u i n e n der ehemaligen Sowjetunion. D i e optimistische Lösung des alten V ö l k e r b u n d e s scheint mir aus vielen G r ü n d e n hoffnungslos unangemessen zu sein: denken wir nur an das A u s m a ß und die Geschwindigkeit des Zusammenbruchs des sozialistischen Staatenbundes, an das Fehlen einheimischer, demokratischer und liberaler Traditionen und v o r allem an die flickwerkhafte Verteilung verschiedener Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Nationalität. Fast jeder der in den letzten Jahren geforderten Nationalstaaten, wie im übrigen auch einige der bereits aufgebauten, trägt die K e i m e zu einigen oder vielleicht auch vielen anderen Nationalstaaten in sich. Angesichts der i m m e r n o c h verbreiteten ethnischen Säuberungen kann man der Politik der gleichen W ü r d e nur schwerlich eine rosige Z u k u n f t prognostizieren. In konstitutionellen Demokratien westlicher Prägung besteht dieses Problem j etzt ebenfalls. H i e r existiert es in einer anderen - widersprüchlichen - F o r m . Masseneinwanderungen, Wirtschaftsmobilität und professioneller Austausch haben unsere Gesellschaften heterogener und polyglotter gemacht - sie stellen eine Mischung verschiedener Sprachen, Eßgewohnheiten und Bräuche dar. Wir neigen dazu, diese Entwicklungen in einer O p t i k zu betrachten, die selbst bereits von politischen und sozialen Vorgängen geprägt ist. D i e Differenzen werden sehr oft als dasjenige angesehen, was zwischen den national, ethnisch oder rassisch definierten Gemeinschaften steht. Diese O p t i k impliziert, daß Kulturen „Ganzheiten" sind, die eine interne Kohärenz besitzen und sich voneinander unterscheiden, ja sogar miteinander unvereinbar sind. Viele Akteure haben sich bei der F o r m u n g dieses Bildes in die Hände gearbeitet: imperialistische Politiker, Ideologen, Schriftsteller, offizielle Repräsentanten der Gastländer, Nationalisten, Immigranten, Populisten, Intellektuelle und sogar Sozialanthropologen, die daran interessiert waren, verschiedene K u l turen als einheitliche und „reine" O b j e k t e untersuchen zu können. D e r Gedanke, daß Kulturen eher als „Ganzheiten" zu begreifen sind und nicht als bloße Ansammlungen heterogener Elemente unterschiedlicher Herkunft, ist ein schlagendes Beispiel für eine Komplexitätsreduktion mit den Mitteln mythischen Denkens.
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Eine O p t i k dieser A r t hat das Wiederaufleben der Politik der A n e r k e n n u n g , w i e w i r es in liberalen Demokratien - vor allem in den Vereinigten Staaten - erleben können, begünstigt. Diese Politik w i r d als eine wirkungsvolle, bewegliche Strategie angesehen, insbesondere dort, w o bestehende Minderheiten oder Immigranten unterschiedlicher H e r k u n f t geographisch konzentriert sind und eine kritische Masse bilden. D i e Politik der A n e r k e n n u n g profitiert auch von den Schwächen, die der vorherrschende liberale Konsens angesichts solcher Herausforderungen aufweist. Diese Schwächen haben verschiedene Ursachen. Mitunter stimmen Politiker u n d Verwalter des Bildungssystems mit den Apologeten der A n e r k e n n u n g halbherzig darin überein, daß sich die alte universalistische und differenzblinde Politik der individuellen Rechte als unzulänglich erweist, w e n n sie mit der Forderung konfrontiert w i r d , den Benachteiligten und kulturell Ausgeschlossenen Gerechtigkeit w i d e r f a h r e n zu lassen. Einige argumentieren, daß redistributive oder sozialdemokratische Lösungen u n w i r k sam und erschöpft sind, so daß es an der Zeit sei, sich u m regionale Lösungen zu k ü m mern. M a n c h m a l , w i e an einigen amerikanischen Universitäten, ist die Verwaltung den gut organisierten Kampagnen der Verteidiger politischer Korrektheit unterlegen. Es gibt aber noch eine weitere, tiefere und eher theoretische Quelle der angeführten Schwäche: es handelt sich u m die zur Zeit vorherrschende S t i m m u n g und intellektuelle M o d e des postfundamentalistischen, postmodernen Relativismus und A n t i - R a t i o n a l i s mus. Der Postmodernismus verstärkt lediglich eine der Ideologie des Liberalismus inn e w o h n e n d e Tendenz; Robert Frost hat diese einmal mit der scharfsinnigen Bemerk u n g auf den P u n k t gebracht: ein L i b e r a l e r k ö n n e in keiner D i s k u s s i o n P o s i t i o n beziehen. Kurz, die U n g l e i c h g e w i c h t e im Kampf des Prinzips der A n e r k e n n u n g mit d e m der gleichen W ü r d e scheinen sich verschoben zu haben. Die Politik der A n e r k e n n u n g ist i m Kontext der Staatspolitik hartnäckiger und weniger empfänglich für die Strategien der A n p a s s u n g geworden, die die konstitutionelle Demokratie u n d die liberale und soziale D e m o k r a t i e in der Vergangenheit angewandt haben. Im folgenden und letzten Abschnitt möchte ich in soziologischer Perspektive fragen, unter welchen B e d i n g u n gen sich verschiedene Ergebnisse der Auseinandersetzung zwischen A n e r k e n n u n g s prinzip und W ü r d e p r i n z i p erwarten lassen.
3. Soziologie M e i n bisheriges A r g u m e n t hat auf die beiden historisch bedeutsamen Interpretationen a u f m e r k s a m gemacht, die die grundlegende Idee der Gleichbehandlung aller Menschen erhalten hat: die Politik der gleichen W ü r d e und die Politik der A n e r k e n n u n g . Beide Varianten sind z w a r aus der gleichen Wurzel hervorgegangen, aber zumeist im N ä h r boden und unter den klimatischen Bedingungen konstitutioneller Demokratien, durch die das Prinzip der gleichen W ü r d e begünstigt w u r d e . Ich habe allerdings auch angedeutet, daß sich die Dinge verändert haben und die in solchen Demokratien vorherrschenden Bedingungen f ü r die D o m i n a n z des W ü r d e p r i n z i p s mittlerweile nicht mehr überall so günstig sind. Welche Bedingungen begünstigen es, welche nicht?
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D i e Politik der gleichen W ü r d e herrscht, historisch gesehen, in ihrer reinsten und umfassendsten F o r m in den durch ethnische Vielfalt geprägten I m m i g r a n t e n - G e s e l l schaften vor, in denen das Festhalten der Immigranten an ihrer jeweiligen kulturellen Identität durch die starke Motivation neutralisiert wurde, in den zentralen Institutionen des Gastlandes zu Erfolg zu gelangen. A u ß e r d e m wurden - zumindest in den Vereinigten Staaten - die verschiedenen Gruppen nicht als ewig bestehende, unterschiedliche Bestandteile einer föderalistischen Gesellschaft angesehen, sondern eher als Gruppen, die sich sich im Idealfall in eine gemeinsame Gesellschaft integrieren und schließlich assimilieren würden. D i e Identität, welche die Immigranten mitgebracht und bewahrt hatten, wurde immer nur als ein Teilaspekt begriffen. M a n griff zwar auf sie als Q u e l l e der K u l t u r zurück, und sie wurde zuweilen als Mittel für eine bestimmte Politik eingesetzt, aber niemals oder nur sehr selten hat man diese Identität im Sinne eines primären und lebenswichtigen Interesses verstanden. D i e Kulturen der Immigranten galten als durchdringbar und wurden selten als Basis für Ansprüche auf A n e r k e n n u n g genutzt. D e r E r f o l g des „ B l a c k - M o v e m e n t " hat - zumindest auf der E b e n e der konstitutionellen R e c h t e und der Vertretung in professionellen Bereichen - bei der A n w e n d u n g der Politik der W ü r d e zu einem paradoxen Ergebnis geführt: Kollektive Identitäten bilden nun eine einflußreiche politische Ressource, und sie sind zu einer Q u e l l e des politischen D r u c k e s auf den Staat, auf bildungspolitische und professionelle K ö r p e r schaften geworden. In welchem Ausmaß dieser Wandel dazu beigetragen hat, daß in den Vereinigten Staaten das P r o b l e m der Gerechtigkeit nun auch in bezug auf die B e lange ethnischer oder kultureller Gruppen und nicht mehr allein auf der E b e n e individueller R e c h t e diskutiert wird, scheint mir eine offene und interessante Frage zu sein. E i n ähnliches, aber deutlich anderes Modell wird durch die E n t w i c k l u n g in Kanada nahegelegt. D i e Situation in Kanada ist die einer föderativen Immigrantengesellschaft, in der die B e w o h n e r einer bestimmten R e g i o n ( Q u e b e c ) nach A n e r k e n n u n g ihrer spezifischen K u l t u r streben und ein kollektives R e c h t auf U b e r l e b e n für sich in A n s p r u c h nehmen. O b w o h l viele Kanadier sich am Vorbild der Vereinigten Staaten orientiert und für die traditionelle Variante ausgesprochen haben, die von den Unterschieden einzelner kultureller Gruppen absieht, mögen vielleicht die Bedingungen für jene Regelung vorhanden sein, die Charles Taylor befürwortet hat. 8 E r hat die Verbindung einer k o n stitutionellen Politik zum Schutz der Grundrechte mit einer A u f l o c k e r u n g h o m o g e n e r Behandlungsweisen begrüßt. I m Interesse des kulturellen „ Ü b e r l e b e n s " wurden beispielsweise in der Provinz Q u e b e c Gesetze verabschiedet, die es französischsprechenden E i n w o h n e r n und Immigranten verbieten, ihre Kinder in englischsprachige Schulen zu schicken. Andere Gesetze trafen Regelungen in bezug auf den G e b r a u c h des F r a n zösischen als Geschäftssprache. Insbesondere mit B l i c k auf das zuerst genannte G e s e t z scheint sich mir ein P r o b l e m prinzipieller N a t u r zu ergeben. Gesteht man zu, daß das Prinzip der Anerkennung auch im K o n t e x t der Bildungs- und Erziehungspolitik zu berücksichtigen ist, gerät man auf der Grundlage des Prinzips der gleichen W ü r d e in Schwierigkeiten. D i e Einschränkungen, die das genannte Gesetz den f r a n k o p h o n e n
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Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, a. a. O., 43ff.
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Einwohnern und Immigranten im Namen derer kollektiven Identität auferlegt, stellen für die Verteidiger des Prinzips der gleichen Würde ja gerade das Problem dar. Ein drittes Modell findet sich in den meisten konstitutionellen Demokratien, die zugleich auch Nationalstaaten sind. Die Kultur der Mehrheit prägt und dominiert alle privaten und öffentlichen Einrichtungen. Hier ist die Politik der gleichen Würde die offizielle Lehre, die den Hintergrund für das Rechtssystem und auch die Praxis sowohl konstitutioneller als auch normaler Politik abgibt. Der Staat unterstützt die dominante Kultur, deren Sprache, Geschichte und deren Bräuche. Das beste Beispiel mag Frankreich sein, wo Franzosentum und Republikanismus als identisch gelten. Weniger reine Varianten gibt es in solchen Ländern wie England (mit Schottland und Wales) oder, in ausgeprägterer Form, in Spanien, die auffällige nationale Komponenten enthalten. In allen diesen Fällen sind die potentiellen Forderungen einer Politik der Anerkennung bis jetzt mit Erfolg durch die weitverbreitete Akzeptanz einer hegemonistischen Identität entschärft worden. Diese wurde von fast allen Bürgern trotz regionaler und lokaler Unterschiede akzeptiert - außer freilich von den sprachlichen Minderheiten. Multinationale und binationale Staaten stellen selbstverständlich die schwierigsten Fälle dar. Ich bezweifle, daß einheitliche Nationalstaaten und deren Verfassungen ein Modell für multinationale Staaten abgeben können. Staaten, in denen ganz verschiedene Nationen gleichberechtigt nebeneinander existieren und keine dominiert, sind mit den Grundlagen einer unterschiedsblinden konstitutionellen Demokratie unverträglich. Die tragische Geschichte des ehemaligen Jugoslawien nährt hierbei gewiß ein beträchtliches Maß an Skepsis. Binationale Staaten, Staaten also, in denen zwei unterschiedliche Nationalitäten in einem einheitlichen politischen Rahmen vereint werden, stellen möglicherweise einen wirklich harten Fall für die Frage nach der Vereinbarkeit der Politik der gleichen Würde mit der Politik der Anerkennung dar. Man könnte zwar die Schweizer Lösung - eine Bundesgenossenschaft mit unterschiedlichen Kantonen - für ein geeignetes Modell halten, aber es ist zweifelhaft, ob dieses Modell verallgemeinerungsfähig ist. In anderen Fällen - Malaysia, Fidschi, Belgien, Zypern und natürlich Israel - muß der Erfolg des Versuchs, die Politik der gleichen Würde angesichts der Forderungen nach Anerkennung aufrechtzuerhalten, ganz unterschiedlich bewertet werden. Aber ich sehe nicht, wie diese Politik aufrechterhalten und erweitert werden kann, wenn nicht alle Langzeitbewohner eines Staates sämtliche Bürgerrechte erhalten. Fehlen solche Rechte, müssen die Forderungen nach Anerkennung wachsen, was die eigentlichen Prinzipien sowohl der konstitutionellen als auch der normalen demokratischen Politik, gefährdet. Ich habe meine Überlegungen mit der Frage begonnen: In welchem Ausmaß ist die Politik der gleichen Würde mit der Politik der Anerkennung vereinbar? Diese Frage kann nicht in einer abstrakten F o r m beantwortet werden. Verschiedene Bedingungen erlauben verschiedene Möglichkeiten zur Kombinationen dieser entgegengesetzten Prinzipien. Diese Bedingungen können sich aus verschiedenen Gründen auf verschiedene Weise ändern.
Aus dem Englischen von Ursula Scheller (Dresden) in Verbindung mit den
Herausgebern.
Dick Howard
Zwischen Recht und Gerechtigkeit Politik der Urteilskraft versus Antipolitik
Mein Hauptthema, Recht und Gerechtigkeit, deutet an, daß der Ort der Politik zwischen einem abstrakt oder formell geregelten Verhalten und einer konkreten oder normativen Gerechtigkeit liegt. Bedeutet das aber, die Politik sei nur von der doxa, der Meinung, geleitet? Heißt das, daß ein von Regeln geleitetes Handeln in der Politik entweder unerwünscht oder unmöglich ist (weil die Anderen die Regeln nicht kennen, bzw. nicht anerkennen), und eine verwirklichte Gerechtigkeit in der Politik auch unmöglich und unerwünscht ist (weil das Beste der Feind des Besseren ist)? Wenn die Politik zwischen diesen beiden Polen schwankt, wenn sie die Formalität des Rechts nicht vermeiden darf und die Suche nach der Gerechtigkeit nicht aufgeben kann, dann besteht die Gefahr, daß die Politik nach dem einen oder dem anderen dieser Pole - die die Bedingung ihrer Möglichkeit herstellen - entgleitet. Die andere Möglichkeit wäre, wie bei Marx, die Politik als den Versuch zu interpretieren, die Antinomie zwischen Recht und Gerechtigkeit aufzuheben. Diese Aufhebung könnte durch eine Synthese erfolgen, die das „revolutionäre" Wesen der Politik ausmacht. Um diesen beiden Mißverständnissen des Politischen vorzubeugen, braucht man eine Begrifflichkeit, die seiner Eigenart gewachsen ist. Eine solche Begrifflichkeit, meine ich, kann man aus der Analyse der reflektierenden Urteilskraft in Kants Kritik der Urteilskraft entwickeln. Eine Umdeutung des Politischen scheint mir nach 1989 notwendig. Der scheinbare Sieg des Liberalismus (bzw. des liberalen Kapitalismus) hat die Politik sowie die Urteilskraft ihres Wertes und ihrer Autonomie beraubt. Das Ökonomische hat das Politische im Osten wie im Westen ersetzt, so, wie die Kalküle der instrumenteilen Vernunft die Urteilskraft unnötig gemacht haben. Die Notwendigkeiten des Marktes haben der Freiheit, die für die Politik, wie auch für die Urteilskraft wesentlich ist, ihren Platz genommen. Die Demokratie wird mit dem Liberalismus oder dem Pluralismus einer Marktgesellschaft gleichgesetzt; Freiheit bedeutet dann nur: private Rechte ohne öffentliche Verantwortung. Daraus resultiert ein Rückzug auf den Individualismus: im besten Fall begegnet man einem empörten Moralismus, im schlechtesten einer hedonistischen Suche nach vereinzelter Zufriedenheit. In anderen Fällen bemerkt man eine Flucht vor dem Selbst: im besten Fall das Wiederaufkommen eines Populismus, im schlechtesten eines atavistischen Tribalismus. Solche Reaktionen können als Ersatz einer fehlenden politischen Sphäre aufgefaßt werden; sie beschreiben eine Politik, die sich auf den Willen begründet. Keine dieser Reaktionen ist imstande, dem siegreichen
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I n d i v i d u u m die soziale Solidarität, den Sinn eines gemeinsamen Projektes anzubieten. Das aber bleibt letztendlich die Sache der Politik. Deswegen verwechseln diese R e a k tionen die A u t o n o m i e mit der Verantwortlichkeit, die zugleich Voraussetzung der U r teilskraft w i e der v o m Liberalismus nicht angebotenen Solidarität ausmacht. In diesem „post-revolutionären" Kontext versuche ich, die N o t w e n d i g k e i t s o w i e die Struktur einer Politik der Urteilskraft darzustellen. Ich beginne mit der Frage der „Revolution" selbst. Die Französische Revolution markiert die Entstehung des modernen I n d i v i d u u m s und der Möglichkeit einer demokratischen Politik. Die politischen Irrtümer der Französischen Revolution zeigen aber zugleich die Schwierigkeiten einer Politik, die sich auf den Willen gründet (1). Das führt mich zu Marxens Vorstellung von der Revolution als der philosophischen und auch politischen A u f h e b u n g der gegensätzlichen Politik des Willens, der w i r in der Französischen Revolution begegnen (2). A b e r die Dilemmata eines demokratischen Liberalismus bleiben und machen es nötig, das Phänomen des Totalitarismus als das Wesen der A n t i - P o l i t i k ernstzunehmen (3). N u r w e n n w i r die immanente L o g i k des Totalitarismus als Versuch, die A n t i n o m i e n der D e m o k r a t i e aufzuheben, verstanden haben, sind w i r dazu in der Lage, die Politik des Willens durch eine Politik der Urteilskraft zu ersetzen. Erst auf dieser Basis können w i r endlich die Verantwortlichkeit, die eine soziale Solidarität möglich macht, beschreiben und die Einbahnstraßen sowie die Sackgassen einer Politik des Willens vermeiden. Dann erreichen w i r endlich die Begrifflichkeit, die dem Politischen angemessen ist (4).
1. Die Französische Revolution: Wille und Demokratie Zwei Willen w u r d e n 1789 befreit; und sie mußten aufeinander prallen. Der Tiers Etat, das „Nichts, das Alles sein kann", w u r d e mit dem „Volk", dessen Willen man als „volonté générale" deutete, gleichgesetzt. Das souveräne Volk w u r d e demnach als „volonté Constituante" verstanden, vor deren Allgemeinheit nichts Besonderes als legitim gelten dürfte. Auf der anderen Seite, als in der Nacht z u m 4. A u g u s t die feudale O r d n u n g abgeschafft w u r d e , erschien ein zweiter Wille, dessen Heiligkeit in der Menschenrechtserklärung abgesegnet w u r d e . In der Präambel der Menschenrechtserklärung w i r d darauf bestanden, die Rechte des Individuums seien „natürliche Rechte, unveräußerlich und heilig"; im ersten A b s a t z w i r d erklärt, daß „die Menschen ... frei geboren (sind) und ... frei und gleichberechtigt" bleiben, w ä h r e n d im zweiten hinzugefügt w i r d , daß „das Ziel jeder politischen Einrichtung die Bewahrung der natürlichen und unbeschränkten Menschenrechte" ist. Ja, der Text der Menschenrechtserklärung ging soweit, die politische A n a l y s e vorzuschlagen, daß ,die Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte ... die einzige Ursache des öffentlichen U n g l ü c k s u n d der Korruption der R e g i e r u n g ' seien. Leider - w i e w i r wissen - versuchten die „Assemblée Constituante" u n d ihre Nachfolger die „volonté générale" zu verwirklichen, und sei es auf Kosten der Rechte des Individuums, die doch auch die Voraussetzung ihrer eigenen Tätigkeit w a r e n . Die Revolution w a r beendet, als Bonaparte N a p o l é o n w u r d e ; aber das Empire w a r keine Restauration, denn der Code Civil, den man auch „ C o d e N a p o l é o n " nannte, seg-
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nete die Rechte des Individuums, die aus der Überwindung der feudalen Ordnung entstanden waren, ab. Als die Restauration kam, hat sie diese Rechte nicht ganz abgeschafft; und deren Verwirklichung war das Ziel der Revolutionen von 1830 und 1848. Aber das Mißlingen dieser revolutionären Versuche zeigt, daß der politische Sinn dieser individuellen Rechte nicht richtig verstanden worden war. Sei es die Gegenüberstellung einer „modernen" und einer „klassischen" Freiheit bei Constant oder der berühmte Satz von Guizot: „Enrichissez-vous" - die Erben von 1789 haben auf einen antipolitischen Boden bauen wollen. Die Rechte des Individuums wurden als besondere Interessen verstanden; die volonté générale sollte durch die unsichtbare Hand des Marktes hergestellt werden. Es gab zwar auch immer eine „Linke", welche die von der Revolution proklamierte Gleichheit verwirklichen wollte, aber die Brüderlichkeit, die dabei auch entstehen sollte, wurde mit dem Volkswillen gleichgesetzt, wie schon 1792, als „la grande nation" die Freiheit durch das Schwert verbreiten wollte. Daraus entwickelte sich eine neue Entartung der Revolution durch das Empire, diesmal 1851 durch den Neffen Napoléons. Hieran knüpfte die „Rechte" an mit ihren ewig-geltenden und antipolitischen Werten, die gegenüber der „Anarchie" und dem Egoismus einer Gesellschaft, die nur auf den Rechten des Individuums fußte, notwendig sein sollten. Weder die Linke noch die Rechte hatten die radikalen politischen Wirkungen, die aus dem Bruch von 1789 entstanden, richtig verstanden. Das Ancien Régime war eine Ordnung, ein Kosmos, ein organisches und organisiertes Ganzes, innerhalb dessen jeder Mensch und jeder Körper einen Platz und eine Rolle hatte. Das neu befreite Individuum stand einer neuen Welt gegenüber. Frei, das bedeutete: jeder mußte seinen Platz zwischen anderen, gleich freien Individuen finden. Das daraus entstehende Dilemma war schon bei den Philosophen des sozialen Vertrages seit Hobbes bekannt: die Freiheit des Individuums muß bewahrt werden, während zur gleichen Zeit die Freiheit einer Gesellschaft (bzw. Gemeinschaft) hergestellt werden sollte. Aus welchen Gründen können Individuen ihre Unterordnung unter einen gemeinsamen Willen als legitim annehmen? Was treibt das von Natur aus freie Individuum dazu, sich in eine politische Ordnung einzufügen? Stammt dieses Bestreben aus der Furcht vor den Anderen, aus dem Versuch, das physische Leben zu bewahren, oder das private Eigentum zu sichern? Oder sollte man den nach 1789 erscheinenden Individualismus als Entartung (oder gar als Illusion) verstehen - etwa so, daß der Mensch zuallererst und von der Natur her ein Gemeinschaftswesen ist. Die Debatte ist bekannt; unsere Zeitgenossen, die um das Verhältnis von Individualismus und Kommunitarismus streiten, haben ihre geschichtlichen Grundlagen leider vergessen. Aber gerade dieses geschichtliche Problem taucht wieder auf: Die Revolutionen von 1989 haben die Unangemessenheit sowohl der unsichtbaren Hand des Marktes als auch der sichtbaren Faust des Plans vor Augen geführt. Der Bruch von 1789 hat die Bedingungen der Möglichkeit moderner, demokratischer Politik dadurch geschaffen, daß er einen Gegensatz von zwei Willen - jeder mit einer gleichberechtigten Legitimität - hergestellt hatte. Das Verlangen einer Gemeinschaft, das sich in der „volonté générale" ausdrückt, kann nur verwirklicht werden, wenn die Rechte des Individuums, die in der Menschenrechtserklärung abgesegnet sind, auch verwirklicht sind. Aber wenn dieses Verhältnis in der Begriffssprache des Willens
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ausgedrückt wird, dann entsteht eine Konkurrenz bzw. ein Kampf der beiden Willen (deren kurze Zusammenwirkung in den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts sich als illusorisch erwies). Wenn aber die Demokratie nur dann möglich ist, wenn diese zwei Willen, die nicht aufeinander reduziert werden können, zusammen bestehen, dann besteht die Arbeit einer demokratischen Politik nicht in der Aufhebung dieses Gegensatzes, sondern in seiner Aufbewahrung. Die Demokratie entsteht nicht, wie Minerva, in einer unbefleckten Empfängnis, aus dem Oberschenkel des Zeus. Die Fähigkeit, die Rechte eines Individuums sowie die einer Gemeinschaft anzuerkennen und aufzubewahren, ist nicht eine dem modernen Individuum angeborene Fähigkeit. Man ist eher dazu geneigt, den Gegensatz der zwei Willen als einen zu überwindenden Widerspruch anzusehen. Das aber führt zu einer Anti-Politik, die nur eine U m k e h r u n g der liberalen Ablehnung der Politik im Namen des Marktes darstellt. U m diese Logik besser zu verstehen, bringe ich im folgenden Marxens philosophischen Beitrag zur Antipolitik in die Debatte ein.
2. Marx: Die Entstehung der Antipolitik Die folgenreichste Ausarbeitung einer Politik des Willens findet sich in Hegels Rechtsphilosophie. Marx hat selbstverständlich Hegels Idealismus kritisiert; wichtiger aber für uns ist Marxens philosophischer Versuch, den berühmten Aphorismus aus Hegels Vorrede umzudeuten: Das Wirkliche soll vernünftig sein, das Vernünftige soll wirklich sein. Schon in einer Note zu seiner Dissertation forderte Marx das „Weltlich-werden der Philosophie und das Philosophisch-Werden der Welt". Es ging ihm weder um einen Voluntarismus noch um die Aufgabe der Philosophie zugunsten irgendeiner materiellen Notwendigkeit, sondern die Forderung Marxens war eine doppelte: innerhalb ihrer eigenen Logik sollte die Philosophie die Notwendigkeit ihres Weltlich-Werdens darstellen; und ihrerseits sollte die Welt nur eigentlich Welt sein, wenn sie philosophisch geworden sei. Diese doppelte Forderung erscheint bei Marx zwei Jahre später, in der Kritik der sogenannten „liberalen" und „theoretischen" Parteien, die, beide auf ihre Weise, eine einseitige Politik des Willens betrieben, ungeachtet des in gleicher Weise notwendigen komplementären Moments, das implizit in seinen kritischen Voraussetzungen bestand. Sein Ziel war also die Vereinigung dessen, was die Hegeische Erbschaft auseinandergetrieben hatte. M a r x verstand sein philosophisches Ziel auch als die politische Verwirklichung der Französischen Revolution. 1789 stellte nur den ersten Schritt eines Prozesses dar, der 1793 radikalisiert und dann durch den Thermidor abgebrochen wurde. Das Selbst-Mißverständnis der „bürgerlichen" liberalen Revolutionäre wollte Marx überwinden. Obwohl er nie die in seiner Jugend geplante Analyse der radikalen Jahre der Französischen Revolution durchführte, kennt man doch die Umrisse seiner Deutung. Es ging ihm um eine „doppelte Revolution", in der ein zweiter Schritt die materielle Gleichheit verwirklichen würde, welche die nur formelle Freiheit der ersten Phase möglich gemacht hat. Man kennt die vernichtende Kritik, die Marx zur Menschenrechtserklärung abgegeben hat. Aber die Kritik der liberalen Rechte, die Marx in Zur Judenfrage vorschlägt,
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mißversteht die politische Dimension dieser Rechte, die er auf ihre ökonomische Grundlage reduziert. Wie Claude Lefort gezeigt hat, vergißt Marx, daß das Ende des Absolutismus des Ancien Régime das Individuum befreit und eine demokratische Politik möglich gemacht hat. Marx sieht nicht die radikalen Möglichkeiten der neuen demokratischen Freiheiten - unter denen, selbstverständlich, auch der Versuch, seine eigenen individuellen und kollektiven materiellen Umstände zu verbessern, mit inbegriffen ist. Sein ökonomischer Reduktionismus läßt für das Politische keinen Platz. 1 Die im gleichen Jahr (1843) geschriebene Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung stellt die Logik der Marxschen Kritik eindeutig dar. Er wiederholt seine Kritik der zwei „Parteien", die er diesmal „theoretisch" und „praktisch" nennt. Wiederum besteht er darauf, daß die Philosophie nur dann verwirklicht werden kann, wenn sie zugleich transzendiert wird; und daß die Philosophie nur transzendiert werden kann, wenn sie verwirklicht wird. Noch konkreter: „Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist. ... Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen." 2 Dem entspricht auch seine Schlußfolgerung: die Entdekkung des Proletariats als die „Lösung der Rätsel der Geschichte", das Nichts, das Alles sein kann, die Klasse, die sich nur durch die Emanzipation der ganzen Gesellschaft emanzipieren kann. Das Problem dabei ist aber, daß das Proletariat nur „an sich" revolutionär ist, oder, wie Marx es damals formuliert hat, das Proletariat ist ein „künstliches" Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung, dessen Selbstverwirklichung von dem „Blitz des Gedankens" abhängt. In diesem Sinne sind Marxens spätere Werke, seit dem ersten der Pariser Manuskripte, nur die Ausarbeitung der Notwendigkeit, der die scheinbare „Künstlichkeit" des Proletariats unterliegt; andererseits ist seine politische Tätigkeit - und insbesondere die Bestimmung des militanten Kommunisten im Kommunistischen Manifest —ein breit angelegter Versuch, den „Blitz des Gedankens" durch sichere Mittel zu bestimmen, letztendlich durch ein Wissen vom Telos der Weltgeschichte. Aber trotz Marxens reduktionistischer Neigung fragt sich der Leser des Manifestes, warum Marx Lobgesänge auf den Kapitalismus, der mit der Befreiung des Individuums aus der statischen feudalen Ordnung entstand, anstimmt? Die kapitalistische Entwicklung war für Marx die Voraussetzung der wahren Revolution, die die immanenten Gegensätze des ökonomischen Individualismus überwinden würde. Daraus sollte ein „Gattungswesen" entstehen sowie eine Wissenschaft der Natur, die auch eine Wissenschaft des Menschen sei; am Ende wird die Entfremdung, die die Wurzel der privaten Akkumulation ausmacht, aufgehoben. Die kommunistische Revolution würde dann die Gleichheit und Brüderlichkeit, die die Franzosen auf ihre Fahne geschrieben hatten, 1
2
Meine Überlegungen wissen sich einig mit den instruktiven Analysen, die Claude Lefort zum Verhältnis von Marxismus, Totalitarismus und Demokratie vorgelegt hat. Vgl. vor allem Claude Lefort, U n homme en trop. Réflexions sur „L'Archipel Goulag", Paris 1976 ( 2 1986); ders., L'Invention democraticque. Les limites de la domination totalitaire, Paris 1981; ders., Essais sur le politique. XIX C -XX C Siècles, Paris 1986. Karl Marx, Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: ders./Friedrich Engels, Werke, Bd. 1, Berlin " 1 9 8 1 , 3 8 6 .
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endgültig verwirklichen; statt einer nur formalen Demokratie würde diese Revolution eine wahre Demokratie, die der Entfremdung und der Ausbeutung des Menschen in der bürgerlichen Welt ein Ende setzen würde, aufbauen. Die Ironie besteht aber darin, daß diese marxistische Revolution sich auf die gleiche Ersetzung des Politischen durch das Ökonomische gründet, die das Wesen der bürgerlichen Politik ausmacht. Wie die Bourgeoisie begegnet Marx einem Gegensatz zwischen zwei Willen; statt aber, wie der Bourgeois, eine unsichtbare Hand des Markts anzurufen, versuchte Marx - sein philosophisches Jugendwerk ausarbeitend - durch einen rationalen ökonomischen Plan den Gegensatz zu überbrücken. In diesem Sinne sieht man nochmals: Die Grundlage seiner Antipolitik besteht darin, daß eine Politik des Willens die Bedingungen der Möglichkeit einer demokratischen Politik aufhebt.
3. Der Totalitarismus: Wiederentdeckung der Demokratie Marx ist für den Totalitarismus nicht verantwortlich. Der Totalitarismus ist nur innerhalb der Demokratie möglich. Gerade diese demokratische Wurzel des Totalitarismus unterscheidet ihn von den Arten der Diktatur oder der Tyrannei, die schon Piaton und Aristoteles beschrieben haben. Die Griechen meinten, der Tyrann entstehe aus der Ablehnung der Anarchie der Demokratie, während der moderne Totalitarismus vorgibt, er sei die Verwirklichung der Demokratie. Der Totalitarist (ob von der linken oder rechten Seite) kritisiert die nur formale Demokratie, die die oligarchische und entfremdete Herrschaft der Bourgeoisie bewahrt. Die reale Demokratie, die verwirklichte Demokratie, versucht, die doppelte Revolution, die vom Thermidor nur temporär abgeblockt worden ist, zu Ende zu führen. Diese Demokratie überwindet die Vergangenheit und setzt unter die (Vor-)Geschichte einen Schlußstrich. Der Totalitarismus wird nur innerhalb moderner Demokratien möglich, denn nur mit der Erscheinung dieser politischen Gestalt wird das Individuum ein politischer Akteur, der in Abwesenheit einer Gemeinschaft die Versuchung empfindet, den Gegensatz einer Politik des Willens durch die Fusion mit einer Gemeinschaft zu überwinden. In diesem Sinne stellt der Totalitarismus das Wesen der Antipolitik dar. Also müssen wir seine immanente Logik verfolgen, um eine Kritik der nichttotalitären Gestalten der Antipolitik vorzuschlagen. Das Merkwürdige am Totalitarismus besteht darin, daß er sein Ziel offen proklamiert, sich fast monoton wiederholt, daß er versucht, sich selber zu überreden, sein Projekt verwirklicht zu haben (und deshalb die Macht behalten zu dürfen) - gerade dann, wenn er weiß, daß er dieses Ziel nicht erreicht hat und auch nicht erreichen kann. Immer tätig, immer dabei, an der Gesellschaft zu arbeiten, sie zu formieren, gibt der Totalitarist zugleich vor, er sei der immanente Ausdruck des wahren Wesens der Gesellschaft. Die Erfindung der Gestalt des „Militanten" - der, wie Claude Lefort meint, eine neue politische Figur darstellt - stellt die Paradoxie des Totalitarismus klar dar. Der Militante soll Mitglied der Gesellschaft sein, aber zugleich steht er gewissermaßen „über" dieser Gesellschaft, deren Einheit und deren zukünftiges Telos er kennen soll. Die Existenz des Militanten, und der Partei, dessen Organ er ist, zeigt die Unvollständigkeit des totalitären Projekts und erklärt, warum er immer wieder, gleichsam mantra-artig,
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sein totalisierendes Projekt wiederholt. Der Militante versteht nicht, innerhalb der Gegensätze der demokratischen Gegenwart zu leben. Er wird, um Lefort wieder zu zitieren, ein „bien-pensant", der, auch wenn er die Praxis der Partei nicht richtig findet oder gar im Gulag sitzt, oder in einen Säuberungsprozeß verwickelt ist - , „richtig denkt", um nicht selber denken zu müssen: d. h., um nicht urteilen zu müssen? Ohne diesen Militanten und die in der Verfassung verankerte sichtbare Hand der „führenden Rolle" der Partei ist der Totalitarismus verurteilt, er kann nicht mehr bestehen. Die Gestalten des Militanten und des „bien-pensant" sowie die unausgesprochene Komplizität der Bevölkerung mit dem totalitären Ziel reduzieren sich nicht auf das vereinfachte Image des Krämers, der „in der Wahrheit" nicht leben will, wie es Vaclav Havel einmal ausdrückte. Der Existentialismus ist ein Moralismus des Willens, er ist keine Politik. Der Militante ist wie Marx, ein Philosoph; er stellt eine Politik des Willens dar. Aber der Marxsche Militante ist nicht der einzige Totalitarist; noch ist die Philosophie für das totalitäre Ziel verantwortlich zu machen. Hannah Arendts Begriff der „Banalität des Bösen" erklärt die Bedingungen der Möglichkeit der totalitären Politik des Willens. Ohne eine Öffentlichkeit, in der das Urteilen notwendig wird, und eine Verantwortlichkeit, die das Urteil auf sich nimmt, bleibt nur der Wille, bleiben die Befehle des Führers oder die der Partei. In diesem Sinne leugnete Eichmann alle Verantwortlichkeit, weil er nur bürokratisch verstehen könne, und Befehle seien Befehle. Es geht nicht nur um das Ausbleiben der Öffentlichkeit; Arendt besteht auch darauf, daß diese totalitäre Mentalität die Neuigkeit des Neuen leugnet; sie versucht, das Neue unter schon gegebene Begriffen zu subsumieren. Ein solches Verhalten ist, so Arendt, ein buchstäblich gedankenloses Verhalten - gerade das Verhalten, das wir schon bei dem militanten Kommunisten oder „bien-pensant" festgestellt haben. Eine Gesellschaft, die keinen Platz für das freie Urteilen läßt, und welche die Verantwortlichkeit durch einen (individuellen oder kollektiven) Willen ersetzt, vermag nicht, die demokratische Politik, die in ihr angelegt ist, zu bewahren. In diesem Sinne bleibt die Analyse des Totalitarismus wichtig, auch nach 1989. Die Bedingungen seiner „real existierenden" Formen sind nicht abgeschafft: Materielle Ungleichheiten sowie politische Forderungen, schon existierende Rechte zu verteidigen und neue zu erschließen, führen zu der philosophischen Verführung, das Rationale verwirklichen zu wollen und das Wirkliche rational gestalten zu wollen. Man soll das Projekt des Militanten ablehnen; aber die antipolitische Verführung, die er in seiner Person wie in seiner Praxis ausdrückt, muß man auch verstehen. Der Militante begeht keinen „Fehler" im Sinne eines mathematischen Kalküls; die Politik besteht aus einem anderen Stoff. Man ist heute versucht z. B. zuzugeben, daß der „real existierende" Sozialismus eine Fehlleistung gewesen ist - aber weil der real existierende Kapitalismus nicht viel besser ist, sollte man, durch eine theoretische Erneuerung oder durch die Wahl von anderen Leitfiguren, einen dritten Weg suchen, um die noch existierenden Gegensätze endgültig zu überwinden. Aber ein solches Argument mißversteht die Ei-
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Zu den Überlegungen Leforts vgl. Dick Howard, The Marxian Legacy, Basingstoke - London insbes. 306-320.
2 1988,
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genart des Politischen und der Demokratie, wie die Kritik des Totalitarismus gezeigt haben sollte. Der Totalitarismus kann innerhalb einer Demokratie nur entstehen, wenn diese Demokratie sich mißversteht und ihr eigenes politisches Wesen verleugnet: d. h., wenn sie sich nur als eine institutionelle und ökonomische Struktur versteht, die seitens des Totalitarismus - möglicherweise - kritisiert wurde. Die Kritik soll sich nicht gegen das kapitalistische Wesen der Demokratie richten. Was Marx im Manifest dem sichselbst-revolutionierenden Kapitalismus zuschrieb, beschreibt eher das radikale Wesen der Demokratie. Das ist die Lehre, die man aus der totalitären Erfahrung ziehen sollte.
4. Zur Politik der Urteilskraft: Verantwortlichkeit und Solidarität Die Demokratie kann nicht ohne Demokraten leben. Die Bourgeoisie hat nie demokratische Bewegungen hervorgerufen, sondern ihnen nur langsam und wider Willen nachgegeben. Solche demokratischen Bewegungen haben kein Telos\ sie begegnen nur einer Nemesis, die immer gegenwärtig ist: der totalitären Verleugnung der politischen Öffentlichkeit als solcher. Hannah Arendt beschreibt die wiederkehrende Erscheinung und Selbstorganisation demokratischer Bewegungen als den „verlorenen Schatz" der Revolution. Aber eine solche Beschreibung befriedigt nicht mehr als die des jungen Marx, der hoffte, der „Blitz des Gedankens" würde das Proletariat in ein revolutionäres Subjekt verwandeln. Wie entstehen dann Demokraten? Es wäre sicher eine Übertreibung, den Begriff „totalitär" auf den stagnierenden Liberalismus und Konservativismus, der unser gegenwärtiges politisches Leben beherrscht, zu verwenden; aber der Begriff Antipolitik beschreibt schon ihre Vorstellungen. Wenn die Revolutionen von 1989 nicht die Irrtümer, die nach 1789 erschienen, wiederholen sollen, muß eine Politik der Urteilskraft die Politik des Willens ersetzen. Hannah Arendts unvollendete Vorträge über Kant, ihre Analyse Eichmanns sowie des Totalitarismus, deuten an, daß der Begriff des reflexiven Urteilens ein besseres Verständnis nicht nur der Demokratie, sondern auch ihrer Verführungen gestattet. Das demokratische Individuum urteilt, es nimmt die Verantwortung für sein Urteil auf sich. Es gibt Analogien zwischen dieser Praxis und Kants Kritik der Urteilskraft. Das Geschmacksurteil, das ein reflektierendes Urteil ist, gründet sich auf keinen vorgegebenen und allgemeinen Begriff; es geht um eine subjektive Erfahrung, den Ausdruck eines Gefühls; trotzdem aber, wie ein Urteil, das auf einen Begriff gegründet ist, beansprucht das reflektierende Urteil Allgemeingültigkeit. Zwei Fragen stellen sich alsbald: Warum urteilen wir auf diese Weise? Warum, und mit wem versuchen wir, Allgemeingültigkeit zu kommunizieren? Die Antwort auf die erste Frage besteht darin, daß wir etwas Neuem begegnen, etwas, das nicht unter schon gegebene Gesetze oder Regeln subsumiert werden kann. Es ist, als ob wir nach einer Revolution lebten; wir wollen den Sinn eines Besonderen, die neuen Umstände, in denen wir uns befinden, verstehen. Wir denken darüber nach, reflektieren, suchen einen Begriff, der der neuen Erfahrung angemessen ist. Wir - und wir allein - übernehmen die Verantwortung für das, was wir vorgeben. Aber - und hier kommt die zweite Antwort - wir können unsere Verantwortung nur dann dafür übernehmen, wenn wir die Existenz der Anderen annehmen. Die-
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se Anderen befinden sich auch in einer neuen, sozusagen postrevolutionären Lage. Daß wir sie überzeugen wollen, unserem reflektierenden Urteil zuzustimmen, bedeutet, w i r erkennen sie als unabhängige, von uns verschiedene Individuen an. Das bedeutet auch, daß wir eine unleugbare Pluralität des Sozialen annehmen. Zugleich aber, gerade weil wir eine Allgemeingültigkeit für unser Urteil beanspruchen, nehmen wir auch die Einheit, die Gemeinsamkeit, die Gemeinschaftlichkeit mit ihnen an. Auf diese Weise vereinigen Geschmacksurteile die zwei Strukturen, die auch die Bedingung der Möglichkeit der Demokratie ausmachen. Aber es wäre verfrüht, von hier unmittelbar zu einer Theorie des Politischen überzuspringen. Die Neuheit der Lage, die Notwendigkeit, ohne vorgegebene Begriffe zu urteilen, das Erfordernis, eine eigene Verantwortung anzunehmen und die Zustimmung meiner diversen und unabhängigen Mitbürger zu suchen: das alles beschreibt die postrevolutionäre Welt nach 1989. Tradierte moralische Systeme oder juristische Formen (übernommen post hoc vom westlichen Liberalismus) verleugnen den eigentlichen politischen Aspekt des Problems. Solche von außen her übernommenen Begriffe tragen nicht dazu bei, einen urteilsfähigen Bürger zu formen, und besonders nicht, wenn es darum geht, die Koexistenz von verschiedenen Standpunkten zu verstehen und gutzuheißen. Eine solche Begrifflichkeit hilft - um noch einen Kantischen Satz anzuführen, von dem Arendt häufig Gebrauch macht - einer „ausgeweiteten Mentalität", die „an der Stelle des Anderen denkt", nicht. Schlimmer noch, eine solche Begrifflichkeit läßt die Vergangenheit außer acht (Kant würde sagen: subsumiert sie), obwohl diese doch nicht mit der Entstehung des Neuen einfach vergessen oder ausgeklammert werden kann. Bei der eigentlichen politischen Urteilskraft geht es darum, eine Erfahrung an Andere zu übermitteln; Urteilen heißt auch: sich sowie die Anderen in Frage zu stellen - und nicht, wie bei dem Militanten, ihnen eine Wahrheit über sie selbst mitzuteilen. In diesem Sinne ist mein Urteil die Praxis eines demokratischen Individuums unter anderen demokratischen Individuen, die zusammen den Wert und die normative Gültigkeit ihrer demokratischen Gemeinschaft sichern. Wann aber muß ich reflektierend urteilen? Wie kann ich der Versuchung entgehen, das Neue unter schon vorgegebene Begriffen zu subsumieren? Man findet bei Kant (nicht bei Arendt) einen interessanten Vorschlag im zweiten Anhang des Werkes Zum ewigen Frieden. Der Titel dieses Anhangs - „Von der Einhelligkeit der Politik mit der Moral nach dem transcendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts" - deutet an, daß die Politik der Urteilskraft das Pendant zur Politik des unabhängigen Willens wird. Kant faßt seine Thesen lapidar zusammen: „Alle Maximen, die der Publicität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen." 4 Was Kant vorschwebt, können wir aus der Struktur des reflexiven Urteils entnehmen. Das Urteil fängt bei etwas Besonderem an, etwas Neuem, das sich nicht unter schon existierende Begriffe oder Regeln subsumieren läßt. Seine Gültigkeit hängt ab von der Empfänglichkeit der Anderen für dieses Urteil. Diese Empfänglichkeit aber kann nur durch eine öffentliche Debatte zustande kommen, durch den Vergleich verschiedener
4 Immanuel Kant, „Zum ewigen Frieden", in: ders., Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1968, Bd. XI, 250.
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Erfahrungen, durch Argumente, gar Kämpfe, deren Resultat darin besteht, daß ein gemeinschaftlicher Sinn entsteht, dessen Existenz und Wiederbelebung von der Pluralität, deren Kommunikation ihn möglich macht, letztendlich abhängt. Gerade eine solche plurale Erfahrung prägt auch die Politik. Man begegnet etwas Neuem; Vorschläge, es zu bearbeiten, oder aufzuarbeiten, werden debattiert; ein gemeinsamer Sinn mit Bezug auf die Lösung entsteht. Würde man an das Neue anders herangehen, wäre man auf der Suche nach einer antipolitischen Lösung, oder nach einer, welche die Vergangenheit ausklammert (was noch eine Variante der Antipolitik wäre). Eine solche Politik könnte keine normative Legitimität für sich in Anspruch nehmen. Die Politik der Urteilskraft ersetzt die liberale Form der Demokratie, die letztendlich auf der Vorstellung eines Vertrages zwischen zwei unabhängigen Willen gründet. Zur gleichen Zeit wird die heute so modische philosophische Kritik des „Subjekts" vermieden, weil die Politik der Urteilskraft explizit die Verantwortlichkeit des Individuums für seine Deutung des Neuen sowie für den Versuch, seine Meinung innerhalb der pluralen Öffentlichkeit normativ gültig anzubringen, auf sich nimmt. Moralität (im Gegensatz zur persönlichen Ethik) hängt nicht vom Willen oder von den Resultaten seiner Ausführungen ab; Moralität besteht in der Annahme einer Verantwortlichkeit, die das Bestehen einer pluralen Gemeinschaft von Individuen voraussetzt. Die Politik, der andere Pol von Kants „transcendentalem Begriff des öffentlichen Rechts", ist der fortwährende Versuch, Projekte auszudenken, die, gerade weil sie dem Subsumieren unter althergebrachte Schemata widerstehen, die Öffentlichkeit wachhalten und immer wieder erneut in Frage stellen. In diesem Sinne findet man in der Begriffssprache des reflektierenden Urteilens die Begrifflichkeit, die für das Politische geeignet ist, und die das Verlangen nach Gerechtigkeit legitimiert, ohne die Ansprüche des Rechts aufzugeben. Aus der Sichtweise einer Politik der Urteilskraft ereignete sich 1989 nicht der Zusammenbruch eines ökonomischen Systems, sondern eine Revolution; heute geht es darum, die Resultate dieser Revolution aufzuarbeiten, die Demokratie, die der „verlorene Schatz" der Revolution war, wachzuhalten. Die Frage nach dem Ursprung der Rechte des Individuums, die die Revolutionäre von 1789 nicht beantworten konnten, und deren Verdrängung zu einer Antipolitik führte, deren extreme Form der Totalitarismus war, stellt sich heute erneut. Die Politik der Urteilskraft schlägt eine Politik der Solidarität vor. Sie meidet die verführerische Frage, ob die Autonomie des Individuums in einem individuellen oder kollektiven Willen besteht. Meine Rechte behaupte ich in der Form eines Urteils, das zugleich eine Forderung, eine Debatte, und auch ein Dialog mit anderen ist, deren Gleichheit mit mir sowie deren Autonomie und deren Differenz von mir ich immer voraussetze. Ich kann meine Rechte nicht allein behaupten, noch mein Urteil ohne diese Voraussetzung der Solidarität ausdrücken. Meine Rechte hängen von der Zustimmung der Anderen ab, deren Autonomie ich voraussetzen muß. Meine Rechte hängen also von unseren Rechten ab - von unserem Recht, nicht zuzustimmen sowie von der Notwendigkeit, darüber zu debattieren, warum wir zustimmen sollen. Auf diese Weise verhalten sich politische Tätigkeit und kritische Reflexion komplementär zueinander; Autonomie wird nur möglich durch die Solidarität, die implizit in der individuellen Verantwortlichkeit besteht.
Christoph Demmerling
Differenz und Gleichheit Zur Anatomie eines Argumentes
Seit dem Erscheinen von John Rawls' Theorie der Gerechtigkeit und der weitverzweigten Diskussion, die sich daran anknüpfte, ist die Frage nach einer Klärung und angemessenen Bestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs erneut zur Grundfrage der zeitgenössischen politischen Philosophie und Ethik avanciert. Unversöhnlich gegenüber stehen sich die Anhänger des Rawlsschen Modells, die in diesem einen Schlüssel für das normative Selbstverständnis liberaler Demokratien gefunden zu haben glauben, und dessen Kritiker, die, sei es im Rückgriff auf Argumentationsmuster aus der philosophischen Anthropologie und Hermeneutik, sei es auf der Basis soziologischer Annahmen, die Defizite des Liberalismus auf den Begriff zu bringen versuchen. Diese Gruppe, die freilich recht heterogen ist, und die einzig durch ihre Gegnerschaft zum Liberalismus vereint ist, wird unter dem Etikett des Kommunitarismus gehandelt. Jenseits der recht unterschiedlichen Argumentationsmuster, die in diesem Zusammenhang aufgegriffen werden, handelt es sich im großen und ganzen um eine immanente Kritik des liberalistischen Verständnisses von Demokratie und Politik. 1 Nach dem Zusammenbruch der „sozialistischen" Ideologien, in denen kritische Gesellschaftstheoretiker die normativen Maßstäbe für die Kritik kapitalistischer Demokratien glaubten auffinden zu können, ist es vor allem der sozialromantische Flügel innerhalb der kritischen Sozialphilosophie, der „Wärmestrom des Marxismus" (Ernst Bloch), dem der Kommunitarismus eine neue gesellschaftskritische Heimat zu gewähren scheint. In den Ansätzen der Kommunitaristen verschränken sich auf eine eigentümliche Weise Argumentationsmuster der „rechten" wie auch der „linken" Gesellschaftskritik. Eine kritische (in Teilen selbst gegen den Kommunitarismus gewandte) Überbietung der kommunitaristischen Liberalismuskritik findet sich im Rahmen neuerer „postmoderner" (dekonstruktiver) und oftmals in feministischer Perspektive formulierter An-
1 Einen Überblick über die Diskussionslandschaft findet sich in dem Beitrag von Rainer Forst, „Kommunitarismus und Liberalismus - Stationen einer Debatte", in: Axel Honneth (Hrsg.), Kommunitarismus. Eine Debatte über die moralischen Grundlagen moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. - New York 1 9 9 3 , 1 8 1 - 2 1 2 ; vgl. auch vom selben Autor das ausführliche Plädoyer für eine politische Philosophie, welche die üblichen Frontstellungen hinter sich läßt: Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt/M. 1994.
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sätze zu einer politischen Theorie und Ethik. Mir geht es im folgenden nicht darum, diese mittlerweile nur noch schwer überschaubare und mitunter scholastisch gewordene Debatte nachzuzeichnen, mir geht es vielmehr darum, nur ein einziges Argument, welches neuerdings Eingang in die Gerechtigkeitsdebatte gefunden hat, näher zu untersuchen. Dieses Argument operiert mit Begriffen wie „Differenz" und „Andersheit" und vermutet in der universalistischen Orientierung der Gerechtigkeitstheorie - Gerechtigkeit wird hier zunächst als Gleichheit verstanden - einen Zusammenhang zwischen Gewalt und Gerechtigkeit. Dem der Gerechtigkeitstheorie inhärenten Universalismus wird eine Mißachtung der Einmaligkeit des Individuellen, des Besonderen von Individuen und Gemeinschaften unterstellt. Den Stein des Anstoßes bildet mit dem Universalismus der moral- und rechtsphilosophische Ertrag der Moderne. Den Hauptvorwurf gegen eine am Gerechtigkeitsideal orientierte Politik der Emanzipation bildet der Vorwurf der Differenzblindheit. Das Plädoyer für die Differenz entstammt einem Unbehagen, das durch so unterschiedliche Autoren wie Wittgenstein, Adorno und Derrida eine argumentative Gestalt erhalten hat: nämlich den Hinweisen auf die Gefahren eines fixen und statischen Verständnisses unserer begrifflichen Rede, dem alle drei der genannten Autoren ein kontextuelles, geschichtliches und temporales Verständnis unserer Sprache entgegengestellt haben. (Wittgenstein spricht deshalb von unterschiedlichen Sprachspielen, Adorno von der „Nichtidentität" und Derrida von der „Differenz".) U m einem Mißverständnis vorzubeugen: Ich denke, daß der Universalismus, sei es in der Moral-, sei es in der Rechtsphilosophie, in jedem Fall ergänzungsbedürftig ist. Die ihn leitenden Orientierungen sind viel zu selbstverständlich, um als letztes Wort einer Moral- und Rechtstheorie gelten zu können. Alle eigentlich brennenden Probleme beginnen erst jenseits seiner Formulierung bzw. ergeben sich erst mit seiner Formulierung, was die Debatte um den Gerechtigkeitsbegriff ebenso wie jene um den Vernunftbegriff zeigt. In der Moralphilosophie mehren sich die Versuche, die universale „Perspektive der Gerechtigkeit" z. B. um eine „Perspektive der Fürsorge" zu ergänzen, oder den affektiven Komponenten, die im Kontext unseres moralischen Handelns eine Rolle spielen, in allgemeinerer Form Rechnung zu tragen. Was solche Überlegungen eint, sind die Hinweise auf die Defizite des Universalismus. Die Positionen, welche mit derartigen Hinweisen arbeiten, lassen sich systematisch betrachtet in zwei Gruppen scheiden: Es finden sich starke Optionen gegen den Universalismus wie auch gegen die Vernunft bzw. den Gebrauch der Vernunft im allgemeinen und schwächere, die lediglich auf dessen bzw. deren Korrektur hinauslaufen. Ernst zu nehmen sind, wie ich glaube, allein letztere. Und zwar sind sie es aufgrund ihrer negativ-kritischen Logik. Das heißt, die meisten dieser Argumente funktionieren als Argumente gegen bestimmte Positionen, gegen die Selbstmißverständnisse bestimmter Positionen, sie versagen dort, wo sie sich selbst als positive Argumente, als Plädoyer für bestimmte Positionen mißdeuten. Auch das Differenzargument gegen die Gerechtigkeit gewinnt Plausibilität auf der Grundlage seiner negativ-kritischen Logik. Zu einem Selbstmißverständnis im Sinne einer positiven Umdeutung kommt es freilich in bestimmten Formulierungen des Differenzargumentes, wo die Perspektive der Differenz gegen diejenige der Gleichheit aus-
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gespielt bzw. zwischen beiden Perspektiven eine unauflösliche Spannung konstruiert wird. Ist das Argument einmal von den in ihm angelegten Selbstmißverständnissen befreit, läßt es sich in den Rahmen universalistischer Orientierungen integrieren. Ich werde zunächst zwei Versionen des Argumentes diskutieren (1), um schließlich das aus meiner Sicht angemessene Verständnis des Argumentes zu skizzieren (2). 1. In seinem Beitrag zu dem Kolloquium Deconstruction and the Possibility of Justice (1990) hat Jacques Derrida die Frage nach dem Zusammenhang von Recht, Gerechtigkeit und Gewalt in dekonstruktiver Perspektive aufgeworfen. 2 In einer Auseinandersetzung mit Pascal und Montaigne einerseits, mit Benjamins Ausführungen Zur Kritik der Gewalt andererseits diskutiert er zwei verschiedene Formen einer aus der Perspektive des Ideals der Gerechtigkeit erhobenen Kritik an Rechtsverhältnissen. 3 Die Basis seiner an Pascal und Montaigne anschließenden Überlegungen bildet zwar die lediglich triviale These, die Instituierung von Rechtsverhältnissen sei immer mit Gewaltakten verbunden; sie führt ihn jedoch zu der dramatischen Konsequenz, daß - verstehe ich ihn richtig - auch das normative Ideal der Gerechtigkeit (als Gleichheit) nur im Schatten von Unrecht gedeihen könne. D e r erste Schritt, mit dem er der Diskussion um Recht und Gerechtigkeit eine neue Wendung verleihen möchte, um ihr eine zeitgemäße, unideologische Gestalt zu verleihen, besteht darin, die bloße Entgegensetzung von Recht und Gerechtigkeit zu verflüssigen. Auf der Grundlage der dekonstruktivistischen These vom offenen, unabgeschlossenen, prozeduralen und hermeneutischen Charakter des Rechts zeichne sich, so Derrida, „zwischen Recht und Gerechtigkeit ein zweideutiges und zweifelhaftes Gleiten" ab. 4 Gemeint ist damit, daß die Anwendung einer Rechtsvorschrift nur durch eine D e u tung möglich ist. Die Anwendung muß zwar mit der Rechtsvorschrift übereinstimmen, gleichzeitig jedoch immer auch in der Perspektive der Gerechtigkeit über diese hinausgehen. Sie muß, wie Derrida auf paradoxe Weise formuliert, „einer Regel unterstehen und ohne Regel auskommen". 5 Im Anschluß an Stanley Fish schreibt er weiter: „Jede Ausübung der Gerechtigkeit als Recht kann nur gerecht sein, wenn sie ein ,fresh judgement' ist . . . " 6 Später heißt es: „Die Gerechtigkeit bleibt im Kommen ,.."7
2 Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität", Frankfurt/M. 1991. Zu der mich leitenden Fragestellung vgl. auch die Beiträge von Axel Honneth, „Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas und die ethische Herausforderung der Postmoderne", in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2 / 1 9 9 4 , 1 9 5 - 2 2 0 , insbes. 209ff.; Christoph Menke, „Für eine Politik der Dekonstruktion. Jacques Derrida über Recht und Gerechtigkeit", in: Merkur 526 (1993), 65-69; zu ethischen und politischen Aspekten des Denkens von Derrida im allgemeinen vgl. Richard J. Bernstein, The New Constellation. The Ethical-Political Horizons of Modernity/Postmodernity, Cambridge/Mass. 1992; Drucilla Cornell, The Philosophy of the Limit, N e w York - London 1992; Simon Critchley, The Ethics of Deconstruction. Derrida & Lévinas, Oxford 1992. 3 Zu Benjamins Gerechtigkeitsbegriff vgl. Marc Sagnols Beitrag in diesem Band. 4 Jacques Derrida, Gesetzeskraft, a. a. O., 9. 5 Ebd., 47. 6 Ebd. 7 Ebd., 56.
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M a n kann Derridas H i n w e i s auf den prozeduralen, hermeneutischen C h a r a k t e r der R e c h t s a n w e n d u n g als eine auf die Rechtsproblematik zugeschnittene Version seiner allgemeineren Ü b e r l e g u n g e n zu bedeutungstheoretischen Fragen verstehen. I m R a h men seiner sprachphilosophischen A n a l y s e n w a r es ihm d a r u m gegangen, im Rückgriff auf ein das Verständnis unserer Redehandlungen temporalisierendes Differenztheorem den Nachweis zu führen, daß w i r den in unserer sprachlichen Verständigung erhobenen Anspruch auf Bedeutungsidentität niemals einlösen können, da die Kontextgebundenheit unserer Rede idealisierende Identitätsunterstellungen von vornherein unterläuft. In einem zweiten Schritt, und erst mit diesem ergeben sich weiterreichende M o d i f i kationen für das geläufige Verständnis von Gerechtigkeit als Gleichheit, ergibt sich die dekonstruktive U m d e u t u n g des Gerechtigkeitsideals, w e r d e n mit Blick auf die A n w e n d u n g s p r o b l e m a t i k Konsequenzen aus der Einsicht in die Prozessualität des Rechts gezogen. Die dekonstruktive Kritik an Recht und Gesetz orientiert sich nicht an d e m die neuzeitliche Tradition leitenden Grundsatz der Gleichheit, sondern an einem diesem G r u n d s a t z geradewegs entgegengesetzten Prinzip, demjenigen der Differenz. „Wie soll m a n " , so fragt Derrida, „den A k t der J u s t i z (...), der stets ein Besonderes in besonderer Lage betrifft, ( . . . ) mit der Regel, der N o r m , d e m Wert oder dem I m p e r a tiv der J u s t i z in Einklang bringen, w e n n diese zwangsläufig eine allgemeine F o r m aufw e i s e n ( . . . ) ? " 8 W i r d die Frage in dieser F o r m formuliert, w i r f t sie bereits ihre Schatten auf die mögliche A n t w o r t voraus. Derrida folgert: „Wir müssen dabei auch wissen, daß sich diese Gerechtigkeit immer an das vielfältig Besondere (singularités) richtet, an die Besonderheit des anderen, unbeschadet oder gerade a u f g r u n d ihres A n s p r u c h s auf Universalität." 9 Derrida weist in dem angeführten Passus darauf hin, daß der rechtstheoretische U n i versalismus von einer unauflöslichen Spannung gekennzeichnet ist: auf der einen Seite steht die universalistische Forderung der Gleichbehandlung, die aber auf der anderen Seite gerade impliziert, der Besonderheit des anderen, w i e es heißt, R e c h n u n g zu tragen. D e r H i n w e i s auf die genannte Spannung läßt sich an die Seite ganz klassischer Ü b e r l e g u n g e n zu einer der Rechtspraxis immanenten Dialektik stellen. M i t ihnen macht Derrida darauf aufmerksam, daß uns noch so gesicherte Kriterien und Prinzipien nicht v o m Gebrauch unserer Urteilskraft dispensieren. In diesem Sinn ist mit dem genannten H i n w e i s auch noch kein Gegensatz zwischen Universalismus und D i f f e r e n z w a h r n e h m u n g konstruiert. Zu einem (scheinbar) festen Gegensatz gerinnt die von Derrida thematisierte Spannung erst, als er die Frage danach, was es denn heißen könne, daß sich die Gerechtigkeit an das Besondere richtet, im Rückgriff auf Grundgedanken von E m m a n u e l Lévinas zu beantworten versucht. Im Zusammenhang mit dem Begriff des „unendlichen Rechts" bei Lévinas schreibt Derrida: „Die Gerechtigkeit beruht hier nicht auf Gleichheit (...), sondern auf einer absoluten A s y m m e t r i e . " Es ist diese unterstellte „absolute A s y m m e trie", 1 0 mit der, w i e ich meine, Derrida seine Kritik des Gerechtigkeitsideals im N a m e n 8 9 10
Ebd., 35. Ebd., 4 1 . Ebd., 45f.
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der Differenz skeptisch überdehnt. Bevor ich für die Vereinbarkeit von Universalismus und Differenzorientierung votiere, möchte ich noch kurz auf eine weitere Version des Differenzarguments zu sprechen kommen. Weitaus konkreter als Derrida und mit Blick auf die politische und soziale Praxis westlicher Gesellschaften, die sich ihrem Selbstverständnis zufolge gemäß den geläufigen Gerechtigkeitstheorien inhärenten Idealen zu organisieren versuchen, hat Iris Marion Young einen sozialphilosophischen Ansatz ausgearbeitet, der vom Grundgedanken der Differenz ausgeht. 11 Auf der einen Seite nutzt sie ihre Überlegungen für eine schwerwiegende Kritik an der Idee der Gerechtigkeit als Gleichheit, am „distributiven Paradigma", wie sie es nennt; auf der anderen Seite skizziert sie die Vision einer alternativen Gesellschaft, in der die Ermöglichung von Differenz, d. h. die Einbindung von den Grundorientierungen unserer Kultur zunächst einmal fremden Lebensformen in die Prozesse demokratischer Willensbildung und deren Partizipation am politischen Alltag, ein die politische Praxis steuerndes normatives Ideal darstellt. Nach Youngs Auffassung ist es ein kennzeichnendes Merkmal kritischer Theorien, an die Unrechtserfahrungen sozialer Bewegungen anzuknüpfen und deren Ziele auf den Begriff zu bringen. Den Hintergrund ihres theoretischen Entwurfs bildet, wie sie selbst mehrfach betont, die Auseinandersetzung mit den subtilen Mechanismen der Herrschaft und Unterdrückung, denen in Amerika Gruppierungen wie die Umweltbewegung, die Schwarzen, die Indianer und Puertoricaner, Schwulen- und Lesbenbewegung, die Frauenbewegung, Vietnamgegner usw. ausgesetzt waren bzw. sind. 12 Sie möchte keineswegs in Abrede stellen, daß sich unter den Prämissen des Gleichheitsideals die verschiedenen Formen handgreiflicher Gewalt oder deutlich sichtbarer sozialer Benachteiligung gegen diese bzw. der genannten Gruppen verringert haben; ihr geht es vielmehr darum, zu zeigen, daß sich trotz oder gerade wegen des Gleichheitsideals oftmals kaum greifbare Strategien der Unterdrückung und der Ausgrenzung etabliert haben. Diese reichen von den verschiedenen Formen positiver Diskriminierung (etwa im Zusammenhang mit der Quotierungsdiskussion) über mehr oder minder verdeckte Assimilationzwänge (in diesem Zusammenhang kann man z. B. an die Diskussion innerhalb der Bewegung der sogenannten „Political Correctness", um eine Erweiterung des traditionellen Bildungskanons der westlichen Zivilisation denken; an sprachpolitische Regelungen usw.)13 bis hin zu den sich in der Alltagswelt manifestierenden Gesten des (unbewußten) Zögerns, des (plötzlichen) Aufmerkens, des (kaum merklichen) Ressentiments angesichts fremdländisch oder ungewöhnlich aussehender Menschen (z. B. Punks), gegenüber Behinderten oder auch - in ganz bestimmten und immer noch weit verbreiteten Kontexten - gegenüber Frauen. 11 12 13
Iris Marion Young, Justice and the Politics of Difference, Princeton 1990. Zum Beispiel ebd., 7. Erfahrungen dieser A r t scheint auch Derrida v o r Augen gehabt zu haben. Er schreibt: „Wie Sie wissen, hat in vielen Ländern eine f ü r das Gesetz oder die Auferlegung und Durchsetzung des Staatsrechts grund-legenden Gewalttaten darin bestanden, daß man den nationalen oder ethnischen Minderheiten, die ein Staat zusammenfaßt, eine Sprache auferlegt h a t . . . " (Jacques Derrida, Gesetzeskraft, a. a. O., 43).
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D e m in unserer Kultur dominierenden Ideal der Unparteilichkeit wird auf der G r u n d lage derartiger Ausgrenzungserfahrungen eine zutiefst ideologische Ausrichtung vorgeworfen: „I argue that the ideal of impartiality in moral theory expresses a logic of identity that seeks to reduce differences to unity." 1 4 U n d wenig später heißt es: Das Ideal der Unparteilichkeit „reinforces oppression b y hypostatizing the point of view of privileged groups into a universal position". 1 5 Ähnlich wie bei Derrida erscheint auch in den Ausführungen Youngs U n r e c h t gegenüber dem Anderen und Fremden als Kern der universalistischen Orientierung in der Gerechtigkeitstheorie. Anders als Derrida, der mit Hilfe der spekulativen E t h i k von Lévinas zu dieser Diagnose gelangt war, gelingt es Young, das bezeichnete U n r e c h t unmittelbar in den menschlichen Lebenszusammenhängen aufzusuchen. Anders als bei ihm münden ihre Überlegungen auch keineswegs ein in dekonstruktive, und d. h. generelle Skepsis gegenüber dem Ideal der Emanzipation, sie plädiert vielmehr für eine eben diesem Ideal verpflichtete Alternative, für eine „Politik der D i f f e r e n z " . 1 6 D i e U m r i s s e zu dieser Alternative entnimmt sie einer L e b e n s f o r m , die sie auf den Begriff des City Life bringt: „ B y 'city life' I mean a f o r m of social relations which I define as the being together of strangers. In the city persons and groups interact within spaces and institutions they all experience themselves as belonging to, but without t h o se interactions dissolving into unity or commonness. C i t y life is composed of clusters of people with affinities - families, social group networks, voluntary associations, neighb o u r h o o d networks, a vast array of small c o m m u n i t i e s ' . " 1 7 Angesichts der gerade für das urbane L e b e n charakteristischen E n t f r e m d u n g s - und Isolationserscheinungen muß dieser Vorschlag überraschen. Young knüpft im Wissen um ihre idealisierenden Unterstellungen lediglich an die für den einzelnen positiven, aufregenden A s p e k t e des Großstadtlebens an: „Modern literature, art, and film have celebrated city life, its energy, cultural diversity, technological complexity, and the multiplicity of its activities." 1 8 D i e für eine Politik der Differenz einschlägigen Strukturmerkmale des C i t y Life sind (1) soziale Differenzierung ohne Ausgrenzung, (2) Variabilität, (3) Erotizität und schließlich (4) Öffentlichkeit. 1 9 I c h m ö c h t e diesen Vorschlag, der den Verdacht nahelegt, es werde ein bestimmter Lebenszusammenhang - derjenige des Urbanen Intellektuellen - zum sozialkritischen A n s a t z stilisiert, nicht weiter kommentieren. E s geht um das P r o b l e m der G e r e c h t i g keit. Worin besteht der systematische Kern des Differenzarguments?
14
Iris Marion Young, Justice and the Politics of Difference, a. a. O . , 97.
15
Ebd., 112.
16
Vgl. ebd., 156ff.
17
Ebd., 237.
18
Ebd.
19
Ebd., 238ff. Ganz ähnlich gelagert ist das von Wilhelm Schmid in einem lesenswerten Essay zur deutschen Situation nach der Wiedervereinigung und deren nationalistischen Folgen formulierte Plädoyer für eine Kultur der Citoyenität. Vgl. Wilhelm Schmid, Was geht uns Deutschland an?, F r a n k f u r t / M . 1993.
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Sowohl in der Argumentation von Derrida als auch in derjenigen von Young sind zwei verschiedene Aspekte voneinander zu trennen: zum einen werden die Vorstellungen von Gerechtigkeit als Gleichheit mit Hilfe des Differenzbegriffs kritisiert; zum anderen geht es darum, der geläufigen Vorstellung eine andere an die Seite zu stellen, in der Gerechtigkeit von vornherein als Differenzberücksichtigung verstanden wird. Während Derrida die Lage im Sinn einer unauflöslichen - er selbst spricht von „Aporien" 2 0 - Spannung zwischen Gleichheits- und Differenzorientierung im Gerechtigkeitsideal konstruiert, suggerieren die Überlegungen von Young, die Gleichheitsorientierung sei um der Differenzorientierung willen preiszugeben. Ich meine, daß zwar in beiden Ansätzen zu Recht auf die ,blinden Flecke' eines Gerechtigkeit als Gleichheit verstehenden Ideals hingewiesen wird, daß aber die in beiden Fällen gezogenen Konsequenzen - aporetische Spannung und Preisgabe der Gleichheitsorientierung - zu stark sind. Die Perspektiven der Gleichheit und der Differenz lassen sich, darauf laufen meine Überlegungen hinaus, im Sinne einer produktiven (und nicht aporetischen) Spannung begreifen, aus deren wechselseitiger Korrektur sich dann erst dasjenige, was wir „gerecht" nennen, zu ergeben vermag. 2. Verlassen wir für den Augenblick die zeitgenössische Diskussion um den Begriff der Gerechtigkeit und werfen einen Blick auf Aristoteles. Es geht mir nicht darum, dessen Vorstellungen in toto zu reaktualisieren. Dies scheint mir deshalb unmöglich, da sich moderne Gesellschaften auf ganz erhebliche Weise von der griechischen Polis, auf welche die Überlegungen von Aristoteles zugeschnitten waren, unterscheiden. Genau wegen dieses Unterschiedes ist es jedoch erstaunlich, daß Aristoteles offensichtlich ein ähnliches Problem hatte, wie es in der skizzierten Diskussion um die Gerechtigkeit in modernen Gesellschaften zum Ausdruck kommt. Aristoteles diagnostiziert bei seiner Auseinandersetzung mit dem Problem der Gerechtigkeit wie auch Derrida oder Young eine Spannung zwischen Gleichheits- und Differenzorientierung. Ganz gleich, wie man sich nun die politischen und sozialen Vollzüge innerhalb der Polis im einzelnen denkt, sicher ist, daß diesem politischen Gebilde die Vorstellungen, die den modernen Liberalismus kennzeichnen, fremd waren. Das skizzierte Differenzargument jedoch richtet sich vor allem, wie Charles Taylor herausgearbeitet hat, gegen mit dem universalistischen Ideal der Menschenwürde einhergehende Homogenisierungstendenzen. Taylor nennt hier an erster Stelle Rousseau, bei dem es zu einem Bündnis von „egalitärer Freiheit und Differenzierungsverzicht" 21 gekommen sei. Und zwar, was das Entscheidende ist, auf der Grundlage der universalistischen (und selbstverständlich: emanzipatorischen) Orientierung am Ideal der Gleichheit. Folgt man dieser Darstellung, scheint sich das Differenzargument mithin aus einer skeptischen Diagnose in bezug auf die Leistungsfähigkeit der politischen Ideale der Moderne zu ergeben. Mit Blick auf Aristoteles wird jedoch deutlich, daß es sich bei der
20 Jacques Derrida, Gesetzeskraft, a. a. O., 46ff. 21 Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/M. 1993, 43.
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Spannung von Gleichheit und Differenz um eine gewissermaßen „natürliche", dem Gerechtigkeitsdenken von Anfang an zukommende Spannung handelt. Ich denke, dies ist, zusammengenommen mit der Lösung, die Aristoteles vorschlägt, ein starkes Indiz für die Möglichkeit einer Entdramatisierung des in den Analysen von Derrida und Young leitenden Konfliktes. Zu Beginn des Buches über Gerechtigkeit in der Nikomachischen Ethik vergegenwärtigt Aristoteles alle diejenigen Schwierigkeiten, denen die Versuche einer angemessenen Bestimmung des Gerechtigkeitsbegriffs unterliegen. Der Begriff scheint eine Vielzahl von sich mitunter ausschließenden Bedeutungen zu besitzen. Aristoteles trifft in diesem Zusammenhang eine Reihe von Unterscheidungen, die ich hier nicht alle vergegenwärtigen möchte. Die Spannung zwischen Gleichheits- und Differenzorientierung bei bzw. in demjenigen, was eigentlich „gerecht" genannt zu werden verdient, wird von Aristoteles bei der Diskussion des Verhältnisses von Gerechtigkeit und Billigkeit (Epikie, „epi-eikes"; im römischen Recht: „aequitas") angesprochen. Die Billigkeit, Luther verwendete das schöne Wort von der Gelindigkeit, funktioniert als ein auf die Allgemeinheitsansprüche von Recht und Gesetz bezogener Korrekturmechanismus. Die Spannung zwischen einem allgemeinen Urteil auf der Grundlage des Rechts sowie der zugrundeliegenden Gleichheitsorientierung und der Billigkeit als Berücksichtigung bzw. Anerkennung der Differenz zwischen allgemeinem Gesetz und einzelnem Fall ermöglicht gewissermaßen erst dasjenige, was dann „wirklich" (in einem normativen Sinn) gerecht ist. Aristoteles sagt: „Das Gerechte und das Billige sind also identisch." 22 Die in diesem Zusammenhang einschlägigen Formulierungen lauten, und in ihnen kommt der von Derrida und Young angesprochene Problemzusammenhang in überaus deutlicher Form zur Geltung: „Daher ist das Billige ein Recht und besser als ein gewisses Recht, nicht als das Recht im allgemeinen, sondern als der Mangel, der entsteht, weil das Gesetz allgemein spricht. Dies ist also die Natur des Billigen, eine Korrektur des Gesetzes, soweit es aufgrund seiner Allgemeinheit mangelhaft ist." 23 Das allgemeine Recht bzw. Gesetz, und selbstverständlich auch die Orientierung der als Gleichheit bestimmten Gerechtigkeit, vermag aufgrund seiner Allgemeinheit niemals das im einzelnen Fall Angemessene oder Richtige zu treffen. Aus eben diesem Grund wird die Billigkeit als Korrekturmechanismus vorgeschlagen. Aristoteles folgert aber deshalb nicht, daß die Billigkeit prinzipiell dem Recht oder der Gerechtigkeit als Gleichheit überlegen sei oder auch nur, daß eine den Gerechtigkeitsgedanken ganz grundsätzlich unterminierende Spannung vorliegt. Der Stellenwert der Billigkeit ergibt sich letztlich aus der Unterstellung, mit ihr sei die Dialektik von Gleichheit und Differenz und der daran sich anknüpfenden Aporien zu überwinden. Ganz anders als der sozialphilosophische Postmodernismus denkt sich Aristoteles die fragliche Problematik von vornherein mit Blick auf eine mögliche Lösung.
22 23
Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1137b 9 (Ich folge der deutschen Übersetzung von Olaf Gigon, München 1972). Ebd., 1137b 23ff.
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Zurück in die Gegenwart. Mit dem Rekurs auf Aristoteles sollte zum einen der Nachweis geführt werden, daß es sich bei dem Problem der Differenz gegenüber dem Gleichen nicht um ein spezifisch modernes Problem handelt. Zum anderen ging es mir um den Hinweis auf einen Vermittlungsvorschlag, jenseits der von Derrida und Young gezogenen Konsequenzen. Wie könnte nun eine zeitgemäße Variante des aristotelischen Vorschlags aussehen? Die zeitgenössische Gerechtigkeitskritik macht zu Recht auf die Unmöglichkeit aufmerksam, allein im Rückgriff auf Vorstellungen von Gleichheit für das Gerechte zu sorgen. Richtig sind auch Überlegungen, welche die Frage stellen, ob nicht das liberalistische Gerechtigkeitsideal als ideologische Begleiterscheinung von Ausgrenzungs- und Kolonialisierungprozessen gedeutet werden könne. 24 Sowohl Derrida als auch Young scheinen mir allerdings das Kind mit dem Bade auszuschütten. Wenn Young der Politik der Gleichheit eine Politik der Differenz entgegenstellt, sollte man letztere im Sinn einer Politik der Billigkeit begreifen, und diese nicht, wie die Ausführungen Youngs suggerieren, als das ganz Andere der Gleichheit verstehen. Eine Politik der Billigkeit bestünde in einem gegenüber dem aus universalen Ansprüchen mitunter resultierenden Unrecht stets wachsamen Differenzbewußtsein. Aus der Perspektive des Differenzbewußtseins ist zwar skeptisch auf die Gleichheitsorientierung zu blicken, wobei letztere freilich nicht vollständig verabschiedet wird und auch gar nicht verabschiedet werden kann. Der universale Anspruch der Menschenwürde und ein diesem beigeselltes Differenzbewußtsein führen, indem sie sich wechselseitig korrigieren, allerst auf den normativen Sinn des Gerechtigkeitsideals. Thomas Rentsch hat in diesem Zusammenhang von der Selbsttranszendenz der Gerechtigkeit gesprochen. 25 Welche praktischen Konsequenzen sind aus diesen Überlegungen zu ziehen? Es kann nicht darum gehen, die Orientierung an der Differenz derjenigen an der Gleichheit in schroffer Weise entgegenzustellen. Es kann auch nicht darum gehen, jedwede Form von Praxis oder jede Lebensform immer nur nach den ihr immanenten Maßstäben zu beurteilen. (Ein solches Unterfangen ist zudem im Grunde genommen überhaupt nicht möglich.) Das angemessene Bewußtsein von Differenz kann und sollte nicht (allein) darin bestehen, daß viele andere vieles anders machen und beurteilen, sondern vielmehr in der Unterstellung, daß unsere Begriffe, Beschreibungen und Beurteilungen sich prinzipiell jederzeit als falsch erweisen können. Differenzbewußtsein hält die Erinnerung an die prinzipielle Revidierbarkeit unseres Begriffs- und Urteilssystems wach. Auf eine Position dieser Art scheint mir auch der Vorschlag Charles Taylors hinauszulaufen. Taylor empfiehlt in diesem Zusammenhang eine „Annahme der Gleichwertigkeit" als „eine Haltung, die wir einnehmen, wenn wir das Studium des Anderen
24
Dies ist eine durchgängige Tendenz in der Arbeit v o n Young. Vgl. auch den Beitrag v o n Thomas Rentsch in diesem Band.
25
In diesem Band vgl. insbes. 195ff.
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beginnen". 26 Und er schreibt weiter: „Aber jene Annahme verlangt von uns keine endgültigen, inauthentischen Urteile über die Gleichwertigkeit von Kulturen, sondern die Bereitschaft, uns offen zu halten ..." 2 7 Die Politik der Billigkeit läßt sich dann als eine dem Universalismus an die Seite zu stellende Heuristik der Differenz verstehen. So sehr der Universalismus auch einer Korrektur zu bedürfen scheint, so berechtigt Vorsicht und Unbehagen gegenüber seinen Implikationen auch sein mögen, eine vorschnelle Verwerfung seiner Orientierungen wäre kurzsichtig und politisch bedenklich. Sie ist auch, was meine Überlegungen zeigen wollten, unnötig.
27 26
Ebd. (Hervorheb. - C. D.) Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, a. a. O., 70.
III. Reichweite und Grenzen des Liberalismus
Hermann Klenner
Über die vier Arten von Gerechtigkeitstheorien gegenwärtiger Rechtsphilosophie Es ist schwer, der Gerechtigkeit in Kürze Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Robert Musil
Man kennt die Allegorie der Justitia, jener Dame mit den verbundenen Augen, das Schwert in ihrer rechten, die Waage in ihrer linken Hand, ein sich in Deutschland seit dem 13. Jahrhundert durchsetzendes Symbol: Die Weiblichkeit der Figur versinnbildlicht den Engel der Christen; die verbundenen Augen als Sinnbild ihrer Unvoreingenommenheit (ohne „Ansehen" der Person); die Waage aus der römischen Zeit als Sinnbild für die Gleichheit aller vor Gesetz und Gericht (aequitas), und das Schwert aus der griechisch-germanischen Zeit als Sinnbild für die hinter dem gerechten Recht stehende Staatsmacht und Staatsgewalt. 1 Die Gerechtigkeit als Symbol ist göttlich oder so gut wie göttlich. Die irdische Gerechtigkeit aber wird von Juristen zugemessen, von Gesetzgebern oder von Gerichten. Wer allerdings der Auffassung sein sollte, Juristen seien diejenigen, die wissen, was Recht ist und was Unrecht, der freilich hat sich geirrt. Man hätte damit die Juristen zugleich über- wie unterschätzt. Gewiß erwartet man von Rechtsanwälten, daß sie in einem konkreten Streitfall das Rechte raten, und erhofft von Richtern, daß sie dem Recht gemäß urteilen. Was aber heute Recht ist, kann morgen Unrecht sein, so wie heutiges Unrecht gestern vielleicht noch Recht war. Und was in dem einen Land Recht ist, kann zum gleichen Zeitpunkt in einem anderen Land Unrecht sein. Es gäbe fast nichts Rechtes und Unrechtes, sagt Blaise Pascal (und vor ihm mit fast den gleichen Worten Michel de Montaigne), das nicht mit dem Wechsel der Himmelsgegend seine Natur wechselte; drei Grad Polhöhe stürzten die ganze Jurisprudenz um; ein Meridian entscheide über die Wahrheit; nach wenigen Herrschaftsjahren änderten sich die Verfassungen; das Recht habe seine Epochen; eine lächerliche Gerechtigkeit sei es, die ein Fluß oder ein Berg begrenzt; Wahrheit diesseits der Pyrenäen, Irrtum jenseits („... un méridien décide de la vérité; le droit as ses époques; plaisante justice qu'une rivière borne; vérité au deçà des Pyrénées, erreur au delà").2 Durch Beschlüsse des Senats und
1
2
O t t o R. Kissel, Die Justitia, München 1984, 40. Vgl. auch Gernot Kocher, Zeichen und S y m b o l e des Rechts, München 1992, A b b . 1 , 2 2 f . , 3 5 , 3 8 , 5 5 , 1 2 0 ; Wolfgang Pleister/W. Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, K ö l n 1988, insbes. 126f. Blaise Pascal, Gedanken, Leipzig 1987, 43; Michel de Montaigne, Die Essais, Leipzig 1953, 2 1 7 .
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des Volkes, sagt Seneca, werden Verbrechen begangen (ex senatus-consultis
crimina
etplebiscitis
exercentur).3
Ein Jurist weiß also - günstigenfalls! - im wesentlichen nur, wie im Hier und Heute der binäre Recht/Unrecht-Code lautet. Universaljuristen kennt das Universum nicht. Andererseits ist derjenige ein schlechter Jurist, der nur das Recht seines Hier und H e u te kennt, ohne sich zugleich darüber Gedanken zu machen, ob das, was Recht ist, auch Recht sein sollte, mit anderen Worten: ob das geltende Recht auch gerecht sei. Auctoritas, non veritas facit legem, heißt es bei Hobbes. 4 Also gilt auch: jus qma jussum, non quia justum! Sind aber Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit nicht deckungsgleich, ist die tatsächliche Differenz zwischen diesen beiden Sachverhalten von allergrößter Bedeutung - auch für Juristen. Wenn etwas nicht gerecht ist, weil es Gesetz ist, sondern daß etwas Gesetz sein soll, weil es gerecht ist, dann muß besonders der Jurist das Auseinanderklaffen von Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit als eine Provokation empfinden. M e h r noch, er muß die kritische Distanz zwischen Legalität und Legitimität wachhalten. 5 E s sei denn, er ist mit dem geltenden Recht seines Landes vollständig einverstanden und identifiziert dessen lex scripta mit dem jus justum et aequum schlechthin. D a sich aber in der Praxis noch immer gezeigt hat, daß kein Recht den unübersteigbaren Zenit von Rechtskultur darstellt, und daß Gerechtigkeit ohne Recht ohnmächtig ist wie Recht ohne Gerechtigkeit tyrannisch, gehört das Gerechtigkeitsproblem zum Urbestand rechtswissenschaftlichen Forschens. Schon Piaton hat die Gerechtigkeit (neben Weisheit, Tapferkeit und Besonnenheit) zu den vier Kardinaltugenden gezählt, und zwar als deren höchste, und Aristoteles wußte, daß die Forderung nach Gerechtigkeit vor allem von den Schwächeren erhoben wird, während die ihre Macht und ihren Wohlstand Genießenden jedenfalls die Gerechtigkeit preisen, die in ihrem Land (angeblich) verwirklicht sei. 6 Bertolt Brecht hat von Staaten, in denen die Gerechtigkeit zu sehr gerühmt wird, vermutet, es sei in ihnen besonders schwer, Gerechtigkeit zu üben. 7 Wir haben das im Osten Deutschlands vor 1989 erlebt, und wir erleben es nun wieder. D a nun Gerechtigkeit zu den Fundamentalkategorien der Rechtswissenschaft zählt und demzufolge in deren Grundlagendisziplin, der Rechtsphilosophie, angesiedelt ist, gehört es zum Renommee jedes eigenständigen Rechtsphilosophen, auch eine eigene Gerechtigkeitstheorie zu haben. So viele Rechtsphilosophien, so viele Gerechtigkeitstheorien! Die einschlägige Literatur hat längst Sintflut-Charakter angenommen. Allein in den letzten zwölf Jahren sind Dutzende von Monographien publiziert worden. 8 E s
3 Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 4, Hamburg 1993, 157 (Brief 95 an Lucilius). 4 Thomas Hobbes, Opera philosophica, Bd. 3, Aalen 1961, 202. 5 Thomas Würtemberger, „Legitimität, Legalität", in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, 677ff. 6 Piaton, Der Staat, 433 St.; Aristoteles, Politik, 1318b. 7 Bertolt Brecht, Prosa, Bd. 4, Berlin - Weimar 1975, 54. 8 Vgl. Thomas Bausch, Ungleichheit und Gerechtigkeit, Berlin 1993; Allan Buchanan, Marx and Justice, London 1982; Ralf Dreier, Recht - Staat - Vernunft, Frankfurt/M. 1991; Tilmann Evers, Gerechtigkeit, Hofgeismar 1989; Ronald Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, Frankfurt/M. 1984; Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1994; Jürgen Habermas, Faktizität
Über vier Arten von
Gerechtigkeitstheorien
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lassen sich jedoch in der Gegenwart vier Arten von Gerechtigkeitstheorien unterscheiden, nämlich 1. agnostische, 2. analytische, 3. formale und 4. materiale Gerechtigkeitstheorien. Was nun, erstens, die Agnostiker unter den Gerechtigkeitsdenkern anlangt, so ist ihnen häufig bereits schon der bloße Terminus „Gerechtigkeit" als ein quasi-religiöser, quasi-ideologischer, quasi-moralischer oder quasi-politischer Ausdruck suspekt. Gerechtigkeit habe mit Recht nichts als das Etymologische gemein. Objektivität und Gerechtigkeit hätten nichts miteinander zu tun, behaupteten in schöner Eintracht Friedrich Nietzsche und Max Weber. 9 D a ß etwas gerecht sei, lasse sich ebensowenig wissenschaftlich beweisen, wie die Schönheit eines gotischen Domes oder einer Symphonie Beethovens. 1 0 Gerechtigkeit lasse sich nicht einmal definieren. Sie könne Gegenstand höchstens von Bekenntnissen sein, nicht aber von Erkenntnissen. Wissenschaftlich gesehen seien die Inhalte aller Gerechtigkeitstheorien gleich gültig (und also gleichgültig). Gefühls- und Gemütsangelegenheiten seien sie. Die Agnostiker konstruieren keine Gerechtigkeitstheorie, sie destruieren vielmehr die Gerechtigkeitstheorien der anderen. Hans Kelsen etwa, indem er die meistbenutzten Gerechtigkeitspostulate und -prinzipien (z. B.: Jedem das Seine; Was du nicht willst, das man dir tu ...; Kategorischer Imperativ; Tue das Gute, meide das Böse; Talion; Jedem nach seiner Leistung; Jeder nach seinem Bedürfnis) allesamt mit der Begründung ad absurdum führte, sie seien tautologischer Natur; Leerformeln seien keine Lehrsätze: und für sich selbst zog Kelsen die Konsequenz aus seiner Auffassung, daß höchste Werte logisch nicht zu beweisen seien, wie eben das Irrationale zu rationalisieren ein Versuch mit untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt sei: „In der Tat, ich weiß nicht, was Gerechtigkeit ist." 1 1
und Geltung, Frankfurt/M. 1994; Howard L. Hart, The Concept of Law, Oxford 1982; Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1987; Arthur Kaufmann, Uber Gerechtigkeit, Köln 1993; Hans Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit, Wien 1985; L. Kern/H. P. Müller, Gerechtigkeit - Diskurs oder Markt, Opladen 1986; Roland Kley, Vertragstheorien der Gerechtigkeit, Bern 1989; John R. Lucas, On Justice, Oxford 1989; Niklas Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1993; Werner Maihofer/G. Sprenger (Hrsg.), Praktische Vernunft und Theorien der Gerechtigkeit, Stuttgart 1992; Barrington Moore, Ungerechtigkeit, Frankfurt/M. 1982; Thomas Morawetz (Hrsg.), Justice, Canberra 1991; Giuseppe Orsi (Hrsg.), Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1993; Elliot Pruzan, The Concept of Justice in Marx, New York 1988; John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, Frankfurt/M. 1992; Stephan Rothlin, Gerechtigkeit in Freiheit, Frankfurt/M. 1992; Bernd Rüthers, Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Osnabrück 1991; Theodor Schramm, Recht und Gerechtigkeit, Köln 1985; Judith Shklar, Uber Ungerechtigkeit, Berlin 1992; Rolf Stranzinger, Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1988; Rainer Trapp, Nicht-klassischer Utilitarismus. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1988; Michael Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. - New York 1992; Reinhold Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, Berlin 1994. 9 10 11
Friedrich Nietzsche, Werke, hrsg. von K. Schlechta, München 1977, Bd. 1, 247; Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, 505, 600. Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, Berlin 1989, 163. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 2 1960, 366ff.; ders., Essays in Legal and Moral Philosophy, Boston 1973, 24: „It do not know and cannot say what justice is."
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Was, zweitens, die Analytischen Gerechtigkeitstheorien betrifft, so handelt es sich ihrem Abstraktionsstatus nach um Metatheorien. Ihre Anhänger entwickeln nicht eigene Kriterien, um Gerechtigkeiten von Ungerechtigkeiten unterscheiden zu können. Sie analysieren vielmehr die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen, die logischen Strukturen, die sprachlichen Formen, die Motivationen, die intellektuellen Quellen und Folgen, die sozialen Ursachen und Wirkungen sowie den Verbreitungsgrad von Gerechtigkeitsvorstellungen anderer, auch von denjenigen, die auf eine Gerechtigkeitstheorie Verzicht leisten, die also Rechtswissenschaft auf Rechtsdogmatik reduzieren und sich auf den von den Gesetzgebern und Gerichten gelieferten Stoff beschränken, auf die Rechtsnormen und die richterlichen Entscheidungen. Sie erörtern, wie Gerechtigkeitsstandards entstehen und in welchen Bereichen diese Standards das Denken und das Handeln in der Gesellschaft beeinflussen. Die, drittens, formalen Gerechtigkeitstheorien dominieren gegenwärtig. Da die formalen Gerechtigkeitstheoretiker die seit Jahrtausenden überkommene Problemfassung der Gerechtigkeit als materialer Richtigkeit des Rechts radikal verabschiedet haben, hat man sogar sagen können, daß hier das „Gerechtigkeitsproblem" unter Ausklammerung des Gerechtigkeitsproblems formuliert wird. 12 Unter den formalen Gerechtigkeitstheorien dominieren gegenwärtig deren prozedurale Varianten. Deren Bemühungen sind auf Verfahren (Prozeduren) gerichtet, wie man gerechtes Recht erzeugen und wie man beurteilen könne, ob ein bereits erzeugtes Recht gerecht oder ungerecht ist. So hat etwa John Rawls in seiner Theory ofJustice die beiden Grundsätze aufgestellt: „Each person is to have an equal right to the most extensive basic liberty compatibel with a similar liberty for others" und „Social and economic inequalities are to be arranged so, that they are both a) to the greatest benefit of the least advantaged, and b) attached to positions and offices open to all." Ferner hat Rawls die beiden Gerechtigkeitsregeln hinzugefügt, daß Freiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden dürfen (die Freiheit also Vorrang vor der Gleichheit habe und weder Privateigentum noch Monogamie „subject to political bargaining" seien) und daß Chancengleichheit Vorrang vor einer Nutzenmaximierung habe. Das von Rawls konstruierte Entscheidungssubjekt, ein juristischer Homunkulus, durch einen Zufallsgenerator ausgewählt, müßte einer auf den vorgenannten Prinzipien- und Prioritätsregeln basierenden Gesellschafts- und Rechtsordnung auch dann zustimmen können, wenn er zum Zeitpunkt seiner Entscheidung infolge eines „Schleier des Nichtwissens" nicht wisse, welchen Platz er in ihr einnehmen werde, ob er in ihr reich oder arm, mächtig oder machtlos, talentiert oder unbegabt sein werde. 13 Eine andere, ebenfalls als prozedural zu klassifizierende Gerechtigkeitstheorie hat Jürgen Habermas vorgelegt. 14 Er bietet kein monologisches Konzept (wie Rawls), sondern ein dialogisches. Alle politische Macht solle sich aus der kommunikativen Macht der Staatsbürger herleiten. Danach sei eine Rechtsordnung in dem Maße gerecht, in 12
Vgl. Ralf Dreier, Recht - Moral - Ideologie, Frankfurt/M. 1 9 8 1 , 276; ders., Recht - Staat - Vernunft, a. a. O., 8ff. 13 J o h n Rawls, A T h e o r y of Justice, Cambridge/Mass. 1 9 7 1 , 302. 14 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, a. a. O., 109, 166.
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dem sie die gleichursprüngliche Autonomie ihrer Bürger gleichmäßig sichert, und sie verdanke ihre Gerechtigkeitsqualität den Kommunikationsformen, in denen sich diese Bürgerautonomie allein äußern und bewähren könne. Speziell der Gesetzgebungsprozeß sei der genuine Ort sozialer Integration, in dem sich die privaten Rechtssubjekte kommunikativ vergesellschafteten und in eine frei assoziierte Rechtsgemeinschaft verwandelten. D a das Recht Imperative verschiedener Herkunft verarbeite und sich dabei auch Interessenlagen nur deshalb durchsetzten, weil sie die stärkeren seien, so daß dann das Recht einer illegitimen Macht nur den Anschein von Gerechtigkeit verleihe, müßten Grundsätze und N o r m e n gesucht werden, die verallgemeinerungsfähige Interessen verkörpern. Diese könne man aus einem „kommunikativen Arrangement" der Rechtsgenossen erschließen, die als Teilnehmer an rationalen Diskursen zu prüfen hätten, ob eine strittige N o r m die Zustimmung aller möglicherweise Betroffenen finden könnte. Vorhandene Interessengegensätze bedürften dabei eines rationalen Ausgleichs zwischen konkurrierenden Wertvorstellungen und Interessenlagen, was wiederum ein Aushandeln von Kompromissen unter fairen Verhandlungsbedingungen bedinge. Auch wenn zur Gerechtigkeit nicht nur das Resultat, sondern ebenso der Weg zu ihr gehört und schon deshalb den prozeduralen Theorien eine produktive Bedeutung zukommt, so stellen sie doch die Problemlage auf den Kopf. Die Gerechtigkeit eines Rechts solle nicht mehr davon abhängen, ob sein Inhalt gerecht ist, sondern davon, ob es auf gerechte Weise erzeugt worden ist. Das entspricht genau der verqueren Wahrheitskonzeption der Prozeduralisten: Die Berechtigung einer Behauptung solle nicht mehr von der Wahrheit abhängen, sondern die Wahrheit des Behaupteten von der Berechtigung der Behauptung. 1 5 Was aber weder Rawls noch Habermas zum Gegenstand ihrer Argumentation machen, ist die schlichte Frage, wodurch denn nun die Profiteure der Asymmetrien ökonomischer, politischer, militärischer und geistiger Machtpositionen in der Gesellschaft sich durch handlungsentlastete Dialoge mit Machtlosen ins Bockshorn jagen lassen und in ihre eigene Transformation ins soziale Nichts einwilligen sollten? Alle sich aufs Prozedurale beschränkenden Gerechtigkeitstheorien beruhen auf dem intellektualistischen Fehlschluß, verbindliche N o r m e n aus den bloß formalen Bedingungen sozialer K o m munikation ableiten oder den Geltungsgrund normativer Verbindlichkeit in diesen Bedingungen aufdecken zu wollen. Wie sollen die Monologe des juristischen H o m u n k u lus aus folgenlosem Denken in eingreifendes Denken verwandelt werden. Der Zirkel ist unaufhebbar: Ehe man über die Eigentums-, Gleichheits- und Freiheitsverhältnisse der Bürgerinnen und Bürger zu diskutieren beginnen kann (also auch über deren Eigentumslosigkeit, Ungleichheit und Unfreiheit), sind die strukturellen Gewalten mit ihren Eigentums-, Gleichheits- und Freiheitskonsequenzen längst etabliert. Ü b e r die künftige Machtverteilung in der Gesellschaft kann nur unter den Rahmenbedingungen einer bereits gegenwärtigen Macht/Ohnmacht-Verteilung in ihr diskutiert und entschieden werden. Zwischen der als verändernswert gedachten Welt und dem Realprozeß ihrer Veränderung liegt die Zwischenwelt objektiver und subjektiver Bedingungen, auf
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Robert Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, Frankfurt/M. 2 1991, 138.
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die nicht die freischwebende Intelligenz der interessenlos Denkenden den entscheidenden Einfluß hat. Prozeduralisten üben häufig Enthaltsamkeit gegenüber den existenten Ungerechtigkeiten in der Welt von heute. Aus ihren Büchern erfahren diejenigen, die am meisten auf „Gerechtigkeit" angewiesen sind, am wenigsten, was Gerechtigkeit eigentlich ist. In einem neuerdings publizierten halbtausendseitigen Buch über Gerechtigkeit wurde nicht eine einzige Ungerechtigkeit in der Welt von heute mit Namen und Vornamen denunziert! 1 6 Und dabei hätte doch die Zielstellung des Autors, die Kontexte der Gerechtigkeit, also ihr Umfeld zu untersuchen, wahrlich nicht erfordert, die Erfahrungswirklichkeit vor den Augen der Vernunft abzuschirmen. Gerechtes Recht fällt, wie ungerechtes Recht auch, doch nicht vom Himmel. Beide haben ihre Ursachen und ihre Wirkungen. Und genau dieses gesellschaftliche Beziehungsgefüge von Bedingungen und Folgen bildet den eigentlichen Kontext von Gerechtigkeit wie von Ungerechtigkeit. Was nun, viertens, die materialen Gerechtigkeitstheorien anlangt, so gibt es gegenwärtig hiervon vor allem drei Varianten: die naturrechtliche, die marxistische und die positivistisch-völkerrechtliche. Dis naturrechtliche Gerechtigkeitstheorie stellt einen dreistufigen Ableitungszusammenhang her zwischen der lex aeterno, (der wie Gott selbst ewigen Schöpfungsordnung), der lex naturalis (dem Abbild der lex divina im menschlichen Bewußtsein als Teilhabe des Menschen am sonst unerforschlichen Willen Gottes) und der lex humana. Danach ist dann eine der lex naturalis oder gar der lex aeterna widersprechende lex humana ungerecht, ja sie ist gar keine/ex, sondern einelegis corruptio.17 Was anderes als große Räuberbanden sind Staaten, wenn ihnen die Gerechtigkeit fehlt, lehrte der Fundamentalist Augustinus. 1 8 Man wird sich freilich von einem religiös bestimmten Gerechtigkeitsdenken nicht gar so viel Friedfertiges versprechen dürfen. Die Bibel enthält nämlich nicht nur die Schwerter-zu-Pflugscharen-Losung, sondern auch die freilich weniger bekannte Pflugscharen-zu-Schwertern-Losung (Jesaja 2,4; Joel 4,10). Und was die Herr/Knecht-Relation anlangt, so gibt es zwar einen selten genannten Brief des Apostel Paulus, in dem er bei einem Mitchristen Fürsprache für einen entlaufenen Sklaven einlegt (Philemon 8), ansonsten aber lautet die Botschaft: Ein jeglicher, ob Sklave oder Freier, bleibe seiner Berufung treu, wie Gott es ihm zugemessen hat (1. Korinther 7,20), also: „Solang der Knecht bleibt, was er ist,/ Verhält der Herr sich zu ihm als ein Christ." Zudem kann es kaum als Zufall angenommen werden, daß in den Zonen gegenwärtig blutigster Auseinandersetzungen die an den gleichen Gott glaubenden J u den, Katholiken, Orthodoxen, Protestanten und Muslime aus ihrer jeweiligen Religion häufig eine Fundamentalisierung ihrer irdischen Gegensätze herausfiltern. 1 9 Unterzieht man sich der Mühe, die freilich arg verstreuten Bemerkungen von Marx und Engels zum Gerechtigkeitsthema innerhalb ihres Monumentalwerkes zu strukturieren, dann sieht man sich einem komplexen Begriffsgeflecht ausgesetzt. 20 Einerseits 16 Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit, a. a. O. 1 7 Thomas von Aquin, Summa theologica, Bd. 13, Heidelberg 1977, 97 (I—II, 95, 2). 18 Augustinus, Vom Gottesstaat, Bd. 1, München 1977, 173. 19 Giuseppe Orsi u. a. (Hrsg.), Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1 9 9 3 , 1 3 7 , 1 5 9 .
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haben sie jedes angeborene oder göttlich verordnete oder apriorisch konstruierte Gerechtigkeitsprinzip mit absolutem Geltungsanspruch negiert, während sie andererseits den teils progressiven, teils konservativen Gehalt der im Geschichtsverlauf der Menschheit auftretenden Gerechtigkeitsvorstellungen als ideellen Ausdruck materieller Interessen der verschiedenen Gesellschaftsklassen gewürdigt haben. Davon abgehoben haben sie unterschieden zwischen einer juridischen Gerechtigkeit (justitia legalis et forensis) im Sinne einer Übereinstimmung zwischen Rechtsnorm und Gerichtsurteil mit der geltenden Rechtsordnung, einer sozialen Gerechtigkeit im Sinne einer Ubereinstimmung zwischen Recht und Produktionsweise, sowie einer historischen Gerechtigkeit im Sinne einer Übereinstimmung zwischen dem Recht und den Fortschrittserfordernissen der Gesellschaft. Zu den Vorzügen dieses Dreifaltigkeitskonzepts gehört ganz gewiß, daß es Differenzierungen in großer Dimension vorzunehmen ermöglicht und das Gerechtigkeitsproblem nicht auf einen binären Recht/Unrecht-Code reduziert. Vor allem aber macht es innerhalb von Gerechtigkeitsüberlegungen das Umfeld sozialer Strukturen und Handlungen diskutierbar. Die größten Akzeptanzchancen unter den materialen Gerechtigkeitstheorien hat deren völkerrechtliche Version. Man kann nämlich die beiden von den Vereinten Nationen 1966 angenommenen Weltpakte über die Menschenrechte (International Covenant on Economic, Sozial and Cultural Rights; International Covenant on Civil and Political Rights) als ein universelles Gerechtigkeitskodifikat betrachten. Danach wären Rechtsordnungen oder jedenfalls deren Bestandteile (Gesetze und Gerichtsurteile), die dem Menschenrechtskatalog der Vereinten Nationen widersprechen, als ungerecht zu bezeichnen. Dieser völkerrechtliche Menschenrechtskatalog, der übrigens sowohl das Selbstbestimmungsrecht der Individuen wie das der Völker enthält, 21 hat zudem den Vorteil, mit ansonsten durchaus verschiedenen, ja gegensätzlichen Gerechtigkeitsvorstellungen kompatibel zu sein. Er enthält anwendungsfähige und der Möglichkeit nach justitiable Kriterien für eine auf Gerechtigkeit zielende Gesetzgebung sowie für eine Legitimierung, aber auch Illegitimierung geltenden Rechts. Freilich hüte man sich vor der Illusion, die zwischenmenschlichen Beziehungen in einer Gesellschaft oder die zwischenstaatlichen Beziehungen der Weltgesellschaft als den Ort herrschaftsfreier Dialoge mißzuverstehen. Je abstrakter ein Gerechtigkeitsprinzip formuliert ist, desto größer ist die Gefahr, verallgemeinerungsunfähigen Interessen eine Verallgemeinerungsfähigkeit zu unterstellen. Formelkompromisse pflegen genau die Widersprüche zu kaschieren, auf deren evolutionärer oder revolutionärer Austragung die Hoffnungen derer gerichtet sind, die nicht in Macht und Wohlstand sitzen. Widersprüche zu vergeistigen heißt, sie zu verwischen. Wer nur von Idealitäten, nicht aber zumindest auch von Realitäten gequält wird, ist kein geeigneter Gerechtigkeitstheoretiker. Für Gerechtigkeit kann nur der kämpfen, der auch für sich selbst kämpft. Wer aber auf seiner gerechten Forderung nicht besteht, fördert die allgemeine Ungerechtigkeit. Tatenarm und gedankenvoll, wie es einem Deutschen geziemt ... 20 21
Vgl. Hermann Klenner, Marxismus und Menschenrechte. Studien zur Rechtsphilosophie, Berlin 1982, 1 4 7 - 1 5 8 : „Exkurs: Gerechtigkeit - eine rechtsphilosophische Kategorie?" Vgl. Human Rights. A Compilation of International Instruments, N e w York 1988, 7 - 4 2 .
Christoph Menke
Despotie, Individualismus, Vereinheitlichung Tocqueville über Freiheit und Gleichheit
Den normativen Kern ebenso der politischen Ordnung wie der moralischen Ideale der Moderne bildet die Idee einer unbegrenzten, alle umfassenden Gleichheit. Dabei lassen sich zugleich zwei ganz verschiedene Stränge der Reflexion der modernen Idee der Gleichheit unterscheiden. Der einen Reflexion geht es darum, von innen heraus ihren normativen Gehalt zu entfalten und dabei zugleich zu betrachten, wie - das heißt: in welchen Prozeduren und mit welchen Gehalten - die Gleichheitsidee sich entfaltet. Die andere Reflexion dagegen betrachtet diese Entfaltungen der Gleichheitsidee von außen, in den Konsequenzen, die ihre Verwirklichung für die Verhältnisse des Lebens hat. Dabei leitet diesen zweiten Strang der Reflexion der Verdacht, daß zu den Konsequenzen der Gleichheit nicht nur zufällig, sondern strukturell Momente von Zwang und Gewalt gehören. Seit der ersten, romantischen Artikulation dieses Verdachts bis zu seinen letzten Reformulierungen etwa in der Kritischen Theorie Adornos, dem Kommunitarismus Taylors und dem radikalen Individualismus Foucaults oder Derridas hat deshalb die „zweite Reflexion" (Adorno) der Gleichheit immer wieder die Kosten bilanziert, die, bei allen unbestreitbaren Fortschritten und Gewinnen, ebenso individuell wie sozial für die Etablierung von Gleichheit zu entrichten sind. Dabei weist jedoch bereits die Aufzählung dieser ganz unterschiedlichen Konzeptionen, die sich gleichermaßen als Varianten einer solchen kritischen Befragung der Gleichheitsidee verstehen lassen, auf die große Heterogenität der in ihr wirksamen Motive und Argumente hin. Ich möchte im folgenden versuchen, diese Heterogenität nicht aufzulösen, sondern im Gegenteil herauszustellen und ein wenig zu strukturieren. Daß ich dabei über die normativen Gründe, die für die Idee entgrenzter Gleichheit sprechen, kein Wort verliere, bedeutet nicht, daß sie mir nicht einleuchten, sondern daß ich sie im Gegenteil für so überzeugend halte, daß ich sie - in einer Fassung irgendwo zwischen Habermas und Rawls einfach voraussetze. Beide soeben unterschiedenen Reflexionen der Gleichheit - von innen auf ihren Gehalt und von außen auf ihre Folgen - können nur dann angemessen vollzogen werden, wenn sie sich als eine Perspektive von zweien verstehen. 1 Mich in-
1 Zu diesem Modell einer doppelten Reflexion siehe Christoph Menke, „Unparteilichkeit und Zwang. Zum Rationalitätsdilemma moderner Gesellschaften", in: Hans Friedrich Fulda/Rolf-Peter Horstmann (Hrsg.), Vernunftbegriffe in der Moderne (Stuttgarter Hegel-Kongreß 1993), Stuttgart 1994,
Despotie, Individualismus,
Vereinheitlichung
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teressiert hier ein Problem, das, wie Adorno und Derrida übereinstimmend hervorheben, überhaupt erst sinnvoll gestellt werden kann, wenn die normative Kraft der Gleichheit bereits anerkannt ist: das Problem nämlich, wie sich unter dieser Voraussetzung der kritische Einwand darstellt, daß die Etablierung einer Ordnung der Gleichheit zugleich ein Moment der Gewalt enthält. Ich werde im folgenden eine Antwort auf diese Frage anzudeuten versuchen, indem ich zunächst drei Stränge der Kritik der Gleichheit unterscheide (1), sodann zwei von ihnen etwas ausführlicher betrachte (2) und sie schließlich mit der liberalen Konzeption der Gleichheit konfrontiere (3). Dabei beziehe ich mich im folgenden gleichwohl allein auf eine Position, und zwar die von Tocquevilles Amerikabuch, das ich jedoch weniger eingehend interpretieren, sondern vielmehr als Folie benutzen werde, um einige systematische Unterscheidungen vorzuschlagen. Im Zentrum dieses Buches steht die These, daß die an den Interessen aller orientierte Gerechtigkeit und die an der eigenen Größe und Vollendung orientierte Individualität in einem Verhältnis unauflöslicher Spannung stehen. Diese Spannung hat Tocqueville abkürzend auch als den epochalen Konflikt zwischen „Gleichheit" und „Freiheit" beschrieben und damit der Kritik der Gleichheit einen Ausdruck gegeben, der Mißverständnissen aller Art ausgesetzt ist. Zugleich aber lassen sich bei ihm, gerade wegen dieser mißverständlichen Generalisierung, alle relevanten Aspekte der Gleichheitskritik finden und in einer kritischen Lektüre unterscheiden.
1. Gleichheit und Freiheit: drei Versionen Tocqueville diskutiert das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit im Rahmen einer historisch angelegten Gegenwartsdiagnose. Dabei geht es ihm um eine Analyse der gegenwärtigen, gar zukünftigen Verhältnisse der „neuen Welt" der Moderne durch eine Rekonstruktion des Prozesses, durch den sie sich aus der „aristokratischen" Welt des Mittelalters herausgebildet hat. Diesen Prozeß beschreibt Tocqueville als einen Fortschritt an „Gleichheit", der jedoch zugleich eine Schwächung, einen Verlust an „Freiheit" mit sich bringt. Was durch die Etablierung der Gleichheit verlorenzugehen droht, ist eine F o r m des Lebens, die sich durch „entschlossene Leidenschaften, [...] edle Neigungen, tiefen Glauben und urtümliche Talente" auszeichnet (I, 19) 2 : Glanz, Genuß, Gelehrsamkeit, Begeisterung, Glaubenseifer, Ruhm, Stärke - all das, was dem Leben (wie Tocqueville betont: nur einiger) einzelner im Mittelalter seinen Wert, sein Glück und seine Größe verlieh, droht im Zeitalter der Gleichheit verlorenzugehen und das Leben der Individuen durch die soziale Etablierung der Gleichheit „schwach und krank" zu werden (I, 20). Den Grund dafür sieht Tocqueville im internen Zusammenhang der
666-686. D a z u sehr viel ausführlicher Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Hegel und die Freiheit der Moderne (erscheint Frankfurt/M. 1996). 2 Alexis de Tocqueville, Ü b e r die Demokratie in Amerika, 2 Bde., Zürich 1987 (im folgenden im Text zitiert durch die Angabe von Band- und Seitenzahl).
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Christoph
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Gleichheit mit demjenigen neuen Typ des Selbstverständnisses und -Verhältnisses, den er als „Individualismus" bezeichnet (I, 147-150): „Gleichheit" impliziert „Individualismus" und „Individualismus" die „Schwächung" und „Erniedrigung" des I n d i v i d u ums. So ist mit der „Gleichheit" über den „Individualismus" unentrinnbar eine V e r einheitlichung' und ,Angleichung' (II, 428f., 571), eine Nivellierung und N o r m i e r u n g verbunden, durch die „alles so gleichartig zu w e r d e n [droht], daß die eigentümliche Gestalt jedes einzelnen in der Erscheinung der Gesamtheit bald völlig aufgehen w i r d " (II, 479). Diese These - die These von der Schwächung der individuellen Freiheit durch die Gleichheit aller - bezeichnet die Version, die Tocqueville der eingangs genannten Kritik der Gleichheit gibt. Betrachtet man sie näher, so zeigt sich jedoch, daß es sich in Wahrheit u m drei Versionen handelt. Zunächst einmal lassen sich z w e i Ebenen unterscheiden, auf denen Tocqueville, über den Begriff des „Individualismus", den Zusammenhang zwischen Gleichheitsgewinn u n d Freiheitsverlust erläutert (auf der zweiten Ebene ergeben sich dann noch einmal z w e i verschiedene Varianten und dadurch im ganzen die angekündigten drei Versionen). Auf der ersten Ebene führt die soziale Etablierung der Gleichheit zu einer S c h w ä chung des Individuums, weil sie einhergeht mit einer neuen F o r m des „Despotismus" einem „milden", aber „ausgedehnten" und umfassenden Despotismus der v o r m u n d schaftlichen Vorsorge des (Wohlfahrts-)Staates für die einzelnen (II, 461). 3 Dabei versteht Tocqueville die Politik der „Gleichheit" utilitaristisch, als eine Politik f ü r das Wohlergehen möglichst vieler, und den durch sie hervorgebrachten „Individualismus" der einzelnen als eine H a l t u n g des Privatismus und der politischen A p a t h i e : „Der Individualismus ist ein überlegendes und friedfertiges Gefühl, das jeden Bürger drängt, sich von der Masse der Mitmenschen fernzuhalten und sich mit seiner Familie und seinen Freunden abzusondern; nachdem er sich eine kleine Gesellschaft für seinen Bedarf geschaffen hat, überläßt er die große Gesellschaft gern sich selbst" (I, 147). Die soziale Isolierung der Individuen aber führt, so Tocqueville, zu ihrer politischen (Selbst-)Entmachtung und diese w i e d e r u m hat zur Folge, auch ihr privates Leben zu „schwächen" und zu „verkleinern": Weil der politische Freiheits- und Machtverlust der sozial isolierten Individuen die Rückseite eines Verfügungs- und M a c h t g e w i n n s des d e s p o t i s c h e n ' Staats ist, der „jeden von ihnen in den verschiedenen H a n d l u n g e n seines Lebens zu lenken und zu belehren und ihn nötigenfalls gegen seinen Willen glücklich zu m a c h e n " versucht (II, 447) - deshalb bedeutet der politische zugleich einen persönlichen oder privaten Freiheitsverlust, so daß die Individuen, auch in ihren privaten Dingen und „kleinen Angelegenheiten", „die Fähigkeit selbständigen Denkens, Fühlens und H a n delns nach und nach einbüßen und [ . . . ] dergestalt Schritt für Schritt unter die Stufe des M e n s c h e n t u m s hinabsinken" (II, 467). Im „Individualismus" als Korrelat einer z u m „Despotismus" neigenden Politik der Vorsorge verbinden sich drei Züge: soziale Iso-
3 Vgl. auch Wilhelm von Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, Abs. I-IV, sowie John Stuart Mill, On Liberty, Kap. 3 - 4 . Für eine gegenwärtige Variante dieser Kritik siehe Nancy Fräser, Unruly Practices. Power, Discourse and Gender in Contemporary Social Theory, Minneapolis 1989, Teil 3.
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lierung, politische Entmachtung und der Verlust der Fähigkeit zu freier Selbstbestimmung auch in privaten Dingen. Das bezeichnet die erste Version von Tocquevilles These, daß der Gleichheitsgewinn einen Freiheitsverlust bedeutet. Zugleich aber führt Tocqueville gegen den Despotismus einer Politik der Gleichheit, die im Namen der Vorsorge die Freiheit schwächt, eine zweite Form der Politik der Gleichheit ins Feld, die im Namen des Rechts die Freiheit gewährleistet: „Der sozialen Gewalt weitgezogene, aber sichtbare und unveränderliche Grenzen stecken, den Privaten bestimmte Rechte gewähren und ihnen den unangefochtenen Genuß dieser Rechte zu verbürgen, dem einzelnen das wenige erhalten, was ihm an Stärke und Eigenheit übrigbleibt; ihn neben der Gesellschaft erhöhen und ihm eine Stütze gegen sie bieten: das scheint mir im Zeitalter, in das wir eintreten, die erste Aufgabe des Gesetzgebers zu sein" (II, 479). Demnach korrigiert die Gleichheit des Rechts die Gleichheit der Vorsorge, sofern jene - die Gleichheit des Rechts - auf die Gewährleistung gerade derjenigen Freiheit gerichtet ist, die diese - die Gleichheit der Vorsorge - angreift: die einer selbstbestimmten Lebensführung. Die Betonung des Gegensatzes zwischen den beiden Formen einer modernen Politik der Gleichheit, zwischen der „utilitaristischen" und der „juridischen", zwischen der vormundschaftlichen Vorsorge und den sie begrenzenden Rechten, kann jedoch nicht verdecken, daß sie nach Tocquevilles Uberzeugung in der für ihn entscheidenden Hinsicht, ihren Auswirkungen für die Freiheit der Individuen, auch verwandte Züge tragen. Denn auch die Anerkennung des gleichen Rechts der Individuen auf ihre Freiheit hat - so Tocquevilles These - eine Schwächung der Freiheit zur Folge. Das ist die zweite Ebene, auf der Tocqueville den Zusammenhang von Gleichheitsgewinn und Freiheitsverlust erläutert. Terminologisch werde ich sie von der ersten Ebene dadurch absetzen, daß ich für die Schwächung der Freiheit durch eine Politik der Vorsorge mit Tocqueville von einem „Despotismus" spreche, für die Schwächung der Freiheit durch eine Politik der Rechte dagegen mit einem Begriff Foucaults (der jedoch in Formulierungen Tocquevilles angelegt ist) von einer „Normalisierung". Betrachtet man nun näher, wie Tocqueville dieses Geschehen der Normalisierung beschreibt, dann wird eine weitere Unterscheidung zweier Aspekte nötig; wir haben es somit mit zwei verschiedenen Arten der Normalisierung zu tun. So ist die Gleichheit der Rechte normalisierend erstens in einem negativen Sinn, sofern sie die zugelassenen Inhalte einer freien Lebensführung der Individuen begrenzt. Darüber hinaus ist die Gleichheit der Rechte normalisierend aber auch noch zweitens in einem positiven Sinn, sofern sie eine bestimmte Form der freien Lebensführung der Individuen hervorbringt und durchsetzt. 4 Das also sind die drei oben angekündigten Versionen des Konfliktes von Gleichheit und Freiheit bei Tocqueville: Der „neue Despotismus" durch die Politik der staatlichen Vorsorge für die einzelnen - das ist die erste Version. Die doppelte „Normalisierung" der Individuen und ihrer Freiheit durch eine Politik gleicher Rechte - das ist die zweite und dritte Version. Tocquevilles Diagnose und Warnung vor einem drohenden Despo-
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Diesen positiven oder produktiven Aspekt der Normalisierung betont vor allem Michel Foucault, Uberwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1977, Kap. III: „Disziplin".
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tismus in der Moderne haben ihre Fortschreibung in der Kritik an den bürokratischen Apparaten des modernen Wohlfahrtsstaates gefunden. Mich wird im folgenden jedoch ausschließlich der zweite Strang interessieren: Tocquevilles Diagnose und Warnung vor einer drohenden Normalisierung durch die Gleichheit der Rechte. 5 Denn während Tocqueville durch seine Diagnose eines modernen Despotismus einen Beitrag zur Kritik der antiliberalen Variante der modernen Politik der Gleichheit leistet, trägt er durch seine Diagnose der modernen Normalisierung zu dem nicht weniger dringlichen Gewinn eines kritischen Selbstverständnisses der liberalen Politik der Gleichheit selbst bei. Betrachten wir daher nun die beiden Aspekte der Normalisierung etwas ausführlicher.
2. Zweierlei Normalisierung: Vereinheitlichung und Selbstverfügung Den ersten oder negativen Normalisierungseffekt der Gleichheit führt Tocqueville auf ihren Zusammenhang mit einem Anspruch auf „Einheit" zurück. Gleichheit der Rechte bedeutet „gesetzgeberische Einheitlichkeit": der „Gedanke einer einheitlichen Regel, die allen Angehörigen der Gesellschaft in gleicher Weise auferlegt wird" (II, 426), ist ein Kernbestand der Forderung gleicher Rechte. Die Anwendung solcherart einheitlicher Normen bedeutet aber nach Tocqueville zugleich, alle „Menschen zwingen, im gleichen Schritt zu gehen und auf das gleiche Ziel hinzumarschieren" (II, 571), „Bevölkerungen, die sich noch nicht gleichen, dieselben Bräuche und dieselben Gesetze aufzuerlegen" (II, 426). Sicherlich unterscheidet Tocqueville in dieser Beschreibung der angleichenden' Macht einheitlicher Normen nicht hinreichend zwischen den despotischen' Normen einer Politik der Vorsorge, in denen um eines sozialen „einheitliche[n] Plan[s]" (II, 428f.) willen den Individuen Lebens- und Verhaltensweisen vorgeschrieben werden, und den eröffnenden Normen rechtlicher Gleichheit, in denen zugunsten der Frei-
5
Diese Beschränkung auf das Problem der Normalisierung hat den Nachteil, daß sie mit der A u s blendung der Tocquevilleschen Behandlung der modernen Despotie zugleich auch den dafür zentralen (Gegen-)Begriff der Demokratie aus den Augen verliert. Dick H o w a r d hat das in einer Diskussion zu Recht eine einseitige und verkürzende Lektüre von Tocqueville genannt, die er als „very G e r m a n " empfinde. D e m kann ich hier nur mit einer Versicherung antworten: Die Intention meiner Überlegungen ist es nicht, das Problem gleicher Rechte und ihrer normalisierenden Effekte an die Stelle des Problems der Demokratie zu setzen. Vielmehr geht es darum, im Hinweis auf die normalisierenden Effekte der Gleichheit der Rechte ein Problem, einen Bereich der Konflikte, zu exponieren, das zu seiner Lösung einen erweiterten
Begriff der Demokratie verlangt. „Erweitert"
ist dieser Demokratiebegriff, weil er nicht mehr auf die Herstellung gleicher Rechte reduziert werden kann (siehe dazu auch die Beiträge von Chantal Mouffe und Richard Shusterman in diesem Band). Ein solcher „erweiterter" Demokratiebegriff könnte daher beanspruchen, für das „ Ü b e l " der Normalisierung zu zeigen, was Tocqueville generell behauptet: „daß es für die Bekämpfung der Übel, die die Gleichheit hervorrufen kann, nur ein wirksames Heilmittel gibt: es ist die politische Freiheit".
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heit aller Individuen bestimmte Lebens- und Verhaltensweisen einzelner Individuen ausgeschlossen werden. Aber er unterstreicht gleichwohl zu Recht, daß auch die Normen rechtlicher Gleichheit durch Begrenzung vereinheitlichend sind: indem sie den Raum zugelassener Lebens- und Verhaltensweisen abstecken, begrenzen sie zugleich ihre „unendliche Verschiedenheit" zugunsten ihrer sozialen Koexistenz. Von Bedeutung für die Freiheit der Individuen ist diese Begrenzung nun insofern, als sie die Gefahr eines Ausschlusses bedeutet: und zwar des Ausschlusses selbst desjenigen, das für sie in ihrem Leben wirklich wichtig ist. Das werde ich gleich noch näher erläutern. Werfen wir zunächst jedoch einen kurzen Blick auf den zweiten, den positiven oder hervorbringenden Aspekt der Normalisierung. Worin er besteht, läßt sich angeben, wenn wir noch einmal zu Tocquevilles Begriff des „Individualismus" zurückkehren. In diesem Begriff faßt Tocqueville die Veränderungen zusammen, die in der Freiheit, genauer: im Selbstverständnis und -Verhältnis der Individuen dadurch eintreten, daß ihr äußeres Verhältnis durch Gleichheit bestimmt wird. Sie beschränken sich jedoch nicht auf die politische Apathie und den privatistischen Rückzug, die durch die „milde Despotie" vorsorgender Gleichheit hervorgebracht werden. Vielmehr ordnet Tocqueville diese Züge in einen weiter gesteckten Rahmen ein, der zugleich auch die Normalisierung durch die Gleichheit der Rechte umfaßt. Umrissen wird dieser weiter gesteckte Rahmen des Individualismusbegriffs durch den Gegensatz zwischen der „Schönheit" von „Idealen" und dem „Nutzen des einzelnen" für seinen „persönlichen Vorteil" (II, 179). Stark, energisch und originell - so lautet die These, die Tocqueville im Blick auf die „aristokratischen Völker" formuliert - ist die individuelle Freiheit nur, wenn sie in der Verwirklichung von Unternehmungen besteht, die sich ihrer Verfügung entziehen; dann bewegt sich das „Leben" der Individuen „sozusagen außerhalb der menschlichen Stellung und über ihr" (II, 107). Schwach, niedrig und angeglichen dagegen erscheint Tocqueville die individuelle Freiheit im „Individualismus", weil darin an die Stelle von „Idealen", durch die die einzelnen definiert werden, „Interessen" treten, die durch die einzelnen definiert werden. Damit gewinnen die einzelnen gegenüber ihren „Interessen", was sie gegenüber ihren „Idealen" nicht hatten: einen Spielraum der Distanz und vor allem eine Macht der Verfügung, die angeleitet wird durch ein Kalkül der „Nützlichkeit" von Interessen und Handlungen angesichts von Realisierungschancen. Daher unterscheidet den „Individualismus" der modernen Gleichheit von der „energischen" Gestalt der Freiheit, die Tocqueville im „aristokratischen Zeitalter" findet, nicht nur, ja, nicht einmal vorrangig, daß ein anderer Inhalt ins Zentrum der Selbstbestimmung rückt: die Sorge für das eigene, private Leben, in sozialer Isolierung und politischer Enthaltung. Vielmehr unterscheidet den „Individualismus" der modernen Gleichheit von jener „energischen" Gestalt der Freiheit vor allem, daß er ein anderes Verhältnis zu den Inhalten der Selbstbestimmung etabliert: ein Verhältnis, das diese Inhalte zunächst als „Interessen" beschreibt, um sie sodann nach Gesichtspunkten der „Nützlichkeit" zu kalkulieren. Die oben erwähnte erste Bestimmung des „Individualismus" - das Zerreißen, genauer: Vergessen des Bandes, das die einzelnen „an die Gemeinschaft bindet" und ihr politisches Engagement begründet - ist daher nur eine besondere, wenn auch die wichtigste Erscheinungsform einer sehr viel allgemeineren Eigenschaft des Selbstverhältnisses der Personen unter der
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Herrschaft der Gleichheit. Der „Individualismus", als Korrelat der Gleichheit, besteht nicht nur in einer Isolierung des Individuums nach außen, gegenüber der Gesellschaft, sondern auch in einer Isolierung des Individuums nach innen, gegenüber seinen eigenen Wünschen und Vorhaben.6 Durch die Herrschaft der Gleichheit tritt an die Stelle eines an der Schönheit von Idealen orientierten Verhältnisses der (Selbst-Verwirklichung ein an dem Nutzen von bzw. für Interessen orientiertes Verhältnis der (Selbst-) Verfügung. Eine Normalisierung der Freiheit geschieht durch die Gleichheit der Rechte somit in doppelter Weise: Mit der Etablierung gleicher Rechte geht erstens einher, daß die individuelle Lebensführung sich im Rahmen ihrer Begrenzungen vollziehen muß; das beschreibt Tocqueville als „Vereinheitlichung" der Individuen. Mit der Etablierung gleicher Rechte geht überdies zweitens einher, daß die individuelle Freiheit sich in Form der Selbstverfügung vollziehen muß; das beschreibt Tocqueville als Ersetzung von „Idealen" durch „Interessen" und „Nutzen". Beide Aspekte der Normalisierung der Freiheit lassen sich nun genauer erläutern, wenn wir noch einmal einen Schritt zurücktreten und danach fragen, worin ihr Zusammenhang mit der Gleichheit der Rechte besteht. Normalisierung im ersten Sinn bestimmt Tocqueville als „Vereinheitlichung" der Individuen. Bezogen auf die Gleichheit der Rechte kann diese Vereinheitlichung nicht als vorschreibend, sondern nur als begrenzend, als eine Begrenzung der Freiheitsspielräume und damit der Verschiedenheit der Individuen verstanden werden. Das gilt zunächst in dem trivialen Sinn, daß die Individuen nicht alles, was sie tun wollen, zu tun auch berechtigt sind. Hinter diesem trivialen Sinn verstecken sich jedoch schwerwiegende Folgen; sie treten hervor durch einen Blick auf den spezifischen Mechanismus der rechtlichen Begrenzung. Denn die Begrenzung des Individuellen durch gleiche Rechte besteht zum einen darin, daß die Interessen der einen Person an den Interessen der anderen normativ gebrochen und relativiert werden. Darüber hinaus aber impliziert die normative Abstraktion von meinen Interessen zugunsten der der anderen zugleich eine deskriptive Abstraktion von unserer beider Interessen in ihrer jeweilig individuellen Besonderheit. Normative Gleichheit - Gleichverteilung oder Gleichbehandlung bedarf inhaltlicher Gleichheit, der Gleichbeschreibung der zu berücksichtigenden Interessen. Zu Rechten können daher nur solche Ansprüche werden, die sich als unterschiedlicher Ausdruck eines gleichen Interesses verstehen lassen. Was die Ansprüche der Individuen dagegen für diese selbst sind und bedeuten - davon sieht die Perspektive der Gleichheit ebenso normativ wie deskriptiv ab. Dieser Mechanismus einer doppelten - normativen und deskriptiven - Abstraktion vom Individuellen ist nun für die schwerwiegenden Folgen der zunächst trivialen Begrenzung der Freiheit durch die Gleichheit der Rechte verantwortlich. Denn diese Abstraktion ist zwar nicht ihrem Sinn nach, sie kann aber in ihren Folgen ausschließend
6
Zu diesen beiden Bestimmungen des „Individualismus" und ihrem Zusammenhang siehe Michael J. Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, Cambridge/Mass. 1982, Kap. 1. Vgl. auch Albert O . Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt/M. 1980, Teil I.
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sein; und zwar nicht gegenüber beliebigen Wünschen der Individuen, sondern gerade gegenüber dem, was für ein Individuum in seinem Leben wirklich wichtig ist. Diese Möglichkeit, daß die Begrenzung durch Rechte zum Ausschluß des Individuellen wird, zeigt sich an den Kollisionen, die zwischen dem individuell Wichtigen und den Forderungen der Gleichheit aufbrechen können. 7 Dabei ist die Wirklichkeit dieser Kollisionen ebenso unabsehbar vielfältig wie die Inhalte des von Individuen für wirklich wichtig Erachteten. Man kann jedoch zu einer groben Typologie der Kollisionen gelangen, wenn man einige wenige grundlegende Formen des für Individuen wirklich Wichtigen unterscheidet: ein Leben in der Erfüllung sakraler Gebote, ein Leben in der Teilnahme an gemeinschaftlichen Lebensformen, ein Leben in der Verwirklichung individueller Charaktervorhaben und ein Leben im Experiment mit dem eigenen Leben. Für alle diese Grundformen individueller Lebensführung ergeben sich nun bei näherer Betrachtung - zum Beispiel literarischer Darstellungen - Kollisionen mit den Forderungen gleicher Rechte: Das zeigt sich für die erste Form, ein Leben in der Erfüllung sakraler Gebote, etwa an solchen sakralen Ordnungen, die - wie die der australischen Aborigines, die Bruce Chatwin in The Songlines rekonstruiert 8 - ihrem Sinn nach auf ein Territorium bezogen sind; denn dadurch schließen sie eine Reihe im Sinn der „Gleichheit" berechtigter Handlungen anderer - und zwar nicht nur Besitznahme, sondern auch Niederlassung, ja, überhaupt schon Benutzung und Betrachtung - als Sakrileg aus. Ähnliches gilt für die zweite Form, ein Leben in Teilnahme an einer traditional verfaßten Gemeinschaft, wie etwa „Stämmen", die nur überleben können, wenn ihre Ordnung für alle, die auf einem bestimmten Gebiet zusammenleben, verbindlich ist - wenn zum Beispiel ihre nichtdemokratisch (etwa durch „Alte") getroffenen Entscheidungen allgemein anerkannt werden. Kollisionen mit den Forderungen der Gleichheit ergeben sich aber auch dann, wenn das für ein Individuum wirklich Wichtige - wie in den anderen beiden Grundformen, dem Charakter und dem Versuch - in der Verwirklichung von bzw. der Suche nach dem diesem Individuum spezifisch Eigenen gesehen wird. Das zeigt sich für die dritte Form, ein Leben in der Verwirklichung „kategorischer" (Williams) Charaktereigenschaften, an literarischen Beispielen, die - wie Flauberts L'éducation sentimentale - die Folgen ihrer Zuspitzung zur Obsession erforschen; so ruiniert Frédérics obsessive Liebe zu Madame Arnoux nicht nur sein eigenes Leben, sondern treibt ihn auch immer wieder in den Verrat an den Verpflichtungen, die er gegenüber Dritten eingegangen ist. Dasselbe gilt zugespitzt für die vierte Form, ein Leben im Versuch mit dem eigenen Leben, wie es literarische Figuren bei Autoren von de Sade bis Artaud ausprägen: Ihr Experiment mit dem eigenen Leben schließt ein, auch solche Beschreibungs- und Sichtweisen für sich und andere auszuprobieren, die denen widersprechen, die den Forderungen der Gleichheit zugrunde liegen. Damit zeigt sich an unterschiedlichen Formen des für Individuen Wichtigen, daß seine Verwirklichung in Kollisionen mit den Forderungen der Gleichheit geraten kann. Umgekehrt ist das A u f treten dieser Kollisionen ein Hinweis auf die mit der Gleichheit der Rechte verbundene
7 8
Das diskutiere ich ausführlicher in Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen, a. a. O., Kap. 5. Bruce Chatwin, The Songlines, London 1987.
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Normalisierung (im ersten Sinn): Die Gleichheit der Rechte begrenzt die individuelle Lebensführung auf einen mit allen anderen vereinbarten Umfang. Dabei abstrahiert sie von der Perspektive, welche die Individuen selbst auf ihr Leben haben. Deshalb impliziert sie die Möglichkeit, das auszuschließen, was für Individuen wirklich wichtig ist. Daß die Gleichheit der Rechte normalisierend ist, heißt im ersten Sinn daher, daß sie generell die Möglichkeit, und in vielen konkreten Fällen die Wirklichkeit eines Ausschlusses dessen enthält, was für Individuen in ihrem Leben wichtig ist. Darüber geht nun aber der zweite Aspekt der Normalisierung, den Tocqueville als Effekt der Herrschaft gleicher Rechte beschreibt, noch hinaus. Denn die Herrschaft gleicher Rechte bedeutet, daß die soeben umrissenen Kollisionen zwischen den Begrenzungen, die die Gleichheit der Rechte auferlegt, und dem, was den Individuen wirklich wichtig ist, stets zugunsten der Gleichheit aufgelöst werden. Auf diese Forderung, die mit der Herrschaft der Gleichheit unauflösbar verbunden ist - die Forderung also nach einem unbedingten Vorrang der Gleichheit in all ihren Kollisionen mit der Freiheit - muß man nun die Normalisierung der Freiheit in ihrem zweiten Sinn - als ihre Transformation von (Selbst-)Verwirklichung in (Selbst-)Verfügung - zurückbeziehen. Die von Tocqueville als faktische Folge der Herrschaft der Gleichheit analysierte Durchsetzung des „Individualismus", der Orientierung an Nutzen und Interessen, verstehe ich daher als eine normative Voraussetzung der Herrschaft der Gleichheit. Tocquevilles Analyse der Normalisierungseffekte rekonstruiert, in dieser Lesart, wie die Individuen sich verstehen müssen - wie sich das Freiheitsverständnis der Individuen verändert haben muß - , damit sich die Herrschaft gleicher Rechte, das heißt: das Prinzip der Auflösung der Kollisionen zwischen Gleichheit und Freiheit zugunsten der Gleichheit, etablieren kann. Daß die Herrschaft gleicher Rechte sich etablieren kann, heißt, daß sie sich als legitime und daher stabile Herrschaft etablieren kann. Aus der Perspektive der Individuen und ihrer Freiheit kann die Herrschaft gleicher Rechte legitim aber nur sein, wenn die Begrenzungen, die sie der Freiheit der Individuen auferlegt, keine Verletzung ihrer Freiheit bedeutet: die Begrenzungen durch gleiche Rechte dürfen nur die jeweilige Ausübung der Freiheit, aber nicht diese selbst betreffen. In der soeben bezeichneten Lektüre läßt sich nun Tocquevilles Normalisierungsanalyse so verstehen, daß sie rekonstruiert, wie sich das Freiheitsverständnis der Individuen verändert haben muß, damit sich diese Stabilitätsbedingung als Legitimitätsbedingung der Herrschaft der Gleichheit erfüllen kann. Dazu müssen die Individuen das, was ihnen „wirklich wichtig" ist, als von ihnen verschiedene und verfügbare „Interessen" sehen, deren Befolgung und Beibehaltung im Lichte ihrer Verwirklichungschancen beurteilt werden. Denn allein dieses neue („individualistische") Selbstverständnis beschreibt die Freiheit der Individuen so, daß sie die Fähigkeit einschließt, im Fall einer Kollision des für sie wirklich Wichtigen mit den Forderungen der Gleichheit ihre Präferenzen unter Nützlichkeitserwägungen den äußeren Umständen anzupassen. Nur für das „individualistische" Selbstverständnis und -Verhältnis ist die Begrenzung durch gleiche Rechte keine Verletzung der individuellen Freiheit, sondern lediglich eine der äußeren Tatsachen, denen für die eigenen Interessen Rechnung zu tragen der Freiheit der Individuen so wenig widerstreitet, daß es vielmehr bezeichnet, worin ihre Freiheit - nach dieser Auffassung - besteht. Weil allein dieses
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„individualistische" Verständnis der Freiheit die Herrschaft gleicher Rechte gewährleisten kann, ist seine Durchsetzung in einem Prozeß der Normalisierung in eins Voraussetzung und Folge jener Herrschaft der Gleichheit. Umgekehrt würde der Fortbestand derjenigen Gestalt individueller Freiheit, die Tocqueville dem „aristokratischen Zeitalter" zuschreibt, prinzipiell das Risiko einer Destabilisierung, ja, Delegitimierung der Herrschaft gleicher Rechte bedeuten. Denn nach dieser Auffassung besteht die Freiheit des Individuums statt in der Verfügung über „Interessen" in dem Vollzug von „Idealen". Für beide Verständnisse gilt, daß sie die Freiheit des Individuums darin sehen, sein eigenes, d. h. ein dem Individuum in seiner Besonderheit gemäßes, durch keine äußere Subsumtion unter eine Allgemeinbestimmung festgelegtes Leben zu führen. Beide Freiheitsverständnisse unterscheiden sich aber darin, in welchem Verhältnis die Individuen zu dem ihnen Eigenen stehen: in dem an der Schönheit von Idealen orientierten Verhältnis der (Selbst-)Verwirklichung oder in dem an der Nützlichkeit für Interessen orientierten Verhältnis der (Selbst-)Verfügung. Dabei garantiert das Freiheitsverständnis der (Selbst-)Verfügung, daß die Individuen stets ohne Verletzung ihrer Freiheit durchführen können, was die Herrschaft gleicher Rechte von ihnen verlangt. Dagegen ist mit dem Freiheitsverständnis der (Selbst-Verwirklichung stets die Gefahr verbunden, daß die den Individuen durch die Herrschaft gleicher Rechte auferlegten Begrenzungen die Verwirklichung des ihnen individuell Eigenen in Frage stellen - und damit zugleich ihre individuelle Freiheit überhaupt verletzen. Das ist der Grund, warum der Preis für eine in ihrer Legitimität unbestrittene und in ihrer Stabilität unangefochtene Herrschaft gleicher Rechte genau die Normalisierung der Freiheit ist, durch die Tocqueville die Stärke und Originalität der Individuen sich auflösen sieht.
3. Gleichheit und Freiheit im politischen Liberalismus Tocquevilles genealogische Rekonstruktion der Normalisierung macht deutlich, daß zwischen Gleichheit und Freiheit nicht von vornherein schon ein stabiles Verhältnis der Entsprechung herrscht. Nur wenn Theorie und Praxis der individuellen Freiheit unter dem Druck der Herrschaft gleicher Rechte sich bereits verändert und ihrem Anspruch angepaßt haben, kann der Anschein entstehen, als sei der Herrschaftsanspruch der Gleichheit mit dem Freiheitsanspruch der Individuen ohne Bruch und Verlust versöhnbar. Tocqueville dagegen diagnostiziert die Wirklichkeit der (normalisierenden) Gewalt, die sich in diesem Versöhnungsschein versteckt. Damit steht er exemplarisch für die eingangs erwähnte Tradition einer kritischen Bilanzierung der Kosten der Gleichheit und im Gegensatz zu der Analyse des Verhältnisses von Gleichheit und Freiheit in den meisten gegenwärtigen Positionen des Liberalismus. Das zeigt sich besonders deutlich an der Erläuterung des Liberalismus bei Rawls. Denn Rawls weist nicht nur darauf hin, daß die Lebensweisen und -formen der Individuen - nach einem Ausdruck von Habermas - den Forderungen gleicher Rechte insofern „entgegenkommen" müssen, als diese Forderungen Aussicht auf Einlösung nur haben können, wenn die Individuen selbst sie einsehen, ja, ihren sonstigen Wünschen
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und Vorhaben vorordnen. 9 Rawls diskutiert vielmehr darüber hinaus auch ausdrücklich die Frage, die bereits im Zentrum von Tocquevilles kritischen Überlegungen zum „Individualismus" stand: ob der Vorrangs- oder Herrschaftsanspruch der Gleichheit ein bestimmtes Verständnis individueller Freiheit zu seiner normativen Rechtfertigung voraussetzt bzw. in seiner sozialen Verwirklichung normalisierend' durchsetzt. 10 In der Antwort, die Rawls auf diese Frage gibt, erwähnt auch er nun zunächst genau die beiden Effekte, die der Herrschaftsanspruch der Gleichheit auf die Freiheit hat, die ich oben im Blick auf Tocqueville als die zwei Aspekte - den negativen und den positiven der Normalisierung unterschieden habe: Erstens die Tatsache, daß mit dem Vorrangsanspruch der Gleichheit Begrenzungen für die Freiheit verbunden sind, die bis zur Verhinderung dessen gehen können, was für Individuen wirklich wichtig ist.11 Vor allem aber erwähnt Rawls auch den zweiten, „positiven" Normalisierungseffekt, die Durchsetzung eines bestimmten Selbstverhältnisses und Freiheitsverständnisses der Personen: Es gehört zu den normativen Voraussetzungen bzw. normierenden Auswirkungen der Herrschaft der Gleichheit, daß „Citizens (as individuáis) and associations accept the responsibility for revising and adjusting their ends and aspirations in view of the allpurpose means they can expect, given their present and foreseeable Situation". 12 Und zwar gilt das deshalb, weil nur Personen, die in diesem Sinn in der Führung ihres Lebens frei sind, stets ebenfalls in der Lage sind, ihre Ziele und Vorhaben dem anzupassen, was die Gleichheit von ihnen verlangt. Diese kurzen Hinweise zeigen, daß auch Rawls sich der (Normalisierungs-)Folgen bewußt ist, die die Herrschaft der Gleichheit für die Freiheit hat. Im Gegensatz zu Tocqueville beschreibt Rawls diese Folgen jedoch allein aus der Perspektive der Gleichheit". als das, was den Personen auferlegt werden kann, weil und sofern es nur im Namen der Gleichheit geschieht. Indem Rawls aber einzig diese Perspektive einnimmt, setzt er implizit voraus, was allererst zu zeigen ist: daß die Personen an ihrer „entgegenkommenden" Vorordnung der Gleichheit auch im Lichte der normalisierenden Folgen für ihre Freiheit noch festhalten wollen und können. Rawls glaubt, das vorausset-
9
Vgl. Jürgen Habermas, „Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik z u ? " , in: ders., Erläuterungen zur Diskursethik, F r a n k f u r t / M . 1991, 9 - 3 0 , hier 25. Siehe auch John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, F r a n k f u r t / M . 1975, Kap. 9 (v. a. 78, 85f.). Z u m folgenden ausführlicher Christoph Menke, „Liberalismus im Konflikt: zwischen Gerechtigkeit und Freiheit", in: Micha B r u m l i k / H a u k e Brunkhorst (Hrsg.), Gemeinschaft und Gerechtigkeit, F r a n k f u r t / M . 1993, 2 1 8 - 2 4 3 .
10
So ausdrücklich in J o h n Rawls, „Fairness to Goodness", in: T h e Philosophical Review, Bd. 84
11
Ebd., 549f.; ausführlicher in John Rawls, „Der Vorrang des Rechten und die Ideen des Guten", in:
(1975), 5 3 6 - 5 5 4 . Die Idee des politischen Liberalismus, F r a n k f u r t / M . 1992, 3 6 4 - 3 9 7 , hier 380ff. U b e r die mögliche Wirkung dieser Restriktionen äußert sich Rawls in Eine Theorie
der Gerechtigkeit
ganz ein-
deutig: sie können den Individuen „schwere Nachteile oder gar den Ruin einbringen" (621). 12
J o h n Rawls, „Social U n i t y and Primary G o o d s " , in: A m a r t y a Sen/Bernard Williams (Hrsg.), Utilitarianism and Beyond, Cambridge - Paris 1 9 8 2 , 1 5 9 - 1 8 5 , hier 170. Dazu und zum folgenden auch J o h n Rawls, „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch", in: Die Idee des politischen Liberalismus, a. a. O . , 2 5 5 - 2 9 2 , hier 281f.
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zen zu können, weil er die Folgen der Gleichheit für die Freiheit nicht als deren Normalisierung und damit aus der Perspektive der Freiheit betrachtet. Nirgends wird das deutlicher als gerade dort, wo Rawls doch einmal die Folgen der Gleichheit für die Freiheit als einen „Verlust" bezeichnet, wie ihn „viele menschliche Tragödien spiegeln".13 Denn darin verbindet er den Hinweis auf diesen Verlust mit der - unter Berufung auf Weber, Berlin und Williams formulierten - tröstlichen Einsicht, daß es eben überhaupt „keine soziale Welt ohne Verluste" gebe.14 Damit verflüchtigt sich aber bei Rawls gerade in der Klage über die Tragik des Verlustes das, was ihn spezifisch auszeichnet, in eine überzeitliche Gesetzmäßigkeit - und vor allem verflüchtigt sich die spezifische Ursache dieses Verlustes. Denn die Normalisierung der Freiheit ist nicht der Ausdruck eines allgemeinen historischen Gesetzes - nach dem es in jeder sozialen Welt nun einmal Verluste geben muß - , sondern der Effekt eines ganz bestimmten historischen Phänomens: der Etablierung gleicher Rechte. Der Grund dafür, daß Rawls den spezifischen Verlust, den die Herrschaft der Gleichheit für die Freiheit bedeutet, gar nicht in den Blick bekommen kann, liegt aber nun darin, daß ihm genau das Bewußtsein fehlt, dem Tocquevilles genealogische Betrachtung ihre Tiefenschärfe verdankt: das Bewußtsein eines grundsätzlich anderen Verständnisses von Freiheit und Individualität. Ohne das Bewußtsein einer solchen Alternative kann es keine Einsicht in die Prozesse der Normalisierung und deren Bedeutung geben, in denen das der Gleichheit entsprechende Freiheitsverständnis durch die Zerstörung eines anderen allererst hervorgebracht worden ist. Freilich liegt in der Erläuterung, die Tocqueville von diesem alternativen Freiheitsmodell gibt, zugleich die Grenze seines Ansatzes. Denn Tocqueville nimmt an, daß die Freiheit als Verwirklichung von „Idealen" allein in dem „aristokratischen Zeitalter" bestehen konnte und in der Moderne allein die „individualistische" Gestalt der Freiheit überleben kann: „Keine Macht auf Erden kann verhindern, daß die zunehmende gesellschaftliche Einebnung den menschlichen Geist dazu drängt, das Nützliche zu suchen" (II, 183). Dieser Einschätzung könnte auch Rawls zustimmen. Lediglich den Prozeß der Modernisierung, durch den das „individualistische" Freiheitsmodell an die Stelle des traditionalen tritt, würde er anders beschreiben: nicht als Normalisierung und Verlust, sondern als Zugewinn an Rationalität.15 Rawls und Tocqueville stimmen somit darin überein, daß es unter den Bedingungen der Moderne - aufgrund der unwiderstehlichen Macht sei es der Normalisierung, sei es der Rationalisierung - zu der „individualistischen" Transformation der Freiheit keine Alternative gibt. Damit verkennen sie aber beide, daß die von Tocqueville auf das „aristokratische Zeitalter" beschränkte Freiheit der „Ideale" in der „neuen Zeit" ihre genuine Entsprechung hat: in derjenigen Theorie und Praxis individueller Freiheit nämlich, die zuletzt wieder Charles Taylor unter dem Titel der „Authentizität" analysiert hat. 16 Für dieses Freiheitsmodell gilt zweierlei zugleich: Zum einen versteht
13 John Rawls, „Der Vorrang des Rechten . . . " , a. a. O., 382f. 14 Ebd., 382. 15 So Rawls ausdrücklich noch in „Eine Theorie der Gerechtigkeit", Kap. VII. 16 Charles Taylor, The Ethics of Authenticity, Cambridge/Mass. - London 1992.
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es die freie Lebensführung als einen Prozeß der Verwirklichung von Vorhaben, der in seinem Vollzug nicht mehr der Verfügung von Nützlichkeitskalkülen unterstellt werden kann, ohne dadurch im ganzen zu mißlingen. Zugleich aber versteht das Modell authentischer Freiheit diese Bindung im Vollzug nicht als eine an vorgegebene „Ideale", sondern an Lebensweisen, die frei gewählt sind. Die Freiheit authentischer Selbstverwirklichung ist damit das moderne Gegenstück zu der „aristokratischen" Freiheit der Ideale, die Tocqueville allein als Alternative zur bürgerlichen Freiheit des auf Dauer gestellten Nutzenkalküls gelten läßt. Weil sie aber das moderne Gegenstück zu der „aristokratischen" Freiheit der Ideale darstellt, ist die Normalisierung der Freiheit durch die Gleichheit nicht, wie es Tocqueville beschreibt, der einmalige historische Akt, durch den die Moderne entsteht, sondern ein Zug in dem unaufhörlichen Konflikt zwischen Gleichheit und Freiheit, in dem die Moderne (auch) besteht.
Richard Shusterman
Pragmatismus und Liberalismus
Während der 80er Jahre der Reagan-Ära und bis in die post-sowjetischen 90er hat Richard Rorty den Pragmatismus verwendet, um die Vorzüge der amerikanischen Demokratie unserer Tage zu loben und zu verteidigen und sich zum Anwalt einer politischen Philosophie gemacht, die er selbst als „postmodernen bürgerlichen Liberalismus" bezeichnet. 1 Dabei bezieht sich Rorty bei jeder Gelegenheit auf John Dewey als gedanklichen Vater für seine Positionen und untermauert seine Ausführungen mit dessen Argumenten. Er behauptet ausdrücklich, sein Liberalismus stehe in direkter Nachfolge des Liberalismus Deweys, und seine Differenzen mit Dewey bestünden prinzipiell in „der Darlegung der Beziehungen zwischen den Naturwissenschaften und der übrigen Kultur sowie in der Tatsache, daß das Problem von Repräsentationalismus versus AntiRepräsentationalismus in Form von Worten und Sätzen und nicht in Form von Ideen und Erfahrungen formuliert wird". 2 Um es klar zu sagen: Rorty lehnt das ab, was seiner Meinung nach von Dewey als ein Privileg der Naturwissenschaften gegenüber der literarischen Kultur angesehen wurde. Ebenso lehnt er einen philosophischen Diskurs ab, der, wie bei Dewey, mit nichtlinguistischen Einheiten, wie Erfahrungen und Ideen, arbeitet. Abgesehen von diesen unterschiedlichen Auffassungen erklärt Rorty, daß er die gleiche Art von „demokratischer, progressiver, pluralistischer Gemeinschaft verteidigt, wie die, von der auch Dewey träumte". 3 Der Liberalismus Rortys, der die bürgerliche amerikanische Demokratie feiert und die vergebliche „Subversion" der radikalen intellektuellen Linken kritisiert, hat marxistische und postmarxistische Radikale in der ganzen Welt brüskiert. Er hat damit aber auch viele amerikanische Liberale der Deweyschen Schule schockiert. Langjährige Freunde und Weggefährten aus dem Lager des Pragmatismus, wie Richard Bernstein, sind erschüttert zu sehen, wie der radikale und deutlich antikapitalistische Liberalismus Deweys verfälscht und zu einer „Apologie des Status quo wird - gerade dieses Libera-
1 Vgl. Richard Rorty, „Postmodernist Bourgeois Liberalism", in: ders., Objectivity, Relativism, and Truth, Cambridge/Mass. 1991, 197-202. 2 Richard Rorty, Objectivity, Relativism, and Truth, a. a. O., 16. 3 Ebd., 13.
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Shusterman
lismus", „den D e w e y als b e d e u t u n g s l o s u n d z u m Scheitern v e r d a m m t ' " eingeschätzt hat. 4 Im Gegensatz zu R o r t y s gefälliger Auffassung, nach welcher der bürgerliche L i b e r a lismus nur einer geringfügigen Verbesserung in F o r m von kleinen Retuschierungen, nur einer bescheidenen „reformistischen Bastelei ä la D e w e y " 5 bedarf, führt Bernstein D e w e y s Liberalism and Social Action (1935) an, in dem D e w e y mit N a c h d r u c k z u m A u s d r u c k bringt, daß „der Liberalismus jetzt radikal w e r d e n muß, w o b e i unter Radikal' die W a h r n e h m u n g der N o t w e n d i g k e i t grundlegender Veränderungen im Institutionensystem und ein entsprechendes H a n d e l n zur Verwirklichung dieser zu verstehen ist. Denn der Graben zwischen dem, was die gegenwärtige Lage ermöglicht, u n d der Situation, w i e sie sich tatsächlich darstellt, ist so abgrundtief, daß er nicht mit f r a g m e n tarischen politischen Aktionen, die ad-hoc unternommen werden, ü b e r w u n d e n w e r den kann." 6 R o r t y antwortet darauf, indem er die zeitgenössischen Versuche, den R a d i k a l i s m u s D e w e y s beizubehalten, in Anbetracht dessen, daß gegenwärtig keine w i r k l i c h e n Alternativen zu kapitalistischen Ö k o n o m i e n bestehen, als leere „ N o s t a l g i e ü b u n g e n " abtut. 7 U n d er äußert sich spöttisch über die A r t und Weise, mit der die radikalen Intellektuellen sich als sozial engagierte Fürsprecher der U n t e r d r ü c k t e n darstellen, w ä h r e n d ihre globalen Theorien einer radikalen Reform keine Berührung mit den k o n k r e t e n politischen Realitäten und mit praktischen Forderungen haben, sondern einzig und allein dazu dienen, ihrem Selbstbild als Avantgarde-Revolutionäre zu schmeicheln, die mit ihrem esoterischen Wissen die Welt retten zu können glauben. In diesem A u f s a t z möchte ich eine Gegenüberstellung des Liberalismus R o r t y s u n d D e w e y s vornehmen. Es ist nicht meine Absicht, die Werktreue von R o r t y zu bewerten u n d über die Reinheit der Lehre von D e w e y zu wachen. Solch ein historischer Purismus w ä r e Verrat am Geiste des Pragmatismus, der zukunftsorientiert ist. M e i n Ziel besteht vielmehr darin, verstehen zu wollen, w a r u m sich der radikale L i b e r a l i s m u s D e w e y s z u m Konservativismus R o r t y s entwickelt hat, und zu untersuchen, ob w i r zu einem adäquateren pragmatistischen Liberalismus gelangen können, w e n n w i r die A n sichten beider A u t o r e n gegenüberstellen. Bei der Herausarbeitung von Parallelen u n d Unterschieden zwischen dem Liberalismus D e w e y s und R o r t y s w e r d e ich einige der tieferen philosophischen Ursachen für diese Unterschiede in solchen Bereichen w i e der N a t u r der Freiheit, der Kontingenz und der philosophischen B e g r ü n d u n g , d e m Wert der ästhetischen Einheit, der sozialen Konstruktion des Selbst, und d e m Verhältnis von Z w e c k und Mitteln untersuchen. Da aber Pragmatismus historistisch ist und anerkennt, daß philosophische Unterschiede häufig das Ergebnis gesellschaftlicher Veränderungen sind, w e r d e ich mich auch damit beschäftigen, bis zu w e l c h e m Grade die Unterschiede als A u s d r u c k der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Welten gewertet w e r d e n
4 5 6 7
Richard Bernstein, The New Constellation, Cambridge/Mass. 1991, 233. Richard Rorty, Objecivity, Relativism, and Truth, a. a. O., 16. John Dewey, Liberalism and Social Action, Carbondale 1991, 45. Richard Rorty, „Social Hope and History as Comic Frame", unveröff. Manuskr., 22.
Pragmatismus
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können. Schließlich werde ich einen Vorschlag dazu unterbreiten, wie wir liberale Pragmatisten bei der Behandlung unserer gegenwärtigen mißlichen sozialen Lage, einschließlich unserer mißlichen „privaten" sozialen Lage als Intellektuelle, über die Differenz Dewey-Rorty hinausgehen können, indem wir ihre Unterschiede durch eine Einigung auf halbem Weg versöhnen - einerseits die H o f f n u n g Deweys für eine philosophisch inspirierte soziale Reform und mehr partizipatorische Demokratie bewahren, andererseits das Gespür Rortys für die Grenzen und den Mißbrauch der Philosophie berücksichtigen.
Grundlagen und Begründung Dewey und Rorty wollen beide den Liberalismus von seinen traditionellen philosophischen Grundlagen befreien, die aus der Metaphysik der Aufklärung herrühren. D i e klassische liberale Strategie, wie sie von Locke und Kant begründet wurde, bestand darin, die Freiheit des Menschen ontologisch auf eine der Lehre vom Naturrecht zu gründen, die sich letztendlich aus unserer gott- oder naturgegebenen Gabe der Vernunft ergibt, die Freiheit voraussetzt, um sich in vernünftiger Wahl und Handlung verwirklichen zu können. Individuelle Freiheit ist somit als das garantiert, was die Einzelnen haben sollten und was die Gesellschaft schützen muß, denn sie ist der N a t u r der Dinge inhärent als ein Teil des Vernunftkernes der menschlichen Natur. Dewey lehnte es ab, den Liberalismus auf eine solche metaphysische Lehre von unveräußerlichen Rechten und notwendigen Wesenskerne des Menschen zu gründen. Als Pragmatist lehnte er die metaphysische Vorstellung von einer festgefügten Welt aus Wesenskernen ab, bestand aber gleichzeitig auf der Formbarkeit, dem Wandel und der Kontingenz unseres Universums. Daher lobt Rorty ihn dafür, daß er den Liberalismus für zeitgenössische anti-essentialistische Philosophen attraktiv gemacht hat, indem er ihm „philosophische Artikulation" ohne „philosophische Rückendeckung" gibt, dadurch, daß er „die Idee der,menschlichen Natur' und der philosophischen Grundlegungen' verwirft" - Ideen, welche politische Theorien wie der Liberalismus angeblich benötigten. 8 Für Rorty gibt es keinen Platz für die philosophische Begründung von Politik oder irgendeiner anderen Praxis, weil es keine ontologisch fixierten Wesenskerne oder unveräußerlichen Wahrheiten gibt, auf die man sich als philosophische Grundlage berufen kann, und jeder Versuch, eine solche bereitzustellen, führt unweigerlich dazu, die jeweilige Praxis zu diskreditieren, indem man die Aufmerksamkeit darauf lenkt, daß sie so schwach ist, falsche philosophische Unterstützung zu benötigen. Aber Rorty hat nicht recht, wenn er meint, der Angriff Deweys auf die metaphysischen Grundlagen des traditionellen Liberalismus habe vor allem den Zweck verfolgt, den Liberalismus für die Philosophen akzeptabel zu machen. Dewey wollte damit den Liberalismus tolerierbar für die Massen machen, indem er den habgierigen Individualismus zügelt. Der Gedanke, daß die Freiheit des einzelnen auf unveränderlichen onto-
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Richard Rorty, Objectivity, Relativism, and Truth, a. a. O., 211.
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logischen Vorgaben der menschlichen Natur beruht, bedeutet, die Freiheit ist immer schon in uns präsent, so daß man nichts anderes tun muß, als die Freiheit wie auch die Individuen in Ruhe zu lassen, und daß es das Schlimmste wäre, wenn man sie äußeren Beschränkungen unterwerfen würde. Freiheit wird damit als negative Freiheit definiert, als Freiheit von jeder Einflußnahme. U n d der Liberalismus wird dann gleichgesetzt mit einem Laissez-faire, welches es ablehnt, die Freiheit der Wenigen zum Vorteile der Vielen einzuschränken. Dabei wird den Vielen eine positive Bedeutung von Freiheit als Befugnis, ein besseres Leben zu führen, verwehrt. Dewey hat die Idee des Naturrechts abgelehnt, denn diese begreift die Freiheit als eine abstrakte metaphysische Gabe, nicht als ein Gut, das von der jeweiligen kontingenten Gesellschaft abhängt und deren Verbesserung bedarf. Für Dewey ist Freiheit „etwas, das errungen werden m u ß " , und nicht „etwas, worüber Individuen als bereitliegenden Besitz verfügen"; und die Erlangung der Freiheit ist „bedingt durch die institutionelle Umwelt, in der ein Individuum lebt". Somit „muß eine organisierte Gesellschaft ihre Kraft dafür einsetzen, die Bedingungen zu schaffen, unter denen die Masse der Individuen über wirkliche Freiheit verfügen kann, im Unterschied zu nur legaler Freiheit". 9 R o r t y ignoriert dieses Motiv Deweys, die philosophischen Fundamente des Liberalismus abzulehnen, einfach, weil er es nicht teilt. Statt dessen besteht er auf dem Wert negativer Freiheit, die er gegen ihre kommunitaristischen Kritiker und andere Ideologien verteidigt, welche sie „teleologischen Konzeptionen menschlicher Vollkommenheit" 1 0 unterordnen möchten. Dewey selbst kann, wie wir sehen werden, als ein solcher Kritiker und Ideologe angesehen werden. Aber kommen wir zur Frage der Begründung zurück: R o r t y ignoriert auch die Tatsache, daß Deweys Ablehnung der alten metaphysischen Grundlagen des Liberalismus keine Ablehnung philosophischer Begründung tont court ist. D e w e y selbst hat angestrengt daran gearbeitet, seine Vision liberaler Demokratie mit einer überzeugenden philosophischen Rückendeckung zu versehen. Er führte dies aus in Begriffen grundlegender menschlicher Bedürfnisse nach erfüllter Erfahrung, Wachstum, Selbstverwirklichung und Gemeinschaft, sowie nach gemeinsamer Anstrengung, größere Regelmäßigkeit und Sicherheit in der Befriedigung dieser Ziele in einer sich verändernden kontingenten Welt, deren Zukunft in gewissem Maße durch menschliches Handeln und experimentelle Intelligenz (experimental intelligence) beeinflußt und verbessert werden kann, zu erreichen. 11 O b w o h l er jede transzendentale Deduktion der Demokratie
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J o h n Dewey, Liberalism and Social Action, a. a. O., 21. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, übers, von Christa Krüger, F r a n k f u r t / M . 2 1992,
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86.
Wenn diese Themen zusammen mit seinem demokratischen Ideal eines individuellen Gedeihens auf dem Wege der Partizipation am öffentlichen Leben Dewey wie Aristoteles klingen lassen, so wollen wir kurz einige wichtige Unterschiede in Erinnerung rufen. Erstens, der von D e w e y vertretene Pragmatismus lehnt das intellektuelle Aristotelische Ideal der theoria ab, und das nicht nur auf ethischem, sondern auch auf erkenntnistheoretischem Gebiet. Zweitens war D e w e y ein egalitärer Liberaler, der die Individualität schätzte und Sklaverei, Klassen sowie Fügung in eine feste Stellung oder Funktion im Leben nicht tolerieren konnte. Drittens, Deweys Gedanke eines mensch-
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von notwendigen Wesenheiten her abgewiesen hat, machte er sich Gedanken, ob „ N a tur selbst, als dasjenige, was von unserem besten derzeitigen Wissen aufgedeckt und verstanden wird, unsere demokratischen Hoffnungen tragen und unterstützen" und ihnen eine überzeugende „intellektuelle Garantie" verleihen könne. 1 2 R o r t y s Vernachlässigung dieser Möglichkeit philosophischer Begründung, die nichtfundierend ist, überrascht nicht, da er einer solchen Begründung jeglichen logischen Raum verweigern möchte. Indem er zur Schau stellt, was Bernstein richtig als übriggebliebenen „positivistischen Z w a n g " diagnostiziert, nimmt R o r t y ein Zweiteilung der Arten des begründenden Diskurses vor. E r unterscheidet „wirkliche" philosophische Begründung (scharfkantige, technisch argumentierende Ableitungen von unanfechtbaren ersten Grundsätzen) und rein rhetorische, die mit Polemik und Geschichten-Erzählen arbeitet. 13 Während Historismus und Kontingenz die erste A r t von Diskurs verwundbar machen und dazu bringen, Fragen auszuweichen, ist die rhetorische A r g u mentation einfach keine Philosophie und kann nicht vorgeben zu begründen, was sie behauptet und kann deswegen nicht mit dem Anspruch auftreten, dem Geltung zu verschaffen, was sie durch die tragende Evidenz philosophischer Wahrheit vorbringt. U n ter der Voraussetzung dieser lähmenden Dichotomie wird leicht erkennbar, warum Rorty D e w e y wie eine Erzählung liest und nicht, als ob er eine „philosophische Begründung"
liehen Gedeihens hat keine starre Teleologie; neue Ziele und Vorstellungen von dem, was als gut gilt, tauchen fortwährend auf, und das fundamentale „Ziel ist Wachstum selbst" (John Dewey, Ethics, Carbondale 1989, 306). Dieser letzte Punkt mit seiner Möglichkeit vollständig neuer Ziele und der Zurückweisung alter (nicht nur deren „plurale" und „örtliche" Verfeinerung), macht es möglich, Dewey von Martha C. Nussbaums interessantem und feinfühlig ausgedrücktem NeoAristotelismus zu unterscheiden, welcher sensibel gegenüber historischen Veränderungen und offen gegenüber Differenzen ist. Vgl. Martha C. Nussbaum, „Human Functioning and Social Justice. In Defense of Aristotelian Essentialism", in: Political Theory, 20 (1992) 202-246. Deweys Auffassung von der menschlichen Natur ist selbstverständlich in größerem Maße geschichtlich und antiessentialistisch. Er besteht nicht darauf, daß der Kern des menschlichen Wesens örtliche und historische Vielfalt erlaubt. Er behauptet vielmehr, ein vermeintlicher Kern oder eine „essentielle" menschliche Natur sei der evolutionären Veränderung unterworfen. 12 John Dewey, „Philosophy and Democracy", in: ders., The Middle Works, Bd. 11, Carbondale 1981, 48. Westbrook tut gut daran, Deweys Metaphysik von Experience and Nature und The Quest for Certainty als „eine Bemühung zu sehen, die Demokratie mit einer philosophischen Anthropologie auszustatten". Vgl. Robert Westbrook, John Dewey and American Democracy, Ithaca 1991, 320-366. 13 Erstere ist das Reich der streng logischen Argumente, welche auf gemeinsam geteilten Prämissen gründen und mittels formaler Kriterien logischer Gültigkeit bewertet werden; letztere ist das Reich rhetorischer Überredung, wo der Diskurs nach seinem „ästhetischen" Appell bewertet wird, d. h. danach, wie attraktiv er die verteidigte Position macht, und wie es ihm gelingt, Rivalen auszustechen (Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 30f., 84f.). Rorty bestimmt den Platz seines Diskurses in diesem ästhetischen Reich, wo sich auch der größte Teil von Deweys Diskurs befindet. Aber es gibt, insbesondere für einen Pragmatisten, keinen Grund, einen solchen Diskurs als unphilosophisch abzuwerten, nur weil er sich auf diese weitgefaßten ästhetischen Kriterien stützt.
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gebe. Aber es ist schwerer zu verstehen, warum Rorty diese positivistische Dichotomie beibehält, während er den Positivismus verwirft. Eine Antwort findet man vielleicht im extremen Professionalismus der philosophischen Welt von Rorty im Unterschied zu der von Dewey - ein Unterschied, der vielen der Differenzen ihres pragmatistischen Liberalismus zugrunde zu liegen scheint. D i e Schule, der Rorty angehört, wurde unter dem Schutz des Positivismus professionalisiert und in wachsendem Maße vom Hauptstrom des kulturellen Lebens in Amerika isoliert. Sie ist stolz auf ihre technische Strenge und die logische Präzision ihrer deduktiven Argumente bei der Suche nach gesichertem Wissen, das sie als Teil ihrer Legitimation ansieht, die in einer Anpassung an die Wissenschaften besteht. Angesichts solcher N o r m e n eines szientifischen Professionalismus können Argumente für die Begründung in einem so dunklen (und gefahrvoll praktischen) Bereich wie der politischen Theorie kaum als professionelle philosophische Beweise zählen - Argumente, die überdies noch in einer nichttechnischen Sprache ausgedrückt werden und eindeutig durch politische Ideale motiviert sind. U n d wenn sie nicht zur professionellen Philosophie gehören, so sind sie überhaupt keine Philosophie, sondern nur ideologische Polemik und Kulturkritizismus.
Freiheit und Selbstverwirklichung Sowohl der Liberalismus Deweys als auch der Rortys privilegieren nicht nur das Individuum, sondern das, was man seine Individualität nennen könnte: seine besondere Freiheit und Selbstverwirklichung. Auch wenn sich Dewey von Rorty dadurch unterscheidet, daß er die Notwendigkeit eines aktiven gemeinschaftlichen Lebens als Voraussetzung der Selbstverwirklichung beteuert, so unterstreicht er doch, daß das demokratische Ideal von Gleichheit nicht in einer gleichmachenden U n i f o r m i t ä t von gesellschaftlichen Funktionen oder des sozialen Status bestehe, sondern nur „im Hinblick auf das innerste Leben und Wachstum eines jeden Individuums gemessen werden" kann. 14 Für Dewey wie für Rorty „bedeutet Demokratie, daß Persönlichkeit die erste und letzte Wirklichkeit ist", und ihre Befriedigung durch Selbsterfüllung sollte das Ziel sowohl der Gesellschaft als auch des einzelnen sein. Obwohl die Gesellschaft die Bedingungen für die Selbstverwirklichung schafft, „kann Persönlichkeit von niemandem, und sei er noch so klug und stark, einem anderen beschafft werden, wie schwach und heruntergekommen er auch sei"; und „nur der Mensch, der seine Individualität verwirklicht, ist frei im positiven Sinne des Wortes". 1 5 Dewey geht so weit zu behaupten, eine liberale Demokratie müsse danach streben, ihren Mitgliedern das Erreichen dieser positiven Freiheit der Befähigung zur Selbstver-
14 John Dewey, Ethics, a. a. O., 346. 15 John Dewey, „Ethics of Democracy", in: ders., The Early Works, Bd. 1, Carbondale 1980, 244; und ders., „Outlines of a Critical Theory of Ethics", in: ders., The Early Works, Bd. 3, Carbondale 1981, 344.
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w i r k l i c h u n g zu garantieren, wohingegen R o r t y befürchtet, jede öffentliche Beschäftigung mit der Art und Weise der Selbstverwirklichung der einzelnen könne einen schweren Eingriff in die persönliche negative Freiheit darstellen. Für R o r t y liegt der große Wert des Liberalismus darin, daß die negative Freiheit jeder positiven Konzeption von Selbstverwirklichung oder Befähigung dazu vorgezogen w i r d , d. h. in seiner „Fähigkeit, die Leute in R u h e zu lassen, ihnen die Erprobung ihrer privaten Vorstellungen von V e r v o l l k o m m n u n g in Frieden zu ermöglichen". 1 6 Diese unterschiedliche B e w e r t u n g der positiven und negativen Freiheit ist der eigentliche A u s g a n g s p u n k t für die anderen, weit mehr ins A u g e fallenden Unterschiede der Liberalismusversionen D e w e y s u n d Rortys. Daraus erklärt sich auch, weshalb D e w e y das Risiko einer radikalen R e f o r m des politökonomischen Systems eingehen würde, u m für die Masse der Menschen angemessene Voraussetzungen zu schaffen, d. h. positive Freiheit, sich selbst v e r w i r k l i c h e n zu können, w ä h r e n d R o r t y dagegen, aus Sorge die schon vorhandenen negativen Freiheiten zu beschädigen, eher das Ideal „der Toleranz als das der Emanzipation" betont. 1 7 Diese unterschiedliche B e w e r t u n g der positiven und negativen Freiheit erklärt auch, w e s h a l b R o r t y das Ideal des Liberalismus negativ definiert und darin den „Wunsch [sieht], Grausamkeit und Schmerz zu vermeiden". Er versteht seine liberale Gesellschaft als eine „Schar von Exzentrikern, die z u m Z w e c k e des wechselseitigen Schutzes zusammenarbeiten". 1 8 D e w e y hingegen definiert den Liberalismus positiv als Schaff u n g einer echten Gemeinschaft, die sich den positiven Freuden der Selbstverwirklichung im Zusammenleben mit anderen verschrieben hat und z u m kollektiven H a n d e l n verpflichtet sieht, so daß jedes Mitglied der Gemeinschaft sich selbst verwirklichen kann, w ä h r e n d (und w e i l ) es z u m Gemeinwohl beiträgt. Schließlich erklärt sich damit auch, w a r u m der Liberalismus von D e w e y versucht, eine B r ü c k e zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu bauen, w ä h r e n d R o r t y s Liberalismus dies ganz energisch zurückweist. Wenn die U t o p i e von D e w e y darauf abzielt, „die E n t w i c k l u n g jedes Individuums mit der Erhaltung des Sozialstaates in Einklang zu bringen, in dem die Aktivitäten des einen z u m Wohle aller anderen gereichen", so daß die sehr unterschiedliche Selbstverwirklichung der einzelnen zu einem „Fundus an miteinander geteilten Werten" beitragen kann, 1 9 will R o r t y dagegen in viel moderaterer und in negativer F o r m dem einzelnen selbst überlassen, sich u m seine Angelegenheiten zu k ü m m e r n , ganz gleich, u m was es sich dabei handelt (und so bescheiden sie auch sein mögen). Er ist der Ansicht, „das Ziel einer gerechten, freien Gesellschaft [bestehe darin], daß sie ihren Bürgern erlaubt, so privatistisch, ,irrationalistisch' und ästhetizistisch zu sein, w i e sie mögen, solange sie es in der Zeit tun, die ihnen gehört, und soweit sie anderen keinen Schaden damit zufügen", und weiterhin darin, daß man die „Gelegenheiten der Selbsterschaffung für alle gleich bereitstellt u n d es dann
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Richard Rorty, Objectivity, Relativism, and Truth, a. a. O., 194. Ebd., 213. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidaritat, a. a. O., 117, 108. John Dewey, Ethics, a. a. O., 349.
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den Menschen selbst überläßt, die Gelegenheiten zu nutzen oder nicht w a h r z u n e h men". 2 0 D e w e y w ü r d e darauf erwidern, daß für eine echte Chancengleichheit, d. h. die Gleichheit der positiven Befähigung und nicht der Freiheit von Einflußnahme, die Gesellschaft die Menschen nicht einfach auf sich allein gestellt sein lassen darf, so daß diese es unterlassen können, ihre Chancen zu nutzen, sondern vielmehr solche B e d i n g u n g e n schaffen müßte, die die Wahrnehmung der Chancen gewährleisten. Diese Differenzen können m. E. nicht nur als Unterschiede im persönlichen Geschmack gedeutet werden, sondern sie sind A u s d r u c k der unterschiedlichen Gesellschaften, denen D e w e y und R o r t y angehören, und auch der Rolle, die diese Gesellschaften dem Berufsphilosophen erteilen. Zur Zeit D e w e y s glaubten die Leute noch, eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft sei möglich und Philosophen könnten eine wichtige Rolle bei dem Entwurf dieser Gesellschaft spielen. Mittlerweile ist dieser Glaube fast völlig verschwunden. Philosophen spielen heute in A m e r i k a nicht mehr die f ü h r e n de öffentliche Rolle, die D e w e y noch innehatte. Die Struktur der Gesellschaft (welche die ihres eigenen Berufes mit einschließt) gibt ihnen nicht die Möglichkeit, dies zu tun. Sie können frei theoretisieren, wären aber verrückt, wenn sie glauben würden, sie könnten ihre Theorien in konkretes politisches H a n d e l n umsetzen. 2 1 U n t e r solchen B e d i n g u n gen ist es ganz natürlich, daß die negative und private Freiheit bevorzugt w i r d , denn sie scheint die einzige Freiheit zu sein, die uns noch bleibt. Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen, scheint R o r t y weniger D e w e y untreu geworden zu sein als vielmehr l o y a l gegenüber seiner gesellschaftlichen Realität. O b w o h l sie sich hinsichtlich der Valenz der individuellen Freiheit, die jeder vertritt, unterscheiden, stimmen D e w e y und R o r t y darin überein, daß die Selbstverwirklichung der höchste Wert der liberalen Demokratie ist und eine solche Selbstverwirklichung g a n z deutlich individuellen und ästhetischen Charakter hat. Sich selbst zu v e r w i r k l i chen bedeutet nicht, irgendein festes, allgemeines Wesen des Menschen oder Bürgers zu verwirklichen, entsprechend einer vorgegebenen moralischen oder gesellschaftlichen Formel, die durch die N a t u r oder die Gesellschaft gesetzt ist. Es handelt sich vielmehr u m ein partikularisiertes kreatives Vorhaben des individuellen Wachstums, u m ein Vorhaben ä la Nietzsche, d. h. zu werden, w a s man ist, indem jeder seine ihm eigenen Be-
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Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 13, 146. Dieser Punkt muß in zweifacher Hinsicht vorsichtig präzisiert werden: Ich behaupte nicht, A m e rikas Berufsphilosophen (d. h. jene Akademiker, die unsere philosophischen Fakultäten beherrschen) spielten keine politische Rolle oder wären ohne Einfluß. Rawls' Arbeit hat einigen Einfluß auf Entscheidungen des obersten Gerichtshofs gehabt, und andere Berufsphilosophen werden manchmal zu öffentlichen Fragen so verschiedenen Inhalts wie Abtreibung, Ökologie, Euthanasie und Logik der Abschreckung angehört. Meine Behauptung geht dahin, daß einflußreiche p o litische Initiativen nicht aus den philosophischen Fakultäten kommen. Das bringt mich zur zweiten Präzisierung. Ich bestreite nicht, daß es andere Quellen f ü r eine politische Philosophie gibt, inner- wie außeruniversitär, die wirksamer und einflußreicher sind. Institute f ü r Politikwissenschaften mögen eine Quelle sein, und eine enge institutionelle Verbindung zur Politikwissenschaft mag ein G r u n d dafür sein, warum ein Philosoph wie Charles Taylor optimistischer als R o r t y gegenüber der politischen und kommunitaristischen Rolle v o n Philosophen sein kann.
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dingungen, seine Talente und N e i g u n g e n w i e auch die Gelegenheiten nutzt, u m sich zu einer reicheren, anziehenderen Persönlichkeit zu formen, die befriedigendere u n d beglückendere Erfahrungen mit einer größeren Regelmäßigkeit und Stabilität macht. R o r t y s Verteidigung des .„ästhetischen' Lebens" 2 2 ständiger „Selbst-Erweiterung", „Selbstbereicherung" u n d „Selbsterschaffung", 2 3 gerichtet auf die Verwirklichung unserer eigenen „besonderen Individualität", könnte freier und offener erscheinen. 2 4 A b e r diese ästhetischen T h e m e n w e r d e n mit ebensolchem N a c h d r u c k von D e w e y vertreten, der ja „die Selbstverwirklichung als ethisches Ideal" anerkannte und unterstrich, daß sie „die volle Entfaltung der Individuen in ihrer jeweiligen Individualität erfordert", die nur durch ständige eigene „Entwicklung, ständiges Lernen und Verändern des C h a r a k t e r s " erreicht w e r d e n kann. 2 5 Das Primat der ästhetischen Selbstverwirklichung ist manchmal bei D e w e y etwas überschattet w o r d e n von der B e w e r t u n g der Wissenschaft und der politischen Fragen. Diese jedoch sind für D e w e y nichts weiter als Mittel (wenngleich geschätzte M i t t e l ) f ü r die befriedigenden v o l l k o m m e n e n Phasen der Erfahrung, die D e w e y mit ästhetischer Erfahrung identifizierte und gepriesen hat als die Freude, die das Leben lebenswert macht. Er bekräftigte daher, daß „Kunst, die Weise der Tätigkeit, die beladen ist mit Bedeutungen, fähig unmittelbaren Besitzes, der vollständige H ö h e p u n k t der N a t u r ist, und daß Wissenschaft eigentlich eine Dienerin sei, die natürliche Ereignisse zu diesem glücklichen Ergebnis führt" 2 6 ; gerade so, w i e er behauptet, „Kunst sei moralischer als Moralitäten", da ihre Vorstellung eher neue Güter und Ideale entdecke und v e r w i r k l i che, als daß sie die abgetragenen, konventionellen zu verstärken trachte. 2 7 O b w o h l beide das Ideal der ästhetischen, individuellen Selbstverwirklichung verteidigen, unterscheiden sie sich doch in der A r t und Weise, w i e dieses Ideal umgesetzt w i r d . U n d dies führt dann zu ihren auffallend verschiedenen politischen Ansichten, besonders darüber, i n w i e w e i t der Liberalismus der partizipatorischen D e m o k r a t i e u n d der Teilung zwischen öffentlicher und privater Sphäre bedarf. F ü r D e w e y erfordert die Selbstverwirklichung eine aktive Teilnahme an der öffentlichen Sphäre und an R e g i e rungsangelegenheiten, denn das Individuum kann seine Freiheit, seine individuelle Persönlichkeit u n d seine Talente nur dann voll entwickeln, w e n n es die „gesellschaftlichen Voraussetzungen f ü r ihre W a h r n e h m u n g festlegt", nur in „direkter und aktiver Teil-
22 Richard Rorty, „Freud und die moralische Reflexion", in: ders., Solidarität oder Objektivität, 11-37, übers, von Joachim Schulte, Stuttgart 1988, 57. 23 Ebd. 24 Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 80. 25 John Dewey, Ethics, a. a. O., 302, 205, 348. 26 John Dewey, Experience and Nature, La Salle 1929, 290. 27 John Dewey, Art as Experience, Carbondale 1987, 349. Ich widerstehe daher Bernsteins Vorschlag, daß Rortys „ästhetisierter Pragmatismus" das ist, was ihn von Deweys Liberalismus abweichen läßt; Richard Bernstein, The New Constellation, a. a. O., 233. Für eine ausführliche Behandlung von Deweys Privilegierung der Zwecke ästhetischer Erfahrung gegenüber den Mitteln der Wissenschaft, vgl. Art as Experience, a.a.O., 90ff., 278, und Richard Shusterman, Pragmatist Aesthetics: Living Beauty, Rethinking Art, Oxford 1992, lOff.
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nähme an der Festlegung der Bedingungen, unter denen gesellschaftliches Leben gestaltet und das Streben nach dem Guten fortgeführt werden soll". 2 8 Selbstregierung ist somit unerläßlich für die Selbstverwirklichung. D a der Mensch immer von seinem Umfeld beeinflußt wird, muß er selbst aktiv an der Verwaltung der Gemeinschaft, zu der er gehört, und des Gemeingutes seiner Mitbürger teilnehmen, die mit ihm zu tun haben und auf ihn Einfluß ausüben. Infolgedessen „muß jeder Liberalismus, der sein Bekenntnis zur Bedeutung der Individualität ernst nimmt, sich auch in starkem Maße für die Struktur menschlichen Zusammenschlusses interessieren", und der erfahrene Liberale, der sich um seine eigene Selbstverwirklichung bemüht, müßte begreifen, daß ihr Erfolg und ihre Reichhaltigkeit auch von dem bzw. der der anderen abhängt. 2 9 D e w e y will daher Freiheit und Gleichheit mit Brüderlichkeit in Einklang bringen, während Rorty „Freiheit und Gleichheit von Brüderlichkeit zu trennen" 3 0 versucht und Selbstverwirklichung von Selbstverwaltung loslösen möchte. Eine „klare ... U n terscheidung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen" machend, 3 1 besteht Rorty darauf, daß die Selbstverwirklichung im wesentlichen eine Privatangelegenheit ist, eine Frage des „Was soll ich mit meiner Einsamkeit anfangen?" 3 2 Das öffentliche, politische Funktionieren der liberalen Demokratie ist nur der äußere schützende Rahmen - wenn auch der beste, den wir kennen - für die individuelle Selbstschöpfung, nicht ein immanentes, formgebendes Element. U m die verschiedenen Auffassungen von Liberalismus und Selbstverwirklichung besser einschätzen zu können, werden wir untersuchen, inwieweit sie grundlegendere und feinere Unterschiede in bezug auf die Natur des Selbst, seinen sozialen A u f b a u und die seiner Rekonstruktion zugrundeliegende Ästhetik wiedergeben.
Kontingenz und Einheit Dewey wie auch Rorty begreifen beide das Selbst als eine individuelle, kontingente und sich verändernde Schöpfung und nicht als notwendigen Ausdruck eines ontologisch vorbestimmten und universal geteilten menschlichen Wesens. Für D e w e y „gibt es kein solches Ding wie ein festgeschriebenes, gebrauchsfertiges, vollendetes Selbst" 3 3 , da jedes Selbst nicht nur Handlungen produziert, sondern weitgehend das Produkt seiner Handlungen und Entscheidungen ist; letztere hängen nicht nur von den wechselnden Zufälligkeiten seiner (natürlichen und sozialen) Umwelt ab, die den Spielraum seiner Entscheidungen einschränken, sondern auch von den Kontingenzen, welche aus seinen Handlungen folgen und ihrerseits wiederum künftige Entscheidungen beeinflussen. Bei
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John Dewey, Ethics, a. a. O., 424. John Dewey, Liberalism and Social Action, a. a. O., 31; John Dewey, Ethics, a. a. O., 302. Richard Rorty, Objectivity, Relativism, and Truth, a. a. O., 211. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 142. Richard Rorty, Objectivity, Relativism, and Truth, a. a. O., 13. John Dewey, Ethics, a. a. O., 306.
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Rorty dagegen hat „die Kontingenz der Selbstheit" eine noch viel radikalere Form. Da es kein ahistorisches Wesen der menschlichen Natur und auch keinen „unvergänglichen, ahistorischen Lebenszusammenhang" 34 gibt, der vorschreibt, was das Selbst sein muß, muß es vollständig „als Zufallsprodukt, als bloße Kontingenz verstanden" 35 werden, als „willkürliche", „zufällige Zusammenfügung". 36 Ein solches Argument vermischt Kontingenz, begriffen als „nicht logisch oder ontologisch notwendig", mit Kontingenz als idiosynkratisch und vollständig auf Zufall beruhend. Es spiegelt die falsche Annahme wider, daß wir es entweder mit absoluter Notwendigkeit oder mit willkürlichem Chaos zu tun haben. 37 Dewey hat diesen Sprung von der Negation ontologischer Notwendigkeiten, die auf metaphysischen Essenzen aufbauen, zur Feststellung, daß die Selbstheit nur eine Angelegenheit des Zufalls sei, abgelehnt. Er erkannte vielmehr an, daß es geschichtliche Essenzen gibt (z. B. in Form wirkungsvoller und effektiver biologischer und gesellschaftlicher Normen) neben denen zufällige Notwendigkeiten stehen, d. h. Regelmäßigkeiten oder Bedürfnisse, die faktisch notwendig sind, wenn man von einer zufälligen Evolution und den gegenwärtigen Strukturen der menschlichen Biologie und Geschichte ausgeht. Im Gegensatz zu Rorty konnte Dewey nicht nur von „der wahren Natur des Menschen" 38 sprechen und sich dabei auf die Erkenntnisse der biologischen und sozialen Wissenschaften seiner Zeit stützen, sondern er konnte auf der Grundlage dieser historisierten Natur des Menschen Überlegungen anstellen, um die Art von Leben und Regierung zu begründen, die für die Entwicklung des Menschen am geeignetsten wäre. Während beide sich zu einem „dynamischen Selbst, das immer in Bewegung ist" 39 , das nach fortgesetztem Wachstum strebt, bekennen, so besteht doch Dewey wesentlich mehr als Rorty auf der Einheit und der Kohärenz der Entwicklung des Selbst. Indem er das Wachstum des Selbst als höchstes moralisches Ideal verteidigt, empfiehlt Dewey die Veränderung, um „gegen Verhärtung und Verkrustung anzukämpfen und somit Möglichkeiten für die Neuschöpfung unseres Selbst zu verwirklichen". Er hebt auch hervor, daß die Veränderungen des Selbst durch „ehrliche und aufrichtige, dauerhafte Interessen" strukturiert und durch ein einigendes Band zusammengehalten sein müssen. Denn den eigentlichen Sinn unseres Selbst, „unsere persönliche Identität entdeckt man in der kontinuierlichen Entwicklung, die alle diese Veränderungen miteinander verbin-
34 35 36 37
Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 57. Ebd., 57. Ebd., 75; ders., Essays on Heidegger and Others. Philosophical Papers, Vol. 2, Cambridge/Mass. 1 9 9 1 , 155, 157. Dieselbe Verwechslung tritt oftmals bei Philosophen in Hinblick auf die Beliebigkeit der K o n vention auf, wobei zwei verschiedene Bedeutungen v o n „beliebig" oder „kontingent" vermengt werden: „nicht logisch oder ontologisch notwendig" versus „vollständig unberechenbar, wahllos, unbegründet und leicht umkehrbar". Ich gehe auf diese Verwechslungen und ihre philosophischen Folgen ein in: „Convention: Variations on a Theme", Philosophical Investigations, 9 (1986) 36-55.
38 J o h n Dewey, Ethics, a. a. O., 308. 3 9 Ebd.
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det". 40 Rortys Programm des „radikalen Wandels" zur „Selbst-Erweiterung" lehnt es ab, daß Selbst-Kohärenz und Einheit „das Bedürfnis, mehr und mehr Möglichkeiten" durch fortwährende Neudefinition des Selbst mit neuem, oft gegensätzlichen Vokabular „zu ergreifen", begrenzen können. Wir sollten uns nicht davon beunruhigen lassen, daß das Selbst seine Einheit verlieren könnte, weil es nie eine solche Einheit gehabt hat. Wir sind „Zufallsgruppierungen kontingenter und idiosynkratischer Bedürfnisse" 41 , und was wir als einzelnes Selbst betrachten, ist in der Tat ein Amalgam einander widerstreitender ,Quasi-Selbste', „eine Vielzahl von Personen ... mit unvereinbaren Uberzeugungen und Wünschen". 42 Da Rortys Zersplitterung des Selbst auf einer Davidsonschen Lesart von Freud basiert 43 und mit der postmodernen Dekonstruktion des Subjektes im Einklang steht, könnte man der Meinung sein, daß sein Liberalismus gesünder sei als der von Dewey, weil er auf einer verfeinerten und psychologisch aktuelleren Sicht des Selbst aufbaut. Aber Rorty selbst weist den Gedanken zurück, Ethik auf der Basis irgendeiner Theorie von der Natur des Menschen aufzubauen, ja er behauptet sogar, solche Theorien des Selbst würden ihre Kraft aus der Ubereinstimmung mit unseren privilegierten ethischen Vorstellungen, mit den Idealen und den Institutionen, die wir am attraktivsten finden, beziehen. 44 Wo liegt dann aber der Reiz der das Selbst erweiternden Selbstverwirklichung, wenn es kein Selbst gibt, welches einheitlich genug ist, das Ganze zusammenzuhalten? Das alles fügt sich in wunderbarer Weise mit dem (gut reklamierten) Ideal unserer Gesellschaft von einem maximalen, vielfältigen Konsum, von der Aufnahme einer Unmenge von Produkten, Bildern, Informationsfetzen, die weit über das hinausgehen, was aufgenommen und zu einem kohärenten Ganzen verarbeitet werden kann. 45
40 Ebd., 302, 306. 41 Richard Rorty, „Freud und die moralische Reflexion", a. a. O., 57. 42 Ebd., 68. 43 Vgl. Donald Davidson, „Paradoxes of Irrationality", in: R. Wollheim/J. Hopkins (Hrsg.), Philosophical Essays on Freud, Cambridge/Mass. 1982, und Rortys Gebrauch dieses Artikels in: „Freud and Moral Reflection" (in: Richard Rorty, Philosophical Papers, a. a. O.). 44 Richard Rorty, Objectivity, Relativism, and Truth, a. a. O., 192f.; ders., „Thugs and Theorists", Political Theory, 15 (1987) 564-580, hier 577-580. 45 Hier ist die Rede von unserer postmodernen Gesellschaft mit ihren 57 Kabelkanälen, mit ihrer Ästhetik, der Zersplitterung, einer Ästhetik, versinnbildlicht durch ferngesteuertes Zapping und verfeinert zum Stil von MTV, w o der Zuschauer mit zusammenhanglosen Bildern in rascher Folge beschossen wird. Natürlich durchdringt diese postmoderne Ästhetik nicht nur die TV-Kultur, sondern auch die intellektuelle Kultur mit ihrer ständig wachsenden Anzahl „neuer" Bücher, Theorien und Mammut-Konferenzen mit ihren Labyrinthen paralleler Sitzungen. Kritiker des spätkapitalistischen Konsumismus bezweifeln gern, ob der Unterschied der Möglichkeiten weniger oberflächlich sei als der Unterschied zwischen einem Whopper und einem Big Mac und wir uns wirklich der vermeintlichen Wohltat der Wahl erfreuen. Rorty könnte leicht erwidern, daß Tiefe nicht der höchste Wertmaßstab sei, daß elitäre Kulturkritiker nicht für andere bestimmen können, was wahres Vergnügen sei, und daß die meisten von uns weit weniger glücklich sein würden, wenn unser Auswahlbereich rigoros beschnitten würde, um unsere Auswahl konvergenter und weniger abhängig von den zufälligen Kontingenzen unserer Wünsche zu machen.
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Die Vorstellung Rortys von einem Selbst als einem zufälligen Arrangement inkompatibler Quasi-Selbste, die ständig auf der Suche nach neuen Möglichkeiten und vielfältigen, sich wandelnden Ausdrucksformen sind, scheint die ideale Konzeption eines Selbst für die postmoderne Konsumgesellschaft zu sein: ein zersplittertes, konfuses, gierig soviel Waren wie nur möglich genießendes Selbst, dem es andererseits an jeglicher gefestigten Integrität fehlt, die eigenen Konsumgewohnheiten sowie das System, das diese Gewohnheiten manipuliert und gewinnbringend nutzt, in Frage zu stellen. 46 Zusammenfassend kann man sagen, daß die Radikalisierung der Zufälligkeit bei Rorty zu einer wesentlich engeren individualistischen Vorstellung von der Verwirklichung des Selbst führt als bei Dewey. Wenngleich sie beide verneinen, daß Selbstverwirklichung Anpassung an ein universales, ahistorisches Wesen des Menschen darstellt (weil es dieses Wesen nicht gibt), so kommt doch nur Rorty zu der Auffassung, Selbstverwirklichung müsse daher in einer Maximierung der individuellen Eigenartigkeit bestehen, wobei die einzelnen zufälligen Unterschiede, welche uns von den anderen Mitgliedern unserer Gemeinschaft unterscheiden, akzentuiert werden. Dabei werden alle Anstrengungen um die Schaffung des Selbst auf die private Sphäre begrenzt, nämlich auf die Frage, „was sollen wir mit uns allein tun". 4 7 A r b e i t e « einem selbst durch einen selbstfür die eigene Besonderheit des Selbst ist Rortys Antwort auf diese Frage. Dewey dagegen würde uns auffordern, einen Freund zu finden und Gemeinschaft zu suchen. U m uns selbst zu schöpfen, auch unser privates Selbst, müssen wir mit anderen an der uns umgebenden Gesellschaft arbeiten, denn die relativ stabilen Kontingenzen der Gesellschaft haben einen weitaus größeren Einfluß auf das Selbst als die glücklichen Launen des Zufalls, auf die Rorty so viel Wert legt; denn in der Tat schränken sie letztere doch wesentlich ein.
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E b e n s o ist das Ideal einer privatisierten Selbstverwirklichung durch ein zufälliges und kontingentes geteiltes Selbst o h n e Z e n t r u m b e s o n d e r s geeignet für eine Gesellschaft, in der die verschiedenen sozialen R o l l e n des I n d i v i d u u m s (als Kellnerin, Mutter und Studentin) sich nicht f ü r eine k o h ä rente Selbstdefinition eignen. D e n n das I n d i v i d u u m fühlt sich so verwirrt v o n den mannigfaltigen Rollen, die es zu spielen hat, daß es sie k a u m verbinden k ö n n e n wird zu d e m , was D e w e y als „ d i e F ü l l e der integrierten Persönlichkeit" preist ( J o h n Dewey, T h e Public and its P r o b l e m s , C h i c a g o 1 9 5 4 , 1 4 8 ) . D i e s e angestrebte N e i g u n g zu einer kohärenten G a n z h e i t , eine solche, die g e g e n ü b e r Wandel u n d W a c h s t u m o f f e n ist, aber darauf zielt, diese fortgesetzt zu einer z u s a m m e n h ä n g e n den, aber sich stets entwickelnden k o m p l e x e n Einheit zu integrieren, ist die Weise einer stabilen u n d stabilisierenden G a n z h e i t , die D e w e y vorschlagen kann, ohne dabei auf L e h r e n v o n einem fixen, essentiellen Selbst zurückzufallen, welches s o w o h l er wie auch R o r t y z u r ü c k w e i s e n .
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R i c h a r d R o r t y , K o n t i n g e n z , Ironie u n d Solidarität, a. a. O . , 54f.; R i c h a r d Rorty, „ T h u g s and T h e o r i s t s " , a. a. O . , 13.
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Gesellschaft und Philosophie O b w o h l Dewey dem Individuum teleologischen Vorrang einräumt, so steht doch in konstitutiver Hinsicht die Gesellschaft an erster Stelle. „Die einzelnen Menschen werden immer das Zentrum und die Erfüllung der Erfahrung bilden. Was aber das Individuum tatsächlich in seiner Lebenserfahrung ist, hängt von der Natur und der Bewegung des gesellschaftlichen Lebens ab". 4 8 Die soziale Konstruktion des Selbst ist zentral für Deweys Argument, persönliche Selbstverwirklichung erfordere die Teilnahme am öffentlichen Leben: Wenn „die geistige und moralische Struktur der Individuen, das Muster ihrer Wünsche und Absichten" 4 9 weitgehend von den Gewohnheiten, Gedanken und Werten abhängt, welche die Gesellschaft unterstützt, dann scheint die Verbesserung unserer Gesellschaft unerläßlich, wenn wir die Qualität unseres Selbst, welches wir verwirklichen, steigern wollen. U n d mehr noch, weil Menschen im innersten soziale Lebewesen sind, der Sozialität bedürftige und sie genießende Wesen, kann sich der einzelne Mensch nur dann in vollem Umfange verwirklichen, wenn er aus sich herausgeht und aktiv teilnimmt am gesellschaftlichen Leben. Dewey schlußfolgert deshalb: „Nur insofern sie am Wissen der Gemeinschaft partizipieren und das auf das Erreichen eines allgemeinen Gutes gerichtete Bestreben der Gemeinschaft als ihr eigenes anerkennen, können einzelne menschliche Wesen ihre wahre Individualität realisieren und wirklich frei werden." 5 0 Dieses Argument, „Selbsterschaffung und Gerechtigkeit, private Vervollkommnung und Solidarität mit anderen Menschen, in einer einzigen Vision" zu verschmelzen, ist genau die Art philosophischen Denkens, die R o r t y als hoffnungslos verfehlt abweist. 51 Damit aber bestreitet er weder, daß das Selbst in bedeutender Weise durch die Gesellschaft geformt ist, noch, daß Individuen, um das Ziel ihrer Selbstverwirklichung zu erreichen, daran arbeiten müßten, diejenige demokratische Gesellschaft zu festigen, die die beste Umgebung oder die notwendigen Mittel für dieses Ziel liefert. Was R o r t y bestreitet, ist, daß das Vorhaben einer persönlichen Selbstverwirklichung aktive Teilnahme am öffentlichen Leben als Teil des Zieles beinhaltet. Das genau ist die F o r m der Integration von Öffentlichem und Privatem, die Dewey fordert: „die Angewohnheit abzulegen, Demokratie als etwas Institutionelles und Äußerliches zu behandeln und sich anzugewöhnen, sie als persönliche Lebensform zu behandeln". 5 2 Weshalb lehnt R o r t y das demokratische Ideal Deweys ab, das letzten Endes die persönliche Selbstverwirklichung mit dem öffentlichen Handeln zum öffentlichen Wohle identifiziert und die Ethik des Selbst mit der Politik gegenüber anderen verbindet? Weshalb beharrt er so nachdrücklich darauf, daß die Menschen in der liberalen Gesell-
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John Dewey, „I Believe", in: ders., The Later Works, Bd. 14, Carbondale 1987, 91. John Dewey, Individualism Old and New, New York 1929, 81. John Dewey, Liberalism and Social Action, a. a. O., 20. Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 12f. John Dewey, „Creative Democracy - The Task Before Us", in: ders., The Later Works, Bd. 14, Carbondale 1988, 230.
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schaft kein anderes gesellschaftliches Bindemittel brauchen, um miteinander vereinigt zu sein, als den Wunsch nach einer gesellschaftlichen Struktur, die sie „allein und in Ruhe ihre privaten Vorstellungen von der Vervollkommnung in Frieden erproben läßt?" Weshalb ist er so besonders mißtrauisch gegenüber philosophischen Ansprüchen, die Suche nach der individuellen Vollkommenheit mit öffentlicher Demokratie zu verbinden? Zuerst einmal möchte R o r t y unsere teuren negativen Freiheiten vor philosophischer Tyrannei bewahren. Kein Philosoph, so überzeugt er von seinem Ideal der Vervollkommnung des Selbst auch sein möge, sollte den Menschen diktieren dürfen, wie sie ihr eigenes privates Leben gestalten sollen - über das hinaus, was notwendig ist, um die anderen ihr Leben gestalten zu lassen. Außerdem sollte kein Ideal dieser Art mit dem Vorwand verteidigt oder aufgezwungen werden, seine Annahme sei zum gesellschaftlichen Wohlbefinden erforderlich. Theorien, welche die Selbstvervollkommnung und das öffentliche Wohl miteinander verbinden, neigen dazu, genau diesen Vorwand zu liefern. Ja, selbst darauf zu bestehen, daß die Selbstvervollkommnung eine aktive Teilnahme am öffentlichen demokratischen Prozeß erfordere, kommt für R o r t y einer Verletzung der Demokratie gleich, weil unserer negativen Freiheit so ein spezifisches Ideal der privaten Selbstverwirklichung aufgezwungen würde. Dewey würde darauf antworten, daß die negative Freiheit nicht ausreichend Freiheit dafür bietet, eine echte Demokratie zu gewährleisten. Dazu müssen demokratische öffentliche Belange in das Ideal der Selbstverwirklichung integriert werden. E r würde außerdem und im Gegensatz zu Rorty behaupten, Selbstverwirklichung könne nicht in genügendem Maße umfassend und erfolgreich sein, wenn sie in engherziger Selbstsuche besteht und auf das Private gerichtet ist. „Die Art von Selbst, die durch Handeln im Rahmen der Beziehungen mit anderen Menschen sich herausbildet, wird ein vollkommeneres und breiter angelegtes Selbst sein als die, die in Isolierung oder in Opposition zu den Zielen und Bedürfnissen der anderen erzeugt wird. Im Gegensatz dazu kann die Art von Selbst, die das Ergebnis breit angelegter Interessen ist, allein als eine solche bezeichnet werden, die eine E n t wicklung und Erfüllung des Selbst konstituiert, während der andere Lebensweg das Selbst verkrüppelt und ihm nicht genügend Nahrung bietet, weil er die für seine E n t wicklung notwendigen Verbindungen abschneidet. Die Selbstverwirklichung aber zu einem bewußten Ziel zu erklären, kann ... die volle Aufmerksamkeit gerade von den Beziehungen ablenken, die eine breitere Entwicklung des Selbst mit sich bringen." 5 3 E s scheint, daß die Argumentation hier in eine Sackgasse geraten ist, in der die Wahl der Theorie eine mehr oder minder ästhetische Frage ist: Ist Selbstverwirklichung ohne politisches Engagement tatsächlich reich genug ist, um den Menschen zu befriedigen und wirklich das Selbst zu verwirklichen? 5 4 An dieser Stelle kann R o r t y ein weiteres
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John Dewey, Ethics, a. a. O., 302. Wenn man versucht, dieses Problem auf direkten empirischen Grundlagen zu entscheiden, indem man die Leben exemplarischer Individuen untersucht, die Selbsterfüllung erlangt haben, so ist das nicht wirklich eine Alternative zu einer ästhetischen Entscheidung, d. h. eine Entscheidung
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Argument dagegen ins Feld führen, die Teilnahme am öffentlichen Leben zu einem wesentlichen Bestandteil der Selbstvervollkommnung zu machen: die Nutzlosigkeit eines solchen Vorhabens. Es scheint nutzlos zu sein, unsere Suche nach Selbstverwirklichung als öffentliche Suche nach mehr Demokratie und anderen Gemeingütern zu formulieren, denn die Öffentlichkeit scheint so abstrakt, entfernt und unergründlich zu sein, daß sie schwerlich einen reichen und konkreten Inhalt für unser persönliches Leben bieten kann. Die Substanz von Gemeinschaft und öffentlichem Leben ist nach Rortys Auffassung zu dünn, fade und allgemein, als daß sie dem einzelnen hinreichend Material für sein individuelles Gedeihen lieferte. Dewey mochte der Auffassung sein, daß öffentliche Politik dazu beiträgt, ein breiteres und umfassenderes Selbst zu erzeugen, für R o r t y liefert sie nur uninteressante Gemeinplätze, standardisierte Verfahren und bürokratische Institutionen, für die, obwohl für die Regierung unerläßlich, nicht die B e s o n derheiten von starkem Interesse sind, durch die das Selbst sich entwickeln und seine eigene individuelle Stimme artikulieren kann. Einmal mehr kann es von Nutzen sein, wenn man die hinter den gegensätzlichen Meinungen und Argumenten stehenden unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet, aus denen heraus sie entstanden sind. D e w e y schrieb in einer Zeit, als das kollektive Leben noch wesentlich mehr Substanz und Kohärenz für den einzelnen besaß und in der Philosophen wie Dewey noch eine aktivere und sichtbarere Rolle im öffentlichen Leben spielten. 55 Vielleicht hatte in diesem Kontext der Gedanke, zur vollen Persönlichkeitsentwicklung sei die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben erforderlich, noch einen Sinn. Im Gegensatz dazu hat die moderne amerikanische Gesellschaft von R o r t y keinen öffentlichen Auftrag mehr an ihre Philosophen. Anstatt aufgefordert zu sein, uns selbst im Dienst an der Gesellschaft zu entwickeln, sind wir
mit Hilfe unseres Geschmacks gegenüber dem, was als reichhaltige und befriedigende Selbstverwirklichung zählt. Denn der Geschmack wird in unserer Wahl und Beurteilung der Gegenstände auftauchen. 55 U m dies zu behaupten, braucht man nicht an der Illusion festzuhalten, daß gemeinschaftliches Leben in Deweys Tagen das der vollständig integrierten Polis war, die von einem Philosophenkönig regiert wird. (Dewey selbst hat schon die Zerrissenheit und Spaltung beklagt, die seinerzeit im gesellschaftlichen Leben durch technologische, industrielle und ökonomische Veränderungen verursacht wurden.) Man braucht nur zu bedenken, daß sich in unserer postmodernen Zeit diese sozial dezentrierenden, fragmentarisierenden und destabilisierenden Kräfte hochgradig intensiviert haben und sich in wachsendem Maße zerstörerisch auf den gemeinschaftlichen Zusammenhalt auswirken. David Harveys sozio-ökonomische Darstellung des Uberganges vom Fordistischen Modernismus zur Ökonomie der „flexiblen Akkumulation" des Postmodernismus verdeutlicht dies in dem Buch The Condition of Postmodernity (Oxford 1990). Vgl. auch die Erklärung des zunehmenden Gemeinschaftsverfalls in Amerika in: Robert Bellah et al., Habits of the Heart, New York 1985. Sogar frühere soziologische Studien, welche die Existenz aktiven Gemeinschaftslebens (bis zu den 70ern) bestätigen, erkennen nichtsdestoweniger, daß es zunehmend „fragmentarisiert", „unartikuliert", inkohärent und schlecht in größere öffentliche Strukturen integriert worden ist, was in „dem Niedergang öffentlichen Zu- und Vertrauens zu dem bzw. in den politischen Prozeß" resultiert. Vgl. Morris Janowitz, The Last Half-Century: Societal Change and Politics in America, Chicago 1978, 9, Iii., 271-319.
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amerikanischen Philosophen in den Universitäten eingeschlossen und werden dazu getrieben (durch sozialen D r u c k oder durch D r u c k von Fachkollegen, wie auch durch die strukturierenden Zwänge von Verbeamtung und Gehaltsunterschieden) ein eng professionell orientiertes Modell der Selbstverwirklichung anzunehmen, auf dessen Wege es eigentlich nichts anderes mehr gibt als das Verfassen von Artikeln für Fachzeitschriften und das Schreiben von Büchern für Universitätsverlage. In einem solchen Kontext ist es nur zu natürlich, daß man zu der Uberzeugung gelangt, berufliche Anerkennung und Privatvergnügen seien eigentlich, pragmatisch gesehen, das einzige, was die Selbstverwirklichung darstellen kann. U n d wenn Dewey ein Philosoph der Polis ist, dann ist R o r t y dagegen ein Philosoph des „Campus", und das ist vielleicht die einzige Art Philosoph, welche die amerikanische Gesellschaft haben möchte. 5 6 Die Verantwortung dafür, daß die amerikanische Philosophie aus dem öffentlichen Gebrauch gekommen ist, liegt nicht allein bei den globalen (und vielleicht demokratisierenden) gesellschaftlichen Kräften, welche die Autorität humanistischer Intellektueller unterminiert haben, sondern muß auch darin gesucht werden, daß sich seit den 40er Jahren eine Ideologie der logisch-linguistischen Analyse innerhalb der amerikanischen Philosophie durchzusetzen begann, die eine Hauptrolle im Prozeß der Isolation der Philosophie von der sozialen Praxis spielte. Dewey hat vor dieser Entwicklung gewarnt und dagegen angekämpft. Dieser formalistische Ansatz verstärkte nicht nur die fächerausdifferenzierende Spezialisierung, indem die Rekonstruktion der Philosophie mit den Mitteln des technischen Diskurses und mit Metaproblemen sie immer mehr von der normalen Sprache und den aktuellen Problemen der Gesellschaft entfernte. Diese Entwicklung privilegierte darüber hinaus die Gebiete „reiner" Philosophie (jene nämlich, die sich näher an der logisch-linguistischen Analyse befanden und auf sie reduzierbar waren) und verdrängte andere Gebiete als „angewandte", derart das politische und soziale Denken marginalisierend (wenngleich nicht so weit wie die medizinische Ethik oder die Unternehmensethik). Schließlich wurde betont, philosophische Probleme, die sich scheinbar mit den Tiefen des menschlichen Lebens befaßten, seien in Wirklichkeit Probleme der Sprache, die durch eine logisch-linguistische Behandlung gelöst oder zum Verschwinden gebracht werden könnten. 5 7 U n t e r dieser fundamenta-
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Es ist daher ziemlich ironisch, obwohl insgesamt verständlich, warum Rorty die Philosophie des Campus und der Kulturpolitik so schrill angreift. Wir werden seine Kritik weiter unten im Text behandeln.
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Ich sollte klarstellen, daß das Problem der anglo-amerikanischen linguistischen Philosophie nicht ihre Konzentration auf Sprache war, welche natürlich tiefe sozio-politische Dimensionen hat, sondern vielmehr in einer übertrieben formalistischen und sozial neutralen Analyse der Sprache bestand. Sogar die scheinbar großen Ausnahmen, wie Austin und Wittgenstein, die auf die entscheidende soziale Dimension der Sprache hinwiesen, ließen sich niemals auf eine detaillierte empirische Untersuchung der wirklichen sozio-politischen Faktoren und Kämpfe ein, welche die linguistische Bedeutung beherrschen, in der Weise, wie es von Foucault und Bourdieu vorgeschlagen wurde. Ich behandle die formalisierenden und professionalisierenden Zwänge der Analytischen Philosophie in „Analyzing Analytic Aesthetics", in: Richard Shusterman (Hrsg.), Analytic Aesthetics, Oxford 1989, 1 - 1 9 .
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len Prämisse ist die Philosophie nur in geringem Maße dazu in der Lage, etwas für konkrete soziale und politische Probleme zu tun, welche üblicherweise eher empirische und normative als linguistische Zusammenhänge enthalten. Das ist genau der Schluß, zu dem R o r t y gelangt und durch den sich sein Liberalismus in scharfer Weise von dem Deweys unterscheidet. 5 8 D e w e y war der Ansicht, daß die Philosophie im Mittelpunkt der gesellschaftspolitischen Reform stehen sollte, nicht indem sie die ontologischen Grundlagen für eine solche Reform deduziert, sondern indem sie Überlegungen über die am besten geeigneten Zwecke und Mittel anstellt. Als er den zeitgenössischen Philosophen einen „Mangel an Phantasie und Vorstellungskraft bei der Schaffung fortschrittlicher Ideen" vorwarf, behauptete Dewey, daß die Philosophie nur durch „die Herausbildung von richtungsweisenden Hypothesen" ihren Wert erweisen kann, statt durch „weitreichenden A n spruch auf das Wissen eines universalen Seins". 5 9 Durch das Anbieten von konkreten Mitteln und Zielen müßte die Philosophie „ein tätiges Denken sein, das die Gedanken und Ideen als mögliche Zielstellungen absteckt und definiert und das sich der Ergebnisse der Wissenschaft als Instrumente bedient". 6 0 Im Gegensatz dazu besteht R o r t y darauf, daß der Philosoph gesellschaftspolitisch überhaupt keinen Nutzen hat. Sein Pragmatismus teilt die Ablehnung Deweys, sich das Recht zuzugestehen, ontologische Wesensinhalte und Naturrechte heranzuziehen, aber er gibt die Idee auf, daß die Philosophie kompensatorisch wirken könne, indem sie wirksame Mittel für die soziale R e form vorschlägt. R o r t y „kann kaum Verwendung für die Philosophie darin sehen, daß sie die Mittel für die Zwecke formuliert, die wir Sozialdemokraten teilen". E r sieht vielmehr „ihren hauptsächlichen N u t z e n " darin, unsere persönlichen utopischen Vorstellungen zu überdenken und das Vokabular zu liefern, das wir bei unserer Suche nach Selbstverwirklichung verwenden, umformen und schließlich überschreiten können. Daher ist „Philosophie wichtiger für das Unternehmen privater Vervollkommnung geworden als für jegliche soziale Aufgabe". 6 1
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R o r t y wurde beruflich durch die logisch-linguistische Wende der Philosophie geformt. Deshalb ist es nicht erstaunlich, daß er Sprache als die einzige soziale Dimension betrachtet, die für die Selbstverwirklichung entscheidend ist. Aber sogar hier führt er die problematische Teilung der Sprache des Selbst in öffentliche und private Wendungen durch, wobei er das private und persönlich Eigentümliche als das, was wesentlich zur Selbstverwirklichung ist, privilegiert, während er die öffentliche Sprache als bloßes Mittel betrachtet, um eine gesicherte Umwelt herzustellen, in der wir uns selbst durch unsere private Sprache verwirklichen. Zu einer Kritik seiner linguistischen Arbeitsteilung und allgemeiner zu Rortys körperloser Textualisation des Selbst vergleiche Richard Shusterman, Pragmatist Aesthetics, a. a. O., 1 0 1 - 1 0 6 , 2 5 5 - 2 5 8 .
59 John Dewey, Philosophy and Civilisation, N e w York 1963, 11; ders., The Quest for Certainty, Carbondale 1988, 248. 60 John Dewey, The Quest for Certainty, a. a. O., 227. 61 Richard Rorty, „Thugs and Theorists", a. a. O., 569; ders., Kontingenz, Ironie und Solidarität, a. a. O., 161. Dewey drängt die Philosophie, spezifische und konkrete Mittel vorzuschlagen. E r empfiehlt darüber hinaus oftmals ihren allgemeinen Nutzen als Führerin zu einer sozialen R e form, da sie sowohl die Intelligenz als auch die experimentelle Methode verkörpert. Aber so wie man sich fragen wird, wodurch die Philosophie dazu qualifiziert wird, konkrete soziale Refor-
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Öffentlich/Privat und Mittel/Zwecke Rortys Privatisierung der Philosophie wird zumeist charakterisiert als sorglose moralische Selbstzufriedenheit, die unsere egoistische Voreingenommenheit mit privatem Gewinn und dem Streben nach narzißtischer Selbsterfüllung rechtfertigen soll. Solche Anschuldigungen sind jedoch ungeeignete Vereinfachungen, insbesondere im Hinblick auf Rortys Kritik an der Selbstsucht und Habgier unserer Gesellschaft. 6 2 Nützlicher wäre es zu behaupten, daß Rorty den Beitrag der Philosophie zur Politik bestreitet, da er Zweifel gegenüber übertriebenen Erwartungen über das, was dieser Beitrag sein soll, hegt. Er weiß zwar, daß Philosophen manchmal zu öffentlichen Angelegenheiten konsultiert werden und daß sie darüber hinaus Generationen von öffentlichen Angestellten ausbilden. Aber das ist offenbar nicht genug für Rortys Projekt einer ausgeprägten Selbstverwirklichung, die an der politischen Front entweder neue Vorstellungen sozialer Ziele zu verlangen scheint oder zumindest neue Methoden der Umsetzung der Zielsetzungen, die bereits Gemeingut sind. Er erwartet vernünftigerweise nicht, daß solche erneuernden Beiträge von Philosophen ausgehen. Aber es ist weit weniger vernünftig davon auszugehen, daß sinnvolle Politik diese großartige Gestalt radikaler Erfindung annehmen müsse. Dasselbe gilt für Rortys Auffassung, die Möglichkeiten eines Beitrages zum öffentlichen Leben seien zu bedeutungslos, um ein wichtiger Beitrag der Selbstverwirklichung zu sein. Auch diese Auffassung scheint an derselben Art übertriebener Erwartung zu leiden - einer Erwartung, die bedeutungsvolle Selbstverwirklichung mit radikaler Erneuerung und Eigenheit gleichsetzt. Rortys Privatisierung der Philosophie kann am ehesten verteidigt werden, wenn man behauptet, daß wir die Philosophie dadurch, daß wir sie von öffentlichen Problemen auf private Vervollkommnung lenken, wirksamer von Mitteln auf Zwecke richten. Für Rorty wie für Dewey sind die Zwecke und Ziele, die das Leben lebenswert machen, nur in individueller Erfahrung zu verwirklichen. Liberale Demokratie und ihre öffentlichen Einrichtungen sind daher kein Selbstzweck, sondern Mittel, welche dem einzelnen die Freiheit und die Utensilien bereitstellen, die nötig sind, um sich der gewählten Zwecke erfreuen zu können und sich als Selbstzweck in der eigenen bevorzugten Weise verwirklichen zu können. Wenn Philosophie diesen Zwecken auf direktem Wege dienen kann, indem sie sowohl das Vokabular als auch anschauliche Beispiele der Selbstschöpfung bereitstellt, warum, so fragt Rorty, soll sie dann diesen Zwecken auf indirekte Weise dienen, indem sie sich mit den öffentlichen Mitteln befaßt?
men vorzuschlagen, genauso wird man sehen, daß Deweys Begriffe von Intelligenz und experimenteller Methode so vage und allgemein bleiben, daß es schwerfällt, sie ernsthaft als philosophische Mittel für soziale Zwecksetzungen zu betrachten. Daher kann R o r t y behaupten, daß er, über D e w e y s soziale Anwendung der Philosophie hinwegsehend, D e w e y nachsichtiger liest, wenn er D e w e y s p r a g m a t i s t i s c h e n L i b e r a l i s m u s nicht mit leeren p h i l o s o p h i s c h e n Heilmitteln und unpragmatischen „ L ö s u n g s w ö r t e r n " verbindet. 62
Vgl. z. B. Richard Rorty, „Social H o p e and History as C o m i c F r a m e " , a. a. O.; ders., „Intellectuals in Politics", a. a. O .
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D e w e y s A n t w o r t darauf ist, w i e w i r uns erinnern, daß das öffentliche Mittel des demokratischen Lebens ein intrinsischer Teil des Zieles einer vollständigen Selbstverw i r k l i c h u n g ist. Teilweise beruht diese Entgegnung auf ästhetischen E r w ä g u n g e n über Fülle und Einheit. Privatvergnügungen sind nicht reich genug, u m volle Erfüllung zu bieten. „Geteilte Erfahrung ist das höchste menschliche Gut"; 6 3 und das bürgerliche Leben liefert unentbehrliche Befriedigungen und Dimensionen der Selbstvervollkommnung. U n d mehr noch, da das Selbst weitgehend von seiner U m g e b u n g geprägt ist, fordert D e w e y s Ziel der Einheit des Selbst bzw. der „Vollständigkeit der integrierten Persönlichkeit" die Synthese von öffentlichem und privatem Leben (anstelle der schizoiden R o r t y s c h e n Spaltung). A b e r jenseits dieser ästhetischen Überlegungen 6 4 beinhaltet D e w e y s Weigerung, das Ziel der privaten V e r v o l l k o m m n u n g von dem Mittel der Teilnahme am öffentlichen Leben zu trennen, eine deutlich holistische Sicht der Zweck/Mittel-Unterscheidung. Die echten Mittel sind nicht einfach notwendige Voraussetzungen außerhalb des Ziels, sondern vielmehr integrative Bestandteile davon - so w i e die Farben und Linien als Mittel der Malerei auch zu ihrem Zweck gehören. D e w e y hielt die scharfe traditionelle Unterscheidung von Zweck und Mittel f ü r das Korrelat der Unterscheidung von T h e o rie und Praxis, beide entstanden aus der Athener Klassenhierarchie, die Mittel und P r a xis mit den unteren werktätigen Klassen identifizierte, w ä h r e n d Z w e c k e und Theorie der Elite zugeordnet w u r d e n , die über die erforderliche Zeit und die n o t w e n d i g e n Voraussetzungen verfügte, sich ihrer zu erfreuen. In Opposition z u r privilegierenden Trennung von Theorie u n d Praxis soll der Pragmatismus solch eine Trennung von Z w e c k e n und Mitteln sowie von Privatem und Öffentlichem bekämpfen. R o r t y s Verteidigung einer Privatzwecken vorbehaltenen Philosophie scheint genau eine solche, die H i e r a r chie privilegierende Strategie der Teilung zu sein, obwohl sie vermittels der Entlarvung der alten metaphysischen Ansprüche der Philosophie in entwaffnender Weise verhüllt ist. Wenn w i r uns w i r k l i c h u m die Z w e c k e bemühen, sagt Dewey, dann müssen w i r uns ebenso u m die Mittel ihrer H e r v o r b r i n g u n g Gedanken machen und somit sind „die von den Mitteln getrennten Zwecke", „die v o m öffentlichen H a n d e l n losgelöste private V e r v o l l k o m m n u n g " nur der „sentimentale A b l a ß " der w o h l h a b e n d e n Elite. 6 5
63 John Dewey, Experience and Nature, a. a. O., 167. 64 Eine weitere Erklärung für Deweys Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft und der Verschmelzung von privater und öffentlicher Vervollkommnung könnte in seinen fortdauernden gemeindereligiösen Empfindungen, die tief durchdrungen sind von Deweys langjähriger Verbindung mit der Congregationalist Church, liegen, als ob das Seelenheil der Individuen von der kräftigenden Reinheit der Glaubensgemeinschaft abhinge. Der religiöse Aspekt von Deweys Demokratie ist in jüngster Zeit mehrfach betont worden, zum einen in dem Artikel von James Miller, „The Common Faith", in: Nation, 14. Jg. (Oktober 1991), 450-454, einer Rezension von Westbrooks DeweyBiographie, zum anderen sehr detailliert in Steven Rockefellers BiographieJohn Dewey: Religious Faith and Democratic Humanism (New York 1991). Gleichfalls darauf hingewiesen hat James
Kloppenberg in seinem Buch Uncertain Victory: Social Democracy and American Throughout 1870-1920 (New York 1986). 65 John Dewey, The Quest for Certainty, a. a. O., 223.
and Progressivism
in
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R o r t y kann gegen diesen Vorwurf des sentimentalen Ablasses den der sentimentalen N o s t a l g i e erheben. E s ist nicht der Fall, daß öffentliche Mittel weniger wichtig als private Z w e c k e wären. E s ist vielmehr so, daß, um realistisch zu sein, die Philosophie nur sehr wenig tun kann, u m diese Mittel zu verbessern, während sie eine ganze M e n g e für die Realisierung der privaten Ziele tun kann. Pragmatisch gesprochen ist es also vernünftiger, die Philosophie dort einzusetzen, w o sie nutzbringend verwendet werden kann. Als öffentliche Philosophen in der postmodernen, postsowjetischen Welt „haben wir keine klare Vorstellung davon, wie wir uns selbst nützlich machen k ö n n e n " , da wir weder die bürgerliche liberale Demokratie auf philosophische Grundlagen stellen können noch eine konkrete Vorstellung von besseren Alternativen haben. 6 6 Als an den R a n d gedrängte Intellektuelle in einer unüberschaubaren und komplexen Gesellschaft fehlen uns Philosophen einfach die praktischen Mittel, das öffentliche Leben umzugestalten und den Zusammenhalt der Menschen zu verbessern. Daher bestünde die weitaus größere Sünde der Trennung von Theorie und Praxis, Mitteln und Zwecken darin, vage über U m w a n d l u n g e n der genannten Art zu theoretisieren. Vielleicht war die Zeit D e weys ein wenig anders. A b e r zu glauben, unsere multikulturelle, postmoderne, liberale Gesellschaft würde unser philosophisches Drängen auf den öffentlichen Bereich einer eng verbundenen Gemeinschaft, einer „Gemeinschaft 6 7 aus der guten alten Z e i t " 6 8 , zusammengeschmiedet durch geteilte Zwecke und Werte, berücksichtigen, hieße sich in nostalgischen Phantasmen aus legendären Tagen zu gefallen, in denen die Philosophen noch vorgeben konnten, die H a r m o n i e in der Polis zu instrumentieren. Für R o r t y ist diese „ k o m m u n a l e und öffentliche Desillusionierung (einhergehend mit der Desillusionierung der öffentlichen Philosophie) der Preis, den wir für die individuelle und private geistige Befreiung zu zahlen haben". 6 9 N i c h t nur, daß es sich lohnt, diesen Preis zu zahlen; er ist schon gezahlt worden, und es gibt kein Zurück.
Schlußfolgerung: Einigung auf halbem Weg D e w e y macht den liberalen Philosophen den Vorschlag eines demokratischen Lebens, w o n a c h sie sich selbst als freie, besondere Individuen verwirklichen können, indem sie der Suche ihrer Gesellschaft nach Freiheit dienlich sind. Dabei verbindet sich private Vervollkommnung mit dem Agieren der Gemeinschaft und wird zugleich durch diese bereichert, und philosophische Ausbildung trägt zur öffentlichen R e f o r m wie auch zu privatem Wachstum bei. E s ist sehr schwer, diese liberale U t o p i e - mit ihrer umfassenden Integration v o n Selbst und Sozialem, Freiheit und Gemeinschaft - preiszugeben, eine Integration immerhin, die sich auf das Deweysche A x i o m gründet, wonach D e m o kratie „die Idee des gemeinschaftlichen Lebens selbst ist". 7 0 D i e Preisgabe dieser Vision 66 Richard Rorty, „Social H o p e and History as C o m i c F r a m e " , a. a. O., 13. 67 Im Original deutsch (der Ubers., D . S.). 68 Richard Rorty, Objectivity, Relativism, and Truth, a. a. O., 209. 69 Ebd., 194. Ironischerweise liest sich dieses Zitat in Rortys Text als „ F ü r D e w e y " usw. 70 J o h n Dewey, The Public and its Problems, a. a. O . , 148.
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ist vielleicht für linke Intellektuelle meiner Generation besonders hart. Denn die Teilnahme an solchen gemeinschaftlichen Handlungen zur Herbeiführung einer sozialpolitischen Reform (ob nun Sit-ins innerhalb der Universität, nationale Protestmärsche oder sozial bewußte Sleep-in-Musikfestivals) war das, was uns unsere Identität als freie, der distinkten Selbstschöpfung fähige Individuen verlieh. Solche gemeinschaftlichen politischen Handlungen waren der Weg, auf dem wir uns von gehorsamen Kindern zu freien Erwachsenen wandelten, von einsamen Lesern und TV-Zuschauern, die von den Eltern vorgeschriebene Texte aufnahmen, zu Gruppenaktivisten, die begierig waren, ihre eigene ausgeprägte Kultur und ihre eigenen Lebensweisen hervorzubringen, von denen eine die Kommune war. Obwohl es uns schwerfällt, Deweys liberales Ideal preiszugeben, so ist es doch ebenso schwer, die von Rorty beschriebene gegenwärtige Realität zu verleugnen. Die postmoderne amerikanische Gesellschaft bildet einfach nicht die Art der eng integrierten Öffentlichkeit oder mitmenschlich-teilenden persönlichen Gemeinschaft, auf welcher Deweys demokratisches Ideal der privat-öffentlichen Selbstverwirklichung basierte. 71 Aber wenn Rorty richtig damit verfährt, die Hoffnung auf eine philosophisch inspirierte Deweysche „Große Gemeinschaft" aufzugeben, so ist es falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß privates Vergnügen alles ist, was wir Theoretiker aus der Philosophie ableiten können. Rortys Denkfehler besteht darin zu meinen, daß der Verlust der Öffentlichkeit als einer wahren Gemeinschaft einem nichts weiter als das Private läßt. Zwischen der Großen Gemeinschaft und dem privaten Individuum steht jedoch die Vorstellung von kleineren Gemeinschaften oder Öffentlichkeiten, die klein genug sind, um wirkliche Gemeinschaften von bedeutsamen zwischenmenschlichen Beziehungen zu bilden und dennoch groß und kraftvoll genug, um das Individuum mit der breiteren sozialen Welt zu verbinden und ihm eine wahre Arena zu liefern, um seine Freiheit zu entfalten und zu erweitern. Die Universitätsgemeinschaft bildet eine solche Öffentlichkeit; und es ist nicht überraschend, daß gerade sie das Zentrum von konkreten politischen Reformen im Hinblick auf Themen wie affirmative action72 und Multikulturalismus in den Lehrplänen, geworden ist.73 Mehr noch, solch eine Reform der Lehrpläne ist oftmals philosophisch 71
D e w e y selbst bemerkte schon im Jahre 1927 „das Schwinden der Öffentlichkeit" („the eclipse of the public") als substantieller, harmonischer Gemeinschaft. E r schrieb diesen Verlust den zerstörerischen Effekten der industriellen, ökonomischen und administrativen Kräfte zu, die neue unpersönliche F o r m e n der sozialen Organisation mit sich bringen, welche sich für die Komplexität und ungeheure G r ö ß e unserer technischen „Großen Gesellschaft" als notwendig erweisen. Aber D e w e y war der Meinung, die Philosophie habe eine entscheidende Rolle zu spielen bei „der Suche nach den Bedingungen, unter denen die G r o ß e Gesellschaft eine große Gemeinschaft werden könne", indem er darauf insistierte, daß eine notwendige Bedingung in der Erneuerung des „lokalen gemeinschaftlichen Lebens" bestünde (John Dewey, The Public and its Problems, a. a. O . , 1 4 7 , 2 1 4 ) . Ich werde die Entscheidung zugunsten einer lokalen Gemeinschaft weiter unten diskutieren
72
Mit dem Begriff der affirmative action bezeichnet man in den Vereinigten Staaten gesetzliche Maßnahmen zur Förderung benachteiligter Bevölkerungsgruppen (Anm. des Ubers., T. B.).
73
Die feministische Gemeinschaft ist eine weitere, sich mit anderen überschneidende Öffentlich-
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und
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inspiriert durch genealogische Kritik am Kanon, dekonstruktive Argumente für die zentrale Stelle des Marginalen und den Wert der Differenz sowie durch pragmatische Kritiken fester, absoluter Werte und Bedeutungen. Es ist leicht zu sehen, wie der radikale studentische Aktivismus der 60er Jahre nach zwei Jahrzehnten, die von politischer Enttäuschung und wachsender Hoffnungslosigkeit gegenüber der Möglichkeit substantieller Reformen in zentraler gelegenen politischen Gebieten gekennzeichnet waren, sein Augenmerk der Kultur- und Bildungspolitik zugewandt hat. Rorty hat es eilig, uns „verbeamtete Radikale" der 60er dafür zu verurteilen, daß wir Kulturpolitik mit wirklicher Politik vermengen, daß wir anstatt uns mit den Problemen der Armen und Obdachlosen zu beschäftigen, die Probleme von privilegierten Universitätsangehörigen behandeln. E r tadelt uns dafür, daß wir vorgeben, die kulturellen Umwandlungen in der Universität würden sich „schließlich irgendwie mit den Problemen" der „wirklichen linken Politik" verknüpfen, die Rorty als „Initiativen zu einer Verminderung des Elends und einer Überwindung der Ungerechtigkeit" glossiert, oder alternativ als „Wiederherstellung der Machtbalance zwischen den Reichen und den Armen". 7 4 Er verdammt unsere Orientierung an der Kulturpolitik, weil sie zugleich eine vollständige Preisgabe von Reformversuchen unseres außerlehrplanmäßigen politischen Systems und eine Ablehnung liberaler Demokratie wegen ihrer unverbesserlichen Korruption impliziere und fördere. Diese Implikation scheint jedoch ebenso albern, wie zu argumentieren, daß die Zuteilung der eigenen Anstrengungen zur Unterstützung oder zum Training der lokalen College-Football-Mannschaft zugleich bedeute, die N F L sei ein hoffnungslos böses Reich, das aufgelöst werden müsse. Mehr noch, gerade so, wie es befremdlich ist zu leugnen, daß die Spiele an der Universität oder am Gymnasium gut genug sind, um wirkliche Footballspiele zu sein, genauso befremdlich ist es zu behaupten, weil Probleme der kulturellen Unterdrückung und des Rassismus inneruniversitär viel weniger schlimm seien als im Ghetto, würden sie darum aufhören, als Probleme wichtig genug zu sein, um den ehrenden Titel wirklich zu verdienen. Schließlich dürfte es gefährlich vereinfachend (obgleich demokratisch amerikanisch) sein, wenn Rorty politisches Elend und Ungerechtigkeit mit einem enggeführten ökonomischen Wortschatz von reich und arm darstellt. Reiche deutsche Juden konnten keine Freilassung von den „Ariern" erkaufen.
keit. In der Tat, sie ist eine Gemeinschaft, deren fortschrittliche Theorie und Politik R o r t y lobend erwähnt und der er sogar die pragmatistische Philosophie als „nützlich" empfiehlt. Vgl. Richard Rorty, „Feminism and Pragmatism", in: Michigan Quarterly Review, (Frühjahr 1991), 2 4 7 - 2 5 0 . Im Kontrast dazu verunglimpft er aber, aus Gründen, die ich weiter unten anführen werde, das Projekt einer Kulturpolitik, obgleich der Feminismus sicherlich eine F o r m davon ist. Seine Verteidigung der feministischen Theorie (die soweit geht, daß er den Wert der Schaffung einer separatistischen feministischen Kultur anerkennt) läßt mich vermuten, daß Rortys Schmährede auf die Kulturpolitik nicht gegen dieses Vorhaben an sich gerichtet ist, sondern nur gegen den negativen Extremismus der dominantesten und radikalsten akademischen Form. Ich werde diese Verwechslung weiter unten als Teil meiner Bemühungen einer Verteidigung von Kulturpolitik erklären. 74
Richard Rorty, „Intellectuals in Politics", in: Dissent, (Herbst 1991), 4 8 3 - 4 9 0 , hier 488f.; „Social H o p e and History as Comic Frame", a. a. O., 7.
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Wir kulturellen Aktivisten kennen ebenso wie Rorty den Unterschied zwischen den Problemen lesbischer Feministinnen am Barnard College und denen obdachloser Rauschgiftsüchtiger in Harlem, ebenso wie wir wissen, daß unsere Reformen an der Universität keine substantielle Hilfe bieten, um schmerzhaftere, drückendere ökonomische Probleme zu lösen, die Rorty mit wirklicher Politik identifiziert. O b w o h l w i r dies eingestehen, können wir dennoch behaupten, was Rorty bestreitet: „daß Kulturpolitik, und insbesondere Universitätspolitik, mit wirklicher Politik zusammenhängen" und energisch weiterverfolgt werden sollten. 75 Denn universitäre Maßnahmen, welche die Zulassung von und Stipendien für Arme betreffen, des weiteren Einstellungsquoten sowie das Einfrieren von Investitionen in Staaten und Unternehmen, die U n t e r d r ü k kung fördern, sind nicht so leicht von der wirklichen Politik zu trennen, die R o r t y empfiehlt. Was ist ihm daher daran gelegen, darum zu kämpfen, dies zu leugnen, besonders da Kontinuität eine zentrale Stelle bei der Zurückweisung von essentialistischen Dichotomien durch die Pragmatisten einnimmt? Möglicherweise ist es die Furcht vor globalen Anmaßungen der Kulturpolitik zusammen mit ihren elitären, sektiererischen, negativen Methoden. R o r t y denkt, daß diese Politik „nach der vollständigen U m w a n d l u n g unserer Gesellschaft ruft" und sich ideologischer Demaskierungen und kultureller Überschreitungen bedient, wobei die Werkzeuge der Literaturtheorie zur Dekonstruktion von Texten benutzt werden, ihre Meisterschaft in dem, was de Man die „Linguistik der Literarizität" nennt. 76 Wie Rorty spöttisch bemerkt, sei es die Strategie dabei, „daß die Bestürzung der Eltern unserer Studenten früher oder später dabei behilflich sein wird, die ungerechten Institutionen umzustürzen". 7 7 Aber Rortys ängstliche Kritik der Kulturpolitik beruht darauf, daß er zwei sehr verschiedene Spielarten dieser Art - man kann sie poststrukturalistischen Marxismus und postmodernen Pragmatismus nennen - vermengt, wobei beide der Meinung sind, Kulturpolitik sei die beste Sache, die wir Professoren der Geisteswissenschaften gegenwärtig für die Demokratie tun können. Die Marxisten behaupten, das gesamte sozio-politische System des Liberalismus sei so irreparabel korrupt, daß alle vorhandenen Mittel der demokratischen Reform, sogar der Gebrauch der normalen Sprache, schon immer durch die bürgerliche Ideologie kontaminiert sind. Daher gibt es weiter nichts für linksstehende Professoren zu tun, als akademische Subversion zu praktizieren, indem gegen die liberale Ideologie geschrieben und gelehrt wird - und das mit den Mitteln einer bissigen Analyse kultureller Texte in einer geheimen technischen Sprache, die weder die bürgerlichen Unterdrücker noch die Unterdrückten, denen das Gehirn gewaschen wurde, verstehen können. Subversion sollte nicht nur wegen moralischer Ablehnung der Mitschuld betrieben werden, sondern auch in der Hoffnung, daß sie die historischen Kräfte unterstützen wird, die an der vollständige Auflösung des Liberalismus arbeiten.
75 Richard Rorty, „Social Hope and History as Comic Frame", a. a. O., 20. 76 Ders., „Intellectuals in Politics", in: Dissent, (Herbst 1991), 487. 77 Richard Rorty, „Social Hope and History as Comic Frame", a. a. O., 20.
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Liberalismus
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Pragmatisten auf der anderen Seite weisen solche totalitären Theorien der ideologischen Systeme und Sprachen zurück, und damit auch den Traum einer totalen Revolution. Sie bieten keine kunstvolle theoretische Fundierung für den Gedanken, daß U n i versitäts- und Kulturpolitik benutzt werden sollten, um die Demokratie zu stärken; aus dem einfachen Grunde, weil sich hier das Gebiet befindet, auf dem die Professoren der Geisteswissenschaften über das meiste Wissen und den größten Einfluß verfügen. (Als Postmoderne wissen solche Pragmatisten das Lokale und Stückweise zu schätzen, hegen aber Verdacht gegenüber verallgemeinernder Kritik durch Utopien eines radikal Anderen.) Kulturpolitik ist für solche Pragmatisten keine Entschuldigung, um liberale Demokratie aufzugeben, sondern gibt einfach den besten Bereich ab, in dem wir sie ausüben und von innen her verbessern können. Sie bietet eine vertrautere und handhabbarere Arena substantieller Teilnahme an demokratischer Aktion und Reform, ein engeres Feld, das zugleich besser zu kontrollieren und zu überblicken ist. Hier können wir mit konkreten Vorschlägen experimentieren und die Ergebnisse besser beurteilen. Auf diesem Gebiet ist unser politisches Handeln sofort greifbar und häufig effektiv. Auf diese Weise bietet es eine positive Verstärkung der Gewohnheiten des engagierten, kümmernden, politischen Handelns. U n d wenn diese Gewohnheiten in ausreichendem Maße entwickelt und verstärkt sind, können sie uns die feste politische Gesinnung und das sichere Wissen geben, das nötig ist, um uns erfolgreich in das breitere und erschrekkendere Gebiet zu werfen, das R o r t y als wirkliche Politik bezeichnet. E s wäre besser, wenn wir schon darauf vorbereitet wären, die Probleme der Welt in Angriff zu nehmen, den Obdachlosen zu helfen, anstatt die kulturell Mißachteten zu unterstützen. A b e r dies dazu zu benutzen, unsere auf die Verbesserung der lokalen akademischen Gemeinschaft (und unser öffentliches Selbst) gerichteten Versuche zu verdammen, wäre dasselbe, wie das Bessere zum Feinde des Guten zu erklären und die Kontinuität demokratischer Gewohnheiten außer acht zu lassen. Diese Themen, Gewohnheit und lokale Gemeinschaft, stehen natürlich im Zentrum von Deweys Liberalismus, demzufolge „Demokratie zu Hause beginnen muß, und ihr Zuhause ist die nachbarliche Gemeinschaft", da nur solche „Gemeinschaften, in denen man sich von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht, die Lebendigkeit und Tiefe eines nahen und direkten Umganges" gewährleisten, durch den wir uns gegenseitig als distinkte Individuen respektieren und uns um unser gemeinsames wie um unser privates Wohl zu sorgen lernen. 7 8 Für uns humanistische Akademiker, die wir von Marktgegebenheiten zu einem unsteten Dasein gezwungen werden, bildet die Universität die einzige lokale Gemeinschaft, und Kultur ist, wo wir leben. Sie ist ein guter O r t , um unsere
78 John Dewey, The Public and its Problems, a. a. O., 212f. Rorty führt in „Love and Money", in: C o m m o n Knowledge, 1/1992, 1 2 - 1 7 aus, daß arme Menschen ohne wirklichen Kontakt dazu neigen, sich in „undenkbare" Abstraktionen zu verwandeln, denen gegenüber uns ein grausames Verhalten nicht schwerfällt, da, um mit Lévinas zu sprechen, „wir ihr Gesicht nicht sehen". In selbsttäuschender Weise narzißtisch, wie R o r t y uns sehen könnte, können wir Kultur- und Universitätspolitiker lernen, wie wir von der Sorge um unsere häufig gleichsam unsichtbaren Studenten zu einer Sorge um undenkbarere und unsichtbarere Massen fortschreiten können.
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Richard
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liberalen und demokratischen Tugenden auszuüben und zugleich der beste Weg, R o r t y und Dewey durch Einigung auf halbem Weg zu versöhnen: Kulturpolitik dazu benutzend, unsere private Vervollkommnung voranzutreiben, indem wir uns zu besseren und engagierteren öffentlichen Selbsten machen, welche die Erfüllung fürsorgenden, gemeinschaftlichen Handelns genießen, das von unseren philosophischen Hoffnungen und Überzeugungen inspiriert ist. Aus dem Englischen von Thomas Blume (Dresden) und David Strecker
(Berlin).
Chantal Mouffe
Das Paradoxon des politischen Liberalismus
Mit der neuerlichen starken Zunahme von ethnischen und nationalistischen Konflikten auf der ganzen Erde ist ein angemessenes Verstehen der Dynamik der Leidenschaften und ihrer Rolle in der Politik für die politische Philosophie dringend notwendig geworden. Aber leider vermag ein großer Teil der gegenwärtig aufgestellten Theorien, die durch einen rationalistischen Blickwinkel maßgeblich bestimmt werden, nicht einmal, die angebrachten Fragen zu formulieren. Man könnte behaupten, daß die Hauptunzulänglichkeiten des liberalen Paradigmas, das sich seit der Veröffentlichung von A Theory of Justice von John Rawls 1971 durchgesetzt hat, in seinem Unvermögen, die Rolle der Gefühle zu verstehen, und in seiner Unfähigkeit, das Wesen des Politischen zu erfassen, bestehen. Bei ihrem Versuch, eine rationale Lösung des Problems der menschlichen Koexistenz zu finden, setzen die neuen „deontologischen" Liberalen all ihre theoretischen Mittel ein, um einen Standpunkt zu erreichen, von dem aus die Stimme der Neutralität und Unvoreingenommenheit ihre Gebote aussprechen könnte. Obwohl es sich jetzt selbst als „politischen Liberalismus" bezeichnet, besteht ein liberales Philosophieren dieser Art hauptsächlich in einer moralischen Art der Argumentation, die auf die Grundinstitutionen der Gesellschaft angewandt wird. Noch ärger ist, daß sich dann eine Blindheit gegenüber dem Politischen manifestiert, die sehr negative Folgen für die Verbesserung und den Schutz von demokratischen Institutionen haben kann.
Das liberale Problem Mit dem Liberalismus verknüpft ist das Problem der Herstellung einer friedlichen Koexistenz zwischen Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen vom Guten. Für viele Liberale liegt die Lösung dieses Problems darin, einen modus vivendi zu schaffen oder, wie Schumpeter sagen würde: einen modus procedendi, der den Konflikt zwischen verschiedenen Ansichten reguliert. Daraus folgt ihre Vorstellung von der Demokratie als einer Verfahrensform, die in bezug auf eine beliebige Gruppe von "Werten neutral ist, d. h. nur als einer Methode öffentlicher Entscheidungen. Während sie zugestehen, daß der Liberalismus die friedliche Koexistenz von unterschiedlichen Vorstellungen vom Guten gestatten muß, widersprechen die „neuen Liberalen" einer solchen Interpretation des liberalen Grundsatzes der Neutralität. Sie behaupten, eine liberalde-
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Mouffe
mokratische Gesellschaft habe eine stärkere Form des Konsenses als einen einfachen modus vivendi zu reinen Verfahrensweisen nötig. Ihr Ziel sollte die Herstellung eines moralischen und nicht nur auf praktischer Überlegung beruhenden Konsenses in bezug auf ihre Grundinstitutionen sein. Auf unterschiedliche Weise befürworten Charles Larmore und John Rawls ein Vorgehen, dessen Ziel es ist, einen, wenn auch nur minimalen, moralischen Konsens über politische Grundlagen herzustellen. Ihr „politischer Liberalismus" zielt auf die Bestimmung der Umrisse einer Grundmoral, welche die Bedingungen vorgibt, unter denen Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen vom Guten in einem politischen Verband zusammenleben können. Es handelt sich um ein Verständnis des Liberalismus, das mit der Tatsache des Pluralismus und der Existenz der moralischen und religiösen Unterschiede vereinbar ist und von umfassenden Ansichten wie denen von Kant und Mill unterschieden werden muß. Vorausgesetzt, daß er neutral in bezug auf strittige Ansichten über das gute Leben ist, nehmen sie an, ein solcher Liberalismus könne die politischen Grundsätze liefern, die von allen, ungeachtet ihrer Unterschiede, anerkannt werden müßten. Nach Rawls läßt sich das Problem des politischen Liberalismus auf folgende Weise formulieren: „Wie ist es möglich, daß eine stabile und gerechte Gesellschaft von freien und gleichen Bürgern, die durch vernünftige religiöse, philosophische und moralische Lehren zutiefst getrennt sind, dauerhaft existieren kann?" 1 Deshalb handelt es sich hierbei um ein Problem der politischen Gerechtigkeit, und es ist die Schaffung von fairen Bedingungen gesellschaftlicher Zusammenarbeit zwischen den Bürgern erforderlich, die als frei und gleich, jedoch auch als durch einen tiefgreifenden Konflikt zwischen ihren Grundsätzen getrennt betrachtet werden.
Welcher Pluralismus? Die Lösung von Rawls, wie sie in seinem jüngsten Buch Political Liberalism neu formuliert ist, betont die Idee des „vernünftigen Pluralismus". Er fordert uns nun auf, zu unterscheiden zwischen dem, was eine rein empirische Anerkennung von gegensätzlichen Vorstellungen vom Guten, der Tatsache des „einfachen" Pluralismus, wäre, und dem, was das Problem ist, mit dem die Liberalen tatsächlich konfrontiert sind, wie nämlich mit einer Vielfalt von einander inkommensurablen, jedoch vernünftigen Grundsätzen umzugehen ist. Er betrachtet eine solche Vielfalt als das normale Ergebnis des Gebrauchs des Menschenverstandes im Rahmen eines verfassungsmäßigen demokratischen Systems. Deshalb muß eine Vorstellung von der Gerechtigkeit die Unterstützung aller „vernünftigen" Bürger, ungeachtet ihrer tiefen Unterschiede in den Lehren, in bezug auf andere Angelegenheiten zu gewinnen vermögen. Diese Unterscheidung zwischen „einfachem" und „vernünftigem" Pluralismus durch den sogenannten „politischen Liberalismus" selbst ist faktisch die Leugnung seines
1 John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, XVIII.
Paradoxon
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Liberalismus
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politischen Standpunktes. Sie gestattet es Rawls allerdings, das, was tatsächlich eine politische Entscheidung ist, als ein moralisches Erfordernis darzustellen. Eingestandenermaßen wird angenommen, diese Unterscheidung gewährleiste den moralischen Charakter des Konsenses über die Gerechtigkeit, der ausschließt, daß ein Kompromiß mit „unvernünftigen" Ansichten gemacht werden sollte, d. h. mit denjenigen, welche die Grundprinzipien der politischen Moral ablehnen. Für Rawls sind vernünftige Personen solche, „die ihre zwei moralischen Potenzen soweit genügend begriffen haben, daß sie freie und gleiche Bürger in einem verfassungsmäßigen System sind, die den beständigen Wunsch haben, faire Bedingungen der Zusammenarbeit einzuhalten und vollmitwirkende Glieder der Gesellschaft zu sein". 2 Bedeutet dies nichts anderes als eine indirekte Form der Behauptung, diejenigen seien vernünftige Personen, die die Grundlagen des Liberalismus anerkennen? Anders ausgedrückt, trägt die Unterscheidung zwischen „vernünftig" und „unvernünftig" dazu bei, eine Grenze zwischen den Lehren zu ziehen, welche die liberalen Grundsätze anerkennen, und denen, die sie ablehnen. Dies bedeutet, daß ihre Funktion politisch ist und daß sie auf die Unterscheidung zielt zwischen einem zulässigen Pluralismus von religiösen, moralischen und philosophischen Vorstellungen - solange diese Ansichten dem privaten Bereich zugeordnet werden können und den liberalen Grundsätzen entsprechen - und dem, was ein unannehmbarer Pluralismus wäre, da er die Herrschaft liberaler Grundsätze im öffentlichen Bereich gefährden würde. Worauf Rawls tatsächlich mit einer solchen Unterscheidung hinweisen will, ist, daß es keinen Pluralismus geben kann, soweit es die Grundsätze der politischen Assoziation betrifft, und daß Vorstellungen, die die Grundsätze des Liberalismus ablehnen, auszuschließen sind. Hierüber gehen unsere Meinungen nicht auseinander. Dies ist jedoch der Ausdruck einer vor allem politischen Entscheidung, nicht eines moralischen Erfordernisses. Die Antiliberalen als „unvernünftig" zu bezeichnen, ist eine ziemlich unaufrichtige Weise, um zu behaupten, solche Ansichten könnten im Rahmen eines liberaldemokratischen Systems nicht als berechtigt zugelassen werden. Das ist tatsächlich der Fall, und der Grund für eine solche Ausschließung besteht darin, daß antagonistische Grundsätze der Legitimität innerhalb desselben politischen Verbandes nicht nebeneinander bestehen können, ohne daß die politische Realität des Staates in Frage gestellt wird. Damit sie jedoch richtig formuliert werden kann, erfordert eine solche These einen theoretischen Rahmen, der den Vorrang der politischen Assoziation geltend macht - genau das, was der Liberalismus verneint. Deshalb muß Rawls vorgeben, daß es sich um eine moralische Unterscheidung handelt. Und er verfängt sich in einem Argumentationskreislauf: Der politische Liberalismus kann einen Konsens unter vernünftigen Personen schaffen, bei denen es sich definitionsgemäß um Personen handelt, welche die Grundsätze des politischen Liberalismus anerkennen.
2 Ebd., 55.
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„Overlapping consensus" oder „constitutional consensus" Um die Folgerungen erkennen zu können, welche sich ergeben, wenn der Vorrang des Politischen nicht beachtet wird, wollen wir uns einem anderen Aspekt der von Rawls gebotenen Lösung für das Problem des Liberalen zuwenden, nämlich der Herstellung eines „overlapping consensus" von vernünftigen umfassenden Doktrinen, worin jede von ihnen die politische Konzeption von ihrem eigenen Standpunkt aus billigt. Er erklärt, wenn die Gesellschaft gut geordnet ist - overlapping consensus etwa gemäß den Grundsätzen seiner Theorie der Gerechtigkeit - , wird Fairneß hergestellt. Da sie dank des Kunstgriffs der ursprünglichen Position mit deren „Schleier des Nichtwissens" gewählt werden, genügen jene Grundsätze fairer Bedingungen der Zusammenarbeit dem liberalen Grundsatz der Rechtmäßigkeit, der verlangt, daß sie von allen Bürgern als Freie und Gleiche gutgeheißen werden - sowie als vernünftig und rational — und damit deren Vernunft als Allgemeinheit angerufen wird. Nach dem Standpunkt des politischen Liberalismus sind jene Grundsätze ausdrücklich dazu bestimmt, die auf Vernunft beruhende Unterstützung der Bürger zu erlangen, die vernünftige, jedoch widersprüchliche umfassende Doktrinen vertreten. Der eigentliche Zweck des Schleiers des Nichtwissens besteht tatsächlich darin, die Kenntnis der umfassenden Konzeptionen der Bürger von dem Guten auszuschließen und sie zu zwingen, von gemeinsam geteilten Konzeptionen von Gesellschaft und Person auszugehen, die erforderlich sind, um die Ideale und Prinzipien der praktischen Vernunft anzuwenden.3 In Verbindung mit seinem Projekt zur Fundierung der Spezifik des „politischen Liberalismus" als einer ausgeprägten liberalen Doktrin gibt sich Rawls große Mühe zu zeigen, daß ein solcher overlapping consensus nicht mit einem einfachen modus vivendi verwechselt werden darf. Er betont nachdrücklich, es handele sich nicht nur um einen Konsens über eine Reihe von institutionellen Regelungen auf der Grundlage des eigenen Interesses, sondern um die Bejahung der Prinzipien der Gerechtigkeit, die selbst einen moralischen Charakter haben, aus moralischen Gründen. Der overlapping consensus müßte auch von einem constitutional consensus unterschieden werden, der seiner Ansicht nach nicht tief oder weit genug ist, um Gerechtigkeit und Stabilität zu gewährleisten. Wie er feststellt, „gibt es" bei einem overlapping consensus, „während eine Ubereinstimmung zu bestimmten politischen Grundrechten und -freiheiten - zum Wahlrecht und zur politischen Rede- und Vereinigungsfreiheit und zu allem anderen für die Wahl- und legislativen Verfahrensweisen der Demokratie Erforderlichen - besteht, Meinungsverschiedenheiten unter den Vertretern liberaler Grundsätze über den genaueren Inhalt und die Grenzen dieser Rechte und Freiheiten sowie darüber, welche weiteren Rechte und Freiheiten als grundsätzlich zu betrachten seien und deshalb gesetzlichen, wenn nicht verfassungsmäßigen Schutz verdienen". 4 Rawls gesteht zu, daß ein constitutional consensus besser als ein modus vivendi ist, weil eine tatsächliche Treue zu den Grundsätzen einer liberalen Verfassung vorhanden
3 4
Ebd., 141. Ebd., 159.
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Liberalismus
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ist, die bestimmte Grundrechte und -freiheiten garantiert und demokratische Verfahrensweisen zur Milderung von politischer Rivalität einführt. Angenommen, daß jene Grundsätze nicht auf bestimmten Ideen der Gesellschaft und der Person mit einer politischen Konzeption gegründet sind, bestehen dennoch Meinungsverschiedenheiten zu Status und Inhalt jener Rechte und Freiheiten, und dies erzeugt Unsicherheit und Feindseligkeit im öffentlichen Leben. Folglich ist es wichtig, ihren Inhalt ein für allemal festzulegen. Dies wird durch einen overlapping consensus über eine Vorstellung von der Gerechtigkeit als Fairneß gewährleistet, der einen viel tiefgehenderen Konsens schafft als einen Konsens, der sich auf wesentliche Aussagen der Verfassung beschränken würde.5 Rawls räumt ein, daß die Lösung jener wesentlichen Aussagen der Verfassung (d. h. Grundprinzipien, welche die allgemeine Struktur der Regierung und den politischen Prozeß sowie Grundrechte und -freiheiten der Bürger vorgeben) vordringlicher ist, wobei er jedoch bedenkt, daß sie von den Prinzipien unterschieden werden müssen, welche die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten beherrschen. Das Ziel der Gerechtigkeit als Fairneß besteht in der Herstellung eines Konsenses über eine öffentliche Vernunft, dessen Inhalt durch eine politische Konzeption der Gerechtigkeit vorgegeben wird, wobei „dieser Inhalt aus zwei Teilen besteht: wesentliche Grundsätze der Gerechtigkeit für die Grundstruktur (die politischen Werte der Gerechtigkeit) und Untersuchungsrichtlinien und Rechtschaffenheitsvorstellungen, die eine öffentliche Vernunft ermöglichen (die politischen Werte der öffentlichen Vernunft)". 6 Rawls scheint anzunehmen, während eine rationale Übereinstimmung zwischen umfassenden moralischen, religiösen und philosophischen Doktrinen unmöglich ist, könne sie dennoch zwischen politischen Werten erreicht werden. Wenn die strittigen Doktrinen in den privaten Bereich verwiesen worden sind, müßte es folglich möglich sein, im öffentlichen Bereich einen Konsens, der sich auf die Vernunft gründet, zu schaffen (mit seinen zwei Seiten: dem Rationalen und dem Vernünftigen). Dies ist ein Konsens, der nicht in Frage gestellt werden dürfte, wenn er erreicht worden ist, und die einzige Möglichkeit für seine Destabilisierung wäre ein Angriff von außen durch die „unvernünftigen" Kräfte. Wenn seine gut geordnete Gesellschaft erreicht worden ist, dürften diejenigen, welche sich an dem overlapping consensus beteiligen, kein Recht dazu haben, die bestehenden Regelungen in Frage zu stellen, da sie die Grundsätze der Gerechtigkeit verkörpern. Sollte sich jemand nicht fügen, müßte das durch Irrationalität oder Unvernunft bedingt sein. An dieser Stelle beginnt sich das Bild der gut geordneten Gesellschaft nach Rawls klarer zu entwickeln, und es ähnelt sehr einer gefährlichen Utopie der Einheit. Sicher erkennt Rawls, daß ein völliger overlapping consensus nie erreichbar ist und man ihm bestenfalls nahekommen kann. Es ist wahrscheinlicher, stellt er fest, daß der Mittelpunkt eines overlapping consensus durch eine Gruppe von liberalen Vorstellungen gebildet wird, die als politische Rivalen wirken. 7 Dennoch fordert er uns nachdrücklich
5 6 7
Ebd., 227. Ebd., 253. Ebd., 164.
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auf, eine gut geordnete Gesellschaft anzustreben, in der, vorausgesetzt, es gibt keinen Konflikt zwischen politischen und wirtschaftlichen Interessen mehr, eine solche Rivalität überwunden ist. Eine solche Gesellschaft würde die Verwirklichung der Gerechtigkeit als Fairneß erleben, sie würde lernen, wie diese richtig und definitiv zu interpretieren ist und wie die demokratischen Grundsätze der Gleichheit und Freiheit in den Grundinstitutionen verwirklicht werden müßten. Sie ist unabhängig von jedem Interesse, repräsentiert keine Form eines Kompromisses, ist jedoch wirklich der Ausdruck der freien demokratischen Vernunft der Öffentlichkeit.
Politischer Liberalismus und das Ende der Politik Die Schlußfolgerung, die wir aus unserer Untersuchung der Beschaffenheit des overlapping consensus ziehen können, ist, daß es sich bei der idealen Gesellschaft nach Rawls um eine Gesellschaft handelt, aus der die Politik eliminiert worden ist. Eine Gerechtigkeitskonzeption wird von vernünftigen und rational denkenden Bürgern, die sich nach ihren Geboten richten, gemeinsam anerkannt. Sie haben wahrscheinlich sehr verschiedene und sogar widersprüchliche Vorstellungen vom Guten; jedoch handelt es sich dabei um völlig private Angelegenheiten, die auf ihr öffentliches Leben nicht störend einwirken. Interessenkonflikte in bezug auf wirtschaftliche und soziale Fragen werden — falls sie sich doch ergeben - durch Diskussionen im Rahmen der öffentlichen Vernunft glatt gelöst, indem an die Gerechtigkeitsgrundsätze appelliert wird, die jedermann billigt. Sollte doch eine unvernünftige oder unverständige Person mit jenen Gegebenheiten nicht einverstanden sein und beabsichtigen, jenen schönen Konsens zu zerstören, so muß sie gezwungen werden, sich den Gerechtigkeitsgrundsätzen zu unterwerfen. Wie kann eine liberale Verteidigung des Pluralismus die Ausrottung der Meinungsverschiedenheiten aus dem öffentlichen Bereich zum Ziel haben? Warum sieht die gut geordnete Gesellschaft nach Rawls am Ende wie ein totalitärer Alptraum aus? Die Erklärung liegt in seiner fehlerhaften Konzeption von Politik, die auf eine reine Tätigkeit der Verteilung zwischen konkurrierenden Interessen, die einer rationalen Lösung zugänglich sind, reduziert wird. Deshalb glaubt Rawls, daß politische Konflikte dank einer Gerechtigkeitskonzeption eliminiert werden können, die sich auf die Vorstellung des Einzelnen von einem rationalen Vorteil innerhalb der durch das Vernünftige festgelegten Beschränkungen beruft. Nach seiner Theorie benötigen die Bürger als freie und gleiche Personen dieselben Werte wegen ihrer Vorstellungen vom Guten - wie unterschiedlich ihr Inhalt auch sein mag - , „benötigen sie für ihr Vorankommen etwa dieselben primären Werte, d. h. dieselben Grundrechte, Freiheiten und Möglichkeiten und dieselben Allzweckmittel wie Einkommen und Wohlstand, die alle durch dieselben sozialen Grundlagen der Selbstachtung getragen werden". 8 Deshalb verschwindet die Rivalität, die zuvor im politischen Bereich vorhanden war, wenn die richtige Antwort auf das Problem der Verteilung jener primären Werte gefunden worden ist.
8 Ebd., 180.
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Liberalismus
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Außer dem Postulat der Möglichkeit einer Übereinstimmung in bezug auf die Gerechtigkeit setzt ein solches Szenario voraus, daß die politischen Akteure nur von dem getrieben werden, was sie als ihren rationalen Eigenvorteil ansehen. Leidenschaften werden aus dem Bereich der Politik entfernt, die auf ein neutrales Feld konkurrierender Interessen reduziert wird. Wie einige Kritiker von Rawls festgestellt haben, ist es ziemlich aufschlußreich, daß er das Phänomen des Neids aus seinem Modell ausschließen mußte. Es würde seine gesamte Konstruktion in der Tat destabilisiert haben. 9 Bei einem solchen Herangehen fehlt „das Politische" völlig in seinen verschiedenen Dimensionen des Antagonismus, der Unentscheidbarkeit und der Nötigung. Der „politische Liberalismus" ist bestrebt, genau dies zu eliminieren. Er bietet uns ein Bild der gut geordneten Gesellschaft als einer Gesellschaft, aus der Antagonismus, Gewalt, Macht und Unterdrückung verschwunden sind. Das ist jedoch nur so, weil sie unsichtbar gemacht worden sind durch einen klug angelegten Kunstgriff: die Unterscheidung zwischen „einfachem" und „vernünftigem Pluralismus". Ausschließungen werden gerechtfertigt, indem erklärt wird, daß sie das Produkt des „freien Gebrauches der praktischen Vernunft sind", welche die Grenzen eines möglichen Konsenses festlegt. Wenn ein Gesichtspunkt ausgeschlossen wird, so geschieht das, weil es der Gebrauch der Vernunft verlangt. Auf diese Weise funktioniert die Vernunft als Schlüssel, das „Paradoxon des Liberalismus" zu lösen: Gegner können ausgeschaltet werden, ohne die Neutralität zu verlieren. Es genügt jedenfalls nicht, das Politische in seiner Dimension des Antagonismus zu eliminieren und aus unserer Theorie auszuschließen, um es aus der realen Welt verschwinden zu lassen. Es kehrt so gerade erst zurück. Wenn das liberale Herangehen einen Rahmen geschaffen hat, in welchem seine Dynamik nicht begriffen werden kann, dann wird das Politische zu der ungedachten und unterdrückten Seite seines Modells, zu den „dunklen Kräften der Irrationalität", die diese Art von Liberalismus zur ständigen Bedeutungslosigkeit verdammen. Aus dem Englischen von Erhard Wiesend
9
(Dresden).
Siehe z. B. die von Jean-Pierre Dupuy in seinem Buch Le sacrifice et l'envie (Paris 1992, Kap. V) durchgeführte Analyse.
IV. Gerechtigkeit, Differenz und die Gegenwart des Unrechts
Thomas Rentsch
Unmöglichkeit und Selbsttranszendenz der Gerechtigkeit
Meine These ist, daß sich Gerechtigkeit nicht denken läßt, wenn sie nicht bereits gleichzeitig auf einen weiteren, sowohl hermeneutischen als auch moralischen Kontext hin überschritten wird. Im folgenden möchte ich daher zunächst auf bestimmte grundlegende Schwierigkeiten beim Denken von Gerechtigkeit hinweisen. Es ergibt sich die Frage, wie Gerechtigkeit auf unterschiedliche Weise verunmöglicht wird. Aus den Formen der Unmöglichkeit begründe ich die Notwendigkeit, in Reflexion und Praxis die Gerechtigkeit zu überschreiten, zu transzendieren, zu kontextualisieren und zu relativieren. Vorausgeschickt sei, daß ich Gerechtigkeit nicht als eine Eigenschaft einzelner Subjekte, sondern als eine soziale und kommunikative F o r m gemeinsamen Lebens, als intersubjektive Beziehung, als Relation verstehe, im Sinne des Tätigkeitswortes „jemandem gerecht werden (durch/mit etwas)" bzw. - im negativen Fall - „jemandem (einer Gruppe) Unrecht tun".
1. Vier Formen der Unmöglichkeit der Gerechtigkeit Was besagt die Rede von der Unmöglichkeit der Gerechtigkeit? Ich möchte zu ihrer Erläuterung vier grundlegende Formen solcher Unmöglichkeit unterscheiden: 1. die Unmöglichkeit der Gerechtigkeit als Idee 2. die faktische Unmöglichkeit der Gerechtigkeit 3. die Unmöglichkeit der Gerechtigkeit im individuellen Nahbereich 4. die Unmöglichkeit der Gerechtigkeit im interkulturellen Fernbereich. Erläutern wir diese Formen der Unmöglichkeit. 1. Gerechtigkeit wird unmöglich, wenn wir sie von einem idealen, unparteilichen Standpunkt der Universalität aus denken und so konstruieren und dann versuchen, diesen Standpunkt auf die konkrete, situative Beurteilung von Personen, sozialen Gruppen und ihren Handlungen anzuwenden. Wir wissen von einer solchen Perspektive der Unparteilichkeit, Unbetroffenheit, Neutralität und Allgemeinheit nicht, wie wir sie jeweils angesichts konkreter Fälle in konkreten Situationen einnehmen sollen. Die Universalisierungsgrund-
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Thomas Rentsch
sätze und Verallgemeinerungsimperative, die - von Kant bis Apel, Habermas und Rawls - zu formulieren versucht worden sind, bleiben daher formal und leer. Sie fordern einen abstrakten, von allen besonderen Bestimmungen getilgten N i c h t - S t a n d p u n k t , die leere und universale F o r m der N i c h t - B e t r o f f e n h e i t . Sowohl angesichts k o n k r e t e r inter-individueller Praxis als auch angesichts des sozialen und politischen M a k r o b e r e i c h s heißt, sich auf den Standpunkt